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BEITRÄGE ZUR 7

SCHELLING-FORSCHUNG

Ryan Scheerlinck

»Philosophie und
Religion« –
Schellings
Politische Philosophie

VERLAG KARL ALBER B


VERLAG KARL ALBER A
Die vorliegende Untersuchung bietet die erste umfassende Aus-
legung von Schellings kontrovers beurteilter Schrift Philosophie und
Religion. Ausgehend von Schellings Kunst der Darstellung und unter
ständiger Berücksichtigung der Einwände Eschenmayers, auf welche
diese Schrift zu antworten sucht, zeichnet die Arbeit die Grundlinien
von Schellings Denken um 1804 nach. Besonderes Gewicht liegt dabei
auf Schellings Ansichten zu Freiheit, Ethik, Geschichte und Politik.
Dabei zeigt sich, dass die Grundthesen der sogenannten Identitäts-
philosophie, anders als allgemein angenommen, durchaus mit der
Lehre der Freiheitsschrift verträglich sind. Der Autor versucht Phi-
losophie und Religion als ein Dokument Politischer Philosophie les-
bar zu machen, indem er aufzeigt, dass der politische Charakter des
schellingschen Denkens nicht erst in einer ausgearbeiteten Theorie
des Politischen zu suchen ist, sondern vielmehr bereits in der Form
der Darstellung reflektiert ist, durch welche Schelling unterschied-
lichen Adressaten Unterschiedliches mitzuteilen und einer politisch
brisanten natürlichen Ungleichheit Rechnung zu tragen vermag.

Der Autor:
Ryan Scheerlinck, geb. 1976, studierte Philosophie und klassische
Philologie in Löwen, Gent und München. 2014 wurde er mit vor-
liegender Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität promoviert.
Er veröffentlichte zu Nietzsche, Schelling und Seneca in Interpreta-
tion, Schelling-Studien, Philosophisches Jahrbuch und Gymnasium.
Ryan Scheerlinck
»Philosophie und Religion« –
Schellings Politische Philosophie
BEITRÄGE ZUR 7
SCHELLING-FORSCHUNG

Herausgegeben von

Lore Hühn (Freiburg)


Philipp Schwab (Freiburg)
Paul Ziche (Utrecht)
Ryan Scheerlinck

»Philosophie
und Religion« –
Schellings
Politische Philosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München


Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer
Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier


Herstellung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)


Printed on acid-free paper
Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-48848-5


ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81350-8
An die Freunde Schellings

Für Marcel Hermans (1935–2012)


Vorwort

Dieses Werk ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im


Frühjahr 2014 an der Ludwig-Maximilians-Universität München an-
genommen wurde.
Prof. Dr. Thomas Buchheim danke ich für die Betreuung dieser
Arbeit und für die Gelegenheit, meine Gedanken in Seminaren und
Gesprächen zu erproben. Ihm ist es auch zu verdanken, dass ich jetzt
schärfer sehe, was ich will.
Den Mitarbeitern der Schelling-Kommission danke ich für
manche Unterstützung.
Den Herausgebern der Beiträge zur Schelling-Forschung danke
ich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe und JunProf. Dr.
Philipp Schwab für die Unterstützung bei der Erstellung des Manu-
skripts.
Marcela García, Hannes Kerber, Marco Lass, Marco Menon und
Yu Mingfeng sei für manches erhellende Gespräch, Detlef Kuschel,
Jorinde Meyer und Johan Seminck für Aufmunterung und Erholung
gedankt.
Meinen Eltern, André Scheerlinck und Rita Hermans, sowie mei-
nem Bruder, Timothy Scheerlinck, danke ich für ihr unerschütter-
liches Vertrauen.
Tom Geboers, Detlef Kuschel und Marco Lass sei zudem herzlichst
für die sprachliche Korrektur gedankt.
Alle haben mir auf ihre Weise dabei geholfen, die Aktualität, d. h.
Unzeitgemäßheit von Schellings Denken verstehen zu lernen.

Für die mehr als großzügige finanzielle und seelische Unterstützung


danke ich meinem Paten Marcel Hermans. Bedauerlicherweise hat er
den Abschluss dieses Werks nicht mehr erleben können. Ihm ist die
Arbeit gewidmet.

Ryan Scheerlinck München, 4. August 2015

IX
Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Kapitel. Darstellungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Der »Vorbericht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2. Der Begriff der ›Darstellung‹ . . . . . . . . . . . . . . 18
3. Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die
konzeptuellen Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift . 56
5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift . . 67
2. Kapitel. Glaube und Anschauung . . . . . . . . . . . . . 79
1. Das Programm der Nichtphilosophie . . . . . . . . . . 81
2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung . 92
3. Das negative Verfahren: Die Unterscheidung
von Absolutem und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 101
4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche
Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5. Anschauung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . 132
3. Kapitel. Absolutes und Abfall . . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten . . . . . 146
3. Der Abfall als formelle Anforderung . . . . . . . . . . 158
4. Die Möglichkeit des Abfalls . . . . . . . . . . . . . . 171
5. Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre
von der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
4. Kapitel. Tugend und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 211
1. Das Problem der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . 215
2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung
der Tugend‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
3. Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹
und erneut der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

XI
Inhalt

4. Das Spezifische der menschlichen Freiheit . . . . . . . 245


5. Der Begriff des Bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
6. Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit
und Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
7. Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte . . . . 288
8. Die Unsterblichkeit der Seele . . . . . . . . . . . . . . 307
9. Gott als Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
5. Kapitel. Politik und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . 337
1. Eine neue Deduktion des Naturrechts . . . . . . . . . 340
2. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien . . . 362
3. Die Anwendung des Modells der Mysterien
auf die Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376
4. Exkurs zur Politischen Philosophie
als politischem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . 385
5. Religion und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400
6. Die Aufgabe einer philosophischen Theologie . . . . . 407
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

XII
Einleitung

Diese Arbeit nimmt ihren Ausgang von der auf den ersten Blick tri-
vialen Feststellung, dass Schelling in keiner der von ihm veröffent-
lichten Schriften eine auch nur ansatzweise umfassende Darstellung
des von ihm dennoch mit Nachdruck zum Zielpunkt aller Philosophie
erklärten Systems gegeben hat. Stattdessen hat er dieses System
immer nur bruchstückhaft dargestellt, sich zudem dazu stets wech-
selnder literarischer Formen bedienend. Gerade weil Schelling selbst
immer wieder auf der Notwendigkeit eines Systems insistiert hat,
scheint es nur zu naheliegend, das Bruchstückhafte und die Formen-
vielfalt als ein Indiz dafür zu nehmen, dass Schelling die anvisierte
Darstellung seines Systems nicht hat gelingen wollen, um daraus auf
eine Unzulänglichkeit des von ihm gewählten Systemprinzips zu
schließen. Diese immer noch geläufige Ansicht ist am wirkungs-
mächtigsten durch Hegel formuliert worden, indem er erklärte, dass
Schelling sich »in verschiedenen Formen und Terminologien herum-
geworfen« habe, da »das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan«
habe (GeschPh III, TWA 20, 422; vgl. GeschPh III, TWA 20, 445 f.).
Diese Einschätzung, wonach Schelling mit jeder Schrift wieder von
vorne angefangen habe, da er das anvisierte Ziel nicht zu erreichen
vermochte, ist nicht nur nachweislich falsch, sondern zugleich auch
am meisten dazu geeignet, die von Schelling mit seinen verschiede-
nen Darstellungen verfolgte Intention dem Blick vollends zu entzie-
hen. Man legt damit an Schellings Schriften den Maßstab eines kla-
ren und wohlgeordneten Schreibens an, wovon erst zu untersuchen
wäre, ob er selbst ihm Gültigkeit zuzuerkennen vermochte. Dieser
Maßstab führt zudem allzu leicht dazu, dass man allein schon die
Form, um von demjenigen, was er durch sie zu vermitteln sucht, noch
zu schweigen, als defizient beurteilt, ohne auch die eigentümliche, im

1
Einleitung

eigentlichen Sinne ›dialektische‹ Denkbewegung Schellings in ihrer


Besonderheit wahrzunehmen. 1
Es verhält sich dennoch keineswegs so, dass Schelling es unterlas-
sen hätte, seine Leser auf das Problem der Darstellung aufmerksam
zu machen. Vielleicht am eindrucksvollsten erklärt er in einem Rück-
blick auf seinen bis dahin zurückgelegten Denkweg ausdrücklich, dass
er »ein fertiges, beschlossnes System […] bis jetzt nie aufgestellt,
sondern nur einzelne Seiten eines solchen, (und auch diese oft nur
in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung), gezeigt« habe. 2
Als Grund für die Wahl dieser bruchstückhaften und einseitigen Dar-
stellung gibt er an, dass ein »fertiges, beschlossnes System« sich nur
als geeignet erweist, insofern man potentielle »Anhänger« zu errei-
chen beabsichtigt. 3 Daraus können wir schließen, dass Schelling be-
reits durch die Form, in welcher er sein System dargestellt hat, zu
erkennen gibt, dass seine Schriften sich nicht in erster Linie an solche
potentiellen Anhänger richten, sondern eher an solche Leser, die
einer fertigen und abgeschlossenen Darstellung nicht bedürfen, da
ihnen wenige Andeutungen genügen, um daraus das Ganze selbst zu
erschließen. Diese einzige Erklärung muss an dieser Stelle als bei-
spielhafter Beleg dafür genügen, dass Schelling auch mit der Form
seiner Darstellungen eine bestimmte Absicht verfolgte, die genau be-
dacht sein will, wenn man der Sache seines Denkens auf die Spur
kommen will.
Am geeignetsten schien es mir deshalb, an der Auslegung einer
einzelnen Schrift exemplarisch vorzuführen, wie Schelling gelesen
sein will, und ich habe dazu die kleine Schrift Philosophie und Reli-
gion von 1804 gewählt. Mit derselben antwortete Schelling auf die
1803 von Adolph Karl August Eschenmayer veröffentlichte Schrift
mit dem rätselhaften Titel Die Philosophie in ihrem Uebergang zur
Nicht-Philosophie. 4 Darin hatte Eschenmayer den Versuch gemacht,

1
Auch Werner Hartkopf, der eine instruktive Untersuchung zu Schellings Dialektik
verfasst hat, vermag bei Schelling nur die Dialektik des Begriffs, nicht den in der Form
eingesenkten dialektischen oder dialogischen Charakter von Schellings Denken wahr-
zunehmen (vgl. Hartkopf 1986).
2 Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

3 Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

4 Bislang liegt weder eine Monographie zum gesamten Denkweg Eschenmayers noch

eine kritische Ausgabe seiner Schriften vor. Verwiesen sei hier auf Wuttke 1972; Jant-
zen 1994; Jantzen 2005; Florig 2010. Ferner Tilliette 1992, 479–484; Tilliette 1999,
133–151. Die Arbeit von Ralph Marks beschränkt sich auf naturphilosophische The-

2
Einleitung

in ständiger Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und insbesondere


Schelling, eine eigene philosophische Position zu umreißen. Davon
überzeugt, in wesentlichen Punkten mit Schelling übereinzustim-
men, formuliert er gleichwohl an dessen Adresse einige kritische
Bedenken, wonach gerade dessen System die Notwendigkeit einer
Ergänzung des Erkennens durch den Glauben und eines entsprechen-
den Übergangs der Philosophie zur Nichtphilosophie offenkundig
werden lasse. Noch bevor er Schelling die Schrift hat zuschicken kön-
nen, hat dieser sie »schon lange gelesen und wieder gelesen« und
auch bereits eine Antwort auf sie verfasst. 5 Diese erscheint Anfang
1804 unter dem Titel Philosophie und Religion. Bereits ihr Charakter
als eine Antwortschrift dürfte kaum eine umfassende oder auch nur
geschlossene Darstellung von Schellings System erwarten lassen. In
der Tat zeigt sich bereits nach einer oberflächlichen Lektüre, dass
Schelling mit dieser Schrift sich nicht nur »fast durchgehends« auf
die Schrift Eschenmayers »bezieht«, so dass sein eigener Gedanken-
gang sich ohne Kenntnis der eschenmayerschen Schrift kaum an-
gemessen nachvollziehen lässt, sondern dass sie zugleich an frühere
Schriften von Schelling selbst anknüpft. 6 Auf diese Weise fädelt die
Schrift sich in ein Textgeflecht von erheblicher Komplexität ein und
bildet sozusagen einen von mehreren Eingängen zu einem Labyrinth
von unterirdisch miteinander kommunizierenden Texten. Auch sonst
hat Schelling typischerweise durch eine Reihe von rhetorischen
Kunstgriffen den Zugang zu dem in dieser Schrift verhandelten
»Stoff« außerordentlich erschwert. 7 Der nicht ausreichend zugerüs-
tete oder ungenügend aufmerksame Leser müsste sich an diesem
›Stoff‹ ›verbrennen‹, wenn Schelling nicht dafür Sorge getragen hät-
te, ihn mittels jener Vorkehrungen dem Zugriff zu entziehen. Solche
und andere Probleme, die die Darstellung dem Leser bereitet, werde
ich ausführlicher im ersten Kapitel erörtern. In den folgenden Kapi-
teln werde ich mir dadurch einen Zugang zu jener Konstellation zu
verschaffen suchen, dass ich mich zunächst an die Auseinanderset-
zung mit Eschenmayer halte, um erst nach und nach auch andere

men, die in unserem Zusammenhang nicht unmittelbar relevant sind (vgl. Marks
1985).
5
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71.
6 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71.

7
Schelling 1804, III / SW VI, 13.

3
Einleitung

Texte einzubeziehen, damit die »höhere organische Verbindung« her-


vortritt, zu welcher sie gehören. 8
Es gibt aber auch spezifischere Gründe für die Wahl dieser Schrift.
Wenn ich in dieser Arbeit immer wieder auf Eschenmayers Position
und Einwände eingehe, dann geschieht dies nicht in erster Linie in der
Absicht, einen in Vergessenheit geratenen Forscher zu rehabilitieren,
sondern eher, damit die Sache, die in dieser Auseinandersetzung auf
dem Spiel steht, nicht aus dem Blick gerät. Diese bestimmt Eschen-
mayer als das Verhältnis von Philosophie und Nicht-Philosophie,
Schelling hingegen, mit einer bedeutsamen Verschiebung, als das
Verhältnis von Philosophie und Religion. Ohne eine Einsicht in das,
wofür Schelling eintritt, und ohne Klarheit darüber, wogegen er sich
entschieden richtet, muss die eigentliche Intention seines Denkens
unverstanden bleiben. Dies allein würde schon ausreichen, um Schel-
lings Philosophie als Politische Philosophie zu bezeichnen. Dies
kommt vielleicht am klarsten in Philosophie und Religion zum Aus-
druck, indem Schelling bereits in der Einleitung dreimal hervorhebt,
dass das Gelingen seines Unternehmens darüber entscheidet, ob es
sich überhaupt lohnt zu philosophieren. Er scheint somit klar gesehen
zu haben, dass Eschenmayers kritische Bedenken letztlich darauf hi-
nauslaufen, dass das Philosophieren selbst gänzlich ohne Wert wäre. 9
Gerade für alle Fragen, die die Lebensführung betreffen, hatte
Eschenmayer auf den Glauben verwiesen und der Philosophie jegli-
che Bedeutung abgesprochen. 10 Dieser Punkt war es auch, den Schel-
ling »etwas härter [hatte] nehmen müssen«. 11 In dieser Auseinander-
setzung treffen somit nicht bloß zwei unterschiedliche theoretische
Ansätze aufeinander, sondern ihr liegt eine existentielle Alternative
zugrunde. Nur insofern stellt die von Eschenmayer konturierte,
wenn auch nicht in allen möglichen Verzweigungen ausgearbeitete
Position eine Gegenposition im starken Sinne dar, eine grundsätzliche
Alternative zu Schellings Entscheidung für die Philosophie. Gerade
darin dürfte die eigentliche ›Auffoderung‹ liegen, durch welche
Schelling sich zu einer Antwort auf Eschenmayers Schrift bewegen

8 Schelling 1804, III / SW VI, 13.


9 Vgl. Schelling 1804, 1–3 / SW VI, 16 f. mit Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49).
10 In diesem Zusammenhang dürfte es kaum zufällig sein, dass Schelling hervorhebt,

dass es »Ein und derselbe Geist ist, der die Wissenschaft und das Leben unterrichtet«,
und dass »weder Sittenlehre noch Sittlichkeit […] ohne Anschauung der Ideen« ist
(Schelling 1804, 58 f. / SW VI, 53 f.; Herv. v. Verf.).
11
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72.

4
Einleitung

lassen konnte. 12 Im Laufe dieser Arbeit werde ich hin und wieder
Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, dass diese Gegenposition
nicht an die durch seine Denkkraft vielleicht nicht sonderlich beein-
druckende Figur eines Eschenmayer gebunden ist, sondern insofern
weit über diesen hinausreicht, dass sie jederzeit möglich ist, und die-
ser Auseinandersetzung somit exemplarische Bedeutung zukommt. 13
Insbesondere dürfte Eschenmayers Rekurs auf den Begriff des Glau-
bens Schelling dazu Gelegenheit gegeben haben, seine eigentlichen
Adressaten, die ebenfalls für eine Ergänzung der Philosophie durch
den Glauben einzutreten schienen, seinerseits dazu aufzufordern,
sich über jene entscheidende Alternative Klarheit zu verschaffen.
Ein weiterer Grund für diese Wahl ist folgender: Philosophie und
Religion hat seit ihrem Erscheinen weder bei Anhängern noch bei
Gegnern Schellings besonders großen Beifall gefunden. Auch heute
löst die Schrift noch am ehesten eine gewisse Irritation aus, wenn
man nach dem geringen Interesse urteilen darf, das man ihr in der
Regel entgegenbringt. Bestenfalls werden die Darlegungen aus dem
ersten und zweiten Abschnitt zur Erläuterung von Thesen heran-
gezogen, die Schelling auch in früheren Schriften behauptet hatte.
Sonst wird meistens nur noch an den berühmt-berüchtigten Begriff
des Abfalls erinnert, der die »zentrale Aporie der Identitätsphiloso-
phie« vollends aufbrechen lässt und einen Neuansatz unausweichlich
zu machen scheint. 14 Jedenfalls hatten es so bereits Zeitgenossen
Schellings wie z. B. Eschenmayer, Johann Jakob Wagner und Franz
Berg empfunden. 15 Vermutlich würde die Mehrzahl der Kommenta-

12 Vgl. Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.


13 So meint Xavier Tilliette bei Eschenmayer »des prémonitions de Kierkegaard«
wahrzunehmen (Tilliette 1992, 481). Auf diese Filiation können wir in dieser Arbeit
nicht eingehen. Kierkegaard erwähnt Eschenmayer nur einmal, ohne dass daraus her-
vorgeht, ob er sich eingehend mit ihm beschäftigt hat (Kierkegaard 1844, 29). Bedeut-
sam ist allerdings, dass ein Forscher wie Karl Jaspers die Gegenposition Eschenmayers
weiterschreibt (vgl. Jaspers 1955). Zwischen beiden gibt es zahlreiche Parallelen, was
desto erstaunlicher ist, da Jaspers Eschenmayers Schrift nicht studiert zu haben
scheint. Jedenfalls erwähnt er Eschenmayer in seinem Schelling-Buch kein einziges
Mal. Er scheint somit aus eigener Kraft zu seiner Position gelangt zu sein. Zu ver-
muten ist indes ein Einfluss Kierkegaards. So heißt es an einer anderen Stelle, dass
Schelling »erst entdeckbar [ist], wenn man von Kierkegaard kommt« (Jaspers 1931,
146). Im Laufe dieser Arbeit werde ich in der genannten Absicht wiederholt auf solche
Parallelen hinzuweisen Gelegenheit haben.
14
So Tilliette 1992, 481.
15 Vgl. C. A. Eschenmayer an J. J. Wagner, 26. November 1804, Tilliette 1974, 161:

»Dass Sie mit mir einsehen, dass Schelling sich durch die Idee des Abfalls eben so

5
Einleitung

toren diesem Urteil auch heute noch zustimmen. Im Gegensatz dazu


hat Schelling in keiner seiner späteren Erklärungen zu dieser Schrift
auch nur die leiseste Spur eines solchen Vorbehalts angemeldet. Viel-
mehr erklärt er, auf eine Weise, die angesichts der verbreiteten Auf-
fassung, dass der unausweichliche Neuansatz sich spätestens, jeden-
falls am unübersehbarsten in der Freiheitsschrift dokumentiert,
geradezu in Erstaunen versetzen müsste, in der »Vorrede« zum ersten
Band seiner Philosophischen Schriften, in welchem die Philosophi-
schen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit
zum ersten Mal erschienen, Philosophie und Religion nicht nur zu
der ersten Schrift, in welcher er wenigstens einen Anfang damit ge-
macht hatte, »seinen Begriff des ideellen Theils der Philosophie« vor-
zulegen, während die Untersuchungen diesen jetzt »mit völliger
Bestimmtheit« vorlegen sollen, sondern fügt dem hinzu, sich in der-
selben sogar »über Freyheit des Willens, Gut und Bös, Persönlichkeit
u. s. w.« erklärt zu haben. 16 Damit hat er gerade jene Themen genannt,
die man seit längerem als Indiz für den entscheidenden Durchbruch
der Untersuchungen angesehen hat, da die Identitätsphilosophie ge-
rade daran gescheitert sei, weder der Freiheit noch dem Unterschied
zwischen Gut und Böse noch auch der Persönlichkeit auch nur ansatz-
weise gerecht werden zu können. Zwar ist in der Überschrift des drit-
ten Abschnitts von Philosophie und Religion von der Freiheit die Re-
de, die Behandlung dieser Frage in dem Abschnitt selbst dürfte aber
bislang nur selten als befriedigend empfunden worden sein. Ferner
werden Gut und Böse höchstens beiläufig erwähnt, die Persönlichkeit
sogar kein einziges Mal. Angesichts der derart offenkundigen Diskre-
panz zwischen Schellings Erklärung und der Schrift, auf welche sie
sich bezieht, scheint es naheliegend, auf die Annahme zurückzugrei-
fen, Schelling habe hier ungeschickterweise versucht, dem Leser eine
Kontinuität vorzutäuschen, für welche es jedoch in der Sache keinen
Grund gibt, oder er habe sie sich vielleicht selbst vortäuschen wollen,
da ihm der Fortschritt, den er mit der Freiheitsschrift gemacht hatte,
noch nicht in seinem vollen Umfang und in allen seinen Konsequen-
zen zu Bewusstsein gekommen sei. Wie dem auch sei, bislang hat,

wenig aus der Verlegenheit rettet, als durch andere Versuche, freut mich sehr, aber es
lässt sich entschuldigen, dass er vorher alle Arten der Auflösung versucht, ehe er den
Knoten für unauflösbar annimmt«. Vgl. Wagner 1804, XXI, XXIV, XLI f.; Berg 1804,
IV.
16
Schelling 1809a, IX / SW VII, 334; vgl. auch Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.

6
Einleitung

soweit ich sehe, noch niemand versucht, jene Erklärung ernst zu neh-
men, oder in ihr eine Aufforderung gesehen, zu untersuchen, ob und
wie Schelling sich über die genannten Themen in Philosophie und
Religion erklärt hätte. Jedenfalls haben gerade Schellings – zugegebe-
nermaßen sehr verklausulierten – Überlegungen zum Problem der
menschlichen Freiheit, der Sittlichkeit, der Unsterblichkeit und der
Religion, die nach seiner eigenen Erklärung den eigentlich neuen Bei-
trag jener Schrift darstellen, da er sich darüber vorher nicht mit aller
Bestimmtheit geäußert hatte, bislang kaum Beachtung gefunden. Da-
zu müsste man sich allerdings auf die Annahme stützen, dass Schel-
ling sich beim Verfassen sowohl von Philosophie und Religion als
auch der Philosophischen Untersuchungen durchaus darüber im Kla-
ren war, was er tat und was er dachte. Für den Kommentator brächte
dies die Pflicht zur Bescheidenheit, wenn nicht sogar zur Demut mit
sich, Schelling nicht besser verstehen zu wollen, als er sich selbst ver-
stand. Was Eschenmayer betrifft, so lässt Schelling selbst keinen
Zweifel daran bestehen, dass jener ihn in keinem einzigen Punkt so
verstanden habe, wie er sich selbst versteht und wie er verstanden
werden will. 17
Der Versuch, Schellings Erklärung einer grundsätzlichen Verträg-
lichkeit der in beiden Schriften umrissenen Position als berechtigt
nachzuweisen, führt fast zwangsläufig dazu, die geläufige Meinung
anzuzweifeln, wonach es im Denkweg Schellings einen tiefgreifenden
Einschnitt gibt, der am offensichtlichsten durch die Freiheitsschrift
markiert werde und der einer Absage an das sogenannte Identitäts-
system gleichkomme. Stattdessen werde ich für die Aufgabe des Be-
griffs eines ›Identitätssystems‹ eintreten, mit welchem sich inzwi-
schen allzu viele Vormeinungen verbunden haben, die den Zugang
zur Sache versperren und der auch überhaupt ungeeignet ist, die Ei-
genart der schellingschen Denkbewegung einzufangen. 18 Stattdessen

17 Vgl. Schelling 1804, 4–8, 18–20, 24–28, 53–55, 59, 69, 74 / SW VI, 18–21, 27–29,
31–34, 50 f., 54, 61, 64. – Bei Gelegenheit einer späteren Auseinandersetzung bemerkt
Schelling: »Das Bedauerlichste für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden
zu haben und daß Sie die Versicherung des Gegentheils mir vielleicht als Anmaßung
auslegen« (Schelling 1813b, 127 / SW VIII, 188). Dasselbe ließe sich vielleicht bereits
für die Zeit um 1803–05 sagen (vgl. übrigens F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer,
30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224).
18 Schelling selbst hat wiederholt vor solchen Namen oder Kennzeichnungen eines

philosophischen Systems gewarnt: »Es ist unläugbar eine vortreffliche Erfindung


um solche allgemeine Namen, womit ganze Ansichten auf einmal bezeichnet werden.
Hat man einmal zu einem System den rechten Namen gefunden, so ergiebt sich das

7
Einleitung

werde ich mich des vielleicht genauso missverständlichen Begriffs der


Politischen Philosophie bedienen. Diese Bezeichnung dürfte vielleicht
überraschen, gilt Schelling doch nach einem immer noch kolportier-

übrige von selbst, und man ist der Mühe, sein Eigenthümliches genauer zu unter-
suchen, enthoben« (Schelling 1809a, 402 / SW VII, 338). Seiner Einschätzung zufolge
haben auch Fichte und Jacobi sich durch den Namen ›Naturphilosophie‹ blenden las-
sen und ihre Polemik vorwiegend auf eine – überdies unzutreffende – Auslegung
dieses Namens gegründet. Schwerwiegender ist, dass Schelling selbst den Ausdruck
›Identitätssystem‹ zur Bezeichnung seines ›Systems der Philosophie‹ in dieser Zeit
kaum jemals verwendet. Eigentlich kommen nur folgende vier Stellen in Betracht:
AA I,10, 115 (»das absolute Identitäts-System, welches ich hiermit aufstelle«); AA
I,10, 163; Schelling 1802d, 42 / SW V, 45 und SW VI, 164. Der Ausdruck wird vor
allem von seinen Gegnern mit einer gewissen Vorliebe verwendet. Stattdessen ver-
wendet Schelling selbst eine Fülle an Namen, um sein System zu bezeichnen (vgl.
Tilliette 1992, 310). So ist vom »absoluten Idealismus« oder »Real-Idealismus« die
Rede (AA I,10, 93, 144; Schelling 1802b, 46, 62 / SW IV, 370, 381; SW IV, 377; Schel-
ling 1802d, 13 f., 19 / SW V 26, 30; Schelling 1802f, 9, 24 / SW V, 112, 124; Schelling
1802g, 41 / SW V, 136; Schelling 1803a, 254 f. / SW V, 324; Schelling 1803b, 80 /
SW II, 68; Schelling 1803c, 23, 29 / SW IV, 404, 408; Schelling 1809a, 419 / SW VII,
350), von »Vernunftwissenschaft« (Schelling 1803a, 129 / SW V, 270; SW V, 381;
SW VI, 214; Schelling 1805b, 75 / SW VII, 189; Schelling 1806a, 19, 23 / SW VII,
33, 35; Schelling 1806b, IX / SW II, 359), von »Naturphilosophie« (SW VI, 494;
Schelling 1806a, 15–19 / SW VII, 30–33; Schelling 1812, 9 f. / SW VIII, 26 f.; ferner:
Schelling 1802f, 1–5 / SW V, 106–109; Schelling 1803b, 78–85 / SW II, 67–71), von
»Pantheismus« (vgl. SW VI, 177; Schelling 1809a, 402–419, 502 f. / SW VII, 338–
350, 409 f.; SW, VIII 339 f.) oder ganz allgemein vom »System der Philosophie«
(Schelling 1802b, 5 / SW IV, 342; Schelling 1802c, VII / SW V, 6; Schelling 1802d,
14 / SW V, 27; SW V, 363, 371; Schelling 1804, 60 / SW VI, 54; beachte auch die Titel:
Darstellung meines Systems der Philosophie, Fernere Darstellungen aus dem System
der Philosophie und System der gesammten Philosophie). Jede dieser Kennzeichnun-
gen würde eine eigene Erläuterung erfordern, wenn deutlich werden soll, in welcher
Hinsicht sie nicht gänzlich unzutreffend sind. Erst in seiner Spätzeit bezeichnet Schel-
ling das System jener früheren Zeit als ein »Identitätssystem«, aber auch dann nicht
ohne seine Vorbehalte dadurch zu erkennen zu geben, dass er meistens von dem »so-
genannten Identitätssystem« spricht (so SW XI, 371, 373; SW XII, 71): »Nur einmal,
in der Vorrede, also in dem exoterischen Theil meiner ersten Darstellung dieses Sys-
tems, hatte ich es das absolute Identitätssystem genannt, um eben anzudeuten, daß
hier kein einseitiges Reales noch ein einseitiges Ideales behauptet werde […]. Allein
auch diese Bennenung wurde übel gedeutet und von denen, welche nie in das Innere
des Systems eindrangen, benutzt, um daraus zu schließen, oder dem ununterrichteten
Theil des Publikums glauben zu machen, es werden in diesem System alle Unter-
schiede, namentlich jeder Unterschied von Materie und Geist, von Gutem und Bösem,
selbst von Wahrheit und Irrthum aufgehoben« (SW X, 107 f.). Und ferner: »Bekannt-
lich war dieß die Ausdrucksweise des sogenannten absoluten Identitätssystems, ein
Name, den übrigens der Urheber selbst nur einmal gebraucht hat, nur, um es über-
haupt und insbesondere von dem Fichteschen zu unterscheiden […]. Abgesehen von

8
Einleitung

ten Urteil als »kein politischer Denker« oder sogar als der »›unpoli-
tischste‹« Denker »des klassischen deutschen Idealismus«. 19 Dieses
Urteil beruht darauf, dass das ›Politische‹ einer Philosophie aus-
schließlich über ihren Gegenstand definiert wird statt über die Art
der Darstellung. Um zu verstehen, was unter ›Politische Philosophie‹
zu verstehen sei, verdienen die nachfolgenden Überlegungen zum
Problem der Darstellung deshalb besondere Beachtung. Zudem ope-
riert das genannte Urteil mit einer für selbstverständlich erachteten
Festlegung dessen, was als ›Gegenstand‹ einer als ›politisch‹ zu be-
zeichnenden Philosophie zu gelten hat und was nicht. Nun hat Schel-
ling in Philosophie und Religion die Herausforderung des Glaubens
gerade darin gesehen, dass er die Philosophie ihrer Gegenstände be-
raube, weshalb er es zu seinem Programm erklärt, »diejenigen Ge-
genstände, welche der Dogmatismus der Religion und die Nichtphi-
losophie des Glaubens sich zugeeignet haben, der Vernunft und der
Philosophie zu vindiciren«. 20 Diese ›Gegenstände‹ beschränken sich
nicht nur oder nicht in erster Linie auf die sogenannten ›politischen
Dinge‹, sondern er hat sie durch die Überschriften der Abschnitte, aus
welcher die Schrift besteht, deutlich genug zu erkennen gegeben.
Wenn ich auch an geeigneter Stelle näher erörtern werde, weshalb
die Erörterung der ›politischen Dinge‹ in Schellings Denken einen
vergleichsweise geringen Stellenwert aufweist, und das Argument,
das sich in dieser ›Lücke‹ verbirgt, herauszuarbeiten suchen werde,
so darf es an dieser Stelle genügen, daran zu erinnern, dass bereits
die »naturphilosophische[n] Untersuchungen«, auf welche Schelling
sich lange »beschränkt« habe, 21 eminent politisch sind, wie wenigs-
tens seine Zeitgenossen wie durch einen Schleier wahrgenommen zu
haben scheinen, da sie durch die Naturphilosophie die geläufigen Vor-
stellungen von Moral und Religion gefährdet sahen. Wenn es Schel-
ling zufolge auch »für das Innere der Wissenschaft […] vorerst

dieser nächsten geschichtlichen Beziehung ist der Name zu allgemein, um etwas zu


sagen« (SW XI, 371 f.). Wenn der Ausdruck ›Identitätssystem‹ schließlich prominent
im Titel des Gesprächs Ueber das absolute Identitäts-System und sein Verhältniß zu
dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus figuriert, dann ist zu beachten, dass nach
einer der zentralen Thesen dieses Gesprächs Reinholds Dualismus, indem er Verstan-
des- und Vernunft-Identität verwechselt, nichts anderes als eine Karikatur oder Paro-
die des schellingschen Systems und somit selbst ein »absolutes Identitäts-System« ist.
19
Habermas 1963, 108; Cesa 1986, 226.
20 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.

21
Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f.

9
Einleitung

gleichgültig [ist], auf welchem Wege die Natur construirt wird, wenn
sie nur construirt wird« (AA I,10, 92 f.), so zeigt sich die Wichtigkeit
dieser Konstruktion der Natur erst an dem Gebrauch, den Schelling
von ihr macht und der zuallererst ein kritischer ist: Erst sie erlaubt es,
den Schein zu durchschauen, in welchem der Idealismus befangen
bleibt und der sowohl das Ich als auch das Absolute betrifft, und da-
durch die Basis zu erschüttern, auf welche Moral und Religion auf-
bauen, während das Versäumnis solcher Untersuchungen letztlich
darin mündet, dass auch Philosophen entweder einer Ergänzung der
Philosophie durch den Glauben oder sogar einer Gründung der Phi-
losophie auf den Glauben das Wort reden. Das kritische Potential sei-
ner ›naturphilosophischen Untersuchungen‹ stellt er somit insbeson-
dere dadurch immer wieder unter Beweis, dass er sich derselben als
eines Werkzeugs der Selbstkritik der Philosophie bedient, zum Zweck
der Selbsterkenntnis des Philosophen. Allein aus diesem Grund be-
reits wäre die Rede von Schellings Politischer Philosophie berechtigt.

10
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Die Intention Schellings muss unverstanden bleiben, solange man


sich nicht über seine Kunst des Schreibens im Klaren ist. In der Tat
äußert Schelling sich immer wieder zu Fragen der Darstellung. Merk-
würdigerweise hat man sich diese Erklärungen bislang nicht zu Nutze
gemacht, um der durch seine eigenwillige Darstellungsweise aus-
gelösten Irritation zu begegnen und sie für sich fruchtbar zu machen.
Stattdessen hat man sich damit begnügt, diese Irritation dadurch gut-
zuheißen, dass man auf Schellings schriftstellerisches Ungeschick
oder auch seine bedauerliche Anpassung an damalige Moden ver-
weist. Damit hat man Schelling an einem Maßstab des klaren und
deutlichen Schreibens gemessen, dem er erklärtermaßen gar nicht
genügen wollte, 1 vielleicht weil er genau wie Xenophon der Meinung
war, dass, was schön und in ordentlicher Folge geschrieben ist, eben-
deshalb nicht schön und in ordentlicher Folge geschrieben ist und die
Kunst des Schreibens sich nicht in Klarheit und Deutlichkeit er-
schöpft. 2 Gleich im »Vorbericht« zu Philosophie und Religion erklärt
Schelling sich umständlich zu der Form, die er für diese Schrift ge-
wählt habe. Diese Erklärungen verdienen eine genaue Erwägung.
Nach einer ersten Sichtung der Probleme, die der »Vorbericht« auf-
wirft, werden wir deshalb näher auf Schellings Begriff der Darstel-
lung eingehen sowie auf die Probleme, die sich für ihn damit verbin-
den. Die zentrale Aussage des »Vorberichts«, wonach Schelling es für
nötig erachtete, ein Gespräch, dem »zur öffentlichen Erscheinung nur
die letzte Vollendung« fehlte, durchgreifend zu überarbeiten, um auf
Eschenmayers Bedenken antworten zu können, während er zugleich
erklärt, dass eine sachdienliche Erklärung über jene von Eschenmayer
berührten »Verhältnisse« »[a]m besten […] ohne Zweifel durch das
Gespräch selbst geschehen« wäre, verlangt eine umständlichere Erör-

1 Vgl. Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.


2
Xenophon, Kynegetikos, XIII 6.

11
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

terung. 3 Schelling unterscheidet damit nämlich zwischen der sym-


bolischen Form, die er dem Gespräch Bruno gegeben hatte, und der
Form, in welcher er in Philosophie und Religion seine Auseinander-
setzung mit Eschenmayer führt. Die Absicht, die er mit dieser Form
verfolgt, lässt sich somit erst im Kontrast zur symbolischen Form
erschließen. Dabei wird sich zeigen, dass es die besondere Natur sei-
nes vordergründigen Adressaten ist, der er die Form anpasst. Wir
werden dabei auch Gelegenheit haben, auf die wichtigsten Schriften
Schellings aus der Zeit von 1801 bis 1812 hinzuweisen, deren Form
maßgeblich durch einen idealtypischen vordergründigen Adressaten
bestimmt ist, wenn auch andere Lesertypen dabei niemals außer Acht
gelassen werden. Daraus dürfte deutlich werden, wie diese Schriften,
trotz ihres auf den ersten Blick disparaten Charakters, sämtlich Glie-
der einer konsistenten Konstellation bilden, die man als ein ›System‹
bezeichnen dürfte, wenn dieses ›System‹ sich auch ein wenig von dem
unterscheidet, was man üblicherweise darunter versteht und gemes-
sen woran Schellings Darstellungen sich allerdings nur als mangel-
haft ausnehmen könnten. Dabei wird sich hoffentlich auch zeigen,
dass die Feststellung eines Mangels an Dialektik bei Schelling, den
dieser durch einen Rekurs auf die Anschauung auszugleichen suche,
vordergründig bleibt. Schließlich wird sich zeigen, wie die Bezug-
nahme auf die Mysterien alles andere als eitle Geheimnistuerei ist,
sondern dass man sich derselben vielmehr als eines Schlüssels zu
einem angemessenen Verständnis von Schellings Philosophie zu be-
dienen vermag.

1. Der »Vorbericht«

Angefangen bei ihrem geringen Umfang 4 über den schlichten Titel


bis zum Aufbau derselben mit vier Abschnitten, die jeweils mit einer
das zu behandelnde Thema bezeichnenden Überschrift versehen sind,
und das Ganze von einem »Vorbericht«, einer »Einleitung« und
einem »Anhang« eingerahmt, präsentiert die Schrift Philosophie
und Religion sich wenigstens von der formalen Anlage her zunächst

3 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.


4
In der Originalausgabe zählt die Schrift VI und 80 Seiten. Allerdings sind die Seiten
73–74 doppelt gezählt; wir werden sie in der Folge als 73a–74a bzw. 73b–74b angeben.
In den Sämmtlichen Werken findet man sie in SW VI, 13–70.

12
Der »Vorbericht«

von einer bestechenden Schlichtheit. Zudem scheint es Schelling da-


rin um nichts mehr zu tun zu sein, als bloß auf einige von Eschen-
mayer vorgebrachte Einwände zu erwidern. Alles scheint also darauf
angelegt, einen unscheinbaren, harmlosen Eindruck zu erwecken –
als handle es sich um nicht mehr als eine Gelegenheitsschrift. Diesen
Eindruck scheint Schelling noch bekräftigen zu wollen, wenn er sie
gelegentlich als eine »kleine Schrift« bezeichnet. 5 Diesmal, so scheint
es, keine formalen Experimente, wie beispielsweise in der Darstellung
meines Systems der Philosophie von 1801, in welcher Schelling seine
Lehre nach dem Muster der Ethica Spinozas in einer Reihe von Lehr-
sätzen, Beweisen, Anmerkungen und Erläuterungen in äußerster
Kürze darstellt (vgl. AA I,10, 115) oder wie im Bruno von 1802, der
sich in Stil, Ton und Diktion das platonische Vorbild zu eigen macht. 6
Ebenso wenig ein heiteres, provokativ-spöttisches Gespräch wie Ueber
das absolute Identitäts-System, ebenfalls von 1802, oder ein fingierter
Briefwechsel wie die frühen Philosophischen Briefe von 1795.
Allerdings ist der Schrift ein »Vorbericht« vorangestellt, der den
»aufmerksame[n] Leser« vielleicht davon abhalten dürfte, sich die-
sem Eindruck der Harmlosigkeit vorbehaltlos hinzugeben. 7 Die äuße-
re Schlichtheit ist insofern trügerisch, als im »Vorbericht« sogleich
auf ein höchst verwickeltes Textgeflecht hingewiesen wird, in welches
die vorliegende Schrift eingebunden ist. Zum einen handelt es sich
um die Fortführung einer früheren Schrift, des Gesprächs Bruno.
Während man hätte erwarten können, dass Schelling die Form des
Gesprächs dazu beibehält, hat er der Folge eine völlig neue und an-
dersartige Form gegeben. Dadurch ist der Zusammenhang zwischen
beiden Schriften, wenigstens in formaler Hinsicht, bereits so weit
aufgehoben, dass sie sich nicht mehr nahtlos aneinander anschließen
lassen. Die Rede von einer Fortsetzung wird dadurch fast wieder ge-
genstandslos. 8 Zum anderen setzt Schelling sich fortwährend mit

5 Vgl. z. B. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804; F. W. J. Schelling an


K. J. H. Windischmann, 22. April 1804 u. 26. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71, 78,
89.
6 Vgl. zu Schellings Fähigkeit, den platonischen Ton im Deutschen wiederzugeben,

übrigens auch seine Übersetzung einer Gorgias-Stelle (abgedruckt in Franz 1996,


308–312; Franz’ Kommentar dazu: Franz 1996, 232 f.).
7 Schelling 1804, III / SW VI, 13.

8 Es ist dies übrigens kein Einzelfall. So suggeriert der Titel Fernere Darstellungen

aus dem System der Philosophie eine Fortführung der ein Jahr älteren Darstellung
meines Systems der Philosophie. Aus der Schrift selbst wird jedoch klar, dass diese
weniger eine Fortsetzung derselben als vielmehr eine erneute Darstellung des Sys-

13
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Eschenmayers Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang zur


Nicht-Philosophie auseinander. In derselben stützt Eschenmayer sich
über weite Strecken auf eine Interpretation von Schellings früheren
Schriften, auf welche dieser seinerseits wieder antwortet, indem er
einige wichtige Hinweise darüber erteilt, wie man mit denselben um-
zugehen habe. Schellings Schrift kommentiert also parallel sowohl
seine eigenen Schriften als auch Eschenmayers Interpretation der-
selben. 9 Um Philosophie und Religion zu verstehen wird der Leser
demnach nicht nur dazu aufgefordert, sich mit Eschenmayers Schrift
vertraut zu machen, sondern ebenso mit Schellings früheren Schrif-
ten, wenn er denn in der Lage sein will, Eschenmayers Interpretation
und Schellings Erwiderung angemessen zu beurteilen. Dadurch wird
die Erwartung des Lesers an eine, wenn nicht umfassende, dann doch
wenigstens in sich geschlossene Darstellung des schellingschen Sys-
tems bereits enttäuscht. Stattdessen findet er sich mit einem Text-
geflecht von einer kaum durchschaubaren Komplexität konfrontiert,
eine Art Labyrinth, wozu die vorliegende Schrift nur eine von meh-
reren Eingänge bildet, während alle diese Texte auf eine nicht offen-
sichtliche, sondern unterirdische Weise miteinander kommunizieren.
Darauf scheint Schelling den Leser auch aufmerksam machen zu wol-
len, wenn er im Rückblick alle »seine Schriften für Bruchstücke eines
Ganzen« erklärt. 10 Solche Bruchstücke verhalten sich zueinander al-
lerdings nicht etwa wie Puzzlestücke, die sich, wenn man es nur lange
genug versucht, letztlich zu einem bruchlosen Ganzem zusammen-
fügen ließen – wozu wohl kaum »eine feinere Bemerkungsgabe, als
sich bei zudringlichen Nachfolgern, und ein besserer Wille, als sich
bei Gegnern zu finden pflegt, erfordert wurde«, um den »Zusammen-
hang« »einzusehen«. 11 Stattdessen soll, nach der bei Schelling geläu-
figen Figur des Organismus, das Ganze im Teil präsent sein, jenes also
aus diesem erschließbar. Der »Vorbericht« lässt demnach eine Schrift
von einer erheblichen rhetorischen Komplexität erwarten, eine Er-
wartung, die sich in der Folge auch durchaus bestätigt.

tems aus einer allerdings anderen Perspektive enthält. Im Falle jener Schrift, die
Schelling ausdrücklich für eine Weiterführung jener Darstellung ausgibt (die sog.
Freiheitsschrift), ist ebenso wenig zu ersehen, wie sich diese an die geometrische Form
der früheren Schrift anschließen ließe (vgl. Schelling 1809a, VIII f. / SW VII, 333 f.).
9 Ähnlich war Schelling bereits einige Jahre zuvor in noch größerem Umfang in dem

Gespräch Ueber das absolute Identitäts-System vorgegangen.


10 Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

11
Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

14
Der »Vorbericht«

Diese rhetorische Komplexität ist der Deutlichkeit und Verständ-


lichkeit allerdings nicht sonderlich zuträglich. So dürfte der Leser sich
in seinem ersten Leseeindruck bestätigt fühlen, wenn Schelling rück-
blickend erklärt, dass Philosophie und Religion »freylich durch
Schuld der Darstellung undeutlich geblieben« ist. 12 Diese Bemerkung
lässt allerdings noch offen, ob ihm dies erst nachträglich, durch die
Rezeption, die der Schrift zuteilwurde, zu Bewusstsein kam oder ob
diese in der Weise der Darstellung begründete Undeutlichkeit von
Anfang an von ihm beabsichtigt war. Jedenfalls erklärt er bereits ein
Jahr nach deren Erscheinen, dass sie den meisten Lesern unverständ-
lich bleiben wird, ohne darin allerdings einen Grund zu sehen, sich
um größere Verständlichkeit zu bemühen. 13 Wenn er nun in diesem
Zusammenhang von Leibniz bemerkt, dass dieser »ein ziemlich klares
Bewusstseyn hatte über die einzige auf jene Frage [nach dem Ur-
sprung der Endlichkeit und des Bösen, R. S.] mögliche Antwort«,
»der weise Mann« aber »in seinem Zeitalter Gründe genug« gefun-

12
Schelling 1809a, IX / SW VII, 334. Die Bemerkung lässt sich nicht, wie Horst Fuhr-
mans es will, als eine Selbstkritik deuten, als ob Schelling damit erklärte, dass er von
der Lehre, wie er sie in Philosophie und Religion dargelegt hatte, inzwischen abge-
rückt wäre (vgl. Fuhrmans 1954, 70). Schelling bemerkt nämlich nicht, dass er jene
Lehre nicht mehr unterschreibt, sondern nur, dass sie »undeutlich geblieben« ist, d. h.
dass sie von seinen Lesern nicht verstanden worden ist (Schelling 1809a, IX / SW VII,
334). Den Grund dieses Unverständnisses sieht er allerdings in der von ihm gewähl-
ten Darstellungsweise. Zu fragen ist, ob jene Undeutlichkeit – für eine bestimmte
Klasse von Lesern – nicht von Anfang an beabsichtigt war. Aus keiner der weiteren
Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion und Freiheitsschrift lässt
sich eine eindeutige Absage an erstere Schrift herauslesen. – Die Bemerkung findet
sich in der »Vorrede« zum ersten (und einzigen) Band der 1809 veröffentlichten Phi-
losophischen Schriften, der auch die Freiheitsschrift enthält, und zwar gerade in dem
Teil der »Vorrede«, der letztere Schrift betrifft. Wenn Louis van Bladel zu Recht be-
merkt, dass Schelling in der Freiheitsschrift »dazu übergeht, die noch undeutlich ge-
bliebene Lehre aus Philosophie und Religion zu klären«, so bleibt dennoch fraglich, ob
die für die Freiheitsschrift gewählte Darstellungsweise sich zur größeren Deutlichkeit
besonders eignet (van Bladel 1965, 56). So spricht Thomas Buchheim von einem
»schwer zu durchschauende[n], in Gliederung und Gedankenführung scheinbar ver-
schwommene[n] Text« (Buchheim 1997, 169). Die »scharf gegliederte Struktur des
Argumentationsgangs« wird dadurch verschleiert, dass Schelling jede äußerlich sicht-
bare Gliederung unterlassen hat (ebd.). Vgl. zur Gliederung Tagebücher 1809–1813,
14 f. Fast am Ende der Schrift bemerkt Schelling in einer langen Fußnote: »Manches
konnte hier schärfer bestimmt und weniger lässig gehalten, manches vor Misdeutung
ausdrücklicher verwahrt werden. Der V f. unterliess es zum Theil absichtlich« (Schel-
ling 1809a, 503 / SW VII, 410; Herv. v. Verf.). Gleich anschließend verweist er erneut
auf Philosophie und Religion.
13
Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197.

15
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

den hat, diese dennoch »nicht mit consequenter Klarheit durch-


geführt zu zeigen« und er es ihm auf der nächsten Seite nachmacht,
indem er es »dem Leser selbst« überlässt, »sich hieraus die angemes-
sene Erläuterung auch für unsre Ansicht zu nehmen«, dann dürfte
dem Leser allmählich fraglich werden, ob die Undeutlichkeit restlos
Schellings schriftstellerischem Ungeschick zuzuschreiben ist. 14
Nicht erst im Rückblick macht Schelling auf die eigentümliche
Darstellungsart von Philosophie und Religion aufmerksam, auf die
ungewöhnlichen Anstrengungen, die sie dem aufmerksamen Leser
abfordert und auf den ›Inhalt‹, den sie für diesen bereithält, während
sie ihn dem leichtsinnigen Leser entzieht, und von dem es heißt, dass
er »brennt«. 15 Im ganzen »Vorbericht« behandelt er eingehend und
ausschließlich Fragen der Darstellung, der Mitteilung und der Ver-
ständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von philosophischen Lehren. 16
Auch ist dies kein Einzelfall. Bereits aus der Darstellung meines Sys-
tems der Philosophie geht deutlich hervor, dass Schelling sich durch-
aus dessen bewusst war, dass sie für die meisten Leser unverständlich
bleiben musste. Zwar bemerkt er in der »Vorerinnerung«, dass er sich

14 Schelling 1805b, 84 f. / SW VII, 195 f.


15 Schelling 1804, VI / SW VI, 15.
16 Die anhaltende Reflexion über Fragen der Darstellung und Mitteilung von phi-

losophischen Gedanken, die Schelling bereits während seiner Studienzeit besonders


beschäftigt hatten, wie seine Studienhefte bezeugen (abgedruckt in Franz 1996, 283–
320 und AA II,4, 15–28), dürfte die Erklärung der Undeutlichkeit dieser Schrift aus
ihrer eiligen Verfassung als selbst voreilig erscheinen lassen. So schreibt Xavier Til-
liette über Philosophie und Religion, die Schrift sei »hâtivement confectionnée et sans
doute prématurée«. Auch von der Darstellung heißt es, sie sei »hâtivement compo-
sée«. Sogar die Philosophischen Untersuchungen seien »rapidement rédigées«, an-
geblich so schnell, dass Schelling »sur le coup ne semble pas [en] mesurer l’importan-
ce«, »n’avait pas conscience d’avoir produit un ouvrage à faire époque« und erst nach
Erscheinen derselben »prend conscience de son originalité« (Tilliette 1999, 149, 136,
168). An der Darstellung hat Schelling den ganzen Herbst und Winter, möglicher-
weise bereits ab dem Sommer gearbeitet (AA I,10, 24 f. (Ed. Bericht)), wobei noch zu
bemerken ist, dass er, besonders im naturphilosophischen Teil derselben (§§ 51–159),
auf Einsichten aus früheren Schriften zurückgreifen konnte. Aus den Tagebüchern
können wir ersehen, wie überlegt und planmäßig Schelling bei der Verfassung der
Freiheitsschrift vorging (vgl. Tagebücher 1809–1813, 12–15). Was schließlich Phi-
losophie und Religion betrifft, so bemerkt Schelling, dass er mit der Schrift Eschen-
mayers »gleich bey ihrer Erscheinung […] bekannt« war (F. W. J. Schelling an C. A.
Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71). Auch hier hatte er also mehre-
re Monate Zeit, um eine nur wenig umfangreiche Schrift zu verfassen, wobei er
ebenfalls auf vorliegendes Material zurückgreifen konnte (vgl. Schelling 1804, III /
SW VI, 13).

16
Der »Vorbericht«

um die »größte Kürze der Darstellung« bemüht habe, weil diese »die
Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10,
115). Gerade diese fast provozierend anmutende Knappheit der Dar-
stellung dürfte allerdings die Unverständlichkeit des Ganzen noch
erheblich steigern. So verzichtet er beispielsweise auf Definitionen
der den Argumentationsgang tragenden Begriffe. Dass Schelling sich
über die Verständnisschwierigkeiten, die er dem Leser dadurch be-
reitet, durchaus im Klaren war, geht auch daraus hervor, dass er über
dieselben in den beigegebenen Anmerkungen und Erläuterungen
immer wieder reflektiert. Diese bieten dem Leser nicht Definitionen
oder Präzisierungen, die ihn imstande setzen würden, die Hindernis-
se zu beseitigen, sondern sie weisen ihn lediglich darauf hin, dass die
Unverständlichkeit des Textes möglicherweise nicht ausschließlich
dessen eigentümlicher Gestalt zuzuschreiben ist, sondern ihren
Grund, außer in der Sache selbst, auch in einer dem Leser beinahe
natürlichen Haltung haben könnte. Das Verstehen erfordert vielmehr
eine Abgewöhnung von festen Lesegewohnheiten 17 und ein Verges-
sen von »gangbaren Begriffe[n]« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)). Schließ-
lich wird dem Leser mit unverkennbarer Ironie versichert, dass die
gebotenen Demonstrationen »vollkommen verständlich seyn wer-
den, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe
subjectiv und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem
Satz genau eben das denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Er-
innerung, die wir hiemit ein für allemal machen« (AA I,10, 125 (§ 23
Erl.); Herv. v. Verf.), ohne dass ihm, wie es scheint, Mittel in die Hand
gegeben werden, sich dessen zu vergewissern, ob er denn ›bey jedem
Satz genau eben das denkt‹, was Schelling gedacht haben will. Wenn
dieser sich dann am Schluss des Textes trotzdem zuversichtlich zeigt,
dass die »größere Anzahl meiner Leser« imstande sein wird, »den
Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu begreifen (AA
I,10, 211 Anm. F), dann wird die Bestimmtheit dieser Erklärung
durch die Zwischenbemerkung, dass es »nicht unmöglich ist«, »den
Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu erschließen (AA
I,10, 211 Anm. F; Herv. v. Verf.), doch wieder relativiert und ironi-
siert. Die Rezeption scheint jedenfalls zu belegen, dass die Darstel-

17 Vgl. AA I,10, 117 (§ 2 Erl.), 130 f. (§ 32 Anm.). An letzterer Stelle ist die Rede von
denjenigen, »welche in den gewöhnlichen Vorstellungen so fest, und gleichsam ver-
härtet sind« (hier setzt Schelling sogar einer Parataxe ein). Das Verstehen philosophi-
scher Beweise setzt einen Losriss aus solchen Vorstellungen voraus.

17
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

lung in der Tat unverstanden geblieben ist, da bislang kein eingehen-


der Kommentar derselben vorliegt und die Kommentatoren es statt-
dessen vorziehen, auf ›fasslichere‹ Darstellungen wie Bruno oder die
Ferneren Darstellungen auszuweichen. 18
Es ist offenkundig, dass gerade die Darstellung dem Verständnis
von Schellings Lehre erhebliche Probleme bereitet. Diese das Ver-
ständnis erschwerende Darstellung scheint, wie sich gezeigt hat, von
Schelling durchaus beabsichtigt. Damit stellt sich die Frage, welche
Absicht Schelling denn gerade mit dieser problematischen Darstel-
lung verfolgt. Lassen sich aus seinen Äußerungen Hinweise zu einem
grundlegenden Problem entnehmen, das zu einer solchen Darstellung
nötigt? Falls es gelingen würde, ein nachvollziehbares Argument frei-
zulegen, weshalb dem Philosophen die Darstellung einer Lehre not-
wendig zu einem mehr als nebensächlichen Problem werden muss,
dürfte dies auch dazu beitragen, Schellings Schriften nicht länger an
einem Maßstab der Klarheit, Deutlichkeit und Übersichtlichkeit zu
messen, wonach sie zwangsläufig als defizient empfunden werden
müssen. Welche Probleme verbinden sich für Schelling insbesondere
mit dem Begriff der ›Darstellung‹ ?

2. Der Begriff der ›Darstellung‹

Bereits durch ihren Titel lenkt die Darstellung meines Systems der
Philosophie die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Darstellung. Der
Begriff ist allerdings mehrdeutig oder vielschichtig. In der Tat bohrt
Schelling im Laufe der nur wenige Seiten umfassenden »Vorerinne-
rung« nach und nach mehrere dieser Schichten an. Zunächst, auf den
ersten Seiten der »Vorerinnerung«, kommen gehäuft Ausdrücke vor,
die auf die Differenz von Darstellung als Ausführung, als schriftliche
Fixierung und als Veröffentlichung hindeuten. Zu nennen sind Aus-
drücke wie »öffentlich aufstellen«, »zur Bekanntschaft aller bringen«,
»vortragen«, »erscheinen«, »Darlegung«, »Ausführung«, »Behand-
lung« (AA I,10, 109, 114 f.). Danach wäre ›Darstellung‹ als eine
Handlung zu verstehen, die einer Sache eine öffentlich sichtbare
Existenz oder Präsenz verschafft. Auf ›Darstellung‹ im Sinne einer

18
Unter den wenigen Ausnahmen: Blanchard 1979, 308–312; Buchheim 1990, 334–
336; Buchheim 1992, 57–60, 74–80; Florig 2010, 85–110; Jürgens 2000; Korsch 1980,
106–110; Tilliette 1992, 305–333.

18
Der Begriff der ›Darstellung‹

›Ausführung‹, die die Leistungsfähigkeit eines Prinzips dadurch un-


ter Beweis stellt, dass sie die Folgen nachweist, die sich aus ihm ab-
leiten lassen, brauchen wir an dieser Stelle noch nicht einzugehen.
Eine Darstellung in diesem Sinne verlangt, dass bereits vorher ge-
zeigt wurde, wie dieses Prinzip zu finden ist. Dies dürfte vielleicht
den abrupten Anfang jener Darstellung erklären helfen. Wie dem
auch sei, das Problem der ›Darstellung‹, das in der »Vorerinnerung«
im Vordergrund steht, scheint ein anderes zu sein. Schelling deutet es
dadurch an, dass er erklärt, dass er diese Darstellung »früher als [er]
selbst wollte«, veröffentlicht (AA I,10, 109). Auch eine Veröffent-
lichung ist eine ›Darstellung‹, indem sie etwas vorher bloß Gedachtes
oder vielleicht sogar schriftlich Fixiertes ›zur Bekanntschaft aller‹
bringt. Die Durchführung eines Prinzips und die Veröffentlichung
der auf diesem Wege gewonnenen Ergebnisse scheinen Anforderun-
gen zu stellen, die nicht zwangsläufig zu harmonieren brauchen. Da-
rauf macht auch der »Vorbericht« von Philosophie und Religion auf
eine auffällige Weise aufmerksam, indem es dort heißt:
Das im Iahr 1802 erschienene Gespräch: Bruno oder über das göttliche
und natürliche Princip der Dinge, ist seiner Anlage nach der Anfang
einer Reihe von Gesprächen, deren Gegenstände auch in ihm zum vo-
raus bezeichnet sind. Dem zweyten Gespräch in dieser Folge fehlte,
schon seit längerer Zeit zur öffentlichen Erscheinung nur die letzte
Vollendung, welche ihm zu geben, äussere Umstände nicht zugelassen
haben. 19
Die Veröffentlichung muss auf ›äussere Umstände‹ Rücksicht neh-
men, wie es die Durchführung des Prinzips, die nur dessen immanen-
ter Logik gehorcht, nicht zu tun braucht. Darüber, was es war, das zur
letzten Vollendung noch fehlte, erklärt Schelling sich allerdings nicht,
außer dass er es ›äusseren Umständen‹ zuschreibt. Welche oder wel-
cher Art diese äußeren Umstände sind, erläutert Schelling nicht.
Ebenfalls bleibt offen, ob diese Umstände die Fertigstellung positiv

19 Schelling 1804, III / SW VI, 13. Übrigens hält Schelling noch lange am Vorhaben
fest, das zweite Gespräch bzw. die ganze Gesprächsreihe zu vollenden. Erst 1806, dann
1811 ist das zweite Gespräch so weit gediehen, dass er eine Veröffentlichung erwägt,
den Plan dann letztendlich doch aufgibt. Vgl. F. W. J. Schelling an F. Unger, 8. Februar
1806, Fuhrmans, Briefe III, 304; F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 21. Feb-
ruar 1806, Fuhrmans, Briefe III, 309; F. Unger an F. W. J. Schelling, 18. März 1806,
Fuhrmans, Briefe III, 320. Ferner Fuhrmans, Briefe III, 346 f.; und die Briefe von
F. W. J. Schelling an J. F. Cotta, 18. Oktober 1807, 26. Februar 1808, 15. November
1808, 13. Januar 1809, 30. Januar 1811, Schelling-Cotta 21, 27, 37, 39, 50.

19
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gehindert haben oder ob vielleicht eher das Ausbleiben bestimmter


Umstände sie nicht erlaubt hat. Jedenfalls wird die Veröffentlichung
eines Textes dadurch als eine besondere Tat hervorgehoben. 20
Auch ist dieser Hinweis auf äußere Umstände als entscheidend für
die ›öffentliche Erscheinung‹ einer Schrift oder für den Verzicht da-
rauf nicht einmalig, sondern bildet vielmehr ein wiederkehrendes
Motiv. Während Schelling in der »Vorerinnerung« zur Darstellung
von 1801 bemerkt, dass er sich »durch die gegenwärtige Lage der
Wissenschaft, getrieben [sieht], früher als ich selbst wollte, 21 das Sys-
tem selbst, welches jenen verschiednen Darstellungen bei mir zu
Grunde gelegen, öffentlich aufzustellen, und was ich bis jetzt bloß
für mich besaß, und vielleicht mit einigen wenigen theilte, zur Be-
kanntschaft aller zu bringen, welche sich für diesen Gegenstand inte-
ressiren« (AA I,10, 109), da führt er in der Fußnote, die den Text
beschließt, erneut »Zeit und Umstände« an, die es nicht »erlaubten
[…] sie in einem folgenden Heft sogleich fortzusetzen« (AA I,10, 211
Anm. F). Sowohl für die verfrühte Bekanntmachung als für den Ver-
zicht auf eine unmittelbare Fortsetzung werden äußere Umstände
verantwortlich gemacht, während zugleich offen gelassen wird, wel-
che diese konkret sind. Auch die Präzisierung, dass ›die gegenwärtige
Lage der Wissenschaft‹ ihn zur verfrühten Veröffentlichung genötigt
habe, erlaubt es nicht, zu ersehen, worauf Schelling damit abzielt. 22
Jedenfalls dürfte es denjenigen, der ›Zeit und Umstände‹, die zu einer
Unterbrechung der Darstellung nötigten, mit anderweitigen Ver-
pflichtungen in Verbindung bringt, die Schelling keine Zeit für
schriftstellerische Tätigkeit übrigließen, verwundern, dass dieser im
nächsten Jahr in rascher Folge eine ganze Reihe von Schriften ver-
öffentlicht, ohne dass in einer derselben die Fortsetzung auch nur
ansatzweise zu finden ist. Wir dürfen somit vermuten, dass mit jenen
Umstände wohl andere als bloß zufällige Hindernisse gemeint sind.

20 Vgl. auch Schelling 1802d, 83 f., 90 f. / SW V, 72 f., 76 f.


21
Ein Jahr zuvor hieß es nämlich noch, dass er erst, »[s]obald ich hoffen kann, daß der
Inhalt jenes Werks in die allgemeine Gedankenmasse gedrungen und aufgenommen
sey, […] mit dem, was ich darauf gründen will, den Anfang machen [werde]« (AA I,8,
366). Wenn Schelling auch das System, das er dann ein Jahr später mit der Darstel-
lung vorlegt, hier bereits ankündigt, so wird dennoch dessen Veröffentlichung auf
später verschoben. Die Veröffentlichung wird dann im Januar 1801 öffentlich ange-
kündigt (vgl. AA I,10, 88, 97, 101).
22
Horst Fuhrmans vermutet, dass Fichtes Ankündigung einer neuen Darstellung der
Wissenschaftslehre Schelling zur verfrühten Bekanntmachung seines Systems bewog
(vgl. Fuhrmans, Briefe I, 223 f.).

20
Der Begriff der ›Darstellung‹

Jedenfalls scheinen äußere Umstände für die Entscheidung zur Ver-


öffentlichung eine ausschlaggebende Rolle zu spielen.
Während Schelling sich darüber ausschweigt, welche Umstände
ihn auf die Fertigstellung und Veröffentlichung des an den Bruno
anschließenden Gesprächs haben verzichten lassen, erklärt er sich
wenigstens zu jenen Umständen, die ihn dazu bewegt haben, jenes
Gespräch in einer überarbeiteten Form als Philosophie und Religion
zu veröffentlichen. Erneut ist es ein äußerer Anlass, der ihn dazu
bewegt, sich über gewisse »Ideen« und »Verhältnisse« zu erklären:
das Erscheinen der »merkwürdigen Schrift Eschenmayers«. 23 Die äu-
ßeren Umstände spielen somit nicht nur für die Entscheidung zur
Veröffentlichung eine Rolle, sondern sie wirken sich auch auf die
Form aus. Schelling lässt die Einbindung derselben in einem Realkon-
text, in dem Fragenhorizont seiner Zeit, dadurch aufscheinen, dass er
darauf verzichtet, ihr die abgerundete Form oder die Geschlossenheit
eines »Werk[es] bildender Kunst« zu erteilen, das keine besondere
Rücksicht auf mögliche Betrachter nimmt, sondern »auch in die Tiefe
des Meers versenkt und von keinem Auge gesehen, nicht aufhört
Kunstwerk zu seyn«. 24 Dadurch wird die Erwartung, dass diese
Schrift für sich bestehen könne und aus sich heraus, ohne Berück-
sichtigung des Kontextes, in welchen sie sich einschreibt und ein-
greift, verständlich sein müsse, bereits im »Vorbericht« enttäuscht.
Die geschlossene Form ist zerstört worden, damit die Schrift auch
die äußerlichen Spuren davon trägt, nur eine Intervention in statt-
findende Debatten zu sein. Auch dies dürfte kein Einzelfall sein, da
Schelling rückblickend sogar so weit geht, zu erklären, dass er »ein
fertiges, beschlossnes System […] bis jetzt nie aufgestellt« habe,
»sondern nur einzelne Seiten eines solchen, (und auch diese oft nur
in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung)«. 25

23 Schelling 1804, III / SW VI, 13.


24
Schelling 1804, IV / SW VI, 14. Vgl. auch Schelling 1803a, 19 / SW V, 223, wo
Schelling, obwohl es »des Philosophen würdiger scheinen [könnte], von dem Ganzen
der Wissenschaften ein unabhängiges Bild zu entwerfen«, es stattdessen vorzieht, das
»Ganze der Wissenschaften« unter ständiger »Beziehung auf die Formen bloß gegen-
wärtiger Einrichtungen« zu entwickeln. Dies gilt nicht nur für seine Konstruktion der
Akademien, sondern auch für die Konstruktion der einzelnen Wissenschaften, die
durchgängig im Ausgang vom geläufigen Selbstverständnis derselben durchgeführt
wird (vgl. Schelling 1803a, 167 f., 205, 232 f., 305 f., 311 f. / SW V, 286 f., 303, 315,
344 f., 347).
25
Schelling 1809a, X / SW VII, 334.

21
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Solche Erklärungen, die sich leicht vermehren ließen, kreisen


sämtlich um das Problem der Darstellung im zunächst wenig markier-
ten Sinne einer öffentlichen Bekanntmachung. Schelling gibt klar zu
erkennen, dass er beim Veröffentlichen durchgängig Rücksicht auf die
Umstände nimmt, unter welchen seine Schriften erscheinen, und auf
den Realkontext, in welchen er mittels derselben einzugreifen ge-
denkt. Sowohl die ›gegenwärtige Lage der Wissenschaft‹ als auch die
Art, wie die zeitgenössische philosophische Debatte geführt wird, wie
auch die Vormeinungen, an welchen sie sich orientiert, hat er zu be-
rücksichtigen, wenn er sich verständlich machen will. Die ›gegenwär-
tige Lage der Wissenschaft‹ wird allerdings eine solche Aufnahme
philosophischer Gedanken begünstigen, die diese möglichst herr-
schenden Vormeinungen oder bereits Bekanntem annähert. Aller-
dings kann ein Autor, der sich über das Neuartige oder Besondere
seiner Aufgabe und seines Vorgehens im Klaren ist, eine solche Re-
zeption durchaus voraussehen. Er ist somit in der Lage, durch gezielte
Hinweise aufmerksamen Zeitgenossen oder künftigen Lesern zu ver-
stehen zu geben, welche Vormeinungen ein angemessenes Verständ-
nis seiner Lehre verhindern könnten. Er kann allerdings auch be-
stimmte Missverständnisse, die er aufgrund seiner Vertrautheit mit
dem Zustand der damaligen philosophischen Debatte voraussehen
kann, willentlich in Kauf nehmen. So bemerkt Schelling bei einer an-
deren Gelegenheit Eschenmayer gegenüber, dass es »für das Innere
der Wissenschaft […] vorerst gleichgültig [ist], auf welchem Wege
die Natur construirt wird, wenn sie nur construirt wird«. So können
auch »die, welche über das Princip sich nicht mit mir verstehen, doch
an den Untersuchungen teilnehmen, da es ihnen frei steht, sich alle
Sätze, wenn es zu ihrem Verstehen nothwendig ist, in die idealistische
Potenz zu übersetzen« (AA I,10, 92 f.). Da Schelling im selben Text die
entscheidende Bedeutung der Unterscheidung von Naturphilosophie
und Idealismus betont (vgl. u. a. AA I,10, 86, 88, 92), kann man diese
Bemerkung nur so verstehen, dass es ihm ›vorerst gleichgültig‹ ist, ob
einige die Naturphilosophie ihrer eigentlichen Bedeutung nach miss-
verstehen, solange sie sich nur an der Konstruktion der Natur betei-
ligen. Schelling ist hier somit in erster Linie an der Wirkung, die diese
Gedanken zeitigen werden, interessiert, weniger daran, dass alle da-
mit auch ein adäquates Verständnis dessen, was sie tun, verbinden. 26

26Wieland 1995, 17. Ich knüpfe hier und in der Folge an die Überlegungen Wielands
an.

22
Der Begriff der ›Darstellung‹

Durch die Veröffentlichung werden philosophische Gedanken al-


len zugänglich, die nur lesen können. Wohl deshalb bezeichnet Schel-
ling seine Texte auch mehrfach als »Acten« oder »Actenstücke«. 27
Der Begriff der Darstellung soll jetzt nicht auf die Differenz von Aus-
führung und Veröffentlichung, sondern auf den Unterschied zwi-
schen der Darstellung seines Denkens und diesem Denken selbst auf-
merksam machen. ›Darstellung‹ erhält jetzt zum einen die Bedeutung
einer ›Akte‹, eines ›Dokuments‹ oder ›Denkmals‹, also des Ergebnis-
ses des Darstellens, zum anderen bezeichnet sie auch die vom Leser zu
erbringenden Eigenleistung. Die Bezeichnung gibt somit Aufschluss
darüber, wie Schelling sich den idealen Leser seiner Schriften vor-
stellt. Eher als Zustimmung oder Ablehnung verlangt er von diesem
vor allem eine eingehende Prüfung seiner Behauptungen. Es ist al-
lerdings kaum zu erwarten, dass jeder, der lesen kann (oder was man
gemeinhin ›lesen‹ nennt), dadurch bereits auch über diejenigen Kom-
petenzen verfügt, die für eine tragfähige Interpretation und eine
sachgerechte Beurteilung erforderlich sind. Die Bekanntmachung
der Aktenstücke garantiert noch nicht eo ipso den Zugang zur Sache
selbst. Eine sachgerechte Prüfung setzt voraus, dass der Prüfende u. a.
darüber im Klaren ist, was die Absicht der Darstellung ist und welche
Sache es denn gerade ist, die zur Darstellung gelangen soll. Dem Ur-
teilsspruch muss eine sorgfältige Auslegung der Akten vorangehen.
Deswegen beschränkt Schelling sich in der »Vorerinnerung« zur Dar-
stellung auch darauf, Reinhold ausschließlich philologisch-herme-
neutische Mängel nachzuweisen, ohne auf dessen sachlich gemeinten
Einwände einzugehen (vgl. AA I,10, 110–115).
Das Publikum ist allerdings keine homogene Masse. Es ist mindes-
tens zu unterscheiden zwischen solchen Lesern, die von sich aus der
erforderten Verstehenshaltung fähig sind, und solchen, die dies nicht
sind. Der Philosoph muss auf beide Adressaten Rücksicht nehmen. Es
kann nämlich nicht schlechthin vorausgesetzt werden, dass der Leser
bereits über die für eine solche Prüfung erforderlichen Kompetenzen
verfügt. Er muss somit dazu befähigt werden, sich diese zu erwerben.
Aus diesem Grund braucht es mehrere Darstellungen. So richtet die
Darstellung meines Systems der Philosophie sich ausdrücklich an
solche Leser, die die erforderte Verstehenshaltung von sich aus mit-
bringen; deshalb nimmt sie auch auf solche, denen diese Haltung

27
Vgl. AA I,7, 65; AA I,10, 211; Schelling 1802d, 15 / SW V, 27.

23
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

fehlt, nur beiläufig Rücksicht. 28 Es ist auch gar nicht zufällig, wenn
Schelling Gegnern wie Anhängern immer wieder vorhält, dass sie ihn
missverstehen. Dies sieht zunächst wie eine bequeme Entgegnung
aus, da man sich dadurch die Mühe zu ersparen scheint, auf Einwände
einzugehen. Das Problem des Verstehens und der Verständlichkeit
hat für die Philosophie aber eine ganz besondere Prägnanz. Die
zugrundeliegende Behauptung lautet, dass es kein »reine[s] Nicht-
begreifen« gibt, sondern dass dieses sich immer in der Gestalt eines
Missverstehens manifestiert. 29 Jede Unverständlichkeit ist nur relativ,
und zwar relativ auf die Verstehenshaltung, mit welcher der Leser
philosophischer Texte an diese herantritt: »[W]as der oft belobte
Cajus oder Titius nicht versteht, ist darum noch nicht unverständ-
lich« (SW X, 163). 30 Die Unverständlichkeit philosophischer Behaup-
tungen ist keine Qualität, die diesen inhäriert, sondern sie ergibt sich
allererst aus der Haltung des interpretierenden Subjekts. Demzufolge
sind philosophische Sätze nur so lange unverständlich, als man mit
einer unangemessenen Verstehenshaltung an sie herantritt und sie
nach einem ungeeigneten Maßstab der Verständlichkeit beurteilt.
Für denjenigen, der sich die für das Verständnis solcher Sätze erfor-
derliche Verstehenshaltung herangebildet hat, sind diese nicht mehr
unverständlich. Die Sache der Philosophie ist denn auch nichts Über-
verständiges, d. h. etwas, was von sich aus jede Möglichkeit eines Ver-
stehens schlechthin ausschließt. In der Mitteilung philosophischer
Inhalte hat der Philosoph also durchaus auf solche Verstehensproble-
me Rücksicht zu nehmen. Es kann ihm nicht genügen, Sätze einfach
hinzustellen, wenn er Grund hat, anzunehmen, dass dem philosophi-
schen Publikum die erforderlichen Kompetenzen zu ihrem Verständ-
nis fehlen. Er muss für den Leser die Mittel bereitstellen, sich solche
Kompetenzen heranzubilden, wenn dieser über Wahrheit oder Un-
wahrheit dieser Sätze urteilen und sie einer Prüfung unterziehen soll.
Das Nicht-Verstehen ist demnach kein Phänomen sui generis. Das
Korrelat des Verstehens ist nicht das Nicht-Verstehen, sondern das
Missverstehen. Das Missverstehen ist selbst eine Form des Ver-
stehens. Man missversteht einen Satz, wenn man ihm eine Aus-
legung unterschiebt, die ihm nicht angemessen ist.

28 Vgl. Schelling 1802b, 34 / SW IV, 361 f.


29
Schelling 1804, IV / SW VI, 14.
30 Laut dem Herausgeber stammt die zitierte Stelle aus der Erlanger Zeit, also 1821–

1827. Vgl. SW XIII, 18–20.

24
Der Begriff der ›Darstellung‹

Nur in trivialen Fällen reicht es zur Behebung eines Missverständ-


nisses aus, die richtige Formulierung einfach an Stelle der falschen zu
stellen. Ein Missverständnis äußert sich zwar zunächst in Aussagen,
in bestimmten Sätzen und Behauptungen. In durchaus den meisten
Fällen lässt sich das Missverständnis gar nicht auf eine derart leichte
Weise beheben, da die Sätze, in welchen sich das Nicht-Verstehen
bzw. Missverstehen ausdrückt, nur Ausdrücke oder eben Symptome
desselben sind. Der Grund des Missverstehens liegt tiefer und ist gar
nicht von der Art eines propositionalen Gebildes. Das Missverständ-
nis beruht auf Gründen, die bis in die Naturanlage, die Erziehung und
die Umwelt des Missverstehenden reichen. 31 In diesem Fall kann die
Ersetzung der falschen Formulierung durch die richtige die Wurzel
des Missverständnisses gar nicht erreichen. Die Grundhaltung, aus
welcher die Missdeutung von Aussagen erfolgt, wäre zu ändern. Eine
solche Änderung ist allerdings durch bloße Aussagen nicht zu be-
werkstelligen. Der Grund des Missverständnisses ließe sich nur mit-
tels einer Darstellung des Prozesses des Missverstehens beheben. In
diesem Prozess muss der Verstehende (oder Missverstehende) immer
mitberücksichtigt werden.
Sätze kommen aber nie vereinzelt, sondern immer in einem be-
stimmten Zusammenhang vor. 32 Eine Form des Missverstehens kann
demnach darin bestehen, einen Satz aus dem Zusammenhang, in wel-
chen er gehört und aus welchem er erst seinen Sinn erhält, heraus-
zunehmen und in einen anderen, ihm fremden Zusammenhang zu
versetzen. Dies gilt übrigens nicht nur für sprachliche Gebilde, son-
dern ebenso sehr für Phänomene: So trifft man ein Phänomen, z. B.
ein organisches Gebilde, nicht in seinem Wesen, wenn man es aus-
schließlich nach solchen Charakteren auslegt, die höchstens für Phä-
nomene einer anderen Klasse (z. B. mechanische Gebilde) mehr als
bloß ›zufällige Werte‹ liefern. Statt das Phänomen aus dem Zusam-
menhang heraus zu verstehen, in welchen es eigentlich gehört, ver-
setzt man es in einen ihm fremden und unangemessenen, in welchem
es nur als eine Art Anomalie erscheinen kann. Auf diese Weise wird
das Phänomen selbst verzerrt und sein eigentlicher Sinn verfehlt. Im

31Wieland 1982, 276.


32Vgl. auch Schellings »Bitte« an die Leser, ihn »nicht nach einzelnen aus dem Zu-
sammenhang gerissenen Stellen zu beurtheilen«. Es folgt eine Typologie solcher Le-
sehaltungen, die notwendig zum Miss- bzw. Nichtverstehen führen sowie eine An-
gabe einiger Bedingungen, die der gute Leser zu erfüllen habe (AA I,2, 69–77).

25
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Zusammenhang mit dem Mechanischen kann das Phänomen des Or-


ganischen in seiner eigentlichen Bedeutung gar nicht erst zur Gel-
tung kommen. 33 Ähnlich versteht man philosophische Sätze nicht
so, wie sie verstanden sein wollen, wenn man sie aus ihrem eigent-
lichen Zusammenhang herausnimmt und in einen für sie fremden
Zusammenhang bringt, in dem sie notwendig einen neuen Sinn er-
halten. Sie lassen sich aber nur so aus ihrem eigenen und eigentlichen
Zusammenhang herausnehmen, dass sie in einen fremden Zusam-
menhang eingebracht werden. Deshalb lässt sich ein Missverständnis
noch immer diskutieren, nämlich dadurch, dass man zeigt, in welchen
– fremden – Zusammenhang diese Sätze eingeführt worden sind, da-
mit man sie diesem oder jenem Sinn habe unterstellen können. Jeder
Leser bringt aber von sich aus einen bestimmten Zusammenhang
mit. So kann Schelling von seinen Lesern erwarten, dass ihr geistiger
Zusammenhang wesentlich von dogmatischen, kantischen oder fich-
teschen Ansichten geprägt worden ist. Diese bilden sozusagen den
Horizont, der ihre Aufnahme von Sätzen bestimmt. Solche Verste-
henshorizonte sind besonders dann zu berücksichtigen, wenn die Ab-
sicht eines Autors sie überschreitet. Deshalb streut Schelling in seine
Texte immer wieder Winke und Warnungen ein und baut formale
Elemente ein, die teils den Leser idealiter dazu bringen, nicht voreilig
zu glauben, den Text verstanden zu haben, teils ihm Mittel an die
Hand geben, sich ein sachgerechtes Verständnis zu erarbeiten. Mit
der Versetzung in einen fremden Zusammenhang werden auch sach-
fremde Maßstäbe der Verständlichkeit an das Phänomen angelegt. So
gilt z. B. ein mechanisches Phänomen erst dann als verständlich, wenn
es gelingt, eine Verbindung zwischen bestimmten Parametern des zu
erklärenden Phänomens und bestimmten kausalen Gesetzen fest-
zustellen. Wird dieses Verfahren nun auf organische Phänomene an-
gewandt, dann wird sich immer ein Rest zeigen: Dieser unverständ-
liche Rest ist ein Symptom dafür, dass die angelegten Maßstäbe
ungeeignet sind, um dieses Phänomen zu verstehen, dass demnach
nach anderen Verstehensweisen zu suchen ist, wenn das Phänomen
in dem, was es ist, verstehen werden soll.
Wir haben bereits erwähnt, wie Schelling für die Unverständlich-
keit seiner Schriften nicht so sehr deren Kürze verantwortlich macht,
sondern vielmehr die Haltung, mit welcher der Leser zunächst an sie
herantritt. Die Form nun soll dieser Haltung Widerstand leisten, sie

33
Dieses Beispiel entlehne ich aus Buchheim 1992, 25 f.

26
Der Begriff der ›Darstellung‹

zu erschüttern suchen. Diese Grundhaltung besteht darin, sich eines


philosophischen Textes als eines Mediums zu bedienen, durch wel-
ches man sich unmittelbar auf den intendierten Gegenstand oder
Sachverhalt beziehen kann. In diese Haltung gehen aber bereits Vor-
meinungen über die Beschaffenheit des Gegenstandes mit ein, die
durch den Widerstand, den der Text dieser Haltung leistet, überhaupt
erst zu Bewusstsein gebracht werden. Man erwartet von einem phi-
losophischen Text Behauptungen darüber, ob ein bestimmter Sach-
verhalt der Fall ist oder nicht. Nur solche Behauptungen erlauben es
dem Leser, sich zu ihnen ein Verhältnis des Zustimmens oder Ab-
weisens zu geben, wobei dies immer noch aus den verschiedensten
Motiven heraus stattfinden kann. Auch dann, wenn man seine Zu-
stimmung oder Ablehnung zunächst aufschiebt, um jene Sätze und
die angeführten Argumente einer näheren Prüfung zu unterziehen,
geschieht dies nur mit der Absicht, nach der durchgeführten Prüfung
seine Zustimmung zu geben oder die Gründe anzuführen, weshalb
man sich einer solchen enthält. Anhänger- oder Gegnerschaft wären
auch dann noch das eigentliche Ziel der Auseinandersetzung mit
einem System.
Diese Verhältnisse lassen sich präzisieren, indem wir näher auf das
in der Bezeichnung als ›Aktenstücke‹ angedeutete Verhältnis des Tex-
tes zur verhandelten Sache eingehen. Erst hier dürfte auch der sach-
liche Grund zu suchen sein, weshalb solchen Darstellungsproblemen
eine entscheidende Bedeutung, insbesondere für die Selbsterkenntnis
des Philosophen, beizumessen ist. Der prägnante Sinn von ›Darstel-
lung‹ lässt sich am besten durch den Kontrast zum Begriff der ›Vor-
stellung‹ entwickeln. Eine Vorstellung bezieht sich auf etwas, das ihr
äußerlich bleibt. Dieses präsentiert sich so, dass es zugleich seine Un-
abhängigkeit von der Vorstellung mit bekundet. Eine Darstellung
hingegen bezieht sich auf etwas, das nur in ihr und durch sie zur
Präsenz gelangt und somit auf sie angewiesen ist, um das zu sein,
was es ist. Dies ließe sich am leichtesten am Beispiel solcher perfor-
mativen Künste wie der Musik oder des Theaters erläutern, wo das
Werk erst durch die Aufführung seine eigentliche Realität erlangt. Es
war gerade eine vertiefte Reflexion über die Eigenart solcher perfor-
mativen Künste, die zu einem vertieften Verständnis des Wesens der
Kunst überhaupt geführt hatte. Gerade im Zuge solcher Reflexionen
hatte man auf den Begriff der ›Darstellung‹ zurückgegriffen als ein
geeignetes Mittel, um über die damit zusammenhängenden Probleme
zu reflektieren. Auch Texte, insbesondere philosophische, müssen so

27
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gebaut sein, dass sie den Leser zu einer bewussten Eigenleistung ver-
anlassen. Dies können sie nur, indem sie dem unmittelbaren Ver-
ständnis Widerstand leisten, da jene stets erbrachte Eigenleistung
bei zu ›glatt‹ gestalteten Texte gerade verschleiert wird. 34 Der Text
als ›Aktenstück‹ dient bloß als ein Mittel, das den Leser in die Lage
versetzen soll, sich auf die im und durch den Text zur Darstellung
gelangende Sache zu beziehen. Da die Sache der Philosophie – die
von Schelling bekanntlich als die ›Idee des Absoluten‹ bezeichnet wird
– in der Erfahrung nicht zugänglich ist, bedarf es auch einer besonde-
ren Art von Texten, um den Leser den Zugang zu derselben finden zu
lassen. Falls die Sache auch ohne den Umweg über einen Text zugäng-
lich ist, weil sie z. B. in der Erfahrung gegeben ist, kann durch die
Vergleichung des Textes mit dem Gegenstand darüber entschieden
werden, ob die Wiedergabe die Sache trifft oder nicht. Das Verhältnis
zwischen Text und Sache ist hier ein solches der Nachahmung. 35
Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn die Sache nicht in der
Erfahrung gegeben ist und erst durch den Text zur Präsenz gelangt.
›Darstellung‹ ist danach eine indirekte Vergegenwärtigung einer Sa-
che. Gerade weil die Philosophie ihren Gegenstand nicht in der Erfah-
rung vorfindet, ist auch sie insbesondere auf Texte angewiesen, um
sich ihrer Sache zu vergewissern. Aus diesem Grund hat Schelling
den Begriff der Darstellung, der sich in der kunsttheoretischen Re-
flexion bereits als höchst fruchtbar erwiesen hatte, aufgegriffen, um
die damit verbundenen Probleme zu artikulieren. Zunächst dürfte es
so aussehen, als ob dadurch einer ›Ästhetisierung‹ der Philosophie
Vorschub geleistet wird. Zum Teil dürfte dies daran liegen, dass jener
Ausdruck ursprünglich im literarischen und ästhetischen Bereich hei-
misch war. Da das vornehmste Geschäft der Dichter und Künstler in

34 Es ist vielleicht dies keine ungeeignete Stelle, daran zu erinnern, dass gerade die
Darstellung meines Systems gleich nach ihrem Erscheinen eine ganze Reihe von hef-
tigen Reaktionen hervorgerufen hat, die öfters die Form einer – absichtlichen oder
unabsichtlichen – Parodie annehmen. Zu nennen ist Des Paracelsus Spinosiors Abo-
lutes Ey, von Johann Heinrich Abicht unter dem Pseudonym Ernest Polarch 1803
veröffentlicht (vgl. AA I,10, 69 (Ed. Bericht)). Ferner die von Aenesidemus verfassten
Aphorismen über das Absolute (vgl. dazu Schelling 1805b, 22, 81 / SW VII, 153, 193).
35 Über den Paradigmenwechsel, den die Ersetzung des Nachahmungsbegriffs durch

den Begriff der Darstellung bedeutete: Stahl 1957; Heuer 1970; Menninghaus 1994;
außerdem Koller 1954. Zur Begriffsgeschichte: Mülder-Bach 1998. – In der Aka-
demierede von 1807 entfaltet Schelling übrigens rigoros das kritische Potential des
Darstellungsbegriffs in Bezug auf alle möglichen Varianten der Nachahmungstheorie
(bes. Schelling 1809a, 345–360 / SW VII, 293–305).

28
Der Begriff der ›Darstellung‹

der Hervorbringung von schönen Formen und in der Gestaltung


liegt, scheint es nur naturgemäß, wenn sie über diese ihre Tätigkeit
auch reflektieren und theoretische Betrachtungen darüber anstellen.
Wenn man auch nicht leugnen mag, dass der Philosoph sich ebenfalls
gelegentlich mit dem Problem der Darstellung, d. h. der Gestaltung
und der Präsentationsweise seiner Lehre konfrontiert sieht, braucht
daraus noch keine unmittelbare Relevanz der damit zusammenhän-
genden Probleme für ein Verständnis und eine Beurteilung der mit-
geteilten Inhalten zu folgen. Es handelt sich demnach, so scheint es,
nur um einen untergeordneten Teilaspekt der Tätigkeit des Philo-
sophen, der nicht zu seinem Kerngeschäft gehört. Das Interesse an
Problemen der Darstellung, insofern man darunter die äußerliche
Gestaltung versteht, scheint demnach einem ›ästhetisierenden‹ Um-
gang mit philosophischen Texten zu entspringen und ihn zu beför-
dern. Nun können auch philosophische Texte manchmal einen ästhe-
tischen Genuss gewähren. Dies scheint allerdings noch nicht dazu zu
berechtigen, die sachliche Auseinandersetzung durch eine solche ݊s-
thetische‹ Betrachtung zu ersetzen. Natürlich kann diese Dimension
des Umgangs mit philosophischen Texten, die ja für gewöhnlich über-
sehen oder nicht der Erörterung für wert gehalten wird, zum Gegen-
stand eigenständiger Erforschungen gemacht werden, die durchaus
interessante Aspekte ans Licht holen können. Was Schelling im Be-
sonderen betrifft, könnte man den Versuch wagen, der oft als Symp-
tom eines philosophischen Scheiterns diagnostizierten Formenviel-
falt noch etwas Positives abzugewinnen. So könnte die von Schelling
praktizierte Formenvielfalt uns durch Kontrastwirkung beispielswei-
se einen »Verlust an literarischer Diversität« und eine »Schrumpfung
der Ausdrucksmöglichkeiten« in der gegenwärtigen philosophischen
Landschaft bewusst machen und uns eventuell dazu anspornen, eine
solche Pluralität der »literarischen Genres« zu fördern. 36 Auch wenn
sich die Vermutung bestätigen ließe, dass die Irritation, die die Form
der schellingschen Schriften dem Leser manchmal verursacht, auf
eine Voreingenommenheit für ganz bestimmte Mitteilungsformen
von philosophischen Inhalten beruht und dass die von ihm praktizier-
te Formenvielfalt so das Bewusstsein für in Vergessenheit geratene
oder wenigstens außer Gebrauch gekommene Mitteilungsformen
schärfen könnte, bräuchte dies aber noch keine schwerwiegenden phi-
losophischen Konsequenzen zu haben. Es wäre sogar fraglich, ob von

36
Hösle 2006, 7.

29
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

solchen vorwiegend mit literaturwissenschaftlichen Methoden ope-


rierenden Erforschungen für eine inhaltliche Auseinandersetzung be-
sonders relevante Ergebnisse zu erwarten stehen. Die Fokussierung
auf formale Aspekte scheint die Frage nach dem Wahrheitsanspruch,
die doch auch mit solchen Texten verbunden ist, methodisch aus-
zuklammern. Wenn solche Erforschungen philosophischer Texte
auch durchgängig möglich sind, dann doch weitgehend unabhängig
von der im eigentlichen Sinne philosophischen – d. h. den Wahrheits-
anspruch ernst nehmenden – Auseinandersetzung. 37 So bräuchte die
Auffassung, dass Form und Inhalt zwei unabhängige Komponenten
einer Mitteilung bilden, dadurch gar nicht tangiert zu werden. Die
Aufmerksamkeit, die man der Form zuteilwerden ließe, würde viel-
mehr diese Auffassung, auf welcher die Vernachlässigung der Form
beruht, der man doch entgegenarbeiten wollte, bestätigen und wei-
terhin verfestigen. Ferner ließe sich der Verdacht nur schwer beseiti-
gen, dass eine solche Forschungsrichtung doch nur dazu gemeint sei,
einer sachlichen Auseinandersetzung mit den durch die Texte vermit-
telten Inhalten auszuweichen. Während die Erarbeitung und Aneig-
nung dieser Inhalte eine durchaus mühevolle Arbeit erfordert, würde
man sich damit begnügen, das gestalterische Geschick zu bewundern
und darüber unverbindliche Aussagen zu formulieren, an der Pflanze
nur zu riechen, ohne sie zu kennen. Besonders im Falle Schellings
scheint diesbezüglich einige Zurückhaltung geboten, weil dieser nicht
nur durch sein besonderes schriftstellerisches Talent zu einer solchen
ästhetisierenden Betrachtung einzuladen, sondern diese zudem auch
noch theoretisch rechtfertigen zu suchen scheint. Wenn er beispiels-
weise der Erwartung Ausdruck verleiht, dass »die Philosophie […] in
den allgemeinen Ocean der Poësie zurückfließen« wird (AA I,9,1,
329), dann scheint dadurch doch wohl eine Aufhebung des Unter-
schieds zwischen Wissenschaft und Poesie proklamiert, wenigstens
als anstrebenswert in Aussicht gestellt. Wenn dieser Satz, aus seinem
Zusammenhang gerissen, auch so gelesen werden könnte, dass nicht
nur die Philosophie poetisch, sondern dass gleicherweise die Poesie
philosophisch zu werden habe – so steht doch zu befürchten, dass

37 Dies nimmt Vittorio Hösle in seiner »Taxonomie und Kategorienlehre des philoso-
phischen Dialogs« ausdrücklich in Kauf: Zwischen theoretisch-inhaltlicher und ästhe-
tisch-formaler Analyse besteht ein »komplementäres Verhältnis«. Beide können ne-
beneinander und unabhängig voneinander praktiziert werden: »Beide Betrachtungen
sind legitim, können einander aber auch immer wieder ignorieren« (Hösle 2006, 9,
14).

30
Der Begriff der ›Darstellung‹

man ihm eine flache, von Schelling nicht intendierte, Vorstellung von
Philosophie wie Poesie zugrunde legt, derart, dass beide Lesarten
gleich verhängnisvoll sind.
Über das Interesse an der Form scheint demnach die intentionale
Dimension von philosophischen Texten aus dem Blick zu geraten. 38
Die gegenständliche Betrachtung, die den Text nach seinen formalen
Aspekten untersucht, ist aber dadurch motiviert, dass der Text einem
intentionalen Zugang Widerstand leistet. Wenn dieser Widerstand
nun in der besonderen Beschaffenheit des Gegenstandes dieser Texte
seinen Grund hat, dann braucht das Interesse an der Form nicht eo
ipso zu einem ›ästhetisierenden‹ Umgang mit philosophischen Texten
zu führen. Der Widerstand gegen einen unmittelbar intentionalen
Umgang wäre sogar notwendig, um der naiven Einstellung zu Texten
vorzubeugen und die übertriebenen Erwartungen an ihre Leistungs-
fähigkeit zu durchkreuzen, da für den Leser nur so die Chance be-
stünde, einen Zugang zu diesem Gegenstand zu gewinnen. Die naive
Einstellung würde selbst bereits auf einer Vorentscheidung über die-
sen Gegenstand beruhen. Was diese Sache sei, ist aber »eine nicht-
triviale Frage, deren Erörterung bereits in den Innenbereich der Phi-
losophie gehört«. 39 Der Widerstand, den philosophische Texte dem
intentionalen Umgang leisten, gründet in der eigentümlichen Be-
schaffenheit der Sache, auf welche sie sich beziehen. Diese Sache ist
nicht von einer solchen Beschaffenheit, dass sie sich beschreiben oder
nachahmen ließe, sie ist nicht unabhängig von dem durch philosophi-
sche Texte eröffneten Zugang erschließbar, derart, dass die philoso-
phische Darstellung mit der dargestellten Sache verglichen werden
könnte. 40 Wenn der Philosoph in einer Reflexion über seine schrift-
stellerische Tätigkeit den Begriff der Darstellung aufgreift, dann be-
wegen ihn dazu die eigen- und einzigartige Beschaffenheit der Sache
der Philosophie und das Problem ihrer Darstellbarkeit.
Die Philosophie kann nie ein nachahmendes Verhältnis zu ihrer
Sache haben; sie kann nur Darstellung ihrer Sache sein. Ist sie aber
Darstellung, dann ist eine vergleichende Betrachtung ausgeschlossen.
Damit stellt sich die Frage nach dem Kriterium, wonach wir die mit
solchen Texten verknüpften Wahrheitsansprüche beurteilen können.
Es ist wohl die Befürchtung, dadurch philosophische Behauptungen

38
Wieland 1995, 16–21.
39 Wieland 1982, 8. Vgl. Wieland 1995, 15, 26–30.
40
So auch Jähnig 2011, 41.

31
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

der Beliebigkeit preiszugeben, die dazu führt, dass man in die naive
Einstellung zu Texten zurückfällt. Gerade dort, wo ein textfreier Zu-
gang zur Sache der Philosophie angenommen wird, ist die Gefahr
besonders groß, dass sich Vormeinungen über die Sache einmischen
und dass gerade der angeblich textfreie und vorphilosophische Zu-
gang zur Sache von – freilich verwässerten und trivialisierten – phi-
losophischen Vormeinungen durchsetzt ist. Darauf hat Schelling in
seinen frühesten Schriften, besonders in seiner Auseinandersetzung
mit der Kant-Rezeption seiner Zeit, immer wieder aufmerksam ge-
macht. »Was Philosophie überhaupt seye«, so Schelling, »läßt sich
nicht so schnell beantworten«. Um diese Frage zu beantworten, muss
man bereits philosophieren, oder: »[D]ie Idee von Philosophie« ist
»nur das Resultat der Philosophie selbst« (AA I,5, 69; vgl. AA I,9,1,
48; AA I,10, 89). Die Bestimmung dessen, was die Philosophie ihrem
Wesen nach ist und was sie zu leisten hat, welche Aufgaben sie zu
lösen hat, lässt sich demnach nicht von außen an einen philosophi-
schen Text herantragen. Der Leser hat sich also zunächst zu fragen,
ob er angesichts dieser Idee der Philosophie mit dem Autor überein-
stimmt, so wie der Autor zunächst dafür zu sorgen hat, dass der Leser
imstande gesetzt wird, der Sache, an welcher er (der Autor) sich ori-
entiert, innezuwerden.
Solche Verhältnisse scheint Schelling im Auge zu haben, wenn er
in Philosophie und Religion zwei Zugangsweisen zur Idee des Abso-
luten als ›Beschreibung‹ und ›Anschauung‹ unterscheidet. Diese Un-
terscheidung wurzelt in einer Reflexion über die Leistungsfähigkeit
von philosophischen Texten sowie auf die Folgen eines unreflektier-
ten Umgangs mit solchen Texten. Die Sätze, die der Philosoph über
die Idee des Absoluten aufstellt, sind nicht als eine Beschreibung der-
selben gemeint. Der Leser, der übersieht, dass »die Beschreibung […]
bloss negativ« ist und »nie das Absolute selbst, in seiner wahren We-
senheit, vor die Seele« bringt, fällt dadurch »fast nothwendig« in
einen »Irrthum«. 41 Das Absolute selbst lässt sich nicht beschreiben;
eine Erkenntnis desselben ist nicht auf dem Wege einer Beschreibung
erreichbar: »[N]ur das Zusammengesetzte ist durch Beschreibung er-
kennbar«. 42 Nur eine überzogene Erwartung an die Leistungsfähig-

41 Schelling 1804, 9 / SW VI, 21 f.


42
Schelling 1804, 15 / SW VI, 26. Hier schließt Schelling sich ausdrücklich an die für
die Entwicklung des Darstellungsbegriffs entscheidende Stelle der Kritik der Urteils-
kraft an, wonach eine Idee nur einer indirekten Darstellung fähig ist (vgl. KU, AA 5,

32
Der Begriff der ›Darstellung‹

keit von philosophischen Texten lässt den Leser in jenen Irrtum fal-
len, da er meint, ein Text vermag die Sache unmittelbar, ohne Eigen-
leistung des Lesers, zur Präsenz zu bringen. Diese Eigenleistung be-
zeichnet Schelling auch als ›Anschauung‹. Die Beschreibung des
Philosophen beschreibt nämlich nicht so sehr die Sache selbst, son-
dern vielmehr nur eine geordnete Folge von Leistungen, die der Leser
zu erbringen hat, wenn er zur Einsicht in jene Sache gelangen will.
Der Text fungiert somit in etwa wie eine Partitur oder eine bloße
Vorlage: Es bleibt dem Leser überlassen, diese zur Ausführung zu
bringen. Schellings Texte insbesondere sind meistens so verfasst, dass
die wesentliche Arbeit dem Leser oder Interpreten überlassen bleibt.
So begründet Schelling die gewählte Darstellungsweise damit, dass
sie »die größte Kürze der Darstellung verstattet« und dadurch »die
Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10,
115). Diese Kürze bedeutet indessen auch, dass die einzelnen Schritte
eigentlich mehr nur andeutungsweise gegeben werden, die wirkliche
Ausführung aber dem Leser überlassen bleibt. 43 Insofern vermag der
philosophische Text seine Sache nur indirekt zu vergegenwärtigen. Er
kann sie nicht zur Vorstellung, sondern immer nur zur Darstellung
bringen. Damit ist auf das einzigartige Verhältnis der Philosophie zu
Texten hingewiesen: Zwar ist sie auf Texte angewiesen, um über-
haupt Zugang zu ihrer Sache zu gewinnen, da diese nicht in der Er-
fahrung gegeben ist. Andererseits ist diese Sache jedoch nicht derart,
dass sie eine nur textimmanente Realität hätte, wie im Falle eines
literarischen Textes. Der Leser bedarf zwar der Unterstützung eines
Textes, um überhaupt auf diese Sache gerichtet zu werden, muss dann
doch wieder dem Text gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit erlan-
gen, da auch die Sache selbst eine gewisse Unabhängigkeit dem Text

351–354 (§ 59)). Eine Idee lässt sich also per definitionem nicht so beschreiben, dass
das Beschriebene durch die Beschreibung selbst zur Präsenz gelangte. Die Beschrei-
bung kann höchstens eine Anleitung bieten, wie man zu verfahren habe, um die Idee
zu konstruieren. Nur wenn diese Anleitung befolgt und die Idee auch selbst konstru-
iert wird, tritt das Absolute in seiner wahren Wesenheit selbst vor die Seele. Zum
Darstellungsbegriff bei Kant: Gasché 1994; Bahr 2004. Bei Fichte: Stolzenberg 1986,
120–137, 148–161.
43 Ähnlich auch in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie: Hier

kommt es nur darauf an, einen Überblick über das Ganze und eine Einsicht in den
Zusammenhang zu gewinnen (vgl. Schelling 1805b, 12 / SW VII, 146). Am offen-
sichtlichsten ist dies wohl bei der Darstellung in der Form eines Gesprächs, wo es beim
Leser liegt, sich die Figuren in ihrer Interaktion vorzustellen statt sich mit einer der-
selben zu identifizieren.

33
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

gegenüber hat, durch welche sie überhaupt erst zur Darstellung ge-
langt.
Damit ist auch gesagt, dass alle Sätze, die sich bei Schelling über
das Absolute oder dessen Idee finden, nicht als Aussagen über be-
stimmte Sachverhalte zu verstehen sind, da sie dasjenige, worauf sie
sich beziehen, gar nicht zu ›beschreiben‹ oder auf eine direkte Weise
präsent zu machen beabsichtigen. Stattdessen handelt es sich um
Handlungsanweisungen oder Anleitungen. 44 Auch wenn diese Sätze
wie Theoreme aussehen, die über einen Sachverhalt etwas aussagen
sollen, wollen sie doch nur zeigen, wie man zu verfahren habe, um
einen bestimmten Begriff bzw. eine Idee zu konstruieren. Dem Leser
sollen nicht Wissensinhalte unmittelbar mitgeteilt, sondern ihm soll
vielmehr gezeigt werden, wie er sich eine bestimmte Form des Wis-
sens, das sich nie in solchen Inhalten oder Ergebnissen erschöpft,
selbst erwerben kann. 45 Der Grund, weshalb Schelling hier den Be-
griff der ›Beschreibung‹ einführt, ist folgender. Unter ›Beschreiben‹
versteht man gemeinhin die Auflösung eines Gegenstandes in Begrif-
fen. Bei seiner Verwendung des Begriffs der ›Beschreibung‹ hebt
Schelling auf diesen Moment der Auflösung in einzelne Konstruk-
tionsschritte ab. Wenn er hinzufügt, dass dasjenige, was hier auf-
gelöst wird, »in dem Gegenstand absolut Eins ist«, dann heißt dies
natürlich nicht, dass der Leser diese einzelnen Schritte auch auf ein-
mal zu vollziehen habe. 46 Er hat während der Konstruktion nur
immer zu bedenken, dass dasjenige, was in einzelnen Schritten kon-
struiert wird, dadurch, dass es sich nur sukzessiv denken lässt, nicht
auch im Gegenstand sukzessiv ist. So bedarf es auch zur Konstruktion
einer geometrischen Figur einzelner Schritte und es besteht eine lo-
gische Folge zwischen diesen Schritten, aber dies heißt nicht, dass
eine Figur auf diese Weise auch wirklich entsteht, als ob mit dieser
begrifflichen Genese auch eine wirkliche Genese beschrieben wäre.
Deshalb muss während der Konstruktion von der Sukzession ›abstra-
hiert‹ werden. So kann es von den Potenzen auch heißen, dass sie
selbst »absolut gleichzeitig« sind, obwohl sie in einer logischen
Schrittfolge konstruiert werden (AA I,10, 136 (§ 44)).
Auch die Angaben im »Vorbericht« von Philosophie und Religion
sind nicht so sehr als Materialien einer Entstehungsgeschichte der

44
Vgl. Buchheim 1990, 334 f.
45 Vgl. Wieland 1982, 21.
46
Schelling 1802b, 52 / SW IV, 374.

34
Der Begriff der ›Darstellung‹

Schrift gemeint, sondern zuallererst als Leseanweisungen. 47 Die Fra-


ge, ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen, ist somit von nach-
geordneter Bedeutung. 48 Der Hinweis, dass Philosophie und Religion
die Umarbeitung eines Gesprächs ist, soll dem aufmerksamen Leser
als Hilfe dienen, sich die fragmentarische Präsentation von Schellings
Lehre zu erklären. Das Buch kann nur »aufmerksame[n] Lesern« ver-
ständlich werden, d. h. solchen, die sich die Mühe geben, aus den
»einzelnen Theile[n]« selbständig die »organische Verbindung« auf-
zuspüren, aus welche jene »gerissen« wurden. 49 Damit sind die Leser
gleich anfangs auch gewarnt, dass sie in dieser Schrift keine organi-

47
Der Hinweis auf ein »schon seit längerer Zeit« halbfertiges Gespräch (Schelling
1804, III / SW VI, 13) dürfte auch dadurch motiviert sein, den Verdacht nicht auf-
kommen zu lassen, dass die Ausführungen in Philosophie und Religion erst aus An-
lass von Eschenmayers Bedenken entwickelt wurden. Dass ein solcher Verdacht unbe-
gründet ist, zeigt sich allerdings bereits an dem früheren Aufsatz Ueber das
Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt von 1802. Auf die viel-
fältigen Beziehungen zwischen beiden Schriften wurde bereits früh hingewiesen, vgl.
Michelet 1839, 33 f., 52, und neuerdings Danz 2002, 205 und Ziche 2002, 211.
48 Vgl. indessen den Brief vom 4. April 1802 an A. W. Schlegel, wo es heißt, dass

Bruno »der erste Versuch [ist], ich hoffe aber nun weiter auf dieser Bahn fortzugehen,
und mir diese Form immer mehr zu eigen zu machen« (F. W. J. Schelling an A. W.
Schlegel, 4. April 1802, AA III,2,1, 426).
49 »Wenn aufmerksame Leser, in dieser [sc. in Philosophie und Religion, R. S.], Spu-

ren einer höheren organischen Verbindung erkennen, aus der die einzelnen Theile
gerissen sind, so werden sie es sich aus dem Gesagten erklären« (Schelling 1804, III /
SW VI, 13). Der Satz enthält eine (von Schelling bereits AA I,9,1, 301 zitierte) An-
spielung auf Horaz’ Sermones, I 4, 57–62: Nähme man aus den von Horaz zitierten
Ennius-Versen Versmaß und Rhythmus hinweg und veränderte zudem die Wortstel-
lung, dann würde man selbst nicht mehr die Teile oder Glieder eines zerrissenen
Dichters finden, sondern die poetische Qualität wäre schlechthin zerstört. Schelling
kontrastiert hier die Weise, wie er selbst in dieser Schrift aus ›einzelnen Theilen‹ ein
neues Ganzes bildet mit der Art, wie Gegner und Anhänger einzelne Teile aus dem
Ganzen herausreißen. – Wenn Schelling auch folgende Sätze Rousseaus nicht kennen
konnte, da diese erst 1861 zum ersten Male veröffentlicht wurden, so drücken sie doch
seltsamerweise ganz treffend sein eigenes Verfahren aus: »Quelques précautions
m’ont donc été d’abord nécessaires, et c’est pour pouvoir tout faire entendre que je
n’ai pas voulu tout dire. Ce n’est que successivement et toujours pour peu de Lecteurs,
que j’ai développé mes idées. Ce n’est point moi que j’ai ménagé, mais la vérité, afin de
la faire passer plus sûrement et de la rendre utile. Souvent je me suis donné beaucoup
de peine pour tâcher de renfermer dans une Phrase, dans une ligne, dans un mot jetté
comme au hasard, le résultat d’une longue suitte de réflexions. Souvent la pluspart de
mes Lecteurs auront du trouver mes discours mal liés et presque entierement décou-
sus, faute d’appercevoir le tronc dont je ne leur montrois que les rameaux. Mais c’en
étoit assez pour ceux qui savent entendre, et je n’ai jamais voulu parler aux autres«
(Rousseau 1754, 106).

35
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

sche Verbindung, sondern nur ›einzelne Theile‹ zu erwarten haben:


Das Ganze muss erst aus diesen erschlossen werden. Die Schrift bildet
also eine Art Ruine oder Bruchstück, und es bleibt dem Leser über-
lassen, aus ihm das ›Original‹ zu erschließen. Zugleich ist dieser »Vor-
bericht« wie ein Nachwort zum Bruno. Wenn dieses Gespräch auch
durch seinen gehoben-feierlichen Ton bereits deutlich macht, dass es
sich an ganz besondere Adressaten richtet, und seine Form, die An-
gaben zu Beginn 50 sowie der sich daraus ergebende unvollendete Cha-
rakter des Ganzen zu erkennen geben, dass es nur ein Bruchstück, nur
»der Anfang einer Reihe von Gesprächen« war, so wird auch der we-
niger aufmerksame Leser an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinge-
wiesen. 51 Auch vom Bruno lässt sich sagen, dass die Darstellung un-
terbrochen wurde und ›Zeit und Umstände‹ eine unmittelbare
Fortsetzung nicht erlaubten. Ein neu eingetretener Umstand (die Ver-
öffentlichung Eschenmayers) nötigt nun dazu, wenn nicht das Ge-
spräch fortzusetzen, dann doch die für dieses vorgesehene Themen
eingehender zu behandeln.

3. Das Gespräch Bruno:


Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

Das Gespräch Bruno ist die erste Schrift, die Schelling in Philosophie
und Religion erwähnt, und zwar sogleich im ersten Satz. Es ist auch
diejenige Schrift, auf welche Schelling in der Folge am meisten ver-
weist. 52 Insofern er Philosophie und Religion als eine Art Weiterfüh-
rung jenes Gesprächs präsentiert, ist klar, dass diesem für jene eine
besondere Bedeutung zukommen muss. 53 Wir werden in der Folge
noch Gelegenheit haben, auf jene Hinweise zurückzukommen, die in

50
Vgl. Schelling 1802a, 33–35 / SW IV, 233 f.
51 Schelling 1804, III / SW VI, 13.
52
Außer im Vorbericht wird das Gespräch noch sechsmal erwähnt: einmal im ersten
(Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) und fünfmal im zweiten Abschnitt (Schelling 1804,
19, 19 f., 26, 27, 53 / SW VI, 28, 29, 32, 33, 50). Außerdem finden sich im Anhang
deutliche Anklänge, die aber nicht als solche kenntlich gemacht werden. Neun der
neunundzwanzig Fußnoten verweisen auf weitere Schriften Schellings, vierzehn auf
die Schrift Eschenmayers. Nur sechs Fußnoten verweisen auf andere Autoren, davon
vier auf antike und zwei auf moderne Autoren (Homer, zweimal Platon, Cicero, Spi-
noza und Friedrich Schlegel).
53 Dies dürfte teils auch dadurch motiviert sein, dass Eschenmayer besonders diese

Schrift wiederholt zitiert, vgl. Eschenmayer 1803, 62 (§ 70), 67–69 (§ 72), 78 (§ 79).

36
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

der Absicht eingefügt werden, die Kontinuität zwischen beiden


Schriften in doktrineller Hinsicht zu betonen. So möchte Schelling
besonders die Darlegungen im ersten und zweiten Abschnitt als Er-
läuterungen zur Darstellung seiner Lehre im Bruno verstanden wis-
sen. Während im Haupttext die Kontinuität betont wird, hebt die
erste Erwähnung hingegen einen gewichtigen Unterschied hervor.
Dieser betrifft den unterschiedlichen Modus der Darstellung. Da
Schelling die für Bruno gewählte Form als eine »symbolische Form«
charakterisiert, gilt es zu untersuchen, was die Eigenart dieser Form
ist, welche Absicht Schelling mit derselben verfolgt und welche Auf-
gabe er ihr zuschreibt. 54 Außerdem ist zu untersuchen, was Schelling
zu der »Meynung« veranlasst hat, dass die symbolische Form »die
einzige« sei, »welche die bis zur Selbstständigkeit ausgebildete Phi-
losophie in einem unabhängigen und freyen Geiste annehmen
kann«. 55 Erst vor diesem Hintergrund kann es gelingen, auch Schel-
lings Absicht mit Philosophie und Religion und besonders das Motiv
für die Umarbeitung einer fast fertigen Schrift präziser zu umreißen.
Schelling unterscheidet ausdrücklich ein »kunstgerechtes Ge-
spräch« und »ein ganz natürliches« Gespräch. 56 Damit stellt sich die
Frage nach dem präzisen Unterschied beider Formen des philosophi-
schen Dialogs und nach der Besonderheit der symbolischen Ge-
sprächsform. 57 Zur Beantwortung dieser Frage ist, erstens, zu unter-

54 Schelling 1804, III / SW VI, 13.


55
Schelling 1804, IV / SW VI, 13.
56 Schelling 1802d, 90 / SW V, 77.

57 Die nachfolgenden Überlegungen können als eine Ergänzung zur »Poetik und Her-

meneutik« des »philosophischen Dialogs« angesehen werden, die Vittorio Hösle vor-
gelegt hat. Hösle unterscheidet allerdings nicht zwischen symbolischem und natür-
lichem Gespräch. Überhaupt differenziert er kaum zwischen unterschiedlichen
Dialogtypen. Zwar arbeitet er einen Satz von flexiblen formalen Kriterien heraus,
die einer solchen Differenzierung hätten dienlich sein können. Er bringt sich aller-
dings um den Gewinn, der mittels seiner anvisierten »Taxonomie und Kategorien-
lehre des philosophischen Dialogs« zu erzielen gewesen wäre, indem er jene Kriterien
durch die Annahme einschränkt, dass der philosophische Dialog ein »literarisches
Genre« ist, das »ein reales Phänomen, den philosophischen Austausch zwischen ver-
schiedenen Menschen« nur »spiegelt bzw. transformiert«, und somit eine bloß litera-
risch überformte oder stilisierte Darstellung eines »direkten sozialen Austausches«.
Dieser Begriff von dem, was ein Dialog zu sein hat, den er nicht aus einer Analyse von
Dialogen gewonnen hat, sondern anfangs apodiktisch aufstellt, wird in der Folge als
ein normatives Kriterium angewandt. Dies hindert ihn von vornherein daran, über-
haupt noch die Frage zu stellen, inwiefern es einem Autor gelingt, ein vorgefundenes
Genre nach seinen eigenen Zwecken und in Übereinstimmung mit seiner eigenen

37
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

suchen, ob sich im Bruno selbst Indizien auffinden lassen, die die


Charakterisierung als symbolisches Gespräch rechtfertigen. Dann ist,
zweitens, zu erörtern, welchen Begriff von Symbol und symbolisch
Schelling dabei zugrunde legt. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen

Absicht zu verwenden und zu verwandeln. Es darf denn auch kaum verwundern, dass
der Autor, wenn er im zweiten Teil seiner Arbeit auf Bruno zu sprechen kommt, nur
wenig mit diesem Dialog anzufangen weiß und ihn nach seinem Maßstab nur als
defizient einstufen kann. So sieht er sich dazu genötigt, dem Gespräch die »dramati-
sche Qualität« abzusprechen, da es keinen besonders hohen »Polyphoniegrad« auf-
weise, »auf der theoretischen Ebene zu wenig Diversität zwischen den verschiedenen
Gesprächspartnern« herrsche und in seiner Form nicht die postulierte Intersubjekti-
vität spiegele. Durch seine bloße Form würde es »jede Andersheit perhorreszieren«.
Der Autor schließt, dass die Dialogform »in einem solchen Fall ganz gewiss überflüs-
sig« ist und somit nur eine literarische Einkleidung von Inhalten, die sich ohne we-
sentliche Verluste auch ohne diese aufwendige literarische Aufmachung hätten ver-
mitteln lassen. Im Allgemeinen kann man zu solchen Urteilen bemerken, dass sie der
bestimmenden Urteilskraft entspringen, da ein besonderer Fall nach einem allgemei-
nen Kriterium beurteilt wird. Da in diesem Fall das Besondere dem Kriterium nicht
genügt, wäre allerdings zu fragen gewesen, ob dies nicht vielmehr die Unzulänglich-
keit der angelegten Kriterien anzeigt. Vielleicht wäre hier vielmehr die reflektierende
Urteilskraft gefragt, die das der Sache angemessene Kriterium erst noch zu suchen hat
und aus der Sache selbst zu erschließen sucht. Die Subsumtion des Bruno unter den
allgemeinen Begriff des Dialogs reicht nicht aus, um auch die mit dieser Form ver-
folgte Absicht zu erkennen (Hösle 2006, 7–10, 32, 49 f., 54, 279–282). Übrigens ist der
Vorwurf eines Mangels an ›Polyphonie‹ nur die Neuauflage einer bereits von Karl
Jaspers formulierten Kritik: »Die Philosophie des deutschen Idealismus in ihren viel-
fachen Gestalten hat das Gemeinsame, eine Philosophie des Abschließens, der Kom-
munikationslosigkeit zu sein in der Behauptung und systematischen Darstellung des
absoluten Wissens. Es ist keine Philosophie, in der sich lebendige Menschen, die noch
fragen und im Ernst ihr Schicksal ergreifen, die Hand reichen, sondern eine Philoso-
phie, die man als Anhänger in gehorsamer Unterwerfung glauben und fanatisieren
[…] kann, die aber unfähig ist, zu Dasein und Lebensform durch den Ernst einer sie
ergreifenden Existenz zu werden«. Und: »Kommunikationslos ist die Philosophie, die
Gefolgschaft will und bewirkt. Sie fordert Gehorsam. Wer sie verkündet, will beleh-
ren, einprägen, Denkmanieren erzeugen, aber nicht antworten, wo ihm etwas Frem-
des begegnet, das für ihn nicht einzubeziehen ist. Kommunikativ dagegen ist die Phi-
losophie, die ihre Wahrheit nicht als das eine Gebilde des Denkens beansprucht,
sondern sie, als in Kommunikation stattfindend, in dieser selbst immer noch sucht«.
Allerdings ist Jaspers gezwungen zuzugeben, dass die Wirkung Schellings »nicht als
Schelling-Schule faßbar« ist: »Sie ist zudem zerronnen, unmerklich, als ob sie gar
nicht gewesen wäre«; Schelling »hat keine Schule. Schulen produzieren eine brauch-
bare Literatur der Mediokrität, wie Hegel oder Herbart«; eine Philosophie wie die
Schellings kann »nur auf Einzelne« wirken (Jaspers 1955, 284, 340, 329; vgl. auch
Jaspers 1955, 119). Die Tendenz dieser Kritik hat Jürgen Habermas treffend charakte-
risiert: »So unterstehen alle philosophischen Gedanken als ihrem obersten Richtmaß
der Frage, ob sie Kommunikation hemmen oder fördern«. Damit folgt Jaspers dem

38
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

können dann, drittens, für die Interpretation der in diesem Gespräch


zur Darstellung gelangenden Konstellation sowie der Absicht Schel-
lings fruchtbar gemacht werden. Dabei wird sich zeigen, wie der Sinn
philosophischer Behauptungen nur dann angemessen erhoben wer-
den kann, wenn man sich fragt, wer spricht? Im Laufe dieser Über-
legungen werden wir die Begriffe der ›Gegend‹ und der ›konzeptuel-
len (oder symbolischen) Figur‹ einführen und erläutern.
(1.) Der Unterredung zwischen Bruno und Lucian, die den Haupt-
teil des Gesprächs ausmacht, ist ein einführendes Gespräch zwischen
Anselmo, Alexander und Lucian vorgeschoben. 58 Dieses soll zum
einem zum Hauptteil hinführen, zum anderen zugleich den Rahmen
für die gesamte Reihe von Gesprächen entfalten, »deren Gegenstän-
de auch in ihm zum voraus bezeichnet sind«. 59 Indem es aber ins-
besondere die Frage nach dem Verhältnis von Wahrheit und Schön-
heit verhandelt und dabei auch die Werke philosophischer und
schöner Kunst vergleicht, gibt dieses einleitende Gespräch dem Leser
zugleich auch einige wichtige Hinweise darüber, nach welchen Krite-
rien dieses Gespräch selbst bzw. die Reihe, deren Auftakt es bildet,
beurteilt sein will und welche Absicht Schelling dabei verfolgt. 60 An-
selmo erinnert nämlich an ein Gespräch am Vortag über das Verhält-
nis von Wahrheit und Schönheit, das in einer Aporie geendet hatte. 61
Dieses Gespräch, das mit der Frage nach der »Einrichtung der Mys-
terien« oder nach der angemessenen Art, philosophische Lehren mit-
zuteilen, anhob, soll jetzt wieder aufgenommen und der Streit, in
welchen es mündete, soll ausgetragen werden, damit »die Rede zu-
gleich in ihren Ursprung zurückkehre« 62 und »nachher« das eigent-
liche Thema des Gesprächs, nämlich »die Mysterien und die Mytho-
logie« sowie »das Verhältniß der Philosophen und Dichter«, wieder
aufgenommen und »auf de[m] gelegten sichern Grund« behandelt

»Impuls«, dass »sich die bewährten Methoden der parlamentarischen Diskussion auch
in der philosophischen fruchtbar verwirklichen lassen« (Habermas 1971, 99 f.).
58
Vgl. Schelling 1802a, 3–35 / SW IV, 217–234.
59 Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. Schelling 1802a, 23–35 / SW IV, 227–233.

60 Vgl. Schelling 1802a, 3–23 / SW IV, 217–227

61 In der Darstellung meines Systems hatte Schelling bereits angekündigt, dass diese

Frage bei einer Weiterentwicklung des Systems zur Sprache kommen werde (vgl. AA
I,10, 211). Dieses Versprechen wird hier also eingelöst.
62 Wenn dieser Punkt Schelling 1802a, 23 / SW IV, 227 auch im Wesentlichen er-

reicht ist, so ist das Gespräch doch erst Schelling 1802a, 33 / 233 wirklich zu dem
Punkt zurückgebracht, wo es am Vortag abgebrochen wurde; hier gibt Anselmo eine
Zusammenfassung des damals von Polyhymnio Gesagten.

39
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

werden kann. 63 Der Hauptteil des Gesprächs ist somit auch als ein
Beitrag zur endgültigen Beantwortung jener Frage nach dem Verhält-
nis von Philosophie und Dichtung gedacht. Anselmo, der hier zu-
nächst in der Rolle eines Gesprächsleiters auftritt, 64 erinnert Lucian
und Alexander an ihre früheren Behauptungen. Während Lucian be-
hauptet hatte, dass »in vielen Werken die höchste Wahrheit seyn
könne, ohne daß ihnen darum auch der Preis der Schönheit zuerkannt
werden dürfte«, vertrat Alexander hingegen die These, dass »die
Wahrheit allein alle Foderungen der Kunst erfülle, und daß einzig
durch diese ein Werk wahrhaft schön werde«. 65 Während er die These
Lucians keiner weiteren Untersuchung für würdig befindet, wendet
Anselmo sich ausschließlich Alexander zu. Seine Fragen zielen in
erster Linie darauf ab, herauszufinden, in welchem Sinne Alexander
die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹ verstanden habe, als er be-
hauptete, dass ein Werk einzig durch die Wahrheit dessen, was in ihm
ausgedrückt ist, auch schön ist und dadurch »allein alle Foderungen
der Kunst erfülle«, dass es den Erfordernissen der Wahrheit genügt. 66
Dabei stellt sich heraus, dass Alexander die Schönheit nur deshalb der
Wahrheit hat unterordnen können, weil er Wahrheit als die korrekte
Wiedergabe eines vorhandenen Wirklichen verstand. Dem hält An-
selmo entgegen, dass diese »Art der Wahrheit […] nur Der zur Regel
und Norm der Schönheit machen [kann], welcher nie die unsterbliche
und heilige Schönheit erblickte«. 67 Alexanders These ist somit nur
deshalb falsch, weil er dabei einen unzureichenden Begriff von Wahr-
heit als Nachahmung von in der Erfahrung gegebenen Dingen zu-
grunde gelegt hatte. Dennoch beschließt Anselmo die Überredung
mit der unverkennbar ironischen Bemerkung, dass Alexander »also
ganz rechte« hatte, wenn er urteilte, dass »ein Kunstwerk einzig
durch seine Wahrheit schön sey«, da er hingegen damit sagen will,
dass nur der wahre Philosoph auch am besten die Kunst des Schrei-
bens beherrsche. 68 Dementsprechend bringt er Alexander, ihn dem

63 Schelling 1802a, 4 / SW IV, 217 f.


64 Auch weiterhin: vgl. Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234, wo er Bruno nicht nur das
Wort erteilt, sondern ihm auch das Thema vorgibt, das dieser behandeln soll, und
Schelling 1802a, 180 / SW IV, 307, wo Bruno ihm nach der Erledigung der Aufgabe
das Wort zurückgibt und Anselmo den Plan für das abschließende Gespräch entwirft.
65 Schelling 1802a, 3 / SW IV, 217.

66
Schelling 1802a, 3 / SW IV, 217.
67 Schelling 1802a, 21 f. / SW IV, 226 f.

68
Schelling 1802a, 21 / SW IV, 226.

40
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

platonischen Ion gleichsetzend, dazu, einzugestehen, dass die Künst-


ler »die Idee der Schönheit und Wahrheit an und für sich selbst oft
am wenigsten besitzen, eben weil sie von ihr besessen werden« und
der Künstler, obwohl er das Göttliche nicht erkennt, »es doch von
Natur ausübt« und »ohne es zu wissen denen, die es verstehen, die
verborgensten aller Geheimnisse« offenbart. 69 Das Ergebnis dieser
Unterredung lässt sich auch so formulieren, dass die Wiedergabe oder
Nachahmung eines realen Austausches nicht ohne weiteres ein an-
gemessenes Kriterium zur Beurteilung eines philosophischen Dialogs
abgibt. Die Auffassung, wonach ein philosophischer Dialog insofern
als geglückt anzusehen wäre, als es ihm gelingt, das ›reale Phänomen‹
des ›philosophischen Austausches‹ als allgemeine ›Praxis des Philoso-
phierens‹ möglichst getreu wiederzugeben, wird damit dezidiert zu-
rückgewiesen. Nach dieser »Regel und Norm« gestaltete Dialoge wä-
ren höchstens wegen der Kunstfertigkeit zu bewundern, »mit der sie
das Natürliche erreichen«. 70 Wir können somit schließen, dass Schel-
ling mit diesem Gespräch nicht beabsichtigte, einen ›realen Aus-
tausch‹ oder eine ›direkte soziale Interaktion‹ wiederzugeben, und
dass er somit zu Recht das symbolische als das ›kunstgerechte‹ von
dem ganz natürlichen Gespräch abhob. Übrigens gibt Schelling durch
die ganze Inszenierung des Gesprächs, besonders durch dessen ritua-
lisierten Ablauf sowie durch die feierlich-gehobene Sprache, die nur
wenig mit einer freien Rede oder mit den Gepflogenheiten einer ›di-
rekten sozialen Interaktion‹ gemein haben, bereits deutlich genug zu
erkennen, dass er Gelingen oder Misslingen seiner Absicht nicht da-
nach abgeschätzt haben will, ob eine direkte Interaktion über philoso-
phische Themen realistisch wiedergegeben wird.
(2.) Damit ist das symbolische Gespräch jedoch erst negativ cha-
rakterisiert. Um einen positiven Begriff desselben zu gewinnen, müs-
sen wir jetzt untersuchen, worin nach Schelling das Eigentümliche
eines Symbols liegt. Seine Überlegungen lassen sich auf drei Thesen
zurückbringen.
Die erste These betrifft das Verhältnis zwischen einer Darstellung
und der durch sie und in ihr zur Darstellung gelangenden Sache.

69 Schelling 1802a, 29 / SW IV, 230 f.; Herv. v. Verf. Solche Figuren des Unbewussten
fanden übrigens von früh an Schellings Interesse. Siehe das Studienheft ›Über Dich-
ter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Ein-
wirkung auf Menschen überhaupt‹ (vgl. AA II,4, 15–28).
70
Schelling 1802a, 22 / SW IV, 227.

41
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Schelling unterscheidet drei Arten der Darstellung: die schematische,


die allegorische und die symbolische (vgl. SW V, 407–411). Diese un-
terscheiden sich zunächst durch ihr unterschiedliches Verhältnis zu
der in ihnen zur Darstellung gelangenden Sache. Eine schematische
Darstellung ist eine solche »Darstellung, in welcher das Allgemeine
das Besondere bedeutet, und dies ist auch die Definition des Schema-
tismus« (SW V, 407). So kann z. B. irgendein Attribut, eine bestimm-
te Haltung, ein Gesichtsausdruck oder auch eine charakteristische
philosophische Position eine dargestellte Figur als diese oder jene
konkrete Figur identifizierbar machen. Ein Porträt, als deutlichstes
Beispiel einer schematischen Darstellung, kann man dadurch darauf
prüfen, inwiefern es den Dargestellten korrekt wiedergibt, dass man
es mit dem Porträtierten vergleicht. Die allegorische Darstellung hin-
gegen stellt einen Begriff dar. Der Begriff ist uns in diesem Fall aller-
dings auch ohne die Darstellung bekannt. Deshalb werden in einer
Allegorie meist konventionelle Zeichen verwendet, was allerdings da-
zu führt, dass sie ohne Kenntnis dieser Konventionen oft kaum noch
zu entschlüsseln ist. Jedenfalls kann eine allegorische Darstellung auf
ihr Gelingen oder Misslingen dadurch geprüft werden, dass man sie
mit den in dem Begriff enthaltenen Merkmalen vergleicht. Schema-
tische und allegorische Darstellung haben gemeinsam, dass in beiden
etwas dargestellt wird, das auch ohne den Umweg über die Darstel-
lung zugänglich ist. Dies fasst Schelling so zusammen, dass sowohl
die schematische als auch die allegorische Darstellung das Dargestell-
te bloß bedeuten (vgl. SW V, 409). Beide verweisen auf etwas außer
sich, durch welches sie selbst erst deutbar sind. Sie erhalten ihre Be-
deutung erst in einem Verweisungszusammenhang, in welchem sie
aufgenommen sind, indem sie auf etwas außer sich verweisen. In bei-
den Fällen besteht zwischen der Darstellung und der dargestellten
Sache ein Bedeutungsverhältnis. 71
Die symbolische Darstellung unterscheidet sich dadurch von der
schematischen und allegorischen Darstellung, dass es keinen anderen
Zugangsweg zum Dargestellten gibt als eben durch die Darstellung
selbst. Sie eröffnet dadurch einen Wirklichkeitsbereich, der uns sonst
verschlossen bliebe. Zwischen Darstellung und Dargestelltem besteht
in diesem Fall ein Darstellungsverhältnis im prägnanten Sinn: Das
Symbol ist das Dargestellte (vgl. SW V, 411). Da die Kopula bei
Schelling zwar eine Identität, nicht aber eine Einerleiheit bezeichnet,

71
Vgl. Whistler 2013, 15.

42
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

so besagt der Satz, wonach das Symbol das Dargestellte ist, nicht, dass
Symbol (die Darstellung) und Idee (das Dargestellte) einerlei sind,
sondern dass sie identisch sind oder dass zwischen beiden ein Darstel-
lungsverhältnis besteht. Daraus folgt, dass es bei der symbolischen
Darstellung kein äußeres Kriterium der Beurteilung wie z. B. die Ver-
gleichung gibt. Anders als Schema und Allegorie erfährt das Symbol
seine Deutung nicht von etwas außer ihm, sondern es ist selbst deu-
tend. Es stellt ein Potential bereit, das Wirkliche auf seine Bedeutung
oder seinen Sinngehalt hin zu erschließen. Deshalb gibt »die deutsche
Sprache Symbol vortrefflich als Sinnbild wieder« (SW V, 412). 72 Dies
geschieht dadurch, dass das Symbol, nach der ursprünglichsten Be-
deutung von ›Symbolon‹, zwei Bereiche zusammenbringt, die sich
aufgrund ihrer formalen Entsprechungen wechselseitig zu deuten
und durchsichtig zu machen vermögen. So können Phänomene aus
einem bestimmten Bereich zum »Sinnbild von etwas Höherem« 73
oder zum »Gleichniss und Sinnbild des andern« werden. 74 Sie können
denn auch als Modell verwendet werden, um Phänomene anderer Art
zu deuten. 75 Diese Erschließungskraft eignet nur dem Symbol. Diese
erhält es daher, dass es Darstellung einer Idee ist. 76
Nach der zweiten These korrespondiert jedem Darstellungsmodus
auch eine ihm eigene und nur ihm angemessene Art der Aufnahme
oder der ›Lektüre‹. Die Unterscheidung verschiedener Darstellungs-
typen impliziert somit die Unterscheidung verschiedener Aufnahme-
modi, die keine bloß subjektiven ›Sichtweisen‹ sind, sondern ihren
Grund in der Darstellung selbst haben. Jeder Darstellungstypus ver-
langt einen ihm angemessenen Aufnahmemodus, wenn man dem
Dargestellten in seiner Eigenart gerecht werden will. Es ist somit auch
möglich, die Darstellung in ihrer Eigenart zu verfehlen, so wenn man

72 »Wir begnügen uns allerdings nicht mit dem bloßen bedeutungslosen Seyn, der-
gleichen z. B. das bloße Bild gibt, aber ebensowenig mit der bloßen Bedeutung, son-
dern wir wollen, was Gegenstand der absoluten Kunstdarstellung seyn soll, so con-
cret, nur sich selbst gleich wie das Bild, und doch so allgemein und sinnvoll wie der
Begriff« (SW V, 411 f.). Hier kehrt eine der allgemeinsten Denkfiguren Schellings
zurück, nämlich dass Wesen und Form einander nicht äußerlich sind, sondern einan-
der wechselseitig ›eingebildet‹ sind.
73 AA I,7, 284; vgl. Schelling 1803b, 393 / SW II, 275.

74 Schelling 1803c, 33, 47 / SW IV, 411, 421.

75 Vgl. AA I,7, 356; Schelling 1803b, 103 / SW II, 82; Schelling 1806b, XX f. / SW II,

360; Schelling 1809a, 441, 457 f., 511 / SW VII, 366, 378, 415.
76 Ein Vergleich mit dem goetheschen Symbolbegriff findet sich bei Todorov 1977,

235–249; Whistler 2013, 25–27, 37–40, 163 f., 228–243. Vgl. Jähnig 1969, 190.

43
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

eine symbolische Darstellung nur schematisch ›lesen‹ würde. Dies


wäre z. B. dann der Fall, wenn man symbolische Figuren nur zu iden-
tifizieren oder mit bestimmten realen Figuren in Beziehung zu setzen
sucht.
Die dritte These schließlich betrifft das Verhältnis der Darstel-
lungsmodi untereinander: Die symbolische Darstellung schließt die
schematische und allegorische nicht so sehr aus, als dass sie die Mög-
lichkeit derselben vielmehr in sich enthält. 77 Ein Symbol ist somit
immer eine Mannigfaltigkeit. Obwohl eine symbolische Darstellung
somit immer auch eine schematische und eine allegorische ›Lektüre‹
erlaubt, so leistet sie einer vollständigen oder erschöpfenden Durch-
führung derselben dennoch Widerstand. Sie enthält beide Sicht-
weisen als Möglichkeiten in sich, ohne dass ihre Bedeutung durch
eine derselben oder durch beide zusammen erschöpft wäre. Die ei-
gentliche Leistung des Symbols besteht in seinem Deutungscharak-
ter. Es erschließt erst den Bereich, der bestimmte Behauptungen ver-
ständlich macht, oder es eröffnet den Horizont, von woher sie ihren
Sinn erhalten.
(3.) Die vorherigen Überlegungen erlauben eine präzisere Bestim-
mung des symbolischen Charakters des Bruno. Nach der dritten The-
se enthält die symbolische Darstellung die Möglichkeit einer schema-
tischen ›Lesart‹ in sich. In der Tat lässt sich in der Figur des Lucian
unschwer Fichte erkennen. 78 Damit wäre der Ansatz einer schema-
tischen Lesart gegeben, wonach idealiter jede Figur als eine reale Per-
son zu identifizieren und zu entschlüsseln und jede ihrer Aussagen
auf eine bestimmte Stelle in ihren Werken zu beziehen wäre. 79 Die

77 Vgl. Barth 1991, 159; Tomberg 2001, 79.


78 Dies wird auch dadurch nahegelegt, dass Schelling Fichte die Lektüre dieses Ge-
sprächs besonders empfiehlt (F. W. J. Schelling an J. G. Fichte, 3. Oktober 1801, AA
III,2,1, 378). In einem Vortrag an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften am
5. März 2009 hat Claudio Cesa übrigens auch eine allegorische Lesart vorgeschlagen,
wonach Lucian als ›der Erleuchtungsfähige‹ zu lesen wäre, während Bruno dement-
sprechend die Rolle des ›Lichtbringenden‹ übernähme (vgl. auch Cesa 2009, 74 f.).
79 Merkwürdigerweise fehlen bislang, soweit ich sehe, Identifikationsversuche für die

anderen Gesprächsteilnehmer. Zwar hat z. B. Xavier Tilliette in der »Rede von der
Mythologie und Poesie« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234) eine Anspielung auf
Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie erkannt, ohne dass man untersucht hat,
ob dieser nicht auch als Figur im Bruno auftritt (vgl. Tilliette 1992, 335 f.). Alexander
wäre hier, wie mir scheint, ein guter Kandidat. Ferner spricht einiges dafür, dass sich
hinter Anselmo Jacobi verbirgt. So fängt Bruno die Unterredung mit Lucian mit einer
Verbeugung vor Anselmo an, indem »[z]um Grunde […] des Gesprächs zu legen«

44
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

Identifizierung des Lucian jedenfalls ist so naheliegend, dass sie als


von Schelling beabsichtigt gelten kann und für das Verständnis des
ganzen Gesprächs zu berücksichtigen ist.
Wenn das Gespräch allerdings, nach Schellings ausdrücklicher Er-
klärung und nach den Indizien im einführenden Gespräch, als ein
symbolisches Gespräch zu verstehen ist, dann kann die Deutung des
Gesprächs sich, nach der ersten These, nicht in solchen Identifizie-
rungen erschöpfen, sondern muss der Durchführung der schema-
tischen Lesart Widerstand leisten. Danach würde man Schellings ei-
gentliche Absicht verfehlen, wenn man im Bruno nichts als die
verschlüsselte, literarisch überhöhte Wiedergabe eines (wenigstens
möglichen) realen Austausches sieht. In der Tat gibt Schelling keine
bloße Wiedergabe der fichteschen Lehre, sondern er scheint sich auch
hier durch die Maxime leiten zu lassen, nur dasjenige darzustellen,
was Fichte »meiner Einsicht nach wollen musste, wenn seine Philoso-
phie in sich selbst zusammenhangen sollte« (AA I,4, 102). 80 In der

nichts »Vortrefflicheres« zu erfinden sei, »als wozu du uns geführet, die Idee dessen,
worin alle Gegensätze nicht sowohl vereinigt als vielmehr eins, und nicht sowohl
aufgehoben als vielmehr gar nicht getrennt sind« (Schelling 1802a, 38 / SW IV, 235;
Herv. v. Verf.), im deutlichen Unterschied zum fichteschen Ich als der Idee dessen,
worin die Gegensätze vereinigt und aufgehoben sind, als der Idee einer Identität,
nicht einer Indifferenz. Bruno erkennt hier ausdrücklich an, dass dasjenige, was ihm
als Ausgangspunkt dienen wird, nicht von ihm zuerst erfunden oder gefunden wurde,
sondern dass ein anderer zuerst zu dieser Idee hingeführt hat. Gerade diese Stelle
zeigt eine auffällige Ähnlichkeit mit einigen Jacobi-Stellen, die Schelling im ungefähr
gleichzeitigen Reinhold-Gespräch zitiert und wovon er ausdrücklich erklärt, dass ge-
nau sie ihm zur Idee der Indifferenz geführt haben (vgl. Schelling 1802d, 62 / SW V,
58 f.). Außerdem übernimmt Anselmo am Ende des Gesprächs die Darstellung der
leibnizischen Philosophie. Nun war es Jacobi, der, unter dem Einfluss Lessings, ein
neues Verständnis Leibniz’ auf die Bahn gebracht hatte. In den Anmerkungen zu
Bruno verweist Schelling zudem mehrfach auf Jacobis Spinozabüchlein. Schließlich
ist daran zu erinnern, dass sowohl Friedrich Schlegel als auch Jacobi sich in der Dia-
logform versucht hatten. Keiner der beiden scheint sie allerdings als symbolische
Form gepflegt zu haben, sondern sie bleiben sehr nah am (mehr oder weniger ver-
schlüsselten) Protokoll eines ›realen‹ Gesprächs. So bemerkt Schlegel über sein Ge-
spräch über die Poesie, dass »vieles […] wirklich darin [ist], andres ersonnen«. Den
Vorzug der Dialogform sieht er darin, dass sie es erlaubt, »ganz verschiedene Ansich-
ten gegeneinander [zu] stellen«. Die Wahl dieser Form ist durch ein »Interesse an
dieser Vielseitigkeit« motiviert (Schlegel 1800, 286).
80 Durch diese Maxime hatte Schelling sich bereits bei seiner Kant-Interpretation

leiten lassen. Auch die Spinoza-Deutung in den Ferneren Darstellungen scheint nach
dieser Maxime durchgeführt. Schelling war sich übrigens durchaus dessen bewusst,
dass er »das Fichtesche System hier nicht dar[stellt], wie es sich selbst darstellt, son-
dern wie es von einem höheren Standpunkt aus erscheint« (SW VI, 123). Dies gilt

45
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Darstellung erfährt Fichte eine Verwandlung in eine symbolische


oder konzeptuelle Figur, die zugleich Schellings Distanznahme zu
ihm enthält und verschleiert. 81 Der Hinweis auf zwei Einzelheiten
kann dazu beitragen, diese Operation näher zu erläutern.
Erstens tritt Fichte im Bruno nicht unter seinem eigenen Namen,
sondern unter einem Decknamen auf. Dieser signalisiert, dass Lucian,
wenn die durch ihn vertretene Position auch sehr große Ähnlichkei-
ten mit derjenigen Fichtes aufweist, doch nicht schlechthin mit die-
sem identifiziert werden darf, als wäre er lediglich eine literarisch
überformte Nachahmung einer realen Person. Die Position Fichtes
lässt sich weitgehend von seiner Person loslösen und als eine in der
Vernunft vorgezeichnete Position konstruieren, als deren bloßes Or-
gan die Person Fichtes angesehen werden kann. 82 Das Pseudonym
markiert gerade diese Distanz zwischen der Person und der von ihr
vertretenen Lehre. Insofern kann die als Lucian bezeichnete Figur als
eine symbolische oder konzeptuelle Figur verstanden werden. 83 Eine
solche Position bezeichnet Schelling auch als eine ›Gegend‹. 84 Die Sät-
ze, in welchen Fichtes Position sich auskristallisiert, lassen sich nur
angemessen beurteilen, wenn man sie zu dieser Gegend in Beziehung
setzt. Erst von daher erhalten sie ihren eigentlichen Sinn. Es ist die
Gegend, die den inneren Zusammenhang oder die Konsistenz der
fichteschen Konzepte und Theoreme reguliert und sichert. Dabei deu-
tet die Bezeichnung als ›Gegend‹ an, dass diese selbst nicht von der
Art eines propositionalen Gebildes ist. Zwar drückt sie sich in solchen
aus, sie bleibt dennoch von denselben abgehoben, sodass sie niemals

auch für die Lehren von Giordano Bruno und Leibniz, wozu Schelling bemerkt, dass
es ihm nicht um eine historisch-korrekte Darstellung derselben geht als vielmehr um
eine Umdeutung derselben »zu einem höhern Sinn« (Schelling 1802a, 229 / SW IV,
332).
81 Ich übernehme damit einen Begriff von Deleuze/Guattari 1991, 60–81.

82
Im Anti-Fichte hingegen lautet die Kritik, dass das Verhältnis zwischen dem Organ
und demjenigen, was es ausdrücken soll, eine Verkehrung erleidet: Die philosophische
Doktrin wird für die Person Fichte zu einem Mittel, andere als philosophische Ziele zu
verfolgen (vgl. Schelling 1806a, 36–43, bes. 41 f. / SW VII, 44–48, bes. 47 f.).
83 Reinhold und Bardili hingegen treten im Gespräch Ueber das absolute Identitäts-

System unter eigenen Namen auf. Damit gibt Schelling zu erkennen, dass die Position
Reinholds sich nicht als eine in der Vernunft vorgezeichnete Position einsichtig ma-
chen lässt. Sie lässt sich gar nicht einsichtig machen, wenn man nicht auch die Person
und die besonderen Bedingungen ihres Existierens mitberücksichtigt.
84
Vgl. Schelling 1802a, 184 / SW IV, 309.

46
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

restlos in Sätzen aufgeht. Sie lässt sich demnach auch nur indirekt zur
Darstellung bringen.
Eine solche ›Gegend‹ ist ihrerseits in einem sie umfassenden Feld
aufgenommen, in welchem mehrere ›Gegenden‹ unterscheidbar sind.
Keine der Gegenden fällt mit diesem Feld zusammen, das sie alle in
einem Verhältnis der Indifferenz in sich enthält. Statt auf eine Ge-
schichte der Philosophie zielt Schelling damit auf eine Geographie
der Philosophie ab. 85 Erstere ist erst aufgrund der letzteren durch-
führbar. Dies tritt insbesondere im Schlussteil des Gesprächs hervor,
in welchem Schelling eine Konstruktion der »vier Weltgegenden der
Philosophie« durchführt: 86 Jeder der vier Gesprächsteilnehmer über-
nimmt die Darstellung einer dieser ›Weltgegenden‹. Die Darstellung
weist allerdings eine auffällige Asymmetrie auf. Während Alexander
und Anselmo ihre jeweilige ›Gegend‹ (Materialismus und Hylozois-
mus) auf erzählende Weise und gesondert, sozusagen in der Disjunk-
tion, vorstellen, werden die Positionen des Realismus und Idealismus
wiederum gesprächsweise und damit in einer polaren Beziehung dar-
gestellt, wobei jeder Pol von sich aus auf den anderen verweist. 87
Während die beiden ersteren Positionen eine innere Konsistenz auf-
weisen, die eine gesonderte und erzählende Darstellung erlaubt, und
ihre Grenzen nicht von innen heraus wahrnehmbar sind, sondern
erst durch die Gegenposition Zweifel an ihrer Haltbarkeit entstehen,
da verweisen Realismus und Idealismus hingegen von sich aus auf ihr
Gegenteil, sodass ein Übergang vom einem zum anderen möglich
und sogar notwendig ist. 88 Allerdings kann keine dieser Positionen
für sich beanspruchen, das wahre System der Philosophie zu sein,

85 Jean-François Marquet spricht diesbezüglich von einer »géographie mentale«. Da-


rin kommt auch die Gleichzeitigkeit dieser Potenzen zum Ausdruck (Marquet 1976,
583). In der Propädeutik der Philosophie (SW VI, 73–130) kombiniert Schelling die
systematische mit einer historisch-chronologischen Darstellung.
86 Schelling 1802a, 184 / SW IV, 309.

87
Marquet 1976, 583: »alors qu’Alexandre et Anselme exposent chacun leur doctrine
sous forme de monologues indépendants […] – Lucien et Bruno ne pourront s’ex-
primer qu’à travers un dialogue qui démontrera leur égalité«. Den Grund sieht er
darin, dass Alexander der potentiellen oder wesentlichen Identität, Anselmo der ak-
tuellen oder affirmierten Identität und Lucian und Bruno schließlich der Form der
Affirmation der Identität, die zwei Pole hat (der Indifferenz), zugewiesen werden. Zu
beachten ist ferner, dass Alexander und Anselmo das von ihnen dargestellte System
nicht so darstellen als wäre es ihr eigenes, als würden sie sich mit demselben identifi-
zieren.
88
Einen solchen Übergang hatte Schelling auch AA I,10, 89 f. angedeutet.

47
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

das nur in dem sie alle umfassenden und koordinierenden Feld exis-
tiert. Ebenso wenig wie die Gegenden selbst vermag das umfassend-
koordinierende Feld direkt dargestellt zu werden, sondern nur durch
die Darstellung der Gegenden kommt es auch selbst indirekt zur Dar-
stellung.
An diesem Punkt wird eine zweite Einzelheit von Bedeutung: Un-
ter dem Decknamen Lucian tritt Fichte als selbst agierende Figur auf.
Er ist Teilnehmer am Gespräch, stellt Fragen, macht kritische Bemer-
kungen, äußert seine Zweifel, antwortet auf die Fragen, die ihm ge-
stellt werden. 89 Daran lässt sich erst die Bedeutung einer konzeptuel-
len Figur erläutern. Das Verhältnis zwischen Sätzen und Gegend ist
nämlich kein solches der Ableitung. Es bedarf einer Vermittlung zwi-
schen Sätzen und Gegend, die durch die konzeptuelle Figur geleistet

89 Die Bedeutsamkeit dieses Elements tritt noch klarer hervor, wenn man Bruno mit
dem fast gleichzeitig erschienenen Reinhold-Gespräch vergleicht, in welchem Rein-
hold gar nicht leibhaftig auftritt, sondern bloß Gegenstand der Unterredung ist: Es
wird lediglich über ihn gesprochen, er selbst spricht aber nicht mit. (Dadurch unter-
scheidet das Gespräch sich übrigens auch von der durch Fichte geführten Auseinan-
dersetzung mit Reinhold: Das Antwortschreiben an Reinhold richtet sich direkt an
Reinhold.) Höchstens redet er indirekt, insofern aus seinen Schriften zitiert wird.
Allerdings werden diese Zitate eher als Objekte einer Erörterung genommen, als dass
sie so im Gespräch einfließen würden, dass die dort aufgestellten Behauptungen es
wert wären, durch den Verfasser und seinen Freund wirklich erwogen zu werden.
Dadurch soll markiert werden, dass Reinhold kein im strengen Sinne gesprächsfähi-
ger Partner ist. Dies wird im Gespräch selbst überall dort markiert, wo die »Absurdi-
tät« von Reinholds Behauptungen herausgestrichen wird (vgl. u. a. Schelling 1802d,
2 f., 5, 10, 29 f., 32 / SW V, 18 f., 20, 24, 37, 39). Auch die Rede von Reinholds »phi-
losophische[r] Imbecillität« (AA I,10, 113) soll seine Gesprächsunfähigkeit hervor-
heben. Allerdings ist er doch nicht völlig gesprächsunfähig. Wenn er auch nicht über
die erforderlichen Kompetenzen verfügt, um sich in einer philosophischen Auseinan-
dersetzung zu behaupten, so zeigt er wenigstens die Bereitschaft, sich in das philoso-
phische Gespräch einzumischen. Um seine Schriften gesprächstauglich zu machen,
bedarf es allerdings einer besonderen Aufbereitung. Dies ist eine der Aufgaben des
›Freundes‹. Das Gespräch macht durch seine Form deutlich, wie die Figur des Rein-
hold zwar nicht direkt gesprächsfähig ist, aber sich durch Vermittlung noch ge-
sprächsfähig machen lässt. Darin unterscheidet sie sich von der vierten Figur, die in
diesem Gespräch eine nicht unwichtige Rolle spielt und die ebenfalls unter seinem
eigenen Namen auftritt: Bardili. Dieser tritt nun einmal wirklich als Gesprächspartner
auf, in einem vom ›Verfasser‹ erzählten ›Gespräch im Gespräch‹ (vgl. Schelling 1802d,
47–50 / SW V, 48–50). Dieses stellt aber nur umso klarer heraus, dass Bardili im Ver-
gleich zu Reinhold ein durchaus gesprächsunfähiger Partner ist. Keine der ihm ge-
stellten Fragen weiß er zu beantworten. Die unschuldigste Frage bringt ihn sogleich in
Verlegenheit, wenn nicht in Verwirrung. Und die Unterredung wird dadurch beendet,
dass er in ein besinnungsloses Gelächter ausbricht.

48
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

wird. 90 Diese bezeichnet den jeweiligen Gesichtspunkt, der in einer


Gegend enthalten ist und durch welche eine Gegend sich von einer
anderen unterscheidet. Sie beinhaltet die Verwendungsbedingungen
der zur Gegend gehörigen Konzepte und Theoreme. Die konzeptuelle
Figur macht zum einen sichtbar, dass die Gegend auf eine vermitteln-
de Funktion angewiesen ist, um zur Darstellung zu gelangen, zum
anderen, dass im Ich eine dritte Person spricht. Als eine solche wäre
der Gesichtspunkt oder die Stelle zu bezeichnen, von wo aus das Ich
spricht. Erste und dritte Person fallen nicht zusammen. Vielmehr be-
urteilen wir die erste Person (z. B. Fichte) danach, ob er der dritten
Person als der Idee jener Stelle (in casu Lucian) gerecht wird. Hieraus
dürfte auch deutlich werden, weshalb die Identifizierung der Ge-
sprächsteilnehmer mit realen Personen für die Deutung des Gesprä-
ches als Ganzes durchaus relevant ist, ohne sie erschöpfend bestim-
men zu können. Die Freilegung der symbolischen Figuren, die sich
hinter den realen Personen verbergen oder die sich derselben als ihr
Organ bedienen, ist als ein Beitrag zur Selbsterkenntnis der letzteren
gedacht. 91 Erst durch die Erkenntnis seiner ›Gegend‹ und damit seines
Verhältnisses zu den anderen Gegenden oder seiner Position auf der
›Weltkarte‹ der Philosophie, die dem Sprechenden im Sprechen meis-
tens verborgen bleibt und nicht diskursiv ausgesprochen, sondern nur
gesprächsweise zur Darstellung gelangen kann, vermag der Philo-
soph zur Selbsterkenntnis zu gelangen. 92

90
Deleuze/Guattari 1991, 73: »Les personnages conceptuels constituent les points de
vue selon lesquels les plans d’immanence se distinguent ou se rapprochent, mais aussi
les conditions sous lesquelles chaque plan se trouve rempli par des concepts de même
groupe. […] Les concepts ne se déduisent pas du plan, il faut le personnage conceptuel
pour les créer sur le plan, comme il le faut pour tracer le plan lui-même, mais les deux
opérations ne se confondent pas dans le personnage qui se présente lui-même comme
un opérateur distinct«.
91
Dies ist auch die ausdrückliche Absicht der »allegorischen Vision« im Jacobi-Denk-
mal, die »dem Gegner […] wo möglich noch selber zu einer richtigeren Selbst-
erkenntniß […] verhelfen« soll (Schelling 1812, 34 / SW VIII, 38; Herv. v. Verf.).
92 Nicht nur im Bruno treten konzeptuelle Figuren auf. So könnte man in der Figur

des Heinz Widerporstens eine weitere der Naturphilosophie korrespondierende kon-


zeptuelle Figur sehen. Siehe den Abdruck des Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz
Widerporstens in Pareyson 1977, 89–97. Dort auch einige Zeugnisse, aus welchen
hervorgeht, dass Schelling sich auch in späterer Zeit »noch aufrichtig [da]zu [zu]
bekennen [schien]«. Ein Fragment des Gedichts erschien übrigens auch in der Zeit-
schrift für spekulative Physik. Dazu Kunz 1955, 40–55. – Eine weitere Figur wäre
Clara aus dem Gespräch Ueber den Zusammenhang der Natur mit der Geisterwelt
(SW IX, 11–110): Sie ist die Schauende, die das Wahre schaut, aber ohne es zu wissen,

49
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Die Frage nach dem Subjekt des Sprechens wird übrigens explizit
in der einleitenden Unterredung zwischen Anselmo und Alexander
angesprochen. Ausgangspunkt ist dort die Frage nach dem Realitäts-
status des Irrigen, Verkehrten, Unvollkommenen. Darauf antwortet
Alexander, dass er sich »nicht denken [kann], daß z. B. die Unvoll-
kommenheit irgend eines menschlichen Werks nicht wirklich in An-
sehung dieses Werkes Statt finde«. 93 Anselmo bemerkt, dass Alexan-
der zu einer solchen Antwort nur deshalb gelangt, weil er den Sinn
der Frage nicht genügend beachtet hat. Es ist nämlich nicht die Rede
davon, ob ein unvollkommenes Kunstwerk in Wahrheit nicht doch
ein vollkommenes sei oder ob ein Irrtum in Wahrheit nicht doch
Wahrheit sei. Deshalb lenkt Anselmo die Aufmerksamkeit auf den-
jenigen, der das Werk hervorgebracht hat. Keiner aber bringt »etwas
anders hervor«, »als was theils aus der Eigenthümlichkeit seiner
Natur, theils aus den Einwirkungen, welche auf ihn von aussen ge-
schehen sind, nothwendig folgt«. 94 Damit unterscheidet er zwischen
der Natur oder der idealen Verfassung des Subjekts und den Bedin-
gungen, die den Spielraum seines Handelns umreißen. Jedes einzelne
und endliche Ding hat demnach eine doppelte »Beschaffenheit«. 95 Ein
Individuum kann auf zweierlei Weise »Organ« sein: entweder als Or-
gan seiner »idealen Natur« oder als Organ des Realkontextes, in wel-
chem es auftritt und von welchem es für seine Existenz abhängig ist. 96
Dem entspricht Anselmos Unterscheidung zwischen den »ewigen Ur-

ohne des Geschauten wirklich mächtig zu sein und ohne es auch diskursiv entfalten zu
können. Dazu bedarf sie der Hilfe von zwei weiteren Figuren: Es gelingt ihr erst in
einem »Gespräch mit zwei Männern, einem Priester als Repräsentanten des Geistes
sowie einem Arzt als Repräsentanten des Körpers, ihre für sie selbst unformulier-
baren Gewißheiten zum Ausdruck [zu] bringen« (AA III,2,1, 164). Diese Gestalt des
Wissens wird übrigens bereits 1802 antizipiert, wo die Rede ist von der »reine[n] Idee
der Philosophie«, wo sie »ohne wissenschaftlichen Umfang mit Geist als eine Naivetät
sich ausdrückt, welche nicht zur Objectivität eines systematischen Bewußtseyns ge-
langt; es ist der Abdruck einer schönen Seele, welche die Trägheit hatte, sich vor dem
Sündenfall des Denkens zu bewahren« (Schelling 1802c, VII / SW V, 6). Auf diese
Gestalt des Wissens macht Schelling immer wieder aufmerksam, vgl. z. B. SW IV,
357; Schelling 1804, 6 f. / SW VI, 19; F. W. J. Schelling an A. W. Schlegel, 3. Juli 1801,
AA III,2,1, 355 f. Vgl. auch Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357 mit Schelling 1806a,
154–159 / SW VII, 119–122 und SW X, 166, 184–187.
93 Schelling 1802a, 12 / SW IV, 221. Diese Antwort bestätigt zudem, dass ihm die Idee

der Schönheit fehlt.


94
Schelling 1802a, 12 f. / SW IV, 222; Herv. v. Verf.
95 Schelling 1802a, 13 / SW IV, 222.

96
Schelling 1802a, 19 / SW IV, 225.

50
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

bilder[n]« und ihren Abbildungen. 97 Wenn es von diesen heißt, dass


sie »nothwendig […] unvollkommen und mangelhaft« sind, dann be-
deutet dies nur, dass in der Erfahrung keine Gegenstände gegeben
sind, die den Ideen völlig kongruent wären. 98 Zudem sind jene, um
auftreten zu können, außer auf ihre ›ideale Natur‹ auch auf besondere
raumzeitliche Bedingungen angewiesen. Die Idee selbst ist, um er-
scheinen oder sich darstellen zu können, auf solche Bedingungen an-
gewiesen, die sie zugleich daran hindern, ihr ganzes Potential zu rea-
lisieren. Ohne das Zusammentreffen solcher äußeren Verhältnisse
vermag die Idee nicht zu erscheinen. Sie unterscheidet sich allerdings
von diesen Bedingungen ihrer äußeren Existenz und überragt sie.
Deshalb »gestattet« das natürliche Prinzip es bloß, dass die Idee her-
vortritt. 99
In einer wissenschaftlichen Darstellung, die ausschließlich an den
Inhalten des Wissens interessiert ist, kann und muss vom Subjekt des
Wissens abstrahiert werden. Die für die Erarbeitung des Wissens er-
forderlichen subjektiven Bedingungen werden einfach vorausgesetzt
oder bloß ›statuiert‹. Sie können auch nicht auf dieselbe Art wie die
Ergebnisse des Wissens mitgeteilt werden. 100 Sie können nur gezeigt
werden. Dies soll durch die Form des Gesprächs geschehen. Schellings
Absicht mit dem Gespräch Bruno besteht somit darin, sowohl die
Gegenden als auch die entsprechenden konzeptuellen Figuren eigens
sichtbar zu machen. Dazu ist zweierlei erfordert: Erstens müssen Zu-
sammenhang, Sinn und Konsistenz der einzelnen Konzepte und
Theoreme sichtbar gemacht werden; zweitens muss auch die jeweilige
konzeptuelle Figur jeder Gegend zur Darstellung gelangen. Damit
finden wir auch die deutende Funktion des Symbols wieder. Erst die
Herausarbeitung der dem Idealismus korrespondierenden konzeptu-
ellen Figur erlaubt es, die Behauptungen Fichtes und insbesondere das
Selbstverständnis, das er selbst mit demselben verbindet, auf eine an-
gemessene Art zu beurteilen. Die Identifizierung der Figur des Lucian
mit Fichte ist deshalb nur insofern relevant, als umgekehrt die Ge-
sprächsfiguren symbolische Darstellungen jener realen Figuren sind

97 Schelling 1802a, 16 / SW IV, 223.


98 Schelling 1802a, 17 / SW IV, 224.
99 Schelling 1802a, 19 / SW IV, 225.

100 Vgl. Schelling 1802b, 9 f., 47 / SW IV, 344 f., 370; Schelling 1803c, 27 f. / SW IV,

408. Aus diesen Stellen geht hervor, dass die intellektuelle Anschauung keine der
Philosophie eigentümliche Voraussetzung ist, sondern Voraussetzung der Wissen-
schaftlichkeit überhaupt.

51
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

und insofern dazu beitragen, diese selbst angemessen zu deuten und


ein Kriterium an die Hand geben, ihre Aussagen danach zu beurtei-
len, ob sie zur ›Gegend‹ oder ob sie bloß zur »sterbliche[n] Seite«
ihres jeweiligen Denkens gehören. 101 Eine historisch richtige Dar-
stellung der Positionen ist somit nicht beabsichtigt.
Daraus folgt nun auch, dass die Figur des Bruno nicht mit Schel-
ling identifiziert werden darf. 102 Schelling zielt, wie wir gesehen
haben, vielmehr darauf ab, das alle Gegenden umfassende Feld zur
Darstellung zu bringen, während Bruno selbst nur eine Gegend in-
nerhalb dieses Feldes bezeichnet. Noch weniger hat man in der Figur
des Bruno eine Wiedergabe der Lehre des Giordano Bruno zu suchen,
die übrigens von Alexander, und nicht von Bruno, dargestellt wird. 103
Hinzu kommt die Charakterisierung des Bruno. Dieser wird von An-
selmo als ein »Gast«, also als ein Fremder eingeführt: Bruno war
»bisher als Gast unsern Gesprächen gegenwärtig«, hat diesen an-
scheinend bislang schweigend zugehört, soll nun aber auf Anordnung
Anselmos das Wort ergreifen, damit er »davon rede, von welcher Art
der Philosophie er glaube, daß sie in den Mysterien gelehrt werden
müsse«. 104 Brunos Status als Gast gibt dreierlei zu erkennen: Erstens
greift die durch Bruno dargestellte – sowohl erörterte als auch reprä-
sentierte – Naturphilosophie in eine schon seit längerer Zeit geführte,
allerdings noch nicht zu einem befriedigenden Abschluss gekom-

101 Schelling 1802b, 21 / SW IV, 353.


102
Obwohl Jean-François Marquet Bruno zunächst mit Schelling identifiziert, sieht
er sich nachher doch gezwungen, zuzugeben, dass Schelling eigentlich nur im Zen-
trum steht, d. h. an einem Platz, der »ne saurait être à aucun des quatre points de la
périphérie« (Marquet 1976, 584). Auch mit seiner vorangegangenen Unterredung mit
Lucian zielte Bruno nicht so sehr darauf ab, diesen zu widerlegen, als vielmehr zu
zeigen, in welche Beziehung seine Position sich zur Naturphilosophie bringen lässt.
Nur solche Behauptungen Lucians sollen abgewehrt werden, aus welchen eine wech-
selseitige Ausschließung beider Positionen folgen würde.
103 Siehe Schellings Anmerkung: Schelling 1802a, 226 / SW IV, 330. Bisherige Unter-

suchungen der Einflüsse Giordano Brunos auf Schelling blieben unergiebig. Sie kom-
men nicht an der Tatsache vorbei, dass Schellings Kenntnisse der nolanischen Phi-
losophie eher dürftig waren und, jedenfalls zur Zeit der Verfassung dieses
Gesprächs, kaum weiter reichten, als was sich aus den Auszügen in der ersten Beilage
von Jacobis Spinozabüchlein erschließen ließ. Die Einführung der Figur des Bruno
dürfte also mehr mit Jacobi als mit Giordano zu tun haben. Dazu Tilliette 1992, 306 f.
Diese Feststellung hätte dazu führen müssen, zu fragen, welche Intention Schelling
damit verfolgt haben mag, die der Naturphilosophie entsprechende konzeptuelle Fi-
gur mit dem Namen ›Bruno‹ zu bezeichnen.
104
Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234.

52
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

mene, jedenfalls nicht von ihm erst angestoßene Debatte ein. Die
Lösung, die die Naturphilosophie für diese Debatte bereithält, ist in-
sofern originell, als sie eine Einigung der verschiedenen Positionen
ermöglicht. Dass die Naturphilosophie dieser Debatte bzw. den vor-
her erprobten Lösungsversuchen vieles zu verdanken hat, bezeugt
Bruno sogleich in seinem ersten Satz: »Undankbar würde ich erschei-
nen, wenn ich, so oft und so reichlich bewirthet von euch, nicht hin-
wiederum so gut ich vermag, euch von dem Meinigen mittheilen
sollte«. 105 Zweitens präzisiert Bruno selbst sogleich seinen Status, in-
dem er, mit einer Anspielung auf Spinoza, 106 zunächst um Verzei-
hung bittet, »wenn ich euch nicht sowohl sage, welche Philosophie
ich für die beste halte, in Mysterien gelehrt zu werden, als vielmehr
von welcher ich wisse, daß sie die wahre sey«, und dem noch die Ein-
schränkung hinzufügt: »und auch diese nicht selbst, sondern nur den
Grund und Boden darstelle, auf welchem sie erbaut und aufgeführt
werden müsse«. 107 Das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philoso-
phie überhaupt ist eine Identität, aber keine Einerleiheit: Die Philoso-
phie überhaupt geht nicht in Naturphilosophie auf, diese ist nicht die
ganze Philosophie, sondern nur deren Grund. Insofern muss ihr al-
lerdings eine gewisse Priorität zuerkannt werden. 108 Drittens deutet
sein Status als Gast an, dass Bruno zu jenen »wenige[n] große[n]
Erscheinungen« gehört, die »allgemein miskannt und verfolgt wor-
den sind«, deren Größe aber darin besteht, dass sie sich des Haupt-
stroms der modernen Philosophie, »in welchem sich die längst vor-
handene Entzweyung nur mit Bewußtseyn und wissenschaftlich
ausgesprochen hat«, zu entziehen vermocht haben. 109 Darin dürfte
ein Grunde dafür liegen, dass Schelling, trotz seiner dürftigen Kennt-
nisse der nolanischen Philosophie, Bruno als zentrale Figur des Ge-
sprächs gewählt hat.
In der Bezeichnung des Bruno als eines symbolischen Gesprächs
drückt sich insofern Schellings Absicht mit demselben aus, als in ihm
nicht so sehr Nachahmungen realer Personen als vielmehr symboli-
sche Figuren auftreten. Es handelt sich um ein symbolisches Ge-

105 Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234.


106 Vgl. B. d. Spinoza an A. Burgh, Spinoza 1677, Bd. IV, 319 f.
107 Schelling 1802a, 37 f. / SW IV, 235.

108 Vgl. dazu Schellings wiederholte Erklärung, dass die Naturphilosophie nur die

eine Seite des Systems ist, so z. B. Schelling 1802f, 2 f. / SW V, 107; Schelling 1803b,
67, 78–85 / SW II, 58, 66–71.
109
Schelling 1802f, 14 / SW V, 116.

53
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

spräch, insofern idealtypisch vorgeführt wird, wie partielle Ansichten


sich so zueinander in Beziehung setzen lassen, dass sie sich nicht
mehr als miteinander in Widerspruch ausschließen. Jede ›Gegend‹,
die im Widerspruch zu einer anderen zu stehen scheint, steht dadurch
zu sich selbst im Widerspruch. Jener Widerspruch ist ein Indiz für
einen Widerspruch zwischen den zu ihr gehörigen Sätzen und dem
für dieselben beanspruchten Status. Deshalb werden die Sätze, die
Lucian behauptet, nicht als schlechthin falsch zurückgewiesen, son-
dern es wird nur der Gebrauch verworfen, den er davon machen zu
können meint, insbesondere seine Überzeugung, dass sie sich zur Wi-
derlegung des Realismus eignen. Am Verhältnis, das eine Gegend sich
zu anderen Gegenden gibt, lässt sich somit ein unangemessenes
Selbstverständnis sowie ein ungenügendes Verständnis der ihr eige-
nen Aufgabe ablesen. Lucian kann sich somit nur insofern als mit
Bruno im Gegensatz verstehen, als er ein unangemessenes Verständ-
nis seiner eigenen Gegend hat und diese mit dem umfassenden Feld
gleichsetzt. Insofern soll das Gespräch den teilnehmenden Philoso-
phen zur Selbsterkenntnis verhelfen. Es gilt nämlich zu beachten,
dass alle Gesprächsteilnehmer Philosophen sind. 110 Das Gespräch ist
dabei so gestaltet, dass der Leser sich mit keiner der agierenden Figu-
ren zu identifizieren braucht, sondern ihnen in ihren Auseinander-
setzungen zuschauen kann. Dadurch vermag er zu allen Distanz zu
halten, auch zu jener Gegend, mit welcher er sich vielleicht anfangs

110
Deshalb sind in diesem Gespräch, wie auch sonst, mittels nicht kenntlich gemach-
ter Zitate oder Anspielungen Erkennungszeichen für die Adressaten eingestreut. Ein
Symbol ist nach seiner ursprünglichen Bedeutung nämlich auch ein Erkennungszei-
chen (vgl. Schelling 1802a, 230 / SW IV, 332, wo »das Symbolum der wahren Phi-
losophie« erwähnt wird). Auch am Ende der Philosophischen Briefe erwähnt Schel-
ling »ein Symbol für den Bund freier Geister, an dem sie sich alle erkennen, das sie
nicht zu verbergen brauchen, und das doch, nur ihnen verständlich, für die Andern
ein ewiges Räthsel sein wird« (AA I,3, 112). Hier ist die Erinnerung an Rousseaus
›signe caractéristique‹ unübersehbar: »Des êtres si singulierement constitués doivent
necessairement s’exprimer autrement que les hommes ordinaires. Il est impossible
qu’avec des ames si differemment modifiées, ils ne portent pas dans l’expression de
leurs sentimens et de leurs idées l’empreinte de ces modifications. Si cette empreinte
échappe à ceux qui n’ont aucune notion de cette maniére d’être, elle ne peut échapper à
ceux qui la connoissent et qui en sont affectés eux-mêmes. C’est un signe caractéris-
tique auquel les initiés se reconnoissent entre eux, et ce qui donne un grand prix à ce
signe, si peu connu et encore moins employé, est qu’il ne peut se contrefaire, que
jamais il n’agit qu’au niveau de sa source, et quand il ne part pas du coeur de ceux
qui l’imitent il n’arrive pas non plus aux coeurs faits pour le distinguer« (Rousseau
1776, 672; vgl. dazu Meier 2011, 49 f.).

54
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren

identifiziert hatte. Wohl aus diesem Grund bezeichnet Schelling die


symbolische auch als die »höhere Form« und als »die einzige nach
unsrer Meynung, welche die bis zur Selbstständigkeit ausgebildete
Philosophie in einem unabhängigen und freyen Geiste annehmen
kann«. 111 Auch die Gesprächsteilnehmer sind nicht von Anfang an
›unabhängige und freye Geister‹, sondern gewinnen ihre Unabhän-
gigkeit und Freiheit erst im Laufe des Gesprächs, indem sie sich nicht
mehr zu den anderen Figuren im Gegensatz sehen, sondern in ihrer
eigenen Position stets auch über das Verhältnis zu den anderen mit-
reflektieren. Erst das System, das sich mit keinem im Gegensatz fin-
det, sondern alle zu integrieren weiß, kann das wahrhaft befriedigen-
de System sein und damit auch das einzige, das Unabhängigkeit und
Freiheit gewährt. 112 Gerade die symbolische Gesprächsform eignet
sich besonders dazu, unterschiedliche philosophische Positionen zu-
einander in Beziehung zu setzen. Das System der Philosophie findet
seine Bewährung darin, dass es in die Lage versetzt, Positionen so
zueinander in Beziehung zu setzen, dass sich zeigt, wie sie sich in
einem sie alle umfassenden Feld integrieren lassen. Insofern dadurch
die Selbstdeutung, die ihre Vertreter mit ihrer Position verbinden,
einer kritischen Prüfung unterzogen wird, liefert es zugleich einen
Beitrag zu deren Selbsterkenntnis. Dies drückt Schelling in Philoso-
phie und Religion prägnant so aus, dass »jeder partiellen Ansicht Eine
andre partielle entgegengesetzt werden kann« sowie »einer umfas-
senden, die das Universum begreift, alle möglichen Einseitigkei-
ten«. 113 Man könnte auch sagen, dass gerade eine solche Darstellung
sich in erster Linie an »Leser« richtet, »die schon ein philosophisches
System haben«. 114

111 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.


112 Vgl. auch Schellings spätere Erklärung: SW X, 95 f.
113 Schelling 1804, 4 / SW VI, 18.

114 So der Titel der Zweiten Einleitung zu Fichtes Versuch einer neuen Darstellung

der Wissenschaftslehre von 1797/98. Die erste Einleitung richtet sich hingegen an
»unbefangene Leser«, d. i. »solche, die ohne vorgefasste Meinung sich dem Schrift-
steller überlassen, ihm nicht nachhelfen, aber auch nicht widerstehen« (GA I,4, 209).
Schelling scheint diese Unterscheidung unterschiedlicher Adressatentypen aufzuneh-
men, wenn auch mit einer bedeutsamen Amendierung.

55
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

Die Analyse des Bruno hat gezeigt, wie die Eigenart der symbolischen
Form durch Schellings Absicht sowie durch seine Ausrichtung an
einer Klasse von vorzüglichen Adressaten motiviert ist. Wenn Schel-
ling nun im »Vorbericht« zu Philosophie und Religion erklärt, dass
die Schrift die Umarbeitung eines fast fertig vorliegendes Gesprächs
enthält, das als Fortsetzung des Bruno gedacht war, und »äussere Um-
stände nicht zugelassen haben«, diesem zweiten Gespräch »die letzte
Vollendung […] zu geben«, 115 dann können wir vermuten, dass an der
Vollendung gerade der Umstand gehindert hat, dass bislang weder
Fichte noch Jacobi noch auch Friedrich Schlegel sich der für sie im
Bruno enthaltenen Herausforderung gestellt hatten. Um diese für
diese Adressaten noch zu verschärfen, verfasst Schelling Philosophie
und Religion, wählt allerdings Eschenmayer als Stellvertreter, um die
alles entscheidende Frage stellen zu können, auf welche er zuallererst
von den Genannten eine Antwort verlangt. Eschenmayer eignete sich
desto mehr zu diesem Zweck, da er, genau wie Fichte und Jacobi, »die
Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 116 Solange
Fichte und Jacobi sich nicht ausführlich zum Verhältnis von Philo-
sophie und Religion erklären, ist Schelling allerdings im Umklaren
darüber, in welchem Sinne sie den Begriff des Glaubens verstanden
haben wollen. Die Schrift soll sie somit dazu auffordern, sich unzwei-
deutig zu diesen ›Verhältnissen‹ zu erklären.
Allerdings führt Schelling die fehlende Vollendung nur als Grund
dafür an, dass das zweite Gespräch bislang nicht veröffentlicht wurde.
Für die Umarbeitung des Gesprächs in eine verwandelte Form und für
eine Veröffentlichung derselben führt er aber nicht den unvollende-
ten Charakter des Gesprächs, sondern einen anderen Grund an, näm-
lich die Erscheinung jener »merkwürdigen Schrift von Eschenmay-
er«, besonders wegen der Tendenz, die sich darin zu erkennen gibt, als
auch wegen Eschenmayers Charakter. 117 Wichtiger als die Richtigkeit
dieser Angaben ist somit das Motiv, das Schelling für diese Umarbei-
tung anführt. Ein symbolisches Gespräch wie Bruno oder wie das –
nicht fertiggestellte und nicht veröffentlichte – zweite Gespräch rich-

115
Schelling 1804, III / SW VI, 13.
116 Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.
117
Schelling 1804, III / SW VI, 13.

56
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

tet sich an einen »unabhängigen und freyen Geiste«. 118 Wir haben
gesehen, wie das Gespräch zwischen Philosophen, wie Bruno es vor-
führt, so eingerichtet ist, dass die teilnehmenden Philosophen durch
es insofern zu einem neuen und angemesseneren Verständnis ihres
eigenen Systems gelangen, als es sie in die Lage versetzt, sich auf der
philosophischen ›Weltkarte‹ zu verorten. Erst durch diese Selbst-
erkenntnis werden die Philosophen selbst zu ›unabhängigen und
freyen Geistern‹. Zu dieser Selbsterkenntnis gelangen sie erst da-
durch, dass die Identifikation mit dem eigenen System durchkreuzt
wird und sie sich über ihr Verhältnis zu anderen Systemen Klarheit
verschaffen. Die Gesprächsform eignete sich besonders zu einer sol-
chen Distanznahme zum eigenen System, insofern sie nicht darauf
ausgerichtet ist, dass der Leser sich mit einem der Gesprächsteilneh-
mer bzw. der von ihm vertretenen Position identifiziert, sondern ihn
auf Distanz zu allen Gesprächsteilnehmern stellt und ihm diese in
ihrer Auseinandersetzung vor Augen führt. Die hauptsächlichen
Adressaten eines symbolischen Gesprächs sind demnach die Philoso-
phen; seine Absicht besteht darin, diesen zu einem angemessenen
Selbstverständnis zu verhelfen und sie dadurch zu ›unabhängigen
und freyen Geistern‹ zu machen.
Bei der Auseinandersetzung mit Eschenmayer ist die Ausgangs-
lage eine andere. Schelling charakterisiert ihn als »scharfsinnig«, als
einen »geistreiche[n] Forscher«, allem voran als einen »edlen Geist«,
der sich durch seine Wahrheitsliebe auszeichnet. 119 Damit dürfte
Eschenmayer gerade durch solche lobenden Charakterisierungen
von den wirklichen Philosophen ausgenommen werden. Dass Schel-
ling Eschenmayer nicht als einen Philosophen betrachtet, dürfte aus
der zweideutigen Weise hervorgehen, wie er ihn von den ›Werkzeu-
gen der Zeit‹ ausnimmt. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich
eine philosophischen Lehre so »zurechtzumachen und anzueignen«
suchen, dass sie sie zeitgemäßen Meinungen anpassen, eine Anpas-

118 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.


119 Schelling 1804, 4, 54, IV / SW VI, 18, 51, 14. Solche Lobsprüche können manch-
mal auch eine kritische Spitze enthalten. Man erinnere sich Jacobis Unterscheidung
von Scharfsinn und Tiefsinn (vgl. Jacobi 1785, 14 f.). Auch das Geistreiche hat nur
relativen Wert und ist z. B. noch vom Vernünftigen zu unterscheiden (vgl. SW V, 477;
Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395; SW VII, 468). Allerdings bemerkt Schelling an-
lässlich einer späteren Auseinandersetzung: »Sie […] gaben […] zu erkennen, daß es
Ihnen nur um die Ausmittlung der Wahrheit oder wenigstens des eigentlichen Streit-
punktes zu thun sey« (Schelling 1813b, 80 / SW VIII, 162).

57
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

sung, die allerdings mit »Misdeutungen und Verunstaltungen« er-


kauft wird. 120 Dabei ist es unerheblich, ob jene »Organe« sich als
Gegner oder Anhänger gerieren. 121 Versteht man philosophische
Sätze ausschließlich als Behauptungen über Sachverhalte, dann kris-
tallisiert diese Haltung sich zwangsläufig in den beiden möglichen
Haltungen der Gegner- und Anhängerschaft heraus, da mit jener
Grundhaltung auch die Bivalenz der Sätze gesetzt ist. Behauptungen
über Sachverhalte können nämlich ihren Gegenstand treffen oder
auch verfehlen. Demnach behandelt Schelling beide Gruppen meis-
tens parallel, da sie sich nur dem Vorzeichen, nicht aber der zugrunde-
liegenden Haltung nach unterscheiden. Nachdem er im »Vorbericht«
anfangs bemerkt hat, dass die ›Misdeutungen und Verunstaltungen‹
weder der Gegner noch der Anhänger besonderer ›Rücksicht werth‹
sind, so unterzieht er beide wenig später doch einer nun unterschied-
lichen Behandlung. 122 So erklärt er, dass er zu »den groben Misdeu-
tungen der Gegner, welche die Grundsätze und Folgen dieser Lehre
auch bey der Gelegenheit erfahren mögen«, »ruhig schweigen«
wird. 123 Auf die Anhänger geht er hingegen umständlichst ein. Deren
Lage scheint demnach verhängnisvoller zu sein als die der Gegner,
nicht nur weil sie für Schelling, sondern besonders weil sie für diese
selbst schädlich ist. Auch hier sollen also besonders diejenigen be-
rücksichtigt werden, die sich der philosophischen Erkenntnis rüh-
men, während diejenigen, die eine solche leugnen, mit Schweigen
übergangen werden. 124 Für den Anhänger charakteristisch sind nicht
so sehr die Behauptungen, welchen er sich anhängt, sondern in erster
Linie die Weise, wie er mit denselben umgeht. Erst dieser Umgang
macht ihn zu dem, was er ist. Dabei unterscheidet Schelling dreierlei

120 Schelling 1804, IV / SW VI, 14.


121 Schelling 1804, IV / SW VI, 14.
122
Im Hauptteil werden sie zudem noch zweimal berücksichtigt, vgl. Schelling 1804,
52, 60 f. / SW VI, 49, 55.
123
Schelling 1804, V / SW VI, 14; Herv. v. Verf. Vgl. Lessing 1777, 673: »Die Frage
ist: was der Philosoph gegen die Schwärmerei tut? Weil der Philosoph nie die Absicht
hat, selbst Schwarm zu machen, sich auch nicht leicht an einen Schwarm anhängt;
dabei wohl einsieht, daß Schwärmereien nur durch Schwärmerei Einhalt zu tun ist: so
tut der Philosoph gegen die Schwärmerei – gar nichts« (Herv. v. Verf.). Der ganze
Aufsatz Über eine zeitige Aufgabe, der erstmals 1795 veröffentlicht wurde, scheint
für Schellings Verständnis der Polemik höchst bedeutungsvoll; so führt Schelling ge-
nau wie Lessing den Begriff der Schwärmerei auf »Schwarm« zurück (so Schelling
1804, VI / SW VI, 15; ausführlicher: Schelling 1806a, 36 f. / SW VII, 44).
124
Vgl. Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.

58
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

Verhaltensweisen. Der Anhänger geht, erstens, so mit Büchern und


Texten um, dass er eine »Masse fremdartiger Dinge […] hineinleg[t]«
und dadurch die in jenen enthaltene Lehre »zur Caricatur aus-
dehn[t]«, da er sich nicht die Mühe gibt, einen Text so zu verstehen,
wie er vom Autor verstanden sein will. 125 Die Karikatur braucht dabei
nicht beabsichtigt zu sein. Wahrscheinlicher ist, dass jener Leser tat-
sächlich glaubt, dass der Autor seine Lehre so verstanden wissen will.
Zweitens verhält der Anhänger sich zu anderen so, dass er versucht,
diese »in Erstaunen [zu] setzen«. 126 Auch dies braucht nicht absicht-
lich zu geschehen, insofern der Anhänger so seinem Publikum nur
sein eigenes Erstaunen mitteilt und sich dadurch mit jenen anderen
auf eine Linie als zum »Pöbel« gehörig stellt. 127 Sein Verhältnis zu
sich selbst schließlich kennzeichnet sich durch ein »hohles«, leicht
erregbares »Gemüth«, das sich der Worte nur dazu bedient, seine
subjektive Befindlichkeit auszudrücken. 128 Zusammenfassend kann
man sagen, dass der Anhänger sich durch einen Mangel an Selbst-
erkenntnis auszeichnet: Weder von seinem Tun noch von seinem
Umgang mit Anderen noch auch von sich selbst ist er imstande, Re-
chenschaft abzulegen. Deshalb wäre es auch verfehlt, auf ein solches
Verhalten mit Argumenten zu reagieren. Stattdessen setzt Schelling
rhetorische Mittel ein und versucht, auf die Affektivität zu wirken,
besonders die Eigenliebe der Anhänger zu erschüttern. 129 Nicht nur
im »Vorbericht«, sondern auch andernorts finden sich Proben einer
solchen Einschüchterungsrhetorik. Was den Anhänger bzw. Gegner
vom Philosophen unterscheidet, ist nicht in erster Linie auf einer
doktrinalen Ebene zu suchen. Die Differenz wurzelt nicht so sehr in
der Materie der Sätze, sondern zuallererst in der Weise, wie beide mit
Sätzen umgehen, in der Form und Art, wie sie ihrer Behauptung Gel-
tung zu verschaffen suchen. Deshalb möchte Schelling dafür das
Wort der »Schwärmerei« gebrauchen, und zwar
in der ursprünglichen Bedeutung […], wo es nicht unmittelbar auf die
Materie des Denkens bezogen wird, sondern auf die Form und die Art,

125 Schelling 1804, VI / SW VI, 15.


126 Schelling 1804, VI / SW VI, 15.
127 Schelling 1804, VI / SW VI, 15; vgl. Schelling 1804, 52 / SW VI, 49.

128 Schelling 1804, VI / SW VI, 15.

129 Vgl. Schelling 1804, VI, 52, 60 f. / SW VI, 15, 49, 55. Im Reinhold-Gespräch geht

Schelling darin noch weiter, als es dem heutigen Geschmack genehm ist. Jedenfalls
lässt er kein Mittel aus, um Reinholds Selbstverständnis, wie dieses sich in beiläufigen
Bemerkungen zu erkennen gibt, zu erschüttern.

59
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

wie es sich geltend macht. Schwärmer, auch Schwärmgeister nennen


Doktor Luther und seine Zeitgenossen Menschen, die eine gewiße Ver-
bindung und Folge von Sätzen, die bloß in ihrer Eigenheit gegründet
sind, und nur durch ihre Subjektivität zusammengehalten werden, aber
weder in ihnen selbst, noch an sich einen objektiven Grund und Zusam-
menhang haben, durch ihre bloße Subjektivität geltend machen wollen.
Alles was allein Sache des Subjekts ist, und dennoch für Wahrheit ange-
sehn seyn will, sucht den Charakter innrer Allgemeingültigkeit durch
den äusseren, des allgemeinen Geltens, sich zu ersetzen und zu erheu-
cheln, d. h. es strebt, sich selbst zur Sache aller Subjekte zu machen, mit
Einem Wort: Parthei zu stiften. Schwärmer ist, wer auf diese Art einen
Schwarm, eine Sekte bildet; der Sektirer. 130
Damit restituiert Schelling dem Begriff der Schwärmerei seine soziale
und politische Bedeutung, indem er hervorhebt, wie jenem Umgang
mit philosophischen Sätzen eine spezifische Form der Sozialität ent-
spricht. 131 Darauf zielt auch die Unterscheidung zweier entgegen-
gesetzter Modi der Sozialität, die er als ›Volk‹ und ›Pöbel‹ bezeich-
net. 132 Der Schwärmer kennzeichnet sich dadurch, dass er einen
Wahrheitsanspruch für Sätze erhebt, welchen nur eine subjektive
Geltung und Sinn zukommt. Während das Volk durch eine organi-
sche Einheit charakterisiert ist, d. h. eine Differenz der verschiedenen
Glieder des Ganzen enthält, ist für den Pöbel hingegen die Auf-
hebung solcher Differenzen und hierarchischer Unterscheidungen
kennzeichnend. Schelling greift hier auf Phänomene zurück, die er
in seiner Naturphilosophie erschlossen hatte und die er hier für die
Durchdringung geistiger Phänomene fruchtbar macht. 133 Damit zeigt

130 Schelling 1806a, 36 f. / SW VII, 44. Vgl. Lessing 1777, 672.


131 Nicht erst seit Kant dient der Begriff der Schwärmerei dem Philosophen dazu, sich
von den Nicht-Philosophen abzugrenzen. Die Unterscheidung Philosophie – Schwär-
merei erfüllt damit dieselbe Funktion wie die Unterscheidung Philosophie – Sophistik
bei Platon. An der Ausfüllung, die dieser Begriff bei einem Denker erfährt, lässt sich
demnach sein Verständnis dessen, was Philosophie ist, ablesen. Dazu: Hinske 1988.
132
›Pöbel‹ ist ein wertbeladener Ausdruck – was sich für eine um Nüchternheit und
Objektivität bestrebte Wissenschaft nicht gehört. Deshalb würde der Wissenschaftler
einen ›wertneutralen‹ Ausdruck wie ›Masse‹ vorziehen. Damit wäre der entscheiden-
de Unterschied zwischen ›Volk‹ und ›Pöbel‹, zwischen einer organischen und einer
nicht-organischen Menschenmenge jedoch verwischt. In jener Unterscheidung ver-
birgt sich demnach bereits eine Entscheidung über Gut und Böse.
133 Auch in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium ist von

geschlechtslosen, aber unproduktiven Bienen die Rede, »die, weil ihnen zu produciren
versagt ist, durch anorgische Absätze nach außen, ihre eigene Geistlosigkeit in Ab-
drücken vervielfältigen« (Schelling 1803a, 16 / SW V, 217). Die Rede von ge-

60
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

sich an diesem Punkt bereits, wie sowohl die Form der Darstellung als
auch die Naturphilosophie einen integralen Teil von Schellings Poli-
tischer Philosophie bilden.
Schelling dürfte wohl kaum gehofft haben, dass die »Drohworte
der Vorrede« eine derartige Wirkung erzielen würden, dass sie tat-
sächlich »unberufene[…] Nachfolger[…] und Gegner[…]« von der
Lektüre der Schrift abhalten würden. 134 Mehr noch als die ›Drohwor-
te‹ dürfte die Art der Darstellung dazu beigetragen haben, dass die
Schrift unverstanden blieb. Wie dem auch sei, wenn z. B. Bruno und
Philosophie und Religion, wie wir zu zeigen versucht haben, sich an
unterschiedliche Adressaten richten, dann braucht dies doch nicht
auszuschließen, dass nicht auch andere Adressatentypen dabei stets
mitberücksichtigt werden. 135 Es steht nämlich nicht in der Gewalt
eines Schriftstellers, zu verhindern, dass seine Schriften auch durch
solche, für welche sie nicht zuallererst gemeint sind, gelesen werden.
So dient der feierlich-gehobene Ton des Bruno auch dazu, den nicht-
philosophischen Lesern einen Inhalt, der »seiner Natur nach der Ge-
meinheit unzugänglich seyn soll«, »auch durch die Form äusserlich-
sichtbar, zu entziehen«. 136 Vielmehr soll er die Differenz zwischen

schlechtslosen, aber unproduktiven Bienen ist zunächst befremdend, da Schelling zu-


folge bei den Bienen die Geschlechtlichkeit durch Produktivität ersetzt wird, der
Kunsttrieb das Äquivalent des Zeugungstrieb ist (vgl. SW V, 573). Wenn Schelling
in obiger Stelle von diesen »Bienen« bemerkt, dass »ihnen zu produciren versagt ist«,
dann ist »produciren« hier im Sinne der Geschlechtlichkeit und der Zeugung gemeint.
Die Bienen sind aufgrund ihrer Natur unproduktiv, d. h. nicht zur Zeugung fähig, zur
Hervorbringung von Selbständigem und Organischem. An die Stelle dieser wahren
Produktivität tritt die Hervorbringung von »anorgische[n] Absätze[n] nach außen,
die mit dem Producirenden oder dem Thiere in Cohäsion bleiben« (SW V, 573), d. h.
sich nicht von ihnen loslösen (können), also keiner selbständigen Existenz fähig sind
(vgl. auch SW VI, 465).
134 Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.

135
Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, zu zeigen, wie besonders die
Unterbestimmtheit einiger von Schelling gewählter Ausdrücke sich vorzüglich dazu
eignet, unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches zu verstehen zu geben.
136 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Wenn nicht immer ›Töne alter Philosophie‹, so

finden sich in dem kurzen Vorbericht jedenfalls auch ›Töne‹ alter Dichtung: Wenn
Schelling seinen »Anhänger[n]« rät, sich »die Mühe« zu nehmen, »selbst Gedanken
zu haben, für die sie dann selbst verantwortlich sind« und »sich des ewigen Gebrau-
ches fremder, für den sie ihren Urhebern die Verantwortlichkeit aufladen«, zu ent-
halten: »[E]s hielte sie denn die billige Rücksicht auf sich selbst zurück, daß, da sie von
fremdem Eigenthum schon so aufgeblasen sind, sie von eignen Gedanken, wenn sie
deren hätten, vollends platzen möchten« (Schelling 1804, VI / SW VI, 15; Herv. v.
Verf.), dann spielt er damit lose auf die Fabel Rana Rupta et Bos des Phaedrus an.

61
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

den Nicht-Philosophen und den Philosophen, die in diesem Gespräch


ganz unter sich sind und, durch niemand gestört, sich über Fragen
unterhalten, die ihnen besonders am Herzen liegen, auch für jene
spürbar machen. Dennoch richtet das Gespräch sich in seiner Ge-
samtkonzeption, seinem Aufbau und seiner Durchführung in erster
Linie an den anderen Typus von Adressaten. Die Form des symboli-
schen Gesprächs ist »die einzige nach unsrer Meynung, welche die bis
zur Selbstständigkeit ausgebildete Philosophie in einem unabhängi-
gen und freyen Geiste annehmen kann«. 137 Zur Erläuterung zieht
Schelling eine Analogie mit einem Werk der bildenden Kunst heran.
Die Vormeinungen und Erwartungen eines möglichen Betrachters
gehen nicht in der Konzeption und Gestaltung eines solchen Werkes
ein, wenigstens erlangen zeitgebundene Meinungen und Haltungen
keine bestimmende Bedeutung für dieselben. Insofern verhält es sich
jenen gegenüber gleichgültig und hört deshalb, wie Schelling es ein
wenig überspitzt formuliert, »auch in die Tiefe des Meers versenkt
und von keinem Auge gesehen« nicht auf, »Kunstwerk zu seyn«. 138
Ein Werk bildender oder philosophischer Kunst ist nicht auf irgend-
einen Zusammenhang angewiesen, um das zu sein, was es seinem
Wesen nach ist. Es zielt nicht darauf ab, in einen bestimmten Real-
kontext einzugreifen, der sich dementsprechend in seiner Gestaltung
auswirkte. Es ist nicht als Mittel zur Erreichung irgendeines Zwecks
entworfen. Auch »unbegriffen von der Zeit«, vom historischen Kon-
text, in welchem es auftritt, in welchem es entstanden ist und in wel-
chen es wieder aufgenommen wird, hört ein »Werk philosophischer
Kunst« nicht auf, eben dies zu sein. Beide Arten von Werk zeichnen
sich dadurch aus, dass sie solche Kontexte überragen. Insofern kön-
nen sie auch nur von solchen verstanden werden, die selbst, vielleicht
mittels ihrer Hilfe, sich eine Unabhängigkeit und Freiheit solchen
Kontexten gegenüber erarbeiten. Gerade weil ein solches Werk der
Kunst sich keinem bestimmten Adressatentypus oder besonderen Er-

Bei Phaedrus ist es der Neid (invidia tantae magnitudinis), der den Frosch dazu ver-
lockt, den Ochsen nachzueifern oder nachzuahmen (imitari), ohne zu bedenken, dass
ihm dazu die Fähigkeiten fehlen. Das Verhalten des Frosches wird vorgeführt, nicht
um es aus moralischen Gründen zu brandmarken, sondern um zu zeigen, dass der
Frosch dadurch nur sich selbst schadet. Zu beachten ist, dass der Ochse bloß Auslöser
des Geschehens ist, an dem er sonst nicht beteiligt ist. Vielmehr ist es der Blick seiner
Kinder, der den Frosch in seinem Begehren bestimmt. Vgl. Oberg 2000, 81.
137 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.

138
Schelling 1804, IV / SW VI, 14.

62
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

wartungshorizont anpasst, stellt es für den Betrachter eine Heraus-


forderung dar und enthält in seiner Form schon die Aufforderung, ein
freies Verhältnis zu den Kontexten zu gewinnen, in welche es einge-
bunden ist.
Wenn Schelling sich für Philosophie und Religion hingegen einen
bloß ›edlen Geist‹ zum offenkundigen Adressat auswählt, so werden
die anderen Adressaten doch nicht gänzlich vergessen. So sucht er die
Gegner und Anhänger derart einzuschüchtern, dass sie wenigstens
einfach zuhören, ohne dass er sich sonderlich darum bemüht, sich so
zu erklären, dass auch sie ihn verstehen könnten, während er die Dar-
stellung seiner Lehre danach einzurichten sucht, dass jener ›edle
Geist‹ allenfalls dazu veranlasst werden könnte, sich des spekulativen
Wissens zu bemächtigen. Indessen kann die gegen die Anhänger ge-
richtete Diatribe auch für andere Lesertypen instruktiv werden. Sie
dürfte den aufmerksameren Leser zur Selbstreflexion veranlassen, ob
nicht auch er für die Fehler anfällig sein dürfte, die Schelling bei Geg-
nern und Anhängern diagnostiziert. So scheint auch Eschenmayer es
nicht immer zu vermeiden, die schellingsche Lehre ›zur Caricatur
auszudehnen‹ ; wenigstens gibt Schelling unzweideutig zu verstehen,
dass auch Eschenmayer ihn in allen wesentlichen Punkten nicht so
verstanden hat, wie er sich selbst versteht und wie er verstanden
werden will. 139 Nicht nur bezüglich solcher Gegenstände, zu denen
Schelling sich bislang noch nicht geäußert hatte und für welche
Eschenmayer demnach auf bloße Folgerungen aus bereits Gesagtem
angewiesen war, sondern auch bezüglich solcher Gegenstände, die
Schelling bereits früher und mehrmals behandelt hatte, weigert er
sich, Eschenmayers Deutung als zutreffend zu akzeptieren. In dieser
Hinsicht gehört Eschenmayer genauso zu den ›Werkzeugen der Zeit‹
wie die namenlos bleibenden und leicht abgefertigten Gegner und
Anhänger, indem er wie diese in den Meinungen und Vorurteilen
seiner Zeit befangen bleibt. Wenn Schelling den Gegnern und An-
hängern ›Misdeutungen und Verunstaltungen‹ bescheinigt, dann ist
Eschenmayer davon also nicht ausgenommen. Ebenso wenig vermei-

139 Diese Situation wiederholt sich bei einer späteren Auseinandersetzung. Dort heißt
es: »[D]as Bisherige könnte hinreichen, Sie zu überzeugen, daß Sie den Sinn und
Zusammenhang der in meiner Abhandlung enthaltenen Ideen noch nicht völlig er-
reicht haben« (Schelling 1813b, 108 / SW VIII, 177). Ferner: »Es fehlt Ihnen an den
eigentlichen Mittelbegriffen meines Systems«. Und schließlich: »Das Bedauerlichste
für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden zu haben« (Schelling 1813b,
127 / SW VIII, 188).

63
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

det Eschenmayer es, in einen Ton der moralischen Verdächtigung und


Entrüstung zu verfallen. 140 Daraus können wir schließen, dass es nach
Schellings Einschätzung bei Eschenmayer etwas gibt, das ihn sowohl
mit den Gegnern als auch mit den Anhängern verbindet, und etwas,
das ihn von beiden unterscheidet. Trotz dieser Übereinstimmung
nimmt Schelling ihn von den ›Werkzeugen der Zeit‹ aus und lässt
ihm eine Sonderbehandlung zuteilwerden. Diese scheint durch nichts
weiter als seinen ›edlen Geist‹ und sein aufrichtiges Bestreben nach
Einsicht und Wissenschaft motiviert zu sein. Eine solche Natur und
ein solches Bestreben verdienen Unterstützung und Förderung. Diese
vermag man einem solchen Geist insbesondere dadurch zu gewähren,
dass man ihm dabei behilflich ist, sich von zeitgemäßen Meinungen
zu befreien, die ihn daran hindern, sein eigentlichstes Bestreben und
seine eigene Natur zu entfalten. Nur wegen jenes Bestrebens ist ein
solcher Geist weder ohne weiteres den Gegnern zuzurechnen – selbst
dann nicht, wenn auch er sich kritisch äußert und Einwände vorbringt
– noch als Anhänger einzustufen, da er allem Anschein nach zu einer
eigenständigen Ansicht zu gelangen sucht. Zusammenfassend kann
man sagen, dass Schelling Eschenmayer in dieser Schrift als Muster
des potentiellen Philosophen auftreten lässt. Wenn sie sich demnach
direkt an ihn richtet, so gilt er dabei zugleich doch auch als Stellver-
treter für alle potentiellen Philosophen. Der »Vorbericht« unterschei-
det somit mindestens drei Adressatentypen: die Philosophen oder die
unabhängigen und freien Geister; die potentiellen Philosophen oder
die edlen Geister; die Organe der Zeit. 141

140 Vgl. Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54 f.


141 Die Unterscheidung solcher Adressatentypen wird im Gespräch Ueber den Zu-
sammenhang der Natur mit der Geisterwelt am offensichtlichsten: Nachdem der
›Pfarrer‹ ausführlich den ersten, philosophischen Weg behandelt hat, »die Seligkeit
des beschaulichen Zustandes festzuhalten« (SW IX, 43) und meint, diese Frage derart
befriedigend erörtert zu haben, dass er »entschlossen« ist, »aufzubrechen«, da er-
innert der ›Arzt‹ ihn daran, dass die Frage so nur für »die wenigsten« befriedigend
beantwortet wurde, es aber »ganz unmöglich« sei, dass »alle in einen so seligen Zu-
stand gleich vom Leben weg übergehen« (SW IX, 76; Herv. v. Verf.). Zwar ist dieser
Weg niemandem prinzipiell verschlossen; dennoch muss auch für solche gesorgt wer-
den, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht dazu gelangen, ihn zu beschreiten.
Da dieser Weg nur den Wenigsten offensteht, muss der Philosoph sich auf die Frage
einlassen, ob nicht auch dem Volk die Möglichkeit offensteht, jener Anschauung eine
das ganze Leben bestimmende Macht zu verleihen. Sonst hätte er zwar für sich die
Bedenken des ›Geistlichen‹ zurückgewiesen, das Volk oder die Nicht-Philosophen je-
doch wären weiterhin denselben ausgesetzt. Es obliegt ihm also, zu zeigen, wie auch
das Volk jene Harmonie auf eine beständige Weise erreichen kann. Damit wird eine

64
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift

Die Umarbeitung und damit der Verzicht auf die symbolische


Form scheinen somit durch den vordergründigen Adressaten moti-
viert, den Schelling sich gewählt hat. Die symbolische Form wird
nämlich »nie gefodert, wo ein Zweck erreicht werden soll«. 142 Worin
besteht nun der Zweck, den sich Schelling mit der neuen Schrift ge-
setzt hat? Zunächst dürfte es so aussehen, als ob dieser darin be-
stünde, sich den Zeitgenossen verständlich zu machen. Der bedeuten-
dere Zweck besteht allerdings, wie wir gesehen haben, darin, den
»Foderungen an ein Ganzes der Wissenschaft« eines edlen Geistes
Genüge zu leisten bzw. zu zeigen, wie das System Schellings diesen
gerecht zu werden vermag. 143 Zum einen hat insbesondere die cha-
rakterliche Anlage Eschenmayers Schelling überhaupt dazu zu moti-
vieren vermocht, »sich über eben diese Verhältnisse zu erklären«, wie
es andere nicht vermochten. 144 Zum anderen nötigt jene ihn auch
dazu, sich auf eine Weise darüber zu erklären, die diesem Adressaten
angemessen ist. Es ist der Zweck, den er mit dieser Schrift verfolgt,
der die Form derselben bestimmt. 145 Wie aus dem Gesagten hervor-
geht, kann dieser Zweck nicht darin bestehen, sich dem Zeitalter ver-
ständlich zu machen oder seine Lehre so zu präsentieren, dass sie
auch für solche, die nicht dazu bereit sind, zeitgemäße Vorurteile in
Zweifel zu ziehen, leicht verständlich wird. Dabei stellt sich die Frage,
wie man, gesetzt den Fall, dass es kein »reine[s] Nichtbegreifen«
gibt, 146 sondern, dass das Unbegreifliche und Unverständliche immer
nur aufgrund von nicht befragten Vormeinungen als solches er-
scheint, einem edlen Geist zum Bewusstsein bringen kann, dass die

ganz andere Frage zur Debatte gestellt. Entsprechend wandelt sich auch die Art, wie
die Untersuchung geführt wird bzw. der Status der Ergebnisse. Während der Philo-
soph für sich angesichts des zukünftigen Lebens zur völligen Gewissheit gelangen
konnte, ist ihm dies angesichts der Frage des zukünftigen Lebens der Nicht-Philoso-
phen nicht möglich (vgl. »So wäre es also denkbar« (SW IX, 80), »so wäre […] noch
begreiflich«, »Sollte nun nicht […] möglich seyn« (SW IX, 81), »ließe sich mit großer
Wahrscheinlichkeit […] sagen« (SW IX, 83)).
142 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.

143 Schelling 1804, IV / SW IV, 14.

144 Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.

145 Auch in den Ferneren Darstellungen, die sich ebenfalls an den »noch weniger

Eingeweihten« richten (Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361), ist mehrmals von einem
»Zweck« die Rede, der mit der Darstellung verfolgt wird und dem diese sich anzupas-
sen hat (vgl. Schelling 1802b, 30, 35 / SW IV, 359, 362; Schelling 1803c, 67, 71, 92, 97,
175 / SW IV, 434, 437, 451, 455, 492).
146
Schelling 1804, IV / SW VI, 14.

65
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Ansicht, die er sich von Schellings System gebildet hat, eine bloße
Meinung ist, die der Intention seines Autors nicht entspricht. Inso-
fern die symbolische Form sich in erster Linie an Philosophen richtet,
eignet sie sich nicht für diesen Zweck bzw. für einen solchen Adres-
saten. Aufgrund seiner Natur eignet Eschenmayer sich nicht dazu, in
eine konzeptuelle Figur überführt zu werden. Dennoch ist er auch
nicht, wie Reinhold oder Bardili, eine geradezu gesprächsunfähige
Figur, deren Behauptungen sich erst durch die Vermittlung eines
›Freundes‹ in eine diskussionsfähige Form überführen lassen. Eschen-
mayer nimmt somit eine Art von Zwischenposition zwischen ›Fichte‹
und ›Reinhold‹ bzw. ›Bardili‹ ein. Anders als die letzteren gibt er ein
aufrichtiges Bestreben zu erkennen, das schellingsche System zu be-
greifen: Aus der Art, wie er seine Bedenken formuliert, geht hervor,
dass er sie nicht unbedingt als Einwände verstanden haben will, son-
dern nur Schwierigkeiten signalisieren will, die er in diesem System
wahrzunehmen meint. Sie können also auch als das Geständnis eines
noch unzureichenden Verständnisses desselben verstanden werden.
Gerade diese Haltung macht ihn zu einem gesprächsfähigen Partner.
Aus diesem Grund richtet Schelling sich mittels einer argumentativ
aufgebauten Schrift direkt an ihn. Der Verzicht auf die symbolische
Gesprächsform bedeutet somit offensichtlich nicht, dass damit auch
die gesprächsweise Darlegung aufgegeben wird. 147 Der ›Stoff‹ wird
nämlich gerade so entwickelt, dass die Darlegung sich durchgehend
auf die Einwände Eschenmayers bezieht. Zudem ist sie als eine Ant-
wort auf die in »mehreren öffentlichen Aeuserungen« enthaltenen
»Auffoderungen« gedacht. 148
Der Zweck der Schrift ist zunächst ein erzieherischer. Sie richtet

147 Vgl. Schelling 1809a, X / SW VII, 334: »in einer […] polemischen Beziehung«;
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72: »die
sich fast durchgehends auf die Ihrige bezieht«; Schelling 1813b, 79 / SW VIII, 161:
»Wären wir nicht durch Räume getrennt, vielleicht hätte sich aus Ihrem Brief und
meiner Antwort ein Gespräch gemacht. Ich wünsche, auch der Verhandlung in die
Ferne so weit es seyn kann diese Form zu geben […]. Ich habe oft gewünscht, daß,
wie in alten Zeiten so in unsern, wenn nicht über Glaubensartikel, doch über phi-
losophische Behauptungen und Systeme öffentliche Gespräche in Gegenwart gelehr-
ter Zeugen stattfinden möchten …« – Die ›allegorische Vision‹, die das Jacobi-Denk-
mal beschließt, dürfte ein Beispiel eines solchen ›öffentlichen Gesprächs‹ darstellen.
148 Schelling 1804, III / SW VI, 13. Auch von der Freiheitsschrift bemerkt Schelling,

dass diese zwar die Form einer Abhandlung angenommen hat, dennoch durchgängig
»gesprächsweise« verfährt (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410; vgl. Schelling 1809a,
X / SW VII, 334).

66
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

sich in erster Linie weder an die unphilosophische Mehrheit noch an


die eigentlichen Philosophen, sondern an einen solchen, der sich we-
gen bestimmter Anlagen dazu eignen dürfte, sich zum Philosophen
zu bilden. Eschenmayer wird damit die Rolle zugewiesen, den poten-
tiellen Philosophen zu repräsentieren. Die Absicht, die Schelling mit
der Schrift verfolgt, besteht somit nicht so sehr darin, wie man zu-
nächst vielleicht meinen könnte, seine eigene Lehre gegen Einwände
und Bedenken zu verteidigen, als vielmehr darin, zu zeigen, welche
Vormeinungen das Verständnis derselben hindern könnten und auf
welche Weise man sich von denselben zu befreien vermag. Indem die
Schrift einen solchen noch in zeitgemäßen Vorurteilen befangenen
Leser dazu befähigt, sich von denselben zu befreien, wenigstens sich
derselben bewusst zu werden, hilft sie ihm dadurch, sich die philoso-
phische Erkenntnis zu erarbeiten. Der Plan der Schrift, ihr fragmen-
tarischer Charakter und ihr Ton werden als ebenso viele Mittel einge-
setzt, um bei einem solchen Leser eine Distanz zu den geläufigen
Vormeinungen hervorzubringen und dadurch den Weg zur philo-
sophischen Erkenntnis zu ebnen. 149 Die anderen Leser werden sich
durch solche Merkwürdigkeiten nicht stören lassen und sie vielleicht
nur Schellings schriftstellerischem Ungeschick zuschreiben. Zugleich
wird dem ›aufmerksamen Leser‹ auch vorgeführt, wie der Philosoph
mit den Bedenken solcher ›edlen Geister‹ umgeht.

5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

Die Überlegungen zur Form der Schrift und zum Typus des Adressa-
ten dürften dazu beitragen, ein neues Licht auf die Mysterien zu wer-
fen, die in Philosophie und Religion eine so bedeutsame, wenn auch
rätselhafte und vielschichtige Rolle spielen. Dabei wird sich zeigen,
dass das richtige Verständnis der Mysterien der eigentliche Schlüssel
zum rechten Verständnis des ganzen Werkes ist. Alle bislang erörter-
ten Fragen – nach der Darstellung und Mitteilung philosophischer
Lehren, der Ausrichtung an unterschiedliche Typen von Adressaten,
der Eigenständigkeit des nichtpropositionalen Wissens im Verhältnis
zum propositionalen Wissen, der erzieherischen Absicht, die in die
Form der Schrift eingesenkt ist – laufen im Begriff der Mysterien
zusammen. Als Mysterien werden zunächst die Gegenstände be-

149
Vgl. Schelling 1804, 15 f. / SW VI, 26.

67
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

zeichnet, wovon in dieser Schrift die Rede ist. In der geplanten Ge-
sprächsreihe sollte nur von solchen Gegenständen die Rede sein, die
in Mysterien gelehrt werden müssen. 150 Bedeutender ist aber die für
die Mysterien charakteristische Art der Mitteilung. 151 Wenn die Rede
von Mysterien zunächst auch mysteriös anmutet, so gibt Schelling
selbst genügend Hinweise, die den Leser imstande setzen, sich durch
diesen Eindruck nicht in die Irre führen zu lassen. Nur nebenbei ist
die jetzt geläufigere Bedeutung von ›Geheimnissen‹ mitzuhören. 152
Sonst verweist der Ausdruck, wie Schelling hinreichend klar macht,
zuallererst auf ein ganz präzises historisches und auch – bis zu einem
gewissen Grade – der historischen Forschung zugängliches Phäno-
men: die Mysterien von Eleusis als eine besondere religiöse Ver-
anstaltung oder Einrichtung. Der besondere Zweck derselben besteht
in der Mitteilung oder Vermittlung bestimmter Lehren. Diese Lehren
werden allerdings nicht in erster Linie als eine Doktrin oder ein Kor-
pus von Behauptungen weitergegeben, sondern die Mysterien zielen
vor allem darauf ab, eine bestimmte Erfahrung zu vermitteln und
eine Verwandlung im Selbstverhältnis der Teilnehmenden in die We-
ge zu leiten. Die eigentlich vermittelte Lehre lässt sich denn auch
nicht restlos in Behauptungen auflösen, sondern das Verständnis
selbst der doktrinalen Lehre bleibt unlöslich an jenes verwandelte
Selbstverhältnis gebunden. Insofern kann man in ihnen auch eine
Erziehungsanstalt sehen. Wenn die Mysterien auch prinzipiell allen
zugänglich sind und jeder berechtigt ist, an denselben teilzunehmen,
so sind es dennoch nur ganz wenige, die zur eigentlichen Einsicht in
die dort mitgeteilten Lehren gelangen. 153 Obwohl es demnach schei-
nen dürfte, dass diese Veranstaltung für die Mehrzahl, die jene Leh-
ren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, nutzlos und über-

150 Vgl. Schelling 1802a, 33 f., 37 f. / SW IV, 233 f., 235; Schelling 1804, 3, 35 f., 76–
78 / SW VI, 17, 39, 67 f.
151 Auf der ersten Seite von Philosophie und Religion (Schelling 1804, III / SW VI,

13) verweist Schelling den Leser auf Seite 35 der Originalausgabe des Bruno, wenn er
wissen will, welche Gegenstände in der Gesprächsreihe behandelt werden sollten.
Schlägt man die Stelle nach, dann fällt auf, dass auf der vorhergehenden und nach-
folgenden Seite zwar von diesen Gegenständen die Rede ist, auf Seite 35 selbst aber
nur von den Mysterien als einer besonderen Anstalt zur Mitteilung philosophischer
Lehren. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird dadurch nicht so sehr auf die mitgeteilte
Lehre, sondern vielmehr auf die Art ihrer Mitteilung gelenkt.
152
Nur in Schelling 1804, VI / SW VI, 15 scheint der Ausdruck (fast) ausschließlich
als Synonym für Geheimnisse verwendet zu werden.
153
Vgl. Schelling 1804, 74 / SW VI, 66.

68
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

flüssig wäre, wurden sie dennoch von allen als die »heilvollsten und
wohlthätigsten aller Einrichtungen« gepriesen. 154 Auch solchen, die
diese Lehren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, muss
dort etwas vermittelt worden sein, dass sie als heilsam erfuhren. In
der Tat weist Schelling im »Anhang« unserer Schrift auf die beson-
deren Abstufungen in der Einrichtung der Mysterien hin, durch wel-
che sie unterschiedlichen Klassen von Teilnehmern jeweils etwas an-
deres vermitteln, das aber von allen in seiner jeweiligen Form als
heilsam empfunden wird. Das Eigentümliche der Mysterien besteht
demnach darin, dass sie grundsätzlich allen offenstehen, aber so ein-
gerichtet sind, dass sie unterschiedlichen Klassen von Adressaten Un-
terschiedliches vermitteln und dadurch einer unaufhebbaren Un-
gleichheit zwischen den Menschen Rechnung tragen. Die Mysterien
sind demnach nicht nur etwas, worüber in dieser Schrift gesprochen
wird, sondern sie liefern zugleich das Modell, wonach sie selbst, ihrer
Form und ihrer Intention nach, interpretiert werden muss. Die
Schrift reflektiert in ihrer Form über die Notwendigkeit, die Philoso-
phie in Mysterien einzurichten. 155
Dass jene antike Einrichtung gerade unter diesem Aspekt Schel-
lings Interesse auf sich zog, geht mit aller nur wünschenswerter
Deutlichkeit aus einer der frühesten Erwähnungen der Mysterien
bei Schelling hervor, die alle diese Elemente bereits in konzentrierter
Form enthält. Sie findet sich in einem Brief, den Schelling am
12. März 1796 an Jakob Hermann Obereit schrieb. Der einundzwan-
zigjährige Schelling schreibt:
Ihr Wunsch, daß man die neue Philos. nicht zur Sprachmode werden
laßen soll, ist völlig hgegründeti. Ich glaube daß zu einer Nationalerzie-
hung Mysterien gehören, in welche d[er] Jüngling stufenweise einge-
weiht wird. In diesen sollte die neue Phil. gelehrt werden. Sie sollte die
lezte Enthüllung seyn, die man d[em] erprobten Schüler der Weisheit
widerfahren ließe, wenn sie anders etwas ist, das man von andern emp-
fangen kann, u. nicht sich selbst verschaffen muß. Diß ist aber bei der
Fluth unsrer Literatur durch die alles in’s weite Publ. gehtriebeni wird

154 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.


155 Der Philosoph ist nicht nur an der in den Mysterien gelehrten Lehre interessiert,
sondern ebenso sehr an der Art, wie diese mitgeteilt wird. In der ersten Hälfte der
Gesprächsreihe, die durch Bruno eröffnet wird, soll festgestellt werden, »welche Art
der Philosophie […] in den Mysterien gelehrt werden müsse«. In einer zweiten Hälfte
sollen dann »die Sinnbilder und Handlungen« beschrieben werden, »durch welche
eine solche dargestellt werden könne« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234).

69
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

unmöglich u. die beßern Schriftsteller können daher nichts thun, als


Ihrer Darstellung so viel Würde, Strenge des Vortrags u. Erhabenheit
geben, daß jedes Blatt dem Profanen zuruft: procul, o procul esto! (AA
III,1, 47)
Auch hier werden die Mysterien in erster Linie als eine Erziehungs-
anstalt betrachtet. Die Notwendigkeit, die Erziehung auf eine solche
Weise einzurichten, ergibt sich Schelling zufolge aus den Anforde-
rungen der Erziehung überhaupt. Wenn diese Erziehung im eigentli-
chen Sinne – und nicht etwa nur Abrichtung zur Erfüllung bestimm-
ter Funktionen – sein will, dann kann sie nur mittels Mysterien
geschehen. Die (neue) Philosophie soll erst auf der letzten Stufe ge-
lehrt werden. Die Erziehung kommt erst dann an ihr Ziel, wenn der
Jüngling auch in die Philosophie eingeweiht wird. Der Zögling selbst
hat erst dann die notwendigen Stufen der Erziehung durchlaufen,
wenn er hinreichend vorbereitet ist, auch in dieses letzte Gebiet ein-
zutreten. Damit ist nicht gesagt, dass auch alle dazu fähig sind, bis zu
dieser letzten Stufe geführt zu werden. Die vorhergehenden Stufen
müssen demnach so eingerichtet werden, dass sie auch zur Erziehung
von solchen beitragen, die nicht imstande sein werden, bis zur letzten
Stufe fortzuschreiten, zugleich jedoch so, dass sie als eine Vorberei-
tung auf dieselbe gelten können. Es ist also letztlich die höchste Stufe,
die bestimmt, wie die Erziehung als Ganzes einzurichten ist. Wichti-
ger als die in den Mysterien mitgeteilte doktrinale Lehre ist für Schel-
ling die in dieser Einrichtung als solche enthaltene praktische Lehre
über die Art, wie jener absolute Zustand sich erreichen lässt.
Schelling gibt nun zwei Gründe an, weshalb die Erziehung zur
Philosophie eine solche Einrichtung erfordert. Zum einen ist sie als
eine Schutzmaßnahme zu verstehen: Sie soll verhindern, dass die
(neue) Philosophie zur bloßen Sprachmode verkommt. Diese Gefahr
ist durchaus reell in einer Situation, wo die ›Fluth der Literatur‹ ›alles
in’s weite Publikum‹ treibt, alle nur denkbaren Themen, Theorien
und Behauptungen ohne Unterschied dem Publikum zugänglich
macht und ihm dadurch ein Recht einzuräumen scheint, darüber mit-
zureden und zu urteilen. Die publizistische Tätigkeit, die begünstigt,
dass man sich durch Sprach- oder anderen Moden mitreißen lässt, ist
nicht nur für diejenigen, die sich daran beteiligen, es befördern und
vorantreiben, schädlich, sondern besonders und in erster Linie für die
potentiellen Philosophen. Für die ersten, könnte man mit Schelling
sagen, wäre der Mangel an wahrer Erkenntnis selbst die eigentliche
Strafe. Nur die Sorge um die letzteren erfordert besondere Maßnah-

70
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

men, damit die Bedingungen hervorgebracht werden, die ihr Erschei-


nen wenigstens nicht ganz unmöglich machen. Bei der Verfassung
philosophischer Schriften geht es demnach nicht um bloße »Bücher-
macherey«, die letztlich nur der eigenen Eitelkeit dient, sondern sie
erwächst der Sorge um die potentiellen Philosophen. 156 Philosophi-
sche Bücher sollen als Erziehungsinstrumente die potentiellen Phi-
losophen in die Lage versetzen, sich selbst zu erkennen und den Weg
zur Erkenntnis zu gehen. Jene Einrichtung ist zum anderen durch die
Rücksicht auf die zu erziehenden Jünglinge motiviert. Diese soll sie
dazu befähigen, sich der Gewalt der Literaturflut zu entziehen, und
verhindern, dass sie die Terminologie, der die Philosophie durchaus
bedarf, nur als eine Modeerscheinung behandeln, die man anziehen
und auch wieder ablegen kann, je nachdem, ob es einem von Vorteil
ist, sich mittels ihrer von anderen zu unterscheiden und sich so eine
eigene ›Identität‹ zuzulegen.
Die Einrichtung von Mysterien ist demzufolge durch eine be-
sondere Lage der philosophischen Sprache motiviert. Sie soll dem
entgegenwirken, dass diese zu einer bloßen Modeerscheinung ver-
kommt, und dadurch zu einem anderen Umgang mit der philosophi-
schen Sprache erziehen. Von hier aus lässt sich bereits ein Licht auf
eine Eigentümlichkeit der schellingschen Schriften werfen. Die von
Schelling verwendete Terminologie weist einen besonders flüssigen
Charakter auf. Ausdrücke, die in einer Schrift als termini technici
eine tragende Rolle spielen, werden in der folgenden bereits wieder
aufgegeben und durch andere Ausdrücke ersetzt. So spielt, um nur
ein Beispiel, das sich leicht vermehren ließe, anzuführen, in der Dar-
stellung meines Systems der Philosophie von 1801 der Ausdruck der
›Potenz‹ eine zentrale Rolle. Im ein Jahr später veröffentlichten Bru-
no taucht dieser Ausdruck kaum mehr auf, sondern wird durch den –
früher nicht in dieser Verwendung vorkommenden – Ausdruck der
›Ideen‹ ersetzt. 157 Derselbe Begriff findet sich demnach unter ver-

156 Schelling 1804, V / SW VI, 14.


157 Miklos Vetö hat diese Einsicht zum Ausgangspunkt seiner Studie zum Begriff des
Grundes gemacht: »la catégorie du fondement n’est pas présente seulement là où le
terme Grund est explicitement évoqué: elle pénètre toute l’œuvre de Schelling sous
des noms différents« (Vetö 1977, 254). Dieser Gesichtspunkt hat es ihm erlaubt, den
Begriff des Grundes, der vor der Freiheitsschrift nur eine marginale Rolle zu spielen
schien, die kaum die überraschende Aufwertung in derselben zu rechtfertigen scheint,
als einen der zentralen Begriffe des schellingschen Denkens von Anfang an sichtbar
zu machen.

71
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

schiedene Ausdrücke wieder. Diese fließende Terminologie soll den


Leser dazu nötigen, sich darüber im Klaren zu werden, ob nicht mit
unterschiedlichen Ausdrücken derselbe Begriff bezeichnet wird, wo-
bei jeder Ausdruck einen besonderen Aspekt desselben Begriffs her-
vorkehren dürfte. Sonst könnte man leicht dazu verführt werden,
Schelling einen ständigen Systemwechsel zu unterstellen. 158 Der
plötzliche Terminologiewechsel soll den Leser eine Distanz zum
Sprachgebrauch gewinnen lassen und ihn dazu veranlassen, in eige-
ner Arbeit zu versuchen, sich den zugrundeliegenden und anvisierten
Begriff klar zu machen.
Dieses Verfahren gehört zur Einrichtung der Philosophie in Mys-
terien. Sie trägt dem Umstand Rechnung, dass der Jüngling nicht als
Philosoph, sondern zunächst als von Sprach- und Theoriemoden ge-
prägt und in seinen Überzeugungen und Erwartungen durch die
Literaturflut bestimmt an die Philosophie herankommt. Diese Vor-
belastung wird durch die stufenweise Einweihung berücksichtigt. Es
ist nicht möglich, den Jüngling unmittelbar zur höchsten Erkenntnis
zu führen. Dazu bedarf es ganz besonderer und geeigneter Vorberei-
tungen. Die erste Stufe wenigstens ist grundsätzlich jedem zugäng-
lich. Wie es im »Anhang« von Philosophie und Religion heißt, muss
zunächst ein »Vorhof« eingerichtet werden, in welchem eine »erste
Vorbereitung zu den höchsten Erkenntnissen« stattfindet. 159 Für die
»Nicht-freyen« »möchte sich überhaupt die Theilnahme […] an den
Mysterien« darauf »beschränken«; für die potentiellen Philosophen
bildet sie nur eine Stufe auf dem Weg zur höchsten Erkenntnis. 160 Das
Kennzeichnende der ersten Stufe besteht darin, dass hier vor allem

158 Diese immer noch verbreitete Ansicht wurde am beredtsten und wirkungsmäch-
tigsten von Hegel formuliert: »Schelling hat seine philosophische Ausbildung vor
dem Publikum gemacht. Die Reihe seiner philosophischen Schriften ist zugleich Ge-
schichte seiner philosophischen Bildung und stellt seine allmähliche Erhebung über
das Fichtesche Prinzip und den Kantischen Inhalt dar, mit welchen er anfing; sie ent-
hält nicht eine Folge der ausgearbeiteten Teile der Philosophie nacheinander, sondern
eine Folge seiner Bildungsstufen«. Und: »In späteren Darstellungen fing er in jeder
Schrift nur immer wieder von vorne an (stellte nie ein vollendet durchgeführtes Gan-
zes auf), weil man sieht, daß das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan; und so hat
er sich in verschiedenen Formen und Terminologien herumgeworfen«. Und noch: »In
der neuesten Darstellung hat Schelling andere Formen gewählt; er hat sich, wegen
unausgebildeter Form und Mangel an Dialektik, in verschiedenen Formen herum-
geworfen, weil keine befriedigend ist« (GeschPh III, TWA 20, 421, 422, 445 f.).
159 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.

160
Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.

72
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

eine Wirkung auf die Affektivität beabsichtigt wird: Sie »besteht in


der Schwächung und wo möglich Vernichtung der sinnlichen Affecte
und alles dessen, was die ruhige und sittliche Organisation der Seele
stört«. 161 Die ›sinnlichen Affecte‹, die Anhänglichkeit an die end-
lichen Dinge, die Eigenliebe hindern am meisten daran, die höheren
Stufen zu erreichen, weshalb man diesen besondere Rücksicht zu zol-
len und die Mitteilung der Lehre so zu gestalten hat, dass sie gerade
diese Hindernisse beseitigt. Der Glaube an die sinnliche Erfahrung
soll erschüttert werden; dieser soll ihre Rolle als Maßstab allen Wis-
sens genommen werden. Um dies zu erreichen, müssen die dazu ein-
gesetzten Mittel natürlich von der Art sein, dass sie auf die sinnlichen
Affekten einzuwirken fähig sind, und zwar so, dass eine Schwächung
derselben daraus resultiert. Die ›sinnlichen Affecte‹ lassen sich da-
durch schwächen, dass ihnen stärkere Affekte entgegengesetzt wer-
den; deshalb kommt es zum Einsatz von »schreckenvolle[n] Bilder[n]«,
die »die ruhige und sittliche Organisation der Seele« erst dadurch
wiederherstellen, dass sie »der Seele die Nichtigkeit alles Zeitlichen
vor die Augen stellen und sie erschütternd das einzig wahre Seyn
ahnden lassen«. 162
Auch Schelling setzt, wie wir gesehen haben, gezielt rhetorische
Mittel ein, um beim Leser solche affektiv-erschütternden Wirkungen
hervorzurufen. 163 Bereits im »Vorbericht« lassen sich dafür mehrere
Beispiele auffinden. So soll die Eigenliebe der Gegner dadurch ge-
kränkt werden, dass er sie einfach mit Stillschweigen übergeht. Ge-
gen jene, die nur moralische Bedenken vorzuführen haben, erinnert

161 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.


162 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69; Herv. v. Verf. Es ist wohl kaum zufällig, dass
Schelling gerade in diesem Zusammenhang den für Eschenmayer so charakteristische
Ausdruck ›ahnden‹ verwendet (vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33), 30 (§ 38), 35 (§ 44),
35 (§ 45), 50 (§ 57)). Eine solche Beziehung zum Absoluten, wobei dieses bloß geahnt
wird, gehört also zu dieser ersten Stufe. Dies ist somit die »Sphäre«, die Schelling »in
ihrem ganzen Werth […] bestehen« lässt (Schelling 1804, 7 / SW VI, 20). Die
Ahnung ist bestenfalls ein Analogon oder ein schwaches Abbild der eigentlich phi-
losophischen Erkenntnis.
163 Vgl. auch die scharfe Rede von der »platte[n] Unwissenschaftlichkeit« und der

»Nullität« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54), die der Leser fast zwangsläufig zunächst
auf Eschenmayer beziehen muss, da dessen Name im vorherigen Absatz betont ge-
nannt wurde. Auch wenn Schelling ihn gleich anschließend von diesem Urteil aus-
nimmt, so scheint Eschenmayer doch mit davon betroffen. – Das Reinhold-Gespräch
wie auch das Jacobi-Denkmal bieten eine Fülle von Beispielen dieses Vorgehens, das
allerdings der Absicht untergeordnet ist, ihnen dadurch zur Selbsterkenntnis zu ver-
helfen.

73
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

er daran, dass diese gerade in moralischer Hinsicht versagen: Er setzt


einem moralischen Argument ein moralisches Argument ent-
gegen. 164 Den Anhängern, die sich aus Stolz einer besonderen Er-
kenntnisart rühmen, hält er entgegen, dass sie sich möglicherweise
darin täuschen und sich als bloße Karikaturen ausnehmen: Dadurch
soll Selbstzweifel erweckt werden. 165 Auch die »Töne alter Philoso-
phie«, die Schelling in dieser Schrift – und mehr noch im Bruno –
»anzugeben gesucht« hat, gehören zu den rhetorischen Mitteln, die
Schelling dazu einsetzt, solche Leser auf Distanz zu halten, die sich
nur allzu gerne mit einem Autor identifizieren, dem sie Autorität
über sich zuerkennen. 166 Die Einrichtung der Philosophie in Myste-
rien hat also unmittelbare Folgen für die Art, wie die »beßern Schrift-
steller« ihre Lehren mitzuteilen haben (AA III,1, 47). Es ist gerade die
öffentliche Mitteilung philosophischer Lehren, die solche Mas-
senphänomene und die Sektenbildung begünstigt, die indes die erzie-
herischen Absichten gerade untergraben. Dem hat der bessere
Schriftsteller in der Form seiner Schriften Rechnung zu tragen. Sie
nötigen ihn zu einem eigenen Ton und einer angepassten Vortrags-
weise. Bereits Ton, Form, Stil bringen Schellings Wahlspruch zum
Ausdruck: »procul, o procul esto!« (AA III,1, 47). 167 Dieser ersten

164 Vgl. Schelling 1804, 59–61 / SW VI, 54 f.


165 Vgl. auch Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410, wo von den »Drohworte[n] der
Vorrede« die Rede ist, die eine bestimmte Klasse von Lesern zurückschrecken sollen.
166 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Insofern der Bruno »das, was seiner Natur nach der

Gemeinheit unzugänglich seyn soll, ihr auch durch die Form äusserlich-sichtbar«
entzieht, scheint Schelling nicht zu erwarten, dass die »Töne alter Philosophie«, die
auch dort anklingen, übel vernommen werden. Gerade weil Philosophie und Religion
auf die symbolische Form verzichtet, meint er nun erwarten zu können, dass »die Zeit
diese Töne alter Philosophie […] übel vernehmen werde« (Schelling 1804, V / SW VI,
14). Die symbolische Form scheint den provokativen Charakter solcher ›Töne‹ zu
mildern, während er, ohne diese Form, desto stärker hervortritt.
167
Damit macht Schelling sich die Worte zum Wahlspruch, die die Sibylle in der
Aeneis VI, 258 Aeneas’ Begleitern in dem Augenblick zuruft, als die Göttin Hekate
sich naht und Aeneas sich als einziger Eingeweihter zum Abstieg in die Unterwelt
bereitmacht, wo sein Vater Anchises ihn mit den Geheimnissen der Philosophie, ins-
besondere bezüglich des Lebens nach dem Tod, sowie mit der Zukunft Roms bekannt
macht. Es dürfte Schelling kaum entgangen sein, dass gerade diese Stelle der Aeneis,
insbesondere der Ausruf der Sibylle selbst, mit Anspielungen auf und Erinnerungen
an die Mysterien von Eleusis durchsetzt ist. Jenen Ausruf war bereits von Horaz auf-
gegriffen worden, als er in Carmina, III, 1, 1–4 sich selbst zum Priester der Musen
erklärte und das profanum volgus den Abstand zu wahren hieß, da er nur für die
Edlen oder Reinen singe. Auch Schelling scheint die Parallele beider Stellen aufgefal-
len zu sein: Jedenfalls führt er in den Vorlesungen über die Methode des acade-

74
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

Stufe, die sich an alle richtet, kommt demnach besondere Bedeutung


zu. Sie hat eine sondernde Wirkung: Während sie die meisten im
›Vorhof‹ festhält, wird sie für die Wenigen zum Mittel, zu einer hö-
heren Stufe aufzusteigen. Obwohl sie demnach prinzipiell allen zu-
gänglich ist, ist sie dennoch an unterschiedliche Adressaten gerichtet.
Die erschütternden Affekte sind dazu gedacht, die Seele in einen
Traumzustand zu versetzen. Dieser Traumzustand wird durch die
Einrichtung der ersten Stufe induziert, bildet zugleich aber den Über-
gang zur zweiten Stufe: Diese »möchte daher die seyn, wo die Ge-
schichte und die Schicksale des Universum bildlich und vornämlich
durch Handlung dargestellt würden«. 168 Während auf der ersten Stu-
fe vornehmlich eine Veränderung im Selbstverhältnis eingeleitet und
hervorgerufen werden soll, zeigt diese sich auf der zweiten Stufe als
lediglich die Bedingung für eine Hinwendung zum ›Universum‹, in
der Absicht, dieses zu erkennen. Während die erste Stufe sich an die
Nicht-Freien richtet, so entspricht die zweite Stufe den Erkennenden
oder den Wissenschaftlern. 169 Aber auch diese Stufe ist noch nicht die
höchste, sondern bildet nur den Übergang zur dritten Stufe. Diese
›bildlichen‹ Darstellungen der ›Geschichte‹ und der ›Schicksale des
Universum‹ erlauben nämlich eine doppelte Lektüre. Es ist nämlich
möglich »durch diese Hülle hindurch zu der Bedeutung der Symbole
[zu] dringen«. 170 Dies ist der Zustand der »Autopten«, welche »die
Wahrheit rein wie sie ist, ohne Bilder«, zu sehen imstande sind. 171
So haben auch philosophische Texte einen symbolischen Charakter,
da ihr eigentliches Ziel ebenfalls darin besteht, den Leser den ›autop-
tischen‹ Zustand erreichen zu helfen, wo er ihrer allerdings vielleicht
nicht mehr bedarf. Aus Schellings knappen Andeutungen zu den

mischen Studium statt des procul o procul esto das Odi profanum volgus et arceo als
»natürlicher Wahlspruch« der Philosophie an (Schelling 1803a, 111 / SW V, 261).
168
Schelling 1804, 80 / SW VI, 69.
169 Insofern die »Freyen« die Dinge als »Werkzeuge oder Organe« der Ideen betrach-

ten (Schelling 1804, 73 / SW VI, 65), bleibt ihre Erkenntnis durchaus »exoterisch«,
insofern als »jede Erkenntniß, welche die Ideen nur an den Dingen, nicht an sich selbst
zeigt, exoterisch« ist. Alle, die sich im Bereich (oder in der Potenz) der Wissenschaft,
Religion oder Kunst bewegen, sind zwar auf Ideen gerichtet, aber nur insofern diese
sich an den Dingen zeigen. Davon ist noch die Erkenntnis der Ideen zu unterscheiden,
insofern diese an sich betrachtet oder, was dasselbe heißt, insofern sie auf das Absolute
bezogen werden. Diese Erkenntnis nennt Schelling »esoterisch«, da sie »die Urbilder
der Dinge an und für sich selbst [zeigt]« (Schelling 1802a, 30 / SW IV, 231).
170 Schelling 1804, 80 / SW VI, 69.

171
Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.

75
1. Kapitel. Darstellungsprobleme

Mysterien lässt sich somit ersehen, mit welcher Absicht er seine Rhe-
torik einsetzt.

* * *

Der »Vorbericht« gipfelt in eine durch Zentrierung und Sperrung


eigens hervorgehobene Warnung an den Leser: »Rühre nicht, Bock!
denn es brennt«. 172 Der Satz scheint nur eine neue Variante des »na-
türliche[n] Wahlspruch[s]« der Philosophie zu sein. 173 Er greift indes-
sen eine von Plutarch in der Abhandlung De capienda ex inimicis
utilitate mitgeteilte Fabel auf. Plutarch führt sie dort im Zusammen-
hang mit der Frage an, wie man auch aus solchem, das zunächst bloß
schädlich scheint, dadurch Nutzen ziehen kann, dass man den richti-
gen Gebrauch der Sache entdeckt. Die durch den Titel angezeigte
Leitfrage des Textes ist selbst nur ein Beispiel dieser allgemeineren
Frage. So kann das Feuer auf vielerlei Weise nutzbringend verwendet
werden, was dem Satyr allerdings wegen seiner Zudringlichkeit ent-
geht. In dem nicht kenntlich gemachten Zitat fasst Schelling das Er-
gebnis seiner Überlegungen zum Verhalten seiner Anhänger und
Gegner zusammen: Durch ihre Zudringlichkeit sowie durch ihren
Mangel an Erfahrung, wie man mit philosophischen Texten umzuge-
hen habe, verfehlen insbesondere die Anhänger das Nutzbringende
des ›Feuers‹, das Schelling in seine Schriften niedergelegt hat, und
schaden dadurch sowohl sich selbst als auch anderen. Dem »Vor-
bericht« kann man wenigstens bereits so viel entnehmen, dass der
angemessene Umgang mit dieser Schrift nicht darin besteht, dass
man sich zum Anhänger oder Gegner einer Lehre macht. Zugleich
dient die Schrift selbst als Beispiel dafür, wie Schelling selbst aus
seinen Gegnern und Anhängern Nutzen zu ziehen weiß. 174 Die An-
spielung auf die Plutarch-Stelle bildet allerdings ein seltsames Dop-

172 Schelling 1804, VI / SW VI, 15.


173
Schelling 1803a, 111 / SW V, 261.
174 Vgl. Plutarchus 1956. Schelling hält auch dort noch Plutarchs Richtlinien ein, wo

er seine Polemik mit Jacobi zu rechtfertigen sucht: »Gewohnt, schnöde Gehässigkeit,


und alle Versuche, mich aufzuhalten, nur zu höherer und kräftigerer Entwicklung der
Wissenschaft zu benutzen, mußte ich mich nicht mit jenem bloß äußerlich Gefoder-
ten [sc. der Zurückweisung von Jacobis Schelling-Interpretation sowie den von diesem
damit verbundenen Folgerungen und Verdächtigungen, R. S.] begnügen, sondern da-
rauf denken, das, was böslich gemeynt war, zugleich in ein Gutes für mich und Andere
zu verwandeln« (Schelling 1812, 33 / SW VIII, 37). Beachte auch Schelling 1812, 60 /
SW VIII, 52, wo Schelling bemerkt, wie gerade die fehlende Aussicht, einen wissen-

76
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift

pelzitat. Bereits Rousseau hatte der Stelle nämlich eine hervorge-


hobene Bedeutung für sein Œuvre zuerkannt, indem er sie zur Er-
läuterung des Frontispizes seiner ersten Schrift herangezogen hat-
te. 175 Schelling verknappt die erste Hälfte des Zitats und lässt, genau
wie Rousseau, die zweite Hälfte des Satzes aus, die bei Plutarch auf
die heilbringende Wirkung der Wissenschaft hinweist. Der erste Dis-
cours thematisierte ausdrücklich die Spannung zwischen Philosophie
bzw. Wissenschaft und Gemeinwesen. Wenn die Philosophie für die
»unerbetnen Anhänger[…]«, die »ohne Beruf« und »ohne begeistert
zu seyn, zu gleichem Skandal der Klugen und der Einfältigen, den
Thyrsus tragen«, schädlich ist, so ist sie es auch für das Gemein-
wesen, durch den Gebrauch, die jene von der missverstandenen und
»zur Caricatur« ausgedehnten Lehre machen, und durch die Wir-
kung, die die Verbreitung der Lehre in dieser Gestalt hervorbringt. 176
Die Erinnerung an den Gebrauch, den Rousseau von jener Stelle ge-
macht hatte, dürfte kaum zufällig sein, da dieser sie dazu anführt, auf
den Unterschied zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen und
auf die Folgen, die sich aus demselben für die Darstellung seiner
Lehre ergeben, aufmerksam zu machen. Der »Vorbericht«, den jener
Satz beschließt, hat durchgängig nur von solchen Darstellungspro-
blemen gehandelt, und von der Bedeutung, die die Berücksichtigung
der Adressaten dabei spielt. Wie aus einer späteren Stelle in Philoso-
phie und Religion noch deutlicher hervorgeht, erhält die Frage nach
dem Verhältnis von Freien, Nicht-Freien und Philosophen dadurch
für das Verständnis dieser Schrift eine grundlegende Bedeutung. Be-
reits durch die Art der Darstellung ist sie damit der Politischen Phi-
losophie zuzurechnen.

schaftlichen Gewinn aus einer Auseinandersetzung zu ziehen, ihn bei einer früheren
Gelegenheit auf eine Polemik hat verzichten lassen.
175 Zur Plutarch-Stelle als Vorlage für das Frontispiz des ersten Discours: Rousseau

1755, LI–LIII; Meier 2011, 19–22. Das Frontispiz war allerdings nicht wiederabge-
druckt in der Rousseau-Ausgabe, die in Schellings Besitz war, vgl. Rousseau 1782
und Müller-Bergen 2007, 135. Gleich im Anschluss an das Plutarch-Zitat richtet üb-
rigens auch Rousseau sich gegen die »Büchermacherey« (Rousseau 1776, 673; vgl.
Schelling 1804, V / SW VI, 14).
176
Schelling 1804, V f. / SW VI, 14 f.

77
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Der Begriff einer intellektuellen Anschauung hat seit jeher Wider-


stand hervorgerufen. Man hat darin zum einen eine Rückführung
der Philosophie auf eine Art Naturgabe vermutet. Zum anderen hat
man befürchtet, dass dadurch die Philosophie der Aufgabe einer ra-
tionalen Rechtfertigung für enthoben gehalten wird. So vermochte
Hegel, aufgrund seiner Annahme, dass die Philosophie »ihrer Natur
nach fähig« ist, »allgemein zu sein«, in der Behauptung einer intel-
lektuellen Anschauung nur ein Anzeichen des »Mangelhafte[n] in
der Schellingschen Philosophie« zu sehen, insofern damit auf einen
»wahrhafte[n] Beweis, daß diese Identität [des Subjektiven und Ob-
jektiven, R. S.] das Wahrhafte« sei, verzichtet würde (GeschPh III,
TWA 20, 428, 435). Dementsprechend stellt Hegel der intellektuellen
Anschauung die Dialektik entgegen, in der Überzeugung, dass die
Aufgabe, die nach seinem Urteil von Schelling der intellektuellen An-
schauung zugewiesen wird, restlos durch eine dialektische oder logi-
sche Analyse übernommen werden könne. Außerdem könne es kein
Kriterium geben, das es zuließe, darüber zu entscheiden, ob man die
intellektuelle Anschauung hat oder nicht: »[O]b man sie aber hat oder
nicht, kann man nicht wissen« (GeschPh III, TWA 20, 439). Hegels
Einschätzung scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass er den Un-
terschied eines negativen und positiven Verfahrens bei Schelling
übersieht. Es ist nicht der Fall, dass Schelling sich einfach auf eine
solche Anschauung zur »Bewährung« seiner Behauptungen beruft
(GeschPh III, TWA 20, 440), sondern dem geht ein negativer Gedan-
kengang voraus, der durchaus diskursiv auf die Notwendigkeit der
Annahme einer intellektuellen Anschauung hinzuführen sucht. Der
Unterschied zwischen negativem und positivem Verfahren muss
allerdings dann übersehen werden, wenn man die unterschiedliche
Absicht und, damit zusammenhängend, den unterschiedlichen ideal-
typischen Adressaten von Schellings verschiedenen Darstellungen
übersieht, da man von der Voraussetzung ausgeht, dass Schelling in

79
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

seinen »späteren Darstellungen […] in jeder Schrift nur immer wie-


der von vorne an[fing]« (GeschPh III, TWA 20, 422). Wir werden in
der Folge denn auch den Unterschied zwischen wissenschaftlichen
und nicht-wissenschaftlichen Darstellungen zu präzisieren suchen.
Während in der wissenschaftlichen Darstellung die intellektuelle
Darstellung nicht eigens thematisiert wird, setzt sie sie doch durch-
gängig voraus. In der nicht-wissenschaftlichen Darstellung wird um-
gekehrt die intellektuelle Anschauung zwar Thema der Erörterung;
sie kann sich gerade deshalb zur ›Bewährung‹ ihrer Behauptung nicht
auf dieselbe berufen. Wenn man sich daran stört, dass »die intellek-
tuelle Anschauung oder der Begriff der Vernunft ein Vorausgesetztes
ist« und keinen Beweis erfährt (GeschPh III, TWA 20, 439), dann
dürfte eine solche Einschätzung, auf die Schrift Philosophie und Re-
ligion angewendet, daher rühren, dass man sich durch Schellings Er-
klärung am Anfang des zweiten Abschnittes, wonach wir »vorerst
überall nichts voraus[setzen], als das Eine, ohne welches alles Folgen-
de unbegriffen bleiben muss, die intellectuelle Anschauung«, hat ir-
reführen lassen und den methodisch unterschiedlichen Zugriff des
ersten und des zweiten Abschnitts darüber übersehen hat. 1
Die Position Eschenmayers hat nun das Besondere an sich, dass er
die intellektuelle Anschauung durchaus zuzugeben scheint, in ihr
dennoch einen Mangel diagnostiziert, der zu einer Ergänzung durch
den Glauben nötigt. Nach einem Umriss des Programms der Nicht-
philosophie werde ich in diesem Kapitel insbesondere das zentrale
Missverständnis Eschenmayers in seiner Kritik an Schelling fokussie-
ren, nämlich die Meinung, in Akten des Glaubens über etwas hinaus-
kommen zu können, was bei Schelling durch die intellektuelle An-
schauung als Prinzip der philosophischen Konstruktion aller Realität
aufgestellt wird. Dabei wird sich zeigen, dass Eschenmayers Einwän-
de sich auf eine Auffassung der intellektuellen Anschauung und des
Absoluten stützen, die nicht präzis genug der schellingschen ent-
spricht, und damit ihr Ziel verfehlen. Der Kern von Eschenmayers
Einwand und die Grundlage der von ihm selbst skizzierten alternati-
ven Position ist in der Behauptung einer Verschiedenheit von ›Gott‹
und ›Absolutem‹ zu suchen. Der Glaube wird nämlich deshalb be-
müht, den Zugang zu einem der intellektuellen Anschauung un-
zugänglichen Gegenstand zu eröffnen. Schellings Einwand geht
dahin, die Identität beider ›Gegenstände‹ zu behaupten, bei gleich-

1
Schelling 1804, 21 / SW VI, 29.

80
Das Programm der Nichtphilosophie

zeitiger Behauptung eines Unterschieds in der Zugangsweise zu dem-


selben. Damit verbindet sich die These einer Überlegenheit der intel-
lektuellen Anschauung in der Erschließung dieses Gegenstandes.
Schelling versucht somit einen Berührungspunkt zwischen Glaube
und Anschauung zu zeigen, während beide sich in unterschiedlicher
Richtung weiterentwickeln. Da es nicht immer leicht ist, Eschenmay-
ers Sätzen einen klaren Sinn abzugewinnen, habe ich mich insbeson-
dere darum bemüht, seine Gedanken so wiederzugeben, dass sie auch
für heutige Leser nachvollziehbar werden. In dieser Absicht habe ich
auch mehrfach auf Parallelstellen bei Karl Jaspers hingewiesen, da
dieser im Grunde denselben Einwand erhebt und aus demselben Mo-
tiv wie Eschenmayer. Da Darstellung und Kritik der schellingschen
Position sich nicht nur bei Jaspers oft unentwirrbar verschlingen,
dürfte dies auch zu der Überlegung veranlassen, ob nicht eine solche
Kritik am Begriff der intellektuellen Anschauung und der Idee des
Absoluten, konsequent durchgedacht, notwendigerweise zur Nicht-
philosophie überleiten muss.

1. Das Programm der Nichtphilosophie

In seiner Antwort auf den Brief vom 30. März 1804, der Eschenmay-
ers Übersendung seiner Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang
zur Nicht-Philosophie begleitete, 2 bemerkt Schelling, dass er diese
»schon lange gelesen und wieder gelesen« und inzwischen bereits
eine Erwiderung auf dieselbe fertiggestellt habe. Es ist dies die »kleine
Schrift Philosophie und Religion«, die, wie er bemerkt, »sich fast
durchgehends auf die Ihrige bezieht«. 3 Die Schrift Eschenmayers er-

2 Vgl. C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 30. März 1804, Fuhrmans, Briefe III,


68–70.
3 Die Stelle lautet im Zusammenhang: »Ihre Schrift war mir auch jetzt noch ange-

nehmes Geschenk, obgleich ich sie schon lange gelesen und wieder gelesen hatte, wie
sich versteht. H. Prof. Paulus machte mich gleich bey ihrer Erscheinung damit be-
kannt. Sonderbarer Weise kommt Ihr Geschenk in dem Augenblick, da ich eben das
lezte Blatt einer kleinen Schrift: Philosophie und Religion, die sich fast durchgehends
auf die Ihrige bezieht, in die Druckerey geben will. Sie erhalten diese, sobald sie fertig
und aus der Presse ist. Wie vielen Dank ich Ihnen für Ihre Schrift, deren Tiefe mich im
Innersten angeregt hat, schuldig bin, will ich Ihnen hier nicht sagen, ich glaube, daß
so, wie Sie mich genommen haben, allerdings noch ein bedeutend höherer Schritt in
ein andres Gebiet geschehen muß; aber dieses Gebiet glaube ich noch in der Spekula-
tion selbst zu finden, u. viel klarer durch dieses Organ in ihm zu sehen, als durch

81
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

schien Ende 1803. Der Brief Schellings, der die Fertigstellung seiner
Antwortschrift meldet, ist auf den 7. April 1804 datiert. Die rasche
Reaktion bezeugt, dass Schelling die Schrift Eschenmayers zum will-
kommenen Anlass nahm, sich über bestimmte Themen zu äußern. 4
Mit der Veröffentlichung seiner Antwort erachtet Schelling die Aus-
einandersetzung jedoch noch keineswegs für abgeschlossen; noch
mehr als ein Jahr lang führt er sie sowohl in Briefen als auch in neuen
Veröffentlichungen weiter. 5 Wenn die in Eschenmayers Schrift ent-
haltene »Auffoderungen« Schelling zu einer Antwort veranlassen,
wie es andere nicht vermocht haben, dann steht für ihn wohl noch
etwas mehr auf dem Spiel, als nur die Berichtigung einiger Miss-
deutungen. 6 Vielmehr erblickt Schelling in der von Eschenmayer
umrissene Position, trotz der Unzulänglichkeiten und der begriff-
lichen Unschärfe, die sich bei diesem leicht feststellen ließen, eine
grundsätzliche Alternative nicht nur zu seiner eigenen Position, son-

Glauben. Sie haben vieles als durch diesen erfaßt ausgesprochen, was ich im ersten zu
besitzen längst die Gewißheit habe«. Die Absicht der Schrift besteht darin, »einen
Geist, wie Sie, mit mir vielleicht ganz aus[zu]söhnen« (F. W. J. Schelling an C. A.
Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71 f.). Schelling schickt Eschen-
mayer die Schrift wohl Anfang Juni (vgl. Fuhrmans, Briefe I, 320). Eschenmayer
meldet den Empfang in einem Brief vom 24. Juli 1804 (C. A. Eschenmayer an F. W. J.
Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108).
4 Schellings Reaktion auf die öffentliche Kritik Fichtes mit der Darlegung des wahren

Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre (1806)


und auf die Kritik Jacobis mit dem Denkmal der Schrift von den göttlichen Dingen
etc. (1812) erfolgte übrigens genauso schnell.
5 Vgl. F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 10. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe I, 320–

322; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108–
112; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe
III, 157 f.; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 201 f.; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III,
222–224; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 10. August 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 227–229. Dann scheint der Briefwechsel bis 1810 zu ruhen (vgl. Fuhrmans, Briefe
III, 229). Vgl. ferner die »Vorrede« zu den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft
(Schelling 1805a, XII f. / SW VII, 135 f.) sowie die dort veröffentlichten Aphorismen
zur Einleitung in die Naturphilosophie (Schelling 1805b, 18, 69–71 / SW VII, 150 f.,
186 f.) und Kritischen Fragmente (Schelling 1807b, 286 f. / SW VII, 247 f.). Siehe auch
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III,
158: Das erste Heft der Jahrbücher »wird eröfnet durch Aphorismen über Naturphi-
losophie, wo bey Gelegenheit der ersten Grundsätze auch Ihrer mehrmals Meldung
geschehen muß«. Wie bei Schelling üblich geschieht dies jedoch manchmal ohne aus-
drückliche Namensnennung; dass Eschenmayer gemeint ist, lässt sich meistens leicht
aus dem Zusammenhang wie aus der Terminologie erschließen.
6
Schelling 1804, III / SW VI, 13.

82
Das Programm der Nichtphilosophie

dern zur Philosophie überhaupt. 7 Nach Eschenmayers Ansicht ist der


Mensch nämlich für die Beantwortung der wichtigsten Fragen, wozu
er sowohl die Frage nach Gott und der menschlichen Freiheit als auch
die nach der Sittlichkeit, der Unsterblichkeit der Seele und der End-
absicht der Geschichte rechnet, auf Glauben angewiesen, da die
menschliche Vernunft aus eigener Kraft außerstande ist, diesbezüg-
lich zur Klarheit zu gelangen. Eschenmayers Absicht sieht Schelling
denn auch darin, gerade diese ›Gegenstände‹ der Jurisdiktion der Phi-
losophie zu entziehen oder diesen längst geschehenen Entzug aber-
mals zu bekräftigen. Dass es sich tatsächlich um eine grundsätzliche
Alternative zur Philosophie überhaupt handelt, geht auch daraus her-
vor, dass, hätte Eschenmayer Recht und wäre es der Philosophie prin-
zipiell verwehrt, sich in diesen Fragen gegen die Ansprüche der
Nichtphilosophie zu behaupten, das Philosophieren insgesamt ohne
Wert wäre. Dasjenige, was der Philosophie nach dem Entzug dieser
»Gegenstände[…]« übrig bliebe, hätte »für die Vernunft keinen
Werth«. 8 Im Umkehrschluss heißt dies, dass es nur wegen diesen
»einzig grossen Gegenständen« »werth ist, zu philosophiren und sich
über das gemeine Wissen zu erheben«. 9 Ob es dem Philosophen ge-
lingt, auf diese Herausforderung eine überzeugende Antwort zu ge-
ben, wird somit über den Wert des Philosophierens oder des theoreti-
schen Lebens überhaupt entscheiden. Die Differenz betrifft demnach
nicht lediglich theoretische Stellungnahmen, sondern den Wert der
theoretischen Bemühungen selbst, die Frage nach den Folgen oder
der Folgenlosigkeit der Philosophie für das Dasein des Philosophen.
Für Eschenmayer lässt die Philosophie Schellings »nichts zu wün-
schen übrig«, auch und gerade dann, wenn sie die Tugend ausschließt
und auf die Frage nach dem guten Leben keine Antwort zu geben
vermag, und zwar weil für ihn nur der Glaube für solche Fragen zu-
ständig ist und angesichts ihrer alle theoretischen Differenzen irrele-
vant sind. 10 Die Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zur Nicht-
philosophie als zu ihrem Anderen ist so wenig von nachgeordneter

7 Noch 1805 spricht er vom »bis jetzt namhaftesten« Versuch, eine solche Gegen-
position aufzustellen (Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150).
8 Schelling 1804, 2 / SW VI, 16; Herv. v. Verf.

9 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17;

Schelling 1805b, 75 / SW VII, 189.


10
Vgl. Eschenmayer 1803, II (Vorbericht), 40 f. (§ 49), 90 (§ 86). Diese Stellen werden
auch von Schelling selbst zitiert (vgl. Schelling 1804, 59 / SW VI, 54). Es ist gerade
diesen Punkt, den er »etwas härter [hat] nehmen müssen« (F. W. J. Schelling an C. A.

83
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Bedeutung, dass sie vielmehr über den Wert der Philosophie über-
haupt entscheidet. Ihre Beantwortung kann denn auch nicht warten,
bis das System irgendwann zu einem Abschluss gelangt ist – umso
mehr, als das System »in seiner empirischen Totalität« gar nicht ab-
schließbar ist (SW VII, 421) –, sondern erhält eine ganz besondere
Dringlichkeit. Hierin dürfte ein wichtiger Grund liegen, weshalb die
Position Eschenmayers für Schelling eine derart ernstzunehmende
Herausforderung darstellt, dass es ihm wichtiger ist, direkt auf dessen
Bedenken zu antworten, als eine Schrift zu veröffentlichen, der nur
»die letzte Vollendung« fehlte und durch welche er sich auf eine an-
gemessenere Art über jene »Ideen« und »Verhältnisse« hätte erklären
können. 11
Jene Alternative kommt bereits in dem befremdlichen und rätsel-
haften Titel von Eschenmayers Schrift klar zum Ausdruck, der sein
Programm auf eine griffige und prägnante Formel bringt. 12 Diesem
Titel zufolge soll die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphi-
losophie begleitet werden. Dazu muss zunächst das Bedürfnis oder
die Notwendigkeit eines solchen Übergangs nachgewiesen werden.
Dazu ist in der Philosophie selbst eine Aporie aufzudecken, die dazu
nötigt, über sie hinauszugehen. Es steht denn auch zu vermuten, dass
Eschenmayer auf ein Problem aufmerksam macht, dem der Philosoph
sich nicht zu entziehen vermag und das er nach Eschenmayers Urteil
mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch nicht zu lösen
vermag. Wir können dies als den negativen Teil von Eschenmayers
Unternehmen bezeichnen. Der positive Teil wird die konkrete Aus-
füllung der Nichtphilosophie betreffen. 13 Die Erfüllung des negativen
Teils verlangt allerdings, dass die Nichtphilosophie sich auf das Gebiet
der Philosophie selbst begibt. Die Grenze oder das Gebiet, wo Phi-
losophie und Nichtphilosophie sich berühren und wo sie auseinander-
gehen, betrifft insbesondere die Lehre von Gott und die Lehre von der

Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72). Dasselbe Motiv ist auch in
Jaspers’ Kritik an Schelling deutlich feststellbar. Vgl. dazu Habermas 1971, 95.
11 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.

12 Vgl. auch die für Jaspers entscheidende Alternative zwischen ›Gnosis‹ und ›Exis-

tenzerhellung‹, wovon Habermas zu Recht fragt, ob dies wirklich »eine vollständige


Alternative« darstellt (vgl. Jaspers 1955, 9, 130, 311; Habermas 1971, 97).
13 Im Vorbericht wird zunächst die Aufgabe formuliert, »die Gränzen des Erkennens«

und damit der Spekulation zu bestimmen, wonach sich in der Folge zeigen wird, dass
»das, was ich unter Nichtphilosophie verstehe, bestimmter ausgedrückt eine reine und
von aller Spekulation befreyte Theologie wäre« (Eschenmayer 1803, I f.). Zum positi-
ven Teil siehe das 5. Kapitel.

84
Das Programm der Nichtphilosophie

Welt und, damit zusammenhängend, den Status der Erkenntnis. Für


den Nachweis der Notwendigkeit jenes Überstiegs darf der Nichtphi-
losoph sich nicht auf den Glauben berufen, sondern dazu muss er
Argumente anführen können, die auch den Philosophen überzeugen
können müssen. Es soll ja gezeigt werden, wie jene Aporie nur durch
den Glauben gelöst werden kann. Erst durch den Glauben bzw. die
Nichtphilosophie »entsteht« »eine veränderte Ansicht« »in dem ab-
soluten Standpunkt der Philosophie«, zu welcher diese aus eigener
Kraft nicht gelangen kann. 14 Insofern als nur der »Gegenstand« der
Nichtphilosophie »von der Beschaffenheit [ist], dass er sich von selbst
der Spekulation entrückt« und dadurch »überhaupt die Gränzen des
Erkennens bezeichnet«, 15 kann die Philosophie erst durch die Nicht-
philosophie zur Einsicht in die Beschränktheit ihres Aufgabengebiets
und damit auch zur Erkenntnis ihrer selbst gelangen. Da die Philoso-
phen diese Grenze gar nicht erst wahrnehmen, halten sie den Bereich
der Spekulation für »unbegränzt und unendlich«, das Absolute ihrer
Spekulation für das höchste und vergessen darüber »das Selige«. 16
Die Erkenntnis dieser Grenze muss naturgemäß »selbst dem Philoso-
phen äusserst erwünscht seyn«, da nur in ihr seine Selbsterkenntnis
sich zu vollenden vermag. 17 Wie sich in der Folge noch deutlicher
zeigen wird, weiß umgekehrt auch der Glaube sich seinerseits durch
die Philosophie herausgefordert. Er sieht sich dazu genötigt, Auge in
Auge mit dieser Alternative seine Rechte geltend zu machen und sich
in der Auseinandersetzung mit ihr zu rechtfertigen. Wenn die Nicht-
philosophie in der Folge auch bestimmter als Glaube oder als Theo-
logie bezeichnet wird, so können wir aus dem bisher skizzierten Pro-
gramm bereits schließen, dass es sich dabei nicht um einen Glauben
handelt, der sich selbst genügte und sich durch die Philosophie nicht
besonders herausgefordert fühlte. Eschenmayer unterscheidet denn
auch die Nichtphilosophie, so wie er sie versteht, von einer »zufäl-
ligen« Nichtphilosophie, der es lediglich »am Entschlusse zu philoso-
phiren« fehlt. 18 Die Gestalt, die eine solche Auseinandersetzung zwi-
schen Nichtphilosophie und Philosophie anzunehmen hat, wird von
Eschenmayer als ein »beständiges Beweisfodern der erstern und ein

14 Eschenmayer 1803, 45 (§ 54); vgl. Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 30 f. (§ 39), 52


(§ 59). Vgl. Jaspers 1955, 194.
15 Eschenmayer 1803, I f. (Vorbericht).

16
Eschenmayer 1803, II (Vorbericht), 34 (§ 43), 58 (§ 65).
17 Eschenmayer 1803, 44 (§ 53).

18
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).

85
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

beständiges Beweisgeben der letztern« charakterisiert. 19 Das Schei-


tern der Beweisversuche gilt ihm als eine indirekte Bestätigung für
die Notwendigkeit eines Übergangs zur Nichtphilosophie. Es handelt
sich also darum, »die Spekulation in die Enge« zu treiben und sie so
dazu zu zwingen, ihre Grenzen anzuerkennen und der Nichtphiloso-
phie Platz einzuräumen. 20
Wie bequem eine solche Position zunächst auch aussehen mag, so
sieht sie sich doch einigen grundsätzlichen Schwierigkeiten aus-
gesetzt. Darauf macht Schelling gleich in der Einleitung seiner Ant-
wortschrift aufmerksam. Zum einen muss jene Position darauf
verzichten, sich selbst zu beweisen, da sie sich dann in einen Wider-
spruch mit sich selbst verwickelte: Ließen die Behauptungen, wegen
welchen man auf den Glauben verweist, sich beweisen, dann bedürfte
es dazu keines Glaubens mehr. Die einzig konsequente Strategie, die
sich daraus ergibt, ist ein negatives Verfahren, das zu zeigen versucht,
dass »gewisse Fragen durch Philosophie [nicht] befriedigend zu be-
antworten« sind. 21 Positive Gründe lassen sich demnach, so scheint
es, für die von Eschenmayer angepeilte Nichtphilosophie nicht an-
führen. Dies hebt Schelling besonders hervor: Was Eschenmayer
»zur Begründung seines Glaubens Positives anführt, – kann aller-
dings nicht beweisend seyn, da der Glaube, könnte er bewiesen wer-
den, aufhörte Glaube zu seyn«. 22 Ließe die Nichtphilosophie sich auf
Beweisführungen ein, so wäre sie »verloren«. 23 Diese Strategie hat
Eschenmayer denn auch in der Tat gewählt. Zum anderen kommt
sie dennoch nicht umhin, immer wieder theoretische Annahmen zu
machen. Um die Philosophen zum Eingeständnis des ungenügenden
Charakters der Philosophie zu nötigen, sieht die Nichtphilosophie
selbst sich dazu genötigt, sich auf eine bestimmte Vorstellung von
Philosophie zu stützen, von ihrem Wesen, ihrer Aufgabe und den
Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, um bestimmte Fragen zu stel-
len und einer Lösung zuzuführen. Sie hat nur dann einige Aussicht

19 Eschenmayer 1803, 44 (§ 52).


20 Eschenmayer 1803, 44 (§ 52). Eschenmayers Fazit lautet: »Sobald aber jene [die
Nichtphilosophie bzw. Theologie, R. S.] sich aufs Beweisgeben einlässt und der Spe-
kulation das Beweisfodern zugesteht, so ist sie verloren« (ebd.; Herv. v. Verf.). Was
Eschenmayer hier anvisiert, scheint demnach eine gewisse Ähnlichkeit mit einer ne-
gativen Theologie aufzuweisen.
21
Schelling 1804, 5 / SW VI, 18.
22 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18; Herv. v. Verf.

23
Eschenmayer 1803, 44 (§ 52).

86
Das Programm der Nichtphilosophie

auf Erfolg, wenn sie solcherart auf eine Übereinstimmung mit der
Philosophie aufbauen kann. Dadurch bietet sie der Philosophie aller-
dings zugleich eine Angriffsfläche. Solche Annahmen sind nämlich,
wie Eschenmayer es auch anerkennt und anerkennen muss, nicht
mehr oder noch nicht Gegenstand des Glaubens, d. h. sie müssen auch
für solche, die den Glauben nicht zugeben, einsichtig sein und sich
auch ohne Rekurs auf den Glauben behaupten lassen. Damit hat
Eschenmayer sie auch für eine kritische Überprüfung durch die Phi-
losophie freigegeben. Eine solche wird Schelling denn auch unterneh-
men. Dazu wird er zum einen zeigen, dass er den von Eschenmayer
vorausgesetzten Begriff von Philosophie nicht als triftig anzuerken-
nen vermag. Dadurch versucht Schelling zu zeigen, wie Eschenmay-
ers Einwände ihr Ziel verfehlen, indem sie sich gegen eine Meinung
richten, der er selbst nicht zustimmt. Zum anderen wird er zeigen,
welchen prinzipiellen Schwierigkeiten ein solches Unterfangen aus-
gesetzt ist. Gelingt es dem Philosophen, die Unhaltbarkeit dieser An-
nahmen nachzuweisen bzw. zu zeigen, wie bestimmte Fragen, die für
philosophisch unlösbar gehalten werden, doch »durch Philosophie
befriedigend zu beantworten« sind, dann ist das Vorhaben Eschen-
mayers gescheitert oder es müsste ein neuer Angriff mit leistungs-
fähigeren Argumente gewagt werden. 24
Eschenmayer verwendet viel Mühe darauf, einen solchen Begriff
von Philosophie zu entwickeln, der jenen Übergang als notwendig
einsichtig zu machen vermag. Dazu sind die Paragraphen 1 bis 40
seiner Schrift gedacht. Die Plausibilität jenes Übergangs hängt denn
auch weitgehend davon ab, ob man bereit ist, ihm hierin zuzustim-
men. Jedenfalls rechnet Eschenmayer gerade in diesem Punkt mit der
Zustimmung Schellings. 25 Die Aufgabe der Philosophie sieht Eschen-

24 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18.


25
Eschenmayer 1803, 14 (§ 21): »Ich halte mich nun an dieses System [sc. dasjenige
Schellings, R. S.]«. Und 104 (§ 99): »Dass der Glaube das Ende aller Spekulation sey,
hat Schelling an mehrern Stellen in seinen Schriften geäussert«. Welche ›mehrern
Stellen‹ Eschenmayer dabei im Sinne hat, bleibt sein Geheimnis. Meines Wissens
findet sich nur eine einzige Stelle, wo Schelling dies dem Wortlaut nach behauptet,
die sich aber ihrem Sinn nach nur schwerlich mit der Position Eschenmayers vereini-
gen ließe (vgl. Schelling 1802a, 218 / SW IV, 326). In einem Brief vom 24. Juli 1804
schreibt Eschenmayer schließlich, dass »in ihren bisherigen Schriften […] unzählige
Äußerungen vor[kommen], welche eben das, was ich meyne, auf die klareste Weise
enthalten und, wenn ich es sagen darf, über die bisher gegebene formelle Darstellun-
gen ihrer Hauptideen hinaus gehen« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli
1804, Fuhrmans, Briefe III, 110). Solche ›unzähligen Äußerungen‹, wonach wir in

87
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

mayer darin, eine Begründung des Erkennens zu leisten. Das Erken-


nen ist einziger Gegenstand der Philosophie. 26 Was darüber hinaus-
geht, kann damit auch kein Gegenstand der Philosophie mehr sein.
Ihr geht es darum, die unterschiedlichen Vermögen, die dazu bei-
tragen, dass ein Erkennen zu Stande kommt, zunächst zu sondern,
dann zu zeigen, wie sie durch ihr Zusammenspiel in einem Erkennen
resultieren, und aus welchen Gründen und unter welchen Bedingun-
gen dieser Erkenntnisanspruch berechtigt ist. 27 Die Philosophie ist
danach Wissenschafts- oder Erkenntnistheorie. Sie sucht in unseren
Erkenntnistätigkeiten einen geordneten Zusammenhang, ein System
aufzudecken. In der auffälligen Bestimmung des Gegenstands der
Philosophie als einer besonderen Tätigkeit kann man ein Indiz für
eine zugrundeliegende anthropologische oder psychologische An-
nahme sehen. Wenn diese auch in vorliegender Schrift nur selten
angedeutet wird, so erhalten doch viele von Eschenmayers oft schwer
durchschaubaren Behauptungen erst dann eine gewisse Konsistenz,
wenn man sie sich aus einer solchen Annahme erklärt. 28 Nach dieser
Annahme sind im menschlichen Geist mehrere Funktionen zu unter-
scheiden, die sich mittels unterschiedlicher Vermögen realisieren. So

Gott sind und nicht Gott in uns, lassen sich nun in der Tat bei Schelling auffinden.
Daraus folgt nach Eschenmayer unmittelbar, dass Gott »kein Gegenstand mehr der
Erkenntniß und der Anschauung« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli
1804, Fuhrmans, Briefe III, 110), also nur des Glaubens ist.
26 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne, was

Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Universum
als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegenstände
der Nichtphilosophie solche seyn welche weder für das Wollen noch Erkennen er-
reichbar sind«. Dazu ist anzumerken, dass Handeln und Wollen, insofern sie Gegen-
stand der Philosophie werden sollen, selbst bereits den Glauben voraussetzen.
27 Eschenmayer 1803, 1 (§ 2): »Unser Geistesvermögen ist im Ganzen genommen

eine Masse, welche von einander zu sondern, wir in uns selbst zurückgehen und auf
uns selbst reflektiren müssen. Der Antheil, welchen die Vernunft, der Verstand, Emp-
findung und Anschauung, die Sinne u. s. w. an dieser Masse haben, muss von einander
gesondert und nachher wieder in den verschiedenen Beziehungen untereinander be-
trachtet werden«.
28 Nach Walter Wuttke tritt diese in späteren Schriften noch deutlicher hervor:

Eschenmayer trennt »den Bereich des Glaubens strikt von dem der Philosophie, faßt
beide jedoch unter einem anthropologischen Gesichtspunkt zusammen, da der
Mensch Wissen und Glauben als psychologische Tatsachen erfährt« (Wuttke 1972,
262). Auch Schelling erwägt, ob Eschenmayer ihn nicht auf eine solche psychologi-
sierende Weise verstanden hat (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23), setzt sich auch
andernorts mit solchen psychologistischen Deutungen auseinander (vgl. Schelling
1803b, 69 / SW II, 60; Schelling 1802d, 44, 51, 56, 60 / SW V, 46 f., 51, 54, 57).

88
Das Programm der Nichtphilosophie

erfährt der Mensch sich nicht nur als ein erkennendes, sondern auch
als ein wollendes, fühlendes und glaubendes Wesen. Im Erkennen
lassen sich seinerseits mehrere Funktionen unterscheiden, die nur
durch ihr Zusammenspiel in einer Erkenntnis resultieren. Den syste-
matischen Zusammenhang dieser Funktionen zu rekonstruieren ist
Aufgabe der Philosophie. Die anderen Funktionen des Geistes (Wol-
len, Fühlen, Glauben …) lassen sich hingegen weder aus dem Erken-
nen ableiten noch auf es zurückführen. So lässt sich der Wille z. B.,
auch wenn Erkennen und Erkenntnisse in ihm eingehen, doch nicht
in lauter erkenntnismäßige Elemente auflösen. Zum Wollen braucht
es ein zusätzliches Element, das nicht mehr von der Art des Erken-
nens ist. Wenn einmal feststeht, dass die Aufgabe der Philosophie nur
in der Auslotung unserer Erkenntnistätigkeit und -vermögen besteht,
dann ist durch den Nachweis, dass das Wollen sich nicht auf einen
bloßen Modus des Erkennens zurückführen lässt, ein Argument da-
für gegeben, dass der Wille nicht Gegenstand der Philosophie sein
kann. Außerdem lässt sich auch der Träger dieser Tätigkeit nicht in
Erkennen auflösen. 29 Die Art, wie Eschenmayer von Potenzen, Funk-
tionen und Vermögen redet, scheint stets ein Subjekt als deren Träger
vorauszusetzen. Das Subjekt dieser Funktionen nennt Eschenmayer
die Seele. Insofern diese deren Subjekt ist, kann sie nicht selbst wieder
durch jene objektiviert werden.
Seine Bestimmung der Aufgabe der Philosophie versucht Eschen-
mayer zudem durch ein historisches Argument abzustützen: Er bietet
einen problemorientierten Überblick über die »Schicksale der Phi-
losophie in der Geschichte der Menschheit«, wobei er sich besonders
auf die neuere Philosophie (Kant, Fichte, Schelling) konzentriert. 30
Dieser Überblick soll plausibel machen, dass das Erkennen in der Tat
einziger Gegenstand der Philosophie ist und dass alle wesentlichen
Bemühungen und Fortschritte in der Geschichte der Philosophie im
Problem des Erkennens ihren Grund haben. 31 Nach dieser Deutung

29 Das Selige »erfüllt« »unser ganzes Wesen«, während das Erkennen nur einen Teil
unseres Wesens erfüllt (Eschenmayer 1803, 15 (§ 21; Herv. v. Verf.); vgl. Eschenmayer
1803, 105 (§ 99)). Daher muss das Selige eine höhere Potenz sein, da es nämlich die
Potenz des Erkennens in sich enthält, nicht aber vollständig davon ausgefüllt oder
erfüllt wird. Diese Annahme bricht erneut in Eschenmayers Reaktion auf die Frei-
heitsschrift durch (vgl. Eschenmayer 1813, 47 f. / SW VIII, 149, und Schellings Re-
aktion: Schelling 1813b, 82–84 / SW VIII, 163 f.).
30 Eschenmayer 1803, 1 (§ 1); vgl. Eschenmayer 1803, 2–14 (§§ 5–20).

31
In diesem Bereich gibt es also eindeutig feststellbare Fortschritte. Auch wenn es

89
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

gelingt es der Philosophie erst mit Kant, ihre eigensten Möglichkei-


ten zu entfalten, indem sie sich zu einem System gestaltet. Alles Vor-
hergehende wird als ein richtungsloses Herumtasten und Ausprobie-
ren beiseitegelassen. 32 Dies dürfte ein Indiz dafür sein, dass dieser
Abriss der Geschichte der Philosophie bereits durch einen Vorbegriff
vom Wesen und von der Aufgabe der Philosophie geleitet wird, wofür
man in der Geschichte nur Bestätigung sucht, während solche Er-
scheinungen, die sich nicht einordnen lassen und den vorausgesetzten
Begriff in Frage stellen könnten, beiseitegelassen werden. 33 Der Hin-
weis auf die Philosophiegeschichte scheint hier jedenfalls vor allem
dem Zweck zu dienen, Eschenmayers Begriff von Philosophie zu be-
legen.
Gegen dieses historische Argument bringt Schelling ebenfalls eine
historische Beobachtung vor. Eschenmayers Behauptung, wonach die
Begründung des Erkennens die Hauptaufgabe der Philosophie ist, be-
ruht auf einem Zirkel: Er behauptet, dass dies schon immer die Auf-
gabe der Philosophie gewesen ist, muss zugleich aber eingestehen,
dass die antike Philosophie sich über diese Aufgabe nicht im Klaren
war und erst mit Kant darüber Klarheit gewann. 34 Der Begriff von
Philosophie, wonach Eschenmayer ihre Geschichte auslegt, hat aller-
dings selbst erst in einer bestimmten historischen Konstellation auf-
treten können, in welcher über die Frage nach dem Verhältnis von
Philosophie und Religion bereits entschieden war. Deshalb erinnert
Schelling daran, dass »eine Zeit war«, wo jene Bestimmung des Ver-
hältnisses noch keine Geltung hatte. 35 Wenn dieser Satzanfang zu-
nächst den Eindruck erwecken dürfte, dass hier die im »Vorbericht«
versprochenen »Töne alter Philosophie« angeschlagen werden, von
welchen zu erwarten ist, dass man sie »übel vernehmen werde«, so
verbirgt sich in ihm ein historisches Argument, das sich insbesondere
gegen Kant richtet, wenigstens gegen die Wirkung, die seine Philoso-

von Eschenmayer so nicht ausgesprochen wird, so ist doch zu vermuten, dass der
Entzug bestimmter Gegenstände (bes. Gott und die Tugend) von der Befugnis der
Philosophie darauf abzielt, diesen einen überzeitlichen Wert zu sichern. Im Bereich
der Moral bzw. des praktischen gibt es keinen Fortschritt.
32 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 10 f. (§ 16), 11 f. (§ 17).

33 Für einen solchen Umgang mit der Geschichte der Philosophie, siehe: Wieland

1995, 14 f.
34 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 4 (§ 7), 5–8 (§§ 9–11).

35
Schelling 1804, 1 / SW VI, 16.

90
Das Programm der Nichtphilosophie

phie gezeitigt hatte. 36 Jener Satzanfang erinnert nämlich an einen


Satz in der »Vorrede« zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Ver-
nunft, wo es heißt:
Es war eine Zeit, in welcher sie [die Metaphysik, R. S.] die Königin aller
Wissenschaften genannt wurde, und wenn man den Willen für die That
nimmt, so verdiente sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Ge-
genstandes allerdings diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton
des Zeitalters so mit sich, ihr alle Verachtung zu beweisen […]. (KrV,
AA 4, 7 f.; Herv. v. Verf.) 37
Diese historisch gemeinte Bemerkung dient dazu, den für Kant orien-
tierenden Philosophiebegriff zu belegen, indem die Kritik der Auf-
gabe gewidmet ist, jenen Anspruch endlich einzulösen und die Meta-
physik nicht nur selbst zu einer Wissenschaft zu gestalten, sondern
sie wieder in ihr Recht als ›Königin aller Wissenschaften‹ einzusetzen.
Der von Eschenmayer zugrundegelegte Begriff von Philosophie eig-
net sich jedenfalls nicht zu einem der ›älteren‹ und nach Schelling
›ächten‹ Philosophie angemessenen Verständnis. 38 Ebenso wenig wird
er der damaligen Gestalt von Religion gerecht. Die historische Skizze
des Verhältnisses von Philosophie und Religion soll dazu veranlassen,
den Begriff von Philosophie, wie Eschenmayer ihn voraussetzt, kri-
tisch zu hinterfragen. Daran hatte Schelling auch andernorts erinnert:
Die Betrachtung der Philosophie von dem allgemeinen historischen
Standpunct aus würde für Manche wenigstens den Nutzen haben, sie
über die engen Formen ihres Philosophirens, in welchen sie die Grenzen
des allgemeinen Geistes gesteckt zu haben glauben, ins Klare zu setzen.
Anderen würde sie, bey dem Unvermögen, sich aus freyer Selbstthätig-
keit zu Ideen zu erheben, wenigstens einen allgemeineren Maasstab der
Beurtheilung angeben, als die auf den engen Kreis der gegenwärtigen
Zeit eingeschränkte Kenntniß der Formen und Richtungen der Philoso-
phie. 39

36 Schelling 1804, V / SW VI, 14.


37
Diese Resonanz ist auch Katia Hay aufgefallen (vgl. Hay 2011, 201). In der Ein-
leitung von Philosophie und Religion wird Kant wenig später auch namentlich er-
wähnt (vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17). Auch die Bemerkung, wonach Eschen-
mayer »die Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will« (Schelling 1804,
III f. / SW VI, 13; Herv. v. Verf.), spielt auf Kant an, und zwar auf die berühmte Stelle,
wo Kant erklärt, dass er »das Wissen aufheben [musste], um zum Glauben Platz zu
bekommen«, weil »der Dogmatism der Metaphysik […] die wahre Quelle alles der
Moralität widerstreitenden Unglaubens« ist (KrV, AA 3, 19).
38 Vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17.

39
Schelling 1802f, 20 f. / SW V, 120 f.

91
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Im ersten Teil der Einleitung hebt Schelling besonders auf das Ver-
hältnis von Philosophie und Religion als bestimmend für die Bestim-
mung der Philosophie ab. Das Verhältnis, das die Philosophie sich
selbst zu ihrem Anderen gibt, bestimmt mit darüber, was sie selbst
ist. Der erste Teil der Einleitung ist also u. a. auch gegen Eschen-
mayers Abriss der Geschichte der Philosophie gerichtet.
Von mehr Gewicht als die psychologische Annahme und das his-
torische Argument ist indes der Begriff der intellektuellen Anschau-
ung, in welchem Eschenmayer einen Grund zu finden meint, über die
Philosophie hinauszugehen. Dieser verdient eine ausführlichere Erör-
terung, da dieser Begriff auch für Schelling von entscheidender Be-
deutung ist. Zudem drückt Eschenmayer sich gerade hier in einer
schellingianisierenden Sprache aus, was dazu verführen könnte, beide
auch in der Sache als übereinstimmend zu betrachten. Ob eine solche
Übereinstimmung auch tatsächlich gegeben ist, bedarf einer besonde-
ren Überprüfung, wenn man sich in die Lage versetzen will, über die
Triftigkeit von Eschenmayers Einwänden zu urteilen.

2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

Eschenmayer hebt mehrere Merkmale dessen, was er intellektuelle


Anschauung nennt, hervor, ohne einen vollständigen Begriff dersel-
ben zu entwickeln. Er bestimmt sie zunächst als das »Vermögen, […]
welchem die Ichheit selbst zum Objekt wird«. 40 Als Ichheit bezeichnet
er die Identität von empirischem Bewusstsein und Selbstbewusst-
sein. 41 Empirisches Bewusstsein ist Anschauung mit Empfindung
oder jedes Bewusstsein-von-etwas. Als solche hat es immer eine
Richtung auf etwas außer sich. Eschenmayers Begriff der Ichheit be-
inhaltet die These, dass es kein Bewusstsein-von-etwas gibt ohne
Selbstbewusstsein und umgekehrt. Auch im Selbstbewusstsein ist
demnach immer ein intentionales Moment enthalten. 42 Die intellek-

40 Eschenmayer 1803, 1 (§ 3).


41 Vgl. Eschenmayer 1803, 9 (§ 12), 18 f. (§ 25).
42 Dies ist dadurch suggeriert, dass Eschenmayer das Begreifen vom Erkennen unter-

scheidet. Das Begreifen beinhaltet immer noch einen Bezug auf einen Gegenstand, der
begriffen wird und allgemein zugänglich ist. Der Begriff hat nur deshalb nicht die
allgemeine Verständlichkeit, weil es im Belieben des Individuums steht, wie er die
ihm sich darbietenden sinnlichen Eindrücken ordnet (vgl. Eschenmayer 1803, 27
(§ 35)). Ferner bemerkt er, dass im Begriff das Erkannte nur »mittelbar und in einer

92
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

tuelle Anschauung bezeichnet danach das Vermögen des erkennen-


den Subjekts, sich diese Identität von empirischem Bewusstsein und
Selbstbewusstsein in jedem Erkenntnisakt selbst wieder bewusst zu
machen. Sie objektiviert somit die Erkenntnisoperationen, die in je-
dem Erkenntnisakt tätig sind. Sie ist zudem als eine Potenzierung der
Ichheit zu denken. Potenzierung impliziert zweierlei: Zum einen deu-
tet sie auf eine Erhebung auf eine höhere Stufe, die, zum anderen,
durch die Anwendung des Potenzierten auf sich selbst zustande
kommt. Während die Ichheit eine Richtung auf einen Gegenstand
außerhalb des erkennenden Subjekts enthält, so wird in der intellek-
tuellen Anschauung die Ichheit selbst zum Gegenstand des Erken-
nens. Deshalb kann Eschenmayer sagen, dass hier »das Begreiffen
[…] in ein bloses Erkennen über[geht]«, da die Richtung auf ein
vom Bewusstsein verschiedenes Objekt, die im Begreifen noch erhal-
ten blieb, im Erkennen verschwindet, da der Erkennende es nur noch
mit seiner eigenen Erkenntnistätigkeit zu tun hat. 43 Er formuliert dies
auch noch so, dass hier »das Erkannte […] zugleich und unmittelbar
ein integrirender Theil des Erkennenden selbst ist«. 44 Das Erkannte
ist ein wesentlicher Teil des Erkennenden, d. h. ein solches, das nicht
weggenommen werden kann, ohne dass das Ganze, wovon es ein Teil
ist (in casu das Erkennende), dadurch selbst aufgehoben würde. So
möchte Eschenmayer die Identität von Erkennendem und Erkanntem
hier verstanden haben. Diese Identität kann Eschenmayer deshalb als
eine absolute bezeichnen, da das Erkennen hier losgelöst von aller
Beziehung auf ein äußeres Objekt betrachtet wird. Allerdings ist da-
mit die Subjekt-Objekt-Struktur nicht grundsätzlich aufgehoben. Sie
bleibt vielmehr in Kraft, indem bloß die Objektstelle jener Struktur
jetzt als durch das erkennende Subjekt selbst besetzt gedacht wird.
Nach Eschenmayer ist es Aufgabe der Philosophie, das Erkennen
zu begründen. Zwar operiert Eschenmayer mit dem Begriff einer in-
tellektuellen Anschauung, die er als Identität des Erkennenden und
des Erkannten bestimmt. Mit der Vollendung des Systems der Er-
kenntnis ist allerdings noch nicht erwiesen, dass die aus dem Ich ab-

weit niedrigern Potenz« integrierender Teil des Erkennenden ist. (Eschenmayer 1803,
24 (§ 31)) Das Erkannte ist im Begriff Teil des Erkennenden, insofern es stets durch
das Selbstbewusstsein vermittelt ist; es ist nur auf mittelbare Weise Teil desselben,
weil in ihm immer auch die Beziehung auf einen Gegenstand enthalten ist, der ihm
von außen, nämlich durch die Sinnlichkeit gegeben ist.
43 Eschenmayer 1803, 27 (§ 36).

44
Eschenmayer 1803, 24 (§ 31).

93
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

leitbaren Erkenntnisstrukturen auch Realität haben und mit der


Struktur der Welt übereinstimmen. Dazu bedürfte es eines Stand-
punktes außerhalb des Ich. Die Übereinstimmung der Strukturen
der Erkenntnis mit den Strukturen der Welt kann, so Eschenmayer,
nur durch Gott gewährleistet werden. Für uns kann sie nur Gegen-
stand eines Glaubens sein. Die Realität des Erkennens ist somit
unerweislich. Dass dabei die Subjekt-Objekt-Struktur im Grunde ge-
wahrt bleibt, geht am deutlichsten aus der Frage hervor, die Eschen-
mayer an diesem Punkt aufwirft: Zwar sind in der intellektuellen
Anschauung Erkennendes und Erkanntes identisch, aber wie gelan-
gen wir dazu, diese Identität nicht nur zu sein, sondern sie auch als
eine solche zu erkennen? Um die intellektuelle Anschauung selbst zu
erkennen und dadurch die Selbsterkenntnis des Menschen zu voll-
enden, bedarf es selbst noch eines weiteren Erkenntnisaktes.
Erst im Briefwechsel, der sich an die Veröffentlichung von Phi-
losophie und Religion anschließt, kommt Eschenmayer dazu, diese
Frage in aller Klarheit zu formulieren. Die intellektuelle Anschauung
ist, »eben weil es ein Schauen in das Absolute ist, selbst außer dem-
selben«, sie ist »der auf die Gleichheit des Nachbildes (Philosophie)
mit dem Urbilde (Vernunft) gerichtete Blik der Seele«. 45 Auch hier
tritt wieder die Seele als Träger jener Tätigkeit oder jenes Vermögens
hervor. Wichtiger ist, dass aus dieser Stelle hervorgeht, wie in der
eschenmayerschen intellektuellen Anschauung die für alles Erkennen
charakteristische Subjekt-Objekt-Struktur ganz erhalten bleibt. In
den jeweiligen Potenzen wechselt demnach nur dasjenige, was die
Subjekt- und Objekt-Stelle besetzt, während die Struktur selbst er-
halten bleibt. Während bei Sinnlichkeit und Verstand beide Stellen
durch verschiedene Entitäten besetzt werden, zeichnet sich die intel-
lektuelle Anschauung nur dadurch aus, dass die erkennende Instanz
hier sich selbst erkennt und dieselbe Entität somit beide Stellen be-
setzt. Aufgrund dieser Voraussetzung kommt Eschenmayer nun zu
seiner Frage:
[W]o ist alsdann das Auge noch, das die Gleichheit und Aehnlichkeit des
Urbildes mit dem Nachbilde – oder der Vernunft mit der entworfenen
Idee des Absoluten erkennt und anschaut? In der Vernunft, welche ganz
Object ist, liegt dies Auge nicht, es muß also über sie Hinaus liegen, und
dies ist der Grund, warum ich den letzten Anker der Philosophie über

45C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201;
Herv. v. Verf.

94
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

dem Absoluten in der Seele oder dem Glauben zu suchen gezwungen


war, und es als die Potenz des Seligen ausdrückte, weil sie wahrhaft über
das Erkennen und Wollen hinausliegt und nur als Andacht oder Glaube
sich offenbart. 46
Die intellektuelle Anschauung ist demnach das Vermögen, ein »ge-
treues Nachbild von dem Wesen der Vernunft als dem Urbild« zu
entwerfen. 47 Ob dieses ›Nachbild‹ nun auch tatsächlich dem ›Urbild‹
ähnlich und gleich ist, dies kann sie nicht mehr erkennen. Es ist dies
bloß eine »Forderung«, der sie Folge leistet, ohne dessen gewiss sein
zu können, ob sie dieser genügt. 48 Das Subjekt hat zwar das Ver-
mögen, die einzelnen Vermögen, deren Träger es ist, zu objektivieren,
nicht aber das Vermögen, sich selbst als Träger zu objektivieren. Als
solches kann es nur durch eine andere Instanz als sich selbst objekti-
viert werden. Den Glauben bestimmt Eschenmayer als die Erfahrung
des Subjekts davon, dass es Objekt dieser höheren Instanz ist. Des-
halb spricht er auch von einer ›intellectuellen Empfindung‹, weil ›An-
schauung‹ noch zu sehr etwas Objektives suggeriert. Diese Empfin-
dung ist derjenige »Act der Seele, in welchem sie die Vernichtung
aller Speculation in sich gleichsam empfindet«. 49 Die Seele ist Grund
oder Träger aller Spekulation und kann deshalb nicht selbst wieder
Objekt der Spekulation werden. 50 Ganz Objekt ist sie nur für Gott.

46 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109.


47 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109.
48
C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 10. August 1805, Fuhrmans, Briefe III,
228. – Darin dürfte auch der Grund zu suchen sein, weshalb Eschenmayer behauptet,
dass nach der »veränderte[n] Ansicht«, die »durch die Potenz des Seligen […] in das
System der Philosophie eingeführt werde«, die intellektuelle Anschauung in Gewis-
sen übergehe (Eschenmayer 1803, 15 (§ 21); vgl. Eschenmayer 1803, 2 (§ 3), 33 (§ 42),
35 (§ 44), 38 (§ 48)). Die theoretische Tätigkeit resultiert selbst aus dem Willen, einer
Forderung Folge zu leisten, oder aus Gewissenhaftigkeit.
49
C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f.
50 Vgl. auch die Bemerkung: »weil alle Speculation, als ein Theil der Seele, ihrer

Totalität nicht gleich kommt« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804,
Fuhrmans, Briefe III, 110). Anders gesagt: die Spekulation, als nur ein Teil der Seele,
kann niemals die Seele selbst, als Träger der Spekulation, in ihrer Totalität objekti-
vieren, sondern höchstens gewisse Teile derselben. In der intellektuellen Anschauung
ist nur der erkennende Teil der Seele (wozu Sinnlichkeit und Verstand gehören) in
seiner Totalität objektiviert. Dies scheint auch der Hintergrund folgender Bemerkung
zu sein: »Wäre die Vernunft das höchste, so müsste der Mensch ganz in Denken und
Handeln bestehen. Der physische Zustand des Philosophen müsste dem höchsten Akt
seiner Reflexion gleich werden, er würde sich in das auflösen, was er dächte und
handelte, und zuletzt selbst in die absolute Identität übergehen. So aber ist die Ver-

95
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Diese Objektivierung ihrer selbst durch eine höhere Instanz kann die
Seele selbst allerdings nur fühlen, ohne das Gefühlte in der Spekula-
tion artikulieren zu können.
In der intellektuellen Anschauung, so wie Eschenmayer sie ver-
steht, ist somit die grundsätzliche Differenz von Subjekt und Objekt
nicht aufgehoben. Sie impliziert zugleich, dass die Philosophie sich
selbst als Erkenntnis nicht zu rechtfertigen vermag. Sie beruht in
letzter Instanz selbst auf einem Glauben. Die Identität, auf welcher
sie aufbaut, ist ihr eine bloße Voraussetzung, von welcher sie selbst
keine Rechenschaft mehr abzulegen vermag. 51 Gerade diese Folge-
rung ist für Schelling ein klares Indiz dafür, dass die von Eschen-
mayer gemeinte Anschauung nicht im eigentlichen Sinne eine intel-
lektuelle genannt werden kann. Schelling richtet seine kritischen
Nachfragen deshalb genau gegen den eschenmayerschen Begriff der
intellektuellen Anschauung. Da dieser der intellektuellen Anschau-
ung selbst eine zentrale Rolle in seinem eigenen System zuweist, ha-
ben wir es hier nicht mit denjenigen zu tun, »welche nichts von einer
solchen wissen, und zu wissen vorgeben«, die, Schelling zufolge, we-
niger »Rücksicht« verdienen, sondern mit jemandem, der sich
»rühm[t], sie zu besitzen« und von dem demnach zu untersuchen ist,
ob er wirklich die »wahren Idee von ihr« hat oder nicht. 52 Schelling
hält sich an die Merkmale und Behauptungen, die Eschenmayer mit
der intellektuellen Anschauung verbindet, und untersucht sie auf
ihre Voraussetzungen und Implikationen hin. Als wesentliches
Merkmal derselben hatte Eschenmayer, wie gesehen, die Identität
von Erkanntem und Erkennendem herausgestellt. Oder, in seiner ei-
genen Formulierung: »das Erkennen […] erlöscht erst im Absoluten,
wo es mit dem Erkannten identisch wird«. 53 Da auch bei Schelling
mehrfach von einer Identität von Erkennendem und Erkanntem,
Idealem und Realem, Subjektivem und Objektivem die Rede ist, er-
weist es sich als besonders dringlich, zu prüfen, ob beide unter diesem
Ausdruck dasselbe verstehen. Ein Indiz dafür, dass Eschenmayer da-

nunft selbst nur ein Modus existendi der Seele, welche ihren Bestand im Glauben hat«
(Eschenmayer 1803, 105 (§ 99)). Auf dieser Annahme scheinen auch die Bedenken zu
beruhen, die Eschenmayer 1810 gegen Schellings Freiheitsschrift formuliert (vgl.
Eschenmayer 1813, 46 f. / SW VIII, 148 f.).
51 Dies ist auch nach Hegel die »Hauptschwierigkeit bei der Schellingschen Philoso-

phie« (GeschPh III, TWA 20, 436; vgl. GeschPh III, TWA 20, 435, 439 f., 445 f., 454).
52 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.

53
Eschenmayer 1803, 25 (§ 33); von Schelling 1804, 5 / SW VI, 18 zitiert.

96
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

mit einen anderen Begriff verbindet, sieht Schelling in der Folgerung,


die Eschenmayer daraus ziehen zu können meint. Eben weil in der
intellektuellen Anschauung Erkanntes und Erkennendes identisch
sind, kann dasjenige, »[w]as über diesen Punkt hinausliegt […] kein
Erkennen mehr seyn«. 54 Eschenmayers These lautet somit, dass et-
was über das Erkennen hinausgehen muss, wenn dieses selbst be-
gründet sein soll. Insofern das über das Erkennen Hinausgehende
von einer höheren Ordnung als das Erkennen ist, kann man es auch
als die Potenzierung des Erkennens bezeichnen.
Diese These ist der Nerv von Eschenmayers Argumentation.
Schelling beginnt damit, daran zu erinnern, dass der Begriff einer
intellektuellen Anschauung es verbietet, sich eine intellektuelle Tä-
tigkeit zu denken, die noch darüber hinausginge. Er bewahrt es für
später auf, zu untersuchen, ob Eschenmayer einen richtigen, jeden-
falls einen mit seinem, Schellings, übereinstimmenden Begriff der
intellektuellen Anschauung zugrunde legt, sondern hält sich zu-
nächst bloß an die einzelne Bestimmung, auf welche Eschenmayer
seinen Schluss stützt, dass nämlich in der intellektuellen Anschauung
das Erkennen im Absoluten erlischt oder dass in ihr Erkennendes und
Erkanntes identisch sind. Dabei versucht er zu zeigen, wie die Folgen,
die Eschenmayer mit dieser Annahme verbindet und deren er bedarf,
um von der Philosophie zur Nichtphilosophie überzugehen, in sich
widersprüchlich sind. Dadurch soll die grundlegende, oben angedeu-
tete Schwierigkeit seines Unterfangens durch ein Beispiel erläutert
werden. Zugleich soll es hier als exemplarisch angeführt werden.
Dem Leser bleibt es überlassen, weitere Fälle solcher Widersprüche
bei Eschenmayer aufzuspüren. Übrigens wird Schelling selbst im
Hauptteil der Schrift immer wieder auf solche Fälle hinweisen.
Eschenmayer hatte also behauptet, dass in der intellektuellen An-
schauung »das Erkennen […] erlöscht«. 55 Daraus hatte er geschlos-
sen, dass dasjenige, was über diese Anschauung hinausgeht »kein
Erkennen mehr seyn« kann und deshalb nur als ein Ahnen bezeich-
net werden kann, als ein Bewusstsein der prinzipiellen Grenze alles
menschlichen Wissens. Fraglich bleibt, wodurch die Annahme, dass
es etwas darüber hinaus geben muss, berechtigt ist. Nach Schelling ist
diese Annahme mit der Bestimmung der intellektuellen Anschauung
als ein ›Erlöschen‹ des Erkennens in Widerspruch. Wenn die intellek-

54 Eschenmayer 1803, 25 (§ 33).


55
Eschenmayer 1803, 25 (§ 33).

97
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

tuelle Anschauung eine absolute Erkenntnisart ist, dann kann nichts


darüber hinaus liegen, weil sie »durch ihre Natur« und nicht nur im
Verhältnis zu anderen Erkenntnisarten absolut und deshalb die
höchste ist, während jene stets eine Differenz voraussetzen. 56 Schel-
lings Argument lautet denn auch: »[J]edes ideale Verhältniss zu ihm«
oder jedes Verhältnis zum Absoluten, das von der Art des Erkennens
ist, »das über diesen Punct hinausliegt«, das also über die intellek-
tuelle Anschauung hinausginge, ist »nur durch eine Wiederauf-
erweckung der Differenz möglich«. 57 Wenn es Schelling gelingt, diese
Behauptung zu untermauern, hat er Recht, dass Eschenmayers Be-
stimmung widersprechend ist. Dazu unterscheidet er drei mögliche
Fälle. Diese laufen letztlich alle auf eine solche Differenz hinaus.
Im ersten Fall wäre das von Eschenmayer gemeinte Erkennen, das
im Absoluten ›erlischt‹, wirklich ein absolutes Erkennen, also ein sol-
ches, das wir als ein Selbsterkennen des Absoluten erkennen. Schel-
ling erwägt hier die Möglichkeit, dass Eschenmayer mit dem, was er
intellektuelle Anschauung nennt, den Sinn getroffen hat, den Schel-
ling mit diesem Begriff verbindet. In diesem Fall ist es jedoch ausge-
schlossen, dass eine »höhere Potenz als Glaube oder Ahndung etwas
Vollkommeneres und Besseres bringen« würde, »als in jenem Erken-
nen schon enthalten war«. 58 Der adäquate Begriff der intellektuelle
Anschauung schließt eo ipso die Möglichkeit einer noch höheren Er-
kenntnisart aus. Was ihm also entgegengesetzt wird, kann somit
keinesfalls eine höhere Potenz sein. In der Tat hatte Eschenmayer
zunächst Erkennen und Glauben voneinander unterschieden, dann
zudem behauptet, dass der Glaube nur als eine höhere Potenz des
Erkennens gedacht werden kann. Es erhebt sich damit die Frage, wie
Eschenmayer, angenommen, er wäre mit Schelling über den Begriff
der intellektuellen Anschauung einig, dennoch dazu kommen könnte,
eine noch höhere Erkenntnisart anzunehmen und wie er dazu
kommen kann, diese als Glaube oder Ahnung zu bezeichnen. Nach
Schelling ist dasjenige, was für eine höhere Potenz des absoluten Er-
kennens ausgegeben wird, nur »eine besondere Ansicht jenes all-
gemeinen Verhältnisses zum Absoluten, das im Erkennen durch Ver-
nunft am vollkommensten ist«. 59 Die angeblich höhere Erkenntnisart

56 Schelling 1802b, 2 / SW IV, 339.


57
Schelling 1804, 5 / SW VI, 18 f.
58 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.
59
Schelling 1804, 6 / SW VI, 19. Für eine solche besondere Ansicht oder für einen

98
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung

wäre selbst nur ein besonderer Fall der eigentlichen intellektuellen


Anschauung. Dieser Fall scheint bei Eschenmayer dadurch nahege-
legt, dass er die intellektuelle Anschauung als eine Objektivierung
der Ichheit bezeichnet. Für dieselbe hatte Schelling aber heraus-
gestellt, dass in ihr noch eine Differenz von empirischem und reinem
Bewusstsein ist. Die Folgerungen, die Eschenmayer aus seinem Be-
griff der intellektuellen Anschauung zieht, zeigen an, dass er mit die-
sem Ausdruck einen anderen Begriff verbindet als Schelling. Die in-
tellektuelle Anschauung, wie man sie Schelling zufolge denken muss,
erlaubt diese Folgerungen nicht. Wenn Eschenmayer demnach meint,
dass seine eigene Position mit derjenigen Schellings verträglich ist,
dann ist dies nur dadurch möglich, dass er Schelling einen anderen
Begriff der intellektuellen Anschauung unterschiebt. Wenn Schelling
dem eine ausführliche Erörterung widmet, dann steht dabei mehr auf
dem Spiel als bloß die Frage, ob Eschenmayer ihn recht verstanden
hat oder nicht. Das Vorgehen hat nach Schelling nämlich exemplari-
sche Bedeutung. In der Deutung der intellektuellen Anschauung, an
welcher Eschenmayer sich orientiert, sieht Schelling das einzig mög-
liche Argument, das gegen seine eigene Position vorzubringen wäre.
Nur indem man diese Anschauung wieder in einem ganz subjektiven
Sinn nimmt, kann man sie behaupten und zugleich behaupten, dass
noch über sie hinausgegangen werden muss. 60 Man könnte diesen

solchen besonderen Fall hält Schelling auch Fichtes intellektuelle Anschauung: Der
besondere Fall der Einheit von Erkennendem und Erkanntem ist mit einer Differenz
zwischen empirischem und reinem Bewusstsein gesetzt; »in intellectueller Anschau-
ung […] verschwindet die Form [der Ichheit, R. S.], als besondre Form« (Schelling
1802b, 23 / SW IV, 355). Hier gibt es nur eine relative Identität von Erkennendem
und Erkanntem (vgl. Schelling 1802b, 29 / SW IV, 359).
60 Vgl. Schelling 1803a, 149 / SW V, 278. Dieses Verfahren lässt sich beispielhaft am

Vorgehen Jaspers’ zeigen. Was bei ihm die Gestalt einer abweisenden Kritik annimmt,
enthält zugleich die Andeutung derjenigen Korrektur, die am schellingschen Denken
vorzunehmen wäre, um sie mit Jaspers’ Position verträglich zu machen. Auch Jaspers
baut seine Kritik auf eine Deutung der intellektuellen Anschauung auf. Auch er
schiebt Schelling einen Begriff unter, den dieser nicht mit diesem Ausdruck verbun-
den hat. Der Hauptpunkt von Jaspers’ Kritik ist darin zu sehen, dass Schelling Gott
vergegenständlicht. Die Annahme ist, dass auch die intellektuelle Anschauung ein
vergegenständlichendes Denken ist und dass auch in ihr die für alles Denken charak-
teristische Subjekt-Objekt-Spaltung nicht überschritten wird. Diese Struktur wäre
von Schelling, in dem Gebrauch, den er von der intellektuellen Anschauung machen
will, verschleiert worden. Deshalb ist es in kritischer Absicht nötig, daran zu erinnern,
dass auch in der intellektuellen Anschauung diese Spaltung bestehen bleibt. Damit ist
angenommen, dass in dieser Anschauung der Anschauende sich auf das Absolute

99
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Einwand auch den fichteschen Einwand nennen, da Schelling ihn


mehrmals in Zusammenhang mit Fichtes Position behandelt hat. 61
Da die intellektuelle Anschauung ›durch ihre Natur‹ die höchste Er-
kenntnisart ist, so kann das, was ihr auch immer entgegengesetzt
wird und angeblich über sie hinausgeht, nur eine Erkenntnisart nie-
derer Ordnung sein, die eben deshalb eine Differenz enthält und die
Subjekt-Objekt-Spaltung nicht überschreitet.
Als zweiten Fall betrachtet Schelling die Möglichkeit, dass im ab-
soluten Erkennen nicht alle Differenzen aufgehoben wären und die
intellektuelle Anschauung, wie Eschenmayer sie versteht, sich wei-
terhin innerhalb der Subjekt-Objekt-Struktur bewegt. Während im
ersten Fall ein Gegensatz zwischen der intellektuellen Anschauung
und einem besonderen Fall von ihr angenommen wird, da wird sie
hier mit diesem besonderen Fall identifiziert. Dass auch nach Eschen-

(oder Gott) als auf einen Gegenstand bezieht. Unterschlagen wird dabei, dass das
Kennzeichnende dieser Anschauung eben darin besteht, dass sie sich auf das An-
geschaute nicht als auf einen Gegenstand bezieht, sondern das Absolute als die Mate-
rie oder den Stoff des Denkens entdeckt. Dies hatte Jaspers übrigens selbst hervor-
gehoben, scheint es allerdings dort wieder zu vergessen, wo er zur Kritik übergeht.
Wenn das Denken in der intellektuellen Anschauung sich auf das Absolute nicht als
auf einen Gegenstand, sondern als auf seine eigene Materie bezieht, dann verfehlt der
Einwand, wonach in diesem Denken Gott objektiviert oder vergegenständlicht wird,
allerdings sein Ziel. Es dürfte kaum zufällig sein, dass Jaspers Schelling wiederholt
vorwirft, die wesentliche Einsicht Kants ›preisgegeben‹ zu haben (Jaspers 1955, 78,
129 f., 176 f., 192, 194, 197–210, 313–323). Jürgen Habermas hat somit wohl Recht,
wenn er bemerkt, »wie sehr Jaspers’ Existentialismus ein Neukantianismus ist«
(Habermas 1971, 105).
61 Schelling 1802b, 21–29 / SW IV, 353–359. Dass Jaspers gerade diesen Einwand

gegen Schelling geltend zu machen sucht, geht mit aller nur wünschenswerten Deut-
lichkeit aus folgender Stelle hervor: »In der Situation unseres Denkens ist die Sub-
jekt-Objekt-Spaltung, d. h. daß wir, was immer wir denken, im meinenden Gerichtet-
sein auf das Gedachte erfassen, unüberwindlich. […] [W]as immer wir erfahren, was
wir umgreifend sind als Dasein, als Geist, als mögliche Existenz, und was wir als diese
ergreifen, was wir sind als Vernunft und als solche ins Offene wenden, alles muß im
Medium des ›Bewußtseins überhaupt‹ eine Weise der Gegenständlichkeit gewinnen,
um mittelbar zu werden […]. Schelling steht in der Reihe derer, die den Grundtat-
bestand unseres Denkens nicht zu wollen scheinen: daß alles Gedachte in der Subjekt-
Objekt-Spaltung ein gegenständliches bleibt, daß alle Kategorien zum Bewußtsein
überhaupt gehören«. Auch hier scheint Jaspers eine frühere Behauptung vergessen
zu haben, wonach »der Versuch, die intellektuelle Anschauung aus dem Bewußtsein
und aus Bewußtseinserscheinungen zu widerlegen oder zu beweisen, fehlschlagen
[muß]«, da er in der oben zitierten Stelle eben dies versucht: die intellektuelle An-
schauung dadurch zu widerlegen, daß an den »Grundtatbestand« alles Bewußtseins,
nämlich die Subjekt-Objekt-Spaltung, erinnert wird (Jaspers 1955, 205, 80).

100
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

mayers Selbstverständnis die intellektuelle Anschauung die Subjekt-


Objekt-Spaltung nicht wirklich überschreitet, wurde bereits aus
Eschenmayers oben angeführter Frage klar, wo »alsdann das Auge
noch [ist], das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem
Nachbilde – oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absolu-
ten erkennt und anschaut?« Sie enthält den eigentlichen Grund, wes-
halb er in seiner Bestimmung der intellektuellen Anschauung ein
Argument für den Übergang zum Glauben sehen konnte.

3. Das negative Verfahren:


Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Die bisherige Erörterung hatte vor allem eine vorbereitende Absicht.


Deshalb handelt Schelling sie auch in der Einleitung ab. Die intellek-
tuelle Anschauung, wie Schelling selbst sie verstanden wissen will,
wird erst im ersten Abschnitt erörtert. Der Grund, weshalb Eschen-
mayer auf den Glauben verweist, ist im Gegenstand des Glaubens zu
suchen. Dieser ist Gott. Dieser soll als »unerkennbar und über unser
ganzes Vernunftsystem unendlich erhaben« behauptet werden: »Gott
ist für die Vernunft ganz unerreichbar, und doch ganz offenbar im
Glauben«; »Gott ist über alle Spekulation unendlich erhaben und jen-
seits des Absoluten«. 62 Es ist durchaus folgerichtig, wenn Eschen-
mayer ein solches Verhältnis zu Gott als Glaube oder Ahnung be-
zeichnet, wenn man darunter eine Beziehung versteht zu etwas, das
sich zwar bekundet, ohne durch Begriffe ganz erfasst werden zu kön-
nen. 63 Das Was des Sich-Bekundenden bleibt unserem Zugriff entzo-
gen. Wenn Eschenmayer in der Folge auch von weiteren Gegenstän-
den, wie der Freiheit des Willens, der Tugend, der Unsterblichkeit,
behauptet, dass sie »der Spekulation entrückt« sind, dann kann er dies
nur insofern, als sie mit Gott zusammenhängen. 64 Nur insofern Gott
als unerkennbar behauptet wird, kann die Befugnis der Philosophie
auch im Bereich des Praktischen bestritten werden. Es ist denn auch
durchaus folgerichtig, wenn Eschenmayer bemerkt, dass die Nicht-

62 Eschenmayer 1803, 32 (§ 40), 33 (§ 41), 52 f. (§ 43); vgl. Eschenmayer 1803, 25


(§ 33).
63 Vgl. auch die Äußerung über die »intellectuelle Empfindung« als »Act der Seele, in

welchem sie die Vernichtung aller Speculation in sich gleichsam empfindet« (C. A.
Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f.).
64
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).

101
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

philosophie bei näherer Betrachtung als eine Theologie bezeichnet


werden muss. Dann ist die Unterscheidung von Absolutem und Gott,
die Bestimmung Gottes als ein »jenseits des Absoluten« der Nerv der
Position Eschenmayers. 65 Nur aus dieser Unterscheidung erhält sie
ihre Konsistenz, auf diese zielt alles hin, nur insofern man sie mit
jener in Verbindung bringt, lässt sich der Sinn seiner Behauptungen
überhaupt erschließen. Es zeugt denn auch durchaus von einem kla-
ren Wissen dessen, was er will und was er tut, wenn Eschenmayer in
einem späteren Brief bemerkt, dass die Behauptung, Gott sei über
alles Erkennen »unendlich erhaben« »die wahre Absicht meiner letz-
ten Schrift« enthält, »welche mit ihr steht und fällt«. 66 Bereits in der
Schrift über die Nichtphilosophie hatte Eschenmayer hervorgehoben,
dass diese »verloren« ist, wenn sie sich durch die Philosophie zu Be-
weisen auffordern lässt und dass »die geringste Spekulation« die
»Reinheit« des Glaubens »verderbt«. 67
Dies hat Schelling klar gesehen und erkannt, dass es nicht nur
Eschenmayers Absicht gemäß, sondern für dieselbe geradezu un-
abdingbar ist, diese Unterscheidung einzuführen und zu behaupten.
Damit ist die Behauptung der Unerkennbarkeit Gottes von einem
Begriff des Absoluten abhängig gemacht. In letzterem sieht Eschen-
mayer das Mittel, eine der Spekulation entrückte Nichtphilosophie
abzustützen. 68 Insofern dieser Begriff noch zum Gebiet der Philoso-
phie gehört, muss er auch einer philosophischen Rechtfertigung fähig

65
Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 31 (§ 39), 53 (§ 43), 53 (§ 44), 56 (§ 46), 41 (§ 50), 58
(§ 65); vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33), 32 (§ 40). Auch Jaspers’ Kritik stützt sich auf
diese Unterscheidung, die er als die Unterscheidung zwischen der Transzendenz und
deren ›Chiffern‹ bestimmt. Er ordnet Schelling gerade deshalb der Gnosis, d. h. einem
»gegenständliche[n] Erkennen des Übersinnlichen« zu, weil dieser die ›Chiffern‹ der
Transzendenz für die Transzendenz selbst hält (Jaspers 1955, 130). Schelling habe es
versäumt, die »Objektivitäten, die selber Gott zu sein beanspruchen, zu Chiffern«
herabzusetzen, und habe dadurch »[d]ie Transzendenz […] verschleiert« (Jaspers
1955, 216, 210). Er habe »den Gottesgedanken eigentlicher Transzendenz zum Ver-
schwinden« gebracht, da »Gott absolut verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit
entzieht« (Jaspers 1955, 218, 184).
66 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110.

67 Eschenmayer 1803, 44 (§ 52), 41 (§ 50); Herv. v. Verf.

68 Darin scheint Eschenmayer in der Tat mit Jacobi einig, insofern dieser »die Bedin-

gungen, an welche die begriffliche Erkenntnis gebunden ist, […] absichtlich so refor-
muliert« hat, dass »der Gottesgedanke solchem Denken nicht mehr zugänglich ist«.
Damit wird die »Annahme der Unerreichbarkeit des Gottesgedankens für das Denken
[…] zum Kriterium der Richtigkeit […] des Gottesbegriffs« (Kauttlis 1994, 2). Ob-
wohl Eschenmayer behauptete, Jacobi zur Zeit der Abfassung seiner Schrift noch

102
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

sein und ist damit einer philosophischen Überprüfung ausgesetzt.


Während der Begriff Gottes ›der Spekulation entrückt‹ ist und dem-
entsprechend nicht im strengen Sinne bewiesen werden kann, so gilt
dies nicht vom Begriff des Absoluten. Hier ist auch der Nichtphilo-
soph zu Beweisen bzw. Argumente verpflichtet, die ohne Rekurs auf
den Glauben überzeugen können müssen. Es entspricht denn auch
durchaus Eschenmayers Absicht, wenn Schelling im ersten Abschnitt
die Unterscheidung von Gott und Absolutem oder die Idee des Abso-
luten ins Zentrum der Auseinandersetzung rückt.
Schelling fängt mit zwei Hinweisen an. Erstens kann es »über dem
Absoluten nichts höheres geben«, da »diese Idee nicht zufälliger Wei-
se, sondern ihrer Natur nach jede Begränzung ausschliesse«. 69 Die
Behauptung, dass es etwas Höheres als das Absolute gibt, lässt sich
nicht aufrechterhalten, ohne auch die Implikation zu unterschreiben,
dass es durch jenes begrenzt oder eingeschränkt wird. Die Implikation
jener Behauptung erweist sich aber als mit dem, was analytisch in der
Idee eines Absoluten enthalten ist, in Widerspruch. Deshalb bemerkt
Schelling, dass er sich nicht vorstellen kann, was Eschenmayer unter
einem Absoluten, das doch nicht Gott wäre, versteht, da man einen
Widerspruch nicht denken kann. 70 Zweitens bemerkt Schelling, dass
Eschenmayer nicht vermeiden kann, auch Gott das Merkmal der Ab-
solutheit zuzusprechen. Damit gäbe es zwei Entitäten, von welchen
dieses Merkmal zu prädizieren wäre. Dies ist nur insofern möglich,
als man die Absolutheit als einen Gattungsbegriff versteht, der eine
Klasse von Dingen bezeichnet. Wenn sich auch zeigen würde, dass in
diese Klasse nur ein einziges Ding fällt, dann käme diesem Ding die
Einzigkeit doch nur zufälligerweise zu. Der Begriff selbst schlösse
nicht aus, dass es mehrere Dinge gäbe, denen die Absolutheit zu-
gesprochen werden könnte. 71 Angenommen, dass es zwei Absolute
gibt, stellt sich demnach die Frage nach der differentia specifica bei-
der. Die Bestimmung der Absolutheit gestattet aber überhaupt keine
Verwendung als Gattungsbegriff. 72 Das Argument läuft demnach in
zwei Richtungen: Zum einen wird gefragt, wie die Gleichsetzung des
Absoluten mit Gott zu verhindern wäre, zum anderen wird gezeigt,

nicht gelesen zu haben, hat man ihm bei deren Erscheinung die Absicht einer Ver-
söhnung zwischen Schelling und Jacobi zugeschrieben (vgl. Jantzen 1994, 82).
69 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; Herv. v. Verf.

70
Schelling 1804, 54 / SW VI, 51.
71 Vgl. Schelling 1802b, 43, 54 / SW IV, 367, 375.

72
Vgl. Schelling 1804, 8 / SW VI, 21.

103
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

wie sich nicht verhindern lässt, die Absolutheit von Gott zu prädizie-
ren. Beide Argumente zielen darauf ab, einen Widerspruch aufzude-
cken zwischen dem, was eine Begriffsanalyse der Idee des Absoluten
ergibt, und den Implikationen, die Eschenmayer dennoch damit ver-
binden will. Daraus geht nach Schelling klar hervor, »dass Eschen-
mayer bey dem Absoluten etwas ganz anderes denkt als ich dabey
denke«. 73
Bereits diese Begriffsanalyse bringt Widersprüche ans Licht, die in
Eschenmayers Unterscheidung impliziert sind. Diese Widersprüche
sind offensichtlich, 74 da sie sich aus einer bloßen Analyse von Eschen-
mayers Behauptungen und deren Implikationen ergeben. Nun be-
gnügt Schelling sich nicht damit, diese Widersprüche aufzudecken.
Wenn diese derart ›offenbar‹ sind, dann fragt sich, weshalb Eschen-
mayer sie dennoch hat übersehen können. Er hat sie wohl deshalb
nicht bemerkt, weil er einer »Täuschung« unterlegen ist. 75 Diese Täu-
schung hat zunächst einen subjektiven Grund, der in Eschenmayers
»Absicht« besteht, »ausser der Philosophie einen leeren Raum zu er-
halten, welchen die Seele durch Glauben und Andacht ausfüllen
könnte«, oder die Subjektivität zu retten. 76 Dieser Absicht kommt
die eschenmayersche These auch entgegen. Trotz ihrer offensicht-
lichen Falschheit scheint jene Unterscheidung auf den ersten Blick
nämlich nicht ganz unplausibel. Dies deutet darauf hin, dass jene
Täuschung auch einen ›objektiven‹, in der Sache selbst wurzelnden
Grund hat: Die Idee des Absoluten ist gleichursprünglich mit einem
natürlichen Schein, der zur genannten Täuschung verführt und da-
rauf aufbauenden Behauptungen eine gewisse Plausibilität verleiht.

73 Schelling 1804, 54 / SW VI, 51.


74 Vgl. »Nun ist zwar an sich offenbar« (Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; Herv. v.
Verf.).
75
Schelling 1804, 8 / SW VI, 21.
76 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; vgl. Schelling 1802c, IX, XIV / SW V, 7, 11. An

anderer Stelle sieht Schelling im »Eschenmayersche[n] Glaube[n] nur ein[en] Ver-


such, die Subjektivität zu retten« (SW VI, 153). Diese Formulierungen weisen eine
gewisse Ähnlichkeit mit einigen Sätzen aus Hegels Abhandlung über Glauben und
Wissen auf, wo ebenfalls von einem »unendliche[n] leere[n] Raum des Wissens« die
Rede ist, der »nur mit der Subjectivität des Sehnens und Ahndens erfüllt werden
kann« (GuW, TWA 2, 289; vgl. GuW, TWA 2, 376, 382). Besonders diese Abhandlung
hat Schelling mehrmals zustimmend zitiert (vgl. Schelling 1806a, 25 / SW VII, 36;
Schelling 1812, 54, 60 / SW VIII, 49, 52). Bereits der Titel der Schrift über Philoso-
phie und Religion entspricht wenigstens formal dem Titel der hegelschen Abhand-
lung.

104
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Deshalb kann Schelling auch sagen, dass man dem »Irrthum«, wozu
diese Täuschung verführt, »fast nothwendig« unterliegt, was bei
einer bloß subjektiven Täuschung nicht der Fall wäre. 77 Die Sache
selbst ist demnach von der Art, dass sie von Natur aus zu einer sol-
chen Täuschung verführt, der man, wenn man nicht äußerste Vor-
sicht übt, ›fast nothwendig‹ erliegt. Damit ist dreierlei gesagt: Erstens
resultiert die Unterscheidung von Absolutem und Gott aus einer Täu-
schung, der man dann erliegt, wenn man nicht genügend beachtet,
wie man zur Idee des Absoluten gelangt. Zweitens muss es möglich
sein, diese Täuschung als eine solche zu durchschauen und ihr somit
nicht zu verfallen. Schließlich muss man davon Rechenschaft geben
können, weshalb man ihr dennoch so leicht verfällt, dass man jene
offenbar widersprüchlichen Behauptungen nicht bemerkt. Es stellt
sich daher die Frage, was »es also seyn [mag], das der Idee des Abso-
luten in derjenigen Vorstellung anhängt, welche es zwar als absolut,
aber doch nicht zugleich als Gott anerkennt?« 78
Allerdings dürfte man bereits der Rede von einem Absoluten und
von einer besonderen Erkenntnisart eine gewisse Skepsis entgegen-
bringen. Vor allem der Gedanke, in der Philosophie oder im Wissen
ein Absolutes zu suchen, dürfte befremden. Indessen wäre zu fragen,
ob diese Skepsis, falls sie sich gegen die Idee des Absoluten überhaupt
und als solche richtet, nicht verfehlt wäre. Wenn Schelling bemerkt,
dass die Philosophie »von dem Unbedingten auszugehen habe«, 79
dann knüpft er damit lediglich an die kantische Behauptung an, dass
die Metaphysik einer Naturanlage des Menschen entspringt und dass
sie sich mit Fragen beschäftigt, die die »menschliche Vernunft […]
nicht abweisen kann« (KrV, AA 4, 7; Herv. v. Verf.). Dem entspricht
auch, dass Schelling zu jenem Satz lediglich durch eine Begriffsana-
lyse der konstitutiven Aufgabe der Philosophie gelangt. Falls es Auf-
gabe der Philosophie ist, die Realität unseres Wissen zu begründen,
kann sie diese Aufgabe auf keine andere Weise zu erledigen hoffen,
als dass sie von einem Unbedingten oder Absoluten anfängt.
Wer die Skepsis gegen die Idee eines Absoluten schlechthin rich-
ten möchte, müsste somit behaupten, dass die Metaphysik sich mit
Scheinfragen beschäftigt, die wir abweisen könnten, statt dass die

77 Schelling 1804, 9 / SW VI, 21; Herv. v. Verf.


78
Schelling 1804, 8 f. / SW VI, 21.
79 Schelling 1802b, 21 / SW IV, 353; vgl. bereits F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel,

2. April 1795, AA III,1, 22.

105
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

metaphysischen Fragen aus einer Naturanlage des Menschen erwach-


sen und mit der Vernunft selbst gegeben sind. Dem hält Schelling
entgegen, dass der Mensch von sich aus ein Absolutes sucht oder
setzt. Wer metaphysische Fragen als sinnlos oder unlösbar zurück-
weist und stattdessen auf die Erfahrung verweist, hätte damit die Er-
fahrung selbst als ein Absolutes gesetzt, worüber es nichts Höheres
gibt und das als unausgesprochener »Maasstab der Wahrheit« gilt. 80
So wenig muss er jedenfalls behaupten, wenn er die Behauptung
eines Absoluten überhaupt unterminieren möchte. 81 Es dürfte nicht
ohne Bedeutung sein, dass dieses auch durch den Skeptiker angesetz-
te Absolute durchwegs unausgesprochen bleibt. Auch der Skeptiker
scheint demnach das Absolute nicht so leicht loszuwerden. Wohl des-
halb versucht er vielmehr Zweifel an der Lösbarkeit dieser Fragen
anzumelden. Bezweifelt wird dann nicht, dass diese Fragen mit der
Natur der Vernunft verwoben sind, sondern nur dass diese über die
geeigneten Mittel verfügt, sie auch einer Lösung zuzuführen. Die
These Schellings, die Philosophie habe vom Absoluten anzufangen,
ist also mit einer solchen Skepsis nicht unvereinbar. Nichts verhin-

80 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. In der Philosophie hat man »nicht so sehr auf
diejenigen Rücksicht zu nehmen, welche nichts von einer solchen [absoluten Erkennt-
nisart, R. S.] wissen, und zu wissen vorgeben, als auf diejenigen, welche sich rühmen,
sie zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben, und denen mit der wahren
Idee von ihr nothwendig auch sie selbst mangelt. Wollten wir unter absoluter Er-
kenntniss überhaupt nur eine solche verstehen, über welche es in irgend einer Bezie-
hung keine höhere giebt, so müssten wir zugeben, dass jeder, auch der gemeine Ver-
stand, im Besitz einer solchen seye« (Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339). Und: »Jeder ist
von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen« (SW IV, 357; Zusatz im Handexem-
plar; Herv. v. Verf.).
81 In den Ferneren Darstellungen nimmt Schelling durchgängig Rücksicht auf solche

skeptischen Einwände (vgl. Schelling 1802b, 18, 40 / SW IV, 351, 365 f.). Bereits in
Vom Ich stellt er seinen eigenen Lösungsvorschlag als Glied einer Alternative auf:
»Entweder muß unser Wissen schlechthin ohne Realität […] seyn […], oder – Es
muß einen lezten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt« (AA I,2, 85; Herv. v.
Verf.). Wenn nachher nur das zweite Glied dieser Alternative verfolgt wird, so darf die
Alternative darüber doch in keinem Augenblick vergessen werden. Die einzig kon-
sequente Alternative zu Schellings Ansatz wäre somit im Skeptizismus zu finden.
Alle Zwischenformen müssen in letzter Instanz zu einer dieser beiden zurückführen.
Deshalb bemerkt Schelling, dass »dieser Kriticismus mit der leichtesten Mühe unmit-
telbar zum Skepticismus umgearbeitet werden konnte« (Schelling 1802b, 18 / SW IV,
351); sein eigenes System hingegen sieht er als eine Umarbeitung in der anderen
Richtung. Deshalb heißt es auch, dass die Philosophie »eben dadurch, daß sie von
jenem absoluten Erkennen ausgeht, zugleich ihren Selbstbeweis [führt]« – gegen die
skeptische Alternative (SW IV, 371; Zusatz im Handexemplar).

106
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

dert, zuzugeben, dass die Philosophie, wenn sie denn ihre Aufgabe
erfüllen soll, von einem Unbedingten auszugehen habe, dem aber
gleich hinzuzufügen, dass es der menschlichen Vernunft nicht gege-
ben ist, den Zugang zu diesem Absoluten zu finden.
Die Frage ist demnach nicht, ob die Philosophie vom Absoluten
anzufangen habe oder nicht, sondern vielmehr, wie wir den Zugang
zu diesem Absoluten finden und, damit zusammenhängend, wie wir
uns dessen vergewissern können, dass dasjenige, das wir als Absolu-
tes setzen, auch tatsächlich ein solches ist. Es bedarf somit eines Kri-
teriums, durch welches wir versichert sein können, dass unser An-
fangspunkt auch wirklich das Absolute ist und das uns gleichzeitig
erlaubt, unzutreffende Begriffe des Absoluten als solche einzusehen
und als unrechtmäßig zurückzuweisen. Es ist somit nicht so, dass
Schelling sich gleich anfangs sozusagen im Absoluten ansiedelt und
sich damit begnügt, sich auf eine – schwer nachvollziehbare – An-
schauung zu berufen, um die Richtigkeit seiner Idee des Absoluten
zu behaupten. Vielmehr gewinnt die Frage nach dem Zugang zum
Anfang an Dringlichkeit. 82 Es ist demnach nicht möglich, sich gleich
anfangs auf diesen Punkt zu stellen, sondern es gilt nur, den Weg
dahin so schnell wie möglich zu finden.
Diese Frage meint Schelling mittels einer Begriffsanalyse lösen zu
können. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass es genügt, eine Frage
nur ausreichend klar zu formulieren, um auch die Antwort zu ent-
decken, oder dass die Frage in sich bereits die Elemente ihrer Lösung
enthält. Wenn es zutrifft, dass die Metaphysik eine Naturanlage ist,
dann muss jeder wenigstens eine vage, noch unentwickelte Idee des
Absoluten haben. Eine solche vage Idee des Absoluten kann auch der
Skeptiker zugeben, solange er allein die Lösbarkeit der metaphysi-
schen Fragen bestreitet. Von dieser vagen Idee ausgehend, untersucht
Schelling, welche formalen Merkmale sich aus derselben gewinnen
lassen. Diese Begriffsanalyse zielt somit zunächst lediglich darauf
ab, solche formalen Merkmale herauszuarbeiten. Diese Merkmale er-
lauben es, uns darüber zu vergewissern, dass das von uns angesetzte
Absolute auch ›wirklich‹ das Absolute ist, und falsche Prätendenten
auf diesen Titel auszuscheiden. 83 An diesem Punkt könnte die Skepsis

82 So auch Korsch 1980, 106.


83
In diesem Zusammenhang ist es durchaus von Bedeutung, dass Schelling in seiner
Auseinandersetzung mit Eschenmayer ständig schwankt zwischen der Annahme, dass
sie auf bloßen Missverständnissen, also auf bloß terminologischer Unklarheit beruht,

107
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

ansetzen. Aus der vagen Idee können wir folgende Kriterien gewin-
nen: Erstens muss aus der (entwickelten) Idee selbst einsehbar sein,
dass sie eine adäquate Idee des Absoluten ist. Dadurch gibt sie uns,
zweitens, auch ein Kriterium an die Hand, zwischen solchen, die sie
wirklich haben, und falschen Prätendenten, »welche sich rühmen, sie
zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben« zu unter-
scheiden. 84 Schließlich muss sich aus der adäquaten Idee selbst er-
geben, dass von ihr auszugehen sei und dass das Absolute nicht als
Resultat, als Noumenon oder als bloßes Gedankending gedacht wer-
den kann.
Zunächst ist zu bemerken, dass Schelling nicht nur eine Reihe von
Behauptungen über die Idee des Absoluten aufstellt, sondern dass er
diese durchgängig mit Anweisungen darüber verknüpft, wie man zu
derselben gelange und wie man mit ihr umzugehen habe. 85 Wenn
Eschenmayer somit das Absolute von Gott unterscheiden zu müssen
glaubt, dann ist dies in erster Linie auf einen Mangel an Aufmerk-
samkeit und Vorsicht zurückzuführen. 86 Schelling stellt denn auch
nicht Eschenmayers Auffassung vom Absoluten schlechthin die eige-
ne entgegen, sondern er versucht ihn vielmehr darauf aufmerksam zu
machen, wie er dazu gekommen ist, das Absolute so zu denken, dass
er es als von Gott verschieden ansehen zu müssen meint. Die zur
Konstruktion der Idee des Absoluten zu durchlaufenden Schritte sind
deshalb mit einer Reflexion über das, was man dabei tut, verwoben.
Damit hat Schelling dem Leser zugleich einen Fingerzeig gegeben,
wie er mit dessen früheren Darstellungen umzugehen habe (s. u.).
Obwohl der widersprüchliche Charakter von Eschenmayers Behaup-
tungen offensichtlich ist, so dürften sie so lange plausibel scheinen,

und dem Verdacht, dass Eschenmayer unter dem Begriff des Absoluten etwas ganz
anderes denkt, als Schelling darunter verstanden haben will, in welchem Fall es sich in
der Debatte um eine sachliche Differenz handelt.
84 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.

85
»Diejenigen, welche zu der Idee des Absoluten durch die Beschreibung, welche der
Philosoph davon giebt, gelangen wollen, fallen fast nothwendig in diesen Irrthum«
(Schelling 1804, 9 / SW VI, 21). Und: »weil man […] durch Vermittlung seiner [sc.
Spinozas, R. S.] – Definitionen und Beschreibungen, zur Erkenntniss dessen gelangen
wollte, was von allen Gegenständen allein nur unmittelbar erkannt werden kann«
(Schelling 1804, 13 / SW VI, 24).
86 Vgl. Schelling 1804, 10 f. / SW VI, 23: »So wenig sie bemerken«, »so wenig fällt es

ihnen auf«, »Es entgeht ihnen nicht minder«: Dieser dreifachen Unachtsamkeit ent-
sprechen drei Überlegungen, die bei der Suche nach einer adäquaten Idee des Absolu-
ten anzustellen sind (s. u.).

108
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

als man die Unterscheidung zwischen negativem und positivem Ver-


fahren missachtet. Zwischen Absolutem und Gott könnte man nur
insofern unterscheiden, als man das Absolute mit den (negativen)
Ausdrucksformen gleichsetzt, Gott aber mit dem Wesen, das sich in
diesen Formen ausdrückt. Wenn Eschenmayer seine Unterscheidung
so verstanden haben will, so ist ihm Recht zu geben, dass das negative
Verfahren einer Ergänzung bedarf. 87 Es wäre allerdings irreführend,
diese Ergänzung als Glauben zu bezeichnen. 88 Die Unterscheidung
zwischen negativ und positiv soll dazu beitragen, den Schein zu
durchschauen, und dies sowohl in dem Sinne, dass man ihn als Schein
durchschaut (statt ihm zu erliegen), als auch, dass man versteht, wie
er entstehen kann und muss. Der Schein besteht nun darin, das Ab-
solute als Produkt oder Synthese zu betrachten. Diese Ansicht enthält
den Hauptfehler, gegen welchen Schelling sich in dem ersten Ab-
schnitt von Philosophie und Religion immer wieder richtet.
Das Verständnis dieses ersten Abschnitts wird nun allerdings da-
durch erheblich erschwert, dass Schelling ›negativ‹ und ›positiv‹ in
unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. So besteht das negative
Verfahren zunächst darin, etwas mittels Negation zu beschreiben
oder dem Beschriebenen das Gegenteil von bestimmten Prädikaten
zuzuschreiben. Die Beschreibung bezeugt also vielmehr die Unmög-
lichkeit einer Beschreibung, da wir es nur per oppositum beschreiben
können. Deshalb bringt sie denn auch »nie das Absolute selbst, in
seiner wahren Wesenheit, vor die Seele«, da sie uns nur lehrt, wie
wir es auf jeden Fall nicht zu denken haben. 89 Das Verfahren ist dem-
nach auch insofern negativ, als es das Falsche zurückweist oder eine
Reihe von möglichen positiven Bestimmungen auszuschließen er-
laubt. 90 Die Beseitigung solcher Hypothesen schränkt aber gleichzei-
tig die Richtung ein, in welcher das Absolute, ›seiner wahren Wesen-
heit‹ nach, zu suchen ist. Das negative Verfahren ist somit keineswegs
überflüssig, sondern hat einen eigenen informativen Wert. Durch es
wird die Richtung, in welcher wir zu suchen haben, präziser und be-

87 Vgl. Schelling 1804, 16 / SW VI, 26.


88 Vgl. Schelling 1804, 18 / SW VI, 27.
89 Schelling 1804, 9 / SW VI, 22.

90 So auch Fischbach, 2000, 146, 151: »Ce sur quoi Schelling insiste cependant par-

ticulièrement, c’est sur l’idée que ce procédé de division est en même temps un pro-
cédé d’élimination«; »la dialectique progresse en supprimant les hypothèses« (Herv. v.
Verf.).

109
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

stimmter. Durch es erhalten wir die formalen (oder negativen) Bedin-


gungen, denen das Absolute zu genügen hat.
Dies stellt Schelling gleich in einer ersten Überlegung heraus. 91 Er
unterscheidet zwei mögliche Erkenntnisweisen des Absoluten. Die
erste nennt er die Erkenntnis durch Beschreibung. Eine solche liefert
nur negative oder extrinsische Eigenschaften, d. h. solche, die einem
Ding zwar aufgrund seiner Natur zukommen, ohne jedoch diese Na-
tur selbst oder ›seine wahre Wesenheit‹ auszudrücken. Sie beschrei-
ben bloß, ohne uns das Beschriebene erkennen zu lassen. Deshalb
können sie auch nicht dazu verwendet werden, zwei Dinge voneinan-
der zu unterscheiden. Diese extrinsischen Merkmale dienen nun zu-
gleich als formale Kriterien: Wenn sie auch nicht das Wesen selbst
ausdrücken, so müssen sie sich in der Folge doch als aus der Wesens-
bestimmung notwendig folgend erweisen. Dadurch scheidet eine sol-
che angebliche Wesensbestimmung, aus welcher sich die negativen
Bestimmungen nicht als notwendig ergeben, als geeigneter Kandidat
von vornherein aus. Anders gesagt: Das Absolute ist nicht durch diese
negativen Bestimmungen dasjenige, was es ist (eben absolut), aber es
kann dies (sc. absolut) nicht sein ohne dieselben. Diese formalen Kri-
terien lassen sich nun allerdings durch einen Vergleich mit dem
Nicht-Absoluten gewinnen. Dabei ist zu beachten, dass Schelling
diese Beschreibung mittels Reflexionsbegriffen durchführt. Diese un-
terrichten uns nicht von der Beschaffenheit eines Dings, sondern
drücken das Verhältnis einer Vorstellung zu unserem Erkenntnisver-
mögen aus. Absolutes und Nicht-Absolutes unterscheiden sich durch
ein unterschiedliches Verhältnis zu unserem Erkennen. Dies erhellt
auch aus den Beispielen, die Schelling anführt:
So wird das Nichtabsolute z. B. als dasjenige erkannt, in Ansehung des-
sen der Begriff dem Seyn nicht adäquat ist, denn eben, weil hier das
Seyn, die Realität nicht aus dem Denken folgt, vielmehr zu dem Begriff
noch etwas nicht durch selbigen Bestimmtes hinzukommen muss, wo-
durch erst das Seyn gesetzt wird, ist es ein Bedingtes, Nichtabsolutes. 92

91 In der Erstausgabe werden die erste und zweite Überlegung in einem einzigen
langen Absatz behandelt (der dritte Absatz des ersten Abschnitts). In den Sämmt-
lichen Werken ist der Abschnitt anders gegliedert. Hier findet sich die erste Über-
legung im dritten bis fünften Absatz, während der Übergang zur zweiten Überlegung
und diese selbst sich im sechsten Absatz finden. Die dritte Überlegung findet sich in
der Erstausgabe in den Absätzen 4 bis 9, in den Sämmtlichen Werken in den Absätzen
7 bis 12 (hier stimmt die Gliederung der beiden Ausgaben wieder überein).
92
Schelling 1804, 9 / SW VI, 22.

110
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Das Nicht-Absolute zeichnet sich dadurch aus, dass zu seinem Begriff


immer noch die Erfahrung hinzukommen muss, um ihm seine objek-
tive Realität zu sichern. Die Eigenschaften, welche ein Nicht-Absolu-
tes vollständig bestimmen, lassen sich nicht erschöpfend aus seinem
Begriff gewinnen. Vielmehr sind wir auf die Erfahrung angewiesen,
da ein solches Nicht-Absolutes nur insofern vollständig bestimmbar
ist, als wir auch die Verhältnisse mit berücksichtigen, in welchen es zu
anderen Dingen steht. Alles, was sich so zu unserem Erkenntnisver-
mögen verhält, dass wir auf die Erfahrung angewiesen sind, um die
Realität seines Begriffs zu sichern, ist eben dadurch nicht absolut.
Denken und Sein, aber auch Allgemeines und Besonderes, Subjekti-
ves und Objektives, Ideales und Reales sind solche Reflexionsbegriffe,
die lediglich das Verhältnis einer Vorstellung zu unserem Erkennt-
nisvermögen anzeigen. Auf diese Weise lässt sich durch die Negation
dieser Reflexionsbegriffe ein formales Kriterium der Absolutheit ge-
winnen: Ein Absolutes kann nicht von der Art sein, dass es ein solches
Verhältnis zu unserem Denken hätte. 93
Diese Verfahrensweise legt allerdings das Missverständnis nahe,
dass das Absolute als Synthese oder Produkt jener Gegensätze zu ver-
stehen sei. Hierin liegt nach Schelling der Hauptfehler. Dieser unter-
läuft einem immer dann, wenn der negative Charakter des beschrei-
benden Verfahrens übersehen wird. Dies führt Schelling zu einer
zweiten Überlegung. Das negative oder beschreibende Verfahren
kann nur insofern einen Beitrag zur Bestimmung des Absoluten lie-
fern, als es mit der intellektuellen Anschauung verbunden wird.
Ohne dieselbe führt das negative Verfahren selbst in die Irre. Nur
insofern dieses in die intellektuelle Anschauung eingebunden wird,
liefert es einen Beitrag zur Bestimmung der Idee des Absoluten. Beim
bloß negativen Verfahren könnte es nämlich noch scheinen, als ob
dadurch die Möglichkeit einer solchen Verknüpfung oder Synthese
nicht ausgeschlossen wäre. Die negative Beschreibung und die intel-
lektuelle Anschauung sind demnach nicht zweierlei Verfahren, die
unabhängig voneinander angewandt werden könnten. Nach einer
solchen Deutung wäre es möglich, die negative Beschreibung ohne

93 Das negative Verfahren scheint demnach dem »Scheitern der Kategorien« zu ent-
sprechen; daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass sich »im Scheitern des
Denkens durch Denken« dasjenige zeigt, »was nicht gedacht werden kann«, es sei
denn, man nimmt die Subjekt-Objekt-Spaltung als »Grundtatbestand unseres Den-
kens« an (Jaspers 1955, 145, 195; vgl. Jaspers 1955, 191, 205).

111
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Rekurs auf die intellektuelle Anschauung anzuwenden, so wie es


möglich wäre, das Absolute direkt anzuschauen ohne Rekurs auf das
negative Verfahren.
Dies wird noch am deutlichsten durch die dritte Überlegung. Diese
macht sich die Beobachtung zu Nutze, »wie die sämmtlichen Formen,
in denen das Absolute ausgesprochen werden kann, und in denen es
ausgesprochen ist, sich auf die drey einzig möglichen reduciren, die in
der Reflexion liegen, und die in den drey Formen der Schlüsse aus-
gedrückt sind«. 94 Die Art von Schellings Vorgehen verdient hier be-
sondere Beachtung: »Die erste Form des Setzens der Absolutheit ist
die categorische«. 95 Diese erste Form behandelt Schelling recht knapp,
wohl deshalb, weil er diese bereits in der ersten Überlegung ausführ-
lich behandelt hatte. Diese hatte nämlich ergeben, dass »das Absolute
[…] uns nur als die Negation jener Gegensätze die absolute Identität
beyder« ist. 96 Damit war, erstens, gesagt, dass das Absolute nicht als
›Identificirung‹ oder Synthese jener Gegensätze die absolute Identität
beider ist: Das Absolute ist nicht deren Identität, insofern es beide
zugleich wäre. Wenn, zweitens, das Absolute nur als Negation der
Gegensätze die absolute Identität derselben ist, so kann es nur, inso-
fern es weder das eine noch das andere ist, als Identität beider be-
stimmt werden. Dies ist so zu verstehen: Das kategorische Urteil ver-
fährt nach der Kategorie von Substanz und Akzidens. In der
kategorischen Setzungsform haben wir den Versuch, das Absolute
als eine Substanz zu denken. Gesucht wird, welche Akzidenzien dem-
selben zugesprochen werden können. Als mögliche Prädikate kom-

94 Schelling 1804, 11 / SW VI, 23. Hiermit greift Schelling ein Ergebnis der kanti-
schen transzendentalen Dialektik auf. Dort wurden die Schlussarten als Leitfaden zur
Auffindung der Ideen genommen, in Analogie zur transzendentalen Analytik, wo die
Urteile als Leitfaden zur Auffindung der Kategorien dienten. Dadurch finden wir nur
die Ausdrucksformen des Absoluten, nicht das Absolute selbst. – Dies geht auch her-
vor aus der Behandlung der Lehre von den Schlussformen in den Würzburger Vor-
lesungen, wo es von Kants Lehre der Antinomien heißt, diese ist »ohne allen Zweifel
der speculativste Theil seiner Kritik« (SW VI, 527). – Schelling verweist in einer Fuß-
note (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) selbst auf eine Stelle im Bruno, wo er den
»unseligste[n] Misgriff« darin sieht, »diese dem Verstand untergeordnete Vernunft«
(in den Schlussformen) »für die Vernunft selbst zu halten«, d. h. zu meinen, dass die
Ausdrucksformen des Absoluten im Verstand bzw. der Reflexion uns eine Erkenntnis
des Wesens des Absoluten selbst geben könnten (Schelling 1802a, 165 / SW IV, 300).
Es ist dies der erste Hinweis auf eine präzise Bruno-Stelle in Philosophie und Religion.
95 Schelling 1804, 11 / SW VI, 23.

96
Schelling 1804, 10 / SW VI, 22.

112
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

men die Reflexionsbegriffe (subjektiv-objektiv, ideal-real usw.) in Be-


tracht. Keines dieser Prädikate verträgt sich aber mit der Forderung
der Absolutheit, da man dem Absoluten dadurch ein Verhältnis zu
unserem Denken zuschreiben würde, das mit dem Begriff der Abso-
lutheit nicht verträglich ist. In dieser Form kann das Absolute dem-
nach nur negativ, dadurch dass Bestimmungen von ihm negiert wer-
den, beschrieben werden. 97
Von dieser Form sagt Schelling auch, dass sie den Gegensatz durch
Verneinung desselben aufhebt. 98 Der Gegensatz ist der zwischen Sub-
jektivem und Objektivem, die als einander kontradiktorisch ent-
gegengesetzt gedacht werden, sodass hier ein Entweder-Oder statt-
findet. Es scheint zunächst, dass alles, was ist, sich nur auf eine
dieser beiden Weisen zu unserem Denken verhalten kann, sodass da-
mit eine erschöpfende Alternative gegeben ist. Alles, was ist, soll sich
zu unserem Denken entweder als ein Subjektives (als ein bloßes Ge-
dankending) oder als ein Objektives (das eine Unabhängigkeit gegen-
über demselben behauptet oder als etwas außer demselben sich be-
kundet) verhalten, wenn der Gegensatz ein kontradiktorischer ist.
Wenn wir das Absolute aber als ein Subjektives betrachten, entsteht
ein Widerspruch: Diese Verbindung hebt die Absolutheit auf. Han-
delt es sich bei jener Alternative um einen kontradiktorischen Gegen-
satz, dann wäre aus jenem Widerspruch unmittelbar auf die Wahrheit
des Entgegengesetzten zu schließen. Dann müsste das Absolute sich
als ein Objektives zu unserem Denken verhalten. Auch hier entsteht
jedoch ein Widerspruch. Wenn nun beide Fälle in einem Widerspruch
resultieren, dann ist der Gegensatz zwischen Subjektivem und Ob-
jektivem wenigstens kein kontradiktorischer und erschöpfender: Wir
können nicht von der Falschheit des einen auf die Wahrheit des ande-
ren schließen. Oder, wie Schelling es formuliert: der Gegensatz (als
ein kontradiktorischer) wird aufgehoben durch die Verneinung, dass
hier ein kontradiktorischer Gegensatz stattfindet. 99 Der Gegensatz

97 In der Darstellung schließt Schelling daraus, dass die absolute Vernunft sich zu
ihrem Gegenstand nicht als ein Subjektives zu einem Objektiven verhält, dass dieser
Gegenstand unter dem formellen Gesetz A = A steht (vgl. AA I,10, 116 (§ 1), 118
(§ 4)).
98 Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 24.

99 So auch Tilliette 1992, 485: »L’identité prédiquée de l’Absolu peut être déterminée

négativement comme un Weder … noch des contraires issus de la réflexion. Cette


définition négative a pour but d’éliminer la conception de l’Absolu comme synthèse,
composition, produit« (Herv. v. Verf.).

113
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

findet auf das Absolute keine Anwendung. Es gibt demnach einen


dritten Fall, den wir zunächst nur negativ beschreiben können, näm-
lich dass das Absolute sich weder als ein Subjektives noch als ein
Objektives zu unserem Denken verhält. Diese Bestimmung des Ab-
soluten ist nun insofern negativ, als durch sie das Falsche ausgeschlos-
sen wird: Das Absolute als ein Subjektives oder als ein Objektives zu
bestimmen, ist beides gleich falsch. Es ist demnach als Identität aller
Gegensätze zu bestimmen, wenn auch nur in dem Sinne, dass alle
Entgegengesetzten, vom Absoluten prädiziert, zu gleich falschen
Aussagen Anlass geben. Nur im Zusammenhang mit der intellektu-
elle Anschauung sind wir berechtigt, daraus zu schließen, dass das
Absolute weder das eine noch das andere ist. Sonst wäre es ebenso-
wohl möglich, daraus zu schließen, dass es beide zugleich, sowohl das
eine als auch das andere ist. Nur die intellektuelle Anschauung ver-
hindert, dass wir das Absolute als eine Synthese denken.
Dies führt uns zur zweiten Schlussart. In dieser soll ein Mittel
gefunden werden, zu einer positiven Bestimmung des Wesens dessen,
dem die Eigenschaft des Absoluten zugeschrieben werden muss, zu
gelangen. Diese zweite Form ist die hypothetische, nach Grund und
Folge. Die Prädikate subjektiv und objektiv können dem Wesen nicht
zugeschrieben werden (nach der ersten Form). Die Zurückstoßung
dieser Prädikate durch das Wesen kann selbst nur eine Folge dessel-
ben sein und muss somit ihren Grund in diesem Wesen selbst haben.
Wenn demnach »ein Subject und ein Object ist« und wenn das We-
sen, wie wir aus dem ersten Fall wissen, an sich weder Subjekt noch
Objekt ist, dann kann das Wesen nur »das gleiche Wesen beyder«
sein, dasjenige, was die Identität beider begründet. 100 Von diesem We-
sen können wir nur die Identität prädizieren. Subjektivität und Ob-
jektivität sind danach keine Prädikate, die unmittelbar vom Wesen
ausgesagt werden können, sondern vielmehr Ausdrucksformen des-
selben. Während im ersten Fall der Gegensatz dadurch aufgehoben
wurde, dass er verneint wurde (auf das Absolute nicht anwendbar ist),
so wird er hier »durch Bejahung seines Gegentheils« aufgehoben. 101

100 Schelling 1804, 12 / SW VI, 23. Wir haben hier erst eine Identität von Subjektivi-
tät und Objektivität, noch keine Identität ohne alle weitere Bestimmung (vgl. Schel-
ling 1802b, 58 / SW IV, 378; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; vgl. auch die »Recapitu-
lation« im Handexemplar der Ferneren Darstellungen, SW IV, 391).
101
Schelling 1804, 12 / SW VI, 24.

114
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Nur im Unterschied zur ersteren kann Schelling diese Bestimmung


an dieser Stelle als eine ›positive‹ bezeichnen.
In einem dritten Schritt schließlich gelangen wir zu der Einsicht,
dass diese Ausdrucksformen nicht etwas sind, das wir an das Absolute
herantragen, oder dass sie demjenigen, was sich in ihnen ausdrückt,
nicht irgendwie äußerlich wären, sondern dass dieses absolut identi-
sche Wesen selbst nicht sein könnte, was es ist (nämlich absolut iden-
tisch), wenn es sich nicht in solchen gleichen Formen ausdrückte. Nur
ein solches, das sich in zwei gleich möglichen Formen ausdrückt, sich
zugleich aber als das sich in diesen Ausdrückende von denselben un-
terscheidet, erfüllt die Anforderungen, die im Begriff der Absolutheit
enthalten sind. Die Idee des Absoluten ist demnach eine Mannigfal-
tigkeit, an welcher immer drei Aspekte zu unterscheiden sind: a) das
Wesen oder das Sich-Ausdrückende (das nur als absolute Identität
bestimmt werden kann), b) die Form, in welcher es sich ausdrückt,
c) dasjenige, als was es sich in diesen Formen ausdrückt (andernorts
auch ›das Seyn‹ genannt: subjektiv oder objektiv).
Es ist denn auch nicht zufällig, wenn Schelling die Schlussarten,
die ursprünglich am Leitfaden der Relationskategorien gewonnen
wurden (wie aus der Bezeichnung als kategorischer, hypothetischer
und disjunktiver Schluss hervorgeht), mit den Modalitätskategorien
in Verbindung bringt. 102 Dies ist insofern berechtigt, als an dieser
Stelle besonders das Verhältnis des Absoluten zu unserem Denken
betrachtet wird. So haben wir es in der ersten Schlussform mit einer
reinen Denkmöglichkeit zu tun: Wenn es ein Absolutes gibt, dann
kann es dies nur insofern sein, als es sich seinem Wesen nach weder
als ein subjektives noch als ein objektives zu unserem Denken ver-
hält. Da in den beiden ausgeschlossenen Fällen sich ein Widerspruch
ergibt, so besteht die einzige Möglichkeit, überhaupt ein Absolutes zu
denken, darin, es als dem Wesen nach weder das eine noch das andere
zu denken. Diese negative Bestimmung kann aber nur als ein Mo-
ment angesehen werden, das von sich aus auf ein weiteres Moment
drängt. In der zweiten Form denken wir es als eine Wirklichkeit oder
als eine positive Bestimmung. Es wird geschlossen, dass ein Wesen,
das sich in solchen Formen (Subjekt – Objekt) ausdrückt, nur dasselbe
102Dies wird dort besonders deutlich, wo Schelling den kategorischen Schluss als die
»Form der durch Möglichkeit gesetzten Wirklichkeit«, den hypothetischen als »die
Form der durch Wirklichkeit gesetzten Möglichkeit« und den disjunktiven als »die
Form der durch Möglichkeit und Wirklichkeit gesetzten Nothwendigkeit« bestimmt
(SW VI, 526).

115
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Wesen sein kann, das sich einmal als Subjekt, das andere Mal als
Objekt zeigt. In der dritten Form werden beide ersten Formen zusam-
mengeführt, woraus sich eine Denknotwendigkeit ergibt. Etwas kann
nur auf eine solche Weise weder das eine (subjektiv) noch das andere
(objektiv) sein und dennoch das gleiche Wesen beider, dass es sich in
beiden gleicherweise ausdrückt, dass man beide als seine Attributen
versteht und dass diese beiden (subjektiv und objektiv) auch die ein-
zig möglichen sind (d. h. dass die Disjunktion erschöpfend ist). Hier-
mit haben wir eine Denknotwendigkeit gefunden und zugleich die
Natur des Absoluten, nämlich dass es dem Wesen nach eine absolute
Identität ist, die sich ausschließlich in der Form von zwei gleich abso-
luten Formen darstellen kann und muss. Subjekt und Objekt sind
völlig gleiche Ausdrucksweisen dieses Wesens: Das Absolute selbst
ist somit nur, indem es sich auch in diesen Formen ausdrückt und
darstellt. Das Absolute muss bald ganz subjektiv, bald ganz objektiv
gedacht werden. Hieran zeigt sich auch, wie die drei Ausdrucksfor-
men nicht einfach nebeneinander stehen, als drei alternative Aus-
drucksmöglichkeiten des Absoluten, sondern dass sie in eine Denk-
bewegung eingebunden sind. Die Beschreibung mittels der drei
Schlussarten zerlegt die Idee des Absoluten in Momente. Das Positive
erhält man erst dann, wenn man sieht, dass es sich in der Tat bloß um
Momente handelt, durch welche ein und dasselbe bestimmt wird. Der
unerlässliche Beitrag der intellektuellen Anschauung besteht darin,
diese Momente eben als Momente zu verstehen. Eine Undeutlichkeit
entsteht allerdings daraus, dass Schelling die Unterscheidung von ne-
gativ und positiv hier noch in einem anderen Sinn als oben angegeben
einsetzt. Zum einen wird die Beschreibung als negativ, die intellek-
tuelle Anschauung als positiv unterschieden. Das heißt: Alle drei
Schlussarten sind negativ, da sie alle nur formal sind und zudem je-
weils nur ein Moment der Idee des Absoluten enthalten. Erst auf-
grund der intellektuellen Anschauung, die diese drei Formen als Mo-
mente in der Bestimmung jener Idee zusammenbringt, erhalten sie
eine positive Bedeutung. Zum anderen wird die erste Schlussart als
negativ, die zweite als positiv unterschieden. Zu beachten ist schließ-
lich, dass entsprechend jeder Schlussart ein anderer Begriff von Iden-
tität hervortritt. Die Reflexion über die erste Schlussart ergibt eine
Identität als Negation von Gegensätzen, die zweite als das Gegenteil
eines Gegensatzes, die dritte als eine innere, unmittelbare Identität. 103

103
Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 23 f.

116
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Die Einsicht in die Negativität der Beschreibung oder des negati-


ven Verfahrens ist nichts anderes als die Einsicht in die Notwendig-
keit einer Ergänzung desselben durch ein Verfahren, das nicht nur
extrinsische Merkmale des Absoluten zu Tage fördert, sondern es
seiner inneren Artikulation nach erfasst. Aus der Einsicht in jene
Negativität ergibt sich bereits, dass jene Ergänzung nur den Charak-
ter einer Anschauung haben kann, d. h. derartig verfasst sein muss,
dass die Erkenntnis der formalen Struktur des Absoluten zugleich
eine Erkenntnis des Wesens, d. h. eines Singulären, ist, während die
durch das negative Verfahren erfassbaren formalen Charakteristika
diese in der Abstraktion des dadurch bestimmten Wesens erfassen.
Dass diese Charakteristika in der Tat die Erkenntnis eines Singulären
liefern, zeigt sich durch die Überlegung, dass das Absolute kein Gat-
tungsbegriff sein kann und dass die durch die Analyse des Begriffs der
Absolutheit gewonnenen Merkmale nur einem Einzigen zukommen
können. Die Beschreibung muss somit durch irgendeine Anschauung
ergänzt werden, wenn die beschriebene Sache überhaupt Realität ha-
ben und mehr als ein bloßes Gedankending sein soll, das nur im Ver-
hältnis zu demjenigen, der sie denkt, Realität hat. Ohne eine solche
Anschauung würde sich der Denkende zu dieser ›Sache‹ bloß subjek-
tiv als zu einem Gedachten verhalten. Zugleich kann diese Anschau-
ung nur eine intellektuelle sein, da nur das Nicht-Absolute in einer
sinnlichen Anschauung gegeben sein kann. Anschauung heißt sie,
weil sie sich auf ein Singuläres bezieht, intellektuell, da dieses Singu-
läre nicht in der Erfahrung gegeben ist, sondern die Vernunft von sich
aus auf ein solches bezogen ist. Auf diese Weise kann auch derjenige,
der der intellektuellen Anschauung nicht fähig ist oder dem sie
sozusagen nicht aus eigener Erfahrung vertraut ist, dennoch zur Ein-
sicht darin gebracht werden, dass nur unter Voraussetzung einer
solchen Anschauung die Aufgabe der Philosophie erfüllt werden
kann. 104 Eschenmayers Unterscheidung zwischen dem Absoluten
und Gott hat demnach einen gewissen Grund. Sie zeigt an, dass auch
er die Notwendigkeit gesehen hat, das negative Verfahren durch ein
anderes Verfahren zu ergänzen. Ihm fehlt indessen die Einsicht in den
eigenen Charakter des negativen Verfahrens. Nur deshalb kann er die
Ergänzung als Glauben bezeichnen.
Um die angegebenen formalen Kriterien zu gewinnen, bedarf es

104Damit ist das Verfahren charakterisiert, das Schelling in den Ferneren Darstellun-
gen anwendet, vgl. Schelling 1803c, 34 f. / SW IV, 412.

117
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

somit noch keiner intellektuellen Anschauung. Das Verfahren ge-


schieht hier durch bloße Begriffsanalyse. Es erlaubt indessen nur, die
formalen Kriterien zu gewinnen, denen das Absolute zu genügen hat.
Das negative Verfahren ist demnach weder als ungenügend zurück-
zuweisen noch als eine Alternative zum positiven Verfahren denkbar,
sondern es ist unabdingbar und muss dem positiven Verfahren voran-
gehen. Zugleich dient es dazu, die gewohnte Denkeinstellung, in
welcher wir »gleichsam verhärtet« sind, schrittweise abzubauen und
so eine Dimension des Denkens freizulegen, die in der gewohnten
Denkeinstellung verborgen bleibt (AA I,10, 131; vgl. AA I,10, 117). 105
Dadurch soll es auch verhindern, in den ›Irrthum‹ zu verfallen, Gott
als vom Absoluten verschieden zu denken, in den man sonst ›fast
nothwendig‹ verfällt. Solange man das Absolute nämlich sucht, ohne
hinlänglich über die zulässigen und zielführenden Mittel zu reflektie-
ren, bringt man bei dieser Suche Reflexionsbegriffe zur Anwendung,
ohne zu bedenken, dass ein Absolutes, das ein solches Verhältnis zu
unserem Denken hätte, nicht mehr als ein Absolutes bezeichnet wer-
den könnte. Hieraus ergibt sich auch, dass die Reflexionsbegriffe nur
eine negative Anwendung erlauben. Diese Einsicht verbindet sich un-
mittelbar mit derjenigen, wonach das Absolute nur für eine andere
Erkenntnisart erschließbar ist. 106 In derselben verhalten wir uns zum
Gedachten nicht mehr als zu einem Gegenstand, sondern als zur
Materie oder Stoff unseres Denkens. 107 Diesen hat es nicht erst außer
sich, sondern entdeckt es in sich, wenn es vom objektivierenden
Verhalten abstrahiert oder dieses abbaut. Es sind dies, wie wir im
nächsten Kapitel noch ausführlicher sehen werden, die Ideen oder

105 Vgl. dazu Buchheim 1990, 327–331, 334–336.


106 Den engen Zusammenhang zwischen der Einsicht in den negativen Charakter des
ersten Verfahrens und der notwendigen Ergänzung durch die intellektuelle Anschau-
ung signalisiert Schelling durch die Parallele »So wenig […] so wenig« (Schelling
1804, 10 / SW VI, 23).
107 Dies hat Karl Jaspers richtig bemerkt, scheint es dann aber bei seinen weiteren

Ausführungen wieder zu vergessen (vgl. Jaspers 1955, 78). – Deshalb konzentriert


sich Schellings Auseinandersetzung mit Reinhold fast ausschließlich auf dessen Be-
hauptung, dass der ›Stoff‹, auf welche die absolute Identität angewendet wird, dieser
äußerlich ist (Schelling 1802b, 3 f. / SW IV, 341; Schelling 1803c, 25 / SW IV, 406;
Schelling 1802d, 42, 45, 48, 54 f., 60 f., 77 f. / SW V, 45, 47, 49, 53 f., 57, 69). Auch
Temilo van Zantwijk hat hierin einen »wirklich tragfähiger Kritikpunkt an Reinholds
eigenem Programm« gesehen, der, »auch gemessen an Reinholds eigenem Ausgangs-
punkt, berechtigt« ist (van Zantwijk 2002, 176).

118
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott

Potenzen. 108 Die Vernunft hat es dabei mit lediglich virtuellen ›Ge-
genständen‹ zu tun. 109 Diese Virtualisierung geht nicht mit einem
Verlust der Realität des Denkens einher, sondern eröffnet erst den
Bereich einer in diesem präzisen Sinn absoluten Realität, d. h. einer
Realität des Gedachten, die durch das Denken desselben unmittelbar
gewährleistet wird. Hiergegen, so Schelling, könnte nur der oben re-
ferierte fichtesche Einwand geltend gemacht werden. 110

108 Deshalb ermöglicht die Einsicht in die Struktur der Idee des Absoluten auch eine
Wissenschaft, vgl. Schelling 1803, 3–33 / SW IV, 391–411.
109 Darauf hat besonders Thomas Buchheim insistiert: »Die Nichtunterscheidung von

virtuellen und wirklichen Gegenständen des Denkens bei Schelling führt zu gravie-
renden Mißverständnissen seiner Philosophie« (Buchheim 1992, 68 f.). Vgl. damit
eine Stelle wie: »Wesentlich zur Erkenntniss der wahren Philosophie ist dieses abso-
lute Getrennthalten der erscheinenden Welt [worin wir es ausschließlich mit wirk-
lichen Gegenständen zu tun haben, R. S.] von der schlechthin realen [d. h. die Welt der
Ideen oder der virtuellen Gegenstände, R. S.]« (Schelling 1802b, 73 / SW IV, 388; von
Schelling 1804, 52 / SW VI, 49 f. zitiert). Nach Louis van Bladel kann man Schelling
nur dann eine schöpfungstheologische Intention unterschieben, wenn man »immer-
während den […] Unterschied zwischen der ewig-realen und der raum-zeitlichen,
wirklichen Welt [vernachlässigt]« (van Bladel 1965, 53). Diese Konfusion von wirk-
lichen und virtuellen Gegenständen schreibt Schelling Reinhold zu: Sie zeigt sich ins-
besondere an dessen Gleichsetzung von ›Konstruktion‹ und ›Ableitung‹ (vgl. Schel-
ling 1802b, 3 f. / SW IV, 340 f.; Schelling 1803c, 4 f., 10 f. / SW IV, 392 f., 396 f.).
Reinhold sucht ein Prinzip, aus welchem sich die wirkliche Welt ableiten ließe; diese
ist aber gar nicht Gegenstand oder Ziel der Konstruktion. Ihren Grund hat diese Ver-
wechslung in der Verwechslung einer absoluten oder Vernunftidentität mit einer bloß
logischen oder Verstandesidentität (vgl. Schelling 1802b, 10 / SW IV, 345). Vgl auch
die Hauptthese von Pierre Lévy: »le virtuel ne s’oppose pas au réel mais à l’actuel [das
wirklich Existierende, R. S.]« (Lévy 1995, 13). Gerade die Mathematik dient Schelling
als Beispiel eines Denkens, das es lediglich mit solchen virtuellen Gegenständen zu
tun hat. So bemerkt Karl Jaspers zu Recht, dass die intellektuelle Anschauung als das
»Konstruktionsfeld« zu denken ist, »in dem die metaphysischen Denkfiguren wie die
geometrischen im Raum entwickelt werden« (Jaspers 1955, 78).
110
Vgl. Schelling 1802b, 44, 55 f. / SW IV, 368, 376. Auch das Argument, das Karl
Jaspers wiederholt gegen Schelling vorbringt, ist im Grunde kantisch-fichtescher Pro-
venienz. So z. B.: »Wie auch immer ich die Transzendenz denke oder vorstelle, ich
ziehe sie durch Denkbarmachen und Bildwerden in diese Welt der gegenständlichen
Dinge«. Und: »[D]ieses, eine Sache als sie selbst ergreifende Denken kann das Sach-
werden dessen, was keine Sache ist, nicht ohne Täuschung erzwingen. Es kann in
Kategorien nicht einfangen, was über alle Kategorien hinaus liegt« (Jaspers 1955,
176). Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Denken unvermeidbar
vergegenständlichend oder objektivierend ist. Es müsste somit gezeigt werden, dass es
die von Schelling behauptete ›andere Erkenntnisart‹ nicht gibt, was Jaspers jedenfalls
bloß behauptet, nicht begründet. Insbesondere hätte er zu zeigen gehabt, dass Schel-
ling in der Tat Reflexionsbegriffe auf das Absolute anwendet und damit dem trans-

119
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche


Darstellungen

Wenn Schelling bemerkt, dass »[d]iejenigen, welche zu der Idee des


Absoluten durch die Beschreibung, welche der Philosoph davon giebt,
gelangen wollen, […] fast nothwendig in diesen Irrthum [fallen]«,
dann darf man darin auch eine Warnung sehen an solche, die sich
des Gegenstandes der Philosophie über den Weg der Texte bemächti-
gen wollen, in welchen der Philosoph diesen verhandelt. 111 Schelling
gibt dem Leser indessen deutlich genug zu verstehen, dass Philoso-
phie und Religion zunächst als eine Erläuterung zu früheren Schrif-
ten gedacht ist. Dabei geht er von den Missverständnissen eines ein-
zelnen Lesers aus, der in dieser Hinsicht allerdings als exemplarisch
gelten kann. Philosophie und Religion enthält somit keine wissen-
schaftliche Darstellung von Schellings System. Dieses soll hier nicht
seiner immanenten Logik nach dargestellt werden, sondern Schelling
geht hier vielmehr elenktisch vor, indem er ständig auf mögliche
Missverständnisse und Einwände Rücksicht nimmt. Auch Philoso-
phie und Religion soll demnach das System der Philosophie »ge-
näherter auch dem Verständniss der noch weniger Eingeweihten«
darstellen. 112 Solche Darstellungen ›mit beständigen kritischen Bezie-
hungen‹ oder eben im Verhältnis zu anderen Positionen hatte Schel-
ling bereits mehrere veröffentlicht. Als genuin wissenschaftliche Dar-
stellung hat er sogar nur eine einzige Schrift ausgezeichnet, die
Darstellung meines Systems der Philosophie. 113
Schelling hat immer wieder auf den wissenschaftlichen Charakter
der Darstellung von 1801 insistiert und ihr gerade deswegen einen
besonderen urkundlichen Wert zugeschrieben. 114 Der wissenschaft-

zendentalen Schein unterliegt. Stattdessen unterschlägt Jaspers den Unterschied zwi-


schen Begriffen und Ideen, ohne ein Argument dafür aufzubieten, dass auch das Den-
ken von Ideen das Gedachte objektiviere. Auch deshalb ist es so bedeutsam, dass
Schelling das kantische Theoriestück des transzendentalen Scheins integriert.
111 Schelling 1804, 9 / SW VI, 21; vgl. Schelling 1804, 9, 17 / SW VI, 22, 26 f.

112 Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361.

113 Die Würzburger Vorlesungen wie auch die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst

scheinen eine Mischform zu sein: Der Anlage nach wird auch hier das System seiner
immanenten Logik nach entfaltet, begleitet aber von ständigen kritischen Beziehun-
gen, die in Anmerkungen und Erläuterungen ausgelagert werden. Die Vorlesungsform
nötigt zwangsläufig dazu, auf die Vormeinungen der Zuhörer Rücksicht zu nehmen.
114 Vgl. Schelling 1812, 6 / SW VIII, 25. Alle späteren Hinweise auf die Darstellung

sind gesammelt in AA I,10, 73–75 (Ed. Bericht).

120
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

liche Charakter derselben liegt in erster Linie darin, dass hier die ein-
zelnen Schritte, die man bei der Darstellung dieses Systems zu durch-
laufen habe, ihrem inneren Zusammenhang nach präsentiert werden.
Er ist somit nicht so sehr in der Nachahmung der von Spinoza ge-
borgten Darstellungsform zu suchen, der doch als Muster nur für
die »Weise der Darstellung« des Systems dient (AA I,10, 115; Herv.
v. Verf.). Wenigstens war Schelling der Meinung, dass diese Darstel-
lungsweise am meisten dazu geeignet war, eine wissenschaftliche
Darstellung seines Systems zu bieten, weil sie »die größte Kürze der
Darstellung verstattet« und dadurch »die Evidenz der Beweise am
bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10, 115). 115 In einer späten
Erklärung erkennt Schelling der Darstellung meines Systems zudem
deshalb als der einzig »streng wissenschaftliche[n]« Darstellung eine
Sonderstellung zu, weil in ihr »das Wort intellektuelle Anschauung
gar nicht vorkommt« (SW X, 147; erste Herv. v. Verf.). In der Tat
muss auffallen, wie in allen Darstellungen aus dieser Zeit mehr oder
weniger ausführlich die intellektuelle Anschauung erörtert wird,
außer in der genannten wissenschaftlichen Darstellung. Man könnte
deshalb leicht geneigt sein, in jener späten Erklärung einen Widerruf
jener anderen, sich auf eine intellektuelle Anschauung angeblich be-
rufenden Darstellungen zu sehen, zu Gunsten eines Verfahren, das
angeblich ohne dieselbe auskommt. 116 Allerdings hat Schelling bereits
in den Ferneren Darstellungen die Darstellung von 1801 als die
»strengwissenschaftliche« bezeichnet, und zwar weil in ihr, wie in
jeder streng wissenschaftlichen Konstruktion (wofür ihm an dieser
Stelle besonders die Geometrie als Modell dient), »die intellectuelle
oder Vernunftanschauung etwas Entschiednes« ist, »worüber kein
Zweifel statuirt oder Erklärung nöthig gefunden wird«. 117 In einer
streng wissenschaftlichen Darstellung wird an der intellektuellen An-
schauung, als der Voraussetzung, auf welcher sie beruht und ohne
welche sie gar nicht erst durchführbar ist, kein Zweifel geäußert. Es
wird nicht für nötig erachtet, diese Voraussetzung in derselben zu

115 Die brevitas hatte auch Spinoza mehrmals als Vorzug des mos geometricus her-
vorgehoben. Vgl. dazu Audié 2007, 13–19.
116 So z. B. Marquet 1979, 435.

117 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361. Vgl. die entsprechende Stelle in der Darstellung:

»Es giebt keine Philosophie, als vom Standpunct des Absoluten, darüber wird bey
dieser ganzen Darstellung gar kein Zweifel statuirt […]. [D]er gegenwärtige Satz gilt
mithin bloß unter dieser Voraussetzung« (AA I,10, 117 (§ 2 Anm.)). Im Beweis des § 2
wird die im § 1 aufgestellte Erklärung als eine ›Voraussetzung‹ bezeichnet.

121
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

rechtfertigen. Ebenso wenig ist in derselben eine ausdrückliche ›Er-


klärung‹ darüber nötig: Eine Definition oder auch nur die Erwähnung
derselben wird man demnach vergeblich in einer solchen suchen.
Die späte Erklärung ist demnach kein Widerruf, da Schelling in ihr
nichts anderes behauptet als was er bereits unmittelbar nach der Ver-
öffentlichung der Darstellung erklärt hatte. Allerdings lenkt sie die
Aufmerksamkeit auf die Frage nach dem Verhältnis der unterschied-
lichen Darstellungen. Halten wir uns zunächst an die Ferneren Dar-
stellungen aus dem System der Philosophie von 1802. Bereits der
Titel stellt eine Beziehung zur kurz zuvor veröffentlichten Darstel-
lung meines Systems der Philosophie her. Teils ist er ähnlich gebaut,
teils weist er einige signifikante Abweichungen auf. Zunächst er-
weckt die Rede von ferneren Darstellungen die Erwartung einer Fort-
setzung der früheren Darstellung, die ja »unterbrochen« wurde und
demnach eine Fortsetzung verlangt (AA I,10, 211 Anm. F). Diese Er-
wartung scheint Schelling auch absichtlich wecken zu wollen, indem
er sie in Briefen in der Tat für eine »Fortsetzung meiner Darstellung«
ausgibt. 118 Diese Erwartung wird durch die Schrift selbst allerdings
sofort enttäuscht: Sie führt die Darstellung des Systems eben nicht
über den Punkt hinaus, der in der früheren erreicht war. Aus mehre-
ren Erklärungen geht zudem hervor, dass sie die Darstellung nicht so
sehr fortführen, als vielmehr »dem Verständniß der noch weniger
Eingeweihten« näherbringen will. 119 Wir können sie somit noch am
ehesten als eine Erläuterungsschrift zur ersten Darstellung lesen. In
der Tat lautet der Titel nicht Fernere Darstellung(en) meines Systems
der Philosophie, sondern Darstellungen aus dem System der Philoso-
phie. Es kann Schelling nämlich kaum entgangen sein, dass die streng
wissenschaftliche Darstellung wegen ihrer Kürze dem Leser nicht ge-
ringe Verständnisschwierigkeiten bereitet, da er diese in ihr selbst
bereits in zwischengeschalteten Anmerkungen und Erläuterungen
wiederholt hervorgehoben, wenn nicht sogar verschärft hatte. 120 Be-

118 F. W. J. Schelling an J. G. Fichte, 3. Oktober 1801, AA III,2,1, 378; F. W. J. Schel-


ling an G. E. A. Mehmel, 4. Juli 1801, AA III,2,1, 357.
119 Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361.

120 So heißt es z. B. lakonisch: »Wir bitten den Leser uns in diesen Demonstrationen

indessen wenigstens mit dem Zutrauen zu folgen, daß sie vollkommen verständlich
seyn werden, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe subjectiv
und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem Satz genau eben das
denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Erinnerung, die wir hiemit ein für allemal
machen« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)), oder: »Es ist kaum zu zweifeln, daß nicht diese

122
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

reits bei der Verfassung der Darstellung meines Systems war Schel-
ling sich somit durchaus darüber im Klaren, dass sie für die meisten
Leser – wegen ihrer »bisher […] gefaßten Begriffe« (AA I,10, 125
(§ 23 Erl.)) – unverständlich bleiben musste. Bestimmter formuliert:
Die Darstellung muss für die meisten Leser deshalb unverständlich
bleiben, weil sie die Annahmen, mit welchen diese an sie herantreten,
nicht mitmacht und stattdessen auf eine Voraussetzung aufbaut, von
welcher Schelling annehmen konnte, dass sie nicht derart selbstver-
ständlich ist, dass sie nicht für die meisten umständliche Erklärungen
erfordert. Gerade über diese Voraussetzung wurde in der Darstellung
weder ein »Zweifel statuirt« noch auch nur eine »Erklärung« für
»nöthig gefunden«, obwohl Schelling annehmen konnte, dass man
gerade hier Zweifel anmelden und Erklärungen verlangen würde. 121
Die Wissenschaftlichkeit der streng wissenschaftlichen Darstel-
lung besteht demnach darin, dass sie so schnell wie möglich zum
Prinzip der Philosophie führt, um dann die immanente Logik dieses
Prinzips weiter zu verfolgen, ohne sich um mögliche Bedenken oder
Einwände zu kümmern. Um zu diesem Prinzip hinzuführen, benötigt
Schelling aufgrund der in der »Erklärung« vorausgesetzten intellek-
tuellen Anschauung lediglich sechs Paragraphen (AA I,10, 116 (§ 1)).
Es gehört somit gar nicht zum Aufgabenbereich einer wissenschaftli-
chen Darstellung, solchen Verständnisschwierigkeiten zu begegnen
oder zu zeigen, wie sie zu beheben sind. Stattdessen setzt sie von
Anfang an voraus, dass der Leser über all diejenigen Kompetenzen
und Mittel verfügt, die für ein Verständnis derselben erforderlich
sind. 122 Auf solche unangemessen zugerüsteten Leser kann die wis-
senschaftliche Darstellung keine Rücksicht nehmen. Dies heißt aller-
dings nicht, dass der Philosoph überhaupt keine Rücksicht auf solche

Beweise für manche Leser einige Dunkelheiten zurückließen« (AA I,10, 147 (§ 54
Anm.)). Vgl. auch AA I,10, 130 f. (§ 32 Anm.).
121 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361.

122
Dies macht Schelling in den Ferneren Darstellungen unmissverständlich klar: »Zu
begreifen ist auch nicht, warum die Philosophie eben zu besonderer Rücksicht auf das
Unvermögen verpflichtet sey, es ziemt sich vielmehr, den Zugang zu ihr scharf ab-
zuschneiden, und nach allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu isoliren, dass
kein Weg oder Fusssteig von ihm aus zu ihr führen könne. Hier fängt die Philosophie
an, und wer nicht schon da ist, oder vor diesem Punct sich scheut, der bleibe auch
entfernt oder fliehe zurück«. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern für alle
Wissenschaften, insofern die intellektuelle Anschauung »die Bedingung des wissen-
schaftlichen Geistes überhaupt und in allen Theilen des Wissens« ist (Schelling
1802b, 34 / SW IV, 362; Herv. v. Verf.).

123
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

Leser zu nehmen hätte und sich damit begnügen könnte, unverständ-


liche Sätze aufzustellen. Die frühere Darstellung verweist demnach
von sich aus auf ein notwendiges Komplement, das den Leser imstan-
de setzt, sich die erforderlichen Kompetenzen und Mittel zu erwer-
ben. Die Unverständlichkeit der wissenschaftlichen Darstellung, die
von Schelling, wie einigen bereits zitierten beiläufigen Bemerkungen
zu entnehmen ist, absichtlich noch gesteigert wurde, soll einen sol-
chen Leser nur dahingehend irritieren, dass er sich des Bedarfs der
vorausgesetzten Einstellung erst recht bewusst wird. Als ein solches
Komplement sind die Ferneren Darstellungen gedacht: Diese sollen
dem Leser dabei behilflich sein, sich diese Einstellung zu erarbeiten,
damit er angemessen zugerüstet sich die Einsicht in das System sei-
nem inneren Zusammenhang nach erarbeiten kann. Daraus erklärt
sich nun auch der zweite Teil des Titels: Es ist nicht so sehr das Sys-
tem selbst, das hier seiner immanenten Logik nach dargestellt wird,
sondern es werden lediglich einzelne Probleme, die dieses System
dem unvorbereiteten Leser bereitet, herausgegriffen und für sich
und »mit beständigen kritischen Beziehungen« erörtert. 123 Dies er-
laubt es Schelling auch, zu zeigen, inwiefern dieses System fähig ist,
sich gegen andere Prätendenten zu behaupten. Deshalb wird er in
einem ersten Schritt stets versuchen, die immanenten Schwierigkei-
ten solcher alternativen Systeme nachzuweisen. Um diese einzusehen
braucht man sich noch gar nicht auf seinen Standpunkt gestellt zu
haben. So kann zugleich auch das kritische Potential, das dieses Sys-
tem bereithält, zur Entfaltung gelangen. 124
Nur wenn man der unterschiedlichen Absicht, die Schelling mit
diesen Schriften verfolgt, Rechnung trägt, wird auch einsichtig, wes-
halb in der Darstellung meines Systems »das Wort intellektuelle An-
schauung gar nicht vorkommt«, nicht vorzukommen braucht und
nicht vorkommen darf (SW X, 147), und weshalb es in den Ferneren

123 Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361.


124
Den Ausdruck ›Verhältnis‹ verwendet Schelling häufig in Titeln: Ueber das Wesen
der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältniß zum gegenwärtigen Zu-
stand der Philosophie insbesondere, Ueber das absolute Identitäts-System und sein
Verhältniß zu dem neuesten (Reinholdischen) Dualismus, Ueber das Verhältniß der
Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, Darlegung des wahren Verhältnisses
der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte’schen Lehre. In allen diesen Fällen
sollen von dem System der Philosophie »nur einzelne Seiten«, »und auch diese oft
nur in einer einzelnen, z. B. polemischen, Beziehung« dargestellt werden, um zu zei-
gen, wie es sich gegen Alternativen zu behaupten weiß (Schelling 1809a, X / SW VII,
334).

124
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

Darstellungen hingegen nicht nur vorkommt, sondern auch vorkom-


men muss. 125 Genauso wie in der Geometrie die Raumanschauung
schlechthin vorausgesetzt wird und sich darüber in ihr keine Erklä-
rungen finden, so
ist dem Philosophen in der strengwissenschaftlichen Construction die
intellectuelle oder Vernunftanschauung etwas Entschiednes, und worü-
ber kein Zweifel statuirt, oder Erklärung nöthig gefunden wird. Sie ist
das, was schlechthin, und ohne alle Foderung voraus gesetzt wird […].
Dass sie nichts seye, das gelehrt werden könne, ist klar; alle Versuche sie
zu lehren sind also in der wissenschaftlichen Philosophie völlig unnütz,
und Anleitungen zu ihr, da sie nothwendig einen Eingang vor der Phi-
losophie, vorläufige Expositionen und dergleichen bilden, können in der
strengen Wissenschaft nicht gesucht werden […]. 126
Die Voraussetzung der intellektuellen Anschauung ist nicht von der
Art einer theoretischen Annahme, sondern vielmehr von der Art
einer Fähigkeit oder einer Denkeinstellung. Schelling bezeichnet sie
deshalb auch als »unveränderliches Organ« des »wissenschaftlichen
Geistes«. 127 Als Organ oder Medium, in welchem sich der ganze dort
entfaltete Argumentationsgang bewegt, oder als die Einstellung, aus
welcher heraus sie sich vollzieht, kann sie innerhalb derselben nicht
selbst wieder thematisiert und zum Gegenstand eigener theoretischer
Erörterungen gemacht werden. Diese Art der Darstellung erwartet
demnach vom Leser, dass dieser bereits imstande ist, sich in diesem
Medium des Denkens frei zu bewegen, und sich desselben als eines
Werkzeugs oder Organs zu bedienen. Die Erklärung, mit welcher die
Darstellung meines Systems anfängt, verlangt vom Leser, dass dieser
über diese seine Fähigkeit selbst reflektiert, sich auf eine bestimmte
Eigenart dieser Fähigkeit richtet. Aus einer solchen Reflexion ergibt
sich, dass derjenige, der dieser Denkart fähig ist, insofern er sie auch
vollzieht, sich nicht als ein Subjekt zu einem Objektiven verhält. Da-
mit hat derjenige, der der intellektuellen Anschauung fähig ist, be-

125 Zu diesem Ergebnis kommt auch Dietrich Korsch: »Ernötigt wird dieser Begriff
[sc. der intellektuellen Anschauung, R. S.] aber erst dann, wenn die Frage nach jener
Einheit [von Wesen und Form, R. S.] gestellt wird, wenn also über den Indifferenz-
punkt reflektiert wird: daher ist es nicht verwunderlich, daß der Begriff in der ›Dar-
stellung‹ von 1801 nicht auftaucht, obwohl die Sache immer präsent ist. – Hier ist also
dasselbe Phänomen zu beobachten wie bei Fichte im Verhältnis der WL 94 zu den
›Einleitungen‹ von 1797« (Korsch 1980, 112).
126 Schelling 1802b, 33 f. / SW IV, 361; Herv. v. Verf.

127
Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362.

125
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

reits de facto »vom Denkenden abstrahirt« (AA I,10, 116 (§ 1)). 128
Daran knüpft Schelling folgende Überlegung an: Subjektives und Ob-
jektives sind Wechselbegriffe. Das eine kann nicht ohne das andere
vorkommen, ist also stets im anderen impliziert. Wenn in der intel-
lektuellen Anschauung vom Denkenden oder Subjektivem abstra-
hiert wird, dann kann auch dasjenige, worauf das Denken sich dabei
richtet oder womit es dabei zu tun hat, nicht von der Art eines Ob-
jekts sein. Die ganze Darstellung richtet sich nun auf dieses Gedachte,
auf diesen dem Denken immanenten ›Gegenstand‹ oder diesen im
Denken enthaltene ›Stoff‹ und versucht, diesen ›Stoff‹ seiner inneren
Verfassung nach zu entwickeln (vgl. AA I, 10, 117 (§ 2)).
In den Ferneren Darstellungen hingegen wird die intellektuelle
Anschauung ausführlich thematisiert. Damit ist auch gesagt, dass sie
in denselben nicht vorausgesetzt wird. Beide Darstellungen richten
sich, wie aus dieser Erklärung hervorgeht, an unterschiedliche Typen
von Adressaten, die sich gerade durch ihre Verstehenskompetenzen
voneinander unterscheiden. Während die Darstellung nur für solche
Leser verständlich ist und sein will, die jener Anschauung bereits
fähig sind, versuchen die Ferneren Darstellungen erst zu einem sol-
chen Verständnis hinzuleiten. Indem diese die intellektuelle An-
schauung eigens thematisieren, können sie nur insofern hoffen, ver-
ständlich zu sein, als sie sich für die Evidenz ihrer Darlegungen nicht
auf diese zu stützen brauchen. Sie bewegen sich denn auch durchgän-
gig im Bereich einer ›nicht-absoluten‹ Erkenntnisart (der Reflexion),
gerade dann, wenn sie versuchen deren Grenzen sichtbar zu machen.
Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Lektüre der Ferneren Dar-
stellungen die Lektüre der Darstellung nicht ersetzen kann, da sie nur
dazu dienen sollen, auf diese vorzubereiten.
Dieses Problem der initia philosophiae, d. h. sowohl des Anfangs
der Philosophie als auch des Findens des eigentlichen Zugangs zu ihr,
hat Schelling auch weiterhin beschäftigt. Es ist dies zum einen die
Frage nach dem, womit die Philosophie anzufangen habe, d. h. nach
dem, was als Prinzip derselben fungieren kann, zum anderen aber
auch die Frage danach, wie wir, die wir ein solches Prinzip suchen, es
auch finden können bzw. uns dessen vergewissern können, dass das-

128 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass diese Abstraktion vom Denkenden oder
Subjektiven dem Philosophen nicht eigentümlich ist, sondern dass auch der Geometer
oder jeder, der im eigentlichen Sinn wissenschaftlich tätig ist, eine solche Abstraktion
bei sich feststellen würde, wenn er über das, was er tut, reflektiert.

126
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

jenige, was wir als Prinzip ansetzen, auch wirklich sich dazu eignet,
als Prinzip zu dienen. Das Besondere an Schellings Vorgehen liegt
somit nicht so sehr in seiner Behauptung, dass vom Unbedingten aus-
gegangen werden oder dass die Idee des Absoluten Prinzip der Phi-
losophie sein muss, sondern vielmehr in der Frage, wie wir dieses
Unbedingte finden können bzw. wie wir dessen gewiss sein können,
dass wir eine angemessene Deutung der Idee des Absoluten zum
Prinzip machen. Das Finden des Anfangs erfordert eine Umwandlung
der gewohnten Einstellung. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass
der Erkennende das Erkannte zum Gegenstand macht und damit in
eins sich selbst in die Stellung eines Subjekts versetzt. Diese natür-
liche Einstellung wird dadurch noch nicht geändert, dass der Erken-
nende nicht nur die ihm in der Erfahrung erschlossenen Dinge, son-
dern nun auch sich selbst zum Gegenstand macht. In der Reflexion
ändert sich zwar der Gegenstand des Denkens, das nun nicht länger
ein bloßes Objekt, sondern ein Subjekt-Objekt ist, aber nicht die
Grundhaltung des Erkennenden, der sich diesem Subjekt-Objekt ge-
genüber weiterhin als Subjekt verhält. So unterscheidet dasjenige,
was Eschenmayer als intellektuelle Anschauung bezeichnet, sich nur
durch seinen Gegenstand (das Ich selbst), nicht aber durch die
zugrundeliegende Einstellung von sonstigen Erkenntnisweisen. Das-
jenige, was Schelling als intellektuelle Anschauung bezeichnet, impli-
ziert hingegen eine solche Aufgabe oder Umwandlung jener Grund-
haltung, die er als eine ›Abstraktion vom Subjektiven‹ charakterisiert.
In der Darstellung wird demnach schlechthin vorausgesetzt, dass der
Leser bereits dazu fähig ist, eine solche Abstraktion zu vollziehen. 129
Die nicht-wissenschaftlichen Darstellungen hingegen verfolgen eine
durchaus propädeutische oder pädagogische Absicht, insofern als sie
einen Beitrag dazu leisten sollen, den Leser zu jenem Punkt hin-
zuführen, wo die wissenschaftliche Darstellung anfängt. Daraus, dass
in der wissenschaftlichen Darstellung das Wort ›intellektuelle An-

129 Vgl. dazu Buchheim 1990, 334–336; Jähnig 1975, 58 f. – Die Umwandlung der
natürlichen Einstellung, die unabdingbar ist, um den Zugang zum System zu finden,
nötigt somit auch zu ganz besonderen darstellerischen Veranstaltungen. Diese haben
durchgängig auf die natürliche Einstellung Rücksicht zu nehmen, wenn auch in der
Absicht, sie zu erschüttern. Aus diesem Grund müssen sie auch der natürlichen Ein-
stellung Widerstand leisten. Erst das Scheitern der natürlichen Einstellung eröffnet
die Chance einer Umwandlung. Es geht dabei darum, das in jener Einstellung be-
anspruchte Wissen als ein Nicht-Wissen oder eine Unwissenheit erfahrbar zu machen
(vgl. Schelling 1802b, 6 f., 14 f. / SW IV, 342 f., 349).

127
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

schauung‹ nicht vorkommt, ist somit keineswegs zu schließen, dass


sie auch ohne eine solche durchkommt. Vielmehr wird sie in dersel-
ben, wie Schelling bemerkt, schlechthin vorausgesetzt. Gerade weil
sie schlechthin vorausgesetzt wird, kommt das Wort in ihr nicht vor.
Umgekehrt kann man daraus, dass in den nicht-wissenschaftlichen
Darstellungen das Wort öfters vorkommt, nicht schließen, dass diese
dieselbe als Argument für die dort aufgestellten Behauptungen be-
mühen. Das Gegenteil ist der Fall: Gerade weil jene Darstellungen
ständig um die intellektuelle Anschauung kreisen, können sie diesel-
be nicht voraussetzen und sich für die Gültigkeit der dort aufgestell-
ten Behauptungen auch nicht auf sie berufen.
Die unterschiedliche Rolle, die die intellektuelle Anschauung in
den verschiedenen Darstellungen spielt, lässt sich noch auf folgende
Weise erläutern. Es wurde gesagt, dass die Darstellung die intellek-
tuelle Anschauung als Medium oder Organ der Konstruktion, und
d. h. durchgängig, voraussetzt. Diese Voraussetzung ist somit nicht
auf einzelne punktuelle Schritte des Gedankengangs fixierbar. 130
Dennoch kommt die intellektuelle Anschauung, wenn nicht dem
Ausdruck nach, so doch der Sache nach auch an einem präzisen Punkt
des Beweisgangs vor, wo Schelling auf sie zurückgreift, um eine be-
stimmte Behauptung zu beweisen. Für seine Behauptung nämlich,
dass die Selbsterkenntnis ein konstitutives Merkmal der Idee des Ab-
soluten ausmacht, stützt Schelling sich durchaus auf die intellektuelle
Anschauung (vgl. AA I,10, 123 (§ 17)). Dabei geht Schelling an dieser
Stelle nicht so vor, dass er die Notwendigkeit dieser Selbsterkenntnis
unmittelbar aus der absoluten Identität ableitet. Stattdessen führt er
den Nachweis über einen Umweg, nämlich ausgehend von unserer
Erkenntnis. Die Abstraktion vom Denkenden hatte uns einen neuen
Bereich des Denkens eröffnet und im Zuge des Zugangs zu diesem
Bereich durchstreifen oder erkunden wir denselben nach seinen ver-
schiedenen Dimensionen. Im Laufe dieser Erkundung hat sich ge-
zeigt, dass wir, solange wir in dieser Einstellung des Denkens verhar-
ren, alles nach dem Gesetz der Identität erkennen, dass sich in
demselben eine absolute Identität ausdrückt und dass die Erkenntnis
derselben eine unbedingte ist (vgl. AA I,10, 119 (§ 7)). Eine weitere
Reflexion zeigt nun, dass nicht wir Subjekt dieser Erkenntnis sein
können, sondern dass das Subjekt dieser Erkenntnis nur die absolute
Identität selbst sein kann und diese Erkenntnis deshalb eine Selbst-

130
Vgl. Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362.

128
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

erkenntnis derselben ist. Erst daraus folgert Schelling, dass die Form
der Subjekt-Objektivierung wesentlich zur absoluten Identität ge-
hört.
Die Argumentation lässt sich in folgende Schritte zerlegen:
(1.) Wir, die wir uns, mittels der Abstraktion vom Denkenden, in die
als ›absolute Vernunft‹ bezeichnete Lage des Denkens versetzt haben,
haben darin die Erkenntnis einer absoluten Identität überhaupt (vgl.
AA I,10, 119 (§ 7)). Der Genitiv ist hier als genitivus obiectivus zu
verstehen: Insofern wir uns in die genannte Lage des Denkens ver-
setzen, entdecken wir die absolute Identität als eigentlichen Gegen-
stand oder Gehalt dieses Denkens, das, weil es darin einen Gegen-
stand hat, kein bloßes Denken, sondern Erkenntnis genannt werden
kann. An dieser Stelle ist es allerdings noch durchaus denkbar, dass
dieser Gegenstand von einer Instanz außer ihr erkannt wird und aus
dritter Warte heraus als das, was sie ist, zu erkennen wäre. Darauf
verweist Schelling in der ersten Hälfte des Beweises (vgl. AA I,10,
123 (§ 17)). (2.) Diese Erkenntnis kann aber nicht bloß unsere Er-
kenntnis sein, in dem Sinne, dass wir die absolute Identität hier als
bloßes Objekt unseres Erkennens oder als ein rein Erkanntes hätten.
Der Genitiv kann demnach kein bloß objektiver sein. Der ›Gegen-
stand‹ muss selbst das Prinzip seines Erkennens enthalten. Die abso-
lute Identität ist demnach sowohl Inhalt als Prinzip dieser Erkenntnis.
Erst hier wird also gezeigt, dass eine solche Erkenntnis nur sozusagen
von innen heraus möglich ist. Der Gegenstand dieser Erkenntnis hat
die Eigentümlichkeit, dass er gar nicht aus dritter Warte, sondern nur
von innen heraus erkennbar ist. Dies formuliert Schelling gelegent-
lich auch so, dass im Denken der absoluten Vernunft nicht ich es bin,
der erkennt, sondern es nur die absolute Identität selbst ist, die sich
selbst erkennt: »Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir,
wenn das Wissen, das ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wah-
res Wissen ist« (SW VI, 140 (§ 1)). Diese ein wenig sonderlich an-
mutende Formulierung will auf einen Sachverhalt hinweisen, der
uns nicht unvertraut sein dürfte. Schelling will damit nämlich nicht
leugnen, dass alles Wissen für seine Erarbeitung auf eine subjektive
Instanz angewiesen ist. Diese Abhängigkeit von einer subjektiven In-
stanz betrifft indessen nur die Art der Erarbeitung des Wissens. Das
Eigentümliche der wissenschaftlichen Praxis besteht jedoch darin,
dass sie in einem Wissen resultiert, das als solches gar nicht mehr
auf jene subjektive Instanz angewiesen ist. Die gewonnenen Inhalte
lassen sich auch rein als solche erwägen, ohne Berücksichtigung der

129
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

subjektiven Instanz, die für ihre Erarbeitung zuständig war. Auch


wenn ich selbst an der Erarbeitung eines Wissensinhalts beteiligt ge-
wesen bin, erhält dieser eine gewisse Eigenständigkeit, die mir eine
Distanz zu demselben erlaubt. Die Möglichkeit einer solchen Distanz
zu den Wissensinhalten oder eben einer Abstraktion vom Subjekti-
ven ist kennzeichnend für die theoretischen Wissenschaften. 131 Des-
halb kann man auch sagen, dass ich mich selbst, insofern ich mich als
forschendes Subjekt an der Erarbeitung von Wissen beteilige, in ein
bloßes Organ des Wissens verwandle.
(3.) Diese beiden Schritte bilden allerdings nur den ersten Teil des
Beweises. Das Gewicht liegt auf dem Schluss, den Schelling daraus
zieht. Daraus, dass in der Erkenntnis der absoluten Identität ein dop-
pelter Genitiv liegt, folgt, dass es sich hier um eine ursprüngliche
Erkenntnis handelt. Das heißt zunächst nur, dass diese Erkenntnis
nicht weiter ableitbar und nicht weiter bedingt ist oder dass ihr im
Vergleich zu anderen Formen der Erkenntnis eine Eigenart zukommt.
Nur in zwei Fällen kann von einer ursprünglichen Erkenntnis die
Rede sein: Entweder wenn diese unmittelbar aus dem Wesen oder
wenn sie unmittelbar aus dem Sein der absoluten Identität folgt.
(a.) Diese »Erkenntniß folgt nicht unmittelbar aus ihrem Wesen,
denn aus demselben folgt nur, daß sie ist« (AA I,10, 123 (§ 17); Herv.
v. Verf.). Das ›Sein‹ folgt insofern unmittelbar aus dem Wesen der
absoluten Identität, als dieses nicht ohne die im Satz A = A aus-
gedrückte Artikulation oder Minimalkonsistenz gedacht werden
kann. Damit ist jedoch noch nicht gesagt, dass sie sich selbst als die-
sem Gesetz der Minimalkonsistenz unterworfen auch erkennen
muss. (b.) Die Erkenntnis der absoluten Identität durch sich selbst
›muß also unmittelbar aus ihrem Seyn folgen‹. Dieses Sein oder diese
Artikulation in den verschiedenen Dimensionen des Subjekts, Prädi-
kats und der Indifferenz beider kann also nicht gedacht werden, ohne
dass diese Struktur auch für sich selbst erkennbar wäre. Die eigent-
liche Pointe des Satzes sowie des Beweises liegt darin, dass diese

131 Wolfgang Wieland sieht darin das Wesensmerkmal der theoretischen Wissen-
schaften, das sie von den praktischen Wissenschaften trennt. Der Unterschied theo-
retisch/praktisch ist die Trennlinie der Wissenschaften, die alle anderen vorgenom-
menen Unterschiede (Theorie/Empirie, Natur- und Geisteswissenschaften)
durchkreuzt (Wieland 1986, 33 f.). Auch Schelling sieht in der Operation der Abs-
traktion vom Subjektivem die Grundoperation einer rein theoretischen Wissenschaft
(vgl. AA I,10, 89). In der Wissenschaftslehre wären theoretische und praktische Wis-
senschaft demnach auf eine eigentümliche Weise vermischt.

130
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen

Selbsterkenntnis Form der absoluten Identität ist. Das heißt, dass eine
absolute Identität ohne diese Form der Selbsterkenntnis gar keine
absolute Identität mehr wäre.
Dadurch soll zum einen der Fall ausgeschlossen werden, dass die
absolute Identität von außen erkennbar wäre. Für eine solche Außen-
position wäre eine absolute Identität kein möglicher Gegenstand des
Erkennens. Eine absolute Identität ist nur für solches erkennbar, das
selbst eine Instanz von ihr ist, so wie auch der Raum nur durch sol-
ches erkannt werden kann, das selbst ein Räumliches und im Raum
ist. Dies formuliert Schelling auch so, dass die Erkenntnis einer abso-
luten Identität sich bei näherer Überlegung nur als eine Selbst-
erkenntnis derselben enthüllen kann (vgl. AA I,10, 119 (§ 7), 123 f.
(§§ 19 f.)). Zum anderen wird dadurch ebenso der Fall ausgeschlossen,
dass eine absolute Identität sein könnte, auch wenn sie nicht als sol-
che von sich selbst erkannt würde. Dies wäre der Fall, wenn die abso-
lute Identität einfach ist, ohne sich auch als das, was sie ist, zu er-
kennen.
Der Beweis, dass das Selbsterkennen die notwendige Form des Ab-
soluten ist, stützt sich demnach auf eine Erkenntnis, die wir haben,
nämlich auf die intellektuelle Anschauung. Dass Schelling, auch
wenn er den Ausdruck hier nicht verwendet, dennoch auf die intel-
lektuelle Anschauung anspielt und sie für den Beweis in Anspruch
nimmt, geht zudem noch mit aller nur wünschenswerten Deutlich-
keit aus einer Parallelstelle in den Würzburger Vorlesungen hervor.
Nachdem er dort für den Satz »Es ist eine unmittelbare Erkenntniß
Gottes oder des Absoluten« (SW VI, 150 (§ 8)) einen Beweis geführt
hat, der völlig dem in der Darstellung gegebenen parallel verläuft,
schiebt Schelling einige Überlegungen zur intellektuellen Anschau-
ung ein (vgl. SW VI, 153–155 (§ 8)). Auch hier wird sie dazu bemüht,
die Behauptung zu untermauern, dass Wesen und Form zwar unter-
schiedliche Momente sind, jenes Wesen aber nicht ohne diese (abso-
lute) Form vorkommt. Dadurch soll die Bezeichnung der Form als
eines Selbsterkennens des Absoluten gerechtfertigt werden. Dazu
verweist Schelling darauf, dass wir eine Erkenntnis des Absoluten
haben oder dass es eine Erkenntnis des Absoluten gibt. Bezeichnen-
derweise hatte Schelling sich kurz zuvor abermals von Eschenmayers
Auffassung distanziert (vgl. SW VI, 152 (§ 8)). Die Bemerkung macht
zum einen klar, dass Schelling sich über die Deutung der intellek-
tuellen Anschauung mit Eschenmayer nicht einig ist. Er weist die-
jenige Auffassung zurück, wonach die intellektuelle Anschauung sich

131
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

dadurch von der sinnlichen unterscheide, dass jene sich auf einen
»Gegenstand des inneren Sinns« statt wie diese auf einen »Gegen-
stand des äußeren Sinns« richtet (SW VI, 154 (§ 8)). Die intellektuelle
Anschauung ist demnach nicht mit der bloßen Selbstanschauung des
Ichs zu verwechseln, wie Schelling sie hier Fichte zuschreibt, wie aber
auch Eschenmayer sie aufgefasst hatte. 132 Nur weil Eschenmayer die-
se Verwechslung unterläuft, sieht dieser sich zum anderen dazu ge-
nötigt, auf den Glauben oder die Ahnung als Komplement zurück-
zugreifen (vgl. SW VI, 152).

5. Anschauung und Glaube

Damit hat Schelling die Auffassung der intellektuellen Anschauung,


auf welche Eschenmayer die Notwendigkeit eines Übergangs zur
Nichtphilosophie zu stützen suchte, zurückgewiesen und zugleich
den Weg zu einer angemessenen Idee derselben aufgezeigt. Dabei hält
er sich durchgängig an eine starke Lesart von Eschenmayers Unter-
scheidung zwischen Glauben und Erkennen. Nach derselben handelt
es sich dabei nicht lediglich um unterschiedliche Aktmodi, sondern
sie unterscheiden sich besonders dadurch, dass jedem derselben ein
eigener Gegenstandsbereich korrespondiert. Die Folgen, die Eschen-
mayer mit dieser Unterscheidung verbindet, lassen sich auch nur
mittels einer solchen starken Lesart aufrechterhalten. Gleich anfangs
hatte er betont, nur deshalb den Glauben gegen das Erkennen stark
machen zu wollen, weil nur so sich ein »Gegenstand« erschließen
lasse, der »sich von selbst der Spekulation entrückt«. 133 Er rekurriert
somit gerade deshalb auf den Glauben, weil dieser einen ›Gegenstand‹
zugänglich mache, der der intellektuellen Anschauung prinzipiell ver-
schlossen bleibt.
Allerdings ließe jene Unterscheidung noch eine schwache Lesart
zu, wonach lediglich zwei Aktmodi als zwei differente Zugangsweisen
zu ein und demselben Gegenstand unterschieden werden sollen. Die
entscheidende Frage ginge dann aber dahin, ob beide Zugangsweisen
diesem Gegenstand gleich angemessen sind und ihm gleich gerecht
werden oder nicht. Sowohl Schelling als auch Eschenmayer sind dem-
nach dazu genötigt, sich auf die starke Lesart festzulegen. Das Gelin-

132 Vgl. Eschenmayer 1803, 1 (§ 2).


133
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht); Herv. v. Verf.

132
Anschauung und Glaube

gen ihres jeweiligen Unternehmens hängt damit davon ab, inwiefern


sie imstande sind, das gegenteilige Unterfangen zu integrieren. Nach-
dem Schelling gezeigt hat, mit welchen grundsätzlichen Schwierig-
keiten das Vorhaben Eschenmayers sich konfrontiert sieht bzw.
welche Inkonsistenzen oder Widersprüchlichkeiten es aufweist, und
nachdem er ferner gezeigt hat, wie der Einwand Eschenmayers Schel-
ling insofern nicht treffen kann, als er auf einer unzutreffenden
Interpretation beruht, bleibt ihm jetzt noch übrig, eine eigene Er-
klärung der Position Eschenmayers anzubieten. Es steht zu erwarten,
dass dieser Erklärungsversuch nicht mit dem Selbstverständnis
Eschenmayers übereinstimmen wird. Jedenfalls sieht die Philosophie
sich mit der Herausforderung konfrontiert, eine eigene Erklärung des
Glaubens aufzubieten. Diesen muss sie einer eigenen Sphäre zuwei-
sen, innerhalb welcher er eine beschränkte Gültigkeit behaupten
kann. 134 Schelling wird demnach den Glauben anerkennen wie auch
den Anspruch, dass dieser sich auf das Absolute bezieht, wird aber
bestreiten, dass diese Zugangsweise ihrem Gegenstand gerecht wird
und ihn in dem, was er ist, zu fassen vermag. Damit bestreitet er das
Selbstverständnis, mit welchem diese Erkenntnisart sich verbindet. Er
hat demnach zu zeigen, aus welcher Verfassung das Verständnis des
Absoluten bzw. Gottes, wie Eschenmayer es dargelegt hat, notwendi-
gerweise erwächst und wie es überhaupt zur Ausbildung einer sol-
chen Position kommen kann.
Zu diesem Zweck richtet er sich auf die Beschreibungen, die
Eschenmayer selbst von dem Zustand gibt, den er als ›Glaube‹ be-
zeichnet. Eschenmayer spricht von einem »Zustand, der in Begeiste-
rung, Entzücken und Anbetung sich ergiesst«, in welchem man
»ein[en] geheime[n] Schauder« fühlt, »vor dem Gott, der sich in un-
serem Wissen ausgebiert, die Knie zu beugen«, und stattdessen »die
Nähe Gottes« »in seiner Brust« »fühlt« und »in stummer Anbetung
nieder[sinkt]«. 135 Dieser Zustand »ist die ächte Weise der Offen-
barung Gottes«, und zwar, weil darin Gott sich als unerkennbar be-
kundet. 136 Die ganze Theologie spricht somit nach Eschenmayer nur
eine symbolische Sprache, die die unmittelbare Offenbarung Gottes
oder jenen Zustand der Verzückung ersetzt bzw. Mittel liefert, ihn

134 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.


135
Eschenmayer 1803, 37 (§ 47), 32 (§ 41), 33 (§ 42).
136 Eschenmayer 1803, 38 (§ 47). Auch Karl Jaspers spricht davon, dass »Gott absolut

verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit entzieht« (Jaspers 1955, 184).

133
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

festzuhalten oder wieder hervorzurufen. 137 Damit wird der Wahr-


heitsanspruch für die ›Behauptungen‹ der Theologie fallengelassen;
diese sollen nur dazu dienen, einen bestimmten Zustand zu evozie-
ren. Jener Gefühlszustand der ›ächten Weise der Offenbarung‹ dient
indessen zugleich als Kriterium, um die wahre Religion von der fal-
schen zu unterscheiden. 138
Wie gesagt braucht Schelling den Glauben und die Zustände, auf
welche Eschenmayer verweist, gar nicht zu leugnen. Vielmehr ver-
mag er sie ›in ihrer Sphäre‹ anzuerkennen. Sie dienen dadurch als
eine zusätzliche Bestätigung für seine Behauptung der Metaphysik
als einer Naturanlage. 139 Die Idee des Absoluten ist danach keine Idee,
die sich der Philosoph ausdenkt, sondern eine solche, die mit der
menschlichen Vernunft gleichursprünglich ist. In jedem ist demnach
eine vage Idee des Absoluten. Der Nicht-Philosoph unterscheidet sich
vom Philosophen dadurch, dass er diese Idee mit solchen Mitteln zu
explizieren versucht, die sich bei näherer Überlegung als zu diesem
Zweck ungeeignet erweisen. Deshalb bemerkt Schelling auch, dass
dem Nicht-Philosophen, indem er die Idee des Absoluten »für die
Reflexion« und mit den Mitteln der Reflexion »fixiren will«, diese

137 Der Begriff des Symbolischen, den Eschenmayer hier verwendet, unterscheidet
sich grundlegend vom schellingschen Begriff. Vielmehr weist er Merkmale dessen
auf, was Daniel Whistler leicht missverständlich das ›romantische Symbol‹ nennt:
Dieses verweist auf etwas, das in seiner Bedeutung jeden Versuch, es auszudrücken,
übersteigt oder transzendiert; es ist deshalb bloß ›evokativ‹. Das Symbol in diesem
Sinn deutet auf etwas hin, das sich aufgrund seiner Natur unserem Verstehen wider-
setzt; es bezieht sich auf ein von sich aus Unbegreifliches. Deshalb verfährt das Sym-
bol mittels Analogien, da es nur so die Unbegreiflichkeit des Angedeuteten zu wahren
vermag (Whistler 2013, 25, 27, 28). Vgl. damit Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47): »Dies
ist die ächte Weise der Offenbarung Gottes; alle übrige ist symbolisch und vorhanden
als ein Bedürfniss, den Umgang mit Gott durch bildliche Sprache zu ersetzen«, d. h.
ein Mittel, den unbeschreiblichen »Zustand der Begeisterung« zu evozieren. Ferner
Eschenmayer 1803, 35 (§ 44): »so geht die an Ausdruck schon so arme Sprache der
Ideen jenseits des Absoluten über in Gebet, d. i. in eine Sprache, die gar keine Worte
mehr hat«; und Eschenmayer 1803, 36 (§ 46); »Da jenseits des Absoluten die Sprache
keines Ausdrucks mehr fähig ist, so tritt das Symbol an ihre Stelle, d. h. eine aus der
Sprache unserer Erkenntnisse übertragene [d. h. analogisch verfahrende, R. S.] bild-
liche Darstellung«. Dementsprechend gewährt die Idee der Dreieinigkeit keine Ein-
sicht in das Wesen Gottes, sondern ist nur ein bildlicher oder analogischer Ausdruck
(ebd.). Hierher gehört auch die Verwendung des Bilds der Asymptote (Eschenmayer
1803, 31 f. (§ 40), 52 (§ 59)). Beachte insbes. Eschenmayer 1803, 44 f. (§ 53), 59 (§ 66).
138
Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49).
139 »Jeder, auch der noch übrigens in der Endlichkeit befangne, ist von Natur getrie-

ben, ein Absolutes zu suchen« (Schelling 1804, 6 / SW VI, 19; Herv. v. Verf.).

134
Anschauung und Glaube

Idee wieder verschwindet: »Es umschwebt ihn ewig, aber es ist, wie
Fichte sehr bezeichnend sich ausdrückt, nur da, inwiefern man es
nicht hat, und indem man es hat, verschwindet es«. 140 Zum Absoluten
ist ein Verhältnis der Habe ausgeschlossen. 141 Den Nicht-Philosophen
zeichnet ein Zustand der Zerrissenheit aus, eine Unvereinbarkeit des-
sen, was er will, und der Art, wie er diesen seinen Willen zu realisie-
ren sucht. Indessen ist nicht ganz auszuschließen, dass in einem sol-
chen Zustand nicht eine plötzliche und unerwartete, weil nicht auf
überlegte Weise gesuchte Harmonie eintritt:
Nur in Augenblicken dieses Streits, wo die subjective Thätigkeit sich mit
jenem Objectiven in eine unerwartete Harmonie setzt, die ebendess-
wegen, weil sie unerwartet ist, vor der freyen, sehnsuchtslosen Erkennt-
niss der Vernunft, diess voraus hat, als Glück, als Erleuchtung oder als
Offenbarung zu erscheinen, tritt es vor die Seele. 142
Diesen Widerstreit von Subjektivem und Objektivem bezeichnet
Schelling an dieser Stelle auch als das Charakteristikum der Sehn-
sucht. 143 Das einzige, was jene Erfahrung der Harmonie vor der Ver-
nunft- oder philosophischen Erkenntnis voraushat, besteht darin,
dass sie als ein Glück empfunden wird. Die Verwendung des Aus-
drucks ›Glück‹ ist zweideutig. Zum einen kann er den Charakter der
Harmonie, der Aufhebung eines Zwiespalts hervorheben, zum ande-
ren geht daraus auch hervor, dass es sich um eine Glückssache han-
delt: Die orientierungslose Suche nach dem Absoluten, ohne genaue-
res Wissen darüber, wie es zu finden sei, und ohne Einsicht in die
Ungeeignetheit der verwendeten Mittel, trifft irgendwann unerwar-
teterweise ins Schwarze. Dieser ›Vorzug‹ ist in Wahrheit also ein
Mangel. Der Philosoph hingegen weiß, wie er das Gesuchte zu suchen

140 Schelling 1804, 6 / SW VI, 19.


141 In seinem Handexemplar der Ferneren Darstellungen hat Schelling eine mit der
oben zitierten Stelle fast gleichlautende Anmerkung eingetragen. Sie bezieht sich auf
eine Stelle im Haupttext, wo von einem Schein die Rede ist, »der den philosophiren-
den gemeinen Menschenverstand äfft, und zwingt, immer nach dem An sich zu lau-
fen, indem es ihm immer entgeht, wenn er eben darnach greifen will« (Schelling
1802b, 27 / SW IV, 357). Darmit greift Schelling das Theoriestück des transzendenta-
len Scheins auf (vgl. KrV, AA 4, 188–191, 214 f.) und stellt zugleich eine Beziehung
zum Schein her, wovon bei Fichte die Rede ist (vgl. GA I,2, 414). Vgl. zum »Bestreben
der Reflexion, das Absolute, als Absolutes, gleichwohl als Objectives zu fixiren« auch
Schelling 1802b, 40 / SW IV, 365.
142
Schelling 1804, 6 / SW VI, 19.
143 Schelling 1804, 5 f. / SW VI, 19 ist zweimal von Sehnsucht bzw. sehnsuchtslos die

Rede.

135
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

hat, und kann sich dessen sicher sein, es zu finden. 144 Im Zustand der
Zerrissenheit wird nicht nur das Absolute verfehlt, sondern demjeni-
gen, der sich in diesem Zustand befindet, mangelt es auch an Selbst-
erkenntnis, die in jenem Glückszustand mehr geahnt als wirklich er-
langt wird. Die Erkenntnis des Absoluten, die der Philosoph besitzt,
ist hingegen zugleich Selbsterkenntnis. Deshalb sagt Schelling auch,
dass man diese Idee nicht haben kann, ohne dass zugleich »das Wesen
als das An-sich der Seele selbst ein[tritt]«, oder dass die intellektuelle
Anschauung »eine Erkenntniss ist, die das An-sich der Seele selbst
ausmacht«. 145
Nach Eschenmayers Deutung ist jene Glückserfahrung vielmehr
die Erfahrung einer Transzendenz oder eine Offenbarung Gottes.

144 Vgl. Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Zur Sehnsucht siehe Wieland 1956, 63: »In der
Struktur der Sehnsucht selbst liegt daher schon der Grund ihres Scheiterns«. Übri-
gens lässt sich an diesem Fall exemplarisch demonstrieren, wie sich ein Konzept bei
Schelling bildet, entwickelt und wieder verschwindet. Die allgemeine Struktur der
Sehnsucht hat Schelling spätestens 1802 aufgedeckt bzw. von Kant und Fichte über-
nommen (vgl. Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357). Hinsichtlich des Ausdrucks, der
diese Struktur bezeichnen soll, hat er sich damals noch nicht festgelegt. Wenn zwar
bereits 1802 (vgl. Schelling 1802f, 25 / SW V, 124) und 1804 (vgl. Schelling 1804, 5 f. /
SW VI, 19) von Sehnsucht die Rede ist, so scheint Schelling sich noch 1805 nicht auf
einen einzigen Ausdruck festlegen zu wollen, sondern verwendet ›Sehnsucht‹, ›An-
dacht‹, ›Gefühl‹ und ›Glaube‹ als weitgehend gleichbedeutend. Alle diese Ausdrücke
bezeichnen dieselbe Struktur der Zerrissenheit oder des Zwiespalts von Subjektivität
und Objektivität, in welcher die Identität nur im Modus ihrer Verneinung oder Ab-
wesenheit erfahren wird (vgl. Schelling 1805a, XIV / SW VII, 135 f.). In der Zeit von
1804 bis 1806 scheint Schelling ›Glaube‹ und ›Ahnung‹ zu bevorzugen (vgl. SW VI,
152, 558 f.; Schelling 1805b, 17 f. / SW VII, 150; Schelling 1807b, 287 / SW VII, 248).
Erst in der Freiheitsschrift entscheidet er sich für die ›Sehnsucht‹ (vgl. Schelling
1809a, 431–435 / SW VII, 358–362). Wenn auch dieser Ausdruck erst 1809 eine pro-
minente Rolle erhält, so verfügt Schelling doch seit längerem über den entsprechen-
den Begriff. Den Ausdruck behält er bis ungefähr 1815 bei (vgl. Schelling 1815, 11 f.,
14 f., 53–55, 57, 60–63 / SW VIII, 352, 354, 377 f., 379, 382–384; SW VIII, 200, 233,
239–241, 297); nachher kommt er nur noch sporadisch vor – was jedoch nicht bedeu-
tet, dass auch der entsprechende Begriff verschwindet. In Clara kommt der Ausdruck
übrigens nur sehr selten und kaum in einer signifikanten Verwendung vor (dies wür-
de für eine Datierung vor der Freiheitsschrift oder den Weltaltern sprechen); statt-
dessen ist prononzierter von ›Gefühl‹ die Rede. Die spätere Bevorzugung von ›Sehn-
sucht‹ wäre so zu deuten, dass diese die allgemeinste Struktur alles Gefühls deutlicher
hervorstreicht. Schließlich ist zu bemerken, dass dort, wo das Gefühl oder die Sehn-
sucht als »Mutter der Erkenntniss« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 433 / SW VII,
360), im Hintergrund die Frage nach der Bedeutung des φιλεῖν und der φιλία in der
Philosophie mitschwingt. Beachte auch GuW, TWA 2, 387, 389, 390.
145
Schelling 1804, 11, 23 / SW VI, 23, 31.

136
Anschauung und Glaube

Deshalb bemerkt er, dass die intellektuelle Anschauung in Gewissen


übergeht. 146 Im Übergang zur höheren Potenz (derjenigen des Glau-
bens) zeigt sich die intellektuelle Anschauung als Gewissen oder Ge-
wissenhaftigkeit, in welcher sich die Stimme einer höheren Instanz
bekundet, die über unsere Handlungen und Gedanken urteilt. Für das
Gewissen werden alle theoretischen Überzeugungen gleichgültig, da
es dabei nur auf die Richtigkeit des Handelns bzw. die Aufrichtigkeit
der Gesinnung ankommt. Am Gewissen hat jeder ein Kriterium, das
ihm erlaubt, die wahre von der falschen Religion zu unterscheiden.
Die Position Eschenmayers scheint demnach in erster Linie durch
eine praktische Absicht geleitet zu sein. 147
Schelling hebt mehrmals die Absicht hervor, die Eschenmayer mit
seinem Unternehmen verfolgt. 148 Auf diese Absicht bezogen sind sei-
ne Stellungnahmen durchaus konsequent, da sie sich folgerichtig aus
derselben ergeben. Damit sind sie aber von einer praktischen Absicht
abhängig gemacht. So hat auch die Behauptung der Transzendenz
Gottes in erster Linie eine praktische Absicht, nämlich als die Voraus-
setzung, die ein tugendhaftes Handeln erst möglich oder wenigstens
sinnvoll macht. Sie dient nämlich dazu, auch andere Gegenstände –
besonders die Tugend, die Freiheit des Willens und die Unsterblich-
keit der Seele – der Jurisdiktion der Philosophie definitiv zu entzie-
hen. Auf diese Weise soll die Nichtphilosophie ein gegen die Philoso-
phie gerichtetes kritisches Potential entfalten. Alle Behauptungen,
die über jene Gegenstände aufgestellt werden, können höchstens
noch als symbolische Ausdrücke gelten. Ferner sind solche Behaup-

146 Vgl. Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 35 (§ 44), 38 (§ 48), 40 f. (§ 49).


147 Diese Absicht ist auch bei Karl Jaspers offensichtlich. Die »Existenzerhellung, die
uns erweckt zu uns selbst«, stellt er der »Gnosis, die uns betäubt mit Visionen eines
Scheinwissens«, »die ein gegenständliches Erkennen des Übersinnlichen […] behaup-
tet und dieses Wissen als das Heil der Seele erfährt«, entgegen. Folgende Stelle dürfte
die Grundhaltung, aus welcher eine solche Kritik erwächst, am prägnantesten zum
Ausdruck bringen: Jaspers beabsichtigt eine »Herabsetzung aller Objektivitäten, die
selber Gott zu sein beanspruchen, zu Chiffern. Damit wird bewahrt, was über und vor
allen Chiffern ist [d. h. Gott als höher als das Absolute, R. S.]. Daß Schelling sein
Gottdenken nicht als Sprache in Chiffern meint, sondern als Gotteserkenntnis, muß
gegen diese Chiffern die Empörung wecken, die aus dem Gottesgedanken selber
kommt. Schelling tastet das Unantastbare an«. Jaspers schließt: »Das ist in Schellings
Gedankenwelt etwas radikal zu Bekämpfendes, nicht aus irgendeiner Erkenntnis, son-
dern aus dem Bewußtsein der Transzendenz, die solche Chiffern verwehrt« (Jaspers
1955, 9, 130, 216 f.; Herv. v. Verf.).
148
Vgl. Schelling 1804, III f., 4, 8 / SW VI, 13, 18, 21.

137
2. Kapitel. Glaube und Anschauung

tungen auch insofern gleichgültig, als sie nach Eschenmayer keinen


wirklichen Einfluss auf das Handeln haben können: So hat nach sei-
ner Einschätzung z. B. die theoretische Leugnung der Existenz Gottes
keine Folgen für das Handeln des Atheisten, sondern dieser handelt
weiterhin so, als ob es einen Gott gebe. 149 Welcher Ansicht der Sitt-
lichkeit und des tugendhaften Handelns eine solche Idee Gottes an-
gemessen ist und durch welche sie gefordert wird, werden wir erst im
vierten Kapitel untersuchen können. Wie wir gesehen haben, waren
die Ergebnisse von Schellings bisheriger Auseinandersetzung näm-
lich bloß negativ. Dadurch wurde nur die Aufgabe präzisiert oder
richtiggestellt, aber noch nicht gezeigt, wie sein Programm einzu-
lösen sei. Der Lösung dieser Aufgabe dient der zweite Abschnitt von
Philosophie und Religion, der Gegenstand des nächsten Kapitels ist.
Bereits jetzt ist allerdings zu vermuten, dass die Zurückweisung einer
auf dem Glauben basierenden Idee Gottes auch für die Sittlichkeit
weitreichende Folgen haben wird. 150

149 Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49). Vgl. auch die von Schelling zitierte Äuße-
rung Rückerts: »Ich glaube an einen Gott heißt: ich thue, als wäre ein Gott«. Schelling
fügt hinzu: »– welches denn philosophisch betrachtet die allerschlechteste und nieder-
trächtigste Sorte von Atheismus ist« (Schelling 1802e, 88 / SW V, 88). Die Stelle
findet sich in: Rückert 1801, 51. Die Hervorhebung stammt von Schelling.
150
Vgl. als Ergänzung zu diesem Kapitel Scheerlinck 2016b.

138
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Nachdem ich im zweiten Kapitel Schellings negative Vorgehensweise


umrissen habe, gehe ich in diesem Kapitel zum positiven oder im
eigentlichen Sinne konstruktiven Verfahren über. Die Absicht des
negativen Verfahrens bestand darin, durch eine Abhebung vom
Nicht-Absoluten extrinsische Eigenschaften herauszuarbeiten, deren
man sich bei der Konstruktion als einer Norm bedienen kann. Die
Konstruktion kann nur dann als gelungen angesehen werden, wenn
sie dadurch zur Einsicht in den Grund jener negativen Eigenschaften
führt, dass sie die innere Verfassung oder Artikulation der Idee des
Absoluten aufdeckt. Nur indem man die Idee des Absoluten als eine
Mannigfaltigkeit versteht, die sich in drei unterschiedliche ›Dimen-
sionen‹ auseinanderlegen lässt, die erst zusammengenommen einen
vollständigen und positiven Begriff des Absoluten ausmachen, ist der
durch das negative Verfahren formulierten Anforderung Genüge ge-
tan. Besonderes Gewicht fällt dabei auf die Verfassung des dritten
Moments, das Schelling als das Reale bezeichnet, da in derselben die
Möglichkeit eines ›Abfalls‹ eingeschrieben ist. Da Schelling die Frage
nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr
Verhältniss zu ihm‹ in Philosophie und Religion am Leitfaden des
Begriffs des ›Abfalls‹ entfaltet, werde ich in diesem Kapitel insbeson-
dere diesen Begriff in seiner ganzen Vielschichtigkeit und Plastizität
zu entwickeln versuchen. Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff des
›Abfalls‹ zunächst nur eine formelle Anforderung bezeichnet. Das
Verhältnis von negativem und positivem Verfahren, wie wir es be-
reits in der Erörterung der Idee des Absoluten festgestellt hatten,
kehrt hier im Zusammenhang der Frage nach der Endlichkeit wieder.
Zu dieser Anforderung führt Schelling zudem auf einem doppelten
Weg: Zum einen indem er die unlösbaren Schwierigkeiten heraus-
streicht, mit welchen sich jeder Ansatz konfrontiert sieht, der sich
über diese Anforderung hinwegsetzen zu können meint, zum ande-
ren durch eine immanente Entwicklung seines eigenen Systemprin-

139
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

zips. Ferner ist insbesondere Schellings Unterscheidung zweier Fra-


gen, nämlich der nach der Entstehung potentieller und der nach der
Entstehung wirklicher Differenzen, durchgängig im Auge zu behal-
ten, wenn auch nur, weil bereits Eschenmayers Bedenken, Schelling
vermöge die Endlichkeit nicht zu erklären, sich auf die Verwischung
dieser Unterscheidung stützt. Der Anforderung, das Endliche als
einen Abfall vom Absoluten zu denken, meint Schelling dadurch ent-
sprechen zu können, dass er auf die fichtesche Lehre der Ichheit als
einer Tat-Handlung zurückgreift und, sie verwandelnd, in sein Sys-
tem integriert. Dieses Theoriestück, das bei Schelling die Gestalt
einer Lehre von der Seele annimmt, ist somit als Schellings Lösung
der gestellten Aufgabe anzusehen. Anschließend werde ich zeigen,
wie Schelling diese Lehre in ihren wesentlichen Umrissen bereits im
Bruno entfaltet hatte. Der Begriff eines ›Abfalls‹ ist somit, selbst
wenn der Ausdruck im Bruno nicht vorkommt, integraler Bestandteil
der Ansicht, die Schelling in diesem Gespräch dargestellt hatte, und
keineswegs eine Neuerung der Schrift von 1804. Im Laufe dieser
Erörterung werde ich die subjekt-objektive Verfassung der Seele oder
ihre Bestimmung als eine Tat-Handlung, den ihr innewohnenden
strebsamen Charakter sowie das Auseinandertreten von Möglichkeit
und Wirklichkeit an allem wirklich Existierendem als die drei konsti-
tutiven Züge von Schellings Begriff der Seele herausarbeiten. Indem
diese drei Strukturmerkmale sich ebenfalls an dem Begriff des Wil-
lens, der in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freyheit in den Vordergrund tritt und den Begriff der
Seele zu verdrängen scheint, nachweisen lassen, zeigt sich auch hier,
wie Schelling im Gewand einer anderen Terminologie dieselben Be-
griffe entwickelt. Eine aufmerksame Beachtung der sich durch solche
terminologischen Verschiebungen durchhaltenden Strukturähnlich-
keiten dürfte die von Schelling behauptete Kontinuität zwischen Phi-
losophie und Religion und der Freiheitsschrift als weniger unwahr-
scheinlich erscheinen lassen als bislang angenommen. Es ist noch zu
bemerken, dass Schelling mit der Lehre von der Seele allerdings inso-
fern noch keinen vollständigen Begriff des Abfalls geliefert hat, als sie
auf alles endliche Seiende anwendbar ist. Das Spezifische der höchs-
ten Potenz kann erst im nächsten Kapitel entwickelt werden.

140
Die Präambel

1. Die Präambel

Nach den elenktischen oder negativen Überlegungen im ersten Ab-


schnitt geht Schelling im zweiten Abschnitt dazu über, zu zeigen,
welcher positive Gebrauch von den auf jene Weise gewonnenen Ele-
menten zu machen sei. Auch hier orientiert er sich in der Darstel-
lung, besonders am Anfang, an den Bedenken Eschenmayers. Bereits
die Überschrift fasst Eschenmayers »Haupteinwurf« 1 als die Frage
nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr
Verhältniss zu ihm‹ zusammen. Der zweite Abschnitt zeichnet sich
dadurch vor den anderen aus, dass er von einer Art Präambel einge-
leitet wird, die vom Hauptteil durch einen Strich getrennt ist. Der
Überschrift fügt Schelling sogleich mittels eines Platon-Zitats eine
Reflexion über die Art der durch ihn angedeuteten Frage an. 2 Da-

1 Eschenmayer 1803, 65 (§ 72).


2 Schelling zitiert eine Stelle aus dem Zweiten Brief Platons. Die Stelle wird von
Jacobi in der ersten Auflage seiner Briefe Ueber die Lehre des Spinoza nach dem
Vorbericht als Motto dem Haupttext vorangestellt (vgl. Jacobi 1785, 6); allerdings
fängt das Zitat Jacobis früher an und bricht früher ab. Eine erste deutsche Überset-
zung der Briefe war von J. G. Schlosser 1795 vorgelegt worden. Diese Übersetzung
veranlasste Kant zu seinem im Mai 1796 in der Berlinischen Monatsschrift veröffent-
lichten Aufsatz Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie
(AA 8, 387–406), auf welchen Schelling im Vorbericht anspielt. – Dass die Echtheit
der platonischen Briefe seit etwa zwei Jahrzehnten nicht mehr unumstritten war,
hatte Schelling bei Wilhelm Gottlieb Tennemann lesen können, der für die Echtheit
eintritt (vgl. Tennemann 1791, 17–29; Tennemann 1792, 106–111). Dieterich Tiede-
mann hingegen hielt wenigstens den Zweiten Brief für offensichtlich unecht (vgl.
Tiedemann 1791, 119 f.). Für instruktive Einzelheiten zur Echtheitsfrage, vgl. Stein-
hart 1866, 279–291; Harward 1932, 164–175; Souilhé 1949, V–XVI, LXXV–LXXXII.
Die Echtheitsfrage dürfte nicht ganz ohne Bedeutung sein, insofern Schelling gerade
in Philosophie und Religion, und zwar nachdem er kurz zuvor wieder an den Zweiten
Brief erinnert hatte, die Unechtheit des Timaios wenigstens suggeriert (vgl. Schelling
1804, 31 f. / SW VI, 36). In einem Brief an K. J. H. Windischmann vom 1. Februar
1804 heißt es noch entschiedener: »Aber was werden Sie denn sagen, wenn ich be-
haupte, daß der Timäos kein Werk des Plato ist? – Es raubt ihm nichts von seinem
wahren Werth, wenn er diesen Namen nicht trägt, aber wir erlangen durch jene
Kenntniß doch einen ganz neuen Gesichtspunkt der Beurtheilung, und ein neues
Document für die Einsicht in den Unterschied des Antiken und Modernen. Ich möchte
fast unerachtet der Citation des Platonischen Timäos durch Aristoteles und andere
Schriftsteller ihn sogar für ein ganz spätes, christliches Werk erklären, das den Verlust
des ächten ersetzen sollte, wenn es ihn nicht veranlaßt hat« (F. W. J. Schelling an
K. J. H. Windischmann, 1. Februar 1804, Plitt II, 8 f.). Interessanterweise behandelt
Tennemann den Timaios, insbesondere das Verhältnis zum Timaeus Locrus, ausführ-
lichst bevor er auf die Echtheit der Briefe eingeht (vgl. Tennemann 1792, 93–106).

141
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

durch scheint Schelling die Gesprächssituation zwischen Platon und


Dionysios als vordergründigem Adressaten des Platon-Briefes auf die
Situation zwischen ihm selbst und Eschenmayer übertragen zu wol-
len. Jedenfalls hatte Dionysios Platon genau diejenige Frage gestellt,
die Eschenmayer als seinen ›Haupteinwurf‹ formuliert, nämlich »was
der Grund sey alles Uebels?« 3 Weder in der zitierten Stelle noch im
restlichen Brief gibt Platon allerdings auch nur ansatzweise eine Ant-
wort auf diese Frage, sondern begnügt sich stattdessen damit, auf die
Art der Frage selbst wie über die Natur des Fragenden zu reflektieren,
indem er bemerkt, dass »der Stachel derselben der Seele eingebohren
[ist], so dass wer ihn nicht ausreisst, niemals der Wahrheit wahrhaft
theilhaftig werden möchte«. 4 Obwohl er in keiner seiner Schriften die
genannte Frage derart ausführlich und deutlich berührt hat, dass we-
nigstens Dionysios die Lösung dort hätte finden können, erklärt Pla-
ton, dass er auf dieselbe »viele Nachforschungen« verwendet und sich
»viele Bemühung um diese Sache gegeben« habe und bekräftigt da-
durch abermals die entscheidende Bedeutung, die er selbst dieser Fra-
ge zuerkennt. 5 Statt seine Antwort in diesem Brief mitzuteilen, fügt
er einige Andeutungen über die Art hinzu, wie Dionysios die Frage
verstanden haben möchte. Dieser hätte diese Frage nämlich für seine
eigenste Einsicht und »Erfindung« gehalten. 6 Diesen Anspruch
scheint Platon mit seiner eigenen Behauptung, dass ›der Stachel‹ je-
ner Frage ›der Seele eingebohren‹ ist, zurückweisen zu wollen. Wäre
sie in der Tat nur die ›Erfindung‹ eines Einzelnen, dann hätten sich
damit die ›vielen Nachforschungen‹, die Platon ihr gewidmet hat, als
überflüssig erwiesen. Schließlich kontrastiert Platon seine eigenen
›Nachforschungen‹ und seine ›Bemühung um diese Sache‹ mit der
Art, wie Dionysios zu jener Frage gelangte, indem er suggeriert, dass
dieser sie nur vom Hörensagen hat oder »durch göttliche Schickung
dazu gelangt« ist. 7

Während Schelling die Echtheit des Timaios »wegen seiner Annäherung an moderne
Begriffe« in Zweifel zieht, knüpft er durch die Erwähnung des Ersten, Zweiten und
Dritten an genau diejenige folgenschwere Stelle des Zweiten Briefes an (vgl. Platon,
Zweiter Brief, 312d–e), die ihm in der Geschichte des Platonismus deshalb eine be-
sondere Stelle sicherte, weil man darin eine Antizipation der Idee der Dreieinigkeit
gesehen habe (vgl. Schelling 1804, 22, 32, 45, 47 / SW VI, 30, 36, 45, 46).
3 Schelling 1804, 18 / SW VI, 28.

4 Schelling 1804, 18 f. / SW VI, 28; vgl. Schelling 1804, 31 / SW VI, 36.

5
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.
6 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.

7
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.

142
Die Präambel

Schelling scheint sich der Platon-Stelle dazu zu bedienen, um da-


rauf aufmerksam zu machen, dass nicht nur sein eigenes System,
sondern jede philosophische Ansicht über die Frage nach der Abkunft
der endlichen Dinge aus dem Absoluten und nach dem Bösen als ein
dem Menschen mögliches Verhältnis zu demselben Aufschluss zu
bieten hat. 8 Demnach »scheint es eben nicht billig, die ganze Last
dieser Schwierigkeit nur auf Ein System zu werfen«. 9 Es handelt sich
denn auch nicht um eine solche Frage, die von außen an sein System
herangetragen zu werden brauchte, als ob Schelling diese sonst leicht
hätte übersehen können. Vielmehr führt das philosophische Nach-
denken, indem es seiner eigenen Bewegung folgt, wie von selbst auf
jene Frage. 10 So lässt Schelling auch im Bruno die Figur des Lucian an
Bruno jene Frage stellen, worauf dieser antwortet, dass jener »mit
Recht forder[t] […], daß ich hiervon rede. Denn du zwar, indem du
die absolute Einheit ursprünglich schon in der Beziehung auf die
relative Einheit des Wissens erkannt wissen willst, entgehst jener
Frage«. 11 Nach Bruno hat Lucian demnach einen Standpunkt einge-
nommen, der es ihm erlaubt, jener Frage auszuweichen, da er die
Endlichkeit bereits voraussetzt. Erst vom Standpunkt, zu welchem
Bruno Lucian hingeführt hat, gewinnt die Frage nach der Abkunft
des Endlichen ihre eigentliche Urgenz. Im zweiten Absatz der Präam-
bel zitiert Schelling selbst jene Stelle des Bruno, um Eschenmayer zu
verstehen zu geben, dass jene Frage nichts weniger als dessen eigene

8
Vgl. Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.; Schelling 1804, 30–33 / SW VI, 35–38.
9 Schelling 1809a, 426 f. / SW VII, 356.
10 Ähnlich erinnert er Friedrich Schlegel, der gegen Schelling eingewendet hatte, sein

System vermöge die Frage nach dem Bösen nicht zu lösen, daran, dass dieses Problem
»nicht bloss dieses oder jenes System, sondern, mehr oder weniger, alle trifft«. Des-
halb ist mit einem solchen Einwand nicht viel gewonnen, wenn man nicht »seine
eigne Ansicht vom Ursprung des Bösen und seinem Verhältniss zum Guten« mitteilt
(Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.). Eschenmayer ist zugute zu halten, wenigstens
versucht zu haben, eine eigene Ansicht von der Abkunft der Endlichkeit zu ent-
wickeln.
11 Schelling 1802a, 81 / SW IV, 257; Herv. v. Verf. Die ganze Stelle wird zitiert in:

Eschenmayer 1803, 68 f. (§ 72). – Das Recht der Frage nach der Endlichkeit erkennt
Schelling auch dadurch an, dass er bemerkt, dass gerade diese Frage einen Zweifel an
der Gültigkeit des Prinzips aufkommen lässt. Dieses wird sich nur insofern bewähren,
als es gelingt, diesen Zweifel zu beheben (vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29). Damit
ist zugegeben, dass die Endlichkeit das wichtigste Argument gegen die Gültigkeit
jenes Prinzips zu sein scheint, weil es einen Zweifel an demselben entstehen lässt.
Wäre das System außerstande, diese Frage zu lösen, dann wäre das Prinzip damit
widerlegt. Damit gewinnt diese Frage für dieses System eine ganz besondere Urgenz.

143
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

›Erfindung‹ ist. Zugleich deutet er an, an welcher Stelle er selbst im


Bruno die Auflösung jener Frage wenigstens »für den Kenner klar
und bestimmt genug niedergelegt« hat. 12 Auch die zum Schluss des
ganzen Abschnitts zitierten Stellen suchen den Leser davon zu über-
zeugen, dass die Frage nach der Endlichkeit Schelling so wenig hat
überraschen können, dass er sie ›für den Kenner‹ wenigstens bereits
längst beantwortet hat. Das heißt allerdings auch, dass Schelling den
Begriff des Abfalls, durch welchen er jene Frage zu lösen sucht, nicht
für die eigentliche Neuigkeit von Philosophie und Religion hält. Die
einzige Neuigkeit, die er für Philosophie und Religion reklamiert,
liegt bloß darin, die Darstellung seines Systems zum Gebiet der prak-
tischen Philosophie fortzuführen, da die Frage nach der Endlichkeit
erst und nur in diesem Bereich ihre vollständige Auflösung finden
kann. 13 Der Hinweis macht zudem klar, dass Schelling mit dieser
Schrift keine vollständige Darstellung seines Systems zu geben be-
absichtigt, sondern nur so viel erörtern wird, als für die Beantwor-
tung der Leitfrage unbedingt erforderlich ist. Deshalb hebt die Über-
schrift nur die Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge und ihr
Verhältnis zum Absoluten hervor, obwohl in diesem zweiten Ab-
schnitt ebenfalls ausführlichst von der Idee des Absoluten gehandelt
wird. 14 Aus der Leitfrage ergibt sich jedenfalls bereits eine ganz ande-
re Gewichtung als in früheren Darstellungen, die zur Lösung einer
ganz anderen Frage gedacht waren und in welchen die jetzt in den
Vordergrund gerückte Frage entweder ausgeblendet und für später
ausgespart 15 oder nur versteckt behandelt wurde. 16
Die Herstellung der Parallele zwischen Dionysios und Eschen-
mayer erinnert den Leser zudem abermals an den Charakter des vor-

12 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.


13 Vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.
14
Vgl. Schelling 1804, 20–30 / SW VI, 29–35.
15 Vgl. AA I,10, 130 (§ 30 Erl.). Vgl. Korsch 1980, 109: »Die ›Darstellung‹ läßt hier mit

Bewußtsein eine Lücke offen«.


16 Dass es Schelling nicht zuwider war, solche wichtigen Theoriestücke zu verstecken,

geht aus einer beiläufigen Bemerkung während einer früheren Auseinandersetzung


mit Eschenmayer hervor. Dort heißt es, dass die »idealistische« »Ansicht«, »anstatt,
wie sich gebührte, in den Anfang des Werks gezogen zu werden, in die Mitte dessel-
ben versteckt, und ohne Zweifel absichtlich dahin verbannt ist« (AA I,10, 86). So wird
in den Ferneren Darstellungen die Frage nach den endlichen Dingen immer wieder
berührt, aber nur in der Gestalt von vorgreifenden Folgerungen, die an bestimmten
Stellen des Argumentationsgangs eingeschaltet werden (vgl. Schelling 1802b, 4 f.,
42 f., 58, 70 f. / SW IV, 341, 367, 378, 386 f.; Schelling 1803c, 8–12 / SW IV, 395–397).

144
Die Präambel

dergründigen Adressaten der ganzen Schrift. Platon sah sich nämlich


nicht dazu genötigt, Dionysios seine Lösung jener Frage mitzuteilen,
da er Zweifel daran hegte, ob dieser sich aufgrund seiner Natur über-
haupt dazu eignete, sich mit solchen Fragen zu befassen. Der Zweite
Brief als Ganzes ist nämlich eine eingehende Reflexion über die Frage
nach der Mitteilung philosophischer Lehren. Obwohl der Brief sich
naturgemäß nur an eine einzelne Person richtet, so erinnert Platon
daran, dass er dennoch als Schriftstück von allen gelesen werden kann
und durch Zufall auch solchen in die Hände fallen kann, für die er
nicht geschrieben war. Dadurch rechtfertigt er seinen Gebrauch rät-
selhafter Ausdrücke und Formulierungen. Zugleich vermag er da-
durch zu rechtfertigen, weshalb er Dionysios die Antwort auf die
Frage nach dem Übel vorenthält, ohne ihm den eigentlichen Grund
mitteilen zu müssen. 17 Obwohl Dionysios somit der vordergründige
Adressat des Briefes ist, so ist er dadurch allein doch noch nicht der
eigentliche Adressat. Obwohl an einen einzigen geschrieben, so
nimmt der ganze Brief doch durchgängig auf andere mögliche Leser
unterschiedlichster Natur Rücksicht. Gerade durch die Kunst des
Schreibens vermag Platon, seine Leser zu sondern und dafür zu sor-
gen, dass nur die eigentlichen Adressaten seine eigentliche Lehre ver-
nehmen. Auf diese Weise vermag er den Zufall zu beherrschen, der
den Brief jedem, der lesen kann, zugänglich zu machen scheinen
könnte (312d). 18 Schließlich gilt es zu bemerken, dass der vorder-
gründige Adressat des Zweiten Briefes, wie Platon deutlich genug zu
erkennen gibt, nicht nur ein Nicht-Philosoph, sondern zugleich auch
ein Tyrann ist, der sich deshalb mit der Philosophie zu verbinden
sucht, da er wenigstens eingesehen hat, dass ein Herrscher, um sich
Ansehen zu verschaffen, wenigstens den Eindruck zu erwecken su-
chen muss, zu etwas hinaufzublicken, das er höher achtet als sich
selbst. Dadurch scheint bereits hier eine politische Rücksicht von Phi-
losophie und Religion auf, die jedoch erst im »Anhang« explizit wird.
Beachtet man den Hinweis, den Schelling mittels des Platon-Zitats
hier ›niedergelegt‹ hat, dann dürfte die plötzliche Erwähnung des
Staats sowie die direkte Anrede namenlos gelassener Adressaten im
»Anhang« weniger überraschen, als dies sonst vielleicht der Fall wäre.

17
Vgl. Platon, Siebter Brief, 330a–b, 338d–e, 345a.
18 Damit gibt Schelling abermals zu erkennen, dass er Eschenmayer eben nicht für
»[son] lecteur [le] plus attentif« hält (Tilliette 1992, 479).

145
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

Im zweiten Abschnitt greift Schelling auf die Ergebnisse des ersten


Abschnitts zurück. Wenn diese zwar insofern negativ blieben, als sie
lediglich auf extrinsische Eigenschaften des Absoluten führten, die
durch eine Negation der Eigenschaften von Nicht-Absolutem gewon-
nen wurden, so stellte dieses negative Verfahren doch eine Norm be-
reit, die einer positiven Konstruktion zum Leitfaden dienen kann.
Indem diese dazu befähigt, solche Behauptungen zurückzuweisen,
die ihr widersprechen, erlaubt sie es, das Absolute sozusagen von au-
ßen her einzugrenzen oder zu umschreiben. Jene Bestimmungen des
Absoluten waren dreierlei: Das Absolute war zuerst zu bestimmen als
weder subjektiv noch objektiv, sodann als das gleiche Wesen des Sub-
jektiven und Objektiven, schließlich als die absolute Identität beider.
Das Subjektive und das Objektive waren danach als zwei Präsenta-
tionsweisen des Absoluten aufzufassen, während das Wesen hin-
gegen so zu denken war, dass es nur dadurch ist, was es ist, dass es
sich notwendigerweise auf zweierlei Weisen präsentieren kann. Die-
sen drei Bestimmungen voraus liegt die Absolutheit als die einzige
Bestimmung, die sich vom Absoluten aussagen lässt. 19 Der Beweis-
gang im ersten Abschnitt diente dem Nachweis, dass es sich hierbei
um ein einzigartiges Prädikat handelt. Dieses kann nun in einem wei-
teren Beweisgang zum Ausgangspunkt einer näheren Bestimmung
des Absoluten verwendet werden. Dieser zielt darauf ab, die innere
Artikulation des Absoluten aufzudecken. Die Konstruktion der inne-
ren Artikulation der Idee des Absoluten muss zugleich den Grund der
negativen Bestimmungen einsichtig machen: Aus ihr soll ersichtlich
werden, weshalb das Absolute notwendig auf jene negative Weise be-
schrieben werden muss. Eine positive Bestimmung, die uns Einsicht
in das Wesen des Absoluten verschafft, so wie es an sich und nicht

19
Dieser Gedanke, dass die Absolutheit das einzige Prädikat ist, das sich vom Abso-
luten aussagen lässt, ist eine Konstante (vgl. Schelling 1802b, 58 / SW IV, 378; SW IV,
391; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; SW VI, 143, 496). Es ist demnach zu unterschei-
den zwischen der absoluten Identität ohne alle weitere Bestimmung und der absolu-
ten Identität, insofern sie als Identität des Idealen und Realen, des Subjektivem und
Objektivem weiter bestimmt werden kann. Vom Wesen des Absoluten kann nur die
Identität ohne alle weitere Bestimmung ausgesagt werden. Erst in einem weiteren
Moment oder erst in ihrer Darstellung (was Schelling als das Sein oder das Reale, als
das dritte Moment der Idee des Absoluten bezeichnet) kann die Identität als eine
solche des Idealen und Realen weiter bestimmt werden.

146
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

bloß im Vergleich ist, erfordert allerdings eine andere Zugangsweise


als die bloße Beschreibung. 20 Als eine solche gilt die intellektuelle
Anschauung. Während die Argumentation im ersten Abschnitt somit
ohne Rekurs auf die intellektuelle Anschauung auskam, setzt Schel-
ling sie im zweiten Abschnitt durchgängig voraus. Deshalb wird sie,
außer in den einleitenden Absätzen, nachher auch nicht mehr er-
wähnt.
Gleich zu Beginn erinnert Schelling daran, dass er für die weiteren
Überlegungen weiter nichts voraussetzt als die »reine Absolutheit,
ohne alle weitere Bestimmung«. 21 An dieser Stelle ist auf eine betonte
Weise von einer Voraussetzung die Rede:
Wir setzen vorerst überall nichts voraus, als das Eine, ohne welches alles
Folgende unbegriffen bleiben muss, die intellectuelle Anschauung. Wir
setzen so gewiss als in ihr selbst keine Verschiedenheit und keine Man-
nichfaltigkeit seyn kann, so gewiss voraus, dass jeder, soll er das in ihr
Erkannte aussprechen, es nur als reine Absolutheit, ohne alle weitere
Bestimmung, aussprechen könne. 22
Aus unserem zweiten Kapitel dürfte hinlänglich klar geworden sein,
dass dies eine argumentative Rechtfertigung nicht ausschließt, da
Schelling eine solche im ersten Abschnitt eben versucht hatte. 23 Die
dort angestellten Überlegungen sind demnach aus gutem Grund von
den jetzt durchzuführenden abgetrennt. Die Beweisführung, dass die
Absolutheit das einzige Prädikat sei, das sich vom Absoluten aus-
sagen lässt, und dass dieses Prädikat sich nur von einem Einzigen
aussagen lässt, kann nämlich nur negativ, d. h. in der Auseinander-
setzung mit Alternativen geschehen, und zwar durch den Nachweis,
dass diese sämtlich auf Widersprüche hinauslaufen, die sich nur
durch die genannte Voraussetzung vermeiden lassen. Dieses Ergebnis
soll nun für die Konstruktion der inneren Artikulation des Absoluten
fruchtbar gemacht werden. Diese wird hier allerdings nicht in ihrer
ganzen Vollständigkeit durchgeführt, da Schelling diese Aufgabe, we-

20 Für den Unterschied zwischen einer Bestimmung des Absoluten im Vergleich mit
Anderem (im Verhältnis zum nichtabsoluten Erkennen) und einer Bestimmung des
Absoluten ›an sich selbst‹, also eine ›immanente‹ Bestimmung desselben, vgl. Holz
1970, 41 f., 43.
21 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29.

22 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; Herv. v. Verf.

23
Ganz analog verfährt Schelling in den Ferneren Darstellungen: In § II werden die
negative Bestimmungen gewonnen, in § III soll dann die innere Artikulation dieser
Idee konstruiert werden.

147
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

nigstens was die reelle Reihe anbelangt, andernorts bereits durch-


geführt hatte, sondern sie soll hier nur insoweit wiederholt werden,
als dies für die Beantwortung der Leitfrage nach der ›Abkunft der
endlichen Dinge aus dem Absoluten‹ erforderlich ist. 24 Wer sich an
einer umfassenden Erörterung der Frage nach der Entstehung der
potentiellen Differenzen aus der Absolutheit interessiert, wird auf
die anderen Schriften Schellings verwiesen. 25
Ausgangspunkt bildet die Behauptung, dass von dem Wesen, auf
welches sich die intellektuelle Anschauung bezieht, nicht mehr aus-
gesagt werden kann als die Absolutheit. Daraus schließt Schelling,
dass dem Wesen »kein Seyn zukommen [kann], als das durch seinen
Begriff«, da es sonst »durch etwas anders ausser sich bestimmt seyn
[müsste]«. 26 Ihm kann nur ein solches Sein zukommen, das der Ab-
solutheit völlig angemessen ist und somit gleich absolut wie das
Wesen ist. Im Unterschied zu allem sonstigen Seienden, zu dessen
vollständiger Bestimmung wir deshalb immer auch auf Erfahrung
angewiesen sind, da nur diese uns über die Verhältnisse, in welchen
es steht, unterrichten kann, ist das Wesen des Absoluten durch den
Begriff oder durch das Denken vollständig bestimmbar. Zur durch-
gängigen Bestimmung eines Nicht-Absoluten muss somit »zu dem
Begriff noch etwas nicht durch selbigen Bestimmtes hinzukommen«,
»wodurch erst das Seyn gesetzt wird«. 27 Es gilt zu beachten, dass
›Seyn‹ hier nicht das wirkliche Vorkommen von irgendetwas meint,
sondern den Inbegriff aller Eigenschaften oder Bestimmungen, die

24 Vgl. auch: »Wir können noch nicht sogleich zur eigentlichen Beantwortung jener
Frage gehen: noch stellen sich uns andre Zweifel in den Weg, deren Auflösung jener
vorangehen muss« (Schelling 1804, 20 / SW VI, 29; Herv. v. Verf.). Ferner der Hin-
weis auf zwei ganz verschiedene Fragen, die »nach der Möglichkeit des Selbsterken-
nens der Absolutheit« und die »nach Entstehung der wirklichen Differenzen aus ihr«,
wobei die Auflösung der ersteren derjenigen der zweiten vorangehen muss (Schelling
1804, 25 / SW VI, 32).
25 Ähnlich geht Schelling in der Freiheitsschrift vor. Auch dort wird von der Poten-

zenkonstruktion nur so viel entwickelt, als für die Lösung der zentralen Fragen jener
Schrift (das Wesen der menschlichen Freiheit, das Böse, die Persönlichkeit) unbedingt
erforderlich ist. Selbst für die Rechtfertigung der Unterscheidung, »auf welche die
gegenwärtige Untersuchung sich gründet«, begnügt Schelling sich mit einem Hin-
weis auf die Darstellung meines Systems (Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357). Jene
grundlegende Unterscheidung wird in der Freiheitsschrift selbst also nicht begründet,
sondern bloß erläutert. Zudem wird sie auf eine solche Weise erläutert, dass fast nur
das eine Glied derselben (sc. der Grund von Existenz) erläutert wird.
26 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29 f.; vgl. Schelling 1802b, 43 / SW IV, 367 f.

27
Schelling 1804, 9 / SW VI, 22.

148
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

ein Ding zu dem machen, was es ist, und durch welche es auch erst
sich zu erkennen gibt. Als ›Wesen‹ bezeichnet Schelling hingegen
dasjenige, wovon etwas ausgesagt wird oder dem gewisse Bestim-
mungen beigelegt werden können. Wenn das Wesen auch immer
»nur im Verein mit einer logisch komplexen Form anzutreffen« ist,
so ist es doch als ein von dieser unterschiedliches Moment zu betrach-
ten. 28 Das Wesen ist »seiner eigenen Binnenstruktur« nach zwar ein-
fach, kommt aber dennoch nicht vor ohne eine solche komplexe
Form. 29 Die Idee des Absoluten wird sich dementsprechend als eine
Mannigfaltigkeit erweisen, an welcher drei Momente unterscheidbar
sind, die alle für die Vollständigkeit der Idee erforderlich sind. Es ist
somit unzulässig, das Absolute mit einer dieser Momente gleich-
zusetzen.
Jenen Satz, wonach dem Absoluten ›kein Seyn zukommen kann,
als das durch seinen Begriff‹, verwendet Schelling nun jedoch noch
nicht sogleich, um jenes ›Seyn‹ weiter zu bestimmen, sondern zieht
aus ihm zunächst nur eine Folgerung hinsichtlich des Wesens. Aus
ihm folgt nämlich, dass das Wesen »an sich selbst nur ideal« ist. 30 Es
ist somit weder etwas Wirkliches, das unter anderem Wirklichem
auch vorkommt, noch ist es an sich real, da es dasjenige ist, wovon
alle Realität ausgesagt wird. 31 Deshalb heißt es auch, dass das Wesen
»ausser aller Form« ist oder aller Form gegenüber eine Eigenständig-
keit behauptet. 32 Auch dieser Satz wird nur ex absurdo contrario be-
wiesen: Die kontradiktorisch entgegengesetzte Behauptung, wonach
jenem Wesen noch ein anderes Sein als nur durch seinen Begriff zu-
käme, impliziert nämlich, dass es durch etwas anderes außer ihm be-
stimmt wäre, was der einzig leitenden Bestimmung der Absolutheit
geradezu widerspricht. Gerade weil diese Anforderung, die das ›Seyn‹
des Absoluten erfüllen muss, unmittelbar aus der Absolutheit des

28
Buchheim 1992, 28.
29 Ebd.
30
Schelling 1804, 21 / SW VI, 30. Nichts betont Schelling auf diesen Seiten so oft, als
dass das Wesen sich mit dem Sein nicht vermengt (vgl. Schelling 1804, 22, 24, 25, 27 /
SW VI, 30, 31, 32, 33), beide also als zwei unterschiedliche Momente der Idee des
Absoluten strengstens auseinanderzuhalten sind. Thomas Buchheim umschreibt dies
so, dass »die Identität einer Sache nicht aufgeht in den sie beschreibenden Prädikaten,
und weiter, daß sie schon feststehen muß auch ohne die in Frage kommenden und sie
tatsächlich treffenden Prädikate« (Buchheim 1992, 71).
31
Vgl. dazu die Überlegungen zur logischen Möglichkeit in Buchheim 1992, 27–31.
Ähnlich, allerdings im Zusammenhang der Weltalter, Hogrebe 1989, 49 f., 64 f.
32
Schelling 1804, 21 / SW VI, 30.

149
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Wesens folgt, kann Schelling beide Behauptungen als gleich gewiss


ansehen. 33 Nur jene Annahme eines Seins, das lediglich aus dem Be-
griff des Absoluten folgt, ist mit der Absolutheit verträglich. Damit
ist allerdings noch nichts Inhaltliches über dieses Sein ausgesagt, son-
dern nur eine formelle Anforderung angegeben, die etwas erfüllen
muss, um als ›Seyn‹ dieses Wesens gelten zu können. Dem Absoluten
können also nur solche Bestimmungen zukommen, die seinem We-
sen völlig adäquat sind, wenn nicht seine Absolutheit aufgehoben
werden soll.
Dennoch können wir nicht bei diesem schlechthin idealen Wesen
stehenbleiben. Es selbst nötigt uns, sogleich zu einem zweiten Mo-
ment fortzugehen. Wenn wir auch mit dem rein-idealen Wesen an-
fangen müssen, so genügt dieses doch noch nicht der Norm, die wir
mit der negativen Bestimmung der Idee des Absoluten gewonnen
hatten. Diese Bestimmung des Wesens erfüllt nämlich zwar die An-
forderung, dass das Wesen an sich betrachtet weder subjektiv noch
objektiv ist, lässt uns aber noch nicht einsehen, weshalb es auch das
gleiche Wesen des Subjektiven und Objektiven ist. Dadurch wird die
Bestimmung des Wesens als schlechthin ideal zum bloßen Moment
der vollständigen Idee herabgesetzt. Das Wesen kann nicht sein ohne
eine Beschreibungsform, durch welche es ein Sein erhält. Deswegen
ist die Form »gleich ewig mit dem schlechthin-Idealen«. 34 Das
Schlechthin-Ideale steht allerdings nicht »unter dieser Form«, da
sonst die Form das Erste wäre, sondern die Form ist das Zweite, da
das Schlechthin-Ideale der Form »doch dem Begriff nach, vorangeht«
und die Form dem schlechthin idealen Wesen völlig adäquat sein soll:
»Diese Form ist, dass das schlechthin-Ideale, unmittelbar als solches,
ohne also aus seiner Idealität herauszugehen, auch als ein Reales
sey«. 35 Dass dem Wesen nur ein Sein durch seinen Begriff zukomme,
macht, erstens, die ihm auszeichnende Form aus, durch welche es sich
von allem sonst Seienden unterscheidet. Die Form ist als ein eigen-
ständiges Moment vom Wesen und von dessen Sein zu unterschei-
den. Zweitens gilt es zu beachten, dass das Ideale unmittelbar als
Reales sei. Es hält somit seine Idealität an sich, die durch das Reale

33 Vgl. Schelling 1804, 21 / SW VI, 29: »So gewiss […]: so gewiss«.


34 Schelling 1804, 21 / SW VI, 30.
35
Schelling 1804, 21 f. / SW VI, 30. Vielleicht ist dies eine geeignete Stelle, darauf
hinzuweisen, dass die völlige Entsprechung zwischen Idealem und Realem oder des
Wissens und des Handelns eine ziemlich genaue Definition der Weisheit ist.

150
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

nicht aufgehoben wird. Das erste Moment (das Wesen oder das
schlechthin Ideale) lässt sich somit nicht setzen, ohne sogleich auch
das zweite (die Form) und das dritte Moment (das Reale) zu setzen,
weil sich nur so die vollständige Idee des Absoluten konstruieren
lässt, die der negativen Norm wirklich adäquat ist. Deshalb heißt es,
dass die Form und das Reale »bloße Folge« des ersten sind: Sie können
selbst nur insofern gesetzt werden, als auch das Erste gesetzt ist; und
sobald dieses gesetzt ist, müssen auch das Zweite und Dritte gesetzt
werden. 36 Bei der Konstruktion der Idee des Absoluten ist somit eine
Ordnungsfolge zu beachten, die sich aus dem negativen Beweisgang
ergibt. Hierbei zeigt sich abermals die Unerlässlichkeit desselben.
Diese Ordnungsfolge hebt Schelling auch dadurch hervor, dass er be-
tont, dass das Erste sich nicht mit dem Dritten »vermengt«. 37 Das
Dritte ist »ewig ein anderes, der ideellen Bestimmung nach« oder in
der Ordnungsfolge. 38 Damit erweist die Idee des Absoluten sich als
eine Mannigfaltigkeit. Die genetische Konstruktion der Idee genügt
erst dann der auf negativem Weg gewonnenen Norm, wenn in ihr
diese drei Momente in dieser Ordnungsfolge unterschieden werden. 39
Deshalb verbietet es sich auch, diese als Teile zu denken, aus welchen
das Absolute zusammengesetzt wäre. Nach einer solchen Auffassung
würde der Unterscheidung unterschiedlicher Momente eine Unter-
scheidung im Gegenstand selbst entsprechen oder man würde die
bloß ideelle Unterscheidung für eine reelle halten. Die Unzulässigkeit
dieser Gleichsetzung hebt Schelling noch dadurch hervor, dass er sie,
trotz der Ordnungsfolge, in welcher sie zueinander stehen, als gleich
absolut bezeichnet.
Schelling widmet zunächst dem zweiten Moment einige ausführ-
lichere Überlegungen, da auch Eschenmayers Einwände sich ins-

36 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.


37
Schelling 1804, 22, 24, 25, 27 / SW VI, 30, 31, 32, 33.
38 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.

39
So auch Holz 1970, 43 f.: »Das Absolute ist daher in dreifacher Weise von ihm
selbst her charakterisiert, und zwar so, daß zwischen diesen drei Weisen eindeutige,
nicht umkehrbare Bezüge herrschen« und: »Die ›ganze Wesenheit‹ des Absoluten
konstituiert sich eben in mehreren Momenten«. Auch Gert Blanchard spricht von
einer »Folge im Absoluten«, die darin besteht »a) eine Folge dreier selbständiger [also
gleich absoluter, R. S.] Glieder zu denken, die aber b) in das Eine Absolute eingebettet
ist. Die drei Glieder gehören in ihrer ›Reihenfolge‹ doch untrennbar zusammen als
verschiedene Gestalten des Absoluten, in die nicht das Absolute sich verändert, indem
es seine ›vorherige‹ Gestalt aufhebt, sondern deren Zusammenbestehen allein das
Absolute selbst ausmacht« (Blanchard 1979, 431).

151
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

besondere auf dasselbe bezogen. 40 Erst danach geht er zum dritten


Moment über. 41 Die Form kann man, Schelling zufolge, auch als ein
Selbsterkennen beschreiben. 42 Die Frage nach der Abkunft der end-
lichen Dinge erfordert, dass man zunächst diesen Charakter der Form
als ein Selbsterkennen des Wesens einsieht. Eschenmayers ›Haupt-
einwurf‹ ergibt sich aus folgender Überlegung: Er unterscheidet zwei
Weisen, wie Gegensätze zu einer absoluten Identität verbunden wer-
den können. Entweder werden sie in eine höhere Potenz aufgenom-
men, so wie die Potenz des Endlichen und die des Unendlichen in der
des Ewigen enthalten sind, oder sie werden mit einander synthesiert,
»wodurch das Produkt bey einem wahren Gegensatz der mittlere Ex-
ponent beyder wird«. 43 Im letzteren Fall können wir an diesem Pro-
dukt dreierlei unterscheiden: die beiden entgegengesetzten Glieder
sowie das beide Verknüpfende. Insofern haben wir in diesem Fall »ei-
ne absolute Einheit und einen absoluten Gegensatz«. 44 Das verknüp-
fende Dritte kann seine Funktion allerdings nur insofern erfüllen, als
es die beiden Gegensätze in der Indifferenz in sich enthält. Die zweite
›Verknüpfungsweise‹ lässt sich demnach auf die erste zurückführen. 45
Durch diese Überlegungen lässt sich nun zwar einsehen, wie die Dif-
ferenz »in den niedern Stufen« »in der höchsten« »verschwindet«, 46
nicht aber, wie aus der höchsten Stufe die Differenzen der ›niedern
Stufen‹ wieder abgeleitet werden können oder »wodurch […] dann
aus dieser Identität der erste Gegensatz oder die erste Duplicität her-
vorgerufen [wird], oder was […] denn überhaupt das Bestimmende
der Differenz [ist]«. 47 Eschenmayers ›Haupteinwurf‹ zielt somit da-
rauf ab, Schelling folgendes für unausweichlich gehaltene Dilemma
vorzuhalten: Entweder »[l]iegt dieses Bestimmende in der absoluten
Identität, so wird sie offenbar dadurch getrübt«, oder es liegt »ausser

40 Vgl. Schelling 1804, 24–28 / SW VI, 31–34.


41
Vgl. Schelling 1804, 28–30, 36–39 / SW VI, 34 f., 39–41.
42 Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 31.

43
Eschenmayer 1803, 63 (§ 71).
44 Eschenmayer 1803, 63 (§ 71).

45 Dies bezeichnet Schelling als die absolute Indifferenz. Eschenmayer unterscheidet

zu Recht das Indifferenzierende als ein drittes, eigenständiges Moment vom Produkt
dieser Synthese. Diese Indifferenz setzt er aber mit der absoluten Identität gleich.
Daher Schellings Aufforderung, dass »dieser geistreiche Forscher sich selbst deutlich
machen [möge], wozu in seiner Vorstellung unser Absolutes herabgesunken ist und
wodurch« (Schelling 1804, 54 / SW VI, 51).
46 Eschenmayer 1803, 64 (§ 71).

47
Eschenmayer 1803, 69 f. (§ 73).

152
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

ihr, so ist der Gegensatz absolut«. 48 Damit versucht er Schelling eines


Widerspruchs zu überführen zwischen dem Prinzip und demjenigen,
was dieses zu leisten habe, oder zwischen demjenigen, was als Prinzip
angesetzt wird (die absolute Identität), und dessen Funktion als Prin-
zip. Danach würde die absolute Identität sich deshalb nicht als Prinzip
eignen, weil es dasjenige, was ein solches zu leisten hätte, nämlich die
Ableitung der Differenz aus ihm, gar nicht zu leisten vermag. 49 Auf
diesen Einwurf hat Schelling jedoch bereits mit der oben referierten
Konstruktion der Idee des Absoluten geantwortet. Es ist nämlich zu
beachten, dass es sich, erstens, um eine komplexe Idee handelt, in
welcher die drei genannten Momente zu unterscheiden sind, und dass
die absolute Identität, zweitens, nicht das wäre, was sie ist, wenn sie

48 Eschenmayer 1803, 70 (§ 73).


49 Dies ist seitdem das klassische Argument gegen Schellings Ansatz. Zum ersten Mal
wurde es von Fichte in dessen – erst posthum veröffentlichten – Randbemerkungen
zur Darstellung meines Systems formuliert: »Er kann überhaupt durch blosses Den-
ken nicht aus der Indifferenz heraus kommen. Jedes andere Wort, das er nun noch
vorbringt, ist erschlichen«. Der Vorwurf bildet das Leitmotiv seiner Auseinanderset-
zung. Der Grund dieses Vorwurfs liegt wohl in der Annahme Fichtes, dass man nur so
»aus der Indifferenz heraus kommen« könnte, dass man »durch eine Analyse jener
Erklärung« oder Definition neue »Prädikate« ableitet oder gewinnt (GA II,5, 484, 485,
492, 498; Herv. v. Verf.). Das Argument wurde seitdem öfters wiederholt. Adolf
Schurr formuliert es so: »Ein Indifferenzpunkt könnte nur dann zum Ausgangspunkt
des Systems der Philosophie gemacht werden, wenn er nicht die bereits erörterte Un-
möglichkeit implizierte, aus ihm überhaupt deduzieren zu können. Es gibt nur zwei
Möglichkeiten: entweder wird in den Indifferenzpunkt ›absolute Identität‹ gesetzt –
aber in diesem Fall kann nicht deduziert werden; oder wird der Indifferenzpunkt als
›untrennbares Beisammenseyn des Endlichen mit dem Unendlichen‹ begriffen, also
nicht absolute Identität gesetzt – aber dann läge der Ausgangspunkt der Philosophie
auch nicht im ›totalen Indifferenzpunkt‹«; »Aus dieser Widersprüchlichkeit seines
Ansatzes, dass entweder nicht aus dem deduziert wird, was als Ausgangspunkt der
Philosophie gesetzt wird, nämlich aus einem Indifferenzpunkt qua absoluter Identität
– oder dass nur behauptet wird, es werde deduziert, weil aus der absoluten Identität
einsichtigerweise nicht deduziert werden kann, vermag Schelling nicht herauszukom-
men«; »Die schellingsche Grundlegung der Philosophie scheitert notwendig an ihrer
selbstgestellten Aufgabe: aus einem absoluten Indifferenzpunkt deduzieren zu müs-
sen« (Schurr 1974, 167–169). Ähnlich Jürgens 2000, 115, 119, 121: »Aus diesem
Punkt muss folglich die Differenz der entgegengesetzten Richtungen im Parallelis-
mus von Transzendental- und Naturphilosophie abzuleiten sein«; »Nachdem die Re-
flexion bis auf die Selbigkeit des einfachen A als Identität der Identität zurückgegan-
gen ist, kann der Unterschied nicht mehr in oder aus dieser Identität entfaltet werden.
Er muss in sie hineingetragen werden, weil sie aus sich den Unterschied nicht her-
vorbringen kann«; »Diesen Widerspruch kann die DSP [Darstellung meines Systems,
R. S.] nicht vermitteln«.

153
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

sich nicht auch darstellen würde. Die absolute Identität muss danach
auch zu erkennen sein, wobei dieses Erkennen doch nur ein Selbst-
erkennen sein kann, weil das Wesen sonst als ein Objekt oder Erkann-
tes für eine außer ihm befindliche Instanz gedacht würde, was mit
dessen Absolutheit in Widerspruch wäre. Deshalb legt Schelling ein
solches Gewicht auf das Selbsterkennen oder auf die Form als not-
wendiges (und zweites) Moment der Idee des Absoluten.
Eschenmayers Einwand beruht denn auch auf einer Annahme be-
züglich der Natur der Selbsterkenntnis:
Sagt man etwa, die absolute Form der Vernunft ist das Selbsterkennen,
sie kann aber nicht sich selbsterkennen, ohne aus sich herauszutreten,
und kann nicht aus sich heraustreten, ohne sich zu theilen, so ist dies
immer einerley, und das Problem kommt immer wieder in einer neuen
Gestalt. 50
Schellings Erwiderung richtet sich denn auch gegen die Annahme,
wonach ein Selbsterkennen ohne ein Heraustreten oder ohne eine
Differenz zwischen sich selbst als Erkennendem und als Erkanntem
nicht zu denken wäre. Der Einwurf übersieht, dass die Form als ein
konstitutives Moment zur Idee des Absoluten gehört. Die Hauptfrage
dieses Abschnitts kann somit erst dann »mit einiger Hoffnung, über
die Antwort nicht wieder missverstanden zu werden, beantwortet
werden«, wenn zunächst das Bedenken zurückgewiesen ist, dass ein
Selbsterkennen nicht anders denn als »ein Herausgehen der Absolut-
heit aus sich selbst, ein Sich-theilen derselben, ein Differenziirtwer-
den, verstanden« werden kann. 51 Es gilt somit zu zeigen, dass das
Selbsterkennen oder die Form ein notwendiges Moment der Idee des
Absoluten selbst ist. Schelling erwägt dazu ausführlichst alle mögli-
chen Annahmen, wonach das Selbsterkennen als ein Herausgehen
der Identität aus sich selbst zu denken wäre. 52
Den »Grund des Misverständnisses« sieht Schelling darin, dass
»der Begriff einer realen Folge […] auf diese Verhältnisse übergetra-
gen wird, welche ihrer Natur nach bloss die einer idealen Folge seyn

50 Eschenmayer 1803, 70 (§ 73).


51 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31.
52 Vgl. Schelling 1804, 25–28 / SW VI, 32–34. Solche Einwände hatte Schelling in

den Ferneren Darstellungen antizipiert und dort auch mittels der Behauptung der
Indifferenz von Wesen und Form im Fall des Absoluten zu erwidern gesucht (vgl.
Schelling 1802b, 44 f., 50, 60 f. / SW IV, 368, 373, 380; Schelling 1803c, 4 f. / SW IV,
392).

154
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

können«. 53 Man hat, anders gesagt, diese Verhältnisse als Kausalitäts-


verhältnisse interpretiert oder den Begriff des Grundes mit dem der
Ursache verwechselt. 54 Das Wesen ist hier aber bloßer Grund (Ideal-
grund), nicht Ursache (Realgrund). Auf diese Bestimmung des We-
sens als Idealgrund oder der Form und des Realen als bloß idealer
Folgen beruhen auch sämtliche Bestimmungen, die nach Schelling
von diesen Verhältnissen ferngehalten werden müssen. So folgt da-
raus, dass die Form das Zweite und das Reale das Dritte ist, dass diese
also in dieser bestimmten Ordnungsfolge gedacht werden müssen,
noch nicht, dass sie auch nacheinander sind. Dieser Schluss ist nur
im Falle eines Realgrundes gültig, in dem die Wirkung in der Tat nach
der Ursache gedacht werden muss. 55 Dies hängt auch damit zusam-
men, dass man ungenügend beachtet hat, dass diese ganze Konstruk-
tion keineswegs zu erklären versucht, wie die Form und das Reale
tatsächlich entstanden sind, sondern dass sie diese lediglich als not-
wendige Momenten der Idee des Absoluten erweisen will. 56
Nachdem er Eschenmayers Einwand zurückgewiesen hat, geht
Schelling zur Beantwortung der ersten Frage nach der Entstehung
potentieller Differenzen über, also zu einer Betrachtung des Realen. 57

53 Schelling 1804, 26 / SW VI, 32 f.


54 Für Spinoza ist Wissenschaft: Erkenntnis der causae; damit sind nicht so sehr Ur-
sachen, sondern vielmehr Gründe gemeint. Auch die causae efficientes sind keine
Wirkursachen im üblichen Sinne, sondern im Zusammenhang von Spinozas Ver-
ständnis der genetischen Definition zu verstehen (vgl. dazu De Dijn 1973, 716, 718,
727). Wenn Jacobi die Unterscheidung zwischen Grund und Ursache besonders her-
vorhebt, dann dürfte dies nicht so sehr gegen Spinoza gerichtet sein, als vielmehr nur
auf einen Grund eines Missverständnisses von dessen Lehre aufmerksam machen,
dem man allerdings durch die Zweideutigkeit des lateinischen causa leicht verfällt
(Jacobi 1789, 247–265, bes. 255–257).
55 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. Dies wird in Schelling 1804, 28 / SW VI, 34, noch-

mals bekräftigt: »dass auch in Bezug auf die Form das schlechthin-Ideale in seiner
reinen Identität bleibt«.
56 Dies gilt auch für geometrische Konstruktionen, die ebenfalls nicht zu erklären

versuchen, »wie ein Ding tatsächlich hervorgebracht wird, sondern wie die Hervor-
bringung desselben gedacht werden kann, damit wir seine wesentliche Struktur ein-
sehen« (De Dijn 1973, 716). Hierher dürfte auch Schellings Versicherung gehören,
dass er »weiß, daß ich durchgängig nur mit meiner eignen Construction zu thun
habe« (AA I,10, 95). Dadurch soll diese keine bloß subjektive Bedeutung erhalten (als
ob diese Konstruktion im Belieben des konstruierenden Subjekts standen), sondern
Schelling will nur betonen, dass er hier kein tatsächliches Geschehen konstruiert,
sondern nur eine Struktur aufdeckt, die es erlaubt, alle Eigenschaften des Konstruier-
ten daraus abzuleiten und damit diese als notwendig dazugehörig einzusehen.
57
Schelling 1804, 28 f. / SW VI, 34 f.

155
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Auch hier geht er zunächst wieder negativ vor, indem er mit solchen
Merkmalen des Absoluten operiert, die sich aus einem Vergleich mit
Nicht-Absolutem ergeben. Der für das endliche Vorstellen oder Er-
kennen gültige Schluss, wonach das Reale oder Erkannte vom Erken-
nen verschieden sein muss, da das Erkennen nur ideal ist, gilt in An-
sehung des absoluten Selbsterkennens nicht. Das Reale oder das
Dritte kann somit kein bloßes Objekt sein, sondern ist als Subjekt-
Objekt zu denken, so wie die Objektivierung des Wesens als ein »Hi-
neinbilden, Hineinschauen seiner selbst in das Reale«. 58 Nur als Sub-
jekt-Objekt ist das dritte Moment auch selbst absolut und selbstän-
dig, was es nach der Anforderung sein soll. Umgekehrt impliziert die
Form in diesem Fall kein Außer-sich-Sein des sich darstellenden We-
sens, da es sich in die Form einbildet und statt in einem Objekt sich in
einem Subjekt-Objekt darstellt. Auch die Selbsterkenntnis impliziert
in diesem Fall kein Aus-sich-Herausgehen, kein Sich-Teilen oder
-Differenzieren des Absoluten. Zugleich erhält das Wesen oder das
Ideale, indem es sich mittels der Form in dem Realen einbildet, selbst
dadurch eine neue Qualität, nämlich die eines Subjekts. 59 Erst mit
diesem dritten Moment ist die Idee vollständig, da diese erst hier der
auf negativem Wege gewonnenen Norm genügt. Im Gegensatz zum
Wesen ist das Dritte oder das Reale nicht einfach, sondern selbst eine
Mannigfaltigkeit: Es ist nicht ein einfach Reales, sondern »das Ideale
dargestellt im Realen«, es ist per definitionem Darstellung des Idea-
len. 60 Demnach gibt es »kein Reales an sich, sondern nur ein durch
Ideales bestimmtes Reales«. 61 In ihrer Eigenschaft als Moment der
Idee des Absoluten kommt jedem dieser Momente die Absolutheit
zu. Deshalb bestimmt Schelling das Reale auch als »ein anderes Ab-
solutes«. 62 Dies ist es insofern, als das Wesen in ihm eingebildet ist,
dieses in dieser Einbildung aber, wie gesagt, die Qualität des Subjekts
oder auch des Grundes annimmt.
Das Verhältnis des ersten, zweiten und dritten Moments in der
Idee des Absoluten wiederholt sich somit im Fall des dritten Mo-
ments, indem dieses selbst ein (anderes) Absolutes ist: Wie jenes, so

58 Schelling 1804, 28 f. / SW VI, 34.


59 Vgl. Schelling 1804, 26 / SW VI, 33.
60 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.

61 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. In der Darstellung meines Systems wird das Dritte

oder Reale auch als »absolute Totalität« bestimmt (AA I,10, 127 (§ 26)). Vgl. dazu
auch: Schelling 1803c, 4–21 / SW IV, 392–403.
62
Schelling 1804, 23, 28 / SW VI, 31, 34.

156
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten

ist auch dieses als selbst produktiv von besonderen Formen zu den-
ken, von welchen es selbst die Totalität ist. Dadurch verhält das Dritte
sich zu seinen ›Produktionen‹ oder Darstellungen selbst wie das Erste
oder wie ein Subjekt. Es macht sich selbst zum Subjekt, insofern es
sich auch selbst objektiviert. »Dieses zweyte Produciren ist das der
Ideen« oder der Potenzen. 63 Diese Ideen verhalten sich zum Dritten,
insofern dieses sich zum Ersten oder Subjekt macht, selbst wieder als
das Dritte oder Subjekt-Objekt:
Auch die Ideen sind relativ auf ihre Ureinheit [relativ auf das Reale, das
im Verhältnis zum schlechthin-Idealen Dritte, R. S.] in sich selbst, weil
die Absolutheit der ersten in sie übergegangen ist, aber sie sind in sich
selbst, oder real, nur sofern sie zugleich in der Ureinheit, also ideal
sind […].
Auch die Ideen sind nothwendig wieder auf gleiche Weise pro-
ductiv […]. 64
Diesen Prozeß bezeichnet Schelling auch als »die wahre transcenden-
tale Theogonie«, als einen Prozeß der Zeugung oder als einen Prozeß
einer »ewigen Geburt«. 65 Diese Bezeichnung ist deshalb zutreffend,
weil »das Gezeugte von dem Zeugenden abhängig und nichts desto-
weniger selbständig ist«. 66

63 Schelling 1804, 29 / SW VI, 35.


64 Schelling 1804, 29 f. / SW VI, 35; erste Herv. v. Verf.
65 Schelling 1804, 3, 30, 33 / SW VI, 17, 35, 37.

66
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. In der Freiheitsschrift spricht Schelling deshalb
von einer »derivirten Absolutheit«: »Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbst-
offenbarung Gottes«, da »eine Folge, die nicht Zeugung, d. h. Setzen eines Selbststän-
digen ist«, der »Idee« des »göttlichen Wesens« »völlig widersprechen« würde (Schel-
ling 1809a, 413 f. / SW VII, 346 f.). In Philosophie und Religion und früher spricht
Schelling stattdessen von einem Selbsterkennen des Absoluten (vgl. Schelling 1804,
24 / SW VI, 31; AA I,10, 124 (§ 19 Zus.; § 20)). Das Selbst der Selbstoffenbarung ist
zugleich Subjekt und Objekt des Offenbar-Werdens, indem es sich selbst als es selbst
offenbar wird oder eben: sich selbst erkennt. Schelling fährt fort: »Allein die göttliche
Imagination, welche die Ursache der Spezifikation der Weltwesen ist, ist nicht wie die
menschliche, dass sie ihren Schöpfungen bloss idealische Wirklichkeit ertheilt. Die
Repräsentationen der Gottheit können nur selbstständige Wesen seyn […]. Der Be-
griff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit ist so wenig widersprechend, dass
er vielmehr der Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche Göttlichkeit
kommt der Natur zu« (Schelling 1809a, 414 f. / SW VII, 347; vgl. Schelling 1804,
28 / SW VI, 34). Wenn Schelling dazu bemerkt, dass »eine so allgemeine Deduktion«
»für den tiefer sehenden« »ungenügend« ist, dann betrifft dies nur die Frage nach
dem Wesen der menschlichen Freiheit. Die allgemeine Deduktion zeigt zwar, dass »die
Läugnung formeller Freyheit mit dem Pantheismus nicht nothwendig verbunden« ist,

157
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

3. Der Abfall als formelle Anforderung

Wie gesagt führt Schelling die vollständige Potenzenkonstruktion an


dieser Stelle nicht durch. Dieser Aufgabe hatte er sich in früheren
Schriften besonders gewidmet. Im Hinblick auf die hier zu lösende
Aufgabe (die Abkunft der endlichen Dinge) genügt es, an das »Ge-
setz« oder Prinzip zu erinnern, wonach eine solche Konstruktion zu
verfahren hat, nämlich dass »sich die ganze absolute Welt, mit allen
Abstufungen der Wesen auf die absolute Einheit Gottes reducirt«. 67
Damit ist gesagt, dass alle nach diesem Prinzip konstruierbaren Po-
tenzen sämtlich als Präsentationsweisen des Absoluten oder Gottes
gelten können, die zwar untereinander quantitativ different sind, in
Bezug auf Gott jedoch insofern alle gleich sind, als sie alle die Struk-
tur des Absoluten gleicherweise in sich ausdrücken. Schelling kann
denn auch schließen, dass »demnach in jener [absoluten Welt, R. S.]
nichts wahrhaft Besonderes« ist und nach jenem Prinzip keine kon-
kreten, individuellen Dinge konstruiert werden können, sondern
lediglich bestimmte Seinstypen, die indessen jedes jeweils eigene In-
dividuationsprinzipien implizieren, und dass also »bis hierher nichts
ist, das nicht absolut, ideal, ganz Seele, reine natura naturans
wäre«. 68 Bereits aufgrund ihres Prinzips kann die Potenzenkonstruk-

sondern dass die schellingsche Version des Pantheismus mit dem Begriff formeller
Freiheit sehr wohl verträglich ist (Schelling 1809a, 415 / SW VII, 347). Damit ist aber
das Spezifische der menschlichen Freiheit (vgl. Schelling 1809a, 419 f. / SW VII,
350 f.), als »Vermögen des Guten und des Bösen« (Schelling 1809a, 422 / SW VII,
352), noch ungenügend erfasst. Jenen Zeugungsprozess wiederholt Schelling erneut
im Rahmen des eigentlichen Gedankengangs der Abhandlung (Schelling 1809a, 432–
435 / SW VII, 359–362). »Theogonie« definiert Schelling als eine Zeugung, als »die
einzige Art der Abhängigkeit, bei welcher das Abhängige gleichwohl in sich absolut
bleibt« (SW V, 405).
67
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
68 Vgl. auch die wichtige Bemerkung Schelling 1803c, 8 / SW IV, 395: »jene Schema-

tismen [der Weltanschauung; gemeint sind die Ideen oder Potenzen, R. S.] sind nur
dadurch möglich, dass sie die ungetheilte Fülle der Einheit in sich aufnehmen können,
also als besondere vernichtet werden«. Alle Potenzen sind sich demnach darin gleich,
dass sie alle die dreieinige Struktur des Absoluten aufweisen und dadurch alle als
Darstellungen desselben gelten können. Schelling fährt fort: »Denn als solche [als
Besondere, R. S.] würden sie das absolute Wesen beschränken, indem sie andere For-
men von sich ausschlössen«. Für das Verhältnis der Potenzen zum absoluten Wesen
gilt der Satz determinatio est negatio demnach nicht: Die Potenzen sind keine solche
Bestimmungen, die eine Negation implizieren. Dies zeigt sich daran, dass das Abso-
lute oder die dreieinige Struktur es von sich aus nicht ausschließt, auf unendlich viele

158
Der Abfall als formelle Anforderung

tion auch auf gar kein anderes Resultat führen als ein solches, das
selbst unendlich ist. 69 Auf diese Weise soll die Konstruktion der »ab-
solute[n] Welt, mit allen Abstufungen der Wesen« der Forderung,
dass die absolute Identität gleich der absoluten Totalität ist, Genüge
tun. 70 In diesem System der Vernunftwissenschaft wird demnach, wie
bereits 1801 bemerkt, durchgängig von der ›Absondrung‹ abstra-
hiert. 71 Die Grenze, die Schelling hier andeutet (vgl. ›bis hierher‹),
gibt zu erkennen, dass jetzt die zweite der Fragen, die Eschenmayer
vermischt hatte, behandelt werden soll. Die erste Frage, die ›bis hier-
her‹ Thema war, war die »nach der Möglichkeit des Selbsterkennens
der Absolutheit«. 72 Insofern jene Darstellungen dem Sich-Darstellen-
den völlig angemessen sind, bilden sie das geeignete Medium seiner
Selbsterkenntnis. Jetzt soll die Frage »nach Entstehung der wirklichen
Differenzen aus ihr, (welche zu begreifen etwas ganz anders erfordert
wird)« behandelt werden, und damit, so können wir schließen, die

Weisen repräsentiert zu werden. Die Potenzen werden erst dann zur Negation, wenn
sie aufeinander bezogen werden und sich dadurch gegenseitig ausschließen oder in
einem Gegensatz gesetzt werden.
69
Hier ist an die von Spinoza übernommene Unterscheidung zu erinnern zwischen
dem, was »an sich« oder »Kraft seiner Definition« unendlich ist und dem, was »nicht
unendlich ist Kraft seines Wesens, sondern Kraft seiner Ursache (vi causae suae)«
(Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Die erste Unendlichkeit kommt dem Wesen zu
und, indem dieses im Realen eingebildet wird, auch dem subjektiven oder idealen
Moment im Realen. Die zweite Form der Unendlichkeit kommt dem Realen zu, inso-
fern dieses nur als Darstellung des Wesens unendlich ist. Wird die ›Ursache‹ seiner
Unendlichkeit oder die Beziehung auf das Wesen, dem es seine Unendlichkeit ver-
dankt, weggenommen, so schließt es die Endlichkeit nicht aus. Schelling greift hier
auf Spinozas Epistola de Infinito zurück (Spinoza 1677, Bd. IV, 52–62; dazu Gueroult
1968, 500–528). Vgl. AA I,10, 120 (§ 10): »Die absolute Identität ist schlechthin un-
endlich«, schlechthin, d. h. »so gewiß als sie ist« oder aufgrund ihres Wesens. Der dort
gegebene Beweis zeigt, dass es dem Begriff einer absoluten Identität widerstreitet, als
endlich gedacht zu werden. Dem Begriff des Realen aber widerstreitet es nicht, endlich
zu sein, da es nur aufgrund seiner Ursache oder seiner Beziehung auf das Wesen
unendlich ist.
70
Schelling 1804, 22 / SW VI, 35. Vgl. AA I,10, 127 (§ 26).
71 »Wie es aber möglich sey, daß von dieser absoluten Totalität irgend etwas sich

absondere oder in Gedanken abgesondert werde, dieß ist eine Frage, welche hier noch
nicht beantwortet werden kann, da wir vielmehr beweisen, daß eine solche Absond-
rung nicht an sich möglich, und vom Standpunct der Vernunft aus falsch, ja, (wie sich
wohl einsehen läßt) die Quelle aller Irrthümer seye« (AA I,10, 130 (§ 30 Erl.)). Dass
jene Absonderung ›nicht an sich möglich‹ ist, heißt noch nicht, dass sie schlechthin
unmöglich wäre, sondern nur, dass dazu ›etwas ganz anders erfordert wird‹, als durch
das Prinzip der Potenzenkonstruktion zur Verfügung gestellt wird.
72
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.

159
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Frage nach einer wirklichen Selbsterkenntnis oder nach den Bedin-


gungen, unter welchen die göttliche Selbsterkenntnis sich zu aktuali-
sieren vermag. 73
Obwohl das einzige ›Gesetz‹ der Potenzenkonstruktion bereits für
sich genommen genügte, um einzusehen, dass es zwischen der »In-
tellectualwelt und der endlichen Natur« keine Stetigkeit geben kann,
so nähert Schelling sich der Beantwortung der zweiten Frage so an,
dass er zunächst einige alternative Versuche, die sich auf die Annah-
me einer solchen Stetigkeit stützen, einer kritischen Prüfung unter-
zieht. 74 Schelling führt somit auf einem doppelten Weg zum Begriff
des Abfalls hin: zunächst insofern das Scheitern bisheriger Erklä-
rungsversuche der Endlichkeit auf den Verstoß gegen jene Anforde-
rung zurückzuführen ist, sodann insofern der Begriff sich notwendig
aus dem Prinzip der Potenzenkonstruktion ergibt. Auch hier können
wir somit einen negativen und einen positiven Beweisgang unter-
scheiden. Die bisherigen Versuche haben nach Schelling gemeinsam,
dass sie »vergeblich« »zwischen dem obersten Princip der Intellec-
tualwelt« oder zwischen dem »Einen ersten Gesetz der Form der Ab-
solutheit« und »der endlichen Natur eine Stetigkeit hervorzubrin-
gen« suchen. 75 Sie (müssen) scheitern, weil sie sich eben dies zum
Ziel gesetzt haben, ohne zu sehen, dass es zwischen beiden eben keine
Stetigkeit geben kann. Das Problematische an diesen Versuchen liegt
somit nicht so sehr in der Weise, wie sie diese Stetigkeit, sondern
darin, dass sie überhaupt eine solche hervorzubringen suchen. Die
Formulierung der Aufgabe beruht bereits auf einer falschen Ansicht
des Verhältnisses zwischen Prinzip und endlicher Natur.
Die ›unzähligen Versuche‹ lassen sich nach Schelling auf zwei
Grundoptionen zurückbringen. (1.) Nach der ersten Option, die
Schelling als Emanationslehre bezeichnet, wird »das Absolute zum
positiv Hervorbringenden des Endlichen« gemacht. 76 Es handelt sich
um solche Theorien, die das Absolute als Ursache der Endlichkeit
denken, statt es – wie Schelling – bloß als Grund zu denken. Das
Vorgehen ist insofern widersprüchlich, als zum einen die »Ausflüsse
der Gottheit« letztendlich ihre Göttlichkeit und Vollkommenheit ver-
lieren, zum anderen alle »Ausflüsse« nur als gleich vollkommen ge-

73 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.


74
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
75 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; Herv. v. Verf.
76
Schelling 1804, 34 / SW VI, 37.

160
Der Abfall als formelle Anforderung

dacht werden können: »so ist nothwendig jede folgende Effulguration


wieder absolut«, »nirgends aber ist ein stetiger Uebergang in das
gerade Gegentheil«. 77 Von den referierten Versuchen ist dieser jeden-
falls nach Schellings Ansicht der am wenigsten falsche. 78 Der Ver-
such, das Verhältnis der Sinnenwelt zum Absoluten als eine »Entfer-
nung« zu denken und dadurch nur eine indirekte Beziehung zwischen
beiden zuzulassen, ist zwar im Prinzip nicht unrichtig, wenn auch
nicht konsequent durchgeführt. 79 Der Versuch, dieses Verhältnis als
eine Entfernung zu denken, bleibt noch an die Forderung, eine Stetig-
keit zwischen beiden hervorzubringen, gebunden, statt die Entfer-
nung konsequent als ein »Abbrechen« oder einen »Sprung« zu den-
ken. 80 (2.) War in der Emanationslehre noch ein Keim der richtigen
Ansicht zu entdecken, wird die Lehre einer Schöpfung als der »rohes-
te Versuch« bezeichnet, weil er, anders als jener, »eine directe Bezie-
hung des göttlichen Wesens, oder seiner Form, auf das Substrat der
Sinnenwelt annimmt«. 81

77
Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1805b, 77–80 / SW VII, 191 f.
78 Das zeigt sich auch daran, dass er den Begriff, durch welchen er diesen Versuch
charakterisiert (»Entfernung«: Schelling 1804, 31 / SW VI, 35 f.), wenig später
(Schelling 1804, 35 / SW VI, 38) für seine eigene Position vindiziert. – In der Frei-
heitsschrift wird Schelling diese Kritik an der Emanationslehre wiederholen (vgl.
Schelling 1809a, 426, 505 / SW VII, 355, 411). Diese scheitert daran, die Endlichkeit
und a fortiori das Böse zu erklären, d. h. gegen diese Lehre lässt sich genau jener
Einwand vorbringen, den Eschenmayer und Friedrich Schlegel gegen Schelling vor-
gebracht hatten. Sie scheitert an dieser Erklärung aber nicht, weil sie eine Form des
Pantheismus ist, sondern weil sie den Pantheismus mit einer mit ihm nicht verträg-
lichen Voraussetzung (nämlich der Realität der Endlichkeit) verknüpft oder auch weil
sie nicht ›pantheistisch‹ genug ist.
79 Schelling 1804, 31 / SW VI, 35. »Nur der wird den Stachel jener Frage, wie Plato

sagt, aus der Seele sich reissen, der alle Stetigkeit des erscheinenden Alls mit der
göttlichen Vollkommenheit abbricht« (Schelling 1804, 31 / SW VI, 36). Schelling ruft
hier das Platon-Zitat aus der Präambel in Erinnerung (vgl. Schelling 1804, 18 f. /
SW VI, 28).
80 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.

81
Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Wenig später
ordnet Schelling den Begriff einer »Schöpfung, als ein positives Hervorgehen aus der
Absolutheit« der »Volksreligion« zu und setzt dieser die platonische Lehre eines Ab-
falls entgegen (Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 39). Da sich auf die Lehre des Abfalls
auch eine »practische Lehre« gründet, so impliziert die Kritik am Schöpfungsbegriff
auch die Zurückweisung der dazu gehörigen praktischen Lehre. Diese Folgerung wird
erst später expliziert (vgl. Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55). – Auch die folgende
Bemerkung, die erste der »Ramificationen« des »zum Princip der Welt gemachten
Nichts der Ichheit« betreffend, scheint gegen den Schöpfungsbegriff gerichtet: »Das
erscheinende Universum ist nicht dadurch abhängig, dass es einen Anfang in der Zeit

161
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Gegen diese Versuche führt Schelling zwei Argumenttypen an.


Der erste Typ geht immanent vor: Die Kritik wird nicht aus der Warte
seines eigenen Systems geführt, sondern Schelling macht auf die
Schwierigkeiten aufmerksam, mit welchen die referierten Theorien
sich zwangsläufig konfrontiert sehen. Indem sie Gott zur Ursache
der Materie machen, machen sie ihn auch zum »Urheber des Bö-
sen«. 82 Diese Folge, auf welche solche Theorien Schelling zufolge
zwangsläufig hinauslaufen, ist das Indiz eines Defizits ihrer Erklä-
rung der Endlichkeit, da ein Gott, der Ursache des Bösen wäre, mit
allen vernünftigen Begriffen der Göttlichkeit in Widerspruch ist. Dies
scheinen die Urheber solcher Theorien auch selbst eingesehen zu ha-
ben, da sie sich dazu genötigt sahen, den Folgen ihres Ausgangs-
punkts auszuweichen, ohne diesen selbst revidieren zu müssen. Nach
Schelling erwächst die ganze Fragestellung der Theodizee aus einer
solchen unzulänglichen Erklärung der Endlichkeit. 83 Erkennt man
dem Endlichen selbst Realität zu, dann scheint es kaum noch ver-
meidbar zu sein, auch dem Bösen Realität zuzuschreiben. Der Folge,
Gott zum Urheber des Bösen zu erklären, lässt sich dann konsequen-
terweise nur dadurch ausweichen, dass man sich für den Dualismus
entscheidet. 84 Dieser Bemerkung kann man bereits entnehmen, dass
Schellings eigener Versuch der Anforderung genügen muss, diese
Klippe – Gott zum Urheber der Endlichkeit bzw. des Bösen zu machen
– zu vermeiden. Der zweite Typ besteht darin, den Grund dieser im-
manenten Schwierigkeiten anzugeben. Dieser liegt darin, dass man
gegen das ›Gesetz‹ der Potenzenkonstruktion verstößt oder nicht ge-
hörig zwischen den beiden Fragen nach der Entstehung potentieller
und wirklicher Differenzen oder zwischen Potenzen und endlichen
Dingen unterscheidet. Aus dem Scheitern der referierten Versuche
schließt Schelling: »[V]om Absoluten zum Wirklichen giebt es kei-
nen stetigen Uebergang«. 85 Anders gesagt: die Abkunft des Wirk-
lichen aus dem Absoluten bzw. ihr Verhältnis zu diesem kann nur
als ein »Abbrechen«, ein »Sprung«, eine »Entfernung« oder ein »Ab-

hat, es ist vielmehr der Natur oder dem Begriff nach abhängig und hat wahrhaft
weder angefangen noch auch nicht angefangen, weil es ein blosses Nichtseyn ist, das
Nicht-seyn aber eben so wenig geworden als nicht geworden seyn kann« (Schelling
1804, 43 f. / SW VI, 44; vgl. Schelling 1804, 48, 49 / SW VI, 47, 48).
82 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.

83
Vgl. Jacobs 1986, 233.
84 Vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37.

85
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf.

162
Der Abfall als formelle Anforderung

fall« gedacht werden. 86 Die Erörterung jener ›Versuche‹ führt also auf
dasselbe Resultat wie die immanente Logik des Prinzips.
Erst nach dem Referat der überlieferten Lehren kehrt Schelling
zur eigentlichen Fragestellung zurück. Er hatte behauptet, dass »bis
hierher«, also in der absoluten Welt, »nichts ist, das nicht absolut,
ideal, ganz Seele, reine natura naturans wäre«. 87 Durch das ›Eine
erste Gesetz der Form der Absolutheit‹ ist alles, was innerhalb der
absoluten Welt konstruiert werden kann, insofern es im Absoluten
ist, auch selbst absolut, d. h. »absolut in sich selbst«. 88 Dies ist eine
Folge des Obigen und nach Schelling auch mit der platonischen Lehre
in Übereinstimmung. Schelling formuliert dies nochmals so: »Das
ausschliessend Eigenthümliche der Absolutheit ist, dass sie ihrem Ge-
genbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit ver-
leiht. Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität
des ersten Angeschauten ist Freyheit«. 89 Im Absoluten sind demnach
Notwendigkeit und Freiheit absolut identisch. Die Formen können
das Absolute nur insofern zum Ausdruck bringen, als sie auch selbst
absolut sind. Die Potenzen sind demnach absolute Formen. Schelling
fügt hinzu:
[V]on jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes [von dieser abso-
luten Freiheit, R. S.] fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit
wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel der
in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 90
Wenn es so ist, dass das (absolute) Gegenbild frei ist, dann muss die
Freiheit auch in der Erscheinungs- oder Sinnenwelt, in der natura
naturata, ebenso auftreten. Die Freiheit muss somit selbst erscheinen
können. In einer solchen Erscheinung der Freiheit hätten wir ›die
letzte Spur‹ oder das ›Siegel‹ der absoluten Freiheit. Zweierlei gilt es
danach zu erklären: Erstens, dass die endlichen Dinge in den Ideen
ihren Ursprung haben, oder die Abkunft der endlichen Dinge aus
dem Absoluten; zweitens, wie sie aus den Ideen entspringen und da-
mit wie sie sich zum Absoluten verhalten, oder ihr Verhältnis zu ihm.
Dabei wird sich zeigen, dass den nicht-menschlichen endlichen Din-
gen nur ein mögliches Verhältnis zum Absoluten offensteht, nämlich

86 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.


87 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
88
Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.
89 Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.
90
Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39.

163
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

nur ein indirektes oder nur ein Verhältnis zu ihm als zu ihrem Grun-
de. Umgekehrt verhält sich das Absolute dadurch zu ihnen als der
Grund ihrer Existenz oder Realität. Erst den menschlichen Wesen ist
ein doppeltes Verhältnis zum Absoluten möglich.
Aus den bisherigen Betrachtungen zieht Schelling, wie gesagt, den
Schluss: »[V]om Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen
Uebergang«. 91 Dies war bereits dem Prinzip der Potenzenkonstrukti-
on abzulesen, da nach demselben die Potenzen untereinander nur
quantitativ different sein können und sie auch im Verhältnis zum
Absoluten nicht wirklich oder qualitativ von diesem verschieden sein
können. Damit hat Schelling bloß wiederholt, dass zur Lösung dieser
Frage »nach Entstehung der wirklichen Differenzen« aus dem Abso-
luten »etwas ganz anders erfordert wird«, als für die Potenzenkon-
struktion erforderlich war. 92 Wenn es zwischen dem Absoluten bzw.
dessen Potenzen und dem Wirklichen bzw. den endlichen, einzelnen
Dingen keine Stetigkeit geben kann, dann kann man dies auch so
formulieren, dass »der Ursprung der Sinnenwelt […] nur als ein voll-
kommnes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung,
denkbar« ist. 93 Wie gesagt geht Schelling hier ganz analog vor wie in
der Darstellung meines Systems. Dort hatte er gezeigt, wie das
Selbsterkennen wesentlich zur Idee einer absoluten Identität gehört,
jenes Selbsterkennen aber eine Differenz von Subjektivität und Ob-
jektivität erfordert, die nur quantitativer Art sein kann, weil die An-
nahme einer andersgearteten Differenz zu einem Widerspruch mit
dem Prinzip der absoluten Identität und damit einer Aufhebung der

91 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf. So soll der Satz, dass »der Ursprung
keines endlichen Dings unmittelbar auf das Unendliche zurückgeführt, sondern nur
durch die Reihe der Ursachen und Wirkungen begriffen werden kann«, »dass nämlich
kein Endliches unmittelbar aus dem Absoluten entstehen und auf dieses zurück-
geführt werden kann« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41; Herv. v. Verf.), andeuten, dass
die hier durchgeführte Konstruktion der Forderung, keine Stetigkeit zwischen Abso-
lutem und Wirklichem anzunehmen, auch wirklich genügt. Dies zeigt sich daran, dass
das Absolute nur »nach dem Einen ersten Gesetz der Form der Absolutheit«, also nach
dem Gesetz der Identität gedacht werden kann, das Endliche aber gar nicht nach die-
sem Gesetz abgeleitet werden kann, sondern vielmehr nach dem Gesetz der Kausali-
tät, nämlich ›nur durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen begriffen werden
kann‹, die endlos ist (Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. AA I,10, 127 (§§ 27 f.) u.
132 f. (§§ 35–38)). Das Endliche ist also gar nicht durch das Gesetz der Identität, son-
dern durch das Kausalitätsgesetz bestimmt. Bereits dieses Gesetz drückt »ein absolu-
tes Abbrechen vom Unendlichen« aus (Schelling 1804, 39, 34 / SW VI, 41, 38).
92 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.

93
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.

164
Der Abfall als formelle Anforderung

Idee des Absoluten führen würde (vgl. AA I,10, 125 (§ 23)). Es ist also
zunächst gezeigt worden, dass das Selbsterkennen wesentlich zur
Idee des Absoluten gehöre, diese Idee ohne jenes Selbsterkennen
selbst aufgehoben wäre. Wenn es also eine zum Selbsterkennen er-
forderliche Differenz von Subjektivität und Objektivität geben soll,
dann muss diese als eine quantitative gedacht werden, weil sonst er-
neut die leitende Idee aufgehoben wäre. Daraus entsteht die Aufgabe,
wie eine solche quantitative Differenz zu denken sei. 94
So ist auch mit der Einführung des Ausdrucks des Abfalls nur eine
Konstruktionsanforderung oder eine Präzisierung der Aufgabe for-
muliert. Jeder Versuch, das Verhältnis von Absolutem und endlichen
Dingen nicht als einen Abfall zu denken, führt, so Schellings Behaup-
tung, auf Widersprüche. Der ganze Zusammenhang der Einführung
dieses Ausdrucks macht deutlich genug, dass Schelling mit ihm zu-
nächst nur eine formelle Anforderung bezeichnet haben will. So
kommt er erst ganz am Ende eines Absatzes vor, nachdem Schelling
dort vorher andere Ausdrücke verwendet hatte, wie ›Abbrechen‹,
›Sprung‹, ›Entfernung‹, als Gegenstücke zur Annahme einer Stetig-
keit oder Mitteilung. Wenn die Abkunft der endlichen Dinge aus dem
Absoluten erklärt werden soll, dann muss diese Erklärung der Anfor-
derung genügen, dass sie keine Stetigkeit beider impliziert, sondern
als ein Abfall gedacht wird. Dadurch ist somit noch nichts darüber
gesagt, wie diese Anforderung zu erfüllen sei. Damit argumentiert
Schelling dafür, dass jeder Lösungsversuch der Frage nach der Ab-
kunft der endlichen Dinge diese Anforderung zu erfüllen hat, wenn
er die Widersprüche vermeiden will, auf welche die bisherigen Ver-
suche nach dem Vorhergehenden unweigerlich führen. Damit ist also
nur die Richtung angezeigt, in welcher zu suchen sei, sowie die Rich-
tungen, die von vornherein auszuschließen sind, da sie gegen die An-
forderung verstoßen. Wie die Aufgabe zu lösen sei, ist erst in der
Folge zu zeigen. Man hat demnach strengstens zwischen zwei Thesen
zu unterscheiden. Nach der ersten These ist die gestellte Aufgabe nur
so zu lösen, dass die Abkunft der endlichen Dinge als ein Abfall ge-
dacht wird. Diese These ließe sich nur dadurch bestreiten, dass man
nachweist, wie eine Stetigkeit zwischen dem Absoluten und den end-
lichen Dingen angenommen werden kann, ohne dass sich daraus die

94
In der Darstellung meines Systems dienen die §§ 24–29 (AA I,10, 126 f.) dazu, diese
Aufgabe weiter zu präzisieren, während Schelling in den §§ 30–50 (AA I,10, 127–143)
zeigt, wie sie seiner Meinung nach zu lösen ist.

165
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

referierten Widersprüchen ergeben. Diese These ist insofern von


Schellings eigenem System unabhängig, da er zu ihr durch eine im-
manente Kritik der bisherigen Versuche gelangt. Die zweite These
betrifft Schellings eigenen Lösungsvorschlag, auf den wir erst weiter
unten eingehen können. Wer diese Lösung bestreiten will, bräuchte
dazu noch nicht das Abfalltheorem zu leugnen. Er hätte stattdessen
lediglich zu zeigen, dass Schellings Lösung die Anforderung, die Ab-
kunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als einen Abfall zu
denken, entweder nicht erfüllt oder dass es eine alternative Möglich-
keit gibt, einen solchen Abfall zu denken.
Es wäre jedenfalls eine allzu starke inhaltliche Aufladung dieses
Begriffs, in ihn sogleich eine christliche Sündenfallslehre hineinzuin-
terpretieren. 95 Unbestreitbar ist, dass der Ausdruck zu einer solchen
Interpretation geradezu einlädt. Auch sonst, allem voran in den Phi-
losophischen Untersuchungen, übernimmt Schelling gerne eine
theologisch aufgeladene Terminologie, wie z. B. ›Schöpfung‹, ›Offen-
barung‹ oder ›Vorsehung‹, um damit Begriffe zu bezeichnen, die mit
den theologischen Begriffen, insbesondere mit der Art, wie diese be-
gründet werden, nicht übereinzustimmen brauchen. Gerade bei der

95 So van Bladel 1965, 52, 59 f. Mit einem anderen kritischen Vorzeichen findet die-
selbe Interpretationslinie sich bspw. auch bei Hans-Jörg Sandkühler, der Schelling
eine »Wendung zur theologischen Sündenfallslehre« bescheinigt und daraus schließt:
»Schellings Geschichtsphilosophie ist eine eschatologische Fortschrittstheorie mit
dem Kriterium der Offenbarung des Absoluten. Sie ist eine verfallstheoretische Fort-
schrittskonzeption, denn unter den Bedingungen des Absoluten degeneriert die end-
liche Geschichte des Menschen zu einem notwendigen Medium der Seinsgeschichte,
notwendig in ihrer Depraviertheit« (Sandkühler 1968, 166, 168). Ebenso wenig kön-
nen wir Heideggers Diagnose zustimmen, wonach Sünde bei Schelling ein Indiz für
eine »Verweltlichung des theologischen Begriffs der Sünde und eine Verchristlichung
des metaphysischen Begriffes des Bösen« darstellt (Heidegger 1988, 251). Wenn
Schelling den Ausdruck gelegentlich auch verwendet, so stets im Zusammenhang
eines Begriffs des Bösen, wovon noch zu untersuchen wäre, inwiefern er sich mit
dem christlichen Sündenbegriff vereinigen ließe. In Philosophie und Religion jeden-
falls ist genau besehen nur ein einziges Mal von Sündenfall die Rede, und zwar um
die Philosophie Fichtes zu charakterisieren (vgl. Schelling 1804, 42 / SW VI, 43).
Xavier Tilliette bemerkt denn auch zu Recht, dass der Begriff »n’est pas emprunté à
la théologie, malgré l’emploi incident du terme ›péché originel‹ […]. [I]ci la significa-
tion chrétienne de la chute, et corrélativement de la création, est écartée« (Tilliette
1992, 490). Hier wie sonst werden dieser und verwandte Ausdrücke höchstens als
bildliche Ausdrücke verwendet, teils um zu einer christlich-orthodoxen Lektüre zu
verführen, teils um dem aufmerksamen Leser anzudeuten, wogegen das gerade ent-
wickelte Theoriestück sich richtet, teils um den sittlichen Charakter hervorzuheben,
der dem Abfall im Menschen zuwächst.

166
Der Abfall als formelle Anforderung

Wahl solcher Ausdrücke ist die Frage nach Schellings Intention mit
denselben von entscheidender Bedeutung, die Frage also, ob er eine
philosophische Rechtfertigung der christlichen Lehre intendiert oder
ob er durch solche Ausdrücke nicht vielmehr signalisiert, gegen wel-
che Alternative sein eigener Entwurf sich im Grunde richtet. 96 Da es

96 So unterstellt Michael Theunissen Schelling zwar die Intention, sowohl die Lehre
vom Sündenfall als auch der Schöpfung philosophisch zu legitimieren, kommt aber
dennoch nicht umhin, festzustellen, dass Schellings Begriffe von ›Sünde‹, ›Abfall‹ und
›Schöpfung‹ sich nur schwer mit christlichen Begriffen zur Deckung bringen lassen,
und ist z. B. dazu genötigt, von »Schellings, christlich gesehen, defizientem Schöp-
fungsbegriff« zu sprechen (Theunissen 1965, 181 f.). Sein Fazit lautet, dass »die Ver-
knüpfung der neuen Lehre vom Menschen mit der biblischen Sündenfallgeschichte
nur äußerlich ist« (Theunissen 1965, 185). Am schwerwiegendsten ist wohl, dass der
Sündenfall nach der christlichen Lehre eine Erbsünde ist, d. h. eine solche, der »zu-
folge sich in Adam das ganze Menschengeschlecht für das Böse entschieden hat«
(Theunissen 1965, 186), während nach dem Theorem der intelligiblen Tat jeder ein-
zelne sich für oder wider das Böse entscheidet. Nach dem christlichen Dogma ist die
Entscheidung für das Böse für die übrige Menschheit außer Adam notwendig, weil
durch diesen notwendig gemacht. Die Erkenntnis dieses Aspekts der christlichen Sün-
denfallslehre setzt keine mehr als nur gewöhnliche Bekanntschaft mit der christlichen
Lehre voraus. Nur weil er Schelling jene Intention zudichtet, sieht Theunissen sich
dazu genötigt, dessen Vorhaben als gescheitert anzusehen. Aufschlussreich sind fer-
ner noch folgende Äußerungen, aus welchen auch erhellen dürfte, inwieweit die Les-
art Theunissens sich der Position Eschenmayers annähert: »[E]s könnte sogar sein,
daß sich in der Abwegigkeit des Weges das Recht der Philosophie durchsetzt, die nicht
zu denken vermag, was Schelling ihr zu denken aufgibt: die derivierte Absolutheit im
schöpfungstheologischen Sinne. Dann wäre Schellings Scheitern das notwendige
Schicksal des Philosophen, der die geglaubte Geschöpflichkeit des Menschen zu den-
ken versucht, obwohl er sie nur glauben kann« (Theunissen 1965, 188; Herv. v. Verf.).
Auch Eschenmayer hatte behauptet, dass sich im Glauben eine Abhängigkeit des
Menschen von Gott zeigt oder offenbart, die nicht mehr demonstriert werden kann,
sondern die nur durch das Scheitern jeder Demonstration beglaubigt werden kann,
eine Abhängigkeit, die nur geglaubt, nicht erkannt werden kann. Zum Schluss ver-
weist auch Theunissen auf Kierkegaard und unterschreibt damit das jaspersche Dik-
tum, dass man Schelling nur im Ausgang von Kierkegaard wirklich verstehen kann.
Selbst in der Spätphilosophie verstünde Schelling die Gesetztheit oder Faktizität der
Freiheit als »Geschöpflichkeit«, aber »daß sie Geschöpflichkeit ist, das läßt er sich von
der Erfahrung vorgeben […]. Damit läßt sich der späte Schelling das Wissen von der
Geschöpflichkeit des Menschen zwar gerade nicht durch die Offenbarung vermitteln.
Aber seine These, wonach das Faktum der Schöpfung von der bei sich verbleibenden
Vernunft nicht begriffen werden kann, macht doch immerhin Platz für die Erkennt-
nis, daß dieses Faktum allein dem Glaubenden gewiß ist« (Theunissen 1965, 189;
zweite u. dritte Herv. v. Verf.). Anlässlich der Interpretation Fuhrmans’ bemerkt Louis
Van Bladel: »Die Schwierigkeiten aber, die Fuhrmans befürchtet, die Widersprüche,
die er entdeckt […] scheinen uns nur dann zu entstehen, wenn man Schellings Phi-
losophie um jeden Preis als einen transzendenten, explikativschöpferischen Theismus

167
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Schelling jedoch kaum verborgen geblieben sein konnte, dass der


Ausdruck eines ›Abfalls‹ eine Deutung nach dem Modell der Sünden-
fallslehre nicht nur nahelegt, sondern geradezu herausfordert,
scheint es sicherer, anzunehmen, dass Schelling mittels dieser Termi-
nologie unaufmerksamere Leser dazu verführen möchte, eine christ-
liche Lehre hineinzulesen oder seine Ansicht mit einer solchen we-
nigstens für verträglich zu halten, während er den aufmerksameren
Leser vielmehr auf die Unverträglichkeit beider aufmerksam machen
will. 97 So geht gerade aus dem Zusammenhang, in welchem er den
Abfall einführt, hervor, dass dieser als Gegenbegriff zum Begriff der
Schöpfung gemeint ist, den er als den »roheste[n] Versuch« bezeich-
net, sowohl die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als
auch ihr Verhältnis zu ihm zu bestimmen. 98

interpretieren will«, d. h. sie entstehen aus der Intention, die man Schelling zuschreibt
(van Bladel 1965, 53).
97 Vgl. Brouwer 2011, 172 f.: »Jedoch muss dieser Beruhigung, die mit dem bloßen

Aufscheinen von Trinität einsetzt, der beunruhigende Befund entgegensetzt werden:


Das Wort Trinität begegnet ebenso wie sein deutsches Äquivalent Dreieinigkeit in der
gesamten Freiheitsschrift kein einziges Mal. Auch das Wort Vater gibt es hier nicht!
Vom Sohn hingegen ist an zwei Stellen die Rede, jedoch nicht im Sinne trinitarischer
Verhältnisbestimmung in einem immanenten Sinne. Und schließlich taucht auch das
trinitarisch bedeutende Wort Person nicht in differenzierender Verwendung auf. Wir
müssen also feststellen: wenn Schelling trinitarisch spricht, so tut er dies, ohne von
Trinität zu sprechen, ja sogar noch weiter müssen wir es treiben: wenn es so sein soll,
dass Schelling trinitarisch argumentiert, dann tut er dies auf ganz und gar untrinita-
rische Weise«. Von der Idee der Dreieinigkeit behauptet Schelling, dass sie, »nicht
speculativ aufgefaßt, überhaupt ohne Sinn ist« (Schelling 1803a, 192 / SW V, 297;
vgl. SW V, 430 f.). Brouwer beobachtet ferner, dass Schelling »an keiner Stelle der
Freiheitsschrift von Christus« spricht. In dem Licht ist es schwer zu sehen, inwiefern
sie in der Folge die Begründung einer Christologie liefern soll, die sie höchstens »auf-
scheinen« lässt (Brouwer 2011, 274). Um mehr als um ein solches ›Aufscheinenlassen‹
oder eine Aktivierung gewisser Assoziationen scheint es Schelling in der Tat nicht zu
tun zu sein. Es ist denn auch zu bezweifeln, ob er mit dem Begriff des Absoluten, bes.
der drei Momente, die in demselben unterschieden werden, »ganz bewußt an ein
christliches Theorem […] angeknüpft hat« (so Holz 1970, 60). Vgl. ferner Mokrosch
1976, 310: »Die Themen und Begriffe, die Schelling in dieser Schrift [sc. Philosophie
und Religion, R. S.] aufgreift, sind auf den ersten Blick rein theologischer Natur. Er
möchte offensichtlich alle theologischen Hauptloci mit einem einzigen Schlag einfan-
gen: die Lehre von Gott, vom Ursprung des Bösen, von der Versöhnung, von der
Ewigkeit und von der Unsterblichkeit. Aber dieser theologische Tenor ist situations-
bedingt. Die Schrift stellt nämlich eine Antwort Schellings auf den theologisch-phi-
losophischen Traktat seines Würzburger Mediziner- und Philosophen-Freundes E. A.
[sic, R. S.] Eschenmayer […] dar«.
98
Schelling 1804, 31 f. / SW VI, 36; vgl. Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 39; und Schel-

168
Der Abfall als formelle Anforderung

Aufgrund dieser Überlegungen wäre es leicht irreführend, wenn


man, wie öfters geschieht, den Abfall zu einem, dazu noch zu dem
zentralen terminus technicus dieser Schrift hochstilisiert. Schelling
selbst gesteht ein, dass die Wahl dieses Ausdrucks vielleicht unge-
schickt, jedenfalls missverständlich war, dass er auch nicht als termi-
nus technicus gedacht, sondern nur durch die ursprünglich symboli-
sche Darstellungsweise motiviert war. 99 Der spätere Verzicht auf den
Ausdruck braucht demnach noch nicht zu bedeuten, dass Schelling
auch den durch ihn bezeichneten Begriff fallen lässt. Zudem bemerkt
Schelling genau an dem Ort, wo er diesen Ausdruck auf eine auffäl-
lige Weise verwendet, dass der entsprechende Begriff sich bereits an
solchen Stellen, wie im Gespräch Bruno, findet, wo der Ausdruck
selbst überhaupt nicht vorkommt. Am Anfang und am Ende des Ab-
schnittes, wo der Ausdruck so prominent vorkommt, hebt Schelling
ausdrücklich hervor, dass dasjenige, was er hier zu erörtern suchte,
keineswegs ›neu‹ ist, sondern bereits in früheren Schriften entwickelt
wurde. 100 So heißt es in der dem Hauptteil des Abschnittes über die
›Abkunft der endlichen Dingen‹ vorgeschalteten Präambel: Eschen-

ling 1809a, 403 / SW VII, 339: »Absolute Kausalität in Einem Wesen lässt allen an-
dern nur unbedingte Passivität übrig«.
99 In einem Brief an K. J. H. Windischmann vom 5. September 1805 bemerkt Schel-

ling, dass die Idee des Abfalls »unbequem für den wissenschaftlichen Vortrag der
Philosophie [ist], daher ich sie für diesen auch fallen lasse, wie ich sie ursprünglich
nur für die Darstellung eines philosophischen Gesprächs aufgenommen hatte«
(F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. September 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 252; Herv. v. Verf.). Es wird demnach nicht »die Abfallslehre relativiert«, sondern
es werden nur die Vor- und Nachteile des Ausdrucks diskutiert (Vergauwen 1975, 96).
In der von Vergauwen zitierte Briefstelle bemerkt Schelling: »[W]as gegen sie [die
Idee bzw. die Lehre des Abfalls, R. S.] gesagt worden ist, ist leicht zu beantworten«,
anders gesagt: Von den bisher vorgebrachten Einwürfen gegen die Idee selbst meint
Schelling, dass sie allesamt leicht zu beantworten sind. Er gesteht aber, dass der Aus-
druck leicht ›zu vielen Mißverständnissen‹ Anlass geben kann und ›daher unbequem
für den wissenschaftlichen Vortrag der Philosophie‹ ist. Es darf hier offenbleiben,
inwiefern er solche Missverständnisse hatte voraussehen können und inwiefern er
sie somit in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt hat. – Ebenso verfehlt scheint
es mir, den Begriff des Abfalls dadurch zu ›erklären‹, dass man ihn auf christliche,
neuplatonische oder gnostische Quellen zurückzuführen sucht. Dort, wo Schelling
den Ausdruck zum ersten Mal einführt, verweist er eben nicht auf solche Quellen,
sondern behauptet nur, dass diese Ansicht mit der »wahrhaft Platonische[n] [Lehre]«
übereinstimmt (Schelling 1804, 35 / SW VI, 38). – Für frühere Verwendungen des
Ausdrucks vgl. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; SW V, 424, 429, 437, 453, 467.
100 So auch Tilliette 1992, 487: »la clef de la solution, la théorie de la chute, n’est pas

une hypothèse soudaine, étrangère, et amenée pour les besoins de la cause«. Noch

169
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

mayer »findet ganz natürlich in den nächstfolgenden Stellen die be-


friedigende Auflösung nicht«; dennoch kommt »im Verlauf« Brunos
die Auflösung wirklich vor. 101 Am Ende des Abschnittes fasst Schel-
ling dann die bisherigen Erörterungen nochmals in drei thesenhaften
Sätzen zusammen, die er an Hand von Zitaten aus früheren Schriften
und mittels Hinweisen auf weitere Stellen nochmals ausdrücklich als
alles andere als neu hervorhebt. 102 Das wirklich Neue dieser Schrift
findet sich somit ausschließlich darin, dass die Darstellung des Sys-
tems hier »bis zu demjenigen Gebiet, (dem der praktischen Philo-
sophie), fortgeführt« werden soll, den er andernorts noch nicht be-
handelt hatte. 103 Dies geschieht nun offensichtlich erst ab dem
dritten, nicht aber bereits im zweiten Abschnitt. Wir können hier also
bereits festhalten, dass der ›Abfall‹ zwar eine terminologische, jedoch
keine begriffliche oder systematische Neuerung darstellt. Jedenfalls
kann er nicht in dem Sinn als ein terminus technicus angesehen wer-
den, als er zum einen nur durch die symbolische Darstellungsweise
motiviert war, zum anderen nur eine formelle Anforderung und noch
nicht die wirkliche Auflösung der Frage bezeichnet. Wir werden noch
Gelegenheit haben, auf die Vorzüge hinzuweisen, die der Ausdruck
dennoch bereithält.
Wenn Schelling es demnach unternimmt, das »relative Nichtseyn
der Besonderheit, d. h. ihr Seyn als nicht-absoluter […] in seinen nä-
hern Bestimmungen zu zeigen« (SW VI, 189 (§ 35 Folges.)) oder eine
»vollständige Ableitung aller Bestimmungen des einzelnen Dings«
durchzuführen (SW VI, 196 (§ 40 Zus.)), dann sind alle diese Bestim-
mungen in genau demselben Sinne negativ oder extrinsisch wie auch
die Bestimmungen des Absoluten, wie diese im ersten Abschnitt von
Philosophie und Religion abgeleitet wurden. 104 Auch diese Ableitung
geschieht im Vergleich, nun mit dem Absoluten. Auch von diesen
Bestimmungen gilt, dass nichts endlich oder einzeln sein kann, ohne
diese Bestimmungen aufzuweisen, dass sie es aber nicht durch diese
Bestimmungen sind, oder, anders gesagt: dass sie nicht das Prinzip der
Endlichkeit der Dinge enthalten. Die wichtigsten dieser Bestimmun-

stärker: »la chute n’a jamais été absent de l’horizon intellectuel de Schelling […]
l’Abfall est une constante de la pensée mouvante de Schelling« (Herv. v. Verf.).
101 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.

102 Vgl. Schelling 1804, 52 / SW VI, 49 f.

103
Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.
104 Dies geschieht in den Würzburger Vorlesungen in den §§ 36–41 (SW VI, 189–

199).

170
Die Möglichkeit des Abfalls

gen sind folgende: 1) Ein Endliches oder Einzelnes ist datierbar und
lokalisierbar oder zeitlich und räumlich verortbar; es nimmt einen
bestimmten räumlich-zeitlichen Ausschnitt ein. Diese Bestimmung
ist, wie die andere auch, nicht auf das, was man gewöhnlicherweise
›Ding‹ oder materielle Entität nennt, eingeschränkt, sondern ebenso
für Ereignisse gültig. So ist beispielsweise die Überschreitung des
Rubikons durch Caesar ebenso lokalisierbar und datierbar wie Caesar
oder der Rubikon selbst. 2) Es steht in kausalen Verhältnissen zu
anderen Dingen. So bildet die Überschreitung des Rubikons ein Er-
eignis, das in einer Kette von Ursachen und Wirkungen eingebunden
ist. Wir können sowohl die Ursachen untersuchen, die zu diesem Er-
eignis geführt, als auch die Folgen, die sich aus ihm ergeben haben.
3) Ein Einzelnes ist durch die ›Differenz von Wesen und Form‹ ge-
kennzeichnet. Keine der Ursachen, die zu jenem Ereignis geführt
haben, ist derart, dass es sich zwangsläufig aus ihnen ergeben hat.
Dasselbe gilt auch von den Wirkungen, die sich an es angeknüpft
haben. Diese tatsächlichen Wirkungen sind sozusagen nur ein Aus-
schnitt der möglichen Wirkungen, die sich daran hätten anknüpfen
können. 105

4. Die Möglichkeit des Abfalls

Damit haben wir die negative Anforderung näher präzisiert, die


durch den Ausdruck ›Abfall‹ angezeigt wird. Nachdem Schelling die
Notwendigkeit dieser formellen Anforderung in der Auseinanderset-
zung mit alternativen Lösungsvorschlägen nachgewiesen und auf
ihre Übereinstimmung mit der platonischen Lehre hingewiesen
hat, 106 geht er dazu über, seinen eigenen Lösungsvorschlag zu präsen-
tieren. 107 Diese Absätze enthalten den spekulativen Kern dieses Ab-
schnitts. Dem schließen sich Erläuterungen an, die zum einen die
Nähe zu Fichte nachweisen sollen, 108 zum anderen noch einige natur-
philosophische ›Ramificationen‹ dieses Prinzips aufzeigen. 109 Ab-

105 Vgl. Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386. Vgl. dazu Davidson 1969, der zu dem Er-
gebnis kommt, dass die Individuation von Ereignissen sich nicht wesentlich von der
Individuation von Individuen oder materiellen Dingen unterscheidet.
106 Vgl. Schelling 1804, 28–36 / SW VI, 35–39.

107
Vgl. Schelling 1804, 36–40 / SW VI, 39–42.
108 Vgl. Schelling 1804, 41–43 / SW VI, 42–44.

109
Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49.

171
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

schließend verweist er den Leser noch auf einige Stellen in seinen


früheren Schriften, aus welchen hervorgeht, dass die Idee des Abfalls
keinen neuen Ertrag darstellt, sondern sich dort bereits findet. 110
Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen war Folgendes: Wenn
die endlichen, einzelnen Dinge aus dem Absoluten abgeleitet werden
sollen, dann kann dies nur gelingen, wenn sich daraus ergibt, dass
jene als ein Abfall von diesem zu betrachten sind. Die Ideen oder
Potenzen sind hingegen nicht aus einem Abfall zu erklären, weil sie
mit dem Absoluten die gleiche Realität haben. Zwischen den Poten-
zen gibt es allerdings verschiedene Realitätsgrade: sie sind unter-
einander nur quantitativ different. Diese quantitative Differenz zeigt
sich aber erst an den Dingen, die Fall von ihnen sind. 111 Die endlichen
Dinge müssen demnach so gedacht werden, dass sie mit dem Absolu-
ten nicht die gleiche Realität teilen und es zwischen ihnen und ihm
und untereinander nicht bloß eine quantitative Differenz der Realität
gibt.
Dazu kehrt Schelling nun auf den Punkt zurück, an welchem er die
Konstruktion der Potenzen oder Ideen unterbrochen hatte. Er wieder-
holt deren Ergebnis: »Durch dieselbe stille und ewige Wirkung der
Form, durch welche die Wesenheit des Absoluten sich im Object ab-
und ihm einbildet, ist dieses auch, gleich jenem, absolut in sich
selbst«. 112 Nachdem er das Unzureichende bisheriger Versuche, die
Endlichkeit aus dem Absoluten abzuleiten, dargetan hat, kommt
Schelling noch einmal auf die Verfassung des Realen zurück. Eine
nähere Betrachtung jener Verfassung zeigt nämlich, wie im Begriff
des Realen oder des Subjekt-Objekts die Möglichkeit einer Abkunft
endlicher Dinge, insofern diese als ein Abfall gedacht werden soll,
bereits enthalten ist. Das Gegenbild wäre nicht im eigentlichen Sinn
selbst ein Absolutes, »könnte es nicht sich in seiner Selbstheit ergrei-
fen«, d. h. wenn ihm nicht die Möglichkeit gegeben wäre, selbst die
Subjektstelle zu besetzen und sich selbst zu objektivieren. 113 Diese
Besetzung der Subjektstelle durch das Dritte ist indes nicht möglich,
ohne dass es »sich eben dadurch von dem wahren Absoluten«
trennt. 114 In der Notwendigkeit, dass das Absolute sich darstellt und

110 Vgl. Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.


111 Vgl. AA I,10, 126 (§ 25); Schelling 1803c, 35 f. / SW IV, 413 f.
112
Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.
113 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39.
114
Schelling 1804, 37 / SW VI, 40.

172
Die Möglichkeit des Abfalls

in der damit korrespondierenden Verfassung der Darstellung dessel-


ben (des Realen), liegt die Möglichkeit eines Abfalls vorgezeichnet.
Erst damit wird der Begriff des Dritten oder der Drittheit vervollstän-
digt. Bislang hatten wir nämlich nur zwei Komponenten dieser Idee
und das Absolute damit noch nicht als Drittheit: das Reale als Objek-
tivierung oder Darstellung des Schlechthin-Idealen (des Ersten) und
dasselbe in seiner Bestimmtheit durch die Form (das Zweite). Wie
gesagt kommt das Absolute (das Wesen) nicht ohne eine komplexe
Form aus. Diese ewige (oder absolute) Form ist, dass »das schlecht-
hin-Ideale, unmittelbar als solches, ohne also aus seiner Idealität he-
rauszugehen, auch als ein Reales sey«. 115 Dadurch ist das Reale als das
Dritte bestimmt, insofern nur dasjenige als ein Absolut-Reales ange-
sehen werden kann, das jener Form gemäß ist. 116 Dabei ist zu beach-
ten, dass die drei Momente nicht einfach nebeneinander stehen, son-
dern dass das vorhergehende Moment immer in das nachfolgende
Moment mit hineingenommen wird, ihm dabei jedoch auch eine neue
Qualität zuwächst. Deshalb ist das »Gegenbild« »zugleich es [das We-
sen oder das Ideale, R. S.] selbst« und dadurch »ein wahrhaft anderes
Absolutes«. 117 Erneut heißt es: Das Reale ist »dasselbe« als das Ideale
»dem Wesen nach«, »aber ewig ein anderes, der ideellen Bestimmung
nach«, nämlich als Folge des Idealen. 118 Gerade wegen dieser Anders-
heit, der ideellen Bestimmung nach, vermengt es sich nicht mit dem
Idealen, obwohl es dem Wesen nach dasselbe ist. Und so heißt es denn
auch, dass das Reale selbst »ein Absolutes und Unabhängiges seyn
muss«, wenn es sich nicht mit dem Idealen vermengen soll. 119 Das
Ideale muss sich somit in das Reale einbilden und selbst in ihm prä-
sent sein, damit dieses absolut sei – da es nur als absolut das Reale
jenes Idealen sein kann. Nur durch die Hineinbildung des Wesens in
das Reale ist dieses selbst »selbstständig und gleich dem ersten Abso-
luten in sich selbst«. 120 Es handelt sich hierbei um Darstellungsver-
hältnisse oder um die Frage, wie das Wesen so abgebildet werden
kann, dass die Abbildung dem sich Abbildenden völlig gleich ist oder

115 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.


116 Deshalb heißt es Schelling 1804, 22 / SW VI, 30: »Dieses Reale ist nun eine blosse
Folge der Form, so wie die Form eine stille und ruhige Folge des Idealen, des schlecht-
hin-Einfachen ist«.
117 Schelling 1804, 28 / SW VI, 34.

118
Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.
119 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31; Herv. v. Verf.

120
Schelling 1804, 29 / SW VI, 34.

173
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

eine völlige Isomorphie oder Identität zwischen beiden besteht, ohne


dass die Selbständigkeit der Abbildung dadurch aufgehoben wird.
Diese Gleichheit von Realem und Idealem impliziert zugleich eine
grundlegende Differenz beider, da die Absolutheit des Realen nur
eine derivierte Absolutheit ist, 121 die es nicht aus sich selbst hat, son-
dern nur in seiner Qualität als Abbildung des Idealen: »[E]s ist doch
nur absolut und selbstständig in der Selbstobjectivirung des Absolu-
ten, und demnach wahrhaft in sich selbst, nur sofern es zugleich in
der absoluten Form und dadurch im Absoluten ist«. 122 Dieses Verhält-
nis bezeichnet Schelling auch als ein solches der Zeugung: Das Ge-
zeugte ist »von dem Zeugenden abhängig und nichts destoweniger
selbstständig«. 123 Es ist durch die »Wirkung der Form«, dass das Rea-
le, »gleich jenem, absolut in sich selbst« ist. 124 Die Absolutheit des
Realen beruht somit auf dessen Idealität, sodass es nur wirklich abso-
lut ist, insofern es ganz ideal ist. Das Wesen (oder das Ideale), insofern
es im Realen eingebaut ist, ist demnach in ihm als Grund seiner Rea-
lität. Dementsprechend unterscheidet Schelling zwei Seiten des Rea-
len. 125 Er spricht von einer idealen, subjektiven Seite, woraus wir
schließen können, dass die andere Seite als die reale, objektive zu be-

121 Vgl. Schelling 1809a, 414 / SW VII, 347. – Die ›derivirte Absolutheit‹ kommt dem
Realen oder den Ideen, nicht erst den endlichen Dinge zu. Dies scheint z. B. Michael
Theunissen übersehen zu haben. Er setzt nämlich die derivierte Absolutheit schlecht-
hin mit dem Erschaffensein des Menschen gleich. Aus der einzigen Stelle, wo der
Ausdruck in der Freiheitsschrift vorkommt, geht jedoch klar hervor, dass diese deri-
vierte Absolutheit vorzugsweise der Natur zukommt, d. h. auch auf den Menschen
nur insofern zutrifft, als dieser ein Naturwesen ist. Der Begriff dient demnach gar
nicht dazu, das Spezifische der menschlichen Freiheit zu fassen. Dies muss Theunis-
sen letztlich auch selbst eingestehen, wenn er sagt, dass »Schelling hier noch jene
Unabhängigkeit von Gott im Auge [hat], die auch der nicht-menschlichen Kreatur
eignet«; »In diesem Zusammenhang tritt die menschliche Freiheit zunächst sozusa-
gen nur als ein besonders eklatanter Fall von Selbständigkeit auf« (Theunissen 1965,
180 f.).
122 Schelling 1804, 29 / SW VI, 34.

123
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
124 Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.

125 Statt von einer »gedoppelte[n] Seite« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41) kann man

auch von zwei Prinzipien sprechen: eines, durch welches es selbst absolut ist (ein
anderes Absolutes ist), ein anderes, durch welches es ›im An-sich‹ ist, also eine nur
derivierte Absolutheit hat. Insofern das Reale zum einen nur durch die Idealität ab-
solut ist, zum anderen zwei Prinzipien oder eine gedoppelte Seite in sich hat, ist ihm
und allem, was in ihm begriffen ist, ein »doppeltes Leben verliehen« (Schelling 1804,
40 / SW VI, 41). Dies bezeichnet Schelling später als Eigen- und Universalwillen (vgl.
Schelling 1809a, 436–440 / SW VII, 363–365).

174
Die Möglichkeit des Abfalls

stimmen ist. Letztere ist diejenige, wonach das Wesen oder das Ideale
im Realen eingebildet ist und dieses dadurch absolut und selbständig.
Das Reale hat nur durch die Einbildung des Idealen in ihm Realität.
Die erste Seite ist die, wonach diese Absolutheit doch nur bedin-
gungsweise vom Realen gilt, nämlich nur insofern es zugleich in der
absoluten Form und im Absoluten ist. Jene Realität hat es nur, inso-
fern es ganz ideal ist. Am Realen können demnach diese beiden Seiten
– Realität und Idealität – unterschieden werden, obwohl sie in ihm
zunächst in der Indifferenz oder der völligen Übereinstimmung sind.
Es wurde gesagt, dass das Ideale (das Wesen) sich in das Reale ein-
bildet. Als wesentlich für das Wesen hatten wir hervorgehoben, dass
es sich darstellt oder objektiviert. Demnach muss auch dem Realen
diese Möglichkeit der Darstellung zukommen oder es muss darstel-
lungsfähig sein: Das Reale muss »gleich ihm [dem Idealen, R. S.] sei-
ne Idealität in Realität« umwandeln können. 126 Hier wiederholt sich
somit das Verhältnis zwischen Realem und Idealem. Die Objektivie-
rungen des Realen verhalten sich jetzt genau so zum Realen, wie
dieses sich zum Idealen verhielt, und umgekehrt verhält das Reale
sich zu seinen Objektivierungen wie deren Ideale. Auch die Objekti-
vierungen sind »real nur, sofern sie zugleich in der Ureinheit, also
ideal sind«. 127 Realität wird hier auch mit ›in-sich-Seyn‹ oder Selb-
ständigkeit gleichgesetzt. Diese Doppelung des Realen oder des Drit-
ten überhaupt gilt von allen Ideen. So wie das Gegenbild oder das
Reale überhaupt diese doppelte Möglichkeit hat, genau so kommt
diese auch allem in ihm Begriffenem, d. h. allen Ideen, zu. Die Ideen
sind danach als Selbstrepräsentationen des Gegenbilds zu denken.
Diese können indessen nur insofern als angemessene Darstellungen
des Absoluten bestimmt werden, als sie selbst, wie jenes, ebenfalls die
Struktur eines Selbsterkennens aufweisen und d. h. indem sie auch
selbst wieder fähig sind, sich darzustellen. Der Prozess der Darstel-
lung wiederholt sich demnach im Falle der Potenzen. Hieraus ergeben
sich folgende Forderungen: 1) Die Ideen können nur insofern als Dar-
stellungen des Absoluten gelten, als ihnen auch selbst die Darstel-
lungsfähigkeit zukommt. 2) Die Darstellung einer Idee kann indessen
nicht wieder unendlich sein, da sie dadurch selbst wieder eine Idee
und damit eine Darstellung des Absoluten wäre. Von den Ideen ist

126 Schelling 1804, 29 / SW VI, 35.


127
Schelling 1804, 29, 36 / SW VI, 35, 39.

175
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

demnach nur eine indirekte Darstellung möglich, d. h. durch solches,


was nur Fall von ihnen ist (vgl. KrV, AA 4, 199 f., 202). 128 3) Diese
Forderung kann so präzisiert werden, dass die Darstellungen einer
Idee diese mit einer Negation darstellen. Genau dies drückt auch der
Begriff eines Abfalls oder einer defectio aus. Deshalb spricht Schelling
diesbezüglich auch von der Schein- oder Nicht-Realität der endlichen
Dinge. 129 Damit ist also keineswegs gesagt, dass es die endlichen Din-
ge eigentlich nicht gibt. 130 4) Schelling wird demnach zu zeigen ha-
ben, wie die endlichen Dinge mit einem Schein gleichursprünglich
sind, d. h. woher es kommt, dass solches, was an sich keine Realität
hat, dennoch so auftritt, dass es sich als Realität manifestiert. 131
Das Gegenbild oder das Reale ist nur insofern ein wahres Gegen-
bild, als es auch selbst absolut ist. Nur als ein ›anderes Absolutes‹
kann es Gegenbild oder Objektivierung des Wesens sein. Dies ist es
nur insofern, als auch ihm die Möglichkeit zukommt, sich selbst zu
objektivieren oder darzustellen. Es ist also zwar die Objektivierung
des Wesens, das sich zu ihm als Subjekt verhält, aber es muss zugleich
auch selbst Subjekt sein oder sich objektivieren können. Dies ist die

128 Damit hat Kant allerdings nur ein Merkmal einer Idee hervorgehoben.
129 Vgl. Schelling 1804, 37 f., 44, 47 / SW VI, 40, 44, 46.
130 So Shikaya 2000, 96, 98: »Das endliche Ding und auch der es betrachtende reflek-

tierende Verstand dürfen in diesem System demnach nicht sein«. Träfe dies zu, dann
müsste es verwundern, dass Schelling behauptet, dass »alle diese Bestimmungen«,
nämlich der endlichen Dinge oder der »wirkliche[n] Welt, die es«, nach Shikaya,
»identitätsphilosophisch eigentlich nicht gibt«, »selbst erst abgeleitet werden müs-
sen« (Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386).
131 Mit der Behauptung einer Schein-Realität nimmt Schelling das kantische Theo-

rem des transzendentalen Scheins verwandelnd auf. Dies geht am deutlichsten aus
Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357, hervor, wo er eine kantische Formulierung aufgreift
(vgl. KrV, AA 4, 215). – Die endlichen Dinge sind insofern mit einem Schein ver-
wachsen, als sie zwar nur ihren Eigenwillen oder ihre Selbstheit verfolgen, dabei
außerstande sind, einzusehen, dass dieser im Universalwillen eingebunden bleibt.
Dies lässt sich auf exemplarische Weise am tierischen Instinkt zeigen, wonach die
Tiere zwar vernünftig, aber nicht aus Vernunft handeln (vgl. SW VI, 457–470, bes.
459, 460, 462 f.). Gerade deshalb bleiben sie im Schein befangen: ihnen ist nicht die
Möglichkeit gegeben, diesen Schein als einen solchen zu durchschauen. Die Möglich-
keit, den Schein als Schein zu durchschauen, ist erst dem Menschen gegeben. Hier
dürfte auch der Grund liegen, weshalb Schelling hier auch von einem »Leben der
Lüge« spricht (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; SW VI, 541): Der Schein wird dort
zur Lüge, wo auch die Möglichkeit gegeben ist, ihn als einen solchen zu durchschauen.
Der Mensch hat diesen Schein zu verantworten, er kann ihm zugeschrieben werden.
Dazu ist es nicht erforderlich, eine Intention zu lügen zu unterstellen.

176
Die Möglichkeit des Abfalls

Doppelseitigkeit des Realen oder des Gegenbilds. Diese Doppelseitig-


keit gilt sowohl vom Gegenbild überhaupt als auch von allen in ihm
begriffenen Ideen. Während aber das Absolute sich in einem Gegen-
bild objektiv wird, so kann das Gegenbild sich nur in Scheinbildern
objektivieren, d. h. in solchen, die keine adäquaten Darstellungen von
ihm sind. Das Ideale wird sich im Realen nicht nur überhaupt objek-
tiv; vielmehr kann es, da es zu seiner Idee gehört, sich zu objektivie-
ren, nur in solchem objektiv werden oder sich in ihm wiedererken-
nen, das selbst wieder ein Vermögen zur Objektivierung oder zur
Selbsterkenntnis hat. Das Vermögen der Selbstanschauung muss also
im Angeschauten mit enthalten sein. Deshalb kann die Objekti-
vierung des Idealen nur als ein Subjekt-Objekt gedacht werden. 132
Genau genommen können auch die Darstellungen oder Objektivie-
rungen des Realen kein Rein-Objektives sein, sondern sie müssen
ebenfalls die subjekt-objektive Struktur aufweisen (Seele, Wille, Ich).
Das Unendliche (oder das Ideale) muss somit wieder in die Seele als
Objekt eingebildet werden. Erst dadurch verhält das endliche Ding
sich zum Gegenbild so, wie das Gegenbild sich zum Absoluten ver-
hält. Damit ist in der Verfassung des Realen der Grund einer doppel-
ten Möglichkeit enthalten: zum einen der Möglichkeit, dass es ganz
in sich, damit aber auch ganz im Grund, in der Natur, ist und dadurch
eine Freiheit von Gott behauptet; zum anderen der Möglichkeit, dass
es ganz im An-Sich oder im Absoluten ist, wodurch es eine Freiheit
von der Natur behauptet. Ihrer idealen Verfassung nach hat jede
menschliche Seele diese doppelte Möglichkeit, wenn sich beide auch
nicht zugleich aktualisieren lassen. Die Aktualisierung der einen
Möglichkeit impliziert somit zugleich den Ausschluss der anderen
Möglichkeit.
Diese Doppelung enthält indessen von sich aus die Möglichkeit
einer Umkehrung des ursprünglichen Verhältnisses in sich, durch
welche die beiden Seiten auch als solche und d. h. in ihrer Unter-
schiedlichkeit oder Differenz hervortreten können. Dadurch, dass
der Grund der Möglichkeit des Abfalls oder der Endlichkeit zwar im
Absoluten, der Grund der Wirklichkeit desselben jedoch stets im Ab-

132 »Wie Gott in dem ersten Gegenbild, durch die Form, nicht nur überhaupt sich
objectiv wird, sondern auch sein Anschauen selbst wieder in jenem anschaut, damit
es ihm vollkommen ähnlich und gleich sey« (Schelling 1804, 51 / SW VI, 49). Nur
durch die Einbildung der Selbstanschauung im Angeschauten (im Realen) ist dieses
ein anderes Absolutes.

177
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

gefallenen oder Endlichen selbst liegt, ist die Anforderung erfüllt, die
Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als einen Abfall zu
denken. Diese Unterscheidung bedeutet nicht mehr, als dass alle Din-
ge in irgendeinem Grad eine Form der Ichheit aufweisen. Damit ist
nachgewiesen, dass die Möglichkeit eines Abfalls in der Idee des Rea-
len oder Dritten notwendig enthalten ist. 133 So wie der Konstruktion
der Idee des Absoluten ihrer inneren Artikulation nach eine negative
Betrachtung voranging, so lässt sich auch das Auffinden des Prinzips
der Absonderung weiter negativ präzisieren. Es ist, erstens, gezeigt
worden, wie das Reale notwendigerweise zwei Seiten hat, obwohl
diese in ihm nur ideell unterscheidbar sind. Damit ist die Möglichkeit
eines Abfalls in der Verfassung des Realen selbst angelegt. Jetzt gilt es
zu zeigen, wie diese beiden Seiten auseinandertreten oder in einem
reellen Gegensatz zueinander treten können, wodurch die Wirklich-
keit des Abfalls nachgewiesen wäre. Bis zum Menschen sind sie zwar
in Differenz, aber noch nicht in einem wahren Gegensatz; ihr Ver-
hältnis lässt sich ja noch gar nicht umkehren.
Bevor wir darauf eingehen können, wie der Abfall sich wirklich
aktualisiert, haben wir noch einige propria des Abgefallenen zu be-
achten. (1.) Vom ›Abfall‹ wie von dessen Folge behauptet Schelling,
dass sie in Beziehung auf das Absolute bzw. auf die Ideen »ein blosses
Accidens« sind. 134 Ein Akzidenz ist eine solche Eigenschaft, die von
einem Ding weggenommen werden kann, ohne dass sich dadurch et-

133 Gert Blanchard weist darauf hin, dass Schelling mit dieser Konstruktion des Ab-
soluten als einer Mannigfaltigkeit oder mit dem Nachweis dreier Momente, die in der
Idee des Absoluten enthalten sind, »sich die Basis [schafft], die Entstehung des End-
lichen seiner Möglichkeit nach im Absoluten selbst zu begründen« (Herv. v. Verf.)
und dass die Konzeption des Absoluten als von seiner Objektivierung abgehoben
»fruchtbar gemacht [wird] für die Deduktion des Prinzips der Möglichkeit von Frei-
heit« (Blanchard 1979, 433, 448). Die Abhebung des Wesens von den Potenzen oder
Ideen, in welchen es objektiv wird, berechtigt Schelling dazu, die selbstische Seite der
Ideen als ›Freiheit‹ zu bezeichnen. Wolfgang Wieland hat in Schellings Philosophie
»einen großangelegten Versuch« gesehen, »die natürliche Welt […] so zu konstruie-
ren, wie sie sich für ein ›moralisches Wesen‹, d. h. unter der Bedingung, daß Freiheit
möglich sein soll, darstellen muß« (Wieland 1967, 413). Vgl. Buchheim 1992, 29 f.
134 Schelling 1804, 40 / SW VI, 41. Es sei darauf hingewiesen, dass ›Ab-fall‹ auch als

Übersetzung von accidens (accidere) gelesen werden kann: Die Eigenschaften, die
einer Idee dadurch zuwachsen, dass das ihr Entsprechende auch existiert, sind in Hin-
sicht auf die Idee bloß akzidentell. – Ein weiteres Assoziationsfeld ist das der Bewe-
gung, vgl. Schellings Unterscheidung von Fall- und Umlaufbewegung (vgl. Schelling
1803c, 68–77 / SW IV, 435–441).

178
Die Möglichkeit des Abfalls

was am Wesen dieses Dings ändert. So hat sich gezeigt, dass nur die
Möglichkeit eines Abfalls oder einer Umkehrung des ursprünglichen
Verhältnisses der beiden Seiten des Gegenbildes zur Verfassung des-
selben und damit zur vollständigen Idee des Absoluten gehört, nicht
aber die Realisierung dieser Umkehrung. In der Verfassung des Rea-
len ist die Darstellungsfähigkeit, nicht aber die wirkliche Darstellung
eingeschlossen. Ferner »verändert« der Abfall »nichts in beyden«,
weder im Absoluten noch im Urbild. 135 Dies kann man sich durch eine
Analogie näherbringen. In jeder Idee oder Potenz ist eine Unendlich-
keit von möglichen Positionen oder Realisierungen enthalten, ähnlich
wie die Spielregeln des Schachspiels eine Unendlichkeit an möglichen
Spielabläufen enthalten, ohne dass dadurch ein einziger wirklicher
Spielablauf festgelegt ist. Keiner der wirklichen Spielabläufe ändert
etwas an den Spielregeln. Damit ist behauptet, dass weder dem Abso-
luten noch dem Urbild (den Ideen) dadurch etwas fehlt, dass das
ihnen Entsprechende nicht existiert oder es sich nicht darstellt. Dem
Urbild wohnt demnach auch keine Tendenz ein, von der Potenz zum
Aktus überzugehen. 136 Die Darstellung des Urbildes in einem ihm
entsprechenden Existierenden ändert im Urbild selbst ebenso wenig
etwas, wie die Spiegelung eines Objekts etwas an diesem Objekt än-
dert. Gott bringt nur die ewigen Begriffe oder die Ideen der Dinge
hervor, ist aber nicht die Ursache davon, dass ein dieser Idee entspre-
chender Modus auch wirklich existiert, da das Dasein eines Dings von
anderen Dingen abhängt als von den Umständen, die es ihm erlauben,
ins Sein zu treten.
(2.) Obwohl ein bloßes Akzidens, so bezeichnet Schelling den Ab-
fall dennoch als »ewig«. 137 Dabei handelt es sich erneut um ein pro-
prium oder eine extrinsische Eigenschaft, d. h. eine solche, die zwar zu
einer Sache gehört, aber nicht deren Wesen erklärt, sondern erst aus
der Erkenntnis dieses Wesens geschlossen werden kann. Das Ding
wäre zwar nicht das, was es ist, ohne diese Eigenschaft, aber es ist
nicht das, was es ist, durch oder aufgrund derselben. Ein solches pro-
prium liefert denn auch keine besondere inhaltliche Information über

135 Schelling 1804, 40 / SW VI, 42.


136 Thomas Buchheim hat zu Recht gegen die »schon lange fest eingewurzelte Fehl-
beurteilung von Schellings Potenzbegriff« protestiert, wonach einer Potenz die Ten-
denz, »a potentia ad actum« überzugehen, einwohnen würde (vgl. Buchheim 1992, 15,
41–47).
137
Schelling 1804, 39 / SW VI, 41.

179
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

dasjenige, was durch es qualifiziert wird. Deshalb muss immer nach


dem Grund gefragt werden, weshalb einem Ding ein solches propri-
um zukommt. 138 Der Abfall ist ewig, insofern er als Möglichkeit in
der Verfassung des Realen vorgezeichnet ist.
(3.) Der Abfall und seine Folge sind notwendig. Auch diese Be-
zeichnung drückt eine Modalität des Wesens aus. Damit ist nicht ge-
sagt, dass sich der Abfall für jedes einzelne Ding bzw. dass sich eben
jedes einzelne Ding aus dem Absoluten ableiten ließe. Eine solche
Behauptung würde gegen die Forderung verstoßen, dass es zwischen
Unendlichem und Endlichem keinen Übergang geben kann, da man
dann behaupten würde, dass der Abfall auch wirklich erklärt werden
könnte oder dass sich Gründe dafür anführen ließen, weshalb er in
diesem oder jenem einzelnen Fall unausweichlich ist und stattfinden
musste. 139 Eine solche Erklärung würde aber den Charakter des Neu-
en oder des Unerwarteten verdecken, der dem einzelnen Abfall inne-
wohnt. Damit haben wir aber bereits ein Charakteristikum des Ab-
falls: Er soll als unerklärbar gedacht werden oder eben mit dem
Charakter des Neuen, Unerwarteten, Unberechenbaren, Unvorher-
sehbaren. 140 Dies hindert nicht daran, dass die Struktur des Abfalls
sich konstruieren lässt. Der Abfall und seine Folge sind nur insofern
als notwendig zu bezeichnen, als die Struktur, die sie aufweisen, eine
notwendige ist. Es ist zuerst gezeigt worden, dass das Verhältnis des
Endlichen zum Unendlichen nur als Abfall von letzterem gedacht
werden kann, dass die Annahme einer Stetigkeit zwischen beiden also
aufgegeben werden muss. Nun soll die Frage präzisiert werden, wie
sich denn ein solcher Abfall genau denken lässt oder welche Struktur
der bzw. das Abfallende oder Abgefallene aufweisen muss.

138 Dies gilt übrigens noch deutlicher vom proprium der Unendlichkeit: Es macht
einen Unterschied, ob diese einem Ding aufgrund seiner Definition oder aufgrund
seiner Ursache zukommt (vgl. Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Zu den propria:
Deleuze 1981, 132 f.
139 Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42.

140
Vgl. Schelling 1804, 40, 56 / SW VI, 42, 52.

180
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

5. Die Wirklichkeit des Abfalls:


Schellings Lehre von der Seele

In dem Augenblick, in dem Schelling zur Frage nach der Wirklichkeit


des Abfalls übergeht, macht er erneut auf eine Grenze aufmerksam:
Denn die Selbstständigkeit, welche das andre Absolute in der Selbst-
Beschauung des ersten [Absoluten, R. S.], [d. h. in, R. S.] der Form, emp-
fängt, reicht nur bis zur Möglichkeit des realen In-sich-selbst-Seyns,
aber nicht weiter; über diese Gränze hinaus liegt die Strafe, welche in
der Verwicklung mit dem Endlichen besteht. 141
An anderer Stelle ist von einer »absoluten Unterscheidung« oder
auch von einer »schneidende[n] Gränze« die Rede. 142 Bis zu diesem
Punkt seiner Darlegungen war somit nur die Möglichkeit des Abfalls
Gegenstand der Erörterung. Der Grund derselben wurde im Absolu-
ten selbst nachgewiesen, und zwar in der Art, wie es sich in einem
Gegenbild objektiviert bzw. in der Verfassung, die einem solchen Ge-
genbild notwendig zukommen muss, damit es das ist, was es ist, näm-
lich eine adäquate Darstellung oder Objektivierung des Schlechthin-
Idealen.
Wie bereits durch die Überschrift des zweiten Abschnitts ange-
deutet, sieht Schelling sich vor eine doppelte Aufgabe gestellt, näm-
lich zum einen die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten
nachzuweisen, zum anderen aber auch zu zeigen, in welchem Ver-
hältnis sie zu ihm stehen oder in welchem es zu ihnen steht oder
stehen kann. Auch das Wort ›Abfall‹ selbst fängt diese Doppelung
geschickt ein. Wenn die Einführung desselben auch »nur für die Dar-
stellung eines philosophischen Gesprächs« gedacht war und »für den
wissenschaftlichen Vortrag« zugestandenermaßen »unbequem« ist,
so kommen dem Ausdruck doch auch gerade wegen dieses Mangels
an wissenschaftlicher Präzision oder wegen dieser Unbestimmtheit
unbestreitbare Vorzüge zu, die Schelling auch geschickt auszunutzen
weiß: Das Wort ist offen für verschiedene Bedeutungsrichtungen, die
in ihm selbst sozusagen in einem Zustand der Indifferenz enthalten
sind, so dass erst der jeweilige Zusammenhang seines Auftretens eine
derselben aktualisiert. 143 Dementsprechend verschiebt sich im Lauf

141 Schelling 1804, 40 / SW VI, 42; Herv. v. Verf.


142
Schelling 1804, 42, 54 / SW VI, 43, 50.
143 F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. September 1805, Fuhrmans, Briefe

III, 252.

181
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

des Argumentationsgangs auch die Bedeutung des Ausdrucks, indem


im jeweiligen Zusammenhang jeweils andere Bedeutungsschichten
angebohrt werden. Auch sonst gibt Schelling ein Faible für solche
unterbestimmten, mehrschichtigen oder auch indifferenten Ausdrü-
cke zu erkennen. 144 Bei seinem ersten Auftreten wird ›Abfall‹ als letz-
ter einer Reihe von Ausdrücken eingeführt: ›Abbrechen‹, ›Sprung‹,
›Entfernung‹. Bei dieser seiner ersten Einführung ist ›Abfall‹ somit
in erster Linie als Gegenteil der Stetigkeit zu verstehen. Das Verhält-
nis der endlichen Dinge zum Absoluten ist als ein indirektes (nicht-
stetiges) zu denken. 145 In diesem Zusammenhang tritt er somit als
Bezeichnung der oben erörterten formellen Anforderung auf, die es
Schelling erlaubt hatte, jede Lösung im Voraus zurückzuweisen, die
ein direktes Verhältnis von Absolutem und endlichen Dingen voraus-
setzt oder impliziert und damit letzteren eine mit der des Absoluten
gleiche Realität zuerkennt. Während ›Abfall‹ bei seiner ersten Erwäh-
nung als Schlussglied einer Reihe auftritt, dafür aber in der Folge in
den Vordergrund rückt, finden jene alternativen Ausdrücke in der
Folge nur noch spärlich Verwendung. 146 Dies dürfte gerade durch die
größere Plastizität des Ausdrucks ›Abfall‹ motiviert sein, da die zuerst
eingeführten Ausdrücke eben nur eine einzige Bedeutungsschicht
festhalten. Jedenfalls deutet die Art seiner Einführung an, welche Be-
deutungsschicht zunächst als die herrschende anzusehen ist.
Wenn die Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten auch
als ein Abfall von ihm zu denken ist, so besagt dies noch nicht, dass
das Abgefallene damit überhaupt kein Verhältnis mehr hat zu dem,
wovon es abgefallen ist. Vielmehr unterhält das Abgefallene zu dem,
wovon es abfällt, immer noch eine Beziehung, wenn es auch ihm

144 Dies ist auch Xavier Tilliette nicht entgangen: »il s’empare volontiers des mots
polyvalents, scintillants, dont les flexions de sens reproduisent en pointillé son itiné-
raire mental. Potenz est évidemment le plus riche, le plus malléable, mais Wurzel, par
exemple, comporte une signification arithmétique, une sémantique, une botanique,
une philosophique […]. Les vocables électifs et leurs sens modifiables sont une pierre
de touche de l’évolution schellingienne« (Tilliette 1992, 345 f.).
145 Vgl. Schelling 1804, 39, 48, 57 / SW VI, 41, 47, 52, 53. So auch Tilliette 1992, 495:

»Ce qui est exclu par la chute, c’est la relation directe à Dieu et à l’idée«.
146 ›Sprung‹ kommt nachher nicht mehr, ›Abbrechen‹ nur noch ein einziges Mal vor

(vgl. Schelling 1804, 39 / SW VI, 41). Nur von einer ›Entfernung‹ ist in der Folge
wiederholt die Rede (vgl. Schelling 1804, 41, 56, 64, 71 / SW VI, 42, 52, 57, 62).
Auffälligerweise wird dieser Ausdruck aber zunächst im Zusammenhang mit einem
der »[u]nzählige[n] Versuche« eingeführt, die Schelling einer kritischen Überprüfung
unterzieht, und zwar der Emanationslehre (Schelling 1804, 30 f. / SW VI, 35 f.).

182
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

gegenüber eine Eigenständigkeit behauptet. So erweist es sich gerade


als ein Vorzug des ›Abfalls‹, dass in ihm auch die – später aktualisierte
– Bedeutung eines Treuebruchs, eines Vertragsbruchs oder eines Ver-
rats mitschwingt. 147 Auch im Treuebruch wird die Beziehung zu dem,
womit gebrochen oder dem, was oder der verraten wird, nicht einfach
aufgehoben, sondern er erhält seinen Sinn gerade dadurch, dass die
Beziehung weiter aufrechterhalten bleibt, wenn auch in der Umkeh-
rung ihrer ursprünglichen Gestalt. 148 Genauso ist ein Vertragsbruch
keine Auflösung eines Vertrags mit beiderseitigem Einverständnis
der Parteien, sondern ein Verstoß gegen den Vertrag durch eine der
Parteien, mit förmlichem Fortbestand desselben, wobei es zudem
gleichgültig ist, ob er einer der beiden Parteien durch die andere auf-
gezwungen wurde oder ob beide ihn aus freien Stücken eingegangen
sind. Ganz ähnlich hebt dasjenige, das sich zu etwas als zu seinem
Grund verhält, sich damit von diesem ab, um als solches, in seiner
eigenständigen Bedeutung, hervortreten zu können, bleibt aber eben
wegen dieses Hervortretens dennoch auf den Grund angewiesen, von
dem es sich abhebt. Hieraus wird auch ersichtlich, weshalb der Beant-
wortung der Frage nach der Abkunft der endlichen Dinge aus dem
Absoluten die Beantwortung der Frage nach der Entstehung poten-
tieller Differenzen vorangehen muss. Die Potenzen oder Ideen bilden
eben jeweils unterschiedliche Seinstypen, die als Grund fungieren,
wovon die endlichen Dinge (als Fall der jeweiligen Potenz) sich abhe-
ben können. Damit ist auch gesagt, dass wir uns nie unmittelbar auf
Einzelnes beziehen können, sondern dass die Beziehung darauf
immer durch die Beziehung auf die jeweilige Potenz vermittelt ist,
von welcher es ein Fall ist.
Dies führt uns zu einer weiteren Bedeutungsschicht. Die von
Schelling gewählten Bezeichnungen (Entfernung, Sprung, Abbre-
chen, Abfall) haben nämlich gemeinsam, dass sie sämtlich einen
Handlungscharakter beinhalten. 149 Insbesondere handelt es sich da-

147 Vgl. auch Walch 1775, 12 f., s. v. »Abfall«.


148 Vgl. Schelling 1809a, 448 / SW VII, 371: »Denn es ist nicht die Trennung der
Kräfte an sich Disharmonie, sondern die falsche Einheit derselben, die nur bezie-
hungsweise auf die wahre eine Trennung heissen kann«. – Die sittliche Bedeutungs-
schicht, die ebenfalls im Ausdruck angelegt ist, wird von Schelling erst später in Phi-
losophie und Religion angebohrt.
149
Fichte hat das »Princip des endlichen Bewusstseyns nicht in einer That-Sache,
sondern in einer That-Handlung gesetzt« (Schelling 1804, 41 / SW VI, 42). Der Ab-
fall ist somit eine Handlung oder hat Handlungscharakter. – So auch der in der wis-

183
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

bei stets um solche Handlungen, die unmittelbar in einer neuen Lage


resultieren und denen von daher ein performativer Charakter inne-
wohnt. Für solche performativen Handlungen hatte Fichte den Aus-
druck einer ›Tat-Handlung‹ geprägt. Eine solche ist zum einen eine
Handlung oder eine Form des Tätigseins, die zum anderen immer in
bestimmten Taten resultiert. In der Formulierung Fichtes: Es ist eine
»reine Thätigkeit, die kein Object voraussetzt, sondern es selbst her-
vorbringt«, wodurch »das Handeln unmittelbar zur That«, also zur
Hervorbringung eines Objekts wird (GA I,4, 221). 150 Etwas ist dem-
nach insofern als eine Tat-Handlung zu bezeichnen, als es sich zum
einen um eine Handlung oder Tätigkeit handelt, die als solche unend-
lich ist und durch keine ihrer Ergebnisse definitiv eingeschränkt wird,
die jedoch zum anderen zugleich eine solche ist, die etwas Beschränk-
tes oder Endliches hervorbringt. Zwar sind alle Produkte, in welchen
die Tätigkeit resultiert, als Darstellungen der letzteren anzusehen,
dennoch ist keine derselben eine ihr angemessene Darstellung, da
keine sie in ihrer Unendlichkeit darzustellen vermag. Schließlich ha-
ben diese Taten oder die Produkte dieser Handlung, abstrahiert von
ihr, keine Realität. Sie haben somit nur eine relative Realität, relativ
nämlich auf die handelnde Instanz, die sie hervorbringt. Die Ichheit
wird nun als eine solche Instanz bestimmt, die sich nur in solchem
darstellt oder zu erkennen gibt, was, abstrahiert von ihr, keine Reali-
tät hat. Diese ›Taten‹ sind also wesentlich gebundene: Sie haben nur
in der Bindung an ein Subjekt Realität.
Gerade diesen Charakter der Ichheit als einer Tat-Handlung greift
Schelling hier deshalb auf, da er in ausgezeichneter Weise der Anfor-
derung genügt, die Abkunft des Endlichen aus dem Absoluten sowie
sein Verhältnis zu ihm als Abfall zu denken. Die Erörterungen dieses
ganzen Abschnitts zielen insgesamt auf die Einführung der Ichheit als
Lösung der Frage nach der ›Abkunft der endlichen Dinge aus dem

senschaftlichen Darstellung gewählte Ausdruck einer ›Absonderung‹, was Schelling


noch ganz besonders herausstreicht, indem er von einem ›Absonderungsakt‹ spricht
(vgl. z. B. AA I,10, 129 f. (§ 30 mit Anm. im Handexemplar), 166 (§ 95 mit Anm. im
Handexemplar)).
150 Nach einer früheren Formulierung aus dem System der gesammten Wissen-

schaftslehre: Das Ich »ist zugleich das Handelnde [oder Produzierende, R. S.], und
das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervor-
gebracht wird [die Tat oder die Tatsache, R. S.]; Handlung, und That [das Produkt
der Handlung, R. S.] sind Eins und eben dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruk
einer Thathandlung« (GA I,2, 259).

184
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Absoluten und ihr Verhältniß zu ihm‹ und erreichen in ihr einen


Höhepunkt. Dies heißt allerdings auch, dass Schelling seinen eigenen
Lösungsvorschlag ohne Anspruch auf Originalität einführt, da er da-
mit nur ein fichtesches Theoriestück aufzugreifen vorgibt. 151 Darüber
darf indessen nicht übersehen werden, dass Schelling dem fichteschen
Theoriestück in der Übernahme eine weitreichende Verwandlung wi-
derfahren lässt. Jedenfalls erlaubt die polare Verfassung der Tat-
Handlung oder der Ichheit zwei konträre Möglichkeiten, sie zu aktua-
lisieren.
Vorher war gezeigt worden, wie die Möglichkeit eines Abfalls in
die Verfassung des Realen überhaupt und jeder Idee insbesondere
eingeschrieben ist, insofern diese polar strukturiert ist. Insofern das
Reale als bloße Darstellung des Wesens betrachtet wird, befinden jene

151 Man darf also vermuten, dass dieser Punkt im fast vollendeten Gespräch bereits
behandelt wurde und in einer Auseinandersetzung mit Lucian vorgetragen worden
wäre. In der Tat war der Gedanke der Ichheit als allgemeines und als höchstes Prinzip
der Endlichkeit, Vereinzelung oder Individuierung im Bruno nicht abwesend, wie aus
der Unterredung hervorgeht, die mit der in der Präambel zitierten Stelle anfängt (vgl.
Schelling 1804, 19 f. / SW VI, 28 f.; Schelling 1802a, 131 f. / SW IV, 282) und in Luci-
ans Nennung des ›Ich‹ gipfelt (Schelling 1802a, 143 / SW IV, 288). Während der erste
Teil der Unterredung darauf abzielte, die Relativität des fichteschen Prinzips darzutun
und zu zeigen, dass es sich nicht zum Prinzip des gesamten Systems der Philosophie
eignet (vgl. Schelling 1802a, 46–81 / SW IV, 239–257), soll jetzt gezeigt werden, wie
es sich in dieses System integrieren lässt (vgl. Schelling 1802a, 130–136 / SW IV,
282–285). Ähnlich auch: AA I,10, 166 (Anm. im Handexemplar zu § 95); Schelling
1802b, 75 / SW IV, 389; Schelling 1803c, 12 f. / SW IV, 398; SW VI, 123. (Aus letzte-
rer Stelle wird auch klar, dass Schelling sich dessen bewusst ist, dass seine eigene
Deutung des fichteschen Begriffs wohl nicht mit Fichtes Selbstverständnis überein-
stimmt.) Im Reinhold-Gespräch (1802) findet sich zudem folgende Stelle: »Das Ich,
welches nichts anders, als der höchste Ausdruck jenes Absonderungsacts ist, ist nach
ihm [Fichte, R. S.] reiner Act, nichts als sein eigenes Thun, nichts, unabhängig von
seinem Handeln, überhaupt bloß durch und für sich selbst, nichts also an sich oder in
Ansehung des Absoluten, eben so auch alles, was mit dem Ich und eben deßwegen
auch nur für das Ich abgesondert ist von der Allheit« (Schelling 1802d, 13 f. / SW V,
26; Herv. v. Verf.). Damit ist der zentrale Gedanke von Philosophie und Religion, dass
bei Fichte die Ichheit als Prinzip des Abfalls zu verstehen sei, hier bereits formuliert.
Und Schelling fügt hinzu: »Mehr als diese negative Seite der Philosophie kann im
Idealismus als Idealismus nicht dargestellt werden«. Dies scheint Xavier Tilliette über-
sehen zu haben, wenn er die eigentliche Leistung und »le trait génial de Philosophie et
Religion« nicht in »l’intervention de la chute«, sondern in »l’assimilation, le télésco-
page du thème et de la philosophie criticiste« sieht: »On reconnait là sa marque,
l’acuité interprétative. Par une sorte de métaschématisme ou de ›péritrope‹, il s’em-
pare de la pensée qui le contredit, celle de Fichte […], pour la retourner contre elle-
même« (Tilliette 1992, 487).

185
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Pole sich in ihm in einem Zustand der Indifferenz. Nach dem ur-
sprünglichen Verhältnis der Pole ist das Reale nur ganz real, insofern
es zugleich ganz ideal ist. Das Reale kann nur als das andere Absolute
sein, indem es die Möglichkeit hat, sich in seiner Selbstheit zu er-
greifen. Die Seite der Selbstheit, die dem Realen bzw. den Ideen
zukommt, ist von einem ausdrücklichen »Ergreifen« derselben zu un-
terscheiden. 152 Zu unterscheiden ist somit zwischen der Zertrennlich-
keit beider Seiten, durch welche die Identität oder Isomorphie beider
Seiten noch nicht aufgehoben ist und die als bloße Möglichkeit in der
Struktur des Realen angelegt ist, und der tatsächlichen Zertrennung
beider. Dieses Ergreifen oder diese Aktualisierung der Selbstheit ist
jedoch nicht durchzusetzen, ohne dass sie sich vom Wesen trennt,
diesem gegenüber ihre Eigenständigkeit behauptet, und sie ist damit
auch notwendigerweise mit einem Verlust der Absolutheit erkauft:
»[E]s kann nicht als das andere Absolute seyn, ohne sich eben da-
durch von dem wahren Absoluten zu trennen, oder von ihm abzu-
fallen«. 153 Das Ergreifen der Selbstheit lässt sich nicht denken, ohne
eine Folge, die unmittelbar sich daraus ergibt. Darin ist somit bereits
die oben umrissene Struktur einer Tat-Handlung angelegt. Zwischen
beiden Modi besteht somit eine deutliche Asymmetrie, indem beide
zwar gleichmöglich sind, dafür aber doch nicht gleichwertig.
Dass der Grund der Möglichkeit eines Abfalls im Absoluten bzw.
im Realen angelegt sein muss, war bereits in der formellen Anforde-
rung enthalten, die Abkunft der endlichen Dinge als einen Abfall zu
denken. Die Ichheit hingegen wird eingeführt, um die Frage nach der
Wirklichkeit des Abfalls oder nach der Form, in welcher dieser sich
aktualisiert, zu beantworten. 154 Allerdings beinhaltet die Art, wie

152 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39. Vgl. Blanchard 1979, 440: »[D]as, was schon sei-
nem Wesen nach Selbstheit ist, erfaßt sich in dieser seiner Selbstheit auf die Weise,
daß dieses sich-Erfassen zugleich die Möglichkeit beinhaltet, sich als die Selbstheit,
die es ist, ausdrücklich selbst zu setzen«. Schelling unterscheidet also zwischen der
Selbstheit, die dem Realen seinem Wesen nach (als der einen Seite seiner selbst) zu-
kommt, und dem tatsächlichen Ergreifen oder Aktualisieren dieser Selbstheit.
153 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39 f.

154 Dass gerade die Ichheit der Anforderung, die Abkunft der Endlichkeit aus einem

Abfall zu erklären, genügt, geht aus folgender Stelle hervor: »[D]rittens ist jederzeit
die Ichheit als der eigentliche Absonderungs- und Uebergangspunct der besondern
Formen aus der Einheit, als das wahre Princip der Endlichkeit aufgestellt und von ihr
dargethan worden, dass sie nur ihr eigne That und unabhängig von ihrem Handeln,
ebenso wie das Endliche, das mit ihr und nur für sie abgesondert ist vom All, wahr-
haftig Nichts sey« (Schelling 1804, 53 / SW VI, 50; erste Herv. v. Verf.). Während

186
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Schelling den fichteschen Begriff der Ichheit hier einführt, zugleich


eine Distanznahme zu Fichte, indem er ihn auf eine solche Weise
bestimmt, die eine tiefgreifende Verwandlung des fichteschen Kon-
zepts bedeutet. Schelling bezeichnet die Ichheit nämlich zum einen
als »das allgemeine Princip der Endlichkeit«, zugleich aber auch als
Ausdruck dieses allgemeinen Prinzips »in seiner höchsten Potenz«. 155
Beide Charakterisierungen weisen auf das Motiv für die verwandeln-
de Aufnahme des Begriffs. Derjenige Aspekt der Ichheit, durch wel-
chen diese verallgemeinerungsfähig ist, ist ihr Charakter einer Tat-
Handlung: Alles ist nur insofern eine Tatsache und hat nur insofern
Realität, als es sich auf die Handlung einer ichhaften Instanz zurück-
führen lässt. Unabhängig von dieser Handlung, oder an sich, hat es
indessen überhaupt keine Realität. 156 Schelling verwendet den Aus-
druck ›Ichheit‹ in zweierlei Hinsicht, einmal als Bezeichnung des all-
gemeinen Prinzips, sodann als Bezeichnung des höchsten Ausdrucks
desselben. In der ersten Verwendungsweise ist jedoch ›alles Ich‹. Da-
mit droht das Spezifische der menschlichen Ichheit aus dem Blick zu
geraten. 157
Die Aufnahme des Begriffs der Ichheit verbindet sich also mit
einer doppelten These: (1.) die Ichheit ist die höchste Form der Selbst-
heit der Ideen; (2.) in jeder Potenz gibt es ein Analogon der Ichheit,
ein eigenes Prinzip der Individuation. Jeder Potenz entspricht dem-
nach ein eigener Modus der Ichheit oder des Für-sich-selbst-Seins
oder eben der Tathandlung. Jedes endliche Seiende ist demnach zu-
gleich das Handelnde und die Tat, das Produzierende und das Produkt
dieser Handlung. Mit jedem Wesen korrespondiert eine eigens ver-
fasste ›Welt‹. 158 Während Schelling zunächst nur kurz auf denjenigen
Aspekt der Ichheit abhebt, der sie dazu geeignet macht, als allgemei-
nes Prinzip zu fungieren, so lenkt er die Erörterung sofort auf die
Frage hin, weshalb die Ichheit Ausdruck der Endlichkeit in der höchs-

Schelling als Beleg für die erste und zweite These jeweils nur eine Stelle angeführt
hatte, so führt er hier gleich drei Fundorte an: erstens »viele[…] Stellen in Bruno«,
dann eine Stelle aus den Ferneren Darstellungen (vgl. Schelling 1803c, 13 / SW IV,
398), schließlich eine Stelle aus dem Reinhold-Gespräch (vgl. Schelling 1802d, 13 /
SW V, 26).
155 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1802a, 143 / SW IV,

288.
156 Dies bezeichnet Schelling später auch als den Begriff der formellen Freiheit (vgl.

Schelling 1809a, 420 f., 463–471 / SW VII, 351 f., 382–389).


157 Vgl. Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351.

158
Vgl. dazu Plessner 1954, 90.

187
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

ten Potenz ist. Erst in einigen nachgeschalteten »Ramificationen«


und »Folgerungen« geht er näher auf den allgemeinen Charakter der
Ichheit ein. 159
Dasjenige Prinzip, das sich in der höchsten Potenz als Ichheit zu
erkennen gibt, bezeichnet Schelling in seiner allgemeinen, nicht spe-
zifizierten Gestalt auch als ›Seele‹. Dieser Ausdruck ist somit nicht
von vornherein auf die menschliche Seele festgelegt, 160 sondern be-
zeichnet das Individuationsprinzip oder das Individualisierende
schlechthin. 161 Die Lehre von der Seele ist gerade dasjenige Theorie-
stück, mittels welchem Schelling die anfangs aufgestellte Forderung

159
Schelling 1804, 43, 50 / SW VI, 44, 48. Eine vollständige Darstellung derselben
findet sich besonders in den Würzburger Vorlesungen (vgl. SW VI, 215–494). Die
Kosmologie, in welcher diese Erörterungen gipfeln, wurde auch in einem langen Mo-
nolog Brunos entwickelt (vgl. Schelling 1802a, 82–135 / SW IV, 258–285), wonach
die Unterredung mit Lucian wieder aufgenommen wird, in welcher die Ichheit als
höchster Ausdruck der Absonderung bezeichnet wird.
160 Die Seele zeigt sich erst in der höchsten Potenz, im Menschen, als Ichheit oder

Wille. Deshalb geht dem berühmten Satz aus der Freiheitsschrift: »Wollen ist Ur-
seyn« die Einschränkung vorab: »Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein
andres Seyn als Wollen« (Schelling 1809a, 419 / SW VII, 350; Herv. v. Verf.). D. h. nur
›in der letzten und höchsten Instanz‹ gibt es kein anderes Sein als Wollen. Dadurch
sieht Schelling sich berechtigt, die Bezeichnung ›Wille‹ oder ›Ichheit‹ auch auf die
niedrigeren Stufen zu übertragen und diese als Vorstufen oder Analoga des Willens
oder der Ichheit auszulegen, obwohl ihnen gerade dasjenige fehlt, wodurch sie im
eigentlichen Sinne zum ›Willen‹ oder zur ›Ichheit‹ werden. Was solchen ›Willen‹ noch
fehlt, damit sie im eigentlichen Sinn ›Wille‹ sind, ist das Wissen – das Wissen-was-
man-will ist nur im Menschen möglich. Michael Theunissen hingegen setzt bei der
Auslegung von Schelling 1809a, 435 f. / SW VII, 362, »die Seele« schlechthin mit dem
»eigentlich Menschliche[n] im Menschen« gleich (Theunissen 1965, 182), obwohl aus
dem Zusammenhang klar hervorgeht, dass mit ›Seele‹ hier nichts spezifisch Mensch-
liches gemeint ist, sondern schlechthin das Individuationsprinzip. Durch die Seele hat
alles Seiende eine Unabhängigkeit von Gott. Erst im Menschen wird die Selbstheit,
die in allem Seienden ist, zum Geist, d. h. aber auch zur Möglichkeit der Selbstsucht.
161
Den Ausdruck der ›Individuation‹ oder der Subjektivierung verwendet Schelling
zu dieser Zeit nur sehr spärlich und oft in einem konzeptuell nicht relevanten Sinn.
Daraus lässt sich indes noch nicht schließen, dass damit auch die dadurch bezeichnete
Problematik abwesend ist (so Shikaya 2000, 93). Als »Individualität« bezeichnet
Schelling »die Verwicklung der Seele mit dem Leib« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61);
die Kraft, durch welche die Seele auch Leib ist, ist die »Kraft der Individuation« (SW
V, 386). Ferner: »[D]er Magnetismus ist der allgemeine Akt der Beseelung oder der
Individuation als Akt, als Thätigkeit angeschaut« (SW VI, 326). (Später verwendet
Schelling ›Seele‹ auch, um dasjenige, wodurch man sich über die Selbstheit erhebt,
zu bezeichnen, im Gegensatz zum Prinzip der Individualität (vgl. Schelling 1809a,
368 f. / SW VII, 312).) Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Individualität und
Persönlichkeit, die hierdurch möglich wird: »Die Individualität ist zwar nicht die Per-

188
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

zu erfüllen gedenkt, die Abkunft der endlichen Dingen aus dem Ab-
soluten und ihr Verhältnis zu ihm als Abfall zu denken. Der Sinn des
Begriffs des Abfalls erschließt sich somit erst aus Schellings Lehre
von der Seele. Auch ist es gerade diese Lehre, auf welche Schelling
sich in den Abschnitten, die die Darstellung seines Systems zum Ge-
biet der praktischen Philosophie fortführen, ausschließlich stützt. 162
Schelling führt hier somit zwei Terminologien oder Register zusam-
men: Zum einen versucht er, insbesondere in Philosophie und Religi-
on, deutlich zu machen, wie er einige wesentliche Einsichten Fichtes
in sein System zu integrieren vermag, und hält sich dabei oft an die
fichtesche Terminologie (›Ichheit‹, ›Tathandlung‹), während er zum
anderen zugleich auch diejenige Terminologie beibehält, die ins-
besondere im platonisierenden Gespräch Bruno vorherrschte, wo öf-
ters von der ›Seele‹ und vom ›Wesen der Seele‹ die Rede war. 163 Nach-
dem wir Schellings Lehre von der Seele, wie sie sich aus Philosophie
und Religion erschließen lässt, umrissen haben, werden wir deshalb
jetzt zeigen, wie diese sowohl mit der Lehre von der Seele im Bruno
als auch mit der Lehre vom Willen in der Freiheitsschrift in Überein-
stimmung ist.
Unter »Seele« ist, so Schelling, »die Idee« zu verstehen, »sofern

sönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam ihr Organ« (Schelling 1809b,
110 / SW VII, 528).
162 Bereits Eschenmayer hat auf diese Bedeutung hingewiesen (vgl. Eschenmayer

1803, 78–80 (§ 79)). Seine Kritik richtet sich teilweise gegen den schellingschen See-
lenbegriff. So stützt Schelling sich sowohl für seine Zurückweisung von Eschen-
mayers Einwand, das System Schellings habe keinen wirklichen Ort für die Freiheit
des Willens und die Tugend (dritter Abschnitt), als auch für seine Lehre von der
Unsterblichkeit der Seele (vierter Abschnitt) fast ausschließlich auf diese Lehre von
der Seele (vgl. Schelling 1804, 55 f., 61, 68 / SW VI, 51 f., 55, 60).
163 Es kann denn auch kaum verwundern, dass nach Schelling die fichtesche Lehre der

Ichheit, jedenfalls in seiner eigenen verwandelnden Aufnahme derselben, mit der


platonischen in Übereinstimmung ist: »Wie rein spricht sich die uralte Lehre der
ächten [sc. der platonischen, R. S.] Philosophie in diesem zum Princip der Welt ge-
machten Nichts der Ichheit aus« (Schelling 1804, 43 / SW VI, 43 f.). – In der Freiheits-
schrift hebt Schelling hervor, wie in diese Aufnahme des fichteschen Begriffs der
Ichheit kantische Motive, besonders der kantische Begriff einer intelligiblen Tat, hi-
neinspielen. Daraus dürfte hervorgehen, dass Schelling die fichtesche Ichheit von An-
fang an als die Aufnahme dieses kantischen Begriffs aufgefasst hatte. Während Fichte
die Tat-Handlung nur formell entfaltet und damit eine Verallgemeinerung derselben
ermöglicht, so ist die Entwicklung der intelligiblen Tat in der Religionsschrift von
Anfang an im Zusammenhang der Frage nach dem Ursprung des Bösen eingebunden.
Formeller und reeller Begriff der Freiheit sind dabei also durchgängig verschlungen
(vgl. Schelling 1809a, 472 f. / SW VII, 388 f.).

189
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

sie bestimmt ist, Endliches zu produciren, in ihm sich anzuschau-


en«. 164 Auch hier haben wir demnach eine Subjekt-Objektivierung
oder ein Darstellungsverhältnis, wenn diese auch nicht mehr dem
Gesetz der Identität gemäß stattfinden, sondern in einer nur relati-
ven, eine Differenz voraussetzenden Identität resultieren. ›Seele‹ ist
somit Schellings Ausdruck für die Ichheit, insofern er diese als all-
gemeines Prinzip ansieht. Die Ichheit war als Tat-Handlung zu den-
ken, als eine Handlung oder Tätigkeit, die unmittelbar in bestimmten
Taten resultiert. Kennzeichnend für die Ichheit ist demnach die sub-
jekt-objektive Verfassung. Die Ichheit weist damit zum einen eine
selbstbezügliche Struktur auf, durch welche sie erst und nur dasjenige
ist, was sie ist, insofern sie sich dazu macht. Zum anderen hat der
Begriff der Ichheit das Besondere, dass er kein Synonym für ›Subjekt‹
ist, sondern als Subjekt-Objekt zu denken ist. Ebenso wesentlich wie
das subjektive oder selbstbezügliche Moment ist also das objektive
Moment: Das Ich ist nicht, ohne dass es sich auch zu etwas macht.
Damit wird die doppelte Struktur, die sich zunächst am Bewusstsein
als der Entdoppelung von Bewusstsein-von und Selbstbewusstsein
nachweisen lässt, zu einer allgemeinen Struktur erweitert. Man
könnte demnach auch von der Intentionalität als einer ontologischen
und nicht bloß auf das Bewusstsein eingeschränkten Struktur spre-
chen. Gerade diese beiden Momente berechtigen dazu, statt von ›See-
le‹ auch von einem ›Willen‹ zu sprechen. Alles endliche Seiende hat
diesen willenhaften oder beseelten Charakter. 165 Dies drückt Schelling

164 Schelling 1804, 38 / SW VI, 41.


165 »Muß nicht eben darum an allen endlich erkannten Dingen der Ausdruck des
Unendlichen, aus welchem, und des Endlichen, in welchem sie reflektiert werden,
und des Dritten, worin diese Eins sind, erkannt werden?« (Schelling 1802a, 145 /
SW IV, 290; Herv. v. Verf.). Hier will Schelling somit im Ausgang vom Standpunkt
der Wissenschaftslehre oder der Reflexion über das Ich zur Notwendigkeit einer Na-
turphilosophie hinführen. In derselben soll dann gezeigt werden, dass die Natur kein
bloß Objektives ist, sondern dass auch in ihr jene drei Momente, die er hier unter-
scheidet, erkannt werden müssen. Diese drei Momente sind: (1.) das »Unendliche, aus
welchem […] sie [die endlich erkannten Dinge, R. S.] reflektiert sind«: das subjektive
Prinzip, das sich objektiviert, sich in einem Objektivem anschaut; (2.) das »Endliche,
in welchem sie reflektiert sind«; das Objektive, in welchem sich jenes Subjektive an-
schaut, objektiviert oder reflektiert; (3.) das »Dritte, worin diese Eins sind«, die Indif-
ferenz oder das Gleichgewicht von Subjektivem und Objektivem. Wenn es heißt: »Die
Seele schaut in allen Dingen einen Abdruck dieses Princips ein« (Schelling 1804, 41 /
SW VI, 42), dann ist dieser Satz gewollt zweideutig: Er kann so gelesen werden, dass
die menschliche Seele in allen Dingen ein Analogon dessen, was in ihr die Ichheit ist,
anschaut oder hineinsieht. Die Seele kann aber auch das abgefallene Gegenbild über-

190
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

auch so aus, dass er die Seele »als identisch mit dem [von ihr, R. S.]
Producirten« bestimmt. 166
Was Schelling hier ›Seele‹ nennt, weist die gleiche Struktur auf
wie das, was er später als ›Willen‹ bezeichnet. 167 Dies geht daraus her-
vor, dass er der Seele nicht nur eine subjekt-objektive Verfassung zu-
schreibt, sondern immer wieder ihren produktiven, strebenden,
trachtenden Charakter hervorhebt. 168 Daraus dürfte auch klar wer-
den, weshalb er behaupten kann, dass die ichhafte Verfassung des
Bewusstseins ein allgemeines ontologisches Prinzip ist, das in allen
Dingen nachweisbar ist: Alle endlichen Dinge weisen diese Doppe-
lung auf, die Selbstbezüglichkeit und die Richtung auf anderes als es
selbst, oder verknappt gesagt: Alles Endliche ist Subjekt-Objekt. So-
wohl die Seele als auch das durch sie Produzierte sind nur »Werk-
zeuge der Ideen«. 169 Hier ist auch immer von einem ›indirekten‹ Ver-
hältnis die Rede: Das Absolute oder die Idee verhält sich dabei
lediglich als Grund. Das impliziert zugleich die Frage nach der Mög-

haupt meinen. Dann meint der Satz, dass das Gegenbild in allen Dingen ein Analogon
jenes Prinzips der Ichheit einbaut, dass es sich selbst nicht zur Darstellung bringen
oder objektivieren kann, ohne in dem, durch welches es zur Darstellung gelangen soll,
ein solches Subjektivierungsprinzip einzubauen. Man könnte auch von einer idealis-
tischen (subjektivistischen) und realistischen (objektivistischen) Lesart sprechen. Bei-
de sind hier gleich möglich. Zwar ist es so, dass wir fähig sind, in allen Dingen ein
Analogon dieses Prinzips anzuschauen, aber dies ist nicht lediglich Sache unserer
Anschauung oder Betrachtungsweise, so als ob dem in den Dingen selbst nichts ent-
spräche. Sondern wir schauen ein Analogon dieses Prinzips in allen Dingen an, weil
diese Dinge auch wirklich so verfasst sind, dass ein Analogon desselben in ihnen
eingebaut ist. – Nach Dieter Jähnig besteht die Absicht von Schellings Naturphiloso-
phie darin, zu beweisen, dass »die organische Natur […] willens-analog« ist (Jähnig
1975, 42; vgl. auch Jähnig 1966, 55–72; 133–154). Dies hat Schelling auch selbst rück-
blickend als die eigentliche Absicht seiner Naturphilosophie hervorgehoben (vgl.
Schelling 1809a, VII f., 419, 429, 482 f. / SW VII, 333, 350, 357, 395 f.).
166 Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.

167
Deshalb kann Schelling am Anfang des dritten Abschnitts einen Satz Eschenmay-
ers zitieren, wonach es diesem »immer ein unauflösliches Problem zu seyn [schien],
den Willen […] aus der absoluten Identität […] zu entwickeln« (Eschenmayer 1803,
51 f. (§ 58); vgl. Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50). Diese ›Entwicklung‹ hatte er näm-
lich im vorhergehenden Abschnitt geleistet.
168 So übrigens auch bereits in den Ferneren Darstellungen: Alle ›erscheinenden‹ oder

endlichen ›Dinge‹ zeichnen sich durch ein ›Bestreben‹, ein ›Trachten‹, einen ›doppel-
ten Trieb‹ aus (vgl. Schelling 1803c, 9 / SW IV, 395 f.). – Schelling bezeichnet die
»Ichheit«, genauer: die »aktivirte Selbstheit« als »Lust und Begierde«, als »Trieb, sich
nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Daseyn zu erhalten«, und sieht
darin »eine Art von Freyheit« (Schelling 1809a, 455 / SW VII, 376).
169
Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.

191
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

lichkeit eines direkten Verhältnisses: In einem solchen wäre das Ab-


solute nicht mehr bloß als Grund, sondern als selbst Existierendes. 170
Diese Verallgemeinerung des Prinzips der Ichheit erlaubt es, solche
Erscheinungen rational durchsichtig zu machen, die zwar vernünftig
sind, ohne dass jedoch das Handelnde aus Vernunft handelt. Von den
»beyden Einheiten der Idee« hieß es, dass diese »in ihrer Idealität Eine
Einheit« sind. 171 Es besteht eine völlige Entsprechung zwischen die-
sen Einheiten oder Seiten der Idee, insofern sie in ihrer bloßen Idea-
lität betrachtet werden. Dasjenige, was diese ideale Einheit darstellen
soll, wird also so verfasst sein, dass darin die Einheiten in eine Diffe-
renz treten. Dadurch wird, wie Schelling schreibt, die Einheit beider
selbst »zu einem Drey«. 172 Diese Einheit ist nicht etwas Gegebenes,
sondern kann nur noch durch das Endliche hervorgebracht werden
oder ist Gegenstand eines Strebens desselben. 173 Gerade durch diesen
strebenden oder triebhaften Charakter bezeugt das Endliche im Abfall
seine Beziehung auf dasjenige, wovon es abgefallen ist (die Idee). Da-
mit ist ihm in seine Existenz eine Tendenz, ein Streben nach der Her-
vorbringung oder Wiederherstellung der Identität eingeschrieben:
Alles endlich Seiende ist demnach willenhaft oder strebend. Dadurch
wird die Identität zu einer vom Endlichen zu erbringenden Aufgabe.
Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine solche Aufgabe, die es
gegebenenfalls auch nicht auf sich nehmen könnte, sondern vielmehr
ist es, sobald es existiert, darauf ausgerichtet, diese Identität wieder-
herzustellen. In diesem Streben bezeugt die Identität gerade in ihrem
Verlust noch ihre Präsenz. Während die Idee durch ihre bloße Ver-
fassung eine Darstellung des Absoluten bildet, ist dies im Fall des

170 Vgl. damit Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364, wo erst »in dem ausgesprochnen
Wort«, im Geist oder in der realen, an ein Subjekt gebundenen Vernunft Gott »actu
existirend« ist.
171
Schelling 1804, 45 / SW VI, 44.
172 Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.

173
In diesem Streben als Ausdruck des Verhältnisses des Endlichen zu seinem Grund
zeigt sich die Endlichkeit auch als ein Leiden, der Abfall als die kontinuierliche Geburt
des Endlichen als Ur-Schmerz. Vgl. die Bemerkung, dass »unglücklich zu seyn oder
sich zu fühlen die wahre Unsittlichkeit selbst ist« (Schelling 1804, 61 / SW VI, 55). Da
einzig die Erhebung über die Endlichkeit als wahrhaftes ›Glück‹ oder als Seligkeit
bestimmt werden kann, so ist die Endlichkeit überhaupt als ein Zustand der Unselig-
keit oder des Unglücklichseins zu bezeichnen. Dieses Unglück zeigt sich auch daran,
dass die endliche Seele nur »Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit« produzieren kann
(Schelling 1804, 37 / SW VI, 40; vgl. Schelling 1804, 44 / SW VI, 44). Diese ›Produk-
tionen‹ entspringen einem Leiden, sind aber nicht dazu geeignet, es zu lindern.

192
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Endlichen nicht der Fall. Hier ist eine doppelte Modalität des Darstel-
lens möglich. Ob es die Idee darstellt, wird hier zu einer eigenen Leis-
tung, die es demnach auch verfehlen kann. Ob es ihm gelingt, die Idee
zur Darstellung und zum Ausdruck zu bringen, hängt vom Endlichen
selbst ab. Auf welche Weise eine solche Darstellung gelingen kann,
liegt aber nicht mehr in seiner Macht. Das Endliche wird dadurch zu
einer Darstellung der Idee, zu einem »Bild des An-sich«, insofern es
ihm gelingt »die beyden Einheiten der Substanz als blosse Attribute«
unterzuordnen. 174
Als einen dritten Aspekt des Begriffs der Seele oder des Willens
hebt Schelling hervor, dass in diesem Fall das »In-sich-selbst-Seyn
[…] unmittelbar das Seyn mit Differenz der Wirklichkeit von der
Möglichkeit« impliziert: »[D]ie allgemeine Form dieser Differenz ist
die Zeit«. 175 So heißt es gelegentlich, dass Möglichkeit und Wirklich-
keit sich an einander abtrennen oder unterscheiden. 176 Damit ist ge-
meint, dass es sich um korrelative Begriffe handelt. Die Rede von
Möglichkeit hat nur Sinn, insofern diese von sich aus auf eine be-
stimmte Wirklichkeit verweist, so wie die Rede von Wirklichkeit nur
sinnvoll ist, insofern sie mit bestimmten Möglichkeiten verknüpft
ist. 177 Jede Möglichkeit ist demnach an ein bereits Wirkliches gebun-
den und ist erst aufgrund dieser Bindung denkbar. Dies ist so möglich,
dass irgendetwas Wirkliches eine Möglichkeit hat oder über ein be-
stimmtes Vermögen verfügt, etwas hervorzubringen. Dies setzt vo-
raus, dass es sich in einem Geflecht von Verhältnissen befindet, das
ihm immer mehrere Handlungsmöglichkeiten offenlässt. Anderer-
seits ist auch jede Wirklichkeit an eine Möglichkeit geknüpft: Es gibt
kein Wirkliches, das nicht selbst wieder als die Realisierung einer be-
stimmten, aber nicht einzig möglichen Möglichkeit gelten muss und

174 Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.


175
Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.
176 Vgl. Schelling 1802a, 66 f. / SW IV, 250.

177
Damit reserviert Schelling den Ausdruck ›Möglichkeit‹ ausschließlich für die
›reelle Möglichkeit‹. Den Ausdruck ›Potenz‹ behält er der ›materialen Möglichkeit‹
vor. Vgl. dazu Buchheim 1992, 37: Die »reelle Möglichkeit« ist stets an ein Wirkliches
als an einen »Fixpunkt« gebunden: »Nur insofern die Möglichkeit durch ein in seiner
Identität verwahrtes Wirkliches lizensiert wird, ist sie als reelle Möglichkeit zu be-
zeichnen«. Diese lässt sich »in mehreren Versionen spezifizieren, nämlich entweder
so, daß das betreffende Wirkliche die Möglichkeit hat, so und so beschaffen zu sein
oder sich so und so zu verhalten (was Vermögen heißt), oder auch in der anderen
Version, daß es mit eben diesem Wirklichen anders bestellt sein könnte, als es tatsäch-
lich der Fall ist (kontrafaktische Möglichkeit oder Kontingenz)«.

193
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

umgekehrt gibt es kein Wirkliches, das nicht für anderes als Möglich-
keit gilt. Dies heißt, erstens, dass jedes endliche Ding, solange es exis-
tiert, immer auf Dinge außer sich angewiesen ist, um sich behaupten
zu können. In dieser Hinsicht lässt ein endliches Ding sich auch nicht
verstehen, wenn man nicht die Umstände mit in Betracht zieht, unter
welchen es existiert und auf welche es für seine Existenz angewiesen
ist. Dies formuliert Schelling so, dass ein endliches Ding »die voll-
kommne Möglichkeit seines Seyns nicht« und nie »in sich selbst,
sondern in einem andern hat«. 178 Erst damit sind auch reelle Möglich-
keiten gegeben oder solche, die man einem Ding zuschreiben kann
und die es insofern hat. Damit treten Möglichkeit und Wirklichkeit
auseinander. Die Potenzen hingegen waren keine solchen Möglich-
keiten, die einem Ding zugeschrieben werden könnten. Diese all-
gemeine Verfassung eines endlichen Dings bringt Schelling nun mit
der Zeitlichkeit in Verbindung. Aufgrund der angegebenen Struktur
ist ein Ding zeitlich. Dies drückt Schelling auch noch mittels eines
Rückgriffs auf die Differenz von Sein und Begriff aus: Das Sein eines
endlichen Dings ist nicht vollständig durch seinen Begriff bestimmt
oder es ist »nicht auf einmal«, was es »dem Begriff nach seyn« könn-
te, d. h. es wird erst oder höchstens nach und nach seinem Begriff
immer mehr angemessen (SW VI, 275).
Erst wenn die Potenzen sich an endlichen Dingen darstellen, ent-
steht eine wirkliche Einschränkung: Die endlichen Dinge sind in ihrer
Potenz eingeschlossen. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung der
Bestimmung des Menschen als des Potenzlosen, als des aus aller Po-
tenz Losgelassenen. Erst an den endlichen Dingen wird die Potenz zur
Negation oder zum Ausschluss der anderen Potenzen: Ihr Weltein-
tritt ist auf dasjenige eingeschränkt oder ist auf jene Bedingungen
festgelegt, die sich aus der Potenz ergeben, zu welcher sie gehören
oder deren Fall sie sind. Die Potenz legt somit einen Spielraum fest,
innerhalb dessen das Ding sich bewegen kann, der aber zugleich eine
Schranke bildet, die es nicht zu überschreiten vermag. Dennoch wird
diese Negation nicht als eine Einschränkung seiner Freiheit empfun-
den. Diese Negation ist somit keine Beraubung: Ihm sind dadurch
keine Eigenschaften oder Möglichkeiten geraubt, die ihm eigentlich
zukommen müssten. Während z. B. das Tier in eine gewisse Lebens-
form eingebunden bleibt, ohne dass es das Wesen selbst direkt zur
Darstellung gelangen lassen kann, ist der Mensch als Vernunftwesen

178
Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.

194
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

nicht länger an eine Potenz, deren Fall er ist, gebunden. Aus diesem
Grund bezeichnet Schelling die Vernunft auch als das Potenzlose, das
allen Potenzen gegenüber Freie oder das nicht an irgendeine Potenz
Gebundene. Deshalb spricht Schelling hier auch von einer Absonde-
rung: Dadurch haben die Dinge eine Eigenständigkeit oder Abge-
schlossenheit dem All gegenüber, indem ihnen Bestimmungen zu-
wachsen können, die ihnen nicht aufgrund ihrer Idee zukommen.
Die Negation oder die Absonderung ist indessen eine doppelte: Die
Potenzen können sich voneinander absondern oder die zu einer und
derselben Potenz gehörigen Dinge können sich voneinander abson-
dern. Das Prinzip dieser Absonderung ist die Ichheit oder die Selbst-
heit. Manche Dinge sondern sich nur minimal vom All ab, heben sich
nur geringfügig von ihrem Grund ab, behaupten diesem gegenüber
nur ein minimales Maß an Eigenständigkeit. Je höher aber der Reali-
tätsgrad der Potenz, desto ausgeprägter auch das Bewusstsein, die In-
dividualität, die Absonderung. Abstrahiert von einem in seiner Iden-
tität verwahrten Wirklichen gibt es jene Trennung indessen nicht.
Die Trennung hat nur Realität, insofern die Potenz an ein bereits
Wirkliches gebunden ist. Es handelt sich demnach um solche Eigen-
schaften, die einem Ding (als Fixpunkt) zuschreibbar sind. Dennoch
ist die Rede von ›Eigenschaften‹ oder ›Bestimmungen‹ insofern ein
wenig irreführend, als Schelling bemerkt, dass diese nur in Bezug
auf ein Bewusstsein Realität haben und somit eine Tat sind. Alle diese
›Eigenschaften‹ wären danach als Taten oder als Ergebnisse einer Tat-
handlung anzusehen. Der Schein liegt darin, dass dasjenige, was nur
in Bezug auf diesen Fixpunkt Realität hat, dennoch als eine Realität
an sich, unabhängig vom Ich, angesehen wird. Das Ich ist somit
gleichursprünglich mit diesem Schein, da es die Dinge als bloße Ob-
jekte betrachtet und sich als bloßes Subjekt. Schelling sieht die Leis-
tung der Wissenschaftslehre darin, dass sie gezeigt hat, wie dasjenige,
was als reine Objektivität erscheint, doch nur für das Ich oder unter
Voraussetzung des Subjekts Objekt ist. Damit ist konstruiert, wie al-
len endlichen Dingen eine Innenperspektive zukommt, die nur für sie
selbst zugänglich ist und die von außen nicht erreichbar ist.
Hier ist daran zu erinnern, dass die Potenzenkonstruktion der Be-
handlung der Frage nach dem Abfall oder der Individuation voran-
zugehen hat. Nichts betont Schelling so sehr wie die Priorität der
Naturphilosophie oder der Konstruktion der Potenzen. 179 In dieser

179
Vgl. AA I,10, 92; Schelling 1803c, 51 / SW IV, 424; SW VII, 427.

195
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Konstruktion sind alle Potenzen gleichzeitig und gleich reell. Sie ist
deshalb mit einigem Recht auch als eine ›statische‹ Konstruktion zu
bezeichnen. 180 Anschließend ist in einer weiteren Untersuchung die
Entstehung wirklicher Differenzen auf der Grundlage dieser poten-
tiellen Differenzen zu klären oder die Frage, wie die Potenzen sich
voneinander absondern bzw. in einen Gegensatz zueinander gesetzt
zu werden vermögen, damit sie als Ideen gesonderter Seinsbereiche
gedacht werden können. Insofern die Potenzen in Beziehung auf ei-
nander gedacht werden, ergibt sich die Möglichkeit, einen Prozess zu
denken. Jeder Potenz entspricht eine ihr eigentümliche Form der Ich-
heit bzw. der Individuation. Entsprechend dem Realitätsgrad der Po-
tenzen ist in jeder höheren Potenz die Individualisierung dessen, was
Fall von ihr ist, ausgeprägter. So ist an dem, was Fall der niedrigsten
Potenz (der Schwere) ist, zwar noch ein Analogon von Individualität
zu erkennen, das Schelling als die Starrheit oder Kohäsion bezeich-
net. 181 Diese ist jedoch wie eine Minimalform oder der niedrigste Grad
von Individualität. Mit jeder Potenz korrespondiert somit ein eigen-
tümliches Prinzip der Individuation, und damit auch der Verräumli-
chung und Verzeitlichung. So gibt es im Planetensystem eine imma-
nente Zeitlichkeit. Die körperlichen Dinge hingegen sind bloß in der
Zeit, während Pflanzen und Tiere bereits in einem bestimmten Grade
eine eigene Zeit haben. Dagegen hat nur der Mensch eine geschicht-
liche Zeit oder eine solche Zeit, die nicht bloß nach drei Dimensionen
strukturiert ist, sondern zudem die Möglichkeit enthält, die Zeitlich-
keit in ihrer Dimensionalität auch als solche zu erfahren. 182

180 Für den Unterschied zwischen einer statischen und einer dynamischen Konstruk-
tion oder Genese, vgl. Hartkopf 1986, 210 f.
181 Vgl. AA I,10, 153 (§ 67); Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; SW VI, 287 f. (§ 124).

182 Zu beachten sind folgende Andeutungen: Die Kohäsion wird als eine »Form des

in-sich-selbst-Seyns«, der »Absonderung« und des »Beseeltseyns« gedacht (SW VI,


287). Und: »Wir können auch sagen, die Cohäsion in gerader Linie sey der Ausdruck
der Ichheit der Dinge – der allgemeine Akt der Absonderung von der Totalität, des
Abfalls von der Schwere« (SW VI, 288). Zugleich ist die Kohäsion auch »Ausdruck
der Zeit an dem Ding« (SW VI, 287). Im Zusammenhang der Behandlung der anderen
Potenzen finden sich immer wieder Hinweise auf eine für jede Potenz unterschied-
liche Verzeitlichung: »Durch den Magnetismus ist jedem Ding mehr oder weniger die
Zeit eingebildet, daß es sie in sich selbst hat« (SW VI, 327 f.); »die Pflanze lebt ganz in
der Zeit« (SW VI, 396). Im Zusammenhang des tierischen Organismus wird auf eine
periodische Zeit hingewiesen, d. h. eine solche, die dadurch entsteht, dass etwas sich
ständig, nach einem bestimmten Rhythmus, wiederholt – so z. B. der Blutkreislauf
oder das Atmen, ein ständiges Pulsieren oder ein Kreis, der ständig in sich selbst
zurückläuft, aber nie auf eine höhere Ebene gelangt. Vgl. auch den Hinweis auf die

196
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Die »Dinge« sind demnach nach dem »Grade« ihres »Belebtseyns«


oder des Beseeltseins zu unterscheiden – entsprechend den Realitäts-
graden der Potenzen. 183 Daraus geht auch hervor, weshalb es hier kei-
ne Stetigkeit gibt: Die Endlichkeit ergibt sich nicht am Ende des Pro-
zesses der Hervorbringung der Potenzen oder des Prozesses, welcher
durch die Potenzenkonstruktion rekonstruiert wird, sondern sie er-
eignet sich in jeder Potenz. Und der Grad des Belebt- oder Beseelt-
seins eines Dings ist von der Potenz abhängig, von welcher es ein
›Fall‹ ist. Hiermit hängt Schellings Lehre vom Instinkt zusammen,
die diese Zusammenhänge am deutlichsten einsehen lässt: »Je mehr
aber ein Ding einzeln ist und in seiner Einzelnheit beharret, desto
mehr trennt es sich von dem ewigen Begriff aller Dinge, welcher in
dem Licht außer ihm fällt, wie der unendliche in der Zeit, es selbst
aber gehört dem an, was nicht ist, sondern Grund von Existenz ist«. 184
Die meisten Dinge erlangen somit nur einen relativ niedrigen Grad
der Individualisierung und sie vermögen keine weitgehende Eigen-
ständigkeit dem ›ewigen Begriff aller Dinge‹ gegenüber zu behaup-
ten, sondern sie realisieren, indem sie in ihrer Einzelheit beharren
und sich in ihrer Existenz zu behaupten suchen, doch nur das durch
ihre Natur mitgegebene ›Programm‹. Auch organische Wesen bleiben
für ihre Existenz auf einen Grund angewiesen, der außer ihnen liegt
und den sie nie völlig in ihre Gewalt zu bringen vermögen. Dies ist
die Fragilität der organischen Wesen, die mit ihrer Verfassung not-
wendig mitgegebene Heteronomie: Ihre Existenzbedingungen gestat-
ten ihnen nur eine gewisse Variationsbreite, mit einem Minimum
und Maximum. Gehen die Bedingungen unter dieses Minimum oder
über das Maximum hinaus, dann können sie nicht mehr existieren. 185
Solche Wesen »sind in ihren Handlungen zwar vernünftig, nicht aber
durch die in ihnen selbst, sondern durch die in dem Universum woh-
nende Vernunft«. 186 Wenn diese Wesen auch bloß der Erhaltung im

Zugvögel, die ebenfalls eine eigene Zeit in sich haben, die dem periodisch Wieder-
kehrendem der Zeit gehorchen (auch hier also nur eine rotatorische Zeit). Diese peri-
odische Zeit ist letztlich nur eine Darstellung oder Wiederholung der kosmischen
Zeit, der Zeit des Umlaufs der Planeten bzw. der Erde um die Sonne. – Für eine erste
allgemeine und von daher vorläufige Deduktion der Zeit, vgl. SW VI, 220–227, 270–
277.
183 Vgl. Schelling 1802a, 124 / SW IV, 279.

184
Schelling 1802a, 123 f. / SW IV, 278.
185 Vgl. Schelling 1802a, 125 f. / SW IV, 279.

186
Schelling 1802a, 126 / SW IV, 280.

197
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

eigenen Sein nachstreben, so zeichnen sich dennoch sowohl im Han-


deln des einzelnen Wesens als auch in dem der Gattung vernünftige
Muster ab. Ihr Handeln als Einzelne ist deshalb vernünftig, weil »alle
ihre Handlungen auf die Einheit gerichtet [sind], nicht aber durch sie
selbst, sondern durch das göttliche Princip, welches sie lenkt«. 187 Sie
sind also nicht selbst Urheber dieser Ausrichtung auf die Identität,
weshalb Erreichen oder Verfehlen dieses Ziels ihnen auch nicht zuge-
rechnet werden kann und wird. Diese Wesen sind insofern nur im
Grund und vermögen sich nicht vollkommen abzusondern. Dabei
wird auch die Identität selbst nicht offenbar oder existierend. Sie
bleibt bloß im Grunde oder wirkt nur als Grund der existierenden
Dinge, ohne selbst etwas Existierendes zu sein. Damit die absolute
Identität existiert und offenbar wird, ist ein endliches Wesen erfor-
derlich, durch welches es diese Existenz erhält. 188
Ferner stellt jede Potenz sich durch eine Verdoppelung in und eine
Einheit von Seele und Leib dar. Jede impliziert somit eine eigene Form
der Leiblichkeit, die auch eine eigene Form der Seele impliziert. So
gibt es keine Seele ohne eine ihr entsprechende Welt, so wie es auch
keine Welt gibt ohne ein besonders verfasstes Subjekt, das diese an-
schaut. Die Welt ist hier wesentlich Umwelt: Das Subjekt, das diese
Welt wahrnimmt, steht dieser nicht so sehr gegenüber, als dass es
vielmehr Teil derselben ist; andererseits hat diese Welt keine Realität
unabhängig oder abstrahiert von einem sie wahrnehmenden Sub-
jekt. 189 Es gibt demnach »eine gedoppelte Ansicht der Seele«: einer-
seits die Seele als Seele eines bestimmten Leibes, die aber, insofern sie

187 Schelling 1802a, 126 / SW IV, 280.


188 Die Übereinstimmung zwischen Philosophie und Religion und der Freiheitsschrift
in diesem Punkt tritt in folgender Stelle klar hervor: »Jedes der auf die angezeigte Art
in der Natur entstandnen Wesen hat ein doppeltes Prinzip in sich, das jedoch im
Grunde nur Ein und das nämliche ist, von den beyden möglichen Seiten betrachtet«
(Schelling 1809a, 436 / SW VII, 362; vgl. Schelling 1804, 45 / SW VI, 44 f.). Statt von
zwei ›Seiten‹ ist hier von zwei »Prinzipien« die Rede, die nachher auch als zwei »Wil-
len« präzisiert werden (Schelling 1809a, 454 f. / SW VII, 375 f.). Auch hier ist der
»Eigenwille« (oder die Dinge als rein endliche) bloßes Werkzeug (hier vom Verstand
oder Universalwillen) (vgl. Schelling 1809a, 436 / SW VII, 363). Erst im Menschen
zeigt sich der Eigenwille oder die Selbstheit in ihrer wahren Bedeutung – als finsteres,
nachher als böses Prinzip; die Selbstheit gelangt also ebenfalls erst im Menschen zu
ihrer wahren Bedeutung, da sie ja in den anderen Wesen immer im Universalwillen
eingebunden blieb. Deshalb bezeichnet die Ichheit als »Punct der äussersten Entfer-
nung« zugleich »wieder de[n] Moment der Rückkehr zum Absoluten, der Wiederauf-
nahme ins Ideale« (Schelling 1804, 41 / SW VI, 42).
189
Vgl. Deleuze 1969, 122–130.

198
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

die Vernunft aktualisiert, die Wirklichkeit des unendlichen Denkens


oder Erkennens ist, andererseits das Wesen der Seele, das insofern nur
die unendliche Möglichkeit eines solchen Denkens enthält. 190 Das
Wesen der Seele kann selbst nur mittels eines Gegensatzes existieren
oder insofern es jene doppelte Seele gibt: Diese ist die Seele einerseits
als Begriff des Leibes, andererseits als Begriff der Seele. Zu beachten
ist, dass beide Ansichten der Seele einander wechselseitig ausschlie-
ßen und nicht zugleich gesetzt oder vollzogen werden können:
[S]etzen wir sie bloß als sich beziehend auf dieses, dessen Begriff sie ist
[den Leib, R. S.], so setzen wir sie nicht als unendliches Erkennen, und
[setzen wir sie umgekehrt, R. S.] bloß als unendlich, so setzen wir sie
nicht als Begriff eines existirenden Dinges, mithin selbst nicht als exis-
tirend. 191
Hier geht es um die Frage, unter welcher Form das unendliche Erken-
nen auch existieren oder erscheinen kann: »Nur diese Idee ist in Gott,
der Gegensatz aber von Differenz und Indifferenz, nur in der Seele
selbst, sofern sie existirt« (also nicht im Wesen der Seele). 192
Nach Schellings Behauptung stellt die Lehre vom Abfall keine
sonderliche Neuigkeit der Schrift über Philosophie und Religion dar,
sondern er hatte sie »für den Kenner klar und bestimmt genug« im
Bruno »niedergelegt«. 193 Dort wird der Begriff der Seele in einem
Zusammenhang entwickelt, in dem es Schelling darum geht, »den
Ursprung des Bewußtseins aus der Idee des Ewigen selbst und seiner
inneren Einheit« abzuleiten, ohne gegen die Anforderung, dabei »ei-
nigen Uebergang vom Unendlichen zum Endlichen zuzugeben oder
anzunehmen«, zu verstoßen. 194 Auch hier soll demnach vermieden
werden, eine Stetigkeit zwischen dem Unendlichen und dem End-
lichen anzunehmen. Es sei hier zudem noch an die beiden Fragen
erinnert, die Schelling strengstens unterschieden wissen wollte, näm-
lich einerseits die Frage nach der Entstehung potentieller, andererseits
die Frage nach der Entstehung wirklicher Differenzen. 195 Die Aufgabe
einer Ableitung des »Ursprungs des Bewußtseins« aus der Idee des
Absoluten, ohne dazu zur Annahme des genannten Übergangs ge-

190 Schelling 1802a, 137 / SW IV, 285; vgl. Schelling 1802a, 130 / SW IV, 282.
191 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285 f.
192 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
193
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28; vgl. Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.
194 Schelling 1802a, 131 / SW IV, 282.
195
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.

199
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

nötigt zu sein, präzisiert Schelling auch so, dass die »Trennung« oder
die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit mit dem Bewußtsein
gleichursprünglich ist. 196 Diese Trennung ist somit für das Bewusst-
sein konstitutiv. Sie hat aber nur in Ansehung des Bewusstseins
selbst oder nur für es Realität, nicht »in Ansehung des Absoluten«. 197
Das Bewusstsein vollzieht sich demnach als ein ›Losriss‹ vom Abso-
luten. Dabei bemerkt Schelling, dass wir »auch uns [zu] erinnern
[haben], wie allem, was aus jener Einheit hervorzugehn, oder von
ihr sich loszureißen scheint, in ihr zwar die Möglichkeit für sich zu
seyn vorher bestimmt sey«, oder dass die Ichheit oder die Seele ihrer
Möglichkeit oder idealen Struktur nach im Absoluten vorgezeichnet
sein muss, »die Wirklichkeit aber des abgesonderten Daseyns nur in
ihm selbst liege, und selbst blos ideell, als ideell aber nur in dem
Maaße statt finde, als ein Ding durch seine Art im Absoluten zu seyn,
fähig gemacht ist, sich selbst die Einheit zu seyn«: »[W]ir haben also
notwendig eine gedoppelte Ansicht der Seele«. 198
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine solche doppelte Optik
aus dem Absoluten zu konstruieren, wenn es gilt, einen vollständigen
Begriff der Seele zu gewinnen. Jede der beiden Ansichten für sich
genommen liefert noch keinen Begriff von dem, was wir gewohnt
sind, ›Seele‹ zu nennen. Darauf macht Lucian aufmerksam, wenn er
sagt: »[S]etzen wir sie [die Seele, R. S.] bloß als sich beziehend auf
dieses, dessen Begriff sie ist [den Leib, R. S.], so setzen wir sie nicht
als unendliches Erkennen«. 199 Die Seele wird dann lediglich in ihrem
›objektiven‹ oder repräsentativen Charakter ins Auge gefasst, wäh-
rend die Selbstbezüglichkeit ausgeblendet wird, durch welche alles,
was für sie Objekt ist, zugleich nur in Beziehung auf sie gesetzt ist.
Setzen wir die Seele aber »bloß als unendlich, so setzen wir sie nicht
als Begriff eines existirenden Dinges, mithin selbst nicht als existi-
rend«, sondern bloß als Idee oder Wesen der Seele, wie diese in Gott
sind. 200 Wenn gesagt wird, dass beide »nothwendig vereinigt« sind,
»die Seele insofern sie mit dem Leib Eins, ja er selbst ist, und die
Seele, in so fern sie das unendliche Erkennen ist«, dann ist damit

196 Schelling 1802a, 131 / SW IV, 282.


197 Schelling 1802a, 130 / SW IV, 282.
198 Schelling 1802a, 131 f., 137 / SW IV, 282, 285. Oliver Florig verweist zwar zu

Recht auf diese doppelte Ansicht oder Optik, unterlässt es aber, zu zeigen, inwiefern
diese für die Seele konstitutiv ist (vgl. Florig 2008, 77, 92 f.).
199 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285.

200
Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.

200
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

gemeint, dass beide gleichursprünglich sind. 201 Die Seele macht nur
mit dem Leib zusammen ein Individuum aus, so dass dieses sich auf
zwei Weisen zu erkennen gibt. Umgekehrt kann die Seele kein un-
endliches Erkennen sein, wenn sie nicht zugleich mit einem ihr ent-
sprechenden Leib gesetzt ist. Sie kann ja nur als ein Erkennen be-
stimmt werden, wenn es auch etwas gibt, das durch sie erkannt
wird. Das erste, was die Seele erkennt, ist aber der Leib. Die Seele
muss somit in zwei Hinsichten betrachtet werden: Erstens insofern
sie der Begriff von etwas ist oder ihrer ›repräsentativen‹ Seite nach,
andererseits als bloßer Modus des Erkennens. Diese beiden Seiten
sind notwendig vereinigt. Dies verweist auf ein Drittes, das beide ver-
einigt und die Identität beider garantiert und das Schelling die Idee
oder den »ewigen Begriff« der Seele nennt: »Nur diese Idee ist in
Gott, der Gegensatz aber von Differenz und Indifferenz«, also die
Unterscheidbarkeit der Seele als Begriff des Leibes und die Seele als
bloßer Erkenntnismodus, ist »nur in der Seele selbst, sofern sie exis-
tirt«. 202 Dieser Gegensatz gehört also lediglich zur Erscheinung; zu-
gleich ist er aber die Bedingung, damit die Idee selbst erscheinen
kann. Das Verhältnis von der Seele als unendlichem Erkennen zu
der Seele als Begriff des Leibes ist die Reflexion. Dieses reflexive Mo-
ment gehört ebenso wesentlich zum Begriff einer (existierenden)
Seele. Hier wird die Seele, als Begriff des Leibes, zum Objekt der Seele
selbst.
Diese drei Momente lassen sich an allen »endlich erkannten Din-
gen« nachweisen:
Denn auch die nicht existirenden Dinge und die Begriffe dieser Dinge
sind in dem Ewigen nicht anders als wie die existirenden Dinge und die
Begriffe dieser Dinge, nämlich auf eine ewige Weise enthalten. Hinwie-
derum sind auch die existirenden Dinge, und die Begriffe dieser Dinge
im Absoluten doch auf keine andre Weise, als auch die nicht existiren-
den Dinge und ihre Begriffe, nämlich in ihren Ideen […] Der Begriff
keines Einzelnen ist in Gott getrennt vom Begriff aller Dinge, die sind,
waren oder seyn werden […]. 203
Sowohl die nicht-existierenden als auch die existierenden Dinge wie
auch die ihnen entsprechenden Begriffe sind im Absoluten auf gleiche
Weise. Die Eigenschaften, die einem Ding dadurch zukommen, dass

201
Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
202 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
203
Schelling 1802a, 69 f. / SW IV, 251; vgl. SW VI, 534 (§ 297).

201
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

es auch existiert, und durch welche es sich von anderem Existieren-


dem unterscheidet, haben in Ansehung des Absoluten keine Realität,
da sie ihm von den Verhältnissen und Beziehungen zuwachsen, in
welchen es zu Anderem steht, von welchen im Absoluten durchaus
abstrahiert ist. Weil jedes Ding seiner Idee nach eine unmittelbare
Darstellung des Absoluten ist, sind alle Dinge sich darin gleich. Sie
kommen alle darin überein, dass sie alle das gleiche Verhältnis zum
Absoluten haben. Das nicht existierende Ding ist keine bloße Mög-
lichkeit, sondern etwas, wovon die Idee genauso gut im Absoluten
enthalten ist wie die Idee von solchen Dingen, die auch wirklich exis-
tieren. Dadurch dass dieses Ding nicht existiert, fehlt ihm dennoch
nichts. Im Absoluten »ist nichts von dem andern unterscheidbar,
denn die Dinge unterscheiden sich nur durch ihre Unvollkommen-
heiten und die Schranken, welche ihnen durch die Differenz des We-
sens und der Form gesetzt sind«. 204
Wir haben gesehen, wie die Ichheit sich nach Schelling gerade
wegen ihrer Bestimmung als Tat-Handlung als ›allgemeines Princip
der Endlichkeit‹ geeignet erwies. Er bezeichnet die Ichheit allerdings
zugleich auch als höchsten Ausdruck jenes allgemeinen Prinzips. In
dieser Hinsicht ist der Begriff nicht verallgemeinbar, sondern be-
zeichnet etwas für das menschliche Wesen Spezifisches. Die Natur-
philosophie endigt nämlich damit, dass die Natur ein mögliches
Subjekt der Vernunft hervorbringt. Die ideelle Reihe fängt dement-
sprechend damit an, dass die Vernunft »in der Relation auf ein beson-
deres Ding« (SW VI, 495 (§ 260); vgl. SW VI, 498 (§ 265)), nämlich in
Beziehung auf den Menschen als mögliches ›Subjekt der Vernunft‹
betrachtet wird (vgl. SW VI, 496), für welches umgekehrt die Ver-
nunft als ein Vermögen anzusehen ist. 205 Deshalb kann Schelling be-
haupten, daß die Ichheit und die Vernunft, genauer: die »reale Ver-
nunft«, »Ein und dasselbe« sind. 206
Der paradoxe Charakter des Abfall-Begriffs zeigt sich auf eine be-
sonders prägnante Weise an dessen höchstem Ausdruck. Dieses Para-
doxe ist eigens hervorzuheben, da es das Verständnis dieses Begriffs

204 Schelling 1802a, 83 / SW IV, 258.


205 Vgl. AA I,10, 116 f. (§ 1); SW VI, 137–140, 142–145, 496, wo damit angefangen
wird, »vom Subjektivem zu abstrahiren«. Die Vernunft soll hier also eben nicht als ein
solches Vermögen, das an einem Subjekt als deren Träger gebunden ist, betrachtet
werden. Diese ›nicht-gebundene‹ Vernunft bezeichnet Schelling dort als die ›absolute
Vernunft‹.
206
Schelling 1804, 42 / SW VI, 43.

202
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

besonders erschwert. Zugleich dürfte dadurch noch klarer werden,


welche neue Bedeutung ihm in der höchsten Potenz zuwächst. Wir
haben bereits auf den plastischen Charakter dieses Ausdrucks auf-
merksam gemacht. In der Tat verschiebt sich die Bedeutung des Aus-
drucks bei seiner späteren Verwendung. Dort tritt er vielmehr mit
Ausdrücken wie ›Schuld‹ und ›Strafe‹ verbunden auf, 207 später auch
im Sinne einer ›Abwendung‹ oder eines ›Absehens von‹. 208 Diese
Ausdrücke sind sämtlich der sittlichen Sphäre entnommen. Der Aus-
druck ›Abfall‹ erlaubt, wie es auch die lateinische Übersetzung nahe-
legt, die Schelling ihm gelegentlich hinzufügt (defectio), eine sittliche
Deutung, und zwar als Treubruch, Vertragsbruch, Verrat, als die
Kündigung eines Vertrags. 209 In diesem sittlich qualifizierten Sinn
wird der Ausdruck indessen nur dort verwendet, wo von dem »Punct
der äussersten Entfernung« die Rede ist. 210 Nur in der höchsten Po-
tenz oder nur im Fall der Ichheit im engeren Sinne könnte man den
Abfall auch als einen ›Sündenfall‹ bezeichnen oder als etwas, das dem
Abgefallenen zugeschrieben und wofür er verantwortlich gemacht
werden kann. 211
In dieser Verwendung tritt der paradoxe Charakter des Begriffs am
deutlichsten hervor. Dieser zeigt sich besonders daran, dass er gera-
dezu zu der Frage einlädt, wie ein Vorgang als Strafe oder als Schuld
angesehen werden kann, wenn das Subjekt, das für schuldig erachtet
oder gestraft wird, noch gar nicht dabei sein konnte, da es erst in
dessen Folge überhaupt zustande kommt. Auch der Begriff des Ab-
falls verlockt zu der Frage, wer als dessen Urheber zu gelten hat. Die
Behauptung, dass der Abgefallene selbst Urheber des Abfalls sei,
scheint paradox, da er erst im Zuge des Abfalls konstituiert wird. Es
scheint, dass dann nur das Absolute selbst als Urheber jenes Vorgangs
angesehen werden könnte. Dem steht allerdings entgegen, dass
Schelling den Ausdruck gerade dazu einführt, um zu verhindern,
Gott oder das Absolute als »Urheber des Bösen« oder als »Urheber

207 Vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 f. / SW VI, 42, 47, 52, 61.
208 Vgl. Schelling 1805b, 39, 50 / SW VII, 165 (§ 120), 173 (§ 155).
209 Vgl. SW VI, 552; Schelling 1805b, 50 / SW VII, 173.

210 Schelling 1804, 41, 64 / SW VI, 42, 57; vgl. SW VI, 124.

211 Die Zuschreibungs- oder Zurechnungsfähigkeit ist das unterscheidende Merkmal

von Persönlichkeit. Der Begriff der intelligiblen Tat dient gerade dazu, die Zurech-
nungsfähigkeit der Handlungen einsichtig zu machen, d. h. zu zeigen, wie jene Tat
eben als eine Schuld oder ›Sünde‹ bezeichnet werden kann (vgl. Schelling 1809a, 467,
470, 472 / SW VII, 385, 387, 388).

203
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

der Privation« ansehen zu müssen. 212 Wenn man sich dadurch nun
darin bestätigt sehen möchte, dass der ›Abfall‹ nur eine Nothilfe und
Verlegenheitslösung darstellt, dann bleibt doch zu erwägen, dass bei-
des – die Einführung des Ausdrucks sowie deren Grund – sich im Text
so nah bei einander findet, dass der Verfasser der Schrift dies wohl
kaum hätte übersehen können. Der Abfall ist nicht von der Art, dass
ich ihm gegenwärtig hätte sein können, da ich selbst erst in Folge
desselben überhaupt hervortrete. Er ist demnach nicht von der Art
einer Tatsache, die sich feststellen ließe. Stattdessen sucht Schelling
Argumente dafür, dass irgendetwas von der Art hat statthaben müs-
sen, und zwar in solchen Gefühlen, die eine einzigartige Verfassung
aufweisen. So heißt es z. B. von der intelligiblen Tat, dass sie in »dem
Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch ist,
[…] freylich nicht vorkommen [kann], da sie ihm, wie dem Wesen,
vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der
dem Menschen überall kein Bewusstseyn geblieben«. 213 Das ›Be-
wusstseyn‹ jener Tat geschieht in der Form bestimmter Gefühle oder
auch von sittlichen Urteilen, in welchen jenes sich bekundet. Es sind
dies Gefühle, in welchen sich eine Spur der Freiheit nachweisen
lässt. 214
Wie wir gesehen haben, hatte Schelling mit dem fichteschen Be-
griff der Ichheit zugleich die Bestimmung des Endlichen als Tat-
Handlung übernommen und auf alles endliche Seiende ausgeweitet.
Diesen Charakter des Seins des Endlichen bezeichnet Schelling in der
Freiheitsschrift als den formellen Begriff der Freiheit. Dies geht aus
einer Stelle hervor, wo es heißt, dass wir dem Idealismus Fichtes »den
ersten vollkommnen Begriff der formellen Freyheit verdanken«. 215
An diesem bemängelt Schelling allerdings, dass Fichte es unterlassen
hat nachzuweisen, dass »alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Din-
ge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe, oder im Fich-
te’schen Ausdruck, dass nicht allein die Ichheit alles, sondern auch
umgekehrt alles Ichheit sey«. 216 So geht in Philosophie und Religion,
wie wir gesehen haben, die Aufnahme des fichteschen Begriffs der
Ichheit mit dem Nachweis einher, dass die Ichheit »das allgemeine

212 Schelling 1804, 34, 48 / SW VI, 38, 47.


213 Schelling 1809a, 469 / SW VII, 386.
214 Eine analoge Argumentationsweise findet sich auch hinsichtlich der Vergangen-

heit (vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59; vgl. dazu auch SW VII, 459 f.).
215 Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351.

216
Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351; Herv. v. Verf.

204
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

Princip der Endlichkeit« ist. 217 Diesen Begriff der formellen Freiheit
des nicht-menschlichen Seienden behandelt Schelling in der Frei-
heitsschrift nicht ausführlich, sondern er begnügt sich mit einigen
Hinweisen. So ist es die »Aufgabe einer vollständigen Naturphiloso-
phie«, nachzuweisen, dass
das allerinnerste Band der Kräfte nur in einer stuffenweise geschehen-
den Entfaltung sich löst; und bei jedem Grade der Scheidung der Kräfte
ein neues Wesen aus der Natur entsteht, dessen Seele um so vollkomm-
ner seyn muss, je mehr es das, was in den andern noch ungeschieden ist,
geschieden enthält. 218
Dort, wo in der Freiheitsschrift ausführlich von diesem formellen
Freiheitsbegriff die Rede ist, ist diese Behandlung von vornherein
auf den Menschen zugeschnitten. 219 Nachdem im Vorhergehenden
besonders der reale Begriff der Freiheit erörtert wurde, und zwar in
der Gestalt, die er in der höchsten Potenz, d. h. im Menschen, an-
nimmt, nämlich als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, ist
auch die gesonderte Behandlung des formellen Begriffs bereits auf
den vorher gewonnenen realen Begriff zugeschnitten. Der reale Be-
griff der Freiheit bestand darin, sie als Vermögen zum Guten und
zum Bösen zu denken. Diese Handlungsvielfalt ist aber erst dann ein
wirklicher Begriff der Freiheit oder Komponente eines solchen, wenn
auch der formelle Aspekt betrachtet wird, nämlich dass die Realisie-
rung des einen oder anderen Modus dem einzelnen Menschen auch
tatsächlich zugeschrieben werden kann. Schelling bemerkt zu Recht,
dass dies bislang nur »weniger in’s Auge gefasst« wurde. 220 So war
bereits früher die Rede von der Unentschiedenheit und der Unmög-
lichkeit, in derselben zu bleiben, also der Notwendigkeit, sich zu ent-
scheiden. Der »gewöhnliche Begriff der Freyheit« nun hebt nur auf
diesen formellen Aspekt ab, wonach die Freiheit in die Freiheit der
Wahl gesetzt wird. Dies ist aber eine ungenügende Erfassung dessen,
was besser Entscheidung hieße. 221

217 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; Herv. v. Verf.


218 Schelling 1809a, 435 f. / SW VII, 362.
219 Vgl. Schelling 1809a, 463–473 / SW VII, 382–389.

220 Schelling 1809a, 463 / SW VII, 382.

221 Diesen setzt Schelling dort von dem »gewöhnliche[n] Begriff der Freyheit, nach

welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei kontradik-
torisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andre zu
wollen, schlechthin bloss, weil es gewollt wird«, ab (Schelling 1809a, 463 / SW VII,
382). Die Kritik am ›gewöhnlichen Begriff der Freyheit‹ als Willkür bildet auch den

205
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

Während Schelling diesen Begriff in Philosophie und Religion im


Anschluss an Fichte entwickelt, entfaltet er ihn in der Freiheitsschrift
hingegen in Anlehnung an die kantische Lehre der intelligiblen Tat,
wie diese in der Religionsschrift entwickelt wurde. 222 Sowohl der fich-
tesche Begriff der Ichheit als der kantische einer intelligiblen Tat wer-
den dazu eingesetzt, den formellen Begriff der Freiheit zu explizieren.
Die Deduktion des Begriffs der formellen Freiheit wird durch das
Theoriestück der intelligiblen Tat geleistet. Dieser Begriff ist indessen
mit dem einer »höhere[n] Nothwendigkeit« gleichbedeutend, d. h.
einer solchen, die sich von der empirischen Notwendigkeit, dem not-
wendigen Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung, unterschei-
det. 223 Schelling bezeichnet sie auch als »eine innere, aus dem Wesen
des Handelnden selbst quellende, Nothwendigkeit«:
Das intelligible Wesen kann daher, so gewiss es schlechthin frey und
absolut handelt, so gewiss nur seiner eignen innern Natur gemäss han-
deln, oder die Handlung kann aus seinem Innern nur nach dem Gesetz
der Identität und mit absoluter Nothwendigkeit folgen, welche allein
auch die absolute Freyheit ist: denn frey ist, was nur den Gesetzen seines
eignen Wesens gemäss handelt, und von nichts anderem weder in noch
ausser ihm bestimmt ist. 224
Im Anschluss an die Frage, »was […] denn jene innere Nothwendig-
keit des Wesens selber [ist]?«, bringt Schelling den Begriff der Tat-
Handlung zum Tragen: Das Wesen des Menschen ist eine Tat-Hand-
lung. 225 »Die That, wodurch sein Leben in der Zeit bestimmt ist, ge-

roten Faden in der Behandlung der Potenz des Handelns in den Würzburger Vor-
lesungen (vgl. SW VI, 539, 540, 541, 558, 560). Als exemplarischer Vertreter dieses
Begriffs galt Schelling Reinhold. – Für den Unterschied zwischen Entscheidung und
Wahl, vgl. Wieland 1956, 33.
222 Aus einer Bemerkung im System des transscendentalen Idealismus geht hervor,

dass Schelling bereits 1800 beide Lehren miteinander in Verbindung gebracht hat
(vgl. AA I,9,1, 279). Vgl. dazu Leinkauf 1998, 171, 178.
223 Schelling 1809a, 465 / SW VII, 383.

224
Schelling 1809a, 465, 466 f. / SW VII, 383, 384.
225 Vgl. Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385: »das Wesen des Menschen ist wesentlich

seine eigne That«; »Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That«. Kurz vorher hatte
Schelling bemerkt, dass er hier die kantische Lehre »nicht eben genau mit seinen
Worten« ausdrückt (Schelling 1809a, 466 / SW VII, 384). Diese Formulierung er-
innert an die Maxime von Schellings Kant-Deutung, die er 1797 in einer Abhandlung
formulierte (vgl. AA I,4, 102), die er in einer überarbeiteten Fassung unter dem neuen
Titel Abhandlungen zur Erläuterungen des Idealismus der Wissenschatfslehre in
dem Band der Philosophischen Schriften veröffentlichte, in welchem auch die Frei-
heitsschrift erstveröffentlicht wurde. An der zitierten Stelle wird nun deutlich, dass er

206
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

hört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Le-
ben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit, (unergrif-
fen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That«. 226
In dem Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch
ist, kann jene freye That, die zur Nothwendigkeit wird, freylich nicht
vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber
sie ist darum doch keine That, von der dem Menschen überall kein Be-
wusstseyn geblieben. 227
Das Wesen des Menschen darf kein »ihm bloss gegebenes« sein, das
er einfach vorfindet und hinzunehmen hätte, sondern es muss der
Mensch an diesem seinem Wesen selbst beteiligt sein. 228 Formell ist

die kantische Lehre nicht mit Kants eigenen, sondern mit den Worten Fichtes aus-
drückt. Schellings erklärte Absicht mit den erwähnten Abhandlungen bestand darin,
die kantische Lehre dadurch konsistent darzustellen, dass er sie in die fichtesche Be-
grifflichkeit übersetzt. Vgl. Leinkauf 1998, 160, 169 f., 183 f. Für die unterschiedliche
Aufnahme dieses Begriffs durch Schelling und Schopenhauer vgl. Hühn 1998, 85,
92 f.
226 Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385 f. Vgl. dazu Leinkauf 1998, 158, 187, 159, 170,

160 f.: Es handelt sich nicht so sehr um eine besondere Tat, sondern um eine Tat oder
Tathandlung, die angenommen werden muss, um alle anderen Taten erklären zu kön-
nen, demnach um einen ›formalen Grund‹. Deshalb betont Schelling, dass diese Tat
allen Taten nicht der Zeit, sondern dem Begriff nach vorangeht und dass die Tathand-
lung eine ewige Handlung ist. Man kann also alle Taten nicht chronologisch als nach
dieser Tat und aus ihr folgend darstellen, sondern man kann nur ausgehend von jenen
Taten auf sie zurückschließen. Nur so können wir auch alle nachfolgenden Taten als
frei und d. h. von sittlicher Bedeutung und zurechnenbar begreifen. Deshalb spricht
Leinkauf zutreffend von einem »unhintergreifbare[n] unkorrigierbare[n] Perfekt des
sich-Zugezogenhabens«, von einer »nur ex post zu konstatierende[n] Tatsache«, von
einem »immer schon geschehen seienden Akt«, kurz: von einer absoluten Vergangen-
heit. Die Geschichte selbst, die Verwicklung mit dem Endlichen, stellt sich zunächst
als ein Verhängnis dar, das einfach aus dieser ursprünglichen Tat folgt; wie wir im
nächsten Kapitel noch sehen werden, kann ihr aber auch eine andere Qualität zuwach-
sen.
227 Schelling 1809a, 469 / SW VII, 386. Gegen den ›gewöhnlichen Begriff der Frey-

heit‹ führt Schelling folgendes an: (1.) Ein solches Handeln wäre unvernünftig; man
wäre nicht imstande, seine Handlungen zu rechtfertigen; (2.) der einzig mögliche Be-
weis für eine solche Freiheit sind immer nur ganz triviale Beispiele; (3.) das Nicht-
wissen eines Grundes vermag noch nicht auszuschließen, dass nicht im Verborgenen
doch ein Grund wirksam ist; vielmehr ist es wahrscheinlich, dass man gerade dann
durch unbekannte Gründe bestimmt werde; (4.) der Haupteinwand ist jedoch, dass
»dieser Begriff eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen einführt«, d. h.
die Handlungen sind nicht länger Ausdruck eines Charakters oder der Person (Schel-
ling 1809a, 464 / SW VII, 383).
228
Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385.

207
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

das Wesen zwar Notwendigkeit: Die einzelnen Handlungen folgen


aus ihm notwendig, nach dem Gesetz der Identität und sind dement-
sprechend nur Bekundungen oder Darstellungen dieses Wesens. An
sich aber ist das Wesen Freiheit, insofern es die eigene Tat eines Men-
schen ist und ein sich selbst gegebenes Wesen. Hier widersetzt sich
Schelling der Gleichsetzung jenes Wesens mit Bewusstsein. Zwar
können wir uns dieses Wesens – in bestimmten Gefühlen – bewusst
werden. Dennoch fällt es nicht mit dem, was ins Bewusstsein fällt,
zusammen. Dieses Bewusstsein setzt ein »Seyn« voraus, das kein blo-
ßes Sein ist und dennoch nicht selbst wiederum Bewusstsein oder
Erkennen, sondern ein »Ur- und Grundwollen«. 229
Wenn wir jetzt noch einmal auf die höchste Form der Individuati-
on zurückkommen, dann können wir dem nächsten Kapitel vorgrei-
fend bereits sehen, wie Schelling hierin ein Mittel sieht, zwischen
Individualität und Persönlichkeit zu unterscheiden. 230 Die Individua-
lität beruht auf der »Verwicklung der Seele mit dem Leib«. 231 Indivi-
dualität ist demnach jedem in der Zeit geborenen Wesen zuzuschrei-
ben. Persönlichkeit hingegen zeigt sich erst und nur in der höchsten
Potenz und ist daher etwas für den Menschen Spezifisches. Dabei gilt
es zu beachten, dass Schelling mit dieser Entwicklung der Persönlich-
keit zweierlei will: Zum einen will er sie als etwas spezifisch Mensch-
liches herausstellen, zum anderen soll sie so gedacht werden, dass
einsichtig wird, wie sie auch beim Menschen etwas sehr Seltenes ist.
Deshalb verwenden wir das Wort auch als Lob und um Bewunderung

229 Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385. Vgl. den berühmten Satz, dass es »gar kein
andres Seyn als Wollen« gibt, dass »Wollen […] Urseyn« ist; dies gilt allerdings nur
»in der letzten und höchsten Instanz«, d. h. im Menschen (Schelling 1809a, 419 /
SW VII, 350).
230 Vgl. Leinkauf 1998, 199: »Diese positive, ja konstitutive Bedeutung [des Charak-

ters als Quelle von Freiheit, R. S.] kann er […] nur aus der Wurzel seines Zustande-
kommens haben, aus der Tatsache, daß die charakterliche Individuation einerseits die
Bedingung jeder Individuation teilt, d. h. der singuläre inverse Ausdruck der Negation
aller anderen Faktoren einer Totalität oder Ganzheit zu sein, und andererseits diese
passiv ausfüllende, kombinatorische Bedingung dadurch transzendiert, daß in der
Einzigkeit des Charakters durch diese Negation die Positivität von Freiheit vermittelt
ist, die darin besteht, daß für bewußtes, intelligentes Sein das negierte Andere auf-
gehoben ist in einen aktiven Horizont von Realisierungsmöglichkeiten. Diese aller-
dings sind, indem sie frei sind, zugleich gebunden an den Index des Individuellen. Das
genau ist ja Charakter: einen potentiell unendlichen Handlungsreichtum dennoch
unter die unerbittliche Schranke eines durch nichts substituierbaren individuellen
Kerns zu versammeln«.
231
Schelling 1804, 69 / SW VI, 61.

208
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele

auszudrücken. Der Mangel an Persönlichkeit oder der defiziente Mo-


dus ist jedoch weit üblicher. 232 Ohne Individualität gibt es zwar auch
keine Persönlichkeit, aber dies heißt nicht, dass die Individualität
selbst bereits Persönlichkeit ist. Persönlichkeit liegt in einem be-
stimmten Verhältnis zu dem, was unsere Individualität ausmacht. 233
Wir sind unserer Individualität gegenüber deshalb frei, weil es zwei
mögliche Verhaltensweisen zu derselben gibt: Die eine wäre als Per-
sönlichkeit, die andere als Mangel an Persönlichkeit zu bezeichnen.
Die Individualität ist nämlich nicht bloß eine Mitgabe, sondern auch
und vor allem eine Aufgabe. Sie soll nicht bloß hingenommen, son-
dern umgewandelt werden. Die Individualität soll bloß Grund sein,
kann aber danach streben, selbst das Existierende zu sein oder sich für
sich selbst und um ihrer selbst willen nach Anerkennung als selbst
etwas Reelles bemühen.
Es ist noch daran zu erinnern, dass dasjenige, was wir bisher über
den Abfall erörtert haben, uns noch keineswegs den vollständigen
Begriff desselben liefert. Diesen erhalten wir erst, indem wir zum
Gebiet der praktischen Philosophie übergehen. Es ist zu vermuten,
dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Unvollständigkeit
des Begriffs des Abfalls, so wie er im zweiten Abschnitt entwickelt
wurde, und der Unvollständigkeit der Idee Gottes, der bis hierher
nur insofern betrachtet wurde, als er als Grund der Realität der end-
lichen Dinge auftritt. Die Vervollständigung beider Begriffe ist Ge-
genstand des nächsten Kapitels.

* * *

Wir können die Vorzüge des Begriffs des Abfalls wie folgt zusam-
menfassen: Erstens verführt er den unaufmerksameren Leser dazu,
in ihn die Sündenfallslehre hineinzulesen und damit eine Überein-
stimmung zwischen Schellings Lehre und der christlichen Lehre an-
zunehmen. Die Rezeption hat gezeigt, dass Schelling in dieser Hin-
sicht nicht ganz ohne Erfolg geblieben ist. Zweitens kann der Begriff
auch leicht als eine bloße Verlegenheitslösung aufgefasst werden, so-
dass es sich kaum lohnt, sich näher mit ihm zu befassen. Auch auf
diese Weise gelingt es, solche Leser, für welche Schellings Lehre nicht

232
Es scheint mir, dass dieser Umstand in den Untersuchungen zum Thema nicht
ausreichend beachtet wurde. Vgl. Shibuya 2005; Florig 2010a.
233
Vgl. Buchheim 2004, 23–27.

209
3. Kapitel. Absolutes und Abfall

bestimmt ist, von dem ›brennenden Stoff‹ fernzuhalten. Drittens ist


der Begriff jedoch als eigentlicher Gegenbegriff zum Begriff eines
Sündenfalls gedacht. Damit ist auch gesagt, dass eine Erklärung des
Bösen in ihm wenigstens impliziert ist. Diese Erklärung geht aller-
dings, viertens, nicht von der Annahme der Realität des Bösen aus,
in welchem Fall man Gott zum Urheber des Bösen machen würde. Er
bezeichnet somit die Aufgabe, das Böse zu erklären, ohne ihm eine
ontologische Dignität zuzuschreiben. Schließlich erlaubt der Begriff
es, im Zusammenhang mit dem Begriff der Potenz, unterschiedliche
Individuationsprinzipien zu denken, sodass sich mit jedem höheren
Grad der Potenz auch eine ausgeprägtere Form der Individualität
zeigt. Insofern das Reale als Drittheit eine Beweglichkeit der drei es
ausmachenden Momente erlaubt, erhält das Absolute durch das Reale
eine Natur oder eine Materie, die es zu einem Werkzeug auch seiner
eigenen Manifestation umwandeln oder umfunktionieren kann.

210
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

In der »Vorrede« zu seinen Philosophischen Schriften gibt Schelling


als die »Hauptpunkte«, welche in den dort zum ersten Mal gedruckt
erscheinenden Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegen-
stände »zur Sprache kommen«, »Freyheit des Willens, Gut und Bös,
Persönlichkeit u. s. w.« an. 1 In der Tat dürfte die Freiheitsschrift das
Interesse, das man ihr seit längerem, oft zu Ungunsten anderer
Schriften, entgegengebracht hat, außer der Autorität Heideggers, ins-
besondere der ausführlichen Behandlung dieser ›Hauptpunkte‹ zu
verdanken haben, in welcher man einen bedeutenden Fortschritt im
Vergleich zu früheren Darstellungen hat sehen wollen. Weniger Be-
achtung hat jedoch Schellings Erklärung gefunden, dass er sich über
die genannten Hauptpunkte ebenfalls bereits in der Schrift Philo-
sophie und Religion erklärt hatte. Zweimal erwähnt er in dieser
»Vorrede« beide Schriften in einem Atemzug, während er in der Ab-
handlung selbst Philosophie und Religion abermals zu einer den Phi-
losophischen Untersuchungen »verwandten Schrift« erklärt. 2 Es ist
kaum zu viel gesagt, dass man diese Erklärung fast allgemein für der-
art offenkundig unzutreffend und bloß durch apologetische Gründe
motiviert angesehen hat, dass man es kaum für nötig gehalten hat,
ihre Falschheit auch noch ausdrücklich nachzuweisen, geschweige
denn, dass man, umgekehrt, versucht gewesen wäre, ihr Glauben zu
schenken und zu untersuchen, inwiefern jene ›Hauptpunkte‹ in Phi-
losophie und Religion bereits zur Sprache gekommen wären. Es ist
nämlich offensichtlich, dass die Freiheit, wenn Schelling sie dort auch
in einer Überschrift nennt, doch nur am Rande erörtert wird, dass
Gut und Böse nur derart beiläufig Erwähnung finden, dass es nach
einem fast allgemeinen Urteil in dem in jener Schrift skizzierten Sys-

1 Schelling 1809a, IX / SW VII, 334.


2
Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.

211
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

tem für das Böse überhaupt keinen Platz gibt, um von der Persönlich-
keit ganz zu schweigen, die sogar kein einziges Mal auch nur erwähnt
wird. Die Erklärung scheint somit nur dadurch motiviert, dass Schel-
ling den Neuansatz, den er mit der Freiheitsschrift gemacht hätte, für
seine Leser, vielleicht sogar für sich selbst, hat verschleiern wollen,
um eine Kontinuität vorzutäuschen, für welche es in der Sache keinen
Grund gibt. Dennoch ist es befremdlich, dass es für Freiheit, Gut und
Böse und Persönlichkeit in dem System, von welchem Philosophie
und Religion die ideelle Seite wenigstens darzustellen anfangen
möchte, keinen Ort geben würde, da die Schrift doch in erster Linie
einen Einwand Eschenmayers zu widerlegen beabsichtigt, wonach das
schellingsche System der Philosophie ›die Tugend ausschließe‹. Da
die Rede von Tugend ohne Freiheit, ohne einen Unterschied von Gut
und Böse und ohne Persönlichkeit oder Zuschreibbarkeit von Hand-
lungen gegenstandslos scheint, ist kaum zu ersehen, wie Schelling
jenen Einwand zu widerlegen vermöchte, wenn er nicht die genann-
ten Hauptpunkte zur Sprache brächte.
Im dritten und vierten Abschnitt von Philosophie und Religion
führt Schelling die Darstellung seines Systems endlich »bis zu dem-
jenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie)« fort, das in frühe-
ren Darstellungen noch nicht beschritten wurde. 3 Obwohl er verspro-
chen hatte, im zweiten Abschnitt den »Schleyer« von der Frage nach
der Endlichkeit »ganz hinwegzuheben«, so ist die vollständige Lö-
sung dieser Frage doch erst auf dem Gebiet der praktischen Philoso-
phie zu suchen. 4 Dementsprechend erhält auch der Begriff des Ab-
falls, den er zur Lösung der Frage nach der Endlichkeit eingeführt

3 Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.


4 Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Schelling verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf
die Ferneren Darstellungen: »[A]uch die neueren Darstellungen in der Zeitschrift
[sind] noch nicht bis zu demjenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie), fort-
geführt worden […], auf welchem allein die Auflösung vollständig gegeben werden
kann« (Schelling 1804, 20 / SW VI, 29). Allerdings enthalten diese die bis dahin ein-
zige veröffentlichte Darstellung eines Umrisses der ideellen bzw. praktischen Philoso-
phie (vgl. Schelling 1803c, 42–50 / SW IV, 418–423), ohne dass es jedoch Schellings
Absicht war, die Ferneren Darstellungen zum Gebiet der ideellen Philosophie fort-
zuführen. Dies geht zum einen aus der Bezeichnung der zweiten Hälfte dieser Ab-
handlungen als deren ›anderer Theil‹ hervor, mit welchem die Schrift also vollendet
war. Zum anderen kündigt Schelling noch in dieser zweiten Hälfte eine im nächsten
Heft seiner Zeitschrift erscheinende Abhandlung an (vgl. Schelling 1803c, 101, 102 /
SW IV, 457, 458); die ausführliche Darstellung der ideellen Reihe war dort also nicht
vorgesehen.

212
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

hatte und dem bereits innerhalb der Naturphilosophie besondere Be-


deutung zukam, ebenfalls erst innerhalb der praktischen Philosophie
seinen vollständigen Sinn. 5 Die Ausführungen im zweiten Abschnitt
lieferten dem Leser somit erst einen halbierten Begriff des Abfalls.
Obwohl nach Schellings ausdrücklicher Erklärung erst im dritten
und vierten Abschnitt der im Vergleich zu früheren Schriften sub-
stantiell neue Beitrag von Philosophie und Religion zu suchen ist,
haben gerade diese seltsamerweise bislang kaum die Beachtung ge-
funden, die sie bereits aus diesem Grund verdienten. Dies dürfte,
wie Schelling ebenfalls erklärt, insbesondere der Art der Darstellung
geschuldet sein. 6 In der Tat macht diese im dritten und vierten Ab-
schnitt einen womöglich noch undurchsichtigeren und zusammen-
hangloseren Eindruck, wie von auseinander gerissenen Teilen, als in
den vorangegangenen. Mehr noch als sonst verlangt Schelling hier
vom Leser, dass er Verstreutes zusammenbringt und zusammendenkt
und selbst die Folgerungen aus seinen oft höchst summarischen An-
deutungen zieht, wenn er daran interessiert ist, Schellings Denken
auf die Spur zu kommen. Aus diesem Grund werden wir in einem
ersten Abschnitt erneut auf das Problem der Darstellung zurück-
zukommen haben und einige Beobachtungen über die Weise der Dar-
stellung und insbesondere über den Aufbau des dritten und vierten
Abschnitts anstellen, die bei den nachfolgenden Ausführungen
durchgängig zu beachten sind.
Als passender Einstieg in Schellings Darstellung des ideellen Teils
seines Systems dient eine Darlegung von Eschenmayers Einwand, der
sich als durchaus mehrdeutiger und vielschichtiger erweisen wird, als
er auf den ersten Blick scheinen dürfte. Obwohl der Einwand alles in
allem nicht sonderlich originell ist, da die Zeitgenossen in Schellings
Philosophie schon seit längerem für Moral und Religion gefährliche
Konsequenzen vermuteten, so verdient er doch auch insofern Beach-
tung, als er so wenig unplausibel scheint, dass auch zeitgenössische
Kommentatoren ihn noch zu unterschreiben scheinen. Die Darstel-
lung von Schellings eigener Ansicht wird sich dann insbesondere auf
das Problem der Freiheit und vor allem auf den Begriff des Bösen
konzentrieren. Obwohl das Problem des Bösen allem Anschein nach

5 Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49 mit Schelling 1804, 20, 64, 73 / SW VI,
29, 57, 63.
6 Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197; Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334,

410.

213
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

in Philosophie und Religion überhaupt nicht verhandelt wird, finden


sich doch vereinzelte Sätze und Bemerkungen dazu, die, zusammen-
gelesen und weitergedacht, bereits einen profilierten Begriff des
Bösen hervortreten lassen, der, auch wenn er nicht in gleicher Aus-
führlichkeit entfaltet wird, mit dem Begriff desselben in der Frei-
heitsschrift durchaus verträglich ist. Dabei hat es sich als hilfreich
erwiesen, Schellings deutlichere Äußerungen in den Würzburger
Vorlesungen mit heranzuziehen, um die Auffassung, wonach hier
am deutlichsten zu sehen wäre, wie sich aus Schellings System der
Philosophie folgerichtig eine Leugnung des Bösen ergibt, entgegen-
zutreten. Dazu greifen wir auch auf den kantischen Begriff der nega-
tiven Größe zurück, der gerade hier und weiterhin in der Freiheits-
schrift für Schelling von größter Bedeutung war.
Schelling hat mehrmals erklärt, dass »eine Sittenlehre in [seinem,
R. S.] Sinne noch nicht existirt«. 7 Damit ist auch gesagt, dass seine
Äußerungen zur praktischen Philosophie nicht an geläufigen Vorstel-
lungen derselben gemessen werden dürfen, wonach sie zwangsläufig
als defizient erscheinen muss. Von dort ist es nicht weit, ihm daraus,
wie auch Eschenmayer es zu tun scheint, einen Vorwurf zu machen.
Wie sich nämlich bereits aus der Überschrift des dritten Abschnitts
ergibt, zielt die ›Sittenlehre‹, wie sie Schelling vorschwebt, auf das
Problem der Geschichtlichkeit oder auf die Frage nach ›Anfang und
Endabsicht der Geschichte‹ ab. Die Aussagen zur Freiheit, Sittlichkeit,
Seligkeit und Unsterblichkeit betreffen somit Theoriestücke unterge-
ordneter Bedeutung, die im Begriff der Geschichte zusammenlaufen
und in demselben ihren Zusammenhang finden. Aus diesem Grund
zielt auch dieses Kapitel auf die Konstruktion der Perioden der Ge-
schichte ab, deren unterschiedlichen Versionen wir eine ausführliche
Auslegung widmen werden. Wie leicht festzustellen ist, weisen diese
Versionen nämlich untereinander signifikante Unterschiede auf,
ohne dass diese bislang für die Interpretation fruchtbar gemacht wor-
den sind. In dem abschließenden Abschnitt werde ich dann zu zeigen
versuchen, wie erst die vorangegangenen Erörterungen den Begriff
sowohl des Abfalls als auch des Absoluten zu vervollständigen ver-
mögen, der so lange unvollständig bleibt, als die Darstellung nicht bis
zum Gebiet der praktischen Philosophie fortgeführt wird. Dabei
werden wir immer wieder Gelegenheit haben, auch auf die Philoso-
phischen Untersuchungen hinzuweisen, insbesondere auf die dort

7
Schelling 1803a, 146 / SW V, 277.

214
Das Problem der Darstellung

durchgeführte Konstruktion der Perioden der Geschichte, die in den


bisherigen Interpretationen der Freiheitsschrift befremdlicherweise
kaum einige Aufmerksamkeit gefunden hat, obwohl nach Schellings
ausdrücklicher Erklärung gerade sie auf die »höchste Frage« und den
»höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« hintreibt. 8

1. Das Problem der Darstellung

Der Anlass für die Weiterführung der Darstellung des Systems auf
dem Gebiet der praktischen Philosophie scheint zunächst ein pole-
mischer. Im Zentrum des dritten Abschnitts steht Eschenmayers kri-
tische Bemerkung, dass Schelling »den intelligiblen Pol oder die
Gemeinschaft vernünftiger Wesen […] in keiner seiner Schriften
deutlich und ausführlich berührt, und dadurch die Tugend als eine
der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 9 Der Einwand
enthält zwei Behauptungen. Die erste gibt sich als eine einfache Be-
obachtung, nämlich dass Schelling »in keiner seiner Schriften deut-
lich und ausführlich« von der ideellen Philosophie oder dem »intelli-
giblen Pol« gehandelt habe. Es scheint also nicht die Rede davon, dass
Schelling nirgends und überhaupt nicht Themen der praktischen Phi-
losophie ›berührt‹ habe. In der Tat zeigt sich einer genaueren Betrach-
tung, dass Schelling immer wieder auf solche Themen zu sprechen
kommt, wenn auch in der Tat nicht mit aller vielleicht wünschens-
werten Deutlichkeit und Ausführlichkeit. So hatte er sich 1802 in
einer Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur
Philosophie überhaupt besonders gegen die praktischen Konsequen-
zen der fichteschen Philosophie gewandt und einige wichtige Andeu-
tungen über die sich aus der Naturphilosophie ergebende Ansicht der
Sittlichkeit und der Religion hinzugefügt. 10 Auch in den gleichzeitig
gehaltenen und ein Jahr später veröffentlichten Vorlesungen über die
Methode des academischen Studium nehmen ethische Fragen einen
großen Raum ein. 11 Besonders am Schluss des gleichzeitigen Rein-
hold-Gesprächs treten die ethische Fragen, die den Hintergrund des

8 Schelling 1809a, 480, 496 / SW VII, 394, 406.


9 Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86). Schelling 1804, 59 / SW VI, 54, zitiert die Stelle und
unterstreicht dabei zusätzlich »und dadurch« und »Vernunft ausgeschlossen«.
10
Vgl. Schelling 1802f, 3 f., 14–25 / SW V, 108, 116–124.
11 So z. B. Schelling 1803a, 18–26, 104–118, 145–151 / SW V, 218–222, 258–265,

276–279.

215
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Gesprächs bilden, deutlicher hervor und werfen ihr Licht auf das vo-
rangegangene Gespräch zurück. Dort gibt Schelling nämlich zu ver-
stehen, dass insbesondere die Tatsache, dass Reinhold, wie es ein kurz
zuvor von ihm veröffentlichter Aufsatz belegte, weiterhin an seiner
»heillose[n] Theorie« der Willkür festhielt und es nicht für nötig
hielt, auf die von Schelling dagegen bereits 1797 vorgebrachten kriti-
schen Bedenken einzugehen, ihn dazu bewegt hat, dieses Gespräch zu
verfassen und zu veröffentlichen. 12 Zu der ebenfalls 1802 veröffent-
lichten Rezension einiger Werke von Joseph Rückert und Christian
Weiß, deren Umfang kaum durch den philosophischen Gehalt ihrer
Schriften gerechtfertigt ist, scheint Schelling in erster Linie ihr Pro-
gramm einer ›durchaus praktischen Philosophie‹ bewegt zu haben.
Wo in den genannten Schriften Fragen der praktischen Philosophie
nur in polemischem Zusammenhang und punktuell behandelt wer-
den, da konstruieren die Ferneren Darstellungen parallel zur reellen
Reihe den Umriss der ideellen Reihe, deren zweite Potenz die des
Handelns ist. 13 Wenn die ideelle Reihe dort auch nicht ausgeführt
wird, so war daraus wenigstens ersichtlich, dass sie wesentlich zum
System der Philosophie gehört. Im Bruno schließlich deutet Schelling
an, dass die dort entwickelte Naturphilosophie auch den »Antrieb
eines seligen und göttlichen Lebens« enthalte. 14
Die Behauptung, wonach Schelling bis dahin ›in keiner seiner
Schriften‹ die praktische Philosophie auch nur ›berührt‹ hätte, erweist
sich damit als nachweislich falsch. Allerdings scheint Eschenmayer
sich auch nicht auf eine solche starke These festlegen zu wollen, da
er seine Behauptung sogleich durch die Bemerkung präzisiert und
abschwächt, dass Schelling diese Fragen nur nicht ›deutlich und aus-
führlich berührt‹ hat. Er bemängelt somit nur die Art und Weise, wie
Schelling diese Fragen bislang behandelt hat. 15 Dieser Version des
Einwands ist nun vollends zuzustimmen. Schelling selbst scheint sie

12 Schelling 1802d, 87–90 / SW V, 75–77.


13
Vgl. Schelling 1803c, 42–50 / SW IV, 418–423.
14 Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234. Dies nimmt er in Philosophie und Religion dort

wieder auf, wo er bemerkt, dass auf die »Lehre des Absoluten« und auf die von der
»ewigen Geburt der Dinge« (nur diese waren im Bruno behandelt worden) »die ganze
Ethik als die Anweisung zu einem seligen Leben […] erst gegründet« ist (Schelling
1804, 3 / SW VI, 17; vgl. Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 38 f.).
15 Schelling selbst macht darauf aufmerksam: Weil er »die sittliche Gemeinschaft ver-

nünftiger Wesen in seinen Schriften nicht ausführlich und deutlich berührt, (also nur
nicht auf diese Weise berührt) hat, hat er die Idee der Tugend positiv ausgeschlossen«
(Schelling 1804, 60 / SW VI, 54).

216
Das Problem der Darstellung

zu unterschreiben, wenn er bei einer späteren Gelegenheit bemerkt,


dass er, außer in Philosophie und Religion, »seinen Begriff des ideel-
len Theils der Philosophie« nirgends »mit völliger Bestimmtheit«
vorgelegt und sich stattdessen »bloss auf naturphilosophische Unter-
suchungen beschränkt hat«. 16 Ein ›System der Sittlichkeit‹ als Gegen-
stück des Systems der Naturphilosophie oder auch nur ein ›erster
Entwurf‹ dazu findet sich in den genannten Schriften kaum. 17 In den-
selben begnügt er sich mit Winken und Andeutungen oder auch mit
polemischen Behandlungen des Themas, indem er die Unhaltbarkeit
anderer Lösungsvorschläge herausstellt, ohne seine eigenen vorzu-
legen. Daraus erhellt allerdings schon so viel, dass die Naturphiloso-
phie für Fragen der praktischen oder ideellen Philosophie durchaus
ein kritisches Potential bereitstellt, da sie es ermöglicht, bestimmte
Lösungsvorschläge als verfehlt zurückzuweisen, ohne sich dazu be-
reits auf eine eigene inhaltliche Entwicklung der ideellen Philosophie
stützen zu müssen. Auch Philosophie und Religion scheint keine ge-
schlossene Darstellung der ideellen Reihe zu bieten. Auch hier sind
die Ausführungen zur praktischen Philosophie durch einen pole-
mischen Anlass motiviert und weder als deutlich noch als ausführlich
anzusehen. 18 Gerade die Undeutlichkeit und die sehr gewagten Ellip-
sen und Abkürzungen, die nur den skelettierten Umriss eines Gedan-
kengangs bieten, dürften dafür verantwortlich sein, dass man Eschen-
mayers kritische Bemerkung in einem stärkeren Sinn aufgefasst hat,
als er selbst sie gemeint hatte. Danach wäre die Darstellungsweise
nämlich als ein Symptom dafür anzusehen, dass das System die prak-
tische Philosophie »ausgeschlossen« habe und Fragen der praktischen
Philosophie in demselben überhaupt »keinen wirklichen Ort ha-
ben«. 19 Allerdings hat man es versäumt, diese Einschätzung durch

16 Schelling 1809a, IX / SW VII, 334; Herv. v. Verf.


17
Vgl. auch Vetö 1998, 251–255. – In einem Brief an Eschenmayer vom 22. Dezem-
ber 1804 bemerkt Schelling: »Wenn ich mir einzelne Theile der Philos. zur Behand-
lung auslese: so ist dies kein Ausschließen der andern; ein solches müßte in den Prin-
zipien liegen« (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804,
Fuhrmans, Briefe III, 157). Diese Bemerkung scheint Überlegungen zu beschließen,
die Schelling in der ersten – leider verlorenen – Hälfte des Briefes über Philosophie
und Religion und Eschenmayers Kritik angestellt hatte; in der erhaltenen Hälfte geht
er näher auf eine Rezension von Eschenmayers Schrift ein.
18 Wenn die Freiheitsschrift das Problem der menschlichen Freiheit auch in aller Aus-

führlichkeit behandelt, so kann man dennoch bezweifeln, ob sie dadurch auch in aller
Hinsicht ›deutlich‹ ist oder es auch nur zu sein beabsichtigt.
19
So beispielsweise Florig 2010a, 12, 43 f. Auch Horst Fuhrmans meint, dass das

217
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

eine eingehende Interpretation des dritten und vierten Abschnitts zu


untermauern. Dadurch entsteht zudem leicht der Eindruck, dass die
Philosophischen Untersuchungen, weil Schelling in denselben die
ideelle Reihe angeblich zum ersten Male ausgearbeitet hat, allein da-
durch bereits einer Absage an seine frühere Position gleichkommen.
Die Voraussetzung für eine tragfähige Einschätzung, inwiefern der in
der Freiheitsschrift ›mit völliger Bestimmtheit vorgelegte‹ ›Begriff
des ideellen Teils der Philosophie‹ mit Schellings Begriff desselben in
früheren Schriften verträglich sei oder ihn vielmehr ausschließe und
damit einer Verabschiedung seiner früheren Position gleichkomme,
wäre erst dann geschaffen, wenn die zum System der Philosophie
gehörige ideelle Philosophie rekonstruiert ist.
Die Darstellung der praktischen Philosophie in Philosophie und
Religion ist weder deutlich noch ausführlich. So trifft auf den dritten
und vierten Abschnitt noch am meisten zu, wovor Schelling den Le-
ser im »Vorbericht« gewarnt hatte, nämlich dass in dieser Schrift nur
einzelne, aus »einer höheren organischen Verbindung« gerissene Tei-
le zu finden sind und es nur einem »aufmerksame[n] Leser« möglich
sein wird, daraus die anvisierte praktische Philosophie zu erschlie-
ßen. 20 Insbesondere die praktische Philosophie scheint in einem aus-
gezeichneten Sinne solche aufmerksamen Leser zu verlangen, wes-
halb Schelling gerade hier die Schwierigkeiten, die die Darstellung
dem Leser bereitet, zu steigern scheint. Es dürfte deshalb vielleicht
hilfreich sein, gleich anfangs auf einige Eigenheiten der Darstellung
in diesen Abschnitten hinzuweisen. Die Überschrift des dritten Ab-
schnitts lautet Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit: Endabsicht und
Anfang der Geschichte. 21 Während von ›Freyheit, Sittlichkeit und
Seligkeit‹ wie auch vom ›Anfang der Geschichte‹ in der Tat in diesem
Abschnitt die Rede ist, wird die Frage nach der ›Endabsicht der Ge-
schichte‹ hingegen lediglich kurz gestreift, im Wesentlichen erst im

System Schellings »überhaupt keinen Raum habe für eine eigentliche Ethik« (Fuhr-
mans 1954, 168). Auf welche Vorstellung von ›Ethik‹ sich solche ›Beobachtungen‹
stützen, lässt er unerörtert. Schelling gibt jedoch mehrmals zu erkennen, dass eine
Ethik oder Sittenlehre, wie er sie versteht, »noch nicht existirt« und somit kaum etwas
mit den geläufigen Vorstellungen von ›Ethik‹ gemeinsam haben dürfte (Schelling
1803a, 146 / SW V, 277; vgl. Schelling 1802f, 15, 22 / SW V, 116, 122; Schelling 1804,
60 f. / SW VI, 55; SW VI, 556, 559).
20
Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. auch Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334,
410.
21
Schelling 1804, 53 / SW VI, 50.

218
Das Problem der Darstellung

nächsten Abschnitt wirklich entwickelt. 22 Auch der vierte Abschnitt


behandelt nur in seiner ersten Hälfte das durch die Überschrift ange-
gebene Thema der Unsterblichkeit der Seele, während Schelling in
der zweiten Hälfte das durch die Überschrift des dritten Abschnitts
versprochene Thema der ›Endabsicht der Geschichte‹ erörtert. Die
Frage nach ›Endabsicht und Anfang der Geschichte‹ scheint demnach
das die beiden Abschnitte überspannende und sie verklammernde
Thema zu bilden. Die Erörterung dieser Frage verlangt jedoch, dass
sie in den beiden Themenfeldern von ›Freyheit, Sittlichkeit und Se-
ligkeit‹ einerseits und ›Unsterblichkeit der Seele‹ andererseits aus-
einandergelegt wird.
Auch bei genauerer Betrachtung des Textes kann man feststellen,
dass die Behandlung der angesprochenen Themen äußerst fragmen-
tarisch ist. Der Text erweckt, wie im »Vorbericht« versprochen, den
Eindruck einer Kollage von Fragmenten, die oft ohne allmähliche
Übergänge nebeneinander gestellt sind. Am Anfang des dritten Ab-
schnitts referiert Schelling kurz einige kritische Äußerungen Eschen-
mayers, 23 macht anschließend einige Andeutungen in Bezug auf seine
eigene Lehre von der Freiheit, die allerdings weitgehend nur Erörte-
rungen aus dem zweiten Abschnitt aufgreifen und lediglich ein wenig
anders gewendet darstellen; 24 dann geht er wieder umständlich auf
den Haupteinwand Eschenmayers ein und fertigt bei dieser Gelegen-
heit auch einige andere namenlos bleibende Kritiker ab, 25 um schließ-
lich, nach einige Bemerkungen zum Thema Gott, 26 zur Frage der Ge-
schichte überzuführen. 27 Der vierte Abschnitt fängt mit einem Satz
zur ›Geschichte des Universums‹ an, der an einen früheren Satz an-
knüpft, ohne dass Schelling in den nächsten Absätzen auf ihn ein-
geht. 28 Stattdessen behandelt er die Frage nach der Unsterblichkeit
der Seele, ein Thema, das zunächst lediglich durch einige höchst bei-
läufige Bemerkungen Eschenmayers motiviert scheint. 29 Erst zum
Schluss des Abschnitts und damit des Hauptteils der ganzen Schrift

22 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.


23 Vgl. Schelling 1804, 53–55 / SW VI, 50 f. (1. bis 4. Absatz).
24 Vgl. Schelling 1804, 55–59 / SW VI, 51–54 (5. bis 13. Absatz).

25 Vgl. Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54 f. (14. bis 17. Absatz).

26 Vgl. Schelling 1804, 62 f. / SW VI, 56 f. (18. bis 20. Absatz).

27 Vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59 (21. bis 26. Absatz).

28
Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60 mit Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.
29 Vgl. Schelling 1804, 68–73 / SW VI, 60–63 (2. bis 11. Absatz). Vgl. Eschenmayer

1803, 81 (§ 80).

219
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

kommt Schelling dann wieder auf das anfangs angedeutete Thema


der ›Endabsicht der Geschichte‹ zu sprechen. 30 Es dürfte denn auch
besonders, wenn auch nicht ausschließlich, der »Begriff des ideellen
Teils der Philosophie« sein, der in Philosophie und Religion »durch
Schuld der Darstellung undeutlich geblieben ist«. 31 Allerdings äußert
Schelling die Vermutung, dass weniger »die Darstellungsart« als viel-
mehr der »Inhalt selbst« oder der »Stoff« die Missachtung gerade
dieses Teils der Schrift von 1804 motiviert habe. 32 Jedenfalls bleibt es
dem Leser selbst überlassen, aus diesen fragmentarischen Andeutun-
gen eine Einsicht in den Zusammenhang zu gewinnen, aus welchen
jene gerissen wurden. Da Schelling seine Ansicht besonders in der
polemischen Auseinandersetzung mit Eschenmayer entwickelt, bietet
es sich an, seine Position zunächst im Ausgang von dieser Polemik zu
entwickeln. Wenigstens dürfte dadurch vorläufig schon deutlicher
werden, was Schelling jedenfalls nicht will.

2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

Im dritten Abschnitt behandelt Schelling Eschenmayers Einwand, das


schellingsche System schließe die Tugend aus. Besonders diese »Aus-
schließung der Tugend, die Sie mir schuldgeben«, hat Schelling »et-
was härter nehmen müssen, wie ich sie härter für mich empfunden
habe«. 33 In diesem Einwand dürfte somit ein Motiv für das Verfassen
der Schrift zu suchen sein. Dieser nach Schellings Empfinden schwer-
wiegendste Einwand Eschenmayers wird allerdings erst in der Mitte
des dritten Abschnitts behandelt. Dies gibt uns die Gelegenheit, die
Beobachtungen zum Aufbau des dritten Abschnitts durch eine wei-
tere wichtige Beobachtung zu ergänzen. In der ersten Hälfte des Ab-
schnitts bringt Schelling nämlich im Vergleich zum ersten und zwei-
ten Abschnitt kaum etwas Neues. Vielmehr folgt die erste Hälfte
einer aufsteigenden Bewegung, die in der Bestimmung der Religion
als »Erkenntniss des schlechthin-Idealen« und damit als »erste[r]
Grund der Sittlichkeit« gipfelt. 34 Mit dieser Bestimmung verbindet

30 Vgl. Schelling 1804, 73 f. / SW VI, 63 f. (12. bis 13. Absatz).


31 Schelling 1809a, IX / SW VII, 334.
32
Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.
33 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71 f.
34
Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.

220
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

Schelling zwei Folgerungen oder Korollarien: Erstens weist er eine an


die kantische erinnernde Konzeption der Ethik zurück, die den Kern
der Sittlichkeit im Gesetz und im Gebot sieht und die auch Eschen-
mayer als einen »Missgriff« erachtete. 35 Zweitens schließt er daraus,
dass es »Ein und derselbe Geist ist, der die Wissenschaft und das Le-
ben unterrichtet«. 36 Sowohl in der Wissenschaft wie auch im Leben
geht es darum, »die endliche Freyheit zu opfern, um die unendliche
zu erlangen und der Sinnenwelt zu sterben, um in der geistigen ein-
heimisch zu seyn«. 37 Aus dieser Lehre folgt, dass eine Lehre, die Phi-
losophie zu sein beansprucht, aber Sittlichkeit ausschließt, ein wider-
sprüchliches Gebilde oder ein »Unding« wäre. 38 Eschenmayer hatte
jedoch durchaus behauptet, dass es für die Erhellung der Existenz
eines anderen ›Geistes‹, nämlich des Glaubens, bedarf, da die Philoso-
phie oder die Spekulation sich nur mit dem Erkennen beschäftigt. In
der Wiederholung früherer Behauptungen gewinnt Schelling also die
Mittel, um den Einwand Eschenmayers zurückzuweisen. Erst nach-
dem er diese Mittel gewonnen bzw. sie nochmals herausgestellt hat,
geht er in der zweiten Hälfte des Abschnitts direkt auf diesen Ein-
wand ein. Der Aufbau der zweiten Hälfte des Abschnitts ist noch am
schwersten durchschaubar. Nachdem er Eschenmayers Einwand zu-
rückgewiesen hat, verschärft Schelling den polemischen Ton noch,
indem er sich nun gegen ›Andere‹ richtet. Im Laufe dieser Auseinan-
dersetzung leitet er zu einer mehr positiven Ansicht der Sittlichkeit
über. Erst damit gelangt er endlich zu der durch die Überschrift ange-
kündigten Thematik. Möglichst knapp zeigt er, welche Konzeption
der Tugend sein System impliziert, um baldigst zum Thema der Ge-
schichte überzugehen und eine nebensächliche Detailfrage umständ-
lichst zu erörtern. Da Schelling später erklärt, dass es die Absicht des
vierten Abschnitts sei, zu zeigen, »wie die Gegenwart mit der Zu-
kunft verknüpft wird«, so können wir annehmen, dass der Schluss
des dritten Abschnitts das Verhältnis von Gegenwart und Vergangen-
heit thematisiert. 39

35 Vgl. Eschenmayer 1803, 35 (§ 45), 43 (§ 51).


36 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.
37 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.

38 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

39 Schelling 1804, 70 / SW VI, 61. Vgl. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61: »[D]er noth-

wendige Begriff, durch welchen allein die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird,
ist der der Schuld oder der Reinheit von der Schuld«. Aus der ersten Hälfte des Satzes
geht hervor, dass durch den Begriff der Strafe die Gegenwart mit der Vergangenheit

221
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Im Rahmen seiner Erwiderung von Eschenmayers Einwand wirft


Schelling die Frage auf, ob »auch die Idee der Tugend nach ihm in die
Sphäre der Nichtphilosophie [gehört]?« 40 Diese Möglichkeit erwähnt
er dort, wo er Eschenmayer auf Widersprüche aufmerksam machen
will. Dieser hatte nämlich einerseits behauptet, dass Schelling »die
Tugend als eine der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen«
hat. 41 Die Tatsache, dass Schelling die Tugend und überhaupt alle
Fragen, die sich auf die Freiheit des Willens und der Unsterblichkeit
der Seele beziehen, ›in keiner seiner Schriften deutlich und ausführ-
lich berührt‹ hat, impliziert nach Eschenmayer, dass nach Schelling
die Tugend keine Vernunftidee ist und dementsprechend keinen
wirklichen Ort innerhalb der Philosophie haben kann. Insofern ist
es, nach Eschenmayers Einschätzung, Schelling selbst, der behauptet
oder wenigstens implizit zugesteht, dass die Tugend zur Nichtphi-
losophie gehört. Andererseits bemerkt er aber, dass »Fichte und
Schelling […] die höchsten Probleme der Philosophie auf eine Art
vorbereitet und eingeleitet, auch zum Theil selbst gelöst [haben], dass
uns für die gegenwärtige Epoche nichts zu wünschen übrig bleibt«. 42
Obwohl oder gerade weil Schelling ›die höchsten Probleme der Phi-
losophie‹ so ›gelöst‹ habe, dass uns ›nichts zu wünschen übrig bleibt‹,
hat er die Tugend aus der Philosophie ausgeschlossen. In diesen bei-
den Behauptungen sieht Schelling einen »Widerspruch«. 43 Dies ist
jedenfalls dann der Fall, wenn man annimmt, dass eine Philosophie,
die die Tugend ausschließt, ein ›Unding‹ ist. Diese Annahme scheint
Eschenmayer nicht zu unterschreiben, da er vielmehr auch selbst be-
hauptet, dass die Tugend zur Nichtphilosophie gehört. Diese Behaup-
tung scheint er, wenigstens nach seinem eigenen Urteil, mit Schelling
zu teilen.
In der Tat scheint Eschenmayer selbst eine ›Ausschließung der
Tugend‹ aus der Philosophie zu wollen, wenigstens müsste sie ihm

verknüpft wird (vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 / SW VI, 42, 47, 52, 61; s. u.). So
bezieht auch das ›Schicksal‹ sich in erster Linie auf die Vergangenheit, während die
›Vorsehung‹ auf die Zukunft geht. Daraus ist auch zu ersehen, weshalb Schelling hier
nur zwei Begriffe unterscheidet und entsprechend an der Geschichte nur »zwei
Hauptpartien« unterscheidet, während er sonst immer drei Perioden unterscheidet
(Schelling 1804, 64 / SW VI, 57).
40 Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54.

41
Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86).
42 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); von Schelling 1804, 59 / SW VI, 54, zitiert.

43
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

222
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

willkommen sein. Es ist allerdings nicht ohne weiteres klar, was


Echenmayer unter einer solchen ›Ausschließung‹ verstanden haben
will. Im Laufe seiner Ausführungen kommt er mehrmals auf solche
›Ausschließungen‹ zu sprechen. So heißt es von Kant, dass dieser die
Vernunft »vom Gebiete der Spekulation aus[schloss]«, während Fich-
te hingegen »das Ding an sich in der Erkenntnisssphäre auf[hob]«,
zugleich aber »die ideelle Seite« des »allgemeinen Systems«, »welche
unter die Idee der Freyheit fällt, davon ausgeschlossen« hat. 44 Nach
solchen Stellen scheinen die Gegenbegriffe zu ›ausschließen‹ ›er-
weitern‹ und ›aufheben‹ zu sein. Die ›Ausschließung der Tugend‹
scheint jedoch von anderer Art als die soeben genannten, da diese sich
insofern als willkürlich erweisen, als gezeigt werden kann, wie eine
Erweiterung des ›Gebiets‹ der Philosophie um das zunächst Aus-
geschlossene oder eine Aufhebung des letzteren in jenem sehr wohl
realisierbar ist. Die Integration der Tugend in die Philosophie hin-
gegen scheint nur insofern möglich, als das Gebiet der Philosophie
zunächst auf den Glauben oder die Nichtphilosophie hin überschrit-
ten wird. Da Eschenmayer behauptet, Schelling habe alle Gegensätze
aufgehoben, entsteht zunächst der Eindruck, als ob jetzt nichts mehr
aus der Vernunft ausgeschlossen und alles nun in ihr aufgehoben
oder aufgenommen ist. Die jetzt vollständige Besitznahme des der
Philosophie zustehenden Gebiets soll sie aber auf eine Grenze auf-
merksam machen, die sie nicht mehr zu überschreiten vermag, oder
auf ein Gebiet, das von ihr ausgeschlossen bleiben muss und das sie
nicht zu integrieren vermag. Dennoch meint Eschenmayer, dass zwar
nicht der Glaube, aber doch die Tugend als eine Idee in der Vernunft
›aufgehoben‹ oder ›aufgenommen‹ werden kann, allerdings unter der
Voraussetzung einer Überschreitung des Erkennens und einer Be-
wusstwerdung der Transzendenz. Diese Integration ist jedenfalls
nicht so zu leisten, dass man versuche, »Gott […] in die Erkenntniss-
sphäre zu ziehen«. 45 Wenigstens Gott ist unzweideutig von der Ver-
nunft und von der Erkenntnissphäre ausgeschlossen. 46

44 Eschenmayer 1803, 6 (§ 10), 8 (§ 12). Auch § 23 scheint von einer solchen ›Aus-
schließung‹ die Rede zu sein, wenn Eschenmayer bemerkt, dass die »Idee der Ewigkeit
[…] bisher blos ein ausschliessender Besitz der Religion [war]« und die »Spekulation
[…] vor ihr zurück[floh]«, während Schelling diese unrechtmäßige Ausschließung
aufhob, »indem er die Idee der Ewigkeit als ihre [sc. der Spekulation, R. S.] höchste
Potenz aufstellte« (Eschenmayer 1803, 16 f.).
45 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41).

46
Vgl. Eschenmayer 1803, 32 f. (§ 41), 34 (§ 43), 52 f. (§ 59), 75 (§ 76).

223
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Bei Eschenmayer finden sich sowohl Stellen, die für eine positive,
als auch solche, die für eine negative Antwort auf die Frage nach der
Möglichkeit einer Integration der Tugend in der Philosophie spre-
chen. Aus mehreren Stellen geht eindeutig hervor, dass die Tugend
für Eschenmayer zur Philosophie gehört und sogar den Gegenstand
einer eigenen philosophischen Disziplin (der Moralphilosophie) bil-
det. 47 Allerdings behauptet Eschenmayer auch mehrmals und ebenso
eindeutig, dass nur das Erkennen Gegenstand der Spekulation ist und
alles, was über es hinausgeht, nur dem Glauben zugänglich ist und
dadurch zur Nichtphilosophie gehört. Wenn er außerdem behauptet,
dass der Wille nicht aus dem Erkennen ableitbar ist, sondern nur
durch eine Überschreitung desselben einsichtig wird, dann scheint er
damit zuzugeben, dass der Wille und damit auch die Tugend nicht zur
Philosophie gehören. Dessen ungeachtet ordnet er den Willen mit
dem Erkennen zusammen dem ›Diesseits‹ zu und setzt beide dem
Glauben als zum ›Jenseits‹ gehörig entgegen. Der zugrundeliegende
Gedanke scheint folgender zu sein: Während das Erkennen sich aus-
schließlich innerhalb des ›Diesseits‹ bewegt und demnach ohne eine
Überschreitung des ›Diesseits‹ vollständig erschließbar und in einen
systematischen Zusammenhang zu bringen ist, so bewegt auch der
Wille sich zwar im ›Diesseits‹, enthält aber ein Element, das sich aus
diesem allein nicht einsehen lässt. Während der Glaube sich aus-
schließlich auf das ›Jenseits‹ bezieht und dadurch gänzlich »der Spe-
kulation entrückt« ist, 48 so geht im Willen zwar ein Element aus dem
›Jenseits‹ ein, das daran hindert, ihn bloß aus dem ›Diesseits‹ abzulei-
ten, durch seine Beziehung auf dieses dennoch eine philosophische
Durchdringung erlaubt. Anders als der Glaube ist der Wille nicht
gänzlich ›der Spekulation entrückt‹. Um bestimmte Dimensionen
des menschlichen Daseins wie z. B. den Willen zu erschließen, muss
man somit zwar aus dem Glauben entlehnte Elemente in Anspruch

47
So z. B. Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne,
was Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Univer-
sum als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegen-
stände der Nichtphilosophie solche seyn, welche weder für das Wollen noch Erkennen
erreichbar sind« (Herv. v. Verf.); und 24 (§ 30): »Die höchsten Systeme sind das Sys-
tem der Naturphilosophie und das System der Moralphilosophie. Das erste hängt in
der Idee der Nothwendigkeit, das andere in der Idee der Freyheit zusammen – aber
beyde sind verknüpft in dem System aller Systeme – in der Vernunft« (Herv. v. Verf).
Vgl. auch 62 (§ 69), 75–78 (§§ 76–79).
48
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).

224
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

nehmen, ohne dass sie dadurch eine philosophische Durchdringung


ganz ausschließen. Vielmehr hat letztere auf solche Spuren der
Transzendenz besonders Acht zu geben, wie sie sich beispielsweise
im Willen oder im tugendhaften Handeln manifestieren. Auf diese
Weise lässt sich die Tugend doch noch als eine Vernunftidee in die
Philosophie integrieren und als Gegenstand einer Teildisziplin be-
haupten. Die Eschenmayer dabei vorschwebende Konzeption der Phi-
losophie wäre wohl nicht unzutreffend als eine Form der ›Existenz-
erhellung‹ zu bezeichnen, die solche Bezüge aufzuklären sucht, die sie
vorfindet, nicht aber selbst hervorbringt. 49
Damit ist der Zusammenhang umrissen, der Eschenmayer zu
einer Bemerkung geführt haben mag, die Schelling als für dessen
ganzen Position charakteristisch am Anfang des dritten Abschnitts
zitiert. Dort heißt es:
»Es schien mir immer ein unauflösliches Problem zu seyn, sagt Eschen-
mayer, den Willen, der alle Spuren von einer Abkunft jenseits des Ab-
soluten in sich trägt, aus der absoluten Identität und noch mehr aus dem
absoluten Erkennen zu entwickeln«. Und ferner: »So wahr es ist, daß
alle Gegensätze der Erkenntnißsphäre in der absoluten Identität auf-
gehoben sind, so wenig möglich ist es, über den Hauptgegensatz des
Diesseits und Jenseits hinauszukommen«. 50
Das erste Zitat ist dem Teil von Eschenmayers Abhandlung entnom-
men, wo dieser noch auf seinen ›Haupteinwurf‹ hinarbeitet, wonach
es unmöglich ist, aus der absoluten Identität irgendeine Differenz ab-
zuleiten, und wo somit von der Sittlichkeit noch gar nicht die Rede
ist. Auf diesen ›Haupteinwurf‹ hatte Schelling, wie wir gesehen ha-
ben, bereits im zweiten Abschnitt geantwortet, indem er darauf hin-
weist, dass er einer »Vermischung zweyer ganz verschiedene[r] Fra-
gen« entspringt. 51 Die erste dieser zwei ›ganz verschiedenen Fragen‹
hatte Schelling im Ausgang von einem Satz Eschenmayers erörtert,
den er dadurch direkt auf jene Frage bezog. 52 Den jetzt zitierten Satz 53

49 So auch Florig 2008, 86. Vgl. dazu Jaspers 1955, 208–213.


50 Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50. Das erste Zitat findet sich Eschenmayer 1803,
51 f. (§ 58). Dort steht »und noch weniger« statt »und noch mehr«. Schelling lässt
den Schluß des Satzes: »da dies letztere [das absolute Erkennen, R. S.] nach unserer
Ansicht vielmehr als ein Modus des Willens erscheint« aus. Das zweite Zitat findet
sich Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).
51
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.
52 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31. Vgl. Eschenmayer 1803, 70 (§ 73).

53
Vgl. Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58).

225
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

scheint er vielmehr auf die zweite jener beiden Fragen zu beziehen.


Bei Eschenmayer ist jedenfalls so viel klar, dass er die Frage nach der
Ableitung des Willens aus der Identität nur als einen besonderen Fall
der allgemeineren Frage nach der Endlichkeit versteht; allerdings
auch einen Fall, an welchem sich das genannte Problem vielleicht am
unverkennbarsten sichtbar machen lässt. Während das erste Zitat das
Problem auf prägnante Weise formuliert, enthält der zweite Satz 54
mit der Unterscheidung von ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹ Eschenmayers
Lösungsvorschlag.
Da Schelling der Meinung ist, auf diesen Einwand bereits ge-
antwortet zu haben, so greift er in seiner kritischen Behandlung der
zitierten Sätze in der Tat nur solche Elemente auf, die er im zweiten
Abschnitt bereits behandelt hatte. Denjenigen Kritikpunkt Eschen-
mayers, der für das durch die Überschrift angegebene Thema unmit-
telbar relevant ist, führt er hingegen nicht vor der Mitte des Ab-
schnitts an. 55 Diese seltsame Wiederholung und Verzögerung
scheint durch die Überlegung motiviert, dass die Art, wie die Frage
nach der Freiheit und der Sittlichkeit zu erörtern ist, von der Art
abhängt, wie man die Frage nach der Endlichkeit überhaupt löst. Dies
stimmt jedenfalls mit Schellings späterer Erklärung überein, dass
»[w]ir [nicht] läugnen, dass auf diese Art die metaphysische Endlich-
keit sich begreiflich machen lasse; aber wir läugnen, dass die Endlich-
keit für sich selbst das Böse sey«. 56 Wenn das malum metaphysicum
und das malum morale zwar nicht einerlei sind, so setzt die Erklärung
des letzteren doch die Erklärung des ersteren voraus, derart, dass eine
ungenügende Lösung des Problem des malum metaphysicum sich in
der Behandlung des moralisch Bösen auswirkt. Deshalb kann Schel-
ling sich auch bei seiner Erörterung der leibnizischen Lösung für das
Problem des Bösen darauf beschränken, dessen Lösung der Frage
nach dem metaphysischen Übel zu referieren, und es dem Leser über-
lassen, selbst die weiteren Folgerungen daraus zu ziehen. 57
Wie dem auch sei, nach dem ersten der von Schelling zitierten
Sätze scheint es Eschenmayer ein ›unauflösliches Problem‹, ›den Wil-
len aus der absoluten Identität zu entwickeln‹ und ein noch unauflös-
licheres Problem, ihn aus dem absoluten Erkennen zu entwickeln.

54 Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50. Vgl. Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).


55
Vgl. Eschenmayer 1803, 89 (§ 86).
56 Schelling 1809a, 446 f. / SW VII, 370.
57
Vgl. Schelling 1805b, 83–86 / SW VII, 195 f.; vgl. Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.

226
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

Den Grund der Unauflöslichkeit dieses Problems sieht er darin, dass


der Wille ›alle Spuren einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich
trägt‹, während dem Zitat nicht zu entnehmen ist, welche diese Spu-
ren sind. So viel ist jedenfalls klar, dass die Ableitung deshalb unauf-
löslich ist, weil der Wille gewisse Merkmale aufweist, die sich nicht
aus einer absoluten Identität gewinnen lassen. Dem genauen Grund
kommen wir erst auf die Spur, wenn wir das Zitat in seinen ursprüng-
lichen Zusammenhang zurückzustellen. Eschenmayer schreibt:
Die Entwickelung dieser Potenzen, welche ich in der ersten Ansicht kon-
struirte, und in der zweyten Ansicht rekonstruirte, ist, wie ich glaube,
der skeletirte Umriß aller Philosophie und die Basis aller Konstruktio-
nen, in deren Besitz Schelling bisher so vieles geleistet hat. In der ersten
Ansicht war die absolute Identität ausser aller Indifferenz und Diffe-
renz. In der zweyten Ansicht wurde sie durch die höhere Potenz des
Seligen selbst wieder zur Indifferenz des Erkennens und Glaubens. Nur
in der letztern Ansicht schien es mir möglich, den Willen als den abso-
luten Anfangspunkt aller divergirenden Reihen in der erscheinenden
Welt, und die Vernunft als den absoluten Endpunkt aller konvergiren-
den Reihen aus der erscheinenden Welt zu charakterisiren. Es schien mir
immer ein unauflösliches Problem zu seyn, den Willen, der alle Spuren
von einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich trägt, aus der absoluten
Identität und noch weniger aus dem absoluten Erkennen zu entwickeln,
da dies letztere nach unserer Ansicht vielmehr als ein Modus des Wil-
lens erscheint. 58
Fangen wir mit einigen äußerlichen Beobachtungen an. Eschenmayer
ist davon überzeugt, dass seine eigene Potenzenkonstruktion der
schellingschen entspricht. Er selbst unterscheidet in diesem Zusam-
menhang zwei Vorgehensweisen oder ›Ansichten‹ : Die erste Ansicht
führt eine Konstruktion, die zweite eine Rekonstruktion der Poten-
zen durch. Erstere ist die der Spekulation, die unser Erkennen in
einen systematischen Zusammenhang bringt. 59 In der zweiten An-
sicht hingegen ist die Überschreitung der Spekulation auf den Glau-
ben hin bereits vollzogen, da in derselben die nur dem Glauben sich
erschließende ›Potenz des Seligen‹ bereits mitberücksichtigt wird.
Durch diese Überschreitung entsteht eine ›veränderte Ansicht‹ der
Philosophie, die uns einsehen lehrt, was die Philosophie ist und kann

58 Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58). Die Konstruktion oder die Entwicklung der ›ersten
Ansicht‹ scheint mit § 29 weitgehend abgeschlossen. Ab § 34 wird der Übergang zum
Glauben und damit zur ›zweiten Ansicht‹ eingeleitet.
59
Vgl. Eschenmayer 1803, 1 (§ 2).

227
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

und zugleich, was sie aus eigener Kraft nicht zu leisten vermag. Die
Philosophie ist danach auf die Instanz der Nichtphilosophie angewie-
sen, um Einsicht in ihr eigenes Wesen zu erlangen. Während nach der
ersten Ansicht alle Gegensätze aufgehoben sind, erschließt die zweite
Ansicht einen weiteren Gegensatz, der von allen Reflexionsgegen-
sätzen dadurch verschieden ist, dass er durch die Spekulation nicht
mehr vermittelt werden kann. Da die Philosophie zu dieser Einsicht
in ihre eigene Natur nicht aus eigener Kraft gelangen kann, muss es
ihr zwangsläufig so erscheinen, als ob mit der absoluten Identität alle
Gegensätze aufgehoben sind, während sich erst für die veränderte
Ansicht zeigt, dass durch die Aufhebung dieser Gegensätze nicht alle
Gegensätze aufgehoben sind. Ohne Rekurs auf die Nichtphilosophie
vermag die Philosophie dieses unvermittelbaren Gegensatzes nicht
ansichtig zu werden, den Eschenmayer als den Gegensatz zwischen
»Diesseits« und »Jenseits« oder zwischen der »sichtbaren« und »un-
sichtbaren« Welt bezeichnet. 60
Wenn Eschenmayer behauptet, der Wille trägt ›alle Spuren von
einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich‹, dann sind diese nur
aus diesem Gegensatz zu erklären. Erstens ist der Wille nicht ohne
Freiheit denkbar. Der Wille, der nur auf das »Diesseits« gerichtet oder
»ans Endliche gefesselt« ist, 61 kennt jedoch nur eine Richtung, wes-
halb Eschenmayer auch behaupten kann, dass in einem solchen Wil-
len die Notwendigkeit überwiegt. Dies ist der Wille im Modus des
Erkennens. Das Erkennen oder die ›Fesselung‹ des Willens am End-
lichen im Erkennen ist also nur ein Modus des Willens. 62 Zweitens
kann ein Wille ohne den Gegensatz von Diesseits und Jenseits nicht
als frei bezeichnet werden, da die Freiheit nicht ohne eine doppelte
Richtung denkbar ist. Der Wille selbst ist die Indifferenz beider Rich-
tungen. Die ›Spuren‹, wonach eine Ableitung des Willens aus der
absoluten Identität undurchführbar erscheinen muss, entstammen
Eschenmayer zufolge zuallererst der Möglichkeit dieser doppelten
Richtung, während im Erkennen »die Richtung nur gegen einen
Punkt möglich ist«: »Der Wille bringt daher aus der unsichtbaren
Welt die Möglichkeit aller Richtungen oder die Freyheit mit, und
erhält erst in der diesseitigen Welt den Zwang nach einer Richtung

60
Eschenmayer 1803, 53 (§ 59), 54 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 46 (§ 54).
61 Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).
62
Vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56), 52 (§ 58).

228
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

oder die Nothwendigkeit«. 63 Sowohl Erkennen als auch Handeln sind


nach Eschenmayer nur quantitativ differente Modi des Willens.
Dementsprechend gibt es auch in allem Erkennen ein willenhaftes
Moment, so wie es in allem Handeln ein erkenntnishaftes Moment
gibt. 64 Aus dem Erkennen selbst ist sein willenhafter Charakter nicht
ableitbar, so wie nur das erkenntnishafte Moment in allem Handeln
dieses doch nicht zu erklären vermag. Dies scheint zutreffend, wenn
beide, Erkennen und Wollen, sich nur durch ihre Richtung unter-
scheiden. Die Richtung zum Diesseits charakterisiert Eschenmayer
als »nothwendig«, die zum Jenseits als »frey«. 65 Erst durch die Rich-
tung auf das Diesseits erhält der Wille den notwendigen Charakter,
der ihn zum Erkennen macht. In seiner Richtung auf das Jenseits hin-
gegen ist der Wille zugleich Glied einer »Gemeinschaft vernünftiger
Wesen«, und somit ohne intersubjektives Moment nicht denkbar. 66
»Das Diesseits ist das ziehende Gewicht des Willens, der im Erkennen
ans Endliche gefesselt ist, und auch für sein freyeres Streben im Er-
schaffen und Vernichten gehemmt ist. Es bewirkt das Altern der
Kräfte, das Verzehren des Lebens und das Zerfallen des Organis-
mus«. 67 Dem Willen erscheint das ›Diesseits‹, die Erkenntnissphäre
oder die Sphäre der sichtbaren, endlichen Dinge als ein ziehendes
Gewicht. Im Erkennen ist der Wille ›ans Endliche gefesselt‹, während
der nicht mehr erkennende Wille sich von diesen Fesseln befreit, in-
dem er sich auf die unsichtbare Welt richtet. Da das Erkennen nur ein
Modus oder ein integrierender Teil des Willens ist, so ist der Bereich
des Willens weiter als der des Erkennens.
Hieraus erklärt sich, weshalb nach Eschenmayer der Wille, ers-
tens, nicht aus der absoluten Identität ableitbar ist, da er diese als die

63 Eschenmayer 1803, 48 (§ 56).


64 Vgl. bes. Eschenmayer 1803, 48 f. (§ 56), wo von einem »Uebergewicht« die Rede
ist. Wille und Vernunft unterscheiden sich nur durch ihre Richtung, vgl. Eschenmay-
er 1803, 47 (§ 55): »Der Wille und die Vernunft sind ein und ebendasselbe, und nur in
der Richtung unserer Reflexion verschieden«. Vgl. auch 88 (§ 85). Dazu Florig 2010a,
85. Eschenmayers Begriff der quantitativen Differenz unterscheidet sich allerdings
dadurch vom schellingschen, dass jener nur den formellen Charakter dieser Differenz
(das Überwiegen) aufnimmt und die entscheidende Komponente des schellingschen
Begriffs, dass nämlich dasjenige, was in Bezug aufeinander nur quantitativ different
ist, Präsentationsweise von ein und demselben ist (also das Verhältnis von Form und
Wesen), unterschlägt.
65
Eschenmayer 1803, 48 (§ 56).
66 Eschenmayer 1803, 81 (§ 80), 89 (§ 86), 93 (§ 90); vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56).

67
Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).

229
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Aufhebung aller Reflexionsgegensätze definiert hatte. 68 Es erklärt


sich, zweitens, weshalb der Wille sich auch nicht aus dem absoluten
Erkennen ableiten lässt. Dieses hatte Eschenmayer dadurch definiert,
daß in ihm »das Erkannte […] ein integrirender Theil des Erkennen-
den selbst ist«, während das Erkennen sich bei seiner Überschreitung
nun selbst als nur ein ›Modus des Willens‹ zeigt. 69 Damit wird das
bzw. der Erkennende nun selbst zu einem ›integrirenden Theil‹ des
Willens oder der Seele, während für das absolute Erkennen zwar das
Erkannte ein ›integrirender Theil‹ des Erkennenden ist, dieses selbst
aber das Ganze ist, dessen Modi oder Potenzen das Erkennen (Sinn-
lichkeit, Verstand, Vernunft) wie auch das Erkannte (die endlichen
Dinge, die Begriffe, die Ideen) sind. 70 Aus dem absoluten Erkennen
lässt der Wille sich deshalb nicht ableiten, weil es selbst nur ein Mo-
dus des Willens ist. Nur für den Glauben erweist sich auch die Ver-
nunft oder das absolute Erkennen als »in Gott«. 71 Dem absoluten Er-
kennen ist es nicht möglich, sich in oder außer Gott zu erkennen. 72 So
meint Eschenmayer das ›unauflösliche Problem‹, den Willen aus der
absoluten Identität abzuleiten, lösen zu können, nämlich durch He-
ranziehung des Glaubens. Solange die höhere Potenz des Seligen, die
sich nur dem Glauben erschließt, nicht berücksichtigt wird, ist jene
Ableitung nicht durchführbar.
Die Unterscheidung zwischen dem Gegensatz von ›Diesseits‹ und
›Jenseits‹ und den Reflexionsgegensätzen ist für Eschenmayer von
entscheidender Bedeutung. Während im Falle der letzteren »jede
vorhergehende Stufe die Bedingung der nachfolgenden seyn muss-
te«, kehrt sich das Verhältnis für den Glauben um, da hier die höhe-
re Potenz (der Glaube) Bedingung einer niedrigeren Potenz (Wille)

68 Vgl. Eschenmayer 1803, 14 (§ 20), 16 (§ 22), 25 (§ 32).


69 Eschenmayer 1803, 24 (§ 31), 26 (§ 34).
70
Vgl. Eschenmayer 1803, 80 (§ 79).
71 Eschenmayer 1803, 53 (§ 59).

72
Dies stellt Eschenmayer in seinen Briefen noch deutlicher heraus: »Will der Philo-
soph ein getreues Nachbild von dem Wesen der Vernunft als dem Urbild entwerfen,
was vermittelst der intellectuellen Anschauung zu Stande kommt, so muß ihm die
Vernunft (oder das Urbild oder die Indifferenz im Ewigen) ganz und völlig zum Object
werden. Wird aber die Vernunft als das Urbild ganz zum Object, wo ist alsdann das
Auge noch, das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem Nachbilde –
oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absoluten erkennt und anschaut?«
Und: »Unmittelbarer ist das, was ich hier meyne, in dem Unterschiede beider folgen-
der Fragen enthalten: Ist Gott in Uns? oder – sind wir in Gott« (C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109 f.).

230
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹

ist. 73 Dieser Gegensatz ist nach Eschenmayer ein Postulat der Phi-
losophie, eine Voraussetzung, zu welcher sie genötigt werden kann,
ohne sie doch selbst begründen und dadurch einholen zu können: Er
ist »blos durch Offenbarung vorhanden«. 74 Dieses Postulat entlehnt
die Philosophie der Nichtphilosophie: »So wahr es ist, daß alle Gegen-
sätze der Erkenntnißsphäre in der absoluten Identität aufgehoben
sind, so wenig möglich ist es, über den Hauptgegensatz des Diesseits
und des Jenseits hinauszukommen«. 75 Das Erkennen vermag diesen
Gegensatz nur als gegeben anzuerkennen. Zudem vermag auch der
Glaube nicht, darüber hinauszugehen: Der Glaube besteht gerade in
der Anerkennung dieses Gegensatzes und seiner Unaufhebbarkeit.
Es ist Eschenmayer somit nicht lediglich darum zu tun, auf die
Eigenständigkeit des Glaubens im Verhältnis zum Erkennen hin-
zuweisen, so, als ob beide Bereiche nebeneinander bestehen könnten:
Der Übergang der Philosophie zur Nichtphilosophie vollzieht sich als
die Einsicht in die Abhängigkeit des Erkennens vom Glauben und der
Philosophie von der Nichtphilosophie. Mit ihm behauptet Eschen-
mayer ein Primat des Glaubens vor dem Wissen. 76 Durch die ›zweite
Ansicht‹ erfährt die absolute Identität, die für die ›erste Ansicht‹ als
das Höchste gilt, in welchem die Spekulation ihre Erfüllung findet
und wonach für diese ›nichts zu wünschen übrig bleibt‹, eine Herab-
setzung oder Depotenzierung: Die für die Spekulation höchste Potenz
erweist sich als ein bloß »Vermitteltes«. 77 Durch die Anerkennung der
Unaufhebbarkeit dieses Gegensatzes und damit der Grenze der Phi-
losophie verwandelt die intellektuelle Anschauung sich in Gewissen,
das Eschenmayer als das Vermögen bestimmt, das »uns von dem jen-
seits des Absoluten unterrichtet«. 78 Für diese Weiterbestimmung fin-
det sich bei Schelling kein Beispiel; es findet sich auch keine einzige
Stelle, die eine solche Umdeutung auch nur veranlasst haben könnte:

73
Eschenmayer 1803, 2 (§ 4).
74 Eschenmayer 1803, 55 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 59 (§ 66), 106 (§ 100).
75
Eschenmayer 1803, 54 (§ 60); von Schelling 1804, 54 / SW VI, 50, zitiert.
76 Vgl. auch Eschenmayer 1803, 56 (§ 62): »Für das Diesseits ist die Vernunft abso-

lut […]; für das Jenseits […] hört die Absolutheit der Vernunft auf«; und 57 (§ 63):
»[S]ie [die Spekulation, R. S.] erblickt sich abhängig«. Vgl. auch 57 (§ 64), 59 (§ 66), 76
(§ 77). C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 30. März 1804, Fuhrmans, Briefe III,
69: »[I]ch gestehe, noch keine befriedigendere Auflösung der höchsten Probleme in
der Philosophie zu kennen, als durch die Annahme der Abhängigkeit des Wissens
vom Glauben«.
77 Eschenmayer 1803, 56 (§ 62).

78
Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 35 (§ 44).

231
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Sie ist Eschenmayers eigener Zusatz. Dadurch erhält die intellektuel-


le Anschauung einen moralischen Charakter. Vielleicht lässt sich das
Motiv für diese Weiterbestimmung noch am ehesten aus Eschen-
mayers Erklärungen ersehen, wonach das Gewissen »jedem Men-
schen zugetheilt« ist und »ein allgemeiner Antheil der Menschen«,
»das in allen Menschen ein und ebendasselbe ist«. 79 Die Einführung
des Gewissens ermöglicht es ihm, den im Bereich der Theorie auf-
brechenden Unterschied zwischen solchen, die der intellektuellen
Anschauung fähig sind, und solchen, die es nicht sind, wieder ein-
zuebnen. 80 Aus diesem Grund muss er auch alle Bemühungen, Gott
»in die Erkenntnisssphäre zu ziehen«, disqualifizieren und für »irrige
Bekenntnisse« ausgeben, die höchstens als Versuch, die Erfahrung
des Glaubens symbolisch zu artikulieren, anerkennenswert sind,
wenn sie nur jeglichen Wahrheitsanspruch aufgeben. 81 Das »Grübeln
über solche Gegenstände« ist nämlich nicht zu verhindern und nur
mittels »des grausamen Arms der Intoleranz« zu vertilgen: »Aber alle

79 Eschenmayer 1803, 38 (§ 48), 40 (§ 49); Herv. v. Verf. Vgl. dazu auch Florig 2008,
86.
80 Dieses Motiv hat Schelling noch deutlicher in seiner Auseinandersetzung mit Rü-

ckert und Weiß ausgemacht: »›Jetzt ist die Aussicht eröffnet zu einer andern nicht auf
Theorie gebauten Philosophie,‹ welche also auch alle die Fehler vermeidet, die an den
andern gerügt worden sind, nämlich, daß sie diejenigen ausschließt, die nicht Gaben
genug haben, um sich zur Einsicht in Principien zu erheben« (Schelling 1802e, 82 /
SW V, 83). Schelling bezieht sich dabei auf folgenden Satz, der seiner Ansicht nach
das Motiv oder die Triebfeder des Programms von Rückert und Weiß am deutlichsten
erkennen lässt: »Alle bisherige Philosophie hat die Eigenthümlichkeit gehabt, daß
man ihre Grundsätze mit dem Verstande aufgefaßt haben oder wissen mußte, bevor
man zu ihrem vollen Besitze gelangen konnte. So richtig dieser Weg scheinen mag, so
hat er doch dieß gegen sich, daß alle diejenigen übel berathen bleiben, welche bei dem
besten Willen nicht im Stande sind, sich mit ihrem Verstande zu jener Einsicht in die
Wahrheit der Principien zu erheben. Soll dann die Philosophie Weisheitslehre seyn,
und zwar zu der Weisheit der einzige richtige Weg, so scheint allen denen die Weis-
heit versagt zu seyn, welche nicht theoretisch genug gebildet sind, um durch das
Wissen der Principien der Philosophie zu ihr zu gelangen« (Weiß 1801, III f.).
81 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41), 40 (§ 49). Vgl. auch 42 (§ 51): »Der Glaube ist in allen

Menschen und die Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann
sich keines bessern rühmen, als der Laye. Wenn der wahre Glaube sich zuweilen
unter verschiedene irrige Bekenntnisse versteckt, so ist es nicht so häufig die Schuld
der Doctrin desselben als des Klügerseynwollens der Leute, welche dem Glauben
durch ihre vage Begriffe aufhelfen wollen« (Herv. v. Verf.). Dazu Schelling 1809a,
400 / SW VII, 337, wo es heißt, dass »der Philosoph eine solche (göttliche) Erkennt-
niss behaupte«, die nur »der Grammatiker und der Unwissende […] als aus Prahlerei
und Erhebung über andre Menschen entspringend vorstellen [können]«.

232
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

diese Bekenntnisse sind in jeder Rücksicht ganz unschädlich«, denn


das Gewissen »löscht in allen Handlungen, wo es darauf ankommt,
die verschiedenen Bekenntnisse von selbst aus, und gehorcht nur sei-
nem eignen innern Ruf, den falsche Lehren und üble Grundsätze
zwar weniger bemerklich machen, aber nie aus der Seele verbannen
können«. 82
Der Atheismus ist, wie jede andere Form des Irrglaubens, ein bloser
Irrthum und daher keiner Strafe fähig, er ist sogar auf derjenigen Stufe
der Reflexion, die nicht über das Begreifliche hinausgeht, nothwendig,
aber ganz unschädlich im praktischen Leben. Es gab gewiss noch keinen
Menschen, der sein böses Gewissen durch Grundsätze des Atheismus zu
beruhigen wusste. 83
Wenn Eschenmayer bemerkt, dass es »ein grosser Missgriff der Phi-
losophie [war], die Religion aus der Moral abzuleiten«, dann gibt er
damit zu erkennen, dass er selbst umgekehrt die Moral aus der Reli-
gion bzw. dem Glauben abzuleiten beabsichtigt. 84

3. Schellings Erwiderung:
Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Den Sinn seiner eigenen Konzeption der Sittlichkeit lässt Schelling


nur soweit aufscheinen als nötig, um sie von der eschenmayerschen
abzugrenzen. Dazu geht er jetzt direkt auf Eschenmayers Einwand
ein, wonach Schellings System »die Tugend als eine der Grundideen
aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 85 In der ersten Hälfte des drit-
ten Abschnitts hat Schelling die Gründe zurückgewiesen, auf welche
Eschenmayer seinen Einwand stützen zu können meinte. Dabei hat er
diesen vielleicht stärker gemacht, als er möglicherweise gemeint war.
Wenn er nun ausdrücklich auf ihn eingeht und auf eine Zweideutig-
keit aufmerksam macht, lässt er jedenfalls durchscheinen, dass er
vielleicht von Eschenmayer nicht so gemeint war. Die Behauptung,

82 Eschenmayer 1803, 40 (§ 49); Herv. v. Verf.


83 Eschenmayer 1803, 41 (§ 49); Herv. v. Verf. Es ist durchaus merkwürdig, dass
Schelling diese Stelle übergeht, da sie bereits eins der Vorwürfe Jacobis, gegen welche
Schelling 1812 so scharf reagieren wird, vorwegzunehmen scheint (vgl. Schelling
1812, 20 f. / SW VIII, 31 f.).
84 Eschenmayer 1803, 35 (§ 45).

85
Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86).

233
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

dass die Philosophie die Tugend ausschließe, kann nämlich auf zwei-
erlei Weise verstanden oder verwendet werden. Sie kann zum einen
dazu gebraucht werden, um gegen ein bestimmtes philosophisches
System, im Grunde aber gegen die Philosophie überhaupt, mora-
lische Gründe geltend zu machen und sie als immoralisch zu verdäch-
tigen. Dass die Philosophie die Tugend ausschließt, wäre dann so zu
verstehen, dass das philosophische Leben grundsätzlich immoralisch
ist und kein tugendhaftes Handeln gestattet. Damit wird die argu-
mentative Auseinandersetzung durch die moralische Verdächtigung
ersetzt. Die Person des Philosophen wird angriffen und in ein mora-
lisch bedenkliches Licht gerückt, um beim Publikum an bestimmte
Gefühlen zu appellieren. Wenn dieses Verfahren auch auf Argumente
verzichtet, so stützt es sich dennoch auf eine für selbstverständlich
gehaltene Konzeption von Sittlichkeit, die ihrerseits einer kritischen
Analyse und Überprüfung unterzogen werden kann. Ferner kann
auch der Gebrauch, der von jener Ansicht der Sittlichkeit gemacht
wird, selbst analysiert oder eher, wie Schelling sagt, »charakterisirt«
werden. 86
Jedenfalls erspürt Schelling auch bei Eschenmayer Anklänge die-
ses entrüsteten Tons. Dies ist auch der Grund, weshalb er besonders
diesen Einwand »etwas härter [hat] nehmen müssen«. 87 In der Tat
wird Schelling hier ungemein scharf. So ist die Rede von einer »plat-
te[n] Unwissenschaftlichkeit«, die »sich für ihre Nullität durch herz-
brechende Aeusserungen über die Nichtsittlichkeit einer Philosophie
an dieser rächt«. 88 Zwar nimmt Schelling im folgenden Satz Eschen-
mayer sogleich gegen diese Beschuldigung in Schutz – die Tatsache
aber, dass sie sich gleich im Anschluss an ein Eschenmayer-Zitat fin-
det, legt es geradezu nahe, sie zunächst auf diesen zu beziehen. Damit
möchte Schelling suggerieren, dass es einen mehr als zufälligen Zu-
sammenhang gibt zwischen solchen Verdächtigungen an die Adresse

86 Schelling 1802d, 5 / SW V, 20. Die Möglichkeit einer solchen Analyse signalisiert


Schelling dadurch, dass er sie als Ausdruck eines Ressentiments gegen die Wissen-
schaft charakterisiert (Schelling 1802d, 87 f. / SW V, 75; Schelling 1802f, 22 / SW V,
122). Deshalb auch die Qualifizierung einer solchen Haltung als ›unwissenschaftlich‹
(vgl. Schelling 1804, 59 / SW VI, 54). Aus diesem Grund nimmt auch im Zusammen-
hang der Auseinandersetzung mit Fichte und Jacobi deren Charakterisierung einen
derart großen Raum ein, da auch diese »das Unglück hat[ten], in denselben Ton zu
fallen« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54; vgl. dazu Schelling 1806a, 145–151 / SW VII,
113–117; Schelling 1812, 16–21 / SW VIII, 30–32).
87 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72.

88
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

234
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

der Person des Philosophen und dem Einwand bzw. der Position
Eschenmayers. 89 Wenn Schelling den Gebrauch des Einwands auch
»andre[n]« zuschreibt, d. h. solchen, die im Verhältnis sowohl zu
Schelling als zu Eschenmayer als »andre« zu bezeichnen sind, so legt
er es nahe, dass letzterer leicht mit diesen zu verwechseln wäre und
dass er vielleicht selbst sich leicht mit solchen verwechseln dürfte. 90
Schelling nimmt Eschenmayer dadurch von jener Beschuldigung aus,
dass er zunächst darauf hinweist, dass dieser so »nur in Widerspruch
mit sich selbst [geräth]«. 91 Wichtiger dürfte sein, dass sich in dieser
Behauptung ein zwar ungeschickt formulierter, dennoch eine ernst-
hafte Erwiderung verdienender Einwand verbirgt. Wie gesagt hat
Eschenmayers Hauptthese Schelling wohl kaum überrascht, da er in
ihr nur eine weitverbreitete Tendenz wiedererkennt, wonach sie »die
Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 92 Es handelt

89 Auch in Jaspers’ Formulierungen schwingt unterschwellig ein moralischer Ton mit,


z. B. wenn er bemerkt, dass der Anspruch einer Erkenntnis Gottes »ein Antasten der
Gottheit«, »ein Herabziehen des Unantastbaren« impliziert. Die »Unantastbarkeit der
Gottheit« soll »dadurch gewahrt« werden, dass »wir sie in keine Gestalt der von uns
erfahrenen Realitäten bannen dürfen«. Ferner: »Es gilt beides: Du sollst dir kein Bild-
nis und Gleichnis machen, und: Du sollst hören auf die Sprache der Chiffern«. Nach
Jaspers verstößt Schelling gegen dieses Verbot und beugt sich damit »vor etwas, das
nicht Gott ist«. Kurz: Diese Philosophie ist Götzendienst (Jaspers 1955, 182, 185, 197;
Herv. v. Verf.). Vgl. damit Eschenmayer 1803, 32 (§ 41): »Es liegt ohnedies ein gehei-
mer Schauder in unserer Seele, vor dem Gott, der sich in unserem Wissen ausgebiert,
die Knie zu beugen, und gleichsam seine eigene Idee anzubeten«. Vgl. auch 106
(§ 100), wo von den »Götzen unseres Verstandes« die Rede ist. Jaspers moniert Schel-
lings »unerträgliche Anmaßung« und »Hochmut« (Jaspers 1955, 218, 342). Ist es Zu-
fall, wenn solche, die die Unerkennbarkeit Gottes behaupten, sich dazu berechtigt
sehen, die Person des Denkers anzugreifen? Ähnliche Verdächtigungen finden sich
nämlich auch bei Zeitgenossen Schellings wie z. B. Johann Jakob Wagner: »die Wis-
senschaft zum Wahne der Absolutheit gebracht«, »der Wahnsinn der Spekulation,
sich selbst für absolut zu halten«, »leere Spekulation […], die sich die Absolutheit
anmaßt«; ferner ist noch von Schellings »Hochmuthe« und »Uebermuth« die Rede
(Wagner 1804, VII, XVIII, XXI, XXIV). – Diesbezüglich stellt Jürgen Habermas die
Frage: »Wer indes gibt uns, gibt Jaspers den Maßstab und die Methode und den gött-
lichen Blick, um zu sagen, wer und was ein Mensch wirklich ist und in seiner Existenz
ausdrückt?« (Habermas 1971a, 96). Und: »Die Philosophie einer polemischen Tole-
ranz verliert ihr Bestes, wo sie insgeheim vollziehen muß, was sie vor sich nicht einge-
steht: Gottes Gericht über Menschen« (Habermas 1971b, 107).
90 Schelling 1804, 60 / SW VI, 55. Vgl.: »Eschenmayer wenn er das Unglück hat, in

denselben Ton zu fallen« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54).


91 Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

92
Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.

235
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sich demnach um eine bloße Neuauflage der mit der Reflexionsphi-


losophie notwendig verbundenen Ergänzungsbedürftigkeit der Phi-
losophie. Das ›Merkwürdige‹ dürfte lediglich darin liegen, dass
Eschenmayer meint, dass auch Schellings eigene Philosophie zu einer
solchen Ergänzung nötigt. Dadurch hat er gerade den Punkt über-
sehen, durch welchen sich Schellings System von anderen, besonders
zeitgenössischen Systemen unterscheidet.
Auch wenn Eschenmayer gelegentlich in diesen Ton der Entrüs-
tung verfällt, möchte Schelling ihn in diesem Punkt doch nicht so
leicht abfertigen. Die Deutung des Einwands, die Philosophie schließe
die Tugend aus, als Ausdruck eines Ressentiments der Nicht-Philoso-
phen gegen die Philosophen würde nicht zu einer eingehenden wis-
senschaftlichen Behandlung nötigen. Stattdessen zieht Schelling es
vor, den Einwand stärker zu machen, als er vielleicht gemeint war. Er
weist nämlich, wie ungeschickt er auch formuliert sein mag, auf ein
wichtiges Problem. Nach Eschenmayers Behauptung haben das Sys-
tem Schellings insbesondere und die Spekulation im Allgemeinen als
ihren Gegenstand das Erkennen. Eschenmayer sieht die Aufgabe der
Spekulation darin, das Erkennen zu begründen und zu rechtfertigen.
Danach gehört die Tugend nicht zum Gegenstands- und Aufgaben-
bereich der Spekulation. Eschenmayers Absicht besteht demnach da-
rin, Erkennen und Handeln gänzlich zu trennen. Der Bereich der
Ethik, des Handelns und des Willens bleibt der Philosophie verschlos-
sen oder, anders gesagt, die Philosophie kann keinen Beitrag zur Ori-
entierung bzw. Bestimmung des Willens liefern. Diese Orientie-
rungshilfe kann nur durch den Glauben geleistet werden. Damit ist
die Moral, als die Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben,
auf die Religion gegründet, auf ein ›Wissen‹ von Gott bzw. auf das
Wissen der Nichterkennbarkeit und Transzendenz Gottes. Diese
Gründung der Moral auf die Religion ist auch Eschenmayers erklärte
Absicht, da er es als einen ›Missgriff‹ ansieht, die Religion aus der
Moral abzuleiten. Dies ist nur dadurch möglich, dass das tugendhafte
Handeln als Gehorsam oder als Unterwerfung unter das Gesetz ge-
dacht wird. Der Versuch jener Trennung stützt sich auf eine Annah-
me bezüglich des Wesens des sittlichen Handelns, die Eschenmayer
als derart selbstverständlich erachtet, dass er sie kaum noch expliziert.
Insbesondere aufgrund dieser Annahme muss die philosophische An-
sicht, wonach die Sittlichkeit über das Gesetz hinausgeht, notwendi-
gerweise als immoralisch erscheinen. Deshalb heißt es bei Schelling:

236
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Nur ein gänzliches Miskennen der Richtung unserer Philosophie kann


daraus, daß wir die religiöse und sittliche Beziehung, welche der Phi-
losophie in den bisherigen Systemen gegeben wird, absolut verwerfen
müssen, den Schluß ziehen, daß wir diese Beziehung überhaupt ver-
werfen. 93
Nach der bisher geläufigen ›sittlichen Beziehung‹ der Philosophie wird
die Tugend »als ein Befolgen göttlicher Gebote, Gott selbst als Gesetz-
geber vorgestellt. Wir müssen das Gute wollen, sagte man, weil es
göttliches Gesetz ist« (SW VI, 556 (§ 310)). Die ›sittliche Beziehung,
welche der Philosophie gegeben wird‹, besteht darin, »Gott […] aus
der Sittlichkeit« abzuleiten, »als ein nothwendiges Postulat der Mo-
ral« (SW VI, 556 (§ 310)). Sowohl von jenem Begriff der Tugend als
auch von einem philosophischen Vorhaben, ihn zu rechtfertigen, be-
merkt Schelling, dass er »gern allen zugeben« will, dass in diesem Sinn
»die Sittlichkeit aus meinem System ausgeschlossen sey« (SW VI, 556
(§ 310)). Er führt dagegen folgende Argumente an: Zum einen setzt
ein solcher Begriff die Realität des Bösen voraus, zum anderen impli-
ziert er einen Gegensatz von Sittlichkeit und Seligkeit. 94 Für diejeni-
gen allerdings, welchen ›die religiöse und sittliche Beziehung, welche
der Philosophie in den bisherigen Systemen gegeben wird‹, nie frag-
würdig geworden ist, muss eine Philosophie, die eben diese Bezie-
hung bzw. den darin implizierten Begriff von Sittlichkeit und Tugend
nicht anerkennt, notwendigerweise als immoralisch erscheinen. Es
entspricht denn auch völlig den Erwartungen, wenn gegen eine solche
Philosophie moralische Argumente angeführt werden. 95
Das moralische Argument gegen die Philosophie betrifft nicht
bloß einen spezifischen Punkt, sondern es richtet sich gegen die Phi-
losophie überhaupt. Dies ermöglicht es Schelling, gegen Eschenmay-
er ein Ad-hominem-Argument anzuführen: Durch seine Behauptung
gerät Eschenmayer »in Widerspruch zu sich selbst«, insbesondere zu
seiner Behauptung, dass das System Schellings nichts mehr zu wün-
schen übrig lässt. 96 Diese Behauptung stützte sich auf die Annahme,

93 Schelling 1802f, 15 / SW V, 116.


94 Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.
95 »Enge Geister […] mögen über die Naturphilosophie vorerst das Urtheil der Irre-

ligion sprechen oder hervorrufen […]. Noch wohlfeiler ist der Vorwurf der Nicht-
oder Unsittlichkeit, mit dem ein mark- und kraftloses Reden von Moralität, aus dem
alle Idee Gottes entfernt ist, erst die Religion verdrängt hat, und nun auch die Phi-
losophie zu verdrängen versucht« (Schelling 1802f, 22 / SW V, 122).
96
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.

237
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

dass die Aufgabe der Philosophie lediglich in der Begründung der


Erkenntnis besteht. Diese Aufgabe hatte Schelling, laut Eschenmayer,
auf eine befriedigende Weise gelöst. Insofern Schelling aber diese
Aufgabe der Philosophie gelöst hat, eignet eine Auseinandersetzung
mit dessen System sich auf eine ausgezeichnete Weise dazu, auf die
Grenze der Philosophie überhaupt aufmerksam zu machen. Nicht nur
Schellings System, sondern die Philosophie überhaupt schließt die
Tugend aus, wie dies am vollkommensten System am augenfälligsten
werden dürfte. Nach dieser Auslegung ist der Widerspruch zwischen
Eschenmayers beiden Behauptungen zwar aufgehoben; damit hätte er
sich aber zugleich vollends auf die Seite der ›anderen‹ geschlagen.
Nach Schellings Behauptung, dass es einen Widerspruch bedeute, zu-
gleich zu behaupten, dass ein System die Tugend ausschließe und
dennoch als System der Philosophie nichts mehr zu wünschen übrig-
lasse, gibt es nur zwei konsequente, sich nicht widersprechende Posi-
tionen: Entweder man gibt die Behauptung auf, dass dieses System
die Tugend ausschließt. Wenn es nichts mehr zu wünschen übriglässt,
so muss es auch eine eigene Konzeption der Sittlichkeit enthalten,
auch dann, wenn es diese nicht deutlich und ausführlich darstellt.
Oder man gibt die zweite Behauptung auf: Wenn es zutrifft, dass
dieses System die Tugend ausschließt, dann ist es als Ganzes zu ver-
werfen. Dann müsste man dem moralischen Argument gegen die
Philosophie beipflichten. Darin sind die anderen somit konsequenter
als Eschenmayer, da jene in der Tat diesen Schluss ziehen. 97 Hätten sie
aber Recht, dann hätte die Philosophie insgesamt keinen Wert. Es
handelt sich hierbei somit nicht lediglich um ein Theoriedefizit, inso-
fern sie von etwas, das wir als zur Wirklichkeit gehörig ansehen, kei-
ne Rechenschaft abzulegen vermag, weshalb wir dafür auf andere
Quellen angewiesen wären. Wenn die Philosophie von Freiheit und
Tugend keine Rechenschaft abzulegen vermag, dann ist sie völlig
ohne Wert. Dann bedürfte es streng genommen nicht der Philosophie
– da die Aufmunterung zum sittlichen Handeln viel besser durch an-
dere Instanzen geleistet werden könnte. 98

97 Wahrscheinlich hat Schelling sich gerade wegen dieses Widerspruchs durch


Eschenmayers Schrift, nicht aber durch andere »öffentlichen Ausserungen«, die ähn-
liche »Auffoderungen« enthielten, dazu veranlasst gesehen, sich »über eben diese
Verhältnisse zu erklären« (Schelling 1804, III f. / SW VI, 13). Gerade der wider-
sprüchliche Charakter von Eschenmayers Stellungnahme könnte eine Erziehung
zum konsequenten philosophischen Gesichtspunkt in dieser Frage begünstigen.
98
»Die Philosophie soll sie lehren, im Leben ihre Pflicht zu thun; dazu bedürfen sie

238
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Nachdem er den Sinn erörtert hat, in welchem Eschenmayer die


Formel einer ›Ausschließung der Tugend‹ verwendet, kehrt Schelling
zu denjenigen zurück, die sie in einem moralisch verdächtigenden
Sinn verstehen und verwenden möchten, und führt diese redend ein:
»›Das lautet alles vortrefflich‹ werden nun andre sprechen: ›ohn-
gefähr sagen wir das auch […], aber wir denken etwas ganz Anders
dabey‹«. 99 Sie verstehen die ›Ausschließung der Tugend‹ nämlich
nicht in dem Sinne, dass diese kein besonderes Thema der Philosophie
bilde, sondern in dem Sinne, dass das Philosophieren in der Person
des Philosophen ein tugendhaftes Handeln ausschließe. Die philo-
sophische Lebensführung selbst wird als moralisch fragwürdig quali-
fiziert.
Gegen diese Verdächtigung der Immoralität nun führt Schelling
seinen ›Glauben‹ an. Allein schon aus diesem Grund verdient diese
polemisch zugespitzte Auseinandersetzung, die man sonst wegen
ihres scharfen Tons vielleicht lieber übergehen möchte, besondere
Aufmerksamkeit. Obwohl wir im zweiten Kapitel Schellings Aus-
einandersetzung der Philosophie mit dem Glauben in fast allen ihren
Windungen verfolgt haben, haben wir dabei allerdings eine einzige
Stelle, wo von einem ›Glauben‹ die Rede ist, absichtlich übergangen.
Es ist das einzige Mal in der ganzen Schrift, dass ›glauben‹ als Verb,
und nicht als Substantiv, Verwendung findet, weshalb man leicht da-
rüber hinwegliest. Dennoch verwendet Schelling den Ausdruck hier
derart emphatisch, dass es den Leser, der ihm bis hierher gefolgt ist,
überraschen und verwundern müsste. 100 Dabei handelt es sich keines-
wegs um eine zufällige Verwendung dieses Ausdrucks. In dem Au-
genblick, in dem die Ausführung seines Programms, die Rechte der
Philosophie gegen den Glauben zu behaupten, ihrem Ende zusteuert,
beruft Schelling sich plötzlich und mit Nachdruck auf einen Glauben.
Nachdem er die Religion zunächst als eine Form der Erkenntnis be-
stimmt hatte, definiert er sie im Rahmen dieser polemischen Aus-
schweifung auf einmal als Glauben. 101 Er schreibt:

also der Philosophie: sie thun solche nicht aus freyer Nothwendigkeit, sondern als
Unterworfne eines Begriffs, den ihnen die Wissenschaft an die Hand giebt« (Schelling
1803a, 23 f. / SW V, 221). Vgl. auch die Überlegungen zur Idee einer »durchaus prak-
tischen Philosophie« (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105).
99
Schelling 1804, 60 / SW VI, 55.
100 Es ist dies die vorletzte Erwähnung von ›Glauben‹ in der ganzen Schrift.

101
Vgl. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.

239
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Wir wollen es also unverhohlen bekennen und deutlich sagen: Ja! wir
glauben, dass es etwas Höheres giebt, als eure Tugend und die Sittlich-
keit, wovon ihr, armselig und ohne Kraft, redet: wir glauben, dass es
einen Zustand der Seele giebt, in welchem für sie so wenig ein Gebot,
als eine Belohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwen-
digkeit ihrer Natur gemäss handelt. 102
Bekennt Schelling sich damit in letzter Instanz doch noch zur eschen-
mayerschen These, nachdem er diese bereits hinlänglich widerlegt zu
haben meinte? Sieht er sich schließlich, und bezeichnenderweise dort,
wo von Moral und Sittlichkeit die Rede ist, doch noch dazu genötigt,
auf einen Glauben zurückzugreifen, wo die Vernunft nicht mehr wei-
terhilft? Läuft diese Berufung auf den Glauben auf ein Scheitern des
gesamten Programms hinaus? Steht hier ›Glaube‹ gegen ›Glaube‹ ?
Schauen wir genauer hin. Die emphatische Rede von einem ›Glauben‹
findet sich in einem polemischen Zusammenhang. Gegen die Gleich-
setzung der Tugend mit dem Gehorsam und der Unterwerfung unter
das Gesetz führt Schelling den Glauben als einen höheren »Zustand
der Seele« an, »in welchem für sie so wenig ein Gebot, als eine Be-
lohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwendigkeit
ihrer Natur gemäss handelt«. 103 Das Gesetz hingegen wäre eine nur
äußerliche Norm, der wir unser Willen und Handeln zu unterwerfen
hätten. Stattdessen sucht Schelling eine immanente Normativität, die
er darin findet, dass das Handeln oder der Wille von sich aus auf ein
bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. Dieses Ziel ist die Wiederherstel-
lung der Identität. Es ist dies kein Ziel, das man sich setzen könnte
oder auch nicht, da alle besonderen Ziele nur Mittel sind, jenes ur-
sprüngliche Ziel zu erreichen. Insofern handelt es sich um eine innere
Notwendigkeit oder um eine Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur des
menschlichen Willens erwächst. Schicksal und Vorsehung wären
zwei Exponenten, unter welchen diese innere Notwendigkeit sich zu
erkennen geben kann. Sittlichkeit besteht somit darin, diese Natur
und damit zugleich das Wesen Gottes zum Ausdruck gelangen zu
lassen. Die Seligkeit oder die erfüllte Existenz besteht darin, der eige-
nen Natur entsprechend zu handeln. Schelling charakterisiert diesen

102 Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55; erste u. letzte Herv. v. Verf. Die nachdrückliche
zweimalige Wiederholung von ›glauben‹ im 17. Absatz bildet eine Parallele zur auf-
fälligen viermaligen Wiederholung von ›erkennen‹ im 11. Absatz (vgl. Schelling
1804, 57 / SW VI, 53). In beiden Absätzen handelt es sich um die Bestimmung von
Religion, laut dem Titel eine der zentralen Themen der ganzen Schrift.
103
Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.

240
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Zustand mehrmals bloß negativ, als einen Zustand, in welchem man


der endlichen Notwendigkeit entzogen ist und jeglichen Realkontext
überragt, oder auch als ein Verschwinden der Negation. 104 Diesen Zu-
stand höchster Erfüllung, in welchem man außer sich nichts mehr
braucht, setzt Schelling deshalb auch der absoluten Freiheit gleich. 105
Absolute Freiheit, Seligkeit, Tugend und Sittlichkeit werden hier in-
einander geschoben: Es sind alles nur Bezeichnungen für ein und
dasselbe. Die Sittlichkeit ist nur die »Tendenz«, »mit Gott Eins zu
seyn«. 106 Das »Urbild dieses Eins-seyns«, das ›Ideal‹ oder Optimum
der Existenz »ist in Gott«. 107 Indem wir in unserer Existenz eine Ent-
sprechung jenes Urbilds hervor- und es dadurch zum Ausdruck brin-
gen, bringen wir in einem solchen Zustand wie in den Handlungen,
die daraus erwachsen mögen, Gott selbst zum Ausdruck. Dies hätte
Schelling als eine ›Offenbarung‹ bezeichnen können.
Mit dieser Polemik will Schelling die philosophische Lebensfüh-
rung scharf von der Moral abgrenzen. Der höhere Zustand scheint
dementsprechend auch nur dem Philosophen zugänglich zu sein,
und zwar desto mehr, da er eine »Erkenntniss des schlechthin-Idea-
len« erfordert, die nur die Wenigsten erlangen können. 108 Philosoph
ist ein solcher, der alles dem Bestreben unterordnet, seiner Natur zu
folgen bzw. zum Ausdruck zu bringen. Da es nur den wenigsten ge-
geben ist, diese natürliche Möglichkeit auch tatsächlich zu realisieren,
stellt sich die Frage, ob es nicht auch den Nicht-Philosophen möglich
ist, jene Identität von Sittlichkeit und Seligkeit zu erfahren, ob jene
Übereinstimmung mit der eigenen Natur auch ohne den Weg über
das Denken erreichbar ist. 109 Diese Frage können wir erst im nächsten
Kapitel erörtern.
Zweierlei haben wir noch nachzutragen. (1.) Wir hatten behaup-
tet, dass die emphatische Verwendung des ›Glaubens‹ in der zitierten
Stelle nicht zufällig ist. Dies zeigt sich besonders daran, dass Schelling
in den Würzburger Vorlesungen in einem ähnlichen Zusammenhang
ebenfalls auf den Glauben verweist und ganz klar formuliert: Reli-

104 Vgl. Schelling 1804, 56 f., 63 / SW VI, 52, 56; SW VI, 556 (§ 310).
105 Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.
106 Schelling 1804, 62 / SW VI, 55 f.

107 Schelling 1804, 62 / SW VI, 56.

108 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53; vgl. auch Schelling 1804, 69 / SW VI, 60.

109
Beachte auch Schelling 1804, 6 / SW VI, 19, wo von einer »Harmonie«, einem
Verschwinden der Sehnsucht, einem Zustand der Sehnsuchtslosigkeit die Rede ist,
die nicht lediglich den Philosophen vorbehalten ist.

241
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

gion ist Glaube (vgl. SW VI, 558 (§ 310)). 110 Auch hier weist Schel-
ling, als Vorbereitung auf diese These, die Auffassung einer »Morali-
tät, die das Individuum als Individuum sich geben« könnte, zurück
und schließt sie ausdrücklich aus seinem System aus, um stattdessen
eine »göttliche Beschaffenheit der Seele« zu behaupten (SW VI, 557
(§ 310)). Diese Behauptung erläutert er durch den Hinweis, dass unter
»Glaube« kein »Fürwahrhalten« oder bloßes Meinen verstanden wer-
den darf, »überhaupt nicht ein Fürwahrhalten, welches in irgend
einer Beziehung zweifelhaft ist«, nämlich insofern das Fürwahrgehal-
tene ja eine philosophische Begründung ausschließt (SW VI, 559
(§ 310)). Wenn Schelling an dieser Stelle Religion als Glauben de-
finiert, dann schließt er dabei genau diejenige Bedeutung von Glau-
ben aus, die er Eschenmayer zuschreibt. Wenn sie dennoch als Glau-
ben bestimmt werden kann, dann in einem ganz anderen Sinn,
nämlich als »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle
Wahl aufhebt« (SW VI, 559 (§ 310)). Die Rede von einem Glauben
bezieht sich somit nicht auf bestimmte Inhalte, insofern diese für
wahr gehalten werden, sondern hebt nur ihren Einfluss auf den
Lebenswandel hervor.
Die zweite Potenz, deren Konstruktion Schelling hier abschließt
und die er anfangs als die Potenz des Handelns bzw. der Sittlichkeit
bezeichnete, ist im eigentlicheren Sinn als die Potenz der Religion zu
bezeichnen. Das »Absolute dieser Sphäre« nämlich »ist Religion, es
ist Heroismus, es ist Glaube, es ist Treue gegen sich selbst und Gott«
(SW VI, 558 (§ 310)). 111 In seiner Erläuterung dieser Behauptung
weist Schelling Punkt für Punkt alle zentralen Thesen Eschenmayers
zurück. 112 1. »Unter Religion verstehe ich […] nicht das, was man

110 In diesen Vorlesungen steht die Auseinandersetzung mit Eschenmayer weiterhin


im Hintergrund (vgl. SW VI, 152 f. (§ 7), 212 (§ 59)). Vgl. auch: Schelling 1805b, 69–
71 / SW VII, 186 f.
111 Eine gleichlautende Stelle findet sich Schelling 1809a, 477–480 / SW VII, 392–

394. Nachdem Schelling dort die Erscheinung des Bösen im einzelnen Menschen be-
schrieben hatte (Schelling 1809a, 474–476 / 389–391), beschreibt er anschließend die
Erscheinung des Guten im einzelnen Menschen (Schelling 1809a, 476–480 / 391–
394). Die Stelle ist eine Umarbeitung einer Stelle im Würzburger System (vgl.
SW VI, 558 f. (§ 310)). Die einzige signifikante Neuigkeit in der Umarbeitung der
Stelle ist die wohl einmalige Anführung eines Beispiels, das das geschilderte Ideal
verkörpert: Marcus Porcius Cato Uticensis, der entschiedenste Gegner Caesars.
112
Wie in den bereits zitierten Stellen den ›Glauben‹, so greift Schelling mit der
›Andacht‹ einen weiteren zentralen Ausdruck Eschenmayers auf, nicht ohne ihn je-
doch in einem tiefgreifenden Sinn zu verwandeln, und zwar in den Aphorismen zur

242
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube

Ahndung des Göttlichen, was man Andacht nennt«; »Religion ist hö-
her als Ahndung und als Gefühl« (SW VI, 558). Glaube ist danach
keine Ahnung oder Gefühl, sondern ein Wissen, insofern es nicht
müßig lässt, sondern unmittelbar in einem Handeln resultiert.
2. »Die erste Bedeutung dieses oft mißbrauchten Worts ist Gewissen-
haftigkeit, es ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des
Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu
widersprechen« (SW VI, 558). 113 »Religiosität bedeutet schon dem
Ursprung nach ein Gebundenseyn des Handelns, keineswegs aber
eine Wahl zwischen Entgegengesetztem […], sondern die höchste
Entschiedenheit für das Rechte, ohne Wahl« (SW VI, 558). 114 Hier
wird die Art des Handelns näher bestimmt, das aus jenem Wissen
erfolgt: Gemeint ist ein Handeln, das mit dem Erkennen in Einklang
ist; 3. »Wahre Religion ist Heroismus, nicht ein müßiges Brüten,
empfindsames Hinschauen oder Ahnden. Diejenigen nennt man
Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar
zur Handlung wird« (SW VI, 559). 115 4. Schließlich: Religion ist
Glaube, d. h. »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle
Wahl aufhebt«, ist »Treue gegen sich selbst und das Göttliche« (SW
VI, 559). 116 Dieser Glaube nun, so fährt Schelling fort, ist auch »die
einzige wahre Frucht der Philosophie« (SW VI, 559). Es ist also ein
Glaube, der der Philosophie nicht entgegengesetzt ist, sondern eine
motivierende Kraft, die aus der Kontemplation erwächst. Es ist ein
Glaube, der nur auf dem Weg der Philosophie überhaupt zugänglich
ist und gewonnen werden kann. 117

Einleitung in die Naturphilosophie, die sich nach seiner Erklärung ebenfalls auf
Eschenmayer beziehen (vgl. Schelling 1805b, 5 / SW VII, 141 (§ 9)). Die Übernahme
eines Ausdrucks beinhaltet somit keinesfalls eine Zustimmung zu den zentralen The-
sen desjenigen, von dem Schelling ihn übernimmt.
113 Vgl. Schelling 1809a, 478 / SW VII, 392.

114
Vgl. Schelling 1809a, 477 / SW VII, 392.
115 Vgl. Schelling 1809a, 477, 480 / SW VII, 392, 393 f.

116
Vgl. Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. Beachte Schelling 1813b, 121 / SW VIII,
185: »Das Wort Glaube […] drückt eigentlich nur die Zuversicht in der Ueberzeu-
gung, die Einstimmigkeit des Herzens mit der gewissen Erkenntniß aus. Aechter
Glaube ist selbst nichts anders, als ein glaubendes, d. h. zuverzichtliches Wissen, in
welchem, wie in allem wahren Wissen, Herz und Geist in Einklang sind; keineswegs
aber ist er, wie Sie und einige Andere wollen, eine gänzliche Negation alles Wissens«,
sondern vielmehr eine Folge des Wissens.
117
Vgl. auch F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. April 1812, Plitt II, 301:
»Das Thema, das Sie [sc. Windischmann, R. S.] sich zu bearbeiten vorgesetzt, ist von
der größten Wichtigkeit, ich meine das von der Kraft der Wissenschaft in Bezug auf

243
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

(2.) Die Bestimmung der Tugend als einer Identität von Sittlich-
keit und Seligkeit bleibt allgemein. Was auch immer als ›Tugend‹ gel-
ten soll, es muss eben diese Identität aufweisen. Daraus folgt unmit-
telbar, dass allem, was für Tugend ausgegeben oder gehalten wird,
was diese Identität jedoch nicht aufweist oder einen Gegensatz beider
impliziert, im Voraus, ohne weitere Untersuchung, das Prädikat ›Tu-
gend‹ abgesprochen werden kann. Auf eine Konstruktion solcher
konkreten Tugenden lässt Schelling sich aber weder hier noch in den
Philosophischen Untersuchungen ein. Dennoch heißt es an anderer
Stelle, dass eine Sittenlehre die Gestalt einer Konstruktion von Tu-
genden anzunehmen habe und dass »die Moral eine nicht minder
spekulative Wissenschaft« ist »als die theoretische Philosophie«, in-
sofern es ihre Aufgabe ist, »besondere Pflicht[en]« zu konstruie-
ren. 118 Dazu bemerkt Schelling ebendort, dass »eine Sittenlehre in
diesem Sinne noch nicht existirt«. Gerade in den Vorlesungen über
die Methode des academischen Studium, wo er dies behauptet, gibt
Schelling indessen ein Beispiel davon, wie eine Konstruktion konkre-
ter Tugenden oder besonderer Pflichten aussähe, indem er ebendort
die Pflichten und Tugenden konstruiert, die zu einer besonderen Le-
bensform gehören, nämlich der des Gelehrten und des Lehrers. So
heißt es: »Wer sein besonderes Lehrfach nur als besonderes kennt,
und nicht fähig ist, weder das Allgemeine in ihm zu erkennen, noch
den Ausdruck einer universell-wissenschaftlichen Bildung in ihm
niederzulegen, ist unwürdig, Lehrer und Bewahrer der Wissenschaf-
ten zu seyn«. 119 Ferner zeigt er, dass das Lehren als bloße Vermittlung
oder Mitteilung von Lehrinhalten nicht möglich ist: Die Vermittlung
ist nur insofern möglich, als der Lehrende imstande ist, die zu lehren-
de Wissenschaft für sich selbst wieder zu erfinden oder nachzuerfin-
den: »Jemand, der bloß überliefert, wird also in vielen Fällen falsch
überliefern«. 120 Ein solcher kann deshalb nicht lehren, weil man nur
von einem solchen lernen kann, der nicht nur Resultate mitteilt, son-

das Leben«. Gleich anschließend unterscheidet er diese »Kraft der Wissenschaft in


Bezug auf das Leben« vom Glauben, dem nie eine solche (motivierende) Kraft inne-
wohnt. Diesen Zusammenhang berührt Schelling auch in der »Vorrede« der All-
gemeinen Zeitschrift von Deutschen für Deutsche (vgl. Schelling 1813a, V f., X f. /
SW VIII, 140, 142).
118
Schelling 1803a, 146 / SW V, 277.
119 Schelling 1803a, 42 f. / SW V, 231.

120
Schelling 1803a, 47 / SW V, 233.

244
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

dern zugleich auch »die Art zu ihnen zu gelangen« vorführt. 121 Die
Konstruktion dieser Pflichten und Tugenden wird zugleich mit der
Konstruktion der Art der Einrichtung der dieser Aufgabe gewidme-
ten Institution durchgeführt. So zeigt Schelling, wie die Akademien
ihr Ziel – Überlieferung und Produktion von Wissenschaft – nur in-
sofern erfüllen können, als sie zwar durch den Staat eingerichtet und
gefördert werden, dieser aber darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu
nehmen. Zu beachten ist noch, dass diese Konstruktion Aufgabe der
Philosophen ist. Dadurch verhelfen sie z. B. den Lehrern zur Selbst-
erkenntnis: Erst mittels der Konstruktion erlangen diese Einsicht in
die Pflichten und Tugenden, die in ihrem Amt impliziert sind, und in
die Weise, wie sie dieses erfüllen können. Darin ist die Unterschei-
dung impliziert zwischen den Freien und Unfreien einerseits und den
Philosophen andererseits, die über beiden stehen. 122 Der polemische
Ton, der hier immer wieder anklingt, richtet sich dabei nur gegen
solche, die in der Rangordnung, die dadurch bezeichnet ist, eine hö-
here Stelle beanspruchen, als ihnen aufgrund ihrer Fähigkeiten zu-
kommt, da in der Konstruktion diese Rangordnung zugleich impli-
ziert ist. So erfährt der Lehrer, insofern sich seine wirkliche Existenz
jener Idee des Lehrers annähert, eine erfüllte Existenz, ohne dass ihm
dadurch schon die noch höhere des Philosophen zu Teil wird.

4. Das Spezifische der menschlichen Freiheit

Von den zwei Sätzen Eschenmayers, die Schelling zitiert, deutete der
erste das Problem, der zweite Eschenmayers Lösung an. Letztere
scheint Schelling zu billigen, indem er erklärt, dass Eschenmayer in
der im zweiten Abschnitt angegebenen »absoluten Unterscheidung«
»die vollkommene Bestätigung seines Gegensatzes finden« wird. 123

121 Schelling 1803a, 49 / SW V, 234.


122
Vgl. die Unterscheidung zwischen dem »Lehrer und Bewahrer der Wissenschaft«
und dem »Physiker«, der sich »mit Errichtung von Blitzableitern«, dem »Astronom«,
der sich »mit Kalendermachen« usw. »nützlich machen k[ann]« (Schelling 1803a, 43 /
SW V, 231, vgl. Schelling 1803a, 110 / SW V, 261). – Auf die Unterscheidung zwi-
schen Freien, Nicht-Freien und Philosophen kommen wir im 5. Kapitel noch ausführ-
licher zu sprechen. Wie wir sehen werden, beruht auf dieser Unterscheidung auch die
Notwendigkeit, Philosophie, Religion und Wissenschaft in Mysterien einzurichten
(vgl. Schelling 1804, 73a f. / SW VI, 65). Die Aufgabe dieser Einrichtung wird den
Philosophen zugewiesen.
123
Schelling 1804, 54 / SW VI, 50 f. Vgl. auch Schelling 1804, 42 / SW VI, 43: Es gibt

245
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Allerdings kann es ihm kaum entgangen sein, dass Eschenmayer mit


seinem Gegensatz einen ganz anderen Sinn verbindet. 124 Wenn
Schelling vielleicht noch Eschenmayers Formulierung, wonach das
›Diesseits‹ als ›das ziehende Gewicht des Willens, der im Erkennen
ans Endliche gefesselt ist‹, zustimmen könnte, wenn unter ›Diesseits‹
nichts weiter als die Erscheinungswelt zu verstehen sei und ein am
Endlichen gefesseltes oder sich nur mit Erscheinungen beschäftigen-
des Erkennen für den Willen in der Tat ein ›ziehendes Gewicht‹ wäre,
so würde er doch nicht zugeben, dass das Erkennen eo ipso an das
Endliche gefesselt ist. Wenigstens richtet seine kritische Bemerkung
sich nicht so sehr gegen diesen Satz, sondern vor allem gegen die
Behauptung eines ›jenseits des Absoluten‹. Er geht denn auch sofort
wieder auf das erste Zitat ein, da er bereits in der Formulierung des
Problems einen falschen Begriff des Absoluten mutmaßt.
Die erste Hälfte des dritten Abschnitts bringt im Vergleich zum
ersten und zweiten Abschnitt kaum etwas Neues. Vielmehr werden
Argumente, die Schelling dort ausführlich entwickelt hatte, hier bis
zur äußersten Gedrängtheit ineinandergeschoben, um so mit der
größten Kürze zum entscheidenden Punkt hinzuführen. Dabei wird
vorausgesetzt, dass dem Leser jene Argumente noch präsent sind. 125

eine »schneidende Gränze«, die »das Reich des Nichts [die Sinnenwelt, R. S.] vom
Reiche der Realität« [der Ideen, R. S.] scheidet.
124 Obwohl Schelling und Eschenmayer im Briefwechsel wiederholt die Vermutung

aussprechen, dass ihre Differenz fast nur terminologischer Art ist (F. W. J. Schelling
an C. A. Eschenmayer, 10. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe I, 321; C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108; C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201), so erhält man aus ihrer
Auseinandersetzung vielmehr den umgekehrten Eindruck, dass es zwar nicht unmög-
lich wäre, die Position des einen in die Terminologie des anderen zu übersetzen, aber
nur um den Preis, dass die Termini dabei einen ganz anderen Sinn annähmen. So wäre
auf terminologischer Ebene zwar eine Aussöhnung möglich, nicht aber in der Sache:
Durch bloß terminologische Akkommodationen ist die sachliche Differenz nicht lös-
bar; vielmehr drohen diese die sachliche Differenz ständig zu verschleiern. Das Ver-
ständnis dieser Auseinandersetzung wird nicht unerheblich dadurch erschwert, dass
Eschenmayer sich durchgängig schellingscher Termini bedient, diese in seiner Ver-
wendung aber wesentliche Modifikationen erfahren, und Schelling seinerseits sich
der eschenmayerschen Terminologie anzunähern versucht.
125 Dies ist mit dem Verfahren in der Freiheitsschrift zu vergleichen, wo Passagen, die

äußerst gedrängt die spekulative Konstruktion durchführen, mit weitläufigen Ab-


schweifungen abwechseln, die nur dazu dienen, das Gesagte zu erläutern oder durch
Beispiele zu veranschaulichen. So wird z. B. zunächst die Frage nach der »Zertrenn-
lichkeit der Prinzipien« behandelt (Schelling 1809a, 438–441 / SW VII, 364–366).
Daran schließen sich Beispiele, Erläuterungen und Folgerungen ans (Schelling 1809a,

246
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

(1.) Gegen Eschenmayers Formulierung des Problems macht Schel-


ling geltend, dass diese mit der Annahme einer »Abkunft jenseits
des Absoluten« einen Begriff enthält, dessen widersprüchlichen Cha-
rakter Schelling gleich zu Anfang des ersten Abschnitts nachgewie-
sen hatte. 126 Die ganze Formulierung des Problems stützt sich damit
bereits auf eine Annahme, die einer eingehenderen Prüfung nicht
standhält. Zudem ist daran zu erinnern, dass zu »unser Absolutes«
der Gedanke einer Selbstobjektivation gehört und damit eine unend-
liche Folge von potentiellen Differenzen. 127 (2.) Mit der jeweiligen
Idee des Absoluten hängt unmittelbar die unterschiedliche Bedeu-
tung von Wissen und Glauben zusammen. Hier hebt Schelling klar
den Unterschied zwischen »seiner«, Eschenmayers, »Vorstellung«
und »unserer Vorstellung« hervor: »[W]ir« »besitzen« »in klarem
Wissen und eben so klarem Bewusstseyn dieses Wissens« die »Abso-
lutheit« selbst. Dieses Wissen aber ist »[n]ach unserer Vorstellung
[…] eine Einbildung des Unendlichen in die Seele als Object oder als
Endliches«. 128 Dieser Satz greift unmittelbar einen früheren auf, wo
es hieß: »[W]enn die Form der Bestimmtheit des Realen durch das
Ideale als Wissen in die Seele eintritt, so tritt das Wesen als das An-
sich der Seele selbst ein, und ist Eins mit ihm, so dass die Seele, sich
unter der Form der Ewigkeit anschauend, das Wesen selbst an-
schaut«. 129 Dies wurde dort nur bedingungsweise behauptet (vgl.
›wenn …‹). In der Folge des zweiten Abschnitts hat Schelling gezeigt,
unter welchen Bedingungen ein solches ›Eintreten‹ der ›Form der Be-
stimmtheit des Realen durch das Ideale‹ ›in die Seele‹ oder eine Ein-
bildung des Unendlichen in der Seele als Objekt möglich ist. Der erste
Schritt bestand in dem Nachweis, dass das Absolute selbst sich in
Ideen (oder Potenzen) darstellt oder repräsentiert: Diese sind Einbil-
dungen des Unendlichen in einem Endlichen oder in einer bestimm-

441–450 / 366–373). Dann werden die Bedingungen der Aktualisierung des Bösen
behandelt (Schelling 1809a, 451–455 / 373–376), wonach der auf diese Weise gewon-
nene Begriff erneut erläutert wird (Schelling 1809a, 455–463 / 376–382). Hier droht
die Darstellung durch Ausführlichkeit statt, wie in Philosophie und Religion, durch
allzu große Kürze undeutlich zu werden.
126 Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58); Schelling 1804, 53 / SW VI, 50.

127 Schelling 1804, 54 / SW VI, 51; vgl. Schelling 1804, 22 f., 28 f. / SW VI, 30 f., 34 f.

128 Schelling 1804, 54 f. / SW VI, 51.

129
Schelling 1804, 23 / SW VI, 31. Dieser Satz ist selbst nur eine Umformulierung
des vorher zitierten Spinoza-Satzes (vgl. Schelling 1804, 13 / SW VI, 24; vgl. Spinoza
1677, Bd. II, 299 (Ethica, V 30)).

247
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ten unterscheidbaren Form. 130 Diesen Charakter der Potenzen als Prä-
sentationsweisen des Absoluten hat Eschenmayer in seiner Abhand-
lung unterschlagen. In einem zweiten Schritt hatte Schelling gezeigt,
dass es den endlichen Dingen bzw. einer bestimmten ›Klasse‹ dersel-
ben möglich ist, auch selbst wieder die Ideen zu denken und der Ver-
nunft fähig zu sein. 131 Wo auch immer »die Ureinheit, das erste Ge-
genbild, in die abgebildete Welt selbst hereinfällt, erscheint sie als
Vernunft; denn die Form, als das Wesen des Wissens, ist das Urwis-
sen, die Urvernunft selbst«. 132 Und: »Durch dieselbe stille und ewige
Wirkung der Form, durch welche die Wesenheit des Absoluten sich
im Object ab- und ihm einbildet, ist dieses [das Objekt, R. S.] auch,
gleich jenem [dem Absoluten selbst, R. S.], absolut in sich selbst«. 133
Gerade die Einbildung des Unendlichen in einem Endlichen als Wis-
sen gibt diesem Endlichen die Möglichkeit »ganz in sich selbst zu
seyn, so wie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 134
(3.) Diese Möglichkeit, »ganz in sich selbst zu seyn« oder »ganz
im Absoluten zu seyn«, kommt nicht jeglichem endlichem Ding als
solchem zu. Die nicht-menschlichen oder nicht-vernunftfähigen We-
sen haben keine andere Möglichkeit, im Absoluten zu sein, als im
Grund ihrer Existenz. Sie können demnach nie ganz im Absoluten
sein, da dasjenige, wodurch sie angesichts dieses Grundes ihre Selbst-
heit behaupten, einer solchen Aufnahme in das Absolute nicht fähig
ist. Umgekehrt können sie indessen ebenso wenig ganz in sich sein,
da sie gerade durch ihre Selbstheit an jenen Grund gebunden bleiben.
Dementsprechend sind sie nur Werkzeuge oder Organe, durch welche
das Absolute sich selbst – sei es nur indirekt – zu erkennen zu geben
vermag. Hier liegt die »absolute Unterscheidung beyder, der er-
scheinenden und der absoluten Welt«, die Schelling im zweiten Ab-
schnitt im Zusammenhang des Begriffs des Abfalls erörtert hatte. 135
(4.) Nach den zwei Zitaten am Anfang des Abschnitts zitiert Schelling
noch einen dritten Satz Eschenmayers:
Der göttliche Funke der Freyheit, welcher aus der unsichtbaren Welt
sich der unsrigen mittheilt, durchbricht die absolute Identität, und erst

130 Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34.


131 Schelling 1804, 37 f. / SW VI, 40.
132 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42.
133
Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.
134 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51.
135
Schelling 1804, 54 / SW VI, 50 f.

248
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

jetzt entsteht nach Maasgabe seiner Vertheilung auf einer Seite Denken
und Seyn (Form und Wesen), und auf der andern Wollen und Handeln,
jetzt erst entsteht mit einem Worte Leben und Weben durch die ganze
Sinnen- und intellektuelle Welt. 136
Diesen Gedanken greift er dort wieder auf, wo es heißt, dass »der
Grund der Erscheinung der Freyheit« zwar »unerklärbar« ist, »deren
erster Ausgangspunct aber, von dem sie in die Erscheinungswelt erst
herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden kann und muss«. 137 In
diesem Satz klingt bis in die Formulierung hinein ein Satz aus dem
zweiten Abschnitt an:
»Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität des
ersten Angeschauten ist Freyheit und von jener ersten Selbstständigkeit
des Gegenbildes fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit
wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel
der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 138
Zudem antizipiert Schelling mit der Verwendung des Ausdrucks
einer ›Spur‹ der ›Göttlichkeit‹ in der ›abgefallenen Welt‹ (oder im
›Diesseits‹) die Stelle Eschenmayers, die er an den Anfang des dritten
Abschnitts gestellt hatte. 139
(5.) Damit haben wir den für die Beantwortung der Frage nach der
menschlichen Freiheit entscheidenden Punkt erreicht, auf welchen
diese gerafften Überlegungen zulaufen: die Unterscheidung zwischen
dem Grund der Möglichkeit und dem Grund der Wirklichkeit des
Abfalls. Im zweiten Abschnitt hatte Schelling gezeigt, dass diese Un-
terscheidung eine allgemeine, für alles endliche Seiende gültige Un-
terscheidung ist. Relativ zur Potenz, von welcher das jeweilige Seien-
de einen ›Fall‹ ist, ändert sich allerdings der Sinn derselben: Erst in
der höchsten Potenz, wo das Unendliche in die Seele als Objekt einge-

136
Eschenmayer 1803, 90 (§ 86). Schelling 1804, 55 / SW VI, 51, zitiert den Satz mit
einigen geringfügigen Änderungen. Obwohl von einer Seitenangabe begleitet und
von einem »wenn er sagt« eingeleitet, ist der Satz doch nicht durch Anführungs-
zeichen als Zitat kenntlich gemacht
137 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.

138 Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39.

139 Der Gedanke einer solchen ›Spur‹ des ›Jenseits des Absoluten‹ im ›Diesseits‹ kehrt

unter unterschiedlichen Ausdrücken wieder, vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56): »Der


Wille bringt daher aus der unsichtbaren Welt die Möglichkeit aller Richtungen oder
die Freyheit mit«; 88 (§ 85): »Die Freyheit ist ein Geschenk der unsichtbaren Welt«;
90 (§ 86): »Der göttliche Funke der Freyheit, welcher aus der unsichtbaren Welt sich
der unsrigen mittheilt«.

249
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

bildet wird und das Endliche dadurch die Fähigkeit zum Wissen er-
hält, erhält es auch die Möglichkeit, sich »in die Ureinheit« aufzulö-
sen und »ihr gleich« zu werden. 140 Erst in der höchsten Potenz ist der
Seele somit die Möglichkeit gegeben, »ganz in sich selbst zu seyn,
sowie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 141 Diese beiden
Möglichkeiten sind eigentlich nur eine Möglichkeit oder zwei Aus-
drucksweisen für eine und dieselbe Möglichkeit. Den sonstigen Sei-
enden ist nämlich weder die Möglichkeit gegeben ›ganz in sich selbst
zu seyn‹ noch die Möglichkeit ›ganz im Absoluten zu seyn‹. Sie sind
nämlich nur, insofern sie im Absoluten als im Grund ihrer Existenz
sind und demnach nie ganz im Absoluten, da sie sich zu diesem nur
als zu ihrem Grund verhalten können. Nur solchen Wesen, die der
Vernunft fähig sind, ist diese doppelte Möglichkeit gegeben. Ob sie
diese auch aktualisieren, liegt indessen ganz bei ihnen selbst. Nur
deshalb kann sich nur in der höchsten Potenz das Verhältnis der
Ureinheit oder des Gegenbildes wiederholen. »Dieses Verhältniss
von Möglichkeit und Wirklichkeit« ist Bedingung dafür, dass die Frei-
heit auch erscheinen kann. 142 Wenngleich die »Erscheinung der Frey-
heit« oder ihre tatsächliche Aktualisierung »unerklärbar« ist, da der
Grund derselben nirgends als in der Seele selbst liegt, so »kann und
muss« doch der »erste Ausgangspunct« derselben, »von dem sie in die
Erscheinungswelt erst herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden«. 143
Schelling kann und muss somit zeigen, dass die Verfassung des Uni-
versums eine solche Erscheinung der Freiheit in demselben nicht aus-
schließt. Insofern diese nur im wahren Wissen stattfindet, dieses nur
durch den Philosophen realisiert wird, muss das Universum so ge-
dacht werden, dass ihre Verfassung die Erscheinung des Philosophen
nicht unmöglich macht und ihn zudem als höchste Möglichkeit er-
scheinen lässt.
Die Erinnerung an die Hauptpunkte aus dem zweiten Abschnitt
soll den Leser darauf aufmerksam machen, dass die für die Lösung
der Frage nach der menschlichen Freiheit unabdingbaren Elemente
dort bereits niedergelegt waren, auch wenn Schelling es dort und
sonst unterlassen hat, ihr Potential für die praktische Philosophie

140 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51.


141 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51. Diese höchste Potenz bezeichnet Schelling an-
dernorts auch als das Potenzlose, vgl. SW VI, 486 (§ 257).
142 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.

143
Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.

250
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

zur Entfaltung zu bringen. Dasselbe, was er in der Präambel zum


zweiten Abschnitt von seinen früheren Schriften, insbesondere vom
Bruno behauptet hatte, dass er nämlich die zur Lösung der Frage nach
der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Ver-
hältniss zu ihm« erforderlichen Elemente darin so versteckt hatte,
dass seine Leser, in erster Linie Eschenmayer, »ganz natürlich in den
nächstfolgenden Stellen die befriedigende Auflösung« nur nicht ge-
funden haben, gilt auch vom zweiten Abschnitt von Philosophie und
Religion. 144 Dies stellt Schelling dadurch heraus, dass er am Anfang
des dritten Abschnitts eine Reihe von vorher umständlicher ent-
wickelten Behauptungen zusammendrängt und so dem aufmerk-
samen Leser zu verstehen gibt, wie die Lösung sich aus diesen Ele-
menten ergibt. Der Kern der Lösung der Frage nach der menschlichen
Freiheit ist Schelling zufolge in der Unterscheidung zwischen dem
Grund der Möglichkeit und dem Grund der Wirklichkeit des Abfalls
zu suchen. Diese Unterscheidung hatte Schelling bereits dadurch
eigens betont, dass er diejenige Stelle aus dem Bruno, in welcher er
diese Unterscheidung entwickelt hatte, an einem besonders exponier-
ten Ort, in der Präambel des zweiten Abschnitts, die durch einen
Strich vom eigentlichen Hauptteil des Abschnitts abgehoben ist, ge-
sperrt gedruckt zitiert. In dieser Stelle fordert Bruno seinen Ge-
sprächspartner Lucian, der früher bereits die Frage nach der Abkunft
der Endlichkeit aufgeworfen hatte, dazu auf, sich zu
erinnern, wie allem, was aus jener Einheit hervorzugehen oder von ihr
sich loszureissen scheint, in ihr zwar die Möglichkeit, für sich zu seyn,
vorher bestimmt sey, die Wirklichkeit aber des abgesonderten Daseyns
nur in ihm selbst liege und selbst bloss ideell, als ideell aber nur in dem
Masse statt finde, als ein Ding durch seine Art, im Absoluten zu seyn,
fähig gemacht ist, sich selbst die Einheit zu seyn. 145
Diese Unterscheidung ist keine andere als die zwischen dem Wesen,
sofern es Grund von Existenz ist, und dem Wesen, sofern es existiert,
insofern sie sich an den Dingen zeigt.

144 Schelling 1804, 18 f. / SW VI, 28.


145 Schelling 1804, 20 / SW VI, 29. Die Stelle ist in Philosophie und Religion in Gänze
gesperrt abgedruckt. Schelling hat Orthographie und Interpunktion leicht verändert,
zudem einige Wörter kursiv drucken lassen. Die Stelle findet sich Schelling 1802a,
131 f. / SW IV, 282, und zwar gegen Ende von Brunos langem Monolog, in welchem
er seine Kosmologie darlegt: Sie bildet den Übergang zur Wiederaufnahme des Ge-
sprächs zwischen Bruno und Lucian.

251
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Dadurch dürfte jetzt auch deutlicher werden, weshalb die Frage


nach der Entstehung potentieller Differenzen aus dem Absoluten
notwendig der Beantwortung der Frage nach der »Entstehung der
wirklichen Differenzen aus ihr« vorangehen muss: Die Potenzen oder
Ideen sind sich darin gleich, dass sie sämtlich Darstellungen, Objekti-
vierungen oder Repräsentationen des Absoluten sind. 146 In jeder der-
selben ist die dreieinige Struktur des Absoluten ausgedrückt. Bezieht
man sie auf das Absolute, dessen Präsentationsweise sie sind, so sind
sie sich alle gleich. Vergleicht man sie jedoch untereinander, dann
sind sie quantitativ different: Sie unterscheiden sich durch einen un-
terschiedlichen Grad von Realität. 147 Während Schelling die Kon-
struktion der Potenzen als andernorts durchgeführt in Philosophie
und Religion ausspart und sich darauf beschränkt, an das allgemeine
›Gesetz‹ zu erinnern, wonach diese verfährt, so fügt er jetzt Über-
legungen zur Frage der Individuation in der Naturphilosophie hinzu,
die als Erläuterungen des Begriffs des Abfalls gedacht sind. 148 ›Abfall‹
ist nur ein bildlicher Ausdruck für Individuation oder ›Absonderung‹.
Entsprechend den differenten Realitätsgraden der Potenzen nimmt
die Individuation eine stets ausgeprägtere Gestalt an, um erst im
Menschen oder in der höchsten Potenz einen sittlichen Sinn an-
zunehmen. Schelling changiert dabei hin und wieder zwischen der
Ichheit oder dem Abfall als allgemeiner Kategorie oder »allge-
meine[m] Princip der Endlichkeit«, das einen formellen Begriff der
Freiheit als Unterscheidung der Dinge vom Absoluten bezeichnet,
und der Ichheit als »höchste[r] Potenz« dieses allgemeinen Prin-
zips. 149 Erst in der höchsten Potenz erhält die Tat-Handlung die Qua-
lität einer Entscheidung, insofern sie dem einzelnen Seienden auch
zuschreibbar ist. 150 Drei Komponenten des Begriffs des Abfalls in der
höchsten Potenz sind dabei zu berücksichtigen, um diesen Entschei-

146
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.
147 Vgl. SW VI, 212–214 (§ 61). Diesem Lehrsatz kommt übrigens im Zusammen-
hang der Erörterung der Frage nach dem Bösen ein besonders Gewicht zu (s. u.).
148 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. Schelling 1804, 53–52 / SW VI, 44–49. Vgl.

auch AA I,10, 128–130 (§ 30 Erl.), wo die Frage nach der Absonderung ausdrücklich
ausgespart wird. In den Anmerkungen im Handexemplar hebt Schelling dies beson-
ders nachdrücklich hervor.
149 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42.

150 Erst in der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling diese auch ausdrücklich als »Per-

sönlichkeit«: Nur im Menschen zeigt sich die Selbstheit oder der Eigenwille, in der
Verbindung »mit dem idealen Prinzip« (dem Universalwillen), als »Persönlichkeit«,
d. h. als ein solcher Wille, der »nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden

252
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

dungscharakter einsichtig zu machen: Erstens liegt der Grund der Ak-


tualisierung des Abfalls im Abgefallenen, im Menschen selbst; zwei-
tens ist im Menschen eine doppelte Möglichkeit gegeben, den Abfall zu
vollziehen; drittens sind beide Vollzugsmodi ungleich qualifiziert.
Der erste Punkt ist für die höchste Potenz nicht spezifisch, da die
Unterscheidung zwischen Grund der Möglichkeit und Grund der
Wirklichkeit des Abfalls zum Begriff der Ichheit als allgemeinem
Prinzip gehörte, den wir im dritten Kapitel erörtert haben. Mit dem
zweiten und dritten Punkt kommen jedoch zwei für die höchste Po-
tenz spezifische Momente hinzu, die es ermöglichen, den Grund der
Wirklichkeit des Abfalls dem Abgefallenen auch in einem prägnanten
Sinn zuzuschreiben, wodurch der Abfall erst einen sittlichen Sinn
erhält. Wir halten uns zunächst an den zweiten Punkt. Nach Philoso-
phie und Religion ist es das Spezifikum der menschlichen Freiheit,
dass nur der Mensch »aufs Neue die Möglichkeit erhält, sich in die
Absolutheit herzustellen, oder aufs Neue in die Nicht-Absolutheit zu
fallen«. 151 Diese Möglichkeit, den Abfall sozusagen zu wiederholen
oder stattdessen rückgängig zu machen, ist erst dem Menschen gege-
ben. Dadurch erhält auch nur er die Möglichkeit, sich zum Absoluten
nicht lediglich als zu seinem Grund zu verhalten. Den nicht-mensch-
lichen Dingen steht es hingegen nicht frei, den Abfall zu wiederholen
oder nicht. Diese haben somit keine andere Möglichkeit, als bloß
Werkzeuge des Absoluten zu sein. Dem Menschen hingegen ist eine
alternative Möglichkeit des Vollzugs des Abfalls gegeben, da er
wenigstens die Möglichkeit hat, sich wieder ›in die Absolutheit her-
zustellen‹, wenn er diese auch nicht notwendigerweise aktualisiert.
Wenn Gott insofern nicht als Urheber der Endlichkeit angesehen wer-
den kann, als der Grund der Verwirklichung des Abfalls überhaupt im
Abgefallenen selbst liegt, so kann er noch weniger als ›Urheber des
Bösen‹ gelten, da der Grund der Aktualisierung einer der beiden Voll-
zugsmodi ebenfalls nur im Menschen liegt. Damit erfüllt diese Kon-
struktion auch die Anforderung, die Schelling gleich anfangs für jede
Theorie aufgestellt hatte, die die Endlichkeit und das Böse zu erklären
sucht. 152 Selbst wenn das Böse der ›ursprüngliche‹ Vollzugsmodus ist
und der Mensch in diesem Sinn den defizienten Modus des Abfalls

Universalwillens« ist (Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364; vgl. Schelling 1809a,
448 f. / SW VII, 371 f.).
151 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f.; Herv. v. Verf.

152
Vgl. Schelling 1804, 34 f. / SW VI, 38.

253
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

notwendig vollziehen müsste, dann kann dies doch nicht als ein Ar-
gument für Gottes Urheberschaft der Privation und des Bösen gelten,
insofern der ›ursprüngliche‹ Vollzugsmodus nicht die Möglichkeit
ausschließt, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Dies wäre
nur dann der Fall, wenn man diese Entscheidung als so vor aller Zeit
erfolgt annimmt, dass dadurch alles zeitliche Handeln ein für allemal
festgelegt ist. Eine »durch das Absolute begründete Möglichkeit zum
Abfall wirft« denn auch nur dann »einen Schatten auf die Gottheit«,
wenn diese Möglichkeit sich nur als eine Entscheidung für das Böse
aktualisieren kann. 153 Das Abfalltheorem ist aber gerade dazu ge-
dacht, diese Folgerung zu vermeiden: Die Aktualisierung kann im
Menschen noch auf eine andere Art erfolgen als durch die Entschei-
dung zum Bösen.
Die beiden möglichen Vollzugsmodi sind, drittens, unterschiedlich
gewertet: Es gibt eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen densel-
ben. Dies zeigt sich besonders an den Folgen, die sich mit dem jewei-
ligen Vollzugsmodus verbinden. Im Absoluten ist nicht im Voraus
festgelegt, wofür dieser oder jener sich entscheidet. In ihm ist jedoch
sehr wohl vorherbestimmt, welche Art von Folgen sich aus der jewei-
ligen Entscheidung ergeben: So kann die Seele, die den Abfall aufs
Neue vollzieht, nur Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit hervorbringen.
Zwar ist es ihr möglich, sich anders zu entscheiden, nicht aber, sich
für diesen defizienten Modus zu entscheiden und dennoch dessen
Folge, der Produktion der Bilder der eigenen Nichtigkeit, zu ent-
gehen, die ihm deshalb wie ein ›Verhängnis‹ folgt. Umgekehrt ist es
ebenso unmöglich, sich in die Absolutheit wiederherzustellen und
dennoch Bilder der eigenen Nichtigkeit hervorzubringen. Die Ergrei-
fung der Selbstheit ist nämlich nur auf die Weise möglich, dass das
Unendliche dem Endlichen untergeordnet wird und jenes (die Idee)
nur noch indirekt zur Darstellung gelangt. 154 In dem Fall, dass das
Endliche dem Unendlichen untergeordnet wird, gelangt dieses selbst
zur Darstellung. Die derart strukturierte Seele produziert demnach
notwendigerweise Ideen oder Darstellungen von Ideen. In Schellings
Worten:

153 Vgl. hiermit Hermanni 1994, 75.


154 »Das unmittelbare Verhängniß der Freiheit als Willkür, als in-sich-selbst-Seyn, ist
also die Verwicklung mit der Nichtigkeit, der Endlichkeit mit derjenigen Nothwendig-
keit, welche dem Seyenden selbst nur ein zufälliges Daseyn läßt, d. h. mit der empiri-
schen« (SW VI, 552 (§ 307)).

254
Das Spezifische der menschlichen Freiheit

Die Seele, die, sich in der Selbstheit ergreifend, das Unendliche in sich
der Endlichkeit unterordnet, fällt damit von dem Urbild ab, aber die un-
mittelbare Strafe, die ihr als Verhängniss folgt, ist, dass das Positive des
in-sich-selbst-Seyns ihr zur Negation wird und dass sie nicht mehr Ab-
solutes und Ewiges, sondern nur Nicht-Absolutes und Zeitliches pro-
duciren kann. 155
Die Belohnung oder die Strafe des jeweiligen Modus liegt demnach in
diesem selbst. Der Lohn des Tugendhaften ist die Tugend selbst, die
Seinsvollkommenheit oder die Seligkeit, die mit der Tugend gleich-
ursprünglich und dasselbe ist, da sie ja einen höheren Realitätsgrad
impliziert. Die Strafe desjenigen, der im defizienten Modus verharrt,
ist eben dieser Modus selbst oder dass er durch ihn der Seligkeit oder
der Seinsvollkommenheit beraubt ist.
Wenn auf diese Weise der Abfall im Menschen aus den drei ge-
nannten Gründen eine ethische Bedeutung erhält, dann fehlt es nur
noch an der ausdrücklichen Bezeichnung, dass damit die Freiheit als
ein Vermögen des Guten und des Bösen gedacht wird. 156 Gerade weil
es dem Menschen offensteht, den Abfall rückgängig zu machen, kann
ihm auch das Unterlassen derselben als ›Schuld‹ angelastet werden.
Dem Eigenwillen wächst erst hier eine ›sündhafte‹ Qualität zu. 157

155 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52; vgl. Schelling 1804, 40, 44, 71 / SW VI, 42, 44,
61 f. In der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling dies als die Erhebung des Eigenwil-
lens über den Universalwillen: Der Eigenwille kann sich unmöglich ganz vom Uni-
versalwillen losreißen, sondern wird dadurch, dass er sich über diesen zu erheben
versucht, zum Vollzug einer Notwendigkeit, die er nicht in seine Gewalt bringen kann
(Schelling 1809a, 441, 475 f. / SW VII, 366, 390 f.).
156 So auch Mokrosch 1976, 316, 371. Nach Friedrich Hermanni ist die Tatsache, dass

der Wille »innerhalb zweier Freiheitsmodi tätig werden« kann, ausreichend, um die
Freiheit als »ein Vermögen des Guten und des Bösen« zu bezeichnen (Hermanni 1994,
127). Wie aber Christian Brouwer bemerkt, »scheint der Freiheitsvollzug – als Mög-
lichkeit des Guten und Bösen – von vornherein eingebettet zu sein in einen Horizont,
der über die Verfehlung urteilt, also in einen sittlichen Horizont, dessen Maßstab
unmöglich aus dem Freiheitsvollzug selbst erschlossen werden kann«. Er fügt hinzu:
»Ohne diese zweite Beobachtung würde Schellings Theorie wenig mehr behaupten als
die Unerklärbarkeit der Freiheit wie auch des Sündigwerdens«. Damit ist Gott zwar
nicht Urheber des Bösen, aber sehr wohl Urheber der »Strafe«, die also ebenfalls »die
Entfaltung einer göttlich konstituierten Wesensgesetzlichkeit« ist (Brouwer 2011,
230).
157 Dies scheint Friedrich Hermanni übersehen zu haben, wenn er auf die Frage:

»Welcher Typ von Freiheit ist es, der dem Besonderen durch seine Immanenz im
Absoluten eröffnet wird?« antwortet: »Freiheit als unbedingte Selbstbestimmung,
das heißt als eine in ihren Äußerungen nicht fremdbestimmte Macht« und damit die
Folgerung verbindet: »Freiheit steht demnach nicht vor alternativen Möglichkeiten

255
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Deshalb ist Schelling auch berechtigt, den Abfall in diesem Zusam-


menhang mit ethisch qualifizierten Ausdrücken wie Sündenfall oder
Schuld zu bezeichnen. Im Fall der nicht-menschlichen Seienden wä-
ren solche Bezeichnungen höchstens in einem metaphorischen oder
bildlichen Sinn zu nehmen. 158 Die ›Entfaltung der Wesensgesetzlich-
keit‹ ist nichts, was sich im Menschen von selbst ereignet, sondern
erfordert eine eigene Leistung, d. h. sie bildet selbst nur eine der al-
ternativen Möglichkeiten der Äußerungen der Freiheit. 159

ihrer Äußerungen, sondern sie wird spinozistisch als alternativlose Entfaltung der
Wesensgesetzlichkeit verstanden«. Das besondere Leistungspotential des Abfall-
begriffs liegt gerade darin, dass es einerseits die Erscheinung jener Freiheit als »Ent-
faltung der Wesensgesetzlichkeit« auch innerhalb der Erscheinung oder der endlichen
Welt einsichtig macht, andererseits aber solch eine »alternative Möglichkeit ihrer
Äußerungen« impliziert (Hermanni 1994, 74 f.).
158 Vgl. damit Hermanni 1994, 203 f.: »Damals [1804, R. S.] bestand keine Differenz

zwischen der Schöpfung und dem Fall der Ideen, jetzt [1809, R. S.] dagegen nimmt
Schelling eine supralapsarische Schöpfung an, in der es erst nachträglich zum Fall
kommt. Damals wurde die endliche Welt selbst als Folge des Falls verstanden, jetzt
dagegen wird ›nur‹ ihre gegenwärtige, üble Verfassung auf den Sündenfall zurück-
geführt«.
159 Dadurch wird der Begriff des Abfalls zum entscheidenden Gegenbegriff des Will-

kürbegriffs, wonach in der Neuzeit der Wille vorzüglich interpretiert wird. Als exem-
plarischer Vertreter einer solchen Theorie gilt für Schelling Reinhold. Deshalb durch-
zieht die kritische Auseinandersetzung mit Reinhold alle Darstellungen von
Schellings Freiheitsbegriffs, am offensichtlichsten in den Würzburger Vorlesungen
(vgl. SW VI, 539–555): Während Schelling in der Kette der Lehrsätze und Beweise
ausschließlich der immanenten Logik seines Prinzips folgt, werden die auf diesem
Wege gewonnenen Einsichten in den anschließenden Anmerkungen und Erläuterun-
gen unmittelbar auf die zentralen Begriffe der reinholdschen Morallehre angewendet.
So werden der Reihe nach der »gewöhnliche Begriff einer freien Selbstbestimmung«
(SW VI, 539), der Begriff von Seelenvermögen (vgl. SW VI, 540 f.) und die als »indi-
viduelle Freiheit« bestimmte Willkür (SW VI, 551) zurückgewiesen. An letzterer
Stelle greift Schelling übrigens nicht auf die Argumente, die er auch früher bereits
gegen diesen Begriff geltend gemacht hatte, zurück, sondern führt stattdessen einen
anderen Argumenttyp an: »[S]elbst die bloße Erfahrung« könnte bereits »lehren«,
dass »diese Willkür keine Freiheit sey«. Eine genauere Reflexion der Erfahrung würde
nämlich lehren, dass diejenigen, die meinen, bloß nach eigenem Belieben zu handeln,
in Wahrheit »gerade am meisten durch Affektionen der Lust, des Hasses, der Leiden-
schaft überhaupt zum Handeln getrieben« werden. Die Kritik richtet sich hier dem-
nach nicht direkt gegen den Begriff der Selbstbestimmung, sondern behauptet viel-
mehr, dass ein solches Gefühl, sich selbst zu bestimmen und nach eigenem Belieben
zu handeln, nur eine Täuschung sei, hinter welcher sich ein Bestimmtwerden durch
bestimmte Affektionen verbirgt. Was hier für Freiheit ausgegeben wird, ist nach
Schelling nur eine Gestalt der Selbstsucht, eine Form der »Tendenz absolut in sich
selbst zu seyn«. Siehe dazu Stolzenberg 2004; Schmidt 2012.

256
Der Begriff des Bösen

5. Der Begriff des Bösen

Das wesentliche Ergebnis der bisherigen Ausführungen ist in der Un-


terscheidung zu suchen, die Schelling vornimmt zwischen dem
Grund der Möglichkeit des Abfalls, der im Absoluten liegt, und dem
Grund der Wirklichkeit desselben, der im Abgefallenen selbst liegt.
Diese nimmt Schelling aus dem zweiten Abschnitt auf. Dort hatte er
sich bemüht, zu zeigen, wie diese Unterscheidung bereits in seinen
früheren Schriften enthalten war. Wenn er ihr im dritten Abschnitt
von Philosophie und Religion auch eine neue Wendung gibt, indem
er einige der Folgen derselben auf dem Gebiet der praktischen Phi-
losophie aufweist, so muss man feststellen, dass er in diesem Zusam-
menhang doch nicht alle Folgerungen, die daraus zu ziehen wären,
herausarbeitet, da er beispielsweise das Problem des Bösen zwar gele-
gentlich streift, ohne es jedoch wirklich zu entwickeln. Vielmehr
scheint er sich sogar bemüht zu zeigen, dieses Problem in den Hinter-
grund zu drängen. An dieser Stelle ist nochmals auf einen Grund-
gedanken Schellings hinzuweisen, dass nämlich die Naturphilosophie
weitreichende Folgen auch für die praktische Philosophie impliziert,
ohne dass Schelling sich dazu genötigt sieht, diese auch explizit zu
machen. Aus diesem Grund hatte er sich in der ersten Hälfte des
dritten Abschnitts darauf beschränkt, Einsichten aus dem ersten und
zweiten Abschnitt in gedrängtester Kürze aufzunehmen. Dafür wur-
de im dritten und vierten Abschnitt, wo er schließlich zur praktischen
Philosophie übergeht, das Problem des Bösen kaum erwähnt. Bei ge-
nauerer Beachtung zeigt sich indessen, dass sich umgekehrt im zwei-
ten Abschnitt immer wieder eingestreute und seltsam deplatziert wir-
kende Bemerkungen finden, die wie vorschnell und in gewagten
Abkürzungen auf die ideelle Reihe vorgreifen. 160 So dürfte es vor
dem Hintergrund der Bedeutung, die Schelling der Naturphilosophie
zuschreibt, kaum zufällig sein, dass zwei Drittel aller Erwähnungen
des Bösen sich im zweiten Abschnitt finden, in einem Zusammen-
hang, wo man sie nicht sogleich suchen würde, und zudem derart
vereinzelt und wie beiläufig, dass man nur allzu leicht darüber hin-
wegliest. Jedenfalls unterlässt Schelling es, diese vereinzelten und

160Das Böse wird in Philosophie und Religion insgesamt neun Mal an sieben Stellen
erwähnt: an fünf Stellen im zweiten Abschnitt (vgl. Schelling 1804, 33, 34, 43, 47, 48 /
SW VI, 37, 38, 43, 46, 47) und nur an zwei Stellen im dritten Abschnitt, dazu in
weniger bedeutenden Zusammenhängen (vgl. Schelling 1804, 61, 67 / SW VI, 55, 59).

257
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

verstreuten Bemerkungen zu einer systematischen Behandlung des


Problems zusammenzuführen, und überlässt diese Aufgabe vielmehr
dem Leser, hatte er doch selbst im »Vorbericht« von den »auf-
merksame[n] Leser[n]« verlangt, dass sie gerade solchen »einzelnen
Theile[n]«, die wie aus »einer höheren organischen Verbindung […]
gerissen« wirken, ihre Aufmerksamkeit zuwendeten, um aus diesen
den ausgesparten, bloß angedeuteten und nur indirekt dargestellten
Zusammenhang zu erschließen. 161 Vielleicht ist der Grund dieser Un-
terlassung darin zu suchen, dass Eschenmayer in seiner Kritik das
Problem des Bösen nirgends auch nur berührt hatte. 162 Wir werden
deshalb einen raschen Überblick über diese Stellen bieten, um die in
derselben angedeuteten Grundgedanken in der Folge durch Äußerun-
gen aus den Würzburger Vorlesungen zu substantiieren und mittels
des kantischen Begriffs der negativen Größe, der es erst erlaubt,
Schellings Begriff des Bösen zu konturieren, die Brücke zu den Phi-
losophischen Untersuchungen zu schlagen. Vielleicht dürfte sich auf
diese Weise auch Schellings spätere Erklärung, dass das Problem von
›Gut und Bös‹ bereits in Philosophie und Religion zur Sprache ge-
kommen ist, als weniger haltlos erweisen, als zumeist angenommen
wird.
(1.) Das Böse wird in Philosophie und Religion zum ersten Mal im
Zusammenhang einer Erörterung des »Parsische[n] Religionssys-
tem[s]« erwähnt, das hier als exemplarischer Vertreter einer dualisti-
schen Erklärung des Bösen auftritt. 163 Dieses erklärt das Böse aus
einem »Princip des Nichts«, das als solches »gleich-ewig« wäre mit
dem »Allguten«. 164 Den Fehler scheint Schelling nicht so sehr in der
Annahme zweierlei Prinzipien zu sehen, sondern eher darin, dass

161 Schelling 1804, III / SW VI, 13.


162 Auch als Schelling das Thema in einer langen und wichtigen Anmerkung zu den
Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie mit einem ausdrücklichen Hin-
weis auf die Schrift von 1804 wieder aufnimmt, lenkt er die Aufmerksamkeit fast
ausschließlich auf die Frage nach dem Übel, dem malum metaphysicum oder der
Endlichkeit, und scheint die Folgen für die Frage nach dem (moralisch) Bösen erneut
absichtlich in den Hintergrund zu drängen, während die dort geführte Auseinander-
setzung mit Leibniz und dessen Theodizee ein genaueres Eingehen auf diese Frage
geradezu herauszufordern scheint (vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197). Erst die
Veröffentlichung von Friedrich Schlegels Indien-Buch scheint ihm dann den pole-
mischen Anlass zu geben, das Problem des Bösen so in den Vordergrund zu rücken,
dass kaum jemand es noch übersehen konnte.
163 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37.

164
Schelling 1804, 33 / SW VI, 37.

258
Der Begriff des Bösen

man beiden Prinzipien den gleichen Realitätsstatus beilegt und da-


durch dem Nichts und dem Bösen die gleiche ontologische Dignität
wie dem Absoluten und dem Guten zuerkennt. Irgendein Dualismus
scheint wenigstens erforderlich, um die »Mischung des unendlichen
und endlichen Princips in den sinnlichen Dingen« zu erklären, da
bereits der Begriff eines Abfalls auf einen solchen Dualismus hin-
zudeuten scheint. 165 (2.) Im Rahmen der Behandlung der bisherigen
Versuche, »zwischen dem obersten Princip der Intellectualwelt und
der endlichen Natur eine Stetigkeit hervorzubringen«, bemerkt
Schelling, dass jene auch den Mangel aufweisen, »Gott zum Urheber
des Bösen« zu machen und zwar, weil sie ihn vorher schon zum Ur-
heber der Endlichkeit gemacht haben. 166 Daraus können wir schlie-
ßen, dass ein System, das das Verhältnis zwischen Gott und den end-
lichen Dingen stattdessen als einen Abfall denkt, auch diesen Vorzug
hat, dass in ihm Gott nicht zum ›Urheber des Bösen‹ gemacht wird.
Dass dies nur um den Preis geschehen könnte, dazu das Böse zu ›leug-
nen‹ oder zu ›verharmlosen‹, ist damit noch nicht entschieden. Jeden-
falls bemerkt Schelling anschließend, dass die »Materie, das Nichts
[…] für sich durchaus keinen positiven Charakter« hat, einen solchen
vielmehr erst annimmt und damit »zum bösen Princip« wird, »nach-
dem der Abglanz des guten mit ihm in Conflict tritt«. 167 Dem ist zu
entnehmen, dass Schelling es als einen Vorzug seines Systems an-
sieht, eine ›Entlastung‹ Gottes zu leisten, ohne dazu das Böse einfach
leugnen zu müssen. Auch setzt er ›das böse Princip‹ nicht schlechthin
der ›Materie‹ oder dem ›Nichts‹ gleich, sondern betont ausdrücklich,
dass das Böse eine neue ›Qualität‹ ist, die der Materie zuwächst oder
die diese ›annimmt‹. (3.) Als ein Verdienst der fichteschen Wissen-
schaftslehre hebt Schelling hervor, dass sie »das Princip des Sünden-
falls […] zu ihrem eignen Princip macht«. 168 Wenn sie dadurch auch
nur negativ bleibt und noch keine Einsicht in das »einzig positive«
ermöglicht, so hat sie damit doch die Voraussetzung dafür geschaffen,
einen Irrtum zu vermeiden: »Wer das gute Princip ohne das böse zu
erkennen meynt, befindet sich in dem grössten aller Irrthümer«. 169

165 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Damit scheint Schelling übrigens bereits den Ein-
wand Friedrich Schlegels antizipiert zu haben (vgl. Schelling 1809a, 424 f., 501 f. /
SW VII, 354, 409).
166 Schelling 1804, 30, 34 / SW VI, 35, 38; vgl. Schelling 1804, 48 / SW VI, 47.

167
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.
168 Schelling 1804, 42 / SW VI, 43.

169
Schelling 1804, 43 / SW VI, 43. Vgl. dazu SW VII, 468: »Wer mit den Mysterien

259
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Das fichtesche Prinzip lässt sich demnach als ein Korrektiv gegen an-
dere Ansätze verwenden, die sich nur mit dem guten Prinzip beschäf-
tigen und dadurch weder zu einer wahren Erkenntnis des Guten noch
zur Selbsterkenntnis gelangen, solange ihnen die Erkenntnis des bö-
sen Prinzips, die Fichte bereitstellt, fremd bleibt. (4.) Immer noch im
zweiten Abschnitt findet sich die Bemerkung, dass das »Producirte«
ein »Mittelwesen« ist, »welches an der Natur der Einheit und der
Zweyheit, des guten und des bösen Princips, gleicherweise Theil
nimmt«. 170 Die endliche Seele (als das ›Producirende‹) kann danach
nichts anders als solches hervorbringen, das an beiden Prinzipien teil-
hat. In welchem Verhältnis beide Prinzipien zueinander stehen oder
stehen können, sagt Schelling nicht. Die endlichen Dinge sind jeden-
falls nicht schlechthin Nichts, sondern vielmehr ein Konkretes oder
Zusammengewachsenes, ein Gemischtes, das sich nur aus einem Zu-
sammengehen zweier Prinzipien erklären lässt. (5.) Nachdem Schel-
ling an einer bereits zitierten Stelle darauf aufmerksam gemacht
hatte, dass alle Systeme, die zwischen Gott und Schöpfung eine Ste-
tigkeit annehmen, statt ihr Verhältnis als einen Abfall zu denken,
Gott zwangsläufig zum ›Urheber des Bösen‹ machen, behauptet er
jetzt, dass dies seinen Grund darin hat, dass sie »Gott selbst zum
Urheber der Privation, der Beschränkungen und des daraus resulti-
renden Uebels« machen. 171 Die Fragestellung der Theodizee als die
»Aufgabe einer Rechtfertigung und gleichsam Vertheidigung Gottes
wegen der Verhängung oder Zulassung« der Endlichkeit und des mo-
ralischen Bösen beruht auf dieser irrtümlichen Annahme, durch wel-
che man die »Privationen des Uebels und des moralischen Bösen nicht
erklären konnte«. 172 Abermals betont Schelling dadurch den engen
Zusammenhang zwischen der Erklärung der Endlichkeit und der des
Bösen. Schellings Absicht scheint danach nicht so sehr darin zu be-
stehen, eine andere, leistungsfähigere Lösung der Theodizee-Frage
anzubieten, sondern vielmehr die ganze Fragestellung, wegen der Vo-
raussetzungen, auf welchen sie beruht, als inadäquat zurückzuwei-
sen. Dann verfügte Schelling, gerade indem er es vermag, die End-

des Bösen nur einigermaßen bekannt ist (denn man muß es mit dem Herzen igno-
riren, aber nicht mit dem Kopf)«.
170 Schelling 1804, 47 / SW VI, 46.

171 Schelling 1804, 48 / SW VI, 47.

172
Schelling 1804, 48 f. / SW VI, 47. Vgl. Schelling 1804, 71 / SW VI, 62: die »nach
Fichte unbegreiflichen Schranken«. Gerade in diesem Punkt behandelt Schelling Leib-
niz und Fichte ganz parallel (vgl. SW VI, 115, 122 f.).

260
Der Begriff des Bösen

lichkeit mittels des Abfallbegriffs zu erklären, auch über die Mittel,


das Böse zu erklären, auch dann, wenn er es unterlässt, diese Erklä-
rung en détail durchzuführen. (6.) Der Erklärungsversuch kann nicht
von der Annahme der Realität des Bösen ausgehen (vgl. 1., 2. und 3.).
Diese Annahme hält Schelling nun auch der geläufigen Vorstellung
der Tugend und den sich daran orientierenden Sittenlehren vor: »Um
das Böse euch gleichwohl zu erhalten, (denn es ist nach dem Vorher-
gehenden der Grund eurer sinnlichen Existenz), wollt ihr die Tugend
lieber als Unterwerfung, denn als absolute Freyheit, begreifen«. 173
Nach der geläufigen Vorstellung wäre Tugend nur als Unterwerfung
unter das Gesetz begreiflich. Das »Gebot« oder das »Sollen« jedoch
»setzt den Begriff des Bösen neben dem des Guten voraus« und er-
kennt durch diese Nebenordnung beiden den gleichen Realitätsstatus
zu. 174 Vorher hatte Schelling bereits gezeigt, dass dies nur um den
Preis eines ›vollkommenen Dualismus‹ zu haben ist. (7.) Die letzte
Erwähnung deutet auf das Hervortreten des Bösen innerhalb der Ge-
schichte hin und bringt es zugleich mit einem kosmologischen Ereig-
nis, mit der »allmälige[n] Deterioration der Erde« in Verbindung:
»Mit der wachsenden Erstarrung griff die Macht des bösen Princips
in gleichem Verhältniss um sich, und die frühere Identität mit der
Sonne, welche die schöneren Geburten der Erde begünstigte, ver-
schwand«. 175 Damit deutet Schelling auf das Verhältnis von Vergan-
genheit und Gegenwart: In der Gegenwart zeigt das böse Prinzip sei-
ne allgemeine Wirksamkeit, während es im goldenen Zeitalter völlig
abwesend zu sein scheint. 176
Gleichzeitig mit Philosophie und Religion hat Schelling in Würz-
burg Vorlesungen über das System der gesammten Philosophie und
der Naturphilosophie insbesondere gehalten, die sich vor anderen
Darstellungen dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur eine ausführ-
liche systematische Darstellung der ideellen Reihe bieten, sondern
innerhalb derselben auch auf die Frage nach dem Bösen eingehen.
Wir sind demnach nicht bloß auf die zusammengelesenen Stellen
aus Philosophie und Religion angewiesen, sondern wir können uns
zusätzlich jener Darstellung bedienen, die zugleich deutlicher hervor-

173 Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.


174 Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.
175
Schelling 1804, 67 / SW VI, 59.
176 Vgl. dazu Schelling 1803c, 165–174 / SW IV, 499–508; Schelling 1809a, 451–463,

bes. 455 / SW VII, 373–382, bes. 376; SW VII, 459.

261
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

treten lässt, gegen welche Konzeption der Ethik sich Schelling ins-
besondere richtet: Als ein roter Faden zieht sich durch die Be-
handlung der ideellen Reihe, besonders der zweiten Potenz (der des
Handelns), die Auseinandersetzung mit solchen Theorien, die die
menschliche Freiheit als Willkürfreiheit denken, da es ohne dieselbe
nicht möglich sei, dem Unterschied zwischen Gut und Böse gerecht
zu werden. Eine genauere Erörterung der Frage nach dem Bösen ist
allein schon deshalb berechtigt, da man besonders die Aussparung
derselben oder auch das Unvermögen, sie auf eine angemessene Art
zu entwickeln, des Öfteren als ein bereits hinreichendes Indiz für den
unzulänglichen Charakter von Philosophie und Religion und damit
für die Notwendigkeit eines Neuansatzes gesehen hat, wie man ihn
in der Freiheitsschrift hat erkennen wollen. 177
Man hat gemeint, in den Würzburger Vorlesungen eine ›Nega-
tionstheorie‹ des Bösen zu entdecken, und zwar im Sinne einer Radi-
kalisierung einer Privationstheorie, da dem Bösen als Privation noch
zu viel Realität zuerkannt wäre. 178 Wenn diese Bezeichnung auch vor
allem durch polemische Motive eingegeben sein mag, so nötigt sie
doch zu einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Negation, mit
welchem Schelling in diesen Vorlesungen immer wieder operiert. Er
führt den Begriff im Zusammenhang einer Kritik jeglicher Privati-
onstheorie ein. Die Kritik richtet sich gegen eine mit dem alltäglichen
Bewusstsein gleichursprüngliche Annahme, die jedoch in einigen
philosophischen Theorien ohne eingehende Prüfung übernommen
wird. Eine solche möchte Schelling durchführen, um festzustellen,
ob jene Annahme mit Recht in eine philosophische Theorie auf-
genommen werden kann. Sie bezieht sich nicht auf die Frage, ob es
überhaupt Phänomene wie die Privation oder das Böse gibt, sondern
bloß auf die ontologische Dignität, die man diesen zuzuerkennen be-

177
So meint Robert F. Brown daraus, dass Schelling die Frage nach dem Bösen in
Philosophie und Religion nicht deutlich und ausführlich berührt hat und das Böse
mit der Endlichkeit schlechthin gleichsetzt, schließen zu dürfen, dass Schelling es des-
halb als Privation gedacht hat. Gerade in diesem Punkt, so meint er, »our two treatises
are very far apart«. Er behauptet »a quite dramatic advance« zwischen beiden Schrif-
ten. Dabei operiert er allerdings mit einem Gegensatz zwischen einem Privations-
begriff des Bösen und einem positiven Begriff des Bösen, wonach das Böse selbst eine
positive Realität hätte (Brown 1996, 121, 123). Auch nach Oliver Florig sei es Schel-
ling »1804 nicht gelungen, das Böse angemessen zu fassen«. Dabei scheint auch er den
Abfall oder die Endlichkeit mit dem Bösen schlechthin gleichzusetzen (Florig 2010a,
43).
178
So z. B. Hermanni 2002, 144–146.

262
Der Begriff des Bösen

rechtigt ist. Aus Schellings Analyse wird sich ergeben, dass gerade
das alltägliche Bewusstsein das Böse unwillkürlich für eine Privation
hält. Wenn Schelling denn auch schreibt: »Wir setzen eine Privation
in dem Ding nur, inwiefern wir urtheilen, daß etwas, das ihm fehlt, zu
seiner Natur gehöre, ihm zukomme. Aber wir urtheilen dieß bloß,
indem wir das Ding mit andern Dingen oder mit einem allgemeinen
Begriff vergleichen« (SW VI, 543 (§ 305 Anm.); Herv. v. Verf.), dann
bezieht das ›wir‹ in diesen Sätzen wie in dem ganzen Absatz sich nicht
auf Schelling selbst als Subjekt, sondern auf das allgemeine Bewusst-
sein. Dieses will Schelling an dieser Stelle charakterisieren und auf
ontologische Annahmen aufmerksam machen, die in solchen sponta-
nen Urteilen impliziert sind. Die Stelle hat somit lediglich eine vor-
bereitende Funktion: Das Phänomen, das es zu erklären gilt, soll zu-
nächst einmal in den Blick gebracht werden, da bereits das alltägliche
Bewusstsein es verschleiert und nicht in seinem eigentlichen Charak-
ter zur Erscheinung kommen lässt. Die Zurückweisung der Deutung,
mit welcher es im alltäglichen Bewusstsein verwachsen zu sein
scheint, ist noch keiner Leugnung des Phänomens gleichzusetzen.
Nur indem man jener ›natürlichen‹ Deutung zustimmt und sie für
keiner Kritik bedürftig hält, kann man aus der Bestimmung der End-
lichkeit und des Bösen als Nicht-Realität unmittelbar darauf schlie-
ßen, dass es Schellings Absicht sei, die Phänomene selbst zu leugnen.
Deshalb fängt Schelling hier mit dem an, womit eine jede philosophi-
sche Theorie anzufangen hat, nämlich mit einer Prüfung der alltäg-
lichen Meinung und mit einer Trennung von ›Phänomen‹ und ›Mei-
nung‹, und zwar so, dass er zeigt, wie ›selbst der gemeine Verstand‹
bereits zu der Einsicht geführt werden kann, dass das, was es für eine
Privation hält, im Grunde nur eine Negation ist. Dazu macht Schel-
ling auf solche »Beispiele« aufmerksam, an welchen sich zeigt, dass
der »gemeine Verstand« in einigen Fällen selbst jener Annahme, dass
das Fehlen einer Eigenschaft notwendig eine Privation sei, gar nicht
zustimmt (SW VI, 543). Diese Beispiele sind ein Indiz dafür, dass der
gemeine Verstand in diesem Punkt mit sich selbst uneinig ist.
Der geläufige Begriff der Privation beruht auf die Annahme, dass
die Eigenschaft, die einem Ding fehlt oder der es beraubt ist, »zu
seiner Natur gehöre« (SW VI, 543). Schelling orientiert sich weiter-
hin an diesem Begriff. Zugleich zeigt er auf, wie der Begriff einen
Widerspruch impliziert. Dazu greift er auf seine Unterscheidung
von zweierlei Typen von Eigenschaften zurück. Eigenschaften, die
einem Ding aufgrund seiner Natur zukommen, können ihm nicht

263
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

fehlen, da das Ding selbst damit aufgehoben wäre. Es handelt sich


somit um invariante Eigenschaften, die einem Ding lediglich insofern
zukommen, als es Fall einer bestimmten Potenz ist. So kommt einem
Dreieck z. B. die Eigenschaft, dass die Summe seiner Winkel gleich
180° ist, bloß qua Dreieck zu: Ohne diese Eigenschaft wäre die ge-
meinte Figur gar kein Dreieck mehr. Das Beispiel zeigt, dass der Be-
griff der Privation auf solche Fälle gar nicht anwendbar ist: Ein Ding
kann solcher invarianten Eigenschaften gar nicht beraubt werden, da
es dadurch selbst unmittelbar aufgehoben wäre. Einem Ding können
mithin nur solche Eigenschaften fehlen, die nicht zu seiner Natur
gehören. Dies ist der Sinn von Schellings Behauptung, dass das, was
wir in unseren spontanen Urteilen für eine Privation halten, in Wahr-
heit nur eine Negation ist: Die ›Beraubung‹ von solchen Eigen-
schaften, die zur Natur eines Dinges gehören, ist zugleich die Nega-
tion des Dinges.
Entsprechend den beiden Prädikattypen kann man allerdings meh-
rere Hinsichten unterscheiden, in welchen einem Ding eine Eigen-
schaft fehlen kann. Privation und Negation beruhen auf einer Ver-
gleichung der Dinge. Wir können die Dinge untereinander aber in
unterschiedlicher Hinsicht vergleichen. So können wir sie, erstens,
miteinander vergleichen, insofern sie Fälle von unterschiedlichen Po-
tenzen sind. So kommen einem Ding als Fall einer bestimmten Po-
tenz Eigenschaften zu, die einem anderen Ding als Fall einer anderen
Potenz nicht zukommen. So kommen einem Dreieck aufgrund seiner
Natur bestimmte Eigenschaften zu, die unmittelbar andere Eigen-
schaften ausschließen, wie z. B. die Eigenschaft, dass alle Punkte
gleich entfernt vom Mittelpunkt sind, ohne dass man deshalb sagen
kann, dass ihm dadurch etwas fehlt. Zweitens können wir ein Ding
mit der Potenz vergleichen, von welcher es ein Fall ist. Jedes Ding ist
als Einzelding nur eine inadäquate Darstellung seiner Potenz oder
eine Darstellung mit Negation. Schließlich können wir auch zwei
Dinge miteinander vergleichen, die zu derselben Potenz gehören.
Wenn diese wirklich verschieden sind, können sie nicht in allen Ei-
genschaften miteinander übereinstimmen. Aus diesen Überlegungen
ist zu ersehen, weshalb Schelling sagen kann, dass der Blinde keiner
Eigenschaft beraubt ist (vgl. SW VI, 543). Das Fehlen der Eigenschaft
des Sehens hebt nämlich sein Menschsein nicht auf. Nur wenn dies
der Fall wäre, könnte von einer Beraubung die Rede sein. Da von
einer Privation nur dann die Rede sein kann, wenn das Fehlen einer
Eigenschaft das Wesen eines Dings selbst aufhebt, kann im Fall des

264
Der Begriff des Bösen

Blinden nicht von einer Privation gesprochen werden, da dieser auch


ohne Sehvermögen noch sehr wohl ein Mensch ist. 179 Wenn Schelling
demnach behauptet, dass dasjenige, was für eine Privation gehalten
wird, »nur Negation« sei, dann ist damit nicht gesagt, dass es noch
weniger und noch nichtiger als die Privation ist, sondern er will da-
durch vielmehr auf den Unterschied bzw. die Verwechslung zweier
Typen von Prädikaten oder Eigenschaften aufmerksam machen (SW
VI, 544). Diese Verwechslung bezeichnet er auch als einen Schein:
Dieser liegt demnach lediglich darin, dass man solche Eigenschaften,
die aus den Verhältnissen eines Dings zu anderen folgen, für solche
Eigenschaften hält, die aus der Natur oder idealen Verfassung des
Dings folgen. Damit ist noch nicht behauptet, dass ›es das Endliche
oder das Böse nicht gibt‹. Dieser Schluss beruht teils darauf, dass
man die von Schelling durchgeführte Kritik der Phänomene unterlas-
sen hat, teils darauf, dass man ›Realität‹ mit Existenz oder wirklichem
Vorkommen verwechselt. Die bisherigen Betrachtungen haben somit
lediglich eine vorbereitende Funktion, indem sie das Phänomen, das
es zu erklären gilt, näher in den Blick zu bekommen versuchen. 180 Sie
können somit auch nicht dazu herangezogen werden, um Schellings
eigenen Begriff der Endlichkeit oder des Bösen zu illustrieren. Die von
Schelling angeführten Beispiele sind denn auch bloß dazu gedacht, im
alltäglichen Bewusstsein Zweifel an der Anwendbarkeit dieser Kate-
gorie für die Deutung ethischer Phänomene zu wecken und ihm be-
wusst zu machen, dass gar nicht so leicht feststellbar ist, was es denn
eigentlich ist, das eine Handlung zu einer bösen oder guten macht.
Im Anlauf zu seiner Behandlung der »Begriffe des Bösen, der Sün-
de, der Schuld, der Strafe u. s. w.« (SW VI, 542) wendet Schelling nun

179 Wenn Martin Heidegger gegen die Privationstheorie das Zeugnis des »Erblinde-
te[n], der das Augenlicht verloren hat« anruft, der »heftig bestreiten [wird], daß Blind-
heit nichts Seiendes und nichts Bedrängendes und Lastendes sei«, dann ist dies nicht
besonders überzeugend. Fragwürdig ist, ob dieses Zeugnis von einer höheren philoso-
phischen Bedeutung ist als das des »Straßenbahnschaffner[s]«, den er anschließend
zitiert, der meint: »Das Nichts ist eben nichts« (Heidegger 1988, 177). Die Privations-
theorie zielt nicht darauf ab, die Privation als eine Illusion zu entlarven, sondern sie
fragt nach der ontologischen Bedeutung des Nichts. Es soll demnach gezeigt werden,
wie Phänomenen wie dem Irrtum, dem Bösen usw. zwar keine ontologische Realität
zukommt, dass sie dennoch auf ontischer Ebene den Schein von Realität annehmen.
180 Es scheint mir denn auch verfehlt, zu behaupten, dass die »Reduktion der Priva-

tion auf eine bloße Negation […] eine Elimination des Malum« bedeutet, in dem
Sinne, dass »es in der Wirklichkeit Übles und Böses« gar nicht gibt, sondern dass dies
»nur eine menschliche Fiktion« sei (Hermanni 2002, 144).

265
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

diese allgemeinen ontologischen Begriffe auf eine bestimmte Klasse


von Phänomenen an, nämlich die der Handlungen. Es geht ihm da-
rum, überhaupt erst sichtbar zu machen, worin der böse Charakter
bestimmter Handlungen denn genau besteht. Auch diese Überlegun-
gen bleiben durchaus vorbereitend: Die Deutung bzw. Bewertung von
Handlungen, wie sie vom natürlichen Bewusstsein geleistet wird, soll
kritisch erörtert werden, um dadurch das eigentliche Phänomen von
der Auslegung zu sondern, mit welcher es in jenem verwachsen ist.
Da vorher das Handeln als eine Potenz oder Ausdrucksweise des Ab-
soluten konstruiert war, ist die Realität des Handelns überhaupt ge-
sichert. Daran erinnert Schelling mit dem Satz: »Jedes Handeln […]
schließt nothwendig etwas Positives in sich« (SW VI, 544). Gute und
böse Handlungen unterscheiden sich somit nicht so voneinander, dass
erstere etwas Positives in sich schließen, letztere aber überhaupt
nichts Positives enthalten. In einer Handlung können wir folgendes
erkennen: (1.) die Aktivität, die Fähigkeiten usw. des handelnden
Subjekts, die sich in einer Handlung bekunden. Die Handlung, durch
welche diese sich bekunden, bzw. diese selbst sind etwas Positives.
Darin kann somit nicht der böse Charakter der Handlung liegen. So
erfordert es z. B. eine oft nicht geringe Klugheit, Schlauheit sowie das
Vermögen, vieles und viele für sich wirken zu lassen, um jemandem
schaden zu können. Solche Fähigkeiten lassen sich sowohl in guten
als in bösen Handlungen erkennen. Es liegt denn auch nahe, das Böse
einer Handlung in der Absicht zu suchen, die das handelnde Subjekt
mit ihr verfolgt bzw. in dem Ziel, wozu es solche Fähigkeiten oder
Mittel einsetzt. (2.) Aber auch die »Lust und die Absicht andern zu
schaden«, wären etwas Positives, insofern solche Handlungen not-
wendig aus der Natur oder der besonderen Verfassung dieses Sub-
jekts erfolgen, wenn auch nicht aus der idealen Verfassung des Men-
schen überhaupt (SW VI, 544). Sowohl die guten als auch die bösen
Handlungen folgen nach dem Gesetz der Identität aus der Natur des
handelnden Subjekts. Hier wird also doch wieder das Subjekt der
Handlung berücksichtigt. Der zugrundeliegende Gedanke scheint zu
sein, dass das Böse einer Handlung nicht lediglich in den Absichten,
die das handelnde Subjekt mit ihr verfolgt, zu suchen sei. Der Böse
braucht nicht notwendig durch böse Absichten geleitet zu sein. Wäre
dies der Fall, dann wäre nur derjenige als ›böse‹ zu bezeichnen, der
sich seiner Bosheit auch bewusst ist und der das Böse als Böses will.
Dies wäre aber ein teuflisches Wollen. Wenn dies auch wie eine Ra-
dikalisierung des Begriffs des Bösen aussieht, so ist sie genau betrach-

266
Der Begriff des Bösen

tet vielmehr eine Verharmlosung des Bösen, indem die Anforderun-


gen, die erfüllt sein müssen, um eine Handlung oder ein Subjekt als
›böse‹ bezeichnen zu können, dadurch so hoch gesteckt werden, dass
sie nur in ganz seltenen Fällen erfüllt sind. Die Frage geht vielmehr
dahin, ob es auch dann möglich ist, bestimmte Handlungen als ›böse‹
zu bezeichnen, wenn das handelnde Subjekt weder Böses beabsichtigt
noch sich des bösen Charakters seines Handelns bewusst ist. Dann
wird die ethische Qualifizierung notwendig zu einer vollständigen
Beschreibung des Universums bzw. erhält einen objektiven Charak-
ter. Das heißt aber auch, dass dieser böse Charakter nicht leicht zu
erkennen ist. 181
Schelling legt hier zwei vorläufige, negative und in ihrer Verbin-
dung zunächst paradox anmutende Thesen zugrunde: Erstens zielt
die Qualifikation einer Handlung als gut oder böse nicht auf eine
objektive, der Handlung von sich aus einwohnende Eigenschaft. Ach-
ten wir lediglich auf die Handlung selbst, in Absehung vom handeln-
den Subjekt und von den Absichten, die es mit ihr verfolgt, so ist die
Handlung etwas Positives. Darin scheint kein Grund für eine sittliche
Bewertung derselben als gut oder böse zu liegen. Dieselbe Handlung
kann bald als gut, bald als böse qualifiziert werden. Eine fundierte
Bewertung erfordert die Berücksichtigung weiterer Umstände. Zwei-
tens ist damit allerdings noch nicht gesagt, dass diese Bewertung nur
Sache einer subjektiven Entscheidung ist. Die gute oder böse Qualität
einer Handlung steht nicht zur Disposition des handelnden Subjekts.
Dieses kann sich für diese oder jene Handlung entscheiden, nicht aber
über die moralische Qualität der Handlung, für welche es sich ent-
scheidet. Dadurch erhält diese Qualifikation wieder eine gewisse
›Objektivität‹. Diese beiden Thesen dienen nicht dazu, sich der Qua-
lifizierung bestimmter Handlungen als gut, anderer als böse zu ent-
ledigen, sondern vielmehr den Blick dafür zu schärfen, worin denn
genau die Güte oder das Böse einer Handlung bestehe. Wie Schelling
selbst hervorhebt, muss es allerdings zunächst so aussehen, als ob
durch beide negativen Thesen der Unterschied zwischen Gut und Bö-
se, zwischen guten und bösen Handlungen einfach verschwindet.
Erst nachdem er so gezeigt hat, dass eine Handlung nicht lediglich
aufgrund von objektiven ihr innewohnenden Qualitäten als gut oder
böse qualifiziert werden kann und auch die Berücksichtigung des

181Vgl. Schelling 1809a, 400 / SW VII, 337: Nur der, der »den Verstand rein und
unverdunkelt von Bosheit« erhält, vermag auch das Böse zu erkennen.

267
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

handelnden Subjekts nicht dazu ausreicht, fragt Schelling in einem


dritten Schritt, ob denn damit nicht der Unterschied zwischen Gut
und Böse, guten und bösen Handlungen und dem Gerechten und
dem Ungerechten aufgehoben ist. Bislang hat er bloß gezeigt, wie
sowohl gute als böse Handlungen etwas Positives in sich schließen
und somit beide Realität haben. Das Bisherige hatte insofern eine
bloß vorbereitende Funktion, als es hauptsächlich dazu gedacht ist,
inadäquate Ansichten zurückzuweisen, wie aus folgender Zwischen-
bemerkung hinlänglich deutlich werden dürfte: »Aber fällt denn nun
hiemit nicht, wie diese Lehre sonst und auch jetzt wieder gemißdeutet
wurde, aller Unterschied des Rechten und des Unrechten, also eben
damit auch aller Unterschied des Recht- und Unrecht-Handelns, alles
Verdienst und alle Schuld hinweg?« (SW VI, 546) Im Vorhergehen-
den hatte Schelling besonders die »Betrachtung des Bösen als eines
Positiven« zurückgewiesen (SW VI, 545). Genau diese These verleitet
zu dem Bedenken, dass dadurch jeder Unterschied des Guten und
Bösen geleugnet wird. Obwohl die Behauptung der Positivität des
Bösen den Vorteil zu haben scheint, das Böse nicht zu leugnen oder
zu verharmlosen, hat sie den großen Nachteil, dass sie nur mittels der
Behauptung eines Dualismus oder dadurch, dass Gott zum Urheber
des Bösen gemacht wird, aufrecht erhalten werden kann. 182 Schelling
hat demnach zu zeigen, wie die Leugnung der Positivität des Bösen
nicht die Leugnung eines Unterschieds von Gut und Böse mit sich
führt. Dies heißt indessen auch, dass er zu zeigen hat, in welchen
Fällen wir dazu berechtigt sind, Begriffe wie Schuld, Strafe, Verdienst
u.dgl. anzuwenden. Wenn nämlich Handlungen ethisch indifferent
wären, dann hätten wir auch kein Recht, solche Begriffe für die Deu-
tung von Handlungen zu verwenden. Damit sollen zwar »die ge-
wöhnlichen Begriffe unserer Sittenlehre«, aber nicht die Sittlichkeit
überhaupt wegfallen (SW VI, 546). 183 Dazu kehrt Schelling jetzt das
Argument der differenten »Grade[n] der Vollkommenheit« oder der
Realität hervor (SW VI, 547). Obwohl dieses Argument in den vor-
bereitenden Überlegungen bereits präsent war, indem Schelling dort
wiederholt betonte, dass »jedes Handeln […] einen gewissen Grad der
Realität«, die gute Handlung im Vergleich zur bösen allerdings
»einen höheren Grad der Realität« einschließt und dass in der Natur
alles, »wenn gleich in verschiedenen Graden, […] die unendliche Rea-

182 Vgl. Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.


183
Vgl. Schelling 1802f, 14 / SW V, 116; Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.

268
Der Begriff des Bösen

lität ausdrückt« (SW VI, 544 f.; Herv. v. Verf.), so hat er es dort doch
noch nicht zur Entfaltung gebracht, da er lediglich hervorhob, dass
unerachtet solcher gradueller Differenzen jede Handlung irgend-
etwas Positives einschließe.
Im folgenden Textstück, das von einer extremen Dichte ist, unter-
scheiden wir zur größeren Deutlichkeit sechs Teilargumente.
(1.) Schelling fasst zunächst das Ergebnis des Bisherigen zusammen:
»In jeder Handlung drückt sich, absolut betrachtet, eine Perfektion
aus, absolut betrachtet ist daher nichts unvollkommen, sondern nur
in Vergleichung« (SW VI, 546). Sowohl in der guten als in der bösen
Handlung ist etwas Positives, sodass der sittliche Wert einer Hand-
lung nicht auf dieses Positive zurückgeführt werden kann. Nur im
Vergleich zeigt sich die eine Handlung als unvollkommener als die
andere. Fraglich ist noch, inwiefern diese Vergleichung berechtigt ist.
(2.) Wir haben oben auf zwei Vergleichsweisen aufmerksam gemacht:
Man kann Dinge vergleichen, die zu einer und derselben Potenz ge-
hören, oder man kann auch Dinge vergleichen, die zu verschiedenen
Potenzen gehören. Das zweite Argument bezieht sich auf letzteren
Fall: Gott schafft »die Dinge nicht in Vergleichung miteinander, son-
dern jedes für sich als eine besondere Welt« (SW VI, 546). Der Aus-
druck ›als eine besondere Welt‹ bezieht sich offenkundig auf die Po-
tenzen. Unbeschadet der differenten Realitätsgrade drückt das
Absolute sich seiner Struktur nach in jeder Potenz ganz aus, sodass
keiner in Bezug auf das Absolute etwas fehlt: »[V]or Gott [ist] nichts
unvollkommen« (SW VI, 546). (3.) Dies wird durch die dritte These
noch deutlicher, wenn Schelling bemerkt, dass »der relativ geringere
Grad der Vollkommenheit, den z. B. der Stein relativ auf die Pflanze
[…] ausdrückt, […] in Ansehung des Steins […] gerade seine Voll-
kommenheit« ist (SW VI, 546 f.). Weil (wegen 2.) alle Potenzen in
Bezug auf Gott gleich absolut sind, so ist die Potenz, wozu ein Ding
gehört, für dieses ›seine Vollkommenheit‹ selbst: Dadurch, dass ihm
nicht solche Eigenschaften zukommen, die Dingen, die zu anderen
Potenzen gehören, zukommen, fehlt jenem Ding nichts, wie dem
Dreieck dadurch nichts fehlt, dass es nicht auch die Eigenschaften
eines Kreises hat. Die Potenz stellt für jedes zu ihr gehörige Ding ein
Optimum dar, das es mehr oder weniger ausdrücken kann. So drückt
z. B. der Stein zwar relativ auf oder in Vergleichung zur Pflanze einen
geringeren Grad der Realität aus, aber dieser Grad der Realität ist »in
Ansehung des Steins« seine Vollkommenheit (SW VI, 547). Diese
Grade werden hier also nicht auf Gott bezogen. Merkwürdig ist aller-

269
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

dings, dass Schelling beide genannten Vergleichsweisen hier ineinan-


der zu schieben scheint, indem er die Realitätsgrade zwischen Stein,
Pflanze, Tier und Mensch (denen jeweils eine Potenz entspricht) mit
den zwischen dem schlechteren und besseren Menschen in einer Rei-
he stellt. In letzterem Fall werden nicht zwei Potenzen hinsichtlich
ihres Realitätsgrades verglichen, sondern man vergleicht zwei Fälle
einer und derselben Potenz, die diese in unterschiedlichen Graden
ausdrücken.
(4.) Das vierte Argument scheint die Verwischung beider Ver-
gleichsweisen weiterzuführen. Wenn auch der Realitätsgrad einer Po-
tenz für dasjenige, was Fall von ihr ist, dessen Vollkommenheit bildet,
so ist damit doch nicht gesagt, dass alles gleich vollkommen ist oder
den gleichen Realitätsgrad ausdrückt. Auf Gott bezogen weisen die
Potenzen differente Realitätsgrade auf: »[J]e größer der Grad der Rea-
lität oder Perfektion eines Dings ist, desto mehr nähert es sich dem
Göttlichen an« (SW VI, 547). Indem die Potenzen hier auf das Abso-
lute bezogen werden, wird danach gefragt, welche derselben es am
meisten oder am angemessensten zum Ausdruck bringt: »Der Grad
der Realität, den jedes Ding für sich hat, steht im Verhältniß seiner
Annäherung zur absoluten Identität« (SW VI, 212 (§ 61)). Schon in
seiner Besonderheit, aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten Potenz, kann ein Ding »einen höheren Grad von Realität«
ausdrücken (SW VI, 212 f.). Diese Differenz ist somit keine solche, die
lediglich für unsere Imagination besteht, sondern eine solche, die es
in der Natur gibt. (5.) Jetzt kommt Schelling auf den signifikanten
Fall zu sprechen, in dem zwei Fälle einer und derselben Potenz mit-
einander verglichen werden: die Differenz zwischen dem schlechteren
und besseren Mensch. Auch »der Unrechthandelnde [drückt] einen
gewissen Grad der Perfektion« aus (SW VI, 547). Wenn nicht zu
leugnen ist, dass auch im Bösen etwas Positives sei, so bleibt doch
die Frage, was ihn vom ›Rechthandelnden‹ unterscheidet. (6.) Der
Unterschied ist Schelling zufolge in der Weise zu suchen, wie beide
die Perfektion oder Realität ausdrücken, die ihnen aufgrund ihrer Zu-
gehörigkeit zu einer bestimmten Potenz zukommt. Er liegt darin, ob
man diesen Realitätsgrad wissend oder unwissend ausdrückt. Den
Unterschied zwischen guten und bösen Handlungen macht Schelling
daran fest, ob eine Handlung mit einem Wissen verbunden ist. Auch
in der bösen Handlung ist ein Positives. Aber dieses Positive in der
bösen Handlung ist im Handelnden nicht mit einem Wissen verbun-
den und ihm demnach auch nicht als seine Handlung zuzuschreiben.

270
Der Begriff des Bösen

So drückt »freilich auch der Unrechthandelnde einen gewissen Grad


der Perfektion aus«, aber »den Grad von Realität; den er wirklich
ausdrückt, drückt er unwissend aus« (SW VI, 547). Die graduelle
Differenz zwischen Realitätsgraden wird dadurch nicht aufgehoben,
dass sowohl gute als böse Handlungen einen gewissen Grad von Rea-
lität ausdrücken. Der Unrechthandelnde irrt sich somit hinsichtlich
dessen, was er wirklich tut. Schelling führt einige Beispiele von sol-
chen Handlungen an, die wir unwissend ausführen und durch welche
die »materielle Substanz« zeigt, »was sie für sich vermöge« (SW VI,
549). 184 Dies gilt, nach dem Parallelismus, sowohl vom Leib als von
der Seele: Sowohl das Handeln des Leibes als das der Seele sind nicht
unser Handeln, indem in beiden die Substanz handelt. Nur durch das
Wissen wird eine Handlung zur Handlung eines Individuums (vgl.
SW VI, 550 f.). Nur der ›Teil‹ einer Handlung kann dem Handelnden
zugeschrieben werden, der auch mit Wissen verbunden ist. Das Posi-
tive, das auch in den Handlungen des Bösen ist, wie z. B. die Aktivität,
Intelligenz usw., die er darin zu erkennen gibt, kann ihm nicht zu-
geschrieben werden, da es in ihm nicht mit Wissen verbunden ist,
sondern da in ihm nur die Substanz handelt. Diese »wirkt in ihm
[dem Bösen, R. S.] ohne sein Wissen das Gute« (SW VI, 551). Das
Gute in seinen Handlungen ist eben nicht seine Handlung, sondern
darin ist er lediglich Werkzeug oder Instrument anonymer Gesetz-
lichkeiten. Die Tugend zeichnet sich somit durch ein Reflexions-
moment aus oder dadurch, dass sie nicht ohne Wissen ist, was sie ist.
Nur durch das Wissen findet eine Identifikation des Handelnden mit
seiner Handlung statt oder kann sie ihm zugeschrieben werden. 185

184 Vgl. auch Schelling 1809a, 459 f. / SW VII, 379, wo die erste Epoche der Geschich-
te als eine solche bestimmt wird, »in welcher der Grund zeigte, was er für sich ver-
möchte«, und wo dies so erläutert wird, dass die zu dieser Epoche gehörende Men-
schengattung handelt, ohne zu wissen, was sie tut: »Damals kam den Menschen
Verstand und Weisheit allein aus der Tiefe; die Macht erdentquollner Orakel leitete
und bildete ihr Leben«. In einer Verschärfung nimmt dies die Gestalt eines Handelns
an, das auf »falsche Magie sammt Beschwörungen und theurgischen Formeln« zu-
rückgreift. Es ist dies zugleich eine Zeit, da der Mensch ohne eigentliches Bewusstsein
über Gut und Böse ist (vgl. Schelling 1803a, 175 f. / SW V, 290). Vgl. auch solche
»Zustände, durch welche der Mensch den Thieren ähnlicher wird«, insofern in dem,
was er tut, nicht aber in ihm selbst Vernunft ist (SW VI, 468 (§ 238); vgl. SW VI,
462 f., wo Schelling auf den Somnambulismus und die »Gabe der Prophezeiung« ver-
weist).
185 Man könnte geneigt sein, darin einen Unterschied mit den Würzburger Vorlesun-

gen zu sehen, dass Schelling in der Freiheitsschrift behauptet, dass verhindert werden

271
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Schellings Bestimmung des Unterschieds zwischen Gut und Böse


als einer graduellen Differenz der Realität dürfte schärfere Konturen
gewinnen, wenn wir sie vor dem Hintergrund von Kants Begriff der
negativen Größe betrachten. Mit jener Bestimmung greift Schelling
einige Einsichten auf, die Kant in seinem Versuch den Begriff der
negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen entwickelt hatte
und an denen Schelling auch noch in der Freiheitsschrift festhält. 186
Wir heben insbesondere diejenigen Züge des kantischen Begriffs her-
vor, die Schelling in den Würzburger Vorlesungen aufgreift, und wer-
den nachher zeigen, inwiefern diese in dem Begriff des Bösen erhal-
ten bleiben, so wie Schelling ihn in der Freiheitsschrift entwickelt.
Zum Begriff der negativen Größe bemerkt Kant zunächst folgen-
des:
[E]s sind die negative Größen nicht Negationen von Größen, wie die
Aehnlichkeit des Ausdrucks ihn [sc. Crusius, R. S.] hat vermuthen las-
sen, sondern etwas an sich selbst warhaftig Positives, nur was dem an-
dern entgegengesetzt ist. Und so ist die negative Anziehung nicht die
Ruhe wie er davor hält, sondern die wahre Zurückstoßung. (NG, AA 2,
169)
Auf die uns interessierende Frage angewendet, wäre letzterer Satz so
umzuformulieren, dass das negative Gute (das Böse) sich nicht so
sehr an einem Ausbleiben von guten Handlungen zeigt, sondern viel-
mehr an einer dem Guten entgegengesetzten Kraft, die sich in bösen
Handlungen äußert. 187 Damit ist allerdings nicht behauptet, dass das
Böse selbst ein Positives ist. Das Böse einer Handlung ist eine Quali-
fizierung, die ihr nur insofern zukommt, als sie als in einem Gegen-

muss, dass der Mensch in den bösen Handlungen »selbst nur leidend« gedacht wird
(Schelling 1809a, 449 / SW VII, 372), während er in Vorlesungen zu behaupten
scheint, dass die böse Handlung »kein Handeln, sondern ein Leiden« ist (SW VI, 551).
Diese Behauptung bezieht sich indessen ausschließlich auf das Gute oder Positive, das
auch in der bösen Handlung ist: Relativ auf dieses verhält der Böse sich leidend, da es
sich ohne sein Wissen und ohne seine Absicht aus seinem Handeln ergibt; relativ auf
dasjenige, was in seiner Handlung böse ist, gilt dieser passive Charakter jedoch nicht.
Die böse Handlung ist also keine solche, die einem nur widerfährt.
186 Für die Bedeutung dieser Schrift für Schellings Naturphilosophie vgl. Rang 2000,

194–198. Hermanni 1994, 130, sieht zwar den Ursprung des schellingschen Begriffs
des Bösen als einer positiven Verkehrtheit aus dem kantischen Begriff der Realoppo-
sition, lässt aber gerade das Moment des Realitätsunterschiedes beider fallen.
187
Im zweiten Abschnitt seiner Schrift führt Kant selbst eine Vielzahl an Beispielen
solcher Anwendungen an, auch auf dem Feld der Ethik (NG, AA 2, 179–188, bes. 182–
184).

272
Der Begriff des Bösen

satz zu anderen möglichen Handlungen betrachtet wird. Der Satz be-


sagt also, dass es zwar in der bösen Handlung, wie in jeder Handlung,
etwas Positives geben muss, die Handlung aber nur im Gegensatz zu
anderen die Qualität des Bösen erhält. Das negative Gute ist also
nicht bloßer Mangel an Güte, sondern das Böse eine dem Guten ent-
gegengesetzte Kraft (vgl. NG, AA 2, 182).
Kant erläutert den Unterschied zwischen einer negativen Größe
und der Negation einer Größe mit Hilfe des Unterschieds zwischen
realem und logischem Gegensatz. Beide finden zwischen zwei Prädi-
katen statt. Im Fall eines logischen Gegensatzes ist das eine Prädikat
die Negation des anderen: Beide Prädikate sind sich kontradiktorisch
entgegengesetzt. Sie unterscheiden sich demnach dadurch, dass das
eine Prädikat bejahend, das andere verneinend ist. »Die Realrepu-
gnanz beruht auch auf einer Beziehung zweyer Prädikate eben des-
selben Dinges gegen einander; aber diese ist von ganz anderer Art«
als im Fall der logischen Repugnanz (NG, AA 2, 172). Denn »beyde
Prädikate A und B sind bejahend«, nur heben die Folgen des Prädikats
A (= a) die Folgen des Prädikats B (= b) auf (NG, AA 2, 172). Das Plus
und Minus drückt nichts aus, das den Prädikaten an sich anhaften
würde, da beide bejahend (oder positiv) sind. Das Plus und Minus
kommt ihnen nur insofern zu, als sie in Beziehung zueinander gesetzt
werden: »Eine Größe ist in Ansehung einer andern negativ, in so
ferne sie mit ihr nicht anders als durch die Entgegensetzung kann
zusammen genommen werden, nemlich so, daß eine in der andern
so viel ihr gleich ist aufhebt« (NG, AA 2, 174). Man kann denn auch
»keine Größe schlechthin negativ nennen« (NG, AA 2, 174; Herv. v.
Verf.). Eine negative Größe ist immer die negative Größe einer an-
dern. Die Negativität bedeutet somit nicht »eine besondere Art Dinge
ihrer inneren Beschaffenheit nach« oder ihrem Wesen nach, sondern
zeige bloß »dieses Gegenverhältnis« an, »mit gewissen andern Din-
gen die durch + bezeichnet werden in einer Entgegensetzung zusam-
men genommen zu werden« (NG, AA 2, 174). 188
Auch ›gut‹ und ›böse‹ sind Prädikate, nämlich solche, die Hand-
lungen qualifizieren. Fraglich ist allerdings die Realität dieser Prädi-

188 Vgl. Wolff 1981, 67 f.: »Das Negativsein ist demnach keine Eigenschaft von Grö-
ßen; in Wirklichkeit ist es ein bestimmtes Verhältnis und zwar ein Verhältnis der
Entgegensetzung zwischen Gliedern eines Paares, die für sich genommen nicht nega-
tiv, sondern positiv sind. Nur im Verhältnis zum anderen kann man jeweils eins der
beiden positiven Glieder ›negativ‹ nennen«; »Negativität [ist] keine innere Beschaf-
fenheit von Gegenständen, sondern das Bestehen einer Relation«.

273
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

kate bzw. dieser Unterscheidung. Zwar ist es so, dass wir Handlungen
durchgängig danach unterscheiden, wenigstens daraufhin befragen,
ob sie gut oder böse sind. Damit ist noch nicht gesagt, dass diese Be-
wertung auch einen Grund in der Sache selbst oder Realität hat. Das
Böse ist nicht an sich böse, sondern nur in Beziehung auf das Gute
oder im Gegensatz zum Guten. Deshalb war Schelling auch so viel
daran gelegen, zu zeigen, dass sowohl die (böse) Handlung an sich
betrachtet, in der Abstraktion vom handelnden Subjekt, als auch die
(bösen) Absichten und Triebfedern der Handlung etwas Positives
sind, dass aber ihre böse Qualität nicht in diesem Positiven liegt, wo-
durch sie sich nicht von guten Handlungen bzw. Absichten unter-
scheiden, sondern ihnen von anderswoher zuwächst.
Eine negative Größe ist einer anderen nicht kontradiktorisch ent-
gegengesetzt. Zwischen einer Größe und ihrer negativen Größe be-
steht kein logischer Gegensatz, sondern ein ›positiver Gegensatz‹ oder
eine ›Real-Opposition‹. Die negative Größe hebt die andere nicht auf,
sondern lediglich deren Folgen: »Demnach müssen in jeder Realent-
gegensetzung die Prädikate alle beyde positiv seyn, doch so, daß in der
Verknüpfung sich die Folgen in demselben Subjekte gegenseitig auf-
heben« (NG, AA 2, 176). Die Prädikate, die uns hier besonders inte-
ressieren, sind Handlungen, die man einem Subjekt zuschreibt. Diese
Prädikate sind im Fall guter sowohl als böser Handlungen positiv. Das
Böse zeigt sich nicht so sehr an einem Mangel oder Ausbleiben be-
stimmter Handlungen, sondern besonders da, wo es wirklich zu
Handlungen kommt. Aus diesem Grund ist es auch möglich, von
einem Vermögen zum Guten und zum Bösen zu sprechen, insofern
das Vermögen zum Bösen bloß die Folgen des Vermögens zum Guten
aufhebt, nämlich die Handlungen, die sonst aus demselben folgen
würden, und nicht dieses Vermögen selbst, so wie das Vermögen
zum Guten bloß die Folgen des Vermögens zum Bösen aufhebt. Aus
diesem Grund auch müssen beide Vermögen in einem und demselben
Subjekt vorkommen (vgl. NG, AA 2, 176). Das Vermögen zum Guten
hebt zwar die bösen Handlungen auf, nicht aber das Vermögen zum
Bösen selbst in dieser Person, sondern überführt es lediglich in einen
Zustand der Latenz, der es daran hindert, sich zu aktualisieren.
Kant spricht auch von der »Negative[n]« (NG, AA 2, 177). 189 Die
Negative einer Sache ist die Umkehrung derselben, insofern sie die

189So kann »ein Ding die Negative (Sache) von dem andern« sein, also etwas, »was in
einer Realentgegensetzung mit dem andern steht« (NG, AA 2, 175). Hier dürfte auch

274
Der Begriff des Bösen

Folgen der anderen aufhebt, oder die umgekehrte Abbildung der-


selben. 190 Diesen Begriff verwendet Kant zu einer Kritik des Priva-
tionsbegriffs, den er besonders mit Leibniz in Verbindung bringt. 191
Er unterscheidet zwischen einer bloßen Verneinung (Negatio) und
einer Beraubung als dem Fehlen einer Eigenschaft aufgrund eines
positiv entgegengesetzten Grundes (vgl. NG, AA 2, 181). So ist z. B.
der Hass eine negative Liebe, nicht ein Mangel an Liebe, sondern ein
der Liebe real entgegengesetztes Gefühl, dem es zuzuschreiben ist,
dass solche Handlungen, die aus Liebe erfolgen würden, daran gehin-
dert werden, hervorzutreten. Das Böse bezeichnet er ferner als ein
»negatives Gute[s]«, als eine Kraft, die die Folgen des Guten aufhebt
oder die Handlungen, durch welche dieses sich manifestiert (NG, AA
2, 182). Ähnlich wird der Irrtum als eine negative Wahrheit, die Un-
tugend (oder das Laster) als eine negative Tugend bestimmt: »Dieses
innere Gesetz ist ein positiver Grund einer guten Handlung […]. Es
ist also hier eine Beraubung, eine reale Entgegensetzung und nicht
bloß ein Mangel« (NG, AA 2, 182 f.). Auch das Unterlassen einer
guten Handlung ist eine negative Tugend, weil diese Unterlassung
eine positive Kraft erfordert, die das Erfolgen der guten Handlung
wirklich verhindert. Zwar kann man das Böse vorläufig auch als das
Fehlen oder Ausbleiben von guten Handlungen definieren, aber das
Böse selbst besteht nicht so sehr in diesem Ausbleiben von guten
Handlungen, sondern in der Kraft, die daran hindert, dass diese
Handlungen erfolgen. Die Rede von einer Beraubung ist hier denn
auch ganz zutreffend, da die Gegenkraft (das Böse) das Gute daran
hindert, sich in Handlungen zu zeigen und es insofern seiner Folgen
beraubt. Erst wenn man die Beraubung mit dem Begriff der Real-
opposition in Verbindung bringt, erhält sie einen guten Sinn. Kant
bemerkt dazu: »Die Verneinung, in so ferne sie die Folge einer realen
Entgegensetzung ist, will ich Beraubung (privatio) nennen; eine jede

die Wurzel von Schellings Rede von einer Umkehrung oder Verkehrtheit zu suchen
sein.
190 Der Ausdruck wurde der Optik entlehnt: So ist das Bild auf der Retina die Um-

kehrung des wirklichen Gegenstands; von daher auch ein Negativ, wie in der Photo-
graphie.
191 So Wolff 1981, 64. – Gerade den Hauptpunkt seiner Leibniz-Kritik: die Privation

sei nur Negation, hat Schelling demnach von Kant übernommen, genauso wie einige
seiner Beispiele (vgl. z. B. NG, AA 2, 173, 184 f. mit Schelling 1809a, 445 f. / SW VII,
369 f.). Zu beachten ist, dass diese Kritik mit dem Begriff der Realopposition zusam-
menhängt.

275
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Verneinung aber, in so ferne sie nicht aus dieser Art von Repugnanz
entspringt, soll hier ein Mangel (defectus, absentia) heissen« (NG,
AA 2, 177 f.). Auf das Beispiel Schellings angewendet, kann man fra-
gen, wie das Nicht-rund-Sein des Quadrats zu beurteilen ist (vgl.
SW VI, 544). Auf keinen Fall handelt es sich um eine Privation, weil
das Fehlen dieser Eigenschaft nicht auf eine reale Entgegensetzung
zurückzuführen ist. Eigentlich handelt es sich also um einen bloßen
Mangel, der zudem nichts Positives über das Ding aussagt. Wir haben
hier nur eine negative Beschreibung einer positiven Eigenschaft, und
zwar einer solchen, die unmittelbar aus dem Wesen des Dings folgt.
Aus dem Wesen des Quadrats folgt unmittelbar die Eigenschaft des
Quadratisch-Seins, die unmittelbar das Rund-Sein ausschließt. Als
ein weiteres Beispiel führt Schelling die Blindheit an: Auch diese
drückt nur das Fehlen einer Eigenschaft aus, die sich unmittelbar aus
dem Zustand dieses Menschen ergibt. Die Aufhebung der Folgen von
etwas nennt Kant auch seine Herabsetzung auf einem geringeren
Grad (vgl. NG, AA 2, 180). Die Negative resultiert stets in eine Ver-
minderung des Realitätsgrades. Nur insofern zeigt sie sich als eine
wahrhaft entgegengesetzte Kraft. Auch diesen Gedanken nimmt
Schelling auf, wenn er behauptet, dass zwischen dem Bösen und dem
Guten eine graduelle Differenz der Realität nach besteht. 192
Zunächst dürfte es so erscheinen, als ob Schelling in den Philoso-
phischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Frey-
heit sich kritisch auf einen solchen Begriff des Bösen bezieht. In sei-
nen einleitenden Überlegungen hebt er hervor, dass jedes System sich
mit der Schwierigkeit konfrontiert sieht, die Freiheit als »ein Ver-

192 Es scheint mir demzufolge keine entscheidende Differenz zu sein, ob »diese Ord-
nungsverkehrung gradualistisch als Beraubung von Ordnung oder konträr als Ver-
such zur Konstituierung einer Gegenordnung gedeutet wird« (Hermanni 1994, 129).
Beide Deutungen gehen, jedenfalls für Schelling, zusammen: Die zwei möglichen
Vollzugsmodi des Willens sind konträre Möglichkeiten; sie sind sich nicht kontradik-
torisch entgegengesetzt und die eine ist nicht die bloße Negation der anderen. Sie
können aber nichtsdestoweniger nicht zugleich in einem Subjekt realisiert werden:
Das Subjekt hat zwar die Möglichkeit, beide zu realisieren, nicht aber gleichzeitig.
Außerdem hat der eine Vollzugsmodus einen niedrigeren Realitätsgrad als der andere.
Dies wird mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in den Würzburger Vorlesun-
gen herausgearbeitet, bleibt auch in der Freiheitsschrift weiterhin in Kraft. Sonst wäre
nicht zu erklären, wie Schelling behaupten kann, zwar einen positiven Begriff des
Bösen zu entwickeln, wonach das Böse nicht als bloße Negation oder Beraubung des
Guten, sondern als eine konträre Möglichkeit gelten soll, zugleich aber daran festhält,
dass dem Bösen keine eigentliche Realität oder Wesentlichkeit zukommt.

276
Der Begriff des Bösen

mögen des Guten und des Bösen« zu denken. 193 »Am auffallendsten«
tritt dieses Problem in solchen Systemen zu Tage, die sich auf einen
»Begriff der Immanenz« stützen. 194 Diese Bemerkung enthält jedoch
keine Absage an den Begriff der Immanenz, da Schelling zum einen
im Vorhergehenden diesen Begriff gegen mögliche Einwände zu si-
chern gesucht hatte, zum anderen nur darauf hinweist, dass die
Schwierigkeit hier nur sehr auffällig wird, d. h. in anderen Systeme
vielmehr verdeckt bleibt, obwohl sie genauso durch jene Schwierig-
keit getroffen werden. 195 Die Schwierigkeit tritt hier nun deshalb so
klar hervor, da jener Begriff folgende Alternative unausweichlich
macht: Entweder wird die Realität des Bösen behauptet oder nicht.
Im ersten Fall muss Gott unvermeidlich zum Urheber des Bösen ge-
macht werden, »oder es muss auf irgend eine Weise die Realität des
Bösen geläugnet werden, womit aber zugleich der reale Begriff von
Freyheit verschwindet«. 196 Aus der Folge wird klar, dass Schelling für
diese zweite Möglichkeit optiert. 197 Während es ihm im Fall einer Be-
hauptung der Realität des Bösen unmöglich scheint, zu vermeiden,
Gott für das Böse verantwortlich zu machen, so scheint es ihm nicht
schlechthin unvermeidlich, dass mit der Leugnung der Realität des
Bösen auch ›der reale Begriff von Freyheit verschwindet‹, da dies
nur ›auf irgend eine Weise‹ zu geschehen habe. Es kommt somit da-
rauf an, auf welche Weise die Realität des Bösen ›geleugnet‹ wird.
Wenn es unter Annahme der Immanenz eine Chance geben soll, das
Böse zu erklären, dann ›muss auf irgend eine Weise die Realität des
Bösen geläugnet werden‹. Man kann dieser Schwierigkeit dadurch zu
entgehen suchen, dass man die Annahme der Immanenz aufgibt oder
korrigiert. Solche Korrekturversuche erlauben es indessen nicht, der
grundsätzlichen Alternative auszuweichen, die im Falle der Imma-
nenzsysteme nur ›am auffallendsten‹ zu Tage trat. Auch hier er-

193
Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352.
194 Schelling 1809a, 422 / SW VII, 353.
195
Wenn Schelling später bemerkt, das »[z]uerst […] der Begriff der Immanenz völlig
zu beseitigen [ist]«, dann schränkt er diese entschiedene Absage doch sogleich inso-
fern wieder ein, als nur die Immanenz, »inwiefern etwa dadurch ein todtes Begriffen-
seyn der Dinge in Gott ausgedrückt werden soll«, davon betroffen ist. Diesen Begriff
der Immanenz hatte er aber bereits vorher »völlig beseitig[t]« (Schelling 1809a, 431 /
SW VII, 358; vgl. Schelling 1809a, 405 f., 409–415, bes. 412 / SW VII, 340 f., 343–347,
bes. 345).
196
Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353.
197 Schelling hebt wiederholt hervor, dass das Böse »nichts Wesenhaftes« sei (Schel-

ling 1809a, 441, 447 / SW VII, 366, 370).

277
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

scheint »Gott unläugbar als Miturheber des Bösen«. 198 Um diese Fol-
ge zu umgehen, »muss« auch hier »auf die eine oder die andere Art
die Realität des Bösen geläugnet werden«. 199 Gleich anschließend
skizziert Schelling, wie die Realität des Bösen geleugnet werden kann,
ohne dass das Böse und damit der reale Begriff der Freiheit dadurch
verschwinden. Durch die Annahme, dass im Bösen etwas Positives
sei, dieses Positive von Gott komme, dieses Positive im Bösen aber
nicht selbst das Böse, sondern gut ist, »verschwindet das Böse nicht,
ob es gleich auch nicht erklärt wird«. 200 Damit ist die Aufgabe be-
zeichnet, die Herkunft der »Basis«, »das, worin dieses Seyende ist«,
zu erklären. Diese Frage nach der Herkunft dieser ›Basis‹ wird Schel-
ling in der Folge mittels der Unterscheidung von Grund von Existenz
und Existierendem sowie der Behauptung der Zertrennlichkeit der
Prinzipien im Menschen zu lösen versuchen. Nachdem er diese Auf-
gabe formuliert hat, sucht er noch die Behauptung, wonach das Posi-
tive im Bösen gut ist, d. h. die Leugnung der Realität des Bösen, gegen
mögliche Missverständnisse zu wahren. Die Leugnung der Realität
des Bösen bedeutet nicht, dass »im Bösen überall nichts Positives sey«
oder dass »es gar nicht […] existire«. 201 Schelling hält sich hier somit
an die Ergebnisse, die er bereits in den Würzburger Vorlesungen
mitgeteilt hatte: In allem Handeln, sowohl in guten als in bösen
Handlungen, ist ein Positives. Aber die böse Handlung ist nicht durch
dieses Positive böse. Den Unterschied zwischen guten und bösen
Handlungen bringt er dort mit den differenten Realitätsgraden der
Handlungen in Verbindung. Auf diese Lösung scheint Schelling sich
nun in der Freiheitsschrift kritisch zu beziehen, wenn er die Behaup-
tung, dass »im Bösen überall nichts Positives sey« oder dass »es gar
nicht […] existire«, dadurch erläutert, dass »alle Handlungen mehr
oder weniger positiv, und der Unterschied derselben ein blosses Plus
und Minus der Vollkommenheit sey, wodurch kein Gegensatz be-
gründet wird, und also das Böse gänzlich verschwindet«. 202 Und er
fügt noch hinzu:
Dann wäre die Kraft, die im Bösen sich zeigt, zwar vergleichungsweise
unvollkommner, als die, welche im Guten; an sich aber, oder ausser der

198 Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353.


199 Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353; Herv. v. Verf.
200
Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353; Herv. v. Verf.
201 Schelling 1809a, 423 f. / SW VII, 353.
202
Schelling 1809a, 424 / SW VII, 353 f.

278
Der Begriff des Bösen

Vergleichung betrachtet, doch selbst eine Vollkommenheit, die also, wie


jede andre, von Gott abgeleitet werden muss. Das, was wir Böses daran
nennen, ist nur der geringere Grad der Perfektion, der aber bloss für
unsre Vergleichung als ein Mangel erscheint; in der Natur keiner ist. 203
Die Realitätsdifferenzen waren aber nicht lediglich solche für unsere
Betrachtung, sondern in der Natur begründete oder ›objektive‹ Diffe-
renzen.
Die bisherigen Erklärungsversuche sind, Schelling zufolge, bereits
daran gescheitert, dass sie sich an einem unzureichenden Begriff des
Bösen orientierten. 204 Der Fehler liegt somit nicht erst in der Art, wie
man das Problem zu lösen gesucht habe, sondern bereits in der For-
mulierung der Aufgabe, die man dabei zugrunde gelegt hat. Der ge-
läufige Begriff des Bösen ist ungenügend, gerade weil er dem Bösen
Realität zuschreibt. Dies dürfte verwundern, da nach einer geläufigen
Ansicht das Verdienst der Freiheitsschrift gerade darin besteht, zum
ersten Mal die Positivität des Bösen hervorgehoben zu haben. Die
Rede von einem ›positiven Bösen‹ zur Charakterisierung des schel-
lingschen Begriffs ist indessen leicht irreführend, da er nahelegt, dass
damit eine Realität des Bösen behauptet wird. Diese Missverständ-
lichkeit ist desto gravierender, da er eine grundlegende Unterschei-
dung verschleiert, die den Blick auf die hier von Schelling formulierte
Aufgabe zu verstellen droht, und damit an einer richtigen Einschät-
zung seines Lösungsversuchs insgesamt hindern könnte. Schelling
bemerkt in der Tat, dass das Böse »als positive[r] Gegensatz« des Gu-
ten gedacht werden muss und ferner, dass »der Grund des Bösen« »in
dem höchstem Positiven liegen [muss]«. 205 Damit ist indessen nicht
gesagt, dass das Böse selbst etwas Positives, geschweige denn das
höchste Positive wäre. Vielmehr heißt es unzweideutig und wieder-
holt, dass das Böse »kein Wesen [ist], sondern ein Unwesen, das nur
im Gegensatz eine Realität hat, nicht an sich«. 206 So bildet die Krank-
heit gerade deshalb ein ausgezeichnetes Modell für das Böse, weil
auch sie »nichts Wesenhaftes und eigentlich nur ein Scheinbild des
Lebens und bloss meteorische Erscheinung desselben« ist, »nichts
destoweniger aber dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankün-

203 Schelling 1809a, 424 / SW VII, 354.


204
Vgl. Schelling 1809a, 442–450 / SW VII, 367–373.
205 Schelling 1809a, 443, 445 / SW VII, 367, 369; Herv. v. Verf.
206
Schelling 1809a, 501 / SW VII, 409; Herv. v. Verf.

279
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

digt«. 207 Zwar kündigt das Böse sich dem Gefühl als ›etwas sehr Reel-
les‹ an, dieses Gefühl darf dennoch nicht dazu verführen, dem Bösen
auch wirklich Realität zuzuschreiben, statt in ihm ein bloßes ›Un-
wesen‹ oder ›Scheinbild‹ zu sehen. Außerdem würden wir durch die
Annahme der Realität des Bösen jenes Gefühl selbst unangemessen
interpretieren – und eine solche sachgerechte Interpretation des Ge-
fühls hat die Freiheitsschrift sich u. a. zum Ziel gesetzt. 208 Damit hat
die Aufgabe sich bereits erheblich kompliziert: Zwar muss das Böse so
erklärt werden, dass deutlich wird, weshalb es an sich keine Realität
hat und ihm nur ein Schein von Realität zukommt, zugleich muss
aber ebenso erklärt werden, weshalb es sich dem Gefühl dennoch als
›etwas sehr Reelles ankündigt‹. 209 Gelingt es jedoch, auch letztere
Aufgabe zu lösen, dann hat man, außer den systematischen Schwie-
rigkeiten, die man an solchen Erklärungsversuchen, die die Realität
des Bösen voraussetzen, nachweisen kann, ein zusätzliches Argument
darin, dass man gezeigt hat, woher diese Voraussetzung selbst ihren
Ursprung hat. So kann man dem Gefühl Recht widerfahren lassen,
indem man zeigt, woher es kommt und worauf es deutet, ohne dazu
genötigt zu sein, das Selbstverständnis zu akzeptieren, das dieses Ge-
fühl zunächst und zumeist begleitet. Zur Lösung dieser Aufgabe
führt Schelling nun eben den Begriff eines positiven Gegensatzes ein,
d. h. er greift hier, genauso wie in den Würzburger Vorlesungen, auf
den kantischen Begriff der Realopposition zurück.
Wenn es in der Freiheitsschrift heißt:
Es entspringt diese Erklärungsart überhaupt aus dem unlebendigen Be-
griff des Positiven, nach welchem ihm nur die Beraubung entgegenste-
hen kann. Allein es giebt noch einen mittleren Begriff, der einen reellen
Gegensatz desselben bildet, und von dem Begriff des bloss Verneinten
weit absteht[,]
dann fasst Schelling damit den Kerngedanken der kantischen Schrift
über die negative Größe zusammen. 210 Es gibt einen unlebendigen

207 Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.; vgl. Schelling 1809a, 460 /
SW VII, 379. Vgl. Buchheim 1997, 132 zu dieser Stelle: »›Meteorisch‹ bedeutet
›schwebend‹ ; ohne eigene Fundamente: das Böse kann sich nur durch den Mißbrauch
fremder Kräfte ein Fundament für seine parasitäre Wirklichkeit verschaffen«.
208 Vgl. Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336.

209 Dieses Gefühl ist, insofern es das Böse betrifft, ein solches der Abscheu (vgl. Schel-

ling 1809a, 456 / SW VII, 376) und des Schreckens und des Horrors (vgl. Schelling
1809a, 476 / SW VII, 391).
210
Schelling 1809a, 447 / SW VII, 370.

280
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

Begriff des Positiven, dessen unlebendiger Charakter sich daran zeigt,


dass man es nur der Beraubung entgegensetzt. Zwischen dem unle-
bendigen Positiven und der Beraubung gibt es jedoch nur eine logi-
sche Opposition: A und – A. Der ›reelle Gegensatz‹ hingegen bildet
einen ›mittleren Begriff‹ zwischen dem unlebendigen Positiven und
der Beraubung: Wenn das Positive (A) in einem reellen Gegensatz zu
etwas stehen soll, dann kann dieses nicht = – A, sondern es muss ein
anderes Positives sein (B): A – B. Dabei muss B als die Umkehrung
des A gedacht werden, insofern B derart verfasst ist, dass es die Folgen
von A (partiell oder auch vollständig) aufzuheben vermag. Die Ver-
fassung von B muss somit – nur unter einem negativen Zeichen – der
Verfassung von A entsprechen, da es sonst dessen Folgen gar nicht
aufzuheben vermöchte. Von einem mittleren Begriff kann auch des-
halb die Rede sein, weil der reelle Gegensatz selbst (nach Kant) in
einer Beraubung resultiert: Der reelle Gegensatz zwischen 100 Talern
Schulden und 100 Talern Gewinn ist 0, also in der Tat ein Mangel
(Zero) an Geld. Doch ist dieser Mangel oder diese Beraubung kein
bloßer Mangel, sondern Resultat eines Gegensatzes. Zwar ist im Bö-
sen ein Mangel oder eine Privation festzustellen, nämlich der Mangel
eines Strebens nach dem Guten. Aber, so könnte man mit Kant sagen:
Dieser Mangel muss einen positiven Grund haben. Um dies zu erläu-
tern, führt Kant folgendes Beispiel an: Wenn ich vorher nie an die
Sonne gedacht habe, dann ist das jetzige Fehlen des Gedankens der
Sonne nur als ein Mangel zu beschreiben. Wenn ich aber vorher an
die Sonne gedacht habe, dann ist das jetzige Fehlen dieses Gedankens
nicht aus einer bloßen Privation zu erklären. Zwar bin ich jetzt dieses
Gedankens beraubt; für diese Beraubung muss es einen positiven
Grund geben, ein anderer Gedanke, der jenen aus meinen Geist ver-
drängt hat (vgl. NG, AA 2, 190).

6. Schellings Begriff der Tugend:


Identität von Freiheit und Notwendigkeit

Nachdem Schelling im dritten Abschnitt von Philosophie und Reli-


gion zunächst Eschenmayers Einwände referiert hat, geht er dazu
über, seine eigene »Vorstellung« zu entwickeln oder vielmehr einige
der im ersten und zweiten Abschnitt entwickelten Theoriestücke in
Erinnerung zu rufen, die sich gegen jene Einwände anführen lie-

281
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ßen. 211 Als wichtigstes Ergebnis des Vorhergehenden streicht er da-


bei erneut das »Verhältniss von Möglichkeit und Wirklichkeit« des
Abfalls heraus. 212 Diese Unterscheidung ermöglicht es, die Erschei-
nung der Freiheit in der Erscheinungswelt zu erklären. Um dies
nachzuweisen, geht Schelling unvermittelt zu einer Erörterung des
Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit über. Die Formel
einer Identität von Freiheit und Notwendigkeit ist dem Leser aus
früheren Schriften Schellings geläufig, wenn sie dort auch unter-
bestimmt bleibt. Jedenfalls lässt Schelling keinen Zweifel daran, dass
die Freiheit sich nur insofern in einem philosophischen System in-
tegrieren lässt, als es gelingt, ihre Identität mit der Notwendigkeit
nachzuweisen. Damit hat er zunächst nur eine Anforderung formu-
liert, die jedoch bereits einen kritischen Gebrauch erlaubt, indem sie
sich gegen solche Erklärungsversuche wenden lässt, die einen Ge-
gensatz beider annehmen oder implizieren. 213 Ein solches kritisches
Verfahren lässt allerdings noch offen, wie Schelling selbst diese
Identität verstanden haben will. Zur Erläuterung unterscheidet
Schelling einen dreifachen Sinn von ›Notwendigkeit‹ und ›Freiheit‹.
Zunächst geht er auf die Notwendigkeit ein, die im »Seyn der
Seele in der Ureinheit« oder in der Idee impliziert ist: Ihrer Möglich-
keit oder idealen Verfassung nach ist die Seele in der Idee vorgezeich-
net. 214 Ihr kommen insofern, bloß aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu
einer Idee oder Potenz, invariante ›Eigenschaften‹ zu. Insofern jede
Idee als Darstellung des Absoluten zugleich von diesem abgehoben
ist, kann man sie auch als eine Form von Freiheit bezeichnen, die
man eine noch ungebundene Freiheit nennen kann, da es noch keine
Instanz gibt, der die Freiheit als ein Prädikat zugeschrieben werden
könnte. 215 Die Rede von Freiheit ist jedoch bereits hier berechtigt,
indem jede Potenz einen Spielraum umreißt, in welchem ein Einzel-
ding, wenn es auch wirklich existiert, eingebunden ist, und der zu-
gleich die Spannweite absteckt, in welcher es sich entfalten kann. So
sind einer Pflanze als Fall einer Potenz zwar gewisse Möglichkeiten

211 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51.


212 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.
213 Vgl. die Auseinandersetzung mit Joseph Rückert und Christian Weiß. Da diese

ebenfalls eine Identität von Freiheit und Notwendigkeit behaupten, erlaubt die Deu-
tung dieser Identität Schelling, zu zeigen, wie er sie jedenfalls nicht verstanden haben
möchte (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105).
214 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.

215
Vgl. Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39.

282
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

eröffnet, zugleich aber auch andere Möglichkeiten geraubt, wie z. B.


solche, die in der Potenz eines tierischen Organismus impliziert sind.
Diese Sphäre kann sie zwar nicht überschreiten, ohne dass dies als
eine Beschränkung anzusehen ist. Diese Notwendigkeit kann deshalb
für die Seele »keine reale Nothwendigkeit« sein. 216 ›Notwendigkeit‹
und ›Freiheit‹ sind hier identisch.
Für die Betrachtungsweise, die die Seele nicht nur, insofern sie in
der Idee enthalten ist, betrachtet, sondern auch insofern das der Idee
»entsprechende Endliche« auch wirklich existiert, treten Freiheit und
Notwendigkeit auseinander. 217 Daraus ergeben sich zwei weitere Be-
deutungen von ›Notwendigkeit‹ und ›Freiheit‹, da beide nach der Fi-
gur der quantitativen Differenz in zweierlei Verhältnisse zueinander
treten können. Die Freiheit erscheint hier, zum einen, als an ein Sub-
jekt gebunden. Dieses ist für die Behauptung seiner Freiheit darauf
angewiesen, sich auf die Umstände, in welchen es sich findet, ein-
zulassen und in sie einzugreifen. Das handelnde Subjekt ist als Ur-
sache einer Handlung Teil einer Kette von Ursachen und Wirkungen.
Deshalb nimmt die Notwendigkeit hier die Gestalt einer Negation
oder Einschränkung der Freiheit an, sodass die Rede von einer ›end-
lichen Freiheit‹ für diese Betrachtungsweise berechtigt ist. Zudem
zeichnet sich in seinen Handlungen nach und nach eine ihm verbor-
gene, nicht in das Bewusstsein eintretende Notwendigkeit ab, inso-
fern es die Folgen seiner Handlungen nicht vollständig kontrollieren
kann und seine Handlungen eine Art Eigenleben entfalten. Gerade
dieses Nicht-Erscheinen oder dieser Rückzug der Notwendigkeit er-
möglicht die Überzeugung, frei zu handeln. Insofern wäre diese Ge-
stalt der Freiheit (die Willkür) auch als eine Täuschung zu bezeichnen
oder als ein mit dem Bewusstsein gleichursprünglicher Schein. 218 Ge-
gen den ›scheinhaften‹ Charakter dieser Gestalt der Freiheit lassen
sich demnach keine Argumente anführen, die sich auf das Bewusst-
sein, auf die Introspektion oder auf die Selbsterfahrung des Men-
schen stützen. 219 Vielmehr droht die Frage nach der Freiheit selbst

216 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.


217 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
218 Interessanterweise erweist dieses Problem sich für Schelling erst im Zusammen-

hang der Geschichte als besonders dringlich, und nicht, wie durch die Art, wie die
heutige Debatte über menschliche Freiheit meistens geführt wird, nahegelegt, im Zu-
sammenhang der Natur (vgl. AA I,9,1, 292–303).
219 Eine aufmerksamere Selbstbeobachtung kann allerdings bereits zur Einsicht in

den scheinhaften Charakter der Willkürfreiheit gelangen (vgl. SW VI, 551 (§ 307)).

283
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ihr Gewicht und ihre Dringlichkeit zu verlieren, sobald man die Ver-
wicklung der Freiheit als Willkür mit der Notwendigkeit auf irgend-
eine Weise herunterspielt. Eine Freiheit, die sich durch eine solche
Notwendigkeit nicht mehr beunruhigen lässt, wird dadurch zur blo-
ßen Beliebigkeit, die darum nicht weniger eine Notwendigkeit voll-
zieht, von der sie nichts zu wissen vorzieht. Dass jene Überzeugung
sich als täuschend oder wenigstens überzogen erweist, braucht aller-
dings noch nicht zu besagen, dass die Notwendigkeit, die sich auf jene
Weise durchsetzt, auch ohne jene Überzeugung sich durchsetzen
könnte. Nur insofern die Individuen von der Freiheit ihres Handelns
überzeugt sind, kann jene Notwendigkeit selbst sich überhaupt
durchsetzen. In diesem Sinne kann somit immer noch von einer Iden-
tität von Freiheit und Notwendigkeit gesprochen werden, da die Not-
wendigkeit die Freiheit keineswegs direkt aufhebt oder überflüssig
macht. Jene ›Illusion‹ ist somit ein Phänomen eigenen Rechts.
Zum anderen stellt sich jedoch die Frage, ob und wie »die Seele
[…] sich der endlichen Nothwendigkeit entziehe[n]« kann, ob und
wie sie eine Distanz gewinnen kann zu den Kontexten, in welchen
sie sich findet. 220 Wenn die endliche Notwendigkeit mit der Freiheit
als Willkür gleichursprünglich ist, dann bedeutet die Frage zugleich,
wie die Seele in den Genuss einer anderen Freiheit als derjenigen der
Willkür gelangen kann. Um diese Frage zu beantworten, erläutert
Schelling das Verhältnis der endlichen zur absoluten Notwendigkeit.
Diejenige Seele, die »in der Identität mit dem Unendlichen« ist, »er-
hebt sich« dadurch über diejenige »Nothwendigkeit, die der Freyheit
entgegenstrebt«, und zwar zu derjenigen Notwendigkeit, »welche die
absolute Freyheit selbst ist«. 221 Die Zusammengehörigkeit von Frei-
heit als Willkür und endlicher Notwendigkeit lässt sich somit nur auf
eine Identität von absoluter Freiheit und absoluter Notwendigkeit hin
überschreiten. Diese ›Identität mit dem Unendlichen‹, die zugleich
Erhebung über die endliche zur absoluten Notwendigkeit ist, voll-
zieht sich in erster Linie im Wissen. Dieses Wissen oder diese Er-
kenntnis bezeichnet Schelling hier auch als Religion.
Der von Schelling in der ersten Hälfte des dritten Abschnitts skiz-
zierte Gedankengang gipfelt befremdlicherweise in einer Bestim-
mung der Religion. Diese wird zudem überraschenderweise als eine
Form der Erkenntnis bestimmt. Schelling schreibt: »Religion, als Er-

220 Schelling 1804, 56 f. / SW VI, 52.


221
Schelling 1804, 57 / SW VI, 52 f.

284
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

kenntniss des schlechthin-Idealen schliesst sich nicht an diese Begrif-


fe an, sondern geht ihnen vielmehr voraus und ist ihr Grund«. 222 Die
von Schelling gemeinten ›Begriffe‹ beziehen sich auf den Unterschied
zwischen der Seele samt dem durch sie Produziertem (oder der Seele
als bloßem »Werkzeug der Ideen«) und der Seele in ihrer »Identität
mit dem Unendlichen«. 223 Dementsprechend unterscheidet Schelling
zwei Gestalten oder Potenzen von Religion oder Religiosität: Nach
der ersten wird Gott oder das schlechthin Ideale als Schicksal erkannt,
nach der anderen als Vorsehung.
(1.) Wie gesagt wird die Seele als ein wesentlich produktives Prin-
zip verstanden, wenn Schelling auch zwei Modi des Produzierens un-
terscheidet. Im ersten Modus bringt die Seele nur Endliches hervor.
Das Schlechthin-Ideale wird gerade dann als Schicksal erkannt, wenn
die Seele ihre Verwicklung mit dem Endlichen selbst dadurch er-
kennt, dass ihr zum Bewusstsein kommt, dass sie in der Produktion
von Endlichem, durch welche sie nur ihre eigene Freiheit zu realisie-

222 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53. Innerhalb des 11. Absatzes, der dieser Bestim-
mung gewidmet ist, kommt das Substantiv ›Erkenntniss‹ einmal, das Verb ›erkennen‹
viermal vor. Diese Bestimmung der Religion richtet sich gegen Eschenmayers Be-
hauptung, dass »sich die Philosophie in der Religion [endigt]« (Eschenmayer 1803,
104 (§ 98)). In den Würzburger Vorlesungen tritt die Bezugnahme noch klarer hervor,
da Schelling seine Bestimmung der Religion dort von solchen Bestimmungen absetzt,
die er mit für Eschenmayer typischen Ausdrücken charakterisiert (vgl. SW VI, 558
(§ 310)). Dort wird auch die Bedeutung der Erkenntnis oder der Idee Gottes als Achse
oder Wendepunkt noch deutlicher als in Philosophie und Religion (vgl. SW VI, 561–
565 (§ 312 f.)). Die Betonung der Bedeutung der Erkenntnis fehlt übrigens auch in den
Philosophischen Untersuchungen nicht: »Wir haben gesehen, wie durch falsche Ein-
bildung und nach dem Nichtseyenden sich richtende Erkenntniss der Geist des Men-
schen dem Geist der Lüge und Falschheit sich öffnet, und bald von ihm fascinirt der
anfänglichen Freyheit verlustig wird. Hieraus folgt, dass im Gegentheil das wahre
Gute nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden könne, nämlich durch die un-
mittelbare Gegenwart des Seyenden im Bewusstseyn und der Erkenntniss. Ein will-
kührliches Gutes ist so unmöglich als ein willkührliches Böses. Die wahre Freyheit ist
im Einklang mit einer heiligen Nothwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen
Erkenntniss empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden,
freywillig bejahen, was nothwendig ist« (Schelling 1809a, 476 f. / SW VII, 391 f.;
Herv. v. Verf.). Unter »Religiosität« versteht Schelling »nicht, was ein krankhaftes
Zeitalter so nennt, müssiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlen-wollen des
Göttlichen. Denn Gott ist in uns die klare Erkenntniss oder das geistige Licht selber, in
welchem erst alles andre klar wird, weit entfernt, dass es selbst unklar seyn sollte; und
in wem diese Erkenntniss ist, den lässt sie wahrlich nicht müssig seyn oder feyern«
(Schelling 1809a,: 477 f. / SW VII, 392; Herv. v. Verf.).
223
Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.

285
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ren meinte, doch nur Werkzeug der Notwendigkeit ist, die durch sie
hindurch wirkt. 224 Die Seele oder der Wille für sich betrachtet ist auf
ein einziges Ziel ausgerichtet, nämlich die Identität des Individuums
mit sich selbst hervorzubringen (vgl. SW VI, 562 (§ 313)). Alle Ziele,
die es sich setzt, erweisen sich letztlich nur als Mittel zur Erreichung
jenes einen Ziels. Das in diesem Sinne ›höchste Ziel‹ kann sie indessen
nur indirekt intendieren. Es ist nie das direkte Ziel des Willens, son-
dern alles Wollen ist als solches auf dieses Ziel ausgerichtet. 225 Auch
noch als irrender Wille bleibt der Wille auf jenes Ziel ausgerichtet. Es
steht demnach gar nicht zu seiner Disposition, sich dieses Ziel zu
setzen oder nicht. Aus diesem Grund ist übrigens auch die »Dishar-
monie« nicht als eine »Privation« oder als ein Fehlen der Harmonie,
sondern als »die falsche Einheit derselben« zu denken. 226 Jedenfalls ist
die Welt so eingerichtet, dass sie das Erreichen jenes Ziels der Identi-
tät zwar nicht schlechthin verhindert, wohl aber, dass es auf bestimm-
te Wege zu erreichen sei. So schließt das Vorherrschen des Eigenwil-
len die Seligkeit oder Identität schlechthin aus. 227 Der so strukturierte
Wille verfehlt notwendigerweise sein eigentliches oder höchstes Ziel,
die Identität mit sich selbst, und resultiert demnach notwendigerwei-
se in einem falschen Leben. Gerade darin, dass ein derart strukturier-
ter Wille daran scheitert, sein eigentliches Ziel zu erreichen, zeigt sich
noch eine Spur der Identität auch in der abgebildeten Welt. Die Ein-
sicht in den notwendigen Charakter dieses Scheiterns ist die Erfah-
rung der Identität als Schicksal. Die Erfahrung der Identität als
Schicksal setzt somit den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit
voraus (vgl. SW V, 688). Insofern beide im Einklang sind und alle
äußeren Umstände sozusagen zusammenlaufen, um die Absichten
der Freiheit zum glücklichen Erfolg zu führen, erscheint die Notwen-
digkeit nicht als Schicksal, sondern eher als Glück, Gunst, als glück-

224 Im System des transscendentalen Idealismus wurde diese Verwicklung ausführ-


lich erörtert (vgl. AA I,9,1, 255–279).
225 Es ist unschwer zu sehen, wie bereits diese Analyse des Wollens eine bestimmte

Zeitkonzeption impliziert: Insofern der Wille auf jene Identität ausgerichtet ist, ist
diese dadurch als etwas Vergangenes und als etwas Zukünftiges gesetzt. Die Gegen-
wart ist dadurch als ein Abfall oder ein Verlust einer ursprünglichen Identität gesetzt,
die nur durch eigene Leistung wiedererlangt werden kann.
226 Schelling 1809a, 448 / SW VII, 371.

227
Schelling scheint sich auch hier der platonischen Lehre anzuschließen, die Wolf-
gang Wieland als einer solchen des irrenden Willens analysiert hat (vgl. Wieland
1982, 263–280).

286
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit

licher Zufall, insofern sie dasjenige, was die Freiheit aus eigener Kraft
nicht zu leisten fähig ist, hinzubringt, da der Erfolg ihrer Unterneh-
mungen immer auch von äußeren Umständen abhängt, die sie nicht
in ihrer Gewalt hat. Als Schicksal wird die Notwendigkeit dort erfah-
ren, wo sie der Freiheit entgegengesetzt ist und sie durchkreuzt. Sie
wird demnach als eine Art Zwang empfunden. Die Erfahrung des
Schicksals geht insofern bereits darüber hinaus, als darin zugleich
der Gegensatz und die Identität empfunden wird. Diese Verwicklung
zu erkennen heißt, dass die Seele zugleich zu einer Erkenntnis ihrer
selbst (als endlich) und des Absoluten (als Schicksal) gelangt. Insofern
die Seele Werkzeug des Absoluten ist, hat sie zum Absoluten nur ein
indirektes Verhältnis, nämlich als zum Grund ihrer Existenz: Die
»absolute Identität« ist »unabhängig von allem Handeln, […] als das
Wesen oder An-sich alles Handelns«. 228 Im Handeln selbst bekundet
sich die Identität und gibt sich zugleich als von allem Handeln un-
abhängig zu erkennen.
(2.) Die Identität von Freiheit und Notwendigkeit zu erkennen ist
der »erste Grund der Sittlichkeit«. 229 Die beiden Weisen, wie jene
Identität erkannt werden kann, stehen nämlich in einem bestimmten
Verhältnis, sodass die Erkenntnis der ersten Weise Grundlage und
Voraussetzung der Erkenntnis der zweiten ist. Von der Erkenntnis
jener Identität als Schicksal ist es nur ein Schritt, jene Identität auch
als Vorsehung zu erfahren. Die Erkenntnis jener Identität als Vor-
sehung vollzieht sich als die Einsicht, dass der Wille nur aufgrund
seiner widersprüchlichen Verfassung daran scheitert, sein ›höchstes
Ziel‹ zu erreichen, oder als die Einsicht, dass in der Einrichtung auch
der ideellen Welt Weisheit oder Vernunft waltet. Auch insofern sie
als Vorsehung erkannt wird, ist die Identität von Freiheit und Not-
wendigkeit in dieser Gestalt vom Handeln unabhängig. Dort, wo
Schelling seine Konzeption der Tugend näher präzisiert, wird klar,
dass die Vorsehung in der Identität oder Entsprechung von Sittlich-
keit und Glückseligkeit besteht. Der Begriff einer ›Vorsehung‹ ver-
langt, wie wir noch sehen werden, zu seiner Vervollständigung, dass
nicht nur der Einzelne, sondern die ganze Gattung in derselben ein-
bezogen ist.
Mit dieser Bestimmung der Religion verknüpft Schelling im fol-
genden Absatz die Folgerung, dass in keinem der beiden Fälle Gott als

228 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.


229
Schelling 1804, 57 / SW VI, 53; Herv. v. Verf.

287
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

eine »Foderung« oder Postulat der Moral gedacht wird. 230 Nachdem
er sich bislang sittlicher Begriffe bedient hatte, hebt Schelling jetzt
hervor, dass Religion die eigentliche Grundlage derselben ist. Den
beiden Formen der Sittlichkeit entsprechen zwei Gestalten von Reli-
gion. Beachtet man die doppelte Weise, wie Gott erkannt werden
kann, nämlich als Schicksal oder als Vorsehung, dann dürfte es auch
weniger verwundern, wenn Schelling ein wenig später bemerkt, dass
nur der, der Gott, »auf welche Weise es sey«, und das heißt hier:
gleichgültig, ob er ihn auf die erste Weise, als Schicksal, oder auf die
zweite Weise, als Vorsehung, »erkennt«, »erst wahrhaft sittlich«
ist. 231 Der Unterschied der Erkenntnisweise und demnach zwischen
Schicksal und Vorsehung ist für die Sittlichkeit somit zunächst indif-
ferent. Derjenige, der Gott so oder so erkennt, ist wahrhaft sittlich,
erstens, »weil das Wesen Gottes und das der Sittlichkeit Ein Wesen
ist«, und, zweitens, »weil dieses [dieses Wesen als gleiches Wesen
Gottes und der Sittlichkeit, R. S.] in seinen Handlungen ausdrücken
eben so viel ist als das Wesen Gottes ausdrücken«. 232

7. Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Bislang hat Schelling gezeigt, wie die Freiheit und die Tugend sich
mittels der grundlegenden Unterscheidung des Grundes der Möglich-
keit und der Wirklichkeit des Abfalls in sein System integrieren las-
sen: Ob die einzelne Seele den Abfall rückgängig macht und die in
ihrer Natur vorbehaltene Wesenserfüllung auch realisiert, kann nur
ihr selbst zugeschrieben werden. Dadurch erhält die doppelte Mög-
lichkeit auch eine sittliche Bedeutung. Die Verwirklichung des eige-
nen Wesenspotentials geschieht demnach aus Freiheit. Diese Mög-
lichkeit tendiert somit nicht aus sich selbst zu ihrer Verwirklichung.
An diesem Punkt von Philosophie und Religion gibt Schelling diesem
Gedanken eine überraschende neue Wendung: Wenn der Grund der
Wirklichkeit des Abfalls bzw. der Wiederherstellung der Absolutheit
nicht ausschließlich in der einzelnen Seele läge, sondern im Absolu-

230 In seinem System wird also nicht »die Religion aus der Moral« abgeleitet, wie bei
Eschenmayer 1803, 35 (§ 45), 43 (§ 51): Die Religion ist »Grund der Sittlichkeit« und
nicht umgekehrt (Schelling 1804, 57 / SW VI, 53).
231 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.

232
Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.

288
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

ten selbst, dann würde diese Möglichkeit sich eo ipso verwirklichen,


ohne eigenen Beitrag der einzelnen Seele. Stattdessen ist der Mensch
zwar der Möglichkeit nach vernünftig, aber durch seine bloße Exis-
tenz noch nicht auch wirklich vernünftig. Vielmehr bedarf er der Er-
ziehung, um diese in seiner Natur liegende Möglichkeit auch realisie-
ren zu können. Damit scheint nun das Gelingen oder Nicht-Gelingen
nicht mehr nur vom einzelnen Menschen, sondern von der ganzen
Gattung abzuhängen. Gerade an diesem Punkt zeigt sich eine enge
Verflechtung des Individuums mit der ganzen Gattung. Für diese Be-
hauptung stützt Schelling sich auf die Beobachtung der Menschheit
in ihrer gegenwärtigen Gestalt:
Die Erfahrung spricht zu laut aus, dass der Mensch, wie er jetzt er-
scheint, der Bildung und Gewöhnung durch schon Gebildete bedarf,
um zur Vernunft zu erwachen und dass Mangel der Erziehung zur Ver-
nunft in ihm auch bloss thierische Anlagen und Instincte sich ent-
wickeln lässt: als dass der Gedanke als möglich erschiene: das gegenwär-
tige Menschengeschlecht habe sich von sich selbst aus der Thierheit und
dem Instinct zur Vernunft und zur Freyheit emporgehoben. 233
Schelling erwägt damit die Hypothese, wonach das Menschen-
geschlecht in seiner jetzigen Verfassung, wie diese sich der genaueren
Beobachtung oder der Erfahrung erschließt, ›sich von sich selbst aus
der Thierheit und dem Instinct zur Vernunft und zur Freyheit empor-
gehoben‹ hätte. Nähere Überlegung zeigt jedoch, dass diese Hypothe-
se nicht genügt. In der Erfahrung zeigt sich nämlich keine solche
natürliche Tendenz von der ›Thierheit‹ zur Vernünftigkeit. 234 Dies

233 Schelling 1804, 65 / SW VI, 57 f.; Herv. v. Verf. Vgl.: »daß der erste Ursprung der
Religion überhaupt, so wie jeder andern Erkenntniß und Cultur allein aus dem Unter-
richt höherer Naturen begreiflich ist, alle Religion also in ihrem ersten Daseyn schon
Ueberlieferung war« (Schelling 1803a, 167 / SW V, 286).
234
»Es wäre hier nicht der Ort, mit allen Gründen, deren diese Behauptung fähig ist,
zu beweisen, daß alle Wissenschaft und Kunst des gegenwärtigen Menschen-
geschlechts eine überlieferte ist. Es ist undenkbar, daß der Mensch, wie er jetzt er-
scheint, durch sich selbst sich vom Instinct zum Bewußtseyn, von der Thierheit zur
Vernünftigkeit erhoben habe. Es mußte also dem gegenwärtigen Menschengeschlecht
ein anderes vorgegangen seyn, welches die alte Sage unter dem Bilde der Götter und
ersten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts verewigt hat. Die Hypothese eines
Urvolks erklärt bloß etwa die Spuren einer hohen Kultur in der Vorwelt, von der wir
die schon entstellten Reste nach der ersten Trennung der Völker finden, und etwa die
Uebereinstimmung in den Sagen der ältesten Völker […]: aber sie erklärt keinen ers-
ten Anfang und schiebt, wie jede empirische Hypothese, die Erklärung nur weiter
zurück« (Schelling 1803a, 31 f. / SW V, 224 f.; Herv. v. Verf.). Ferner Schelling 1803a,

289
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

zeigt sich bereits am Einzelnen, der ohne Erziehung nur »thierische


Anlagen und Instincte« entwickelt. 235 Dieser kann somit nur so »zur
Vernunft erwachen« und des vernünftigen Denkens fähig werden,
wenn er von anderen dazu angeleitet und erzogen wird. 236 Aus eige-
ner Kraft und ohne Anleitung und Hilfe von Anderen ist er dazu
nicht fähig: Jeder Einzelne wird in eine bereits bestehende Kultur
hineingeboren. Diese Überlegung lässt sich verallgemeinern: Wenn
der Einzelne auf Erziehung durch Andere angewiesen ist, dann gilt
dies genauso für diese selbst. Auch sie müssen irgendwann erzogen
worden sein. Diese sich an der Erfahrung orientierenden Überlegun-
gen führen damit zu einem regressus in infinitum. Dieser lässt sich
nur durch die Annahme vermeiden, es habe irgendwann eine Mensch-
heit gegeben, die keiner Erziehung bedürftig war, sondern die »durch
sich selbst«, durch eine natürliche und kontinuierliche Entwicklung,
von der Tierheit zur Vernünftigkeit übergegangen ist. 237 Es gibt somit
nur zwei Möglichkeiten: entweder einen regressus in infinitum oder
die Annahme eines der Erziehung nicht bedürftigen Menschen-
geschlechts. Letztere Annahme vermag sich allerdings nicht mehr
auf Erfahrung zu stützen, sondern sie ist eine bloße Hypothese, die
die Erfahrung erklären soll. 238 Diese Annahme versucht Schelling so
konsequent und radikal möglich zu durchdenken, da nur mittels ihrer
die Beschaffenheit des Menschen, ›wie er jetzt erscheint‹, erklärbar
scheint, ohne in einen Regressus zu verfallen. Ein solches nicht der
Erziehung bedürftiges Menschengeschlecht müsste von Natur aus

168 / SW V, 287, wonach der Naturzustand nicht als ein »Zustand der Barbarey«
gedacht werden kann, sondern die Barbarei selbst sich nur als ein Zustand nach dem
Untergang einer Kultur denken lässt. Ferner Schelling 1809a, 510 / SW VII, 415:
»Wir hegen die grösste Achtung für den Tiefsinn historischer Nachforschungen,
und glauben gezeigt zu haben, dass die fast allgemeine Meynung, als habe der
Mensch erst allmälig von der Dumpfheit des thierischen Instinkts zur Vernunft sich
aufgerichtet, nicht die unsrige sey«. Die Stellen, wo Schelling dies in der Freiheits-
schrift gezeigt hat, können nur die sein, wo er mittels des Begriffs der ›Zertrennlich-
keit der Prinzipien‹ den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nachgewiesen
hat (vgl. Schelling 1809a, 450 / SW VII, 372) sowie die, die vom Wesensunterschied
zwischen Vergangenheit und Gegenwart handeln (vgl. Schelling 1809a, 459–461 /
SW VII, 379 f.).
235 Schelling 1804, 65 / SW VI, 58.

236 Schelling 1804, 65 / SW VI, 58.

237 Schelling 1804, 66 / SW VI, 58.

238
Beachte: »weist auf«, »anzunehmen« (Schelling 1804, 65 / SW VI, 58), »über-
zeugt uns alles« (Schelling 1804, 66 / SW VI, 59), »gern vorstellen« (Schelling 1804,
67 / SW VI, 59).

290
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

mit allen Mitteln der Kultur und der Wissenschaft ausgestattet sein.
Nur dann würde es sich auch als Erzieher der gegenwärtigen Men-
schengattung eignen. Für diese Hypothese führt Schelling Belege aus
mythischen Erzählungen und Sagen an. 239 So haben »die Sagen aller
Völker in dem Mythos des goldnen Zeitalters« jenen »Zustand be-
wusstloser Glückseligkeit« »erhalten«. 240 Allerdings können nur sol-
che Mythen und Sagen als Belege für jene Hypothese gelten, wofür
sich bei allen Völkern Parallelen auffinden lassen. 241
Damit ist eine grundsätzliche Diskontinuität zwischen Vergan-
genheit und Gegenwart behauptet. Dieser entspricht eine eigene
Erkenntnisart. Während die Verfassung der gegenwärtigen Men-
schengattung sich durch Erfahrung erschließt, sind wir für eine Vor-
stellung der vergangenen Menschheit auf Hypothesen angewiesen.
Der Mensch der Vergangenheit ist der Mensch im Naturzustand. 242
Dieser entspricht, so wie er wirklich ist, ganz seiner idealen Verfas-
sung oder dem, was er seiner Natur nach sein könnte. Das Eigen-
tümliche dieses Naturzustandes besteht darin, dass dieser nicht dem
Kulturzustand entgegengesetzt ist, der, nach der entgegengesetzten
Hypothese, erst am Ende eines Prozesses eintreten könnte, sondern
dass der Naturzustand, so wie ihn Schelling konzipiert, durch und
durch Kulturzustand ist: Der Mensch ist in diesem Zustand von Na-
tur aus mit Kunst, Wissenschaft und Religion ausgestattet, ohne dass
er dazu eine besondere Leistung zu erbringen braucht. Dort ist »die
Möglichkeit der Vernunft« zugleich auch »die Wirklichkeit« der-
selben: Dieser Mensch bedarf keiner Erziehung oder Überlieferung,
sondern er ist »der Vernunft unmittelbar durch sich selbst theil-
haftig«. 243 Vor allem ist er alles, was er ist, ohne Bewusstsein, »in

239 Schelling 1804, 64 f. / SW VI, 57: Nachdem über diesen »Gegenstand« bislang
»nur die Religion Unterricht ertheilte«, so wird jetzt die »Philosophie« »in jenen
gränzenlos dunkeln Raum das Licht der Wahrheit zu verbreiten« suchen, »den My-
thologie und Religion für die Einbildungskraft mit Dichtungen angefüllt haben«
(Herv. v. Verf.). Sie tut dies dadurch, dass sie eine konsistente Hypothese aufstellt,
die nicht nur imstande ist, die Verfassung der gegenwärtigen Menschengattung, son-
dern auch den Grund solcher mythologischen Dichtungen einsichtig zu machen.
240 Schelling 1804, 67 / SW VI, 59; Herv. v. Verf.

241 Vgl.: »allerwärts und nach den Ueberlieferungen der ersten und ältesten Völker«

(Schelling 1804, 68 / SW VI, 59; Herv. v. Verf.).


242 Damit positioniert Schelling sich in der Debatte über den Naturzustand, der spä-

testens seit Hobbes, Spinoza und Rousseau ein zentrales Theoriestück jeglicher poli-
tischer Philosophie bildet.
243
Schelling 1804, 66 / SW VI, 58.

291
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

unbewusster Herrlichkeit« und »bewusstloser Glückseligkeit«. 244 Das


Besondere der gegenwärtigen Periode hingegen ist, dass Kultur sich
nur mittels eigener Leistung erarbeiten lässt. Erst in dieser zweiten
Periode gibt es somit eine Trennung von Natur- und Kultur-
zustand. 245 Diese Erwägungen richten sich, erstens, insbesondere ge-
gen die Annahme einer linearen und kontinuierlichen, ununterbro-
chenen Entwicklung der Geschichte. Aus dieser Konzeption lässt sich,
zweitens, die Folgerung ziehen, dass der gegenwärtige Kulturzustand,
wenn er nur durch Überlieferung und Erziehung in Stand gehalten
wird, ständig gefährdet ist: Während die Kultur in der ersten Epoche
den Menschen von Natur mitgegeben ist und sie demnach nicht auf
Überlieferung angewiesen ist, da droht der Faden im Kulturzustand
der gegenwärtigen Epoche ständig abzureißen. 246 Das Ende der ersten
Epoche kann, drittens, nur durch ein zufälliges Ereignis von außen
erklärt werden, da in ihr selbst kein Grund enthalten sein kann, der
ihr Ende herbeiführt. Der Übergang von der ersten zur zweiten Epo-
che lässt sich somit nur durch eine Naturkatastrophe erklären. Schel-
ling schließt:
Nach diesen Prämissen, bleibt nichts anders übrig, als anzunehmen, dass
die gegenwärtige Menschengattung die Erziehung höherer Naturen ge-
nossen, sodass dieses Geschlecht, in dem bloss die Möglichkeit der Ver-
nunft, aber nicht die Wirklichkeit wohnt, sofern es nicht dazu gebildet
wird, alle seine Kultur und Wissenschaft nur durch Ueberlieferung und
durch Lehre eines früheren Geschlechtes besitzt, von dem es die tiefere
Potenz oder das Residuum ist, und welches, der Vernunft unmittelbar
durch sich selbst theilhaftig, nachdem es den göttlichen Samen der
Ideen, der Künste und Wissenschaften auf der Erde ausgestreut von ihr
verschwunden ist. 247

244
Schelling 1804, 66 f. / SW VI, 58 f.
245 Schelling knüpft damit an die in der damaligen Geschichtswissenschaft virulent
diskutierte Frage nach den Ursachen des Untergangs Roms an. Zur Erklärung dieses
Phänomens wurden Katastrophentheorien entwickelt, die eine »teilweise oder voll-
ständige Veränderung der Erde und der auf ihr angesiedelten menschlichen Kultur
durch geologische bzw. kosmologische Ereignisse«, wie beispielsweise eine Verände-
rung des Klimas durch Verschiebung der Erdachse, erwogen (Petri 1990, 30 f.). Vgl.
auch Schelling 1803c, 161–174 / SW IV, 497–508.
246 Diesem Kulturzustand scheint aber die Schrift zu fehlen bzw. er scheint ihrer gar

nicht zu bedürfen. Jedenfalls gibt es aus jener Epoche keine schriftliche Zeugnisse; nur
Sagen berichten davon, die erst in einer späteren Epoche schriftlich fixiert wurden.
247
Schelling 1804, 65 f. / SW VI, 58.

292
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Diese Konstruktion der Vergangenheit soll plausibel machen, dass die


Verfassung des ›gegenwärtigen Menschengeschlechts‹ als ein Abfall
von einem ursprünglicheren Zustand gedacht werden muss. Dadurch
wird erneut der allgemeine Charakter des Abfalls betont. 248 Die ganze
Konstruktion ist jedoch nur der erste Teil des Nachweises, dass Gott
»eben so in Bezug auf die Gattung das gleiche Wesen der Freyheit
und der Nothwendigkeit« ist, wie er dies in Bezug auf den Einzelnen
war. 249 An den Nachweis der gegenwärtigen Verfassung der Mensch-
heit als nicht-ursprünglich muss sich allerdings, wie sich weiter unten
noch zeigen wird, eine Konstruktion der Zukunft anschließen, durch
welche Gott sich als Identität von Freiheit und Notwendigkeit be-
währt.
Die Überlegungen zu ›Endabsicht und Anfang der Geschichte‹ bil-
den somit die genaue Entsprechung zu jener Konstruktion der Peri-
oden der Geschichte, wie Schelling sie zu diesem Zeitpunkt bereits
andernorts skizziert hatte. 250 Obwohl der Mensch der Entwicklung
des Abfall-Begriffs im zweiten Abschnitt zufolge aus der Naturord-
nung herausgefallen ist, heißt dies somit noch nicht, dass er damit aus
jeglicher Ordnung herausgefallen ist. Vielmehr tritt er durch jenen
Abfall in die Ordnung der Geschichte oder in eine geschichtliche Ord-
nung ein. Der Nachweis einer Periodizität der Geschichte soll dazu
beitragen, den Gedanken plausibel zu machen, dass die Geschichte
als eine Ordnung zu denken ist und nicht gänzlich von der Beliebig-
keit oder dem Zufall regiert wird. Schelling hat diese Perioden der
Geschichte mehrmals dargestellt. Diese Darstellungen erweisen sich
dadurch besonders geeignet, den Leser zu verwirren, dass sie erheb-
lich voneinander abweichen. Es ist sogar nicht leicht zu ersehen, ob

248 Die Aufgabe ist also analog zur Aufgabe, die »universelle Wirksamkeit« des Bösen
oder das Böse »als ein unverkennbar allgemeines […] Prinzip« zu erweisen (Schelling
1809a, 451 / SW VII, 373; Herv. v. Verf.).
249 Schelling 1804, 63 / SW VI, 56.

250
Vgl. Heidegger 1988, 260: »Für uns Spätergekommene haben diese Entwürfe der
Weltgeschichte etwas Befremdliches, so daß wir uns bezüglich ihrer eigentlichen Ab-
sicht nicht sogleich zurechtfinden und leicht in Mißdeutungen verfallen«. Was be-
sonders an einem rechten Verständnis dieser ›Entwürfe‹ hindert, ist, wie aus dem
Zusammenhang hervorgeht, das Vorherrschen eines positivistischen, historistischen
oder hegelschen Vorbegriffs von Geschichte. Heideggers Beobachtung wird indirekt
dadurch belegt, dass z. B. Christian Brouwer in einem ausführlichen Kommentar zur
Freiheitsschrift die Konstruktion der Perioden der Geschichte weitgehend übergeht
und lediglich eine eschatologische Deutung der dritten Periode durchführt (Brouwer
2011, 272–295). Auch in Höffe/Pieper 1995 wird diese Stelle übergangen.

293
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sie überhaupt kompatibel sind. Obwohl Schelling selbst die Aufmerk-


samkeit ausdrücklich auf diese Abweichungen lenkt, hat man diese
bislang überspielt oder einfach ignoriert. Hinzu kommt, dass Schel-
ling es für nötig gehalten hat, als Belege für diese Periodizität einige –
nur höchst summarisch ausgearbeitete – Beispiele aus der ›wirk-
lichen‹ Geschichte anzuführen, die den Sinn dieser Konstruktionen
zusätzlich vernebeln. Jedenfalls verdienen die verschiedenen Darstel-
lungen der Periodizität der Geschichte die genaueste Beachtung.
Eine erste Konstruktion der Perioden der Geschichte findet sich im
System des transscendentalen Idealismus. 251 Die Beschreibung der
ersten Periode ist insofern merkwürdig, als sie suggeriert, dass noch
eine weitere ihr vorangehende Periode anzunehmen sei, da es von der
ersten Periode heißt, sie sei diejenige, »in welcher das Herrschende
nur noch als Schicksal, d. h. als völlig blinde Macht kalt und bewußt-
los auch das Größte und Herrlichste zerstört« (AA I,9,1, 302; Herv. v.
Verf.). 252 Dies impliziert, dass es eine Periode gegeben haben muss,
wo das Herrschende noch nicht nur als Schicksal waltete, eine solche,
wozu eben ›das Größte und Herrlichste‹ gehört, das in der ersten
Periode zerstört wird. Nach dieser Konstruktion fängt die Geschichte
mit Untergang und Zerstörung an. Die Schwierigkeit ließe sich lösen,
wenn man annimmt, dass jene ›Periode‹ noch nicht im eigentlichen
Sinne zur Geschichte gehört, sondern vielmehr als eine vor-ge-
schichtliche Periode zu denken ist. Diese Annahme wird auch dadurch
unterstützt, dass zur ersten Periode »der Untergang des Glanzes« ge-
hört
und der Wunder der alten Welt, der Sturz jener großen Reiche, von
denen kaum das Gedächtniß übrig geblieben, und auf deren Größe wir
nur aus ihren Ruinen schließen, der Untergang der edelsten Mensch-
heit, die je geblüht hat, und deren Wiederkehr auf die Erde nur ein
ewiger Wunsch ist. (AA I,9,1, 302)
Vor der ersten Periode gab es somit bereits eine ›alte Welt‹. Insofern
wir auf diese nur schließen können, scheint es durchaus berechtigt,

251 Eine noch frühere Konstruktion der Geschichte findet sich in Antiquissimi de
Prima Malorum Humanorum Origine Philosophematis Genes. III. explicandi Tenta-
men Criticum et Philosophicum (vgl. AA I,1, 93–99). Dazu Jacobs 1993, 187–210.
252 Vgl. Marquet 2012, 25: »[S]i le premier moment de l’Histoire est celui du destin, si

le destin se résume à l’événement unique de la ruine du monde antique, faut-il en


conclure que ce monde antique n’appartient pas lui-même à l’Histoire? On ne saurait,
en tout cas, l’identifier à ›l’âge d’or‹«.

294
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

sie als eine vor-geschichtliche Welt zu bezeichnen. Die Identifizierung


dieser ›alten Welt‹ mit dem antiken Griechenland wird dadurch er-
schwert, dass von ›großen Reichen‹ die Rede ist. Das römische Impe-
rium ist insofern ein unwahrscheinlicher Kandidat, als es heißt, dass
uns davon ›kaum das Gedächtniß übrig geblieben‹.
Die zweite Periode zeichnet sich dadurch aus, dass das Schicksal
sich jetzt als Natur zeigt. Da Schelling das Schicksal als eine ›völlig
blinde Macht‹ bezeichnete, muss die Natur als eine nicht völlig blinde
Macht gedacht werden: Das anfangs »dunkle Gesetz« verwandelt sich
in ein »offenes Naturgesetz« (AA I,9,1, 303). Allerdings ist nicht
leicht zu ersehen, wie die »mechanische Gesetzmäßigkeit in der Ge-
schichte« sich vom Schicksal unterscheidet (AA I,9,1, 303). Die
Schwierigkeit ließe sich lösen, wenn man annimmt, dass sich vor
allem das Verhältnis des Menschen zu jener ›Gesetzmäßigkeit‹ ge-
wandelt hat: Was dieser anfangs als Schicksal empfand, empfindet er
nun als ein Naturgesetz oder als eine solche Gesetzmäßigkeit, die er
auch zu durchschauen und nach welchem er sein Handeln auszurich-
ten vermag. Eine zweite Natur kann eingerichtet werden, die solchen
Gesetzmäßigkeiten Rechnung trägt. Diese Periode setzt Schelling
nun mit der Entwicklung des römischen Imperiums und damit mit
einer bestimmten Staatsordnung gleich. Dies war auch in der ersten
Periode der Fall, in dem von ›großen Reichen‹ die Rede war, deren
Entstehung und Einrichtung vielmehr dem Zufall und trial and error
zu verdanken waren (vgl. AA I,9,1, 283). Ihr Untergang und Sturz
wurde zwar dem Schicksal zugeschrieben, könnte aber seinen Grund
auch darin haben, dass diese Reiche nicht den Naturgesetzmäßig-
keiten gemäß eingerichtet waren.
In den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium
gibt Schelling eine weitere Darstellung der Periodizität, die indessen
von derjenigen im System signifikant abweicht. Indem Schelling an
dieser Stelle ausdrücklich darauf hinweist, dass er »schon anderwärts
(im System des transcendentalen Idealisums) gezeigt [habe], daß wir
überhaupt drey Perioden der Geschichte […] annehmen müssen«,
lädt er den Leser förmlich dazu ein, die entsprechende Stelle nach-
zuschlagen und beide Konstruktionen der drei Perioden der Geschich-
te miteinander zu vergleichen. 253 Leistet der Leser dieser Anweisung
Folge, dann können ihm die Abweichungen der neueren von der frü-
heren Durchführung kaum entgehen. Da Schelling selbst auf die frü-

253
Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.

295
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

here Darstellung verweist, können wir füglich annehmen, dass auch


ihm selbst die Unterschiede nicht entgangen sind. In der neueren
Durchführung unterscheidet Schelling als die »drey Perioden der Ge-
schichte« jetzt »die der Natur, des Schicksals und der Vorsehung«. 254
Die Bezeichnung der dritten Periode ist somit in beiden Darstellun-
gen dieselbe. Die Bezeichnungen der ersten und der zweiten Periode
werden jedoch vertauscht. »Diese drey Ideen [gemeint sind die ›Peri-
oden der Geschichte‹, R. S.] drücken dieselbe Identität, aber auf ver-
schiedene Weise aus«. 255 Jede der drei Perioden bezeichnet ein unter-
schiedliches Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit. Nimmt man
letztere als Potenzen, dann lassen sie unterschiedliche Verhältnisse
oder quantitative Differenzen zu. Die Perioden der Geschichte lassen
sich somit als unterschiedliche Zeitmodi a priori konstruieren – da es
nur drei mögliche Verhältnisse jener Potenzen gibt: eine ursprüng-
liche Identität, den Gegensatz oder die Entzweiung und eine auf Ent-
zweiung beruhende oder wiederhergestellte Identität. Auffällig ist
nun, wie Schelling den Unterschied der Perioden mit der unterschied-
lichen Art, wie jene Identität erkannt wird, in Verbindung bringt:
»Auch das Schicksal ist Vorsehung, aber im Realen erkannt, wie die
Vorsehung auch Schicksal ist, aber im Idealen angeschaut«. 256 Dem
Schicksal entspricht ein Erkennen, der Vorsehung hingegen ein An-
schauen. Zur der ersten Periode entsprechenden Erkenntnisart äußert
Schelling sich nicht.
Wenn Schelling die erste Periode jetzt als die der Natur bezeich-
net, dann fällt sie nicht mehr mit der ersten Periode zusammen, wie
sie im System charakterisiert wurde. Sie wird nicht als die Periode des
Untergangs und des Sturzes charakterisiert, sondern vielmehr scheint
mit ihr jetzt die im System bloß implizierte vor-geschichtliche Peri-
ode gemeint, da Schelling als Beispiel die »Zeit der schönsten Blüthe
der griechischen Religion und Poesie« anführt. 257 Allerdings scheint
auch dies erneut kontraintuitiv, da diese Blüte schon zur geschicht-
lichen Zeit zu gehören scheint, es sei denn, man sieht in den Früchten
dieser Blüte, wie beispielsweise in Homer, nur die Erinnerung an jene
vorgeschichtliche Zeit. Auch der Naturbegriff, mit welchem Schelling
hier operiert, ist ein anderer als noch im System, da er die zweite

254 Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.


255
Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.
256 Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; Herv. v. Verf.
257
Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.

296
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Periode dort deshalb als die der Natur bezeichnete, weil sie die Periode
der mechanischen Naturgesetzmäßigkeit ist. In der Charakterisie-
rung sowohl der ersten als auch der zweiten Periode tritt eine be-
fremdliche grammatikalische Unklarheit auf, indem es bezüglich der
ersten Periode heißt, dass die »ewige Nothwendigkeit […] sich, in der
Zeit der Identität mit ihr, als Natur [offenbart]«, ohne dass unmittel-
bar klar ist, worauf sich dieses ›ihr‹ bezieht. 258 Es kann sich eigentlich
nur auf die ›ewige Nothwendigkeit‹ beziehen, nur bleibt dann un-
deutlich, wer oder was sich in der Identität mit ihr befindet. Die
Schwierigkeit ließe sich so lösen, dass in diesem Satz der Mensch aus-
geklammert, aber dennoch stillschweigend mit begriffen ist, so, dass
die ›ewige Nothwendigkeit‹ in der Zeit, da der Mensch sich mit ihr in
Identität befindet, sich diesem Menschen als Natur offenbart. Ge-
meint ist also die Zeit, in der der Mensch noch bloß als Naturwesen
ist. 259 Ähnlich heißt es zur Charakterisierung der zweiten Periode,
dass die ewige Notwendigkeit sich »[m]it dem Abfall von ihr […] sich
als Schicksal [offenbart], indem sie in den wirklichen Widerstreit mit
der Freyheit tritt«. 260 Gerade der Abfall von ihr lässt eine neue Di-
mension der ›ewigen Nothwendigkeit‹ in Erscheinung treten. Damit
scheint gesagt, dass auch in der ersten Periode Freiheit sein muss.
Die zweite Periode bezeichnet Schelling in den Vorlesungen als die
des Schicksals, mit einer Bezeichnung also, die er im System der ers-
ten Periode vorbehalten hatte. Zudem charakterisiert er sie auf ähn-
liche Weise, indem er sagt, dass dies »das Ende der alten Welt« war,
»deren Geschichte eben deswegen im Ganzen genommen als die tra-
gische Periode betrachtet werden kann«. 261 Es muss verwundern, dass
Schelling die ›alte Welt‹ jetzt plötzlich als die ›tragische Periode‹ be-
zeichnet. Eher würde man meinen, dass vielmehr die zweite Periode
die tragische ist, da die Notwendigkeit sich erst hier als Schicksal
zeigt. In der Charakterisierung der ersten Periode war auch nichts,
was ihre Kennzeichnung als eine tragische zu rechtfertigen scheint.
Es ist auch kaum wahrscheinlich, dass die erste Periode nachträglich
erst vom Standpunkt der zweiten Periode aus als tragisch empfunden
wird, da jene gerade dann erst recht als das goldene Zeitalter erschei-
nen müsste, nämlich als eine Zeit, da das Bewusstsein der ›Sünde‹

258 Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; ähnlich auch SW V, 429.


259
Vgl. Schelling 1809a, 459 / SW VII, 378.
260 Schelling 1803a, 175 f. / SW V, 290.
261
Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.

297
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

noch fehlte, als eine Zeit der bewusstlosen Hingabe an die Natur. Die
Charakterisierung der dritten Periode, die der Vorsehung, ist genauso
befremdlich. Sie wird als eine »freywillige Unterwerfung« bezeich-
net, »in der die Freyheit als besiegt und siegend zugleich aus dem
Kampf hervorgeht«. 262 Mit genau solchen Ausdrücken hatte Schel-
ling in den Philosophischen Briefen aber eben das Wesen des Tragi-
schen charakterisiert (vgl. AA I,3, 107). 263 Jedenfalls wird die dritte
Periode, den früheren und späteren Darstellungen entsprechend, als
die der »bewußte[n] Versöhnung« charakterisiert. 264 Während das
Christentum im System nicht erwähnt wurde, heißt es jetzt, dass es
»in der Geschichte jene Periode der Vorsehung ein[leitet]«. 265 Das
Christentum ist demnach nicht die dritte Periode selbst, sondern lei-
tet sie bloß ein oder vollzieht nur den Übergang von der zweiten zur
dritten Periode. Es ist somit nicht selbst die Versöhnung. Vielmehr
behauptet Schelling von ihm, dass es für den Abfall oder für das »Ab-
brechen des Menschen von der Natur« verantwortlich ist, indem es
die »Hingabe« an die Natur mit dem Bewusstsein der Sünde ver-
knüpft und sie als sündhaft zu empfinden lehrt. 266 Nur das Bewusst-
sein der Sündhaftigkeit kann erst überhaupt ein Verlangen nach Ver-
söhnung entstehen lassen. Präziser formuliert: Jenes Bewusstsein
und dieses Verlangen sind ein und dasselbe. Deshalb bemerkt Schel-
ling, dass das »Bewußtseyn darüber […] die Unschuld auf[hebt] und
[…] daher auch unmittelbar die Versöhnung« fordert. 267 Während er
somit das Christentum zunächst in unmittelbarer Verbindung mit
der dritten Periode der Vorsehung und der Versöhnung bringt, da
zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es vielmehr mit der zweiten
Periode, der des Abfalls, in Verbindung zu bringen ist. Insofern die
zweite Periode die dritte einleitet und nur der Übergang zu ihr ist, ist
auch das Christentum ›nur‹ Übergang. In dieser Konstruktion werden
›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹, aber auch ›Gegenwart‹ und ›Vergangen-
heit‹ näher aneinander herangerückt. Dies dürfte darauf hinweisen,

262 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.


263 Genauso in den gleichzeitig gehaltenen Vorlesungen zur Philosophie der Kunst
mit ausdrücklichem Hinweis auf die Briefe (vgl. SW V, 697); dies belegt, dass Schel-
ling diese Bezeichnung und ihren Zusammenhang zu dieser Zeit keineswegs aus dem
Gedächtnis verloren hatte.
264 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.

265
Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf.
266 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.

267
Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf.

298
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

dass keine der Perioden für sich gesetzt werden kann, sondern dass es
einen notwendigen Zusammenhang zwischen denselben sowie in
ihrer Aufeinanderfolge gibt: Erst durch die Gegenwart ist auch die
Vergangenheit wirklich gesetzt, während erstere nicht gesetzt werden
kann, ohne zugleich die Öffnung auf eine Zukunft hin zu setzen. Aus
diesem Grund sind gerade die Anspielungen auf die ›reale‹ Geschichte
irreführend, da es Schelling hier überhaupt nicht um eine Konstruk-
tion der ›wirklichen‹ Geschichte zu tun ist, sondern vielmehr um eine
solche der Geschichtlichkeit oder der Dimensionalität der Geschichte.
Eine weitere und die bei weitem ausführlichste Darstellung der
Periodizität der Geschichte findet sich schließlich in den Philosophi-
schen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit.
Wenn es auch hier nicht an Anklänge an die früheren Darstellungen
fehlt, so unterscheidet sie sich dennoch erheblich von denselben.
Dessen ungeachtet fordert Schelling den Leser in einer Fußnote aus-
drücklich dazu auf, »mit diesem ganzen Abschnitt des Verfassers
Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. VIIIte
Vorles. über die historische Konstruktion des Christenthums« zu ver-
gleichen. 268 Der Leser, der die Stelle nachschlägt, findet sich dort, wie
erwähnt, wieder auf das System des transscendentalen Idealismus
verwiesen. Schelling stellt somit ausdrücklich und absichtlich eine
Verbindung zwischen diesen drei Darstellungen her und lenkt die
Aufmerksamkeit des Lesers dadurch selbst auf die Abweichungen
zwischen denselben. Zwar ist die Darstellung im Vergleich zu den
früheren ausführlicher und bedeutend komplizierter, zugleich ist sie
aber auch verschwommener und weniger klar gegliedert. So ist die
Dreiteiligkeit hier nicht so deutlich durchgehalten wie früher. Auch
scheint die erste Periode eine feinere Gliederung aufzuweisen.
Bevor wir auf die Konstruktion selbst eingehen können, ist es nö-
tig, kurz den Zusammenhang anzudeuten, in welchem sie hier vor-
kommt. An den drei Orten, wo Schelling eine solche Konstruktion
durchführt, kommt sie nämlich in einem unterschiedlichen Zusam-
menhang und mit einer unterschiedlichen Absicht vor. Bei der Kon-
struktion in den Untersuchungen steht, wie in Philosophie und Reli-
gion, die Frage nach der Gattung im Hintergrund. Nachdem Schelling
das Böse als ein allgemeines Prinzip in Bezug auf den Einzelnen nach-
gewiesen hat, stellt er sich die Frage, ob es auch in Bezug auf die

268
Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380.

299
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Gattung ein allgemeines Prinzip ist. 269 Während er vorher gezeigt


hatte, wie »die ungetheilte Macht des anfänglichen Grundes erst im
Menschen als Inneres (Basis oder Centrum) eines Einzelnen erkannt
wird«, gilt es jetzt zu zeigen, dass die Verhältnisse in Bezug auf die
Gattung denen in Bezug auf den Einzelnen analog sind und dass
»auch in der Geschichte das Böse anfangs noch im Grunde verborgen
[bleibt]«. 270 Die Geschichte muss danach so konstruiert werden, dass
»dem Zeitalter der Schuld und Sünde […] eine Zeit der Unschuld
oder der Bewusstlosigkeit über die Sünde voran[geht]«, oder so, dass
»sich auch in der Geschichte der Geist der Liebe nicht alsbald geoffen-
baret«. 271 Aus dieser Anforderung, dass Gott sich auch in der Ge-
schichte offenbaren muss, aber zunächst nicht als Er selbst, schließt
Schelling: »so konnten es nur einzelne göttliche Wesen seyn, die in
diesem Für-sich-wirken des Grundes walteten«. 272 Damit ist die erste
Periode ihrer allgemeinsten Verfassung nach bereits charakterisiert.
Die nachfolgende Konstruktion soll zeigen, wie der genannten An-
forderung genügt werden kann. Auch hier geht Schelling, wie in Phi-
losophie und Religion, ganz ›hypothetisch‹ vor. 273
Da die erste Periode, damit sie der angegebenen Anforderung ge-
nügt, nicht anders gedacht werden kann als so, dass ›nur einzelne
göttliche Wesen‹ in ihr ›walteten‹, so muss die »uralte Zeit […] daher
mit dem goldnen Weltalter« anfangen, »vom welchem dem jetzigen
Menschengeschlecht nur in der Sage die schwache Erinnerung geblie-
ben, einer Zeit seliger Unentschiedenheit, wo weder Gutes noch Bö-
ses war«. 274 Dies erinnert an die Charakterisierung der ersten Periode
in den Vorlesungen als eine solche der »Hingabe« an die Natur, »ohne

269 Vgl. Schelling 1809a, 451–458 / SW VII, 373–378.


270 Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378; Herv. v. Verf.
271
Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378.
272 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 378 f.

273
Wie auch vorher in den Untersuchungen in Bezug auf die Natur: »Der Anblick der
ganzen Natur überzeugt uns von dieser geschehenen Erregung« (Schelling 1809a,
455 / SW VII, 376; Herv. v. Verf.). Nebenbei sei bemerkt, dass die erklärtermaßen
für die gesamte Schrift tragende Unterscheidung von Grund von Existenz und Exis-
tierendem gerade an dieser Stelle zum Tragen kommt, indem die Geschichtskonstruk-
tion damit anfängt, wie Gott, insofern er bloß Grund ist, sich offenbart und damit
beschließt, wie »Gott als Geist, d. h. als actu wirklich sich offenbart« (Schelling 1809a,
458 f., 461 / SW VII, 378, 380). Vgl. dazu Schelling 1804, 57 f., 63 f. / SW VI, 53, 57,
zur Offenbarung des Absoluten als Schicksal und als Vorsehung.
274
Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379; Herv. v. Verf.

300
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Bewußtseyn des Gegentheils«. 275 Schelling belässt es nicht bei dieser


Charakterisierung, sondern fährt fort: »[D]ann folgte die Zeit der
waltenden Götter und Heroën, oder der Allmacht der Natur, in wel-
cher der Grund zeigte, was er für sich vermöchte«. 276 Sieht es zu-
nächst so aus, als ob gerade das ›goldne Weltalter‹ sich durch das
Walten der Götter auszeichnet, so wird auch noch die darauf folgende
Zeit als eine Zeit ›der waltenden Götter‹ bestimmt. Diese scheint denn
auch noch keine wirklich neue Periode einzuleiten. Vielmehr scheint
Schelling hier wieder auf das Verhältnis von vor-geschichtlicher und
geschichtlicher Zeit hinzudeuten: Während er ›die Zeit der waltenden
Götter und Heroën‹ zwar als Vergangenheit, aber doch bereits als zur
geschichtlichen Zeit gehörig denkt, so scheint er das ›goldne Zeitalter‹
als wesenhaft vor-geschichtlich aufzufassen. Nur durch Sagen ragt es
in die geschichtliche Zeit hinein. Das Walten der Götter, das die erste
geschichtliche Periode auszeichnet, manifestiert sich auf zweierlei
Weise: Zum einen in der Weise, wie die Menschen ihr Leben führen,
oder durch die ihr Leben führende Instanz: »Damals kam den Men-
schen Verstand und Weisheit allein aus der Tiefe; die Macht erdent-
quollner Orakel leitete und bildete ihr Leben«. 277 Zum anderen in der
Organisation der Sozialität oder durch das Prinzip, das der Bildung
von Gemeinschaften vorsteht: »[A]lle göttlichen Kräfte des Grundes
herrschten auf der Erde, und sassen als mächtige Fürsten auf sichern
Thronen«. 278 Die erste Periode scheint nun noch weiter gegliedert zu
werden, indem
die Zeit der höchsten Verherrlichung der Natur in der sichtbaren Schön-
heit der Götter und allem Glanz der Kunst und sinnreicher Wissenschaft
[erschien], bis das im Grunde wirkende Prinzip endlich als welterobern-
des Prinzip hervortrat, sich alles zu unterwerfen und ein festes und dau-
erndes Welt-Reich zu gründen. 279
Zum einen scheint dem Grund oder der Natur als Prinzip oder als
dem Auszeichnenden dieser Periode eine Tendenz innezuwohnen,
sich auch als Prinzip von Kunst und Wissenschaft zu entfalten, zu-
gleich aber auch sich zum ›welterobernden Prinzip‹ zu entwickeln

275 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.


276 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379.
277 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379. Spuren solchen mantischen Wissens deckt

Hogrebe 1992 auf.


278 Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379.

279
Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379.

301
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

und ›ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen‹. Zum anderen


hebt Schelling sogleich hervor, dass dieses Prinzip wegen seiner inne-
ren Verfassung daran scheitern muss, das Ziel zu erreichen, auf wel-
ches es gerichtet ist. Das Scheitern, und damit auch das Ende der
ersten Periode, ist in diesem Prinzip eingebaut. Die erste Periode
scheint aufgrund ihrer Verfassung wesenhaft instabil zu sein, und
damit auf eine zweite Periode hin geöffnet. Das Scheitern leitet eine
Umwandlung ein, die die erste Periode dazu fähig macht, in die zweite
überzugehen oder als deren Grundlage zu dienen. Dem sind die jetzt
folgenden Überlegungen gewidmet. Hierin treten die bereits referier-
ten kennzeichnenden Elemente der ersten Periode wieder auf, aber in
verwandelter Gestalt. So »nehmen die in jenem Ganzen waltenden
Mächte die Natur böser Geister an«. 280 Die ›waltenden Götter und
Heroën‹, die den Menschen ›Verstand und Weisheit aus der Tiefe‹
zukommen ließen und ihr Leben leiteten und bildeten und damit zu
ihnen im Verhältnis ›wohlthätiger Schutzgeister‹ standen, büßen die-
se wohltätige Wirkung jetzt ein und nehmen einen ›bösen‹, ›dämo-
nischen‹, schließlich ›teuflischen‹ Charakter an. 281 Die erste Periode
scheint damit selbst dreifach gegliedert zu sein in ein vor-geschicht-
liches ›goldenes Weltalter‹, ein historisches Zeitalter, da die Götter
sich als geschichtliche Macht zeigen, und schließlich in ein Zeitalter
des Übergangs, in welchem das Prinzip der gesamten Periode ihr Ma-
ximum erreicht und sich zugleich als ungenügend enthüllt. Damit hat

280
Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379.
281 Vgl. Schelling 1809a, 460, 461 / SW VII, 379, 380. Obwohl weder der Teufel noch
Christus an dieser Stelle wie auch sonst kaum in der Freiheitsschrift namentlich er-
wähnt werden, so scheinen sie gerade hier gemeint. So heißt es: »Daher erst mit der
entschiedenen Hervortretung des Guten auch das Böse ganz entschieden und als die-
ses hervortritt« (Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379 f.). Das Gute ist der Gute, da es
nur »in persönlicher, menschlicher Gestalt« erscheinen kann, wie auch »das Böse«,
insofern es »als dieses hervortritt«, nur als der Böse erscheinen kann, weshalb es als
ein »persönliche[s] und geistige[s] Böses« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 460 /
SW VII, 380). Durch die Verwendung des Dativs bleibt unentscheidbar, ob ›das‹ oder
›der‹ Böse gemeint ist. Die Qualifizierung als ›persönlich‹ enthält indes einen Wink.
Die Gestalt des Teufels ist hiernach als das Ergebnis einer Transformationslogik zu
denken, an dessen Anfang die Götter stehen. – Auf die soeben zitierte Stelle spielt
Schelling an, wenn er an späterer Stelle den »umgekehrte[n] Gott« erwähnt als »jenes
durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisirung erregte Wesen, das nie aus der Po-
tenz zum Aktus gelangen kann, das zwar nie ist, aber immer seyn will«. Von diesem
Wesen bemerkt er zudem, dass es »mit Recht nicht nur als ein Feind aller Kreatur […]
und vorzüglich des Menschen, sondern auch als Verführer desselben vorgestellt« wird
(Schelling 1809a, 474 f. / SW VII, 390).

302
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Schelling die Herkunft des bösen Prinzips in der Geschichte dargetan,


ohne dazu zur Annahme eines ›anfänglichen Bösen‹, ebenso wenig
aber zu einer Leugnung oder Verharmlosung des Bösen genötigt ge-
wesen zu sein. 282
Damit ist der Punkt erreicht, wo wir die zweite Periode charakte-
risieren können. Diese zeichnet sich, genau wie in den Vorlesungen,
durch ihren Übergangscharakter aus. Schelling hatte nachgewiesen,
wie das in der ersten Periode herrschende Prinzip letztlich als ein
›welteroberndes Prinzip‹ hervortreten muss und ihm die Tendenz eig-
net, ›ein festes und dauerndes Welt-Reich zu gründen‹, dieses Streben
wegen der Verfassung des Prinzips jedoch zum Scheitern verurteilt
ist. Damit ist auch der Endzustand dieser Periode angegeben, die
Schelling hier mit teils biblischen Ausdrücken evoziert: Es ist »der
Moment, wo die Erde zum zweytenmal wüst und leer wird«, die Zeit
der turbae gentium, »wie einst die Wasser des Anfangs die Schöpfun-
gen der Urzeit wieder bedeckten«. 283 Diese Lage ist die Bedingung
dafür, dass das gute Prinzip auch »in persönlicher, menschlicher
Gestalt« erscheinen kann. 284 Die Erscheinung in dieser Gestalt wird
offensichtlich mit einer bestimmten historischen Lage verknüpft. 285

282 Vgl. Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380.


283 Schelling 1809a, 460 f. / SW VII, 380.
284 Schelling 1809a, 460 / SW VII, 380.

285 So auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst: »Dieß war das Gefühl der

Welt in jener Periode der tiefsten Umwandlung, als das Schicksal an allem Schönen
und Herrlichen des Alterthums seine letzte Tücke übte. Da verloren die alten Götter
ihre Kraft, die Orakel schwiegen, die Feste verstummten und ein bodenloser Abgrund
voll wilder Vermischung aller Elemente der gewesenen Welt schien sich vor dem
menschlichen Geschlecht zu öffnen. Ueber diesem finstern Abgrund erschien als das
einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts der Kräfte das Kreuz, gleichsam
der Regenbogen einer zweiten Sündfluth, wie es ein spanischer Dichter nennt, – zu
einer Zeit, wo keine Wahl übrig blieb, an dieses Zeichen zu glauben« (SW V, 429).
Und kurz vorher: »Ein solches Gefühl [sc. der Heimatlosigkeit und der Verlassenheit
von Gott, R. S.] war über die Welt verbreitet, als das Christenthum entstand. Grie-
chenlands Schönheit war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf sich
gehäuft hatte, erlag unter seiner eignen Größe; die vollste Befriedigung durch alles
Objektive führte von selbst den Ueberdruß und die Hinneigung zum Ideellen herbei.
Ehe noch das Christenthum seine Macht nach Rom erstreckt hatte, schon unter den
ersten Kaisern, war diese sittenlose Stadt mit orientalischem Aberglauben erfüllt,
Sterndeuter und Magier selbst die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der
Götter hatten ihr Ansehen verloren, noch eh’ sie gänzlich verstummten. Das all-
gemeine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht weiter fort-
schreiten konnte, lag gleich einer schwülen Luft, die eine große Bewegung der Natur
voraus verkündet, auf der ganzen damaligen Welt, und eine allgemeine Ahndung

303
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Damit ist die Gegenwart oder die »jetzige Zeit« als eine Zeit des »fort-
dauernde[n] Streit[s] des Guten und des Bösen« bestimmt, eben da-
mit aber auch als eine Zeit des Übergangs, die auf eine Zukunft als
»Ende der jetzigen Zeit« und damit des für sie charakteristischen
Streits hin geöffnet ist. 286 Nachdem die Konstruktion der Vergangen-
heit gezeigt hat, wie das Böse kein ›anfängliches Prinzip‹ ist, so bleibt
an dieser Stelle noch übrig, durch die Konstruktion der Zukunft den
Nachweis zu erbringen, dass das Böse ebenso wenig ein letztes Prin-
zip sei. Diese Aufgabe nimmt Schelling sich erst an einer späteren
Stelle der Untersuchungen vor. 287
Die Geschichtskonstruktion ist an dieser Stelle dazu gedacht, die
›Wirklichkeit‹ des Bösen zu belegen, und zwar »seine universelle
Wirksamkeit, oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem
Guten überall im Kampf liegendes Prinzip aus der Schöpfung habe
hervorbrechen können«. 288 Aufgrund dieser Geschichtskonstruktion
kann Schelling schließen, dass es »daher ein allgemeines […] Böses
[gibt], das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber beständig dahin
strebt«. 289 Die Geschichtskonstruktion dient demnach dazu, erstens,
die ›universelle Wirksamkeit‹ des Bösen zu belegen. Dadurch wird
zugleich der Begriff einer »Angst des Lebens« begründet und sowohl
in der Natur als in der Geschichte nachgewiesen. 290 Zweitens will
Schelling dadurch die ›parsische‹ oder manichäische Hypothese zwei-
er gleichursprünglicher Prinzipien zurückweisen, da die Konstruk-
tion zeigt, dass das allerdings allgemeine Böse dennoch kein ›anfäng-
liches‹ Böses ist. 291 Stattdessen nimmt die Materie die Qualität des

schien alle Gedanken nach dem Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kom-
men würde« (SW V, 427 f.). Damit bezieht Schelling sich auf die Debatte über die
Ursachen des Untergangs Roms, eine Debatte, die besonders mit den Namen Eduard
Gibbon, Montesquieu und Rousseau verbunden ist (vgl. Petri 1990, 26–30). Schelling
verweist an anderer Stelle auf Gibbon (vgl. Schelling 1803a, 225 / SW V, 312). Werke
von Montesquieu sowie die (fast vollständigen) Œuvres complètes Rousseaus be-
fanden sich in Schellings Bibliothek (vgl. Müller-Bergen 2007, 135, 249).
286
Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380. Vgl.: »Es ist, als ob Christus als das in die
Endlichkeit gekommene und sie in seiner menschlichen Gestalt Gott opfernde Unend-
liche den Schluß der alten Zeit machte; er ist bloß da, um die Grenze zu machen« (SW
V, 432).
287 Vgl. Schelling 1809a, 493–496 / SW VII, 403–406.

288 Schelling 1809a, 451 / SW VII, 373.

289 Schelling 1809a, 461 f./ SW VII, 380 f.; Herv. v. Verf.

290
Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381.
291 Es scheint, dass ein allgemeines Böses nur durch einen »allgemeine[n] Grund der

Solicitation«, dieser aber nur durch ein »böse[s] Grundwesen« erklärt werden kann.

304
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte

Bösen erst nachträglich an: Das Böse ist eine Qualität der Materie
oder des Grundes, die erst nachträglich ›erweckt‹ oder ›erregt‹ wird.
Schließlich soll die Konstruktion auch belegen, dass das Böse ›nie zur
Verwirklichung kommt‹, obwohl es ›beständig dahin strebt‹. Sie zeigt
nämlich, wie das Böse nur »durch das Für-sich-wirken des Grundes
endlich zum allgemeinen Prinzip entwickelt worden« ist und damit
nur ein Erregtes, nicht ein Ursprüngliches ist. 292 Dies ist Schellings
Alternative zur Erklärung der Sollizitation durch ein ursprünglich
böses Wesen.
Im Unterschied zu den früheren Durchführungen scheint die
Konstruktion der Geschichte in den Philosophischen Untersuchun-
gen mit der Charakterisierung der zweiten Periode abgeschlossen.
Trotz einiger Andeutungen bleibt die dritte Periode oder die Zukunft
hier jedenfalls weitgehend ausgeblendet. 293 In jeder Konstruktion
werden zwar drei Perioden oder Zeitalter konstruiert, die Geschichte
selbst hat jedoch nach Schellings Erklärung nur zwei »Hauptpar-
tien«. 294 Die erste Periode wurde aber, wie wir gesehen haben, in kei-
ner der drei Fassungen ohne einen Hinweis auf eine dieser noch vo-

Dabei verweist er auch auf »jene Auslegung der Platonischen Materie«, wonach diese
»ein ursprünglich Gott widerstrebendes und darum an sich böses Wesen ist« (Schel-
ling 1809a, 452 / SW VII, 374). Vgl. Schelling 1804, 32 f. / SW VI, 36 f.
292 Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381.

293 Sie wird erst viel später ausdrücklich thematisiert: »Nach allem diesem bleibt

immer die Frage übrig: endet das Böse und wie? Hat überhaupt die Schöpfung eine
Endabsicht und wenn diess ist, warum wird diese nicht unmittelbar erreicht, warum
ist das Vollkommne nicht gleich von Anfang?« (Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403).
Der Zusammenhang mit der Frage nach Tod und Unsterblichkeit sowie die Anklänge
an den vierten Abschnitt von Philosophie und Religion auf den folgenden Seiten sind
unübersehbar. So heißt es z. B.: »Gott giebt die Ideen, die in ihm ohne selbständiges
Leben waren, dahin in die Selbstheit und das Nichtseyende, damit, indem sie aus
diesem in’s Leben gerufen werden, sie als unabhängig existirende wieder in ihm sey-
en« (Schelling 1809a, 494 f. / SW VII, 404; Herv. v. Verf.). Schelling fügt dem Satz
eine Fußnote hinzu, die den Leser auf folgende Stelle in Philosophie und Religion
verweist: »Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem An-
geschauten die Selbstheit verleiht, giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und
opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben waren,
ins Leben gerufen, ebendadurch aber fähig werden, als unabhängig existirende wieder
in der Absolutheit zu seyn« (Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf.). So wie
Schelling hier anschließend die »Indifferenz« näher als »Liebe« bestimmt (Schelling
1804, 73 f. / SW VI, 63), so schließen sich auch an den aus den Philosophischen Unter-
suchungen zitierten Satz Überlegungen zum Verhältnis von Indifferenz und Liebe an
(Schelling 1809a, 498–501 / SW VII, 407–409).
294
Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.

305
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

rausliegenden vor-geschichtlichen Zeiten konstruiert. Die erste Peri-


ode war nämlich die des ›Bösen‹, aber insofern dieses noch nicht die
Qualität des Bösen angenommen hat, die ihm erst durch das Erschei-
nen seines Gegenteils zuwächst. Sie scheint damit die Zeit des »Ur-
grund[s] zur Existenz, inwiefern er im erschaffnen Wesen zur Aktua-
lisirung strebt«, zu sein. 295 Die Absicht der Konstruktion besteht
somit darin, zu zeigen, dass das Böse ›nie zur Verwirklichung gelan-
gen‹ kann, weil es in der ersten Periode zwar nur nach Aktualisierung
strebt, die Einheit jedoch nicht hervorzubringen vermag, wie der not-
wendige Zusammensturz der auf diesem Prinzip gegründeten Reiche
zeigte, in der zweiten Periode hingegen nur im Gegensatz Realität
gewinnt und diese nur so lange behält, als es sich mit seinem Anderen
im Kampf befindet. Die Vermutung scheint denn auch berechtigt,
dass das dritte Zeitalter oder die Zukunft nicht mehr im eigentlichen
Sinn zur Geschichte gehören wird, sondern vielmehr eine Art nach-
geschichtliches Zeitalter darstellt.
Der Nachweis zweier ›Hauptpartien‹ der Geschichte war auch die
Absicht des Schlusses des dritten Abschnitts von Philosophie und
Religion. Der erste Satz des vierten Abschnitts ruft dem Leser in Er-
innerung, zu welchem Zweck die vorhergehenden und jetzt folgen-
den Überlegungen angestellt werden: »Die Geschichte des Universum
ist die Geschichte des Geisterreichs und die Endabsicht der ersten,
kann nur in der der letzten erkannt werden«. 296 Jetzt hat Schelling
somit zunächst zu zeigen, dass die ›Geschichte des Geisterreichs‹ eine
Endabsicht habe und nachher, dass diese auch die Endabsicht der Ge-
schichte des gesamten Universums ist. Die folgenden Überlegungen
versprechen damit etwas wirklich Neues, da in den bisherigen, die
sich auf das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit bezogen,

295 Schelling 1809a, 458 / SW VII, 378.


296
Schelling 1804, 68 / SW VI, 60. Der Ausdruck ›Geisterreich‹ findet sich auch bei
Eschenmayer 1803, 81 (§ 80). Vgl. ferner 48 (§ 56), 89 (§ 86), 93 (§ 90) (»Gemeinschaft
vernünftiger Wesen«) und 81 (§ 80) (»Gemeinschaft der Geister«). Schelling spricht
sonst meistens von der ›Geisterwelt‹. – Eine anschauliche Vorstellung dieser Geister-
welt erhält man aus der ›allegorischen Vision‹, die das Jacobi-Denkmal abschließt.
Besonders zu beachten ist die Ordnung, die hier stattfindet, insofern Gleiches zu
Gleichem in Gruppen zusammengebracht ist, während Schelling Jacobi als herum-
irrende Figur im Geisterreich charakterisiert, der von Gruppe zu Gruppe irrt, ohne
in eine derselben seinen Ort zu finden. Dieser Teil des Jacobi-Denkmals, der mit 100
von 215 Seiten knapp die Hälfte des Werkes ausmacht, hat bislang kaum Beachtung
gefunden (vgl. Schelling 1812, 115–215 / SW VIII, 83–136). Für einen der seltenen
Kommentaren zu diesem Teil vgl. Horn 1954, 88–101.

306
Die Unsterblichkeit der Seele

die Konstruktion ganz parallel zu derjenige der Natur verlief. Erst


hier ist die Geschichte »symbolisch« für die »Schicksale[…] des Uni-
versums« »zu fassen, die sich in ihr ganz wiederholen und deutlich
abspiegeln«. 297 Die nächste Aufgabe besteht darin, zu untersuchen, ob
sich in der Geschichte eine Endabsicht entdecken lässt. Schelling
scheint die Lösung dieser Aufgabe jedoch dadurch zu verzögern, dass
er an dieser Stelle Überlegungen einschaltet, deren Bezug auf die
Frage nach der Endabsicht der Geschichte jedenfalls nicht offen zu
Tage liegt.

8. Die Unsterblichkeit der Seele

Der vierte Abschnitt von Philosophie und Religion ist überschrieben


Unsterblichkeit der Seele. Wir werden zunächst versuchen, uns die-
sem ausdrücklichen Thema anzunähern, und erst im nächsten Ab-
schnitt darauf eingehen können, aus welchem Grund und mit welcher
Absicht Schelling die Ausführungen zu diesem Thema an dieser Stel-
le für erforderlich erachtete. Da Eschenmayer das Thema nur ganz
beiläufig berührt, scheint das Gewicht, das Schelling ihm allein schon
dadurch beimisst, dass er ihm einen ganzen Abschnitt widmet, kaum
durch die polemische Absicht allein erklärbar. 298 Es dürften somit
eher systematische Gründe gewesen sein, die ihn dazu motivierten,
gerade diesen Fragenkomplex an dieser Stelle aufzugreifen. 299 Die Be-

297 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57. Vgl.: »Dieselben Perioden der Schöpfung, die in
diesem [im Reich der Natur, R. S.] sind, sind auch in jenem [im Reich der Geschichte,
R. S.]; und eines ist des anderen Gleichniss und Erklärung« (Schelling 1809a, 457 /
SW VII, 377 f.). Danach fängt die Konstruktion der Perioden der Vergangenheit und
der Gegenwart an.
298 Vgl. Eschenmayer 1803, 59–61 (§§ 67–68).

299
In den Würzburger Vorlesungen tritt der systematische Ort der Frage sowohl nach
dem Bösen als auch nach der Unsterblichkeit etwas deutlicher hervor. Wir können
jedenfalls vermuten, dass letztere Frage auch bereits im Gespräch, dessen Umarbei-
tung Philosophie und Religion ist, eine zentrale Rolle spielte. Sie dürfte mit zu den
Gegenständen gehören, die »in den Mysterien gelehrt werden müsse[n]« (Schelling
1802a, 36 / SW IV, 234; vgl. Schelling 1802a, 33 f., 132, 190 f. / SW IV, 233, 283, 312).
Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele steht auch im Hintergrund von Schel-
lings Auslegung des Demeter-Mythos im Aufsatz Ueber das Verhältniß der Natur-
philosophie (vgl. Schelling 1802f, 24 f. / SW V, 123 f.), die dort parallel an einer Aus-
legung des platonischen Mythos im Phaidon durchgeführt wird und die Schelling
1804 wieder aufnimmt (vgl. Schelling 1804, 36, 69, 71 / SW VI, 39, 60, 62). Gerade
diese Stelle zog Carl Ludwig Michelet als Beleg dafür heran, dass die Kerngedanken

307
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

merkungen Eschenmayers waren ihm höchstens eine willkommene


Veranlassung, sich darüber zu erklären. Allerdings hätte es auch sys-
tematische Gründe gegeben, die Frage nach dem Bösen zu erörtern.
Hier scheint Eschenmayers Übergehen dieser Frage Schelling dazu
veranlasst zu haben, sie nur versteckt zu behandeln. In den Philoso-
phischen Untersuchungen kehren die Verhältnisse sich geradezu um:
Während die Frage nach dem Bösen die Schrift derart dominiert, dass
man darin nichts weniger als eine ›Metaphysik des Bösen‹ zu finden
gemeint hat, so ist die Frage nach der Unsterblichkeit dort keineswegs
gänzlich abwesend, sei sie auch weniger bemerkbar. Die Erörterung
der Frage nach der »Endabsicht der Schöpfung«, nach der »Noth-
wendigkeit der Geburt und des Todes« sowie nach der »endlichen
Scheidung des Guten vom Bösen« scheint wenigstens irgendeine
Konzeption von Unsterblichkeit zu erfordern, ohne welche auch die
Konzeption des Bösen, wie sie in dieser Schrift entwickelt wird, halt-
los wäre. 300
Schellings Behandlung dieses Themas und der vierte Abschnitt
von Philosophie und Religion insgesamt haben bislang kaum Be-
achtung gefunden. Selbst Kommentatoren, die sich mit Schellings
Unsterblichkeitslehre beschäftigt haben, übergehen diese erste Er-
örterung derselben oder erwähnen sie nur beiläufig. Diese Nicht-Be-
achtung dürfte darin ihren Grund haben, dass Schelling sich hier
einem Thema widmet, das in der heutigen philosophischen Diskus-
sion als erledigt angesehen wird und höchstens noch ein historisches
Interesse beanspruchen darf. 301 Man begnügt sich mit der Feststel-

von Philosophie und Religion nicht erst 1804 entwickelt wurden (vgl. Michelet 1839,
34 f.).
300 Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404.

301 Wohl deshalb fühlen mehrere Kommentatoren sich dazu genötigt, ihr Interesse

eigens zu rechtfertigen, vgl. Beckers 1865, 15; Grau 1997, 592, 609 f.; Schalow 1997,
244 f. Wilhelm Diltheys Rezension eines Separatdrucks der Clara ist insofern höchst
aufschlussreich, als sie zu zeigen vermag, woher dieser Rechtfertigungsdruck stammt.
So bemerkt er: »Dieser Dialog über die jenseitige Welt in ihrem Zusammenhang mit
der Natur spricht wie aus fernen Zeiten zu uns herüber«. Das Befremdliche ist dabei
nicht erst in den in diesem Dialog diskutierten Thesen zu suchen, sondern betrifft
bereits die Themenwahl selbst. Mit dieser weiß die »praktische Richtung unserer
Zeit« und »die resolute Lebensfreudigkeit derselben« nichts mehr anzufangen. Vor
dem Hintergrund der für selbstverständlich gehaltenen historischen Erledigung des
Christentums bzw. der Religion lässt sich das Interesse eines Philosophen für solche
»halb-poetischen, halb-religiösen, kaum aber philosophischen« Themen nur noch aus
dessen religiöser oder konfessioneller Voreingenommenheit oder aus überholten mo-
dischen Vorlieben erklären. Thema und Form lassen sich somit hinlänglich aus Schel-

308
Die Unsterblichkeit der Seele

lung, Schelling übernehme hier lediglich überliefertes platonisch-


christliches Gedankengut. Dabei übersieht man, dass Schelling nach
seiner erklärten Absicht die »Gegenstände«, die die Religion sich sei-
ner Ansicht nach unberechtigterweise zugeeignet hat, wieder »der
Vernunft und der Philosophie zu vindiciren« sucht und diese dazu
zunächst von der entstellenden Deutung, die sie in dieser Ent- bzw.
Zueignung erfahren haben, wieder befreien muss. 302 Wenn Schelling
den Anspruch erhebt, zur ursprünglichen platonischen Lehre zurück-
zukehren, dann heißt dies somit auch, dass er diese von einer christ-
lichen Umdeutung des Platonismus befreien will. 303 Dazu wird er
auch die ursprünglichen Erfahrungen, aus welchen jene Vorstellun-
gen zunächst erwachsen sind und die durch sie artikuliert werden
sollen, wieder freizulegen und so erst wieder ein Verständnis für die
zugrundeliegenden Probleme zu erwecken suchen.
Um Eschenmayers Konzeption der Unsterblichkeit der Seele zu-
rückzuweisen, glaubt Schelling nicht mehr zu bedürfen als einer ein-
zigen begrifflichen Unterscheidung, die er bereits im zweiten Ab-
schnitt dargelegt hatte. 304 Durch dieses Vorgehen gibt er dem Leser
abermals zu verstehen, dass er auch mit der hier entwickelten Un-

lings Verbindungen zur »schwärmerische[n] Schule« der Romantik erklären, die sich,
wie hinlänglich bekannt, in »phantastische[n] Stimmungen« bewegte. Solche Vor-
meinungen machen nicht nur eine Prüfung des Wahrheitsanspruchs, den Schelling
vielleicht mit einigen der von ihm aufgestellten Behauptungen verbunden haben
dürfte, obsolet, sondern sie sind zudem dafür verantwortlich, dass man sich der Be-
mühung um eine hermeneutische Durchdringung des Textes für enthoben hält, damit
aber auch die Mittel aus der Hand gegeben hat, mögliche Differenzen zu den ver-
meintlich ›romantischen‹ Autoren überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Damit
erübrigt es sich, auf Schellings These einzugehen, dass solche Themen nicht über die
Religion in die Philosophie gelangt sind, sondern vielmehr umgekehrt. Der Dialog
empfiehlt sich damit nur noch dem ästhetischen Genuss: »Was aber den Leser an
diesem Dialog fesseln wird, ist die Form« oder die »Poesie« und »Kunst«, die Dilthey
in demselben zu entdecken meint (Dilthey 1862, 407–409).
302 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20; vgl. Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f.

303
»Wie dagegen die erhabnen Lehren, welche jene [die Religion, R. S.] aus dem
gemeinschaftlichen Eigenthum der Philosophie sich einseitig angemasst hatte, mit
der Beziehung auf ihr Urbild auch ihre Bedeutung verloren und, auf einen ganz an-
dern Boden versetzt, als dem sie entsprossen waren, ihre Natur völlig umwandelten«
(Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f.; Herv. v. Verf.).
304 Obwohl die Absicht des Abschnitts darin besteht, die »Endabsicht der Geschichte«

aufzudecken und dadurch nachzuweisen, wie Gott »eben so in Bezug auf die Gattung
das gleiche Wesen der Freyheit und der Nothwendigkeit« ist (Schelling 1804, 63 /
SW VI, 56; Herv. v. Verf.), so fokussiert Schelling zunächst doch wieder ausschließlich
die einzelne Seele (vgl. Schelling 1804, 68–72 / SW VI, 60–62).

309
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sterblichkeitslehre nichts prinzipiell Neues zu bieten beansprucht,


sondern lediglich einige Folgerungen aus einer Unterscheidung zieht,
die ein integraler Bestandteil der Naturphilosophie ist. 305 Da wir
Schellings Lehre von der Seele im dritten Kapitel bereits ausführlich
dargestellt haben, können wir uns hier auf eine knappe Wieder-
holung des Wesentlichen beschränken. Schelling unterscheidet zwi-
schen der Seele, insofern sie »sich unmittelbar auf den Leib bezieht«,
der Seele, insofern »sie das Princip des Verstandes ist«, und dem »An-
sich oder Wesen der bloß erscheinenden Seele«. 306 Diese drei ›Dimen-
sionen‹ der Seele oder diese drei Hinsichten, in welchen von ›Seele‹
gesprochen werden kann, lassen sich nur an der wirklich existieren-
den Seele unterscheiden. 307 Die ersten beiden ›Dimensionen‹ gehören
bloß zu den Bedingungen, unter denen das Wesen der Seele auch
erscheinen kann, ohne selbst zu diesem zu gehören. Dieses ist aller-
dings auf jene angewiesen, damit es sich bekunden oder ausdrücken
kann, ohne dass diese dem sich darin Ausdrückenden selbst gleich-
zusetzen sind. Sind diese Bedingungen nicht gegeben, dann ist das
Sich-Ausdrückende dadurch bloß der Möglichkeit beraubt, sich aus-
zudrücken oder sich als das zu zeigen, was es ohnehin ist. Deshalb
kann Schelling sagen, dass die »nicht-existirenden Dinge und die Be-
griffe dieser Dinge« im Absoluten auf gleiche Weise enthalten sind
wie die »existirende[n] Dinge und die Begriffe dieser Dinge« (SW VI,
534 (§ 297)). Die Eigenschaften, die einem Ding dadurch zuwachsen,
dass es auch existiert, d. h. räumlich und zeitlich verortbar ist und in
einen Zusammenhang mit anderen Dingen tritt, haben nämlich nur
für es selbst und nur insofern es auf sich selbst bezogen wird, Realität,
während sie für das Wesen oder die Idee bloß akzidentell sind. Für das
Wesen kommt es somit nicht in Betracht, ob »das ihm entsprechende
Endliche« auch existiert oder nicht. 308 Damit nun von einer Seele ge-
sagt werden kann, dass sie wirklich existiert, muss sie sich auf einen
Leib beziehen. Erst dadurch erhält auch die Seele einen individuellen
Charakter: Individualität ist die »nothwendige Form aller Existenz«

305 So war Schelling auch im zweiten Abschnitt vorgegangen, wo er das dort Erörterte
auf drei Thesen zurückbringt, für welche er Belegstellen aus früheren Schriften an-
führt (Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.; vgl. Schelling 1804, 19 / SW VI, 28).
306 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.

307 An dieser Stelle scheint Schelling nun in der Tat nur die menschliche Seele zu

meinen. Jedenfalls trifft dasjenige, was er hier von der Seele behauptet, nur auf Men-
schen zu.
308
Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.

310
Die Unsterblichkeit der Seele

(SW VI, 502 (§ 273)). Die »Verwicklung der Seele mit dem Leib« ist
es, »welche eigentlich Individualität heisst«. 309 Der »Begriff des Indi-
viduums« besteht darin, dass »ein und dasselbe Ding als ein und das-
selbe, das eine und das andere sey«, d. h. sich auf zweierlei Weise, als
leiblich und seelisch manifestiert (SW VI, 502 (§ 273)). Der Seele
kommt Individualität nur insofern zu, als sie sich auf einem Leib
bezieht, dessen »unmittelbare[r] Begriff« sie ist (SW VI, 531 (§ 292
Erl.)). Alles, was im Leib vorgeht, findet eine Entsprechung im Idea-
len oder in der Seele. Die Seele ist das Erkennende oder Subjekt, des-
sen Objekt der Leib ist. Dieses Subjekt-Objekt kann demnach auch als
Leib-Seele bezeichnet werden. Dieses Subjekt-Objekt ist jedoch selbst
wieder Objekt eines Subjekts höherer Stufe, das Schelling als die See-
le, »sofern sie das Princip des Verstandes ist«, 310 oder auch als »Prin-
cip des Bewußtseyns« bezeichnet (SW VI, 509). In dieser zweiten
Verwendungsweise von ›Seele‹ wird somit insbesondere auf das der
Seele innewohnende reflexive Moment gezielt. Schelling bezeichnet
sie öfters auch als ›Begriff der Seele‹, nämlich der Seele ihrer ersten
Dimension nach. Insofern die Seele in diesem zweiten Sinne den
Leib-Seele-Komplex als ihr Objekt hat, ist auch sie selbst mittelbar
endlich und hat eine Beziehung auf die Zeit. Schließlich unterscheidet
er noch das Wesen oder die Idee der Seele. Von jeder Seele gibt es eine
Idee in Gott. Insofern »das ihm entsprechende Endliche« auch wirk-
lich existiert, ist jene Idee in ihm »das Princip der ewigen Erkennt-
nisse«. 311 Diese dritte Dimension ermöglicht es der Seele, nicht bloß
über sich selbst reflektieren zu können, sondern zudem auch zeit-
unabhängige Gesetze zu denken, Ideen zu bilden und eine Erkenntnis
Gottes zu haben, wenn auch nicht jede Seele diese Möglichkeit aktua-
lisiert (vgl. SW VI, 561 (§ 312)). Die ersten beiden Dimensionen der
Seele nennt Schelling auch zusammenfassend die »bloß erscheinende
Seele«. 312 Die wirklich existierende Seele ist somit eine Mannigfaltig-
keit, an welcher drei Dimensionen zu unterscheiden sind. Diese Man-
nigfaltigkeit darf demnach nicht einfach mit der ›Seele, welche sich
unmittelbar auf den Leib bezieht‹, gleichgesetzt werden. Wenn auch
aus dem Wesen der Seele nicht notwendig folgt, dass damit auch das
ihm entsprechende Endliche existiert, kann umgekehrt die wirklich

309 Schelling 1804, 69 / SW VI, 61.


310
Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
311 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
312
Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.

311
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

existierende Seele nicht existieren, ohne dass das Wesen der Seele
existiert (vgl. SW VI, 536).
Wenn Schelling an diese Unterscheidung erinnert, dann geschieht
dies zunächst, um auf die mehrfache Verwendungsweisen von ›Seele‹
aufmerksam zu machen und damit klar wird, was es ist, wovon die
Unsterblichkeit prädiziert wird. Er wendet die Unterscheidung ins-
besondere gegen den Gegensatz von Leib und Seele, mit welchem
Eschenmayer durchgängig operiert. Die Unterscheidung lässt es nicht
zu, Leib und Seele als Potenzen zu bezeichnen, wie Eschenmayer dies
tut. Wenn Eschenmayer die Potenz des Endlichen als Leib bzw. Sinn-
lichkeit bestimmt, dann versteht er darunter das rein Endliche, nicht
das von Schelling so genannte »unendlich Endliche«. 313 Da nur Prä-
sentationsweisen des Absoluten füglich als Potenzen zu bezeichnen
sind, so sind diese eo ipso unendlich. Danach verbietet es sich gerade-
zu, das rein Endliche zu einer Potenz zu erklären. Außerdem impli-
ziert Eschenmayers Bezeichnung des Leibes als einer Potenz eine
Kontinuität oder Stetigkeit zwischen Endlichem und Unendlichem,
die gegen das Konstruktionsgesetz der Potenzen verstößt. 314 Wenn
es gelegentlich so aussieht, als ob Schelling selbst mit diesem Gegen-
satz von Leib und Seele operiert, so kann es sich dabei nur um eine
etwas lässige Ausdrucksweise handeln, da gerade das Hauptargu-
ment, auf welches er seinen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele
stützt, einem solchen Gegensatz zuwiderläuft. 315 Bei der lässigen Ver-
wendung von ›Leib‹ und ›Seele‹ ist erstere nur ein verkürzter Aus-
druck für das Ganze der Leib-Seele, während letztere das Wesen der
Seele meint. Das ›Wesen der Seele‹ ist jedoch zugleich Wesen des
Leibes. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Lehre des Parallelismus
oder der Identität von Idealem und Realem. So heißt es: »Jeder Weise
des Affirmirtseyns im realen All entspricht eine gleiche Weise des
Affirmirens im idealen All« (SW VI, 204 (§ 46)). Dies gilt auch umge-
kehrt: Es kann nichts im idealen All, also auch keine Seele geben,
ohne eine Entsprechung im realen All oder in einem Leib. Wie dem
zeitlichen und endlichen Leib eine zeitliche und endliche Seele kor-

313 Schelling 1802a, 65, 82 / SW IV, 249, 258.


314 Vgl. Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
315 Dies erhellt am deutlichsten aus jener Stelle, wo Schelling einerseits behauptet,

dass die Seele »als unmittelbarer Begriff des Leibes« endlich und zeitlich ist, da »die
Existenz des Leibes […] eine zeitliche, eine vergängliche« ist, wo er dann aber ande-
rerseits eine Ewigkeit des Wesens der Seele behauptet, weil dieses der »im Absoluten
auf ewige Weise ausgedrückte Begriff des Leibes« ist (SW VI, 535 f. (§ 299)).

312
Die Unsterblichkeit der Seele

respondiert, so muss auch dem (ewigen) Wesen der Seele ein (ebenso
ewiges) Wesen des Leibes entsprechen. 316 Nur vom Wesen der Seele,
das zugleich Wesen des Leibes ist, kann die Ewigkeit und damit die
Unsterblichkeit prädiziert werden. 317 Schelling erinnert Eschenmayer
an diese Unterscheidung und deren Folgen, da dieser Ewigkeit und
Unsterblichkeit der Seele unterschieden und letztere von der Seele
in ihrer Individualität ausgesagt hatte. 318
Eschenmayer versteht nämlich unter der Unsterblichkeit der Seele
eine individuelle Fortdauer der Seele: Erstens ist es das Individuum,
das fortdauert, und zweitens wird der Zustand nach dem Tode bzw.
das Verhältnis zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen
Zustand als ein Fortdauern gedacht. Es ist schwer zu sehen, wodurch
dieser Begriff der Unsterblichkeit sich merklich vom geläufigen ›dog-
matischen‹ Begriff der Unsterblichkeit unterscheiden würde. Diesen
Begriff übereignet er gänzlich einer ›von aller Spekulation befreyten
Theologie‹ und verzichtet damit auf jeglichen Versuch, ihn noch ra-
tional zu rechtfertigen. Er behält den aus der Überlieferung stam-
menden Begriff als Gegenstand eines Fürwahrhaltens oder als eine
zwar theoretische Annahme bei, ohne aber für ihn Vernunftgründe
anzuführen. Wenn sich inzwischen auch das kritische Vorzeichen ge-
ändert haben mag, so scheint diese Position insofern auf einen Kon-

316 »Im Absoluten ist also auch der Begriff des menschlichen Leibes nicht auf eine
bloß vorübergehende, sondern auf eine ewige Weise enthalten als nothwendige Folge
der Idee« (SW VI, 534 (§ 298)). »Ist nun die Seele der Idee oder dem Wesen nach ewig,
so ist auch der Begriff des Leibes ewig und auf eine ewige Weise enthalten im Abso-
luten« (SW VI, 535 (§ 298)). »Dieser ewige Begriff des Leibes oder die Idee der
menschlichen Existenz ist dasjenige von der Seele, was selbst ewig ist« (SW VI, 535
(§ 299)).
317 »Das wahre Wesen der Dinge […] ist weder Seele noch Leib, sondern das Identi-

sche beider« (SW VI, 217 (§ 65 Zus.)); »der Leib [ist] nur in der unvollkommenen
Erkenntniß Leib und von der Seele verschieden, in dem An-sich aber dasselbe mit
ihr« (SW VI, 213 (§ 61)).
318
»Es ist daher Miskennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit
über die Ewigkeit der Seele und ihr Seyn in der Idee zu setzen und wie uns scheint,
klarer Misverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl in-
dividuell fortdauern lassen« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61). Dass Eschenmayer ›die
Unsterblichkkeit über die Ewigkeit der Seele‹ gesetzt hat, schließt Schelling daraus,
dass er die Unsterblichkeit als von einer »höhern Dignität, als diese der Ideen« be-
zeichnet (Eschenmayer 1803, 59 (§ 67)). Dass Eschenmayer den Tod als ein ›Abstrei-
fen‹ der Sinnlichkeit versteht, geht ohne weiteres aus Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68),
hervor. Wie er die Unsterblichkeit als eine individuelle Fortdauer bestimmt, scheint
mir allerdings nicht ganz klar aus dieser Stelle hervorzugehen.

313
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sens rechnen zu können, als die Philosophie selbst sich von dem Be-
griff verabschiedet zu haben scheint. 319
Für Eschenmayer ist die Unsterblichkeit der Seele Gegenstand des
Glaubens, nicht des Wissens:
[D]as Leben ist nur der mittlere Exponent von Tod und Unsterblichkeit.
Diese beyden sind die Gränzen, welche keiner Konstruktion und keiner
Demonstration mehr fähig, nur durch die unmittelbare Sprache Gottes
an unser Herz, durch das Licht, das nur in die Seele scheint, d. h. durch
Offenbarung vorhanden seyn können. Der erste Willensakt und der
erste Erkenntnissakt setzt beyde schon voraus, und sie sind mithin die
unveränderlichen Postulate, welche die Nichtphilosophie der Philoso-
phie darbietet. 320
Weder Tod noch Unsterblichkeit sind einer Konstruktion fähig und
können somit nicht als notwendig erwiesen, sondern nur geglaubt
werden. Eschenmayer spricht diesbezüglich auch von einem »Postu-
lat«. 321 Darunter scheint er nicht so sehr die »Foderung«, eine Idee
»praktisch zu realisiren«, zu verstehen, als in der Tat nur eine »Fo-
derung, zum Behuf des moralischen Fortschritts, (also in praktischer
Absicht)« etwas »theoretisch […] anzunehmen« (AA I,3, 104). 322 Die
Überzeugung von der Unsterblichkeit ist nur praktisch zu rechtfer-
tigen, nämlich als eine für sittliches Handeln erforderliche Annahme.
Theoretische Gründe lassen sich weder für noch gegen diese Annah-
me vorbringen. 323 Zugleich verweist Eschenmayer auf einige paradig-
matische Erfahrungen, wie zum Beispiel das Altern, das uns die Ver-
gänglichkeit des Leibes sozusagen am eigenen Leibe erfahren lässt
und ein Vorgefühl des Zustandes vermittelt, der uns nach dem Tod
erwartet. 324 Die Rede von einem Vorgefühl ist dabei völlig angemes-

319 Dazu Siep 1999, 115 f.


320 Eschenmayer 1803, 58 f. (§ 66).
321
Eschenmayer 1803, 59 (§ 66); vgl. auch Eschenmayer 1803, 54 (§ 60), 61 (§ 69), 106
(§ 100).
322
Auch andernorts setzt Schelling den Glauben à la Eschenmayer mit einem Für-
wahrhalten gleich (vgl. SW VI, 555, 558 f.; Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394).
323 Nach Eschenmayer ist es für das Handeln völlig gleichgültig, welchen Vorstellun-

gen von Gott man anhängt, da diese niemals auf das Handeln Einfluss nehmen könn-
ten (vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49)). Die Moral kann durch theoretische Ein-
sichten nicht tangiert werden. Eschenmayer bezeichnet diese Postulate jedoch nicht
nur als Postulate des sittlichen Handelns, sondern ebenso der Philosophie: Die Phi-
losophie als Gewissenhaftigkeit stützt sich ihrerseits auf diese Postulate, die sie nicht
mehr zu rechtfertigen vermag, vgl. Eschenmayer 1803, 35 (§ 44), 54 f. (§ 60).
324
Vgl. Eschenmayer 1803, 60 (§ 68): Das Altern ist »ein allmähliges Abstreifen der

314
Die Unsterblichkeit der Seele

sen, da das so Vorgefühlte erst dann auch Gegenstand eines wirk-


lichen Gefühls wird, wenn die Verbindung von Leib und Seele sich
auflöst. So heißt es bei Eschemayer: »Was uns hier nur durch den
Glauben [oder durch jenes Vorgefühl, R. S.] offenbar ist, das wird
jenseits noch Gegenstand des Erkennens seyn«. 325 Dort wird es allem
Anschein nach nicht mehr bloß vorgefühlt, sondern wirklich gefühlt
werden: »An die Stelle des Glaubens wird ein helleres Anschauen der
Gottheit treten, und unser stummes Gebet in eine verständliche
Sprache übergehen«. 326
Schelling weist nicht nur den Begriff der Unsterblichkeit zurück,
der Eschenmayers Erwägungen zugrunde liegt, sondern er zeigt zu-
dem, unter welchen Bedingungen er entstehen kann und muss. Dazu
bemüht er einen weiteren Aspekt der oben referierten Unterschei-
dung. Diese dient nicht nur dazu, an der existierenden Seele mehrere
Dimensionen zu unterscheiden und dadurch den einfachen Gegensatz
von Leib und Seele zurückzuweisen, sondern sie ermöglicht zugleich
eine Typologie der Seelen, indem diese Dimensionen auch in unter-
schiedlichen Verhältnisse zueinander stehen können. Erinnert sei an
die Unterscheidung der »beyden Einheiten der Idee, die, wodurch sie
in sich [die Seite ihrer Selbstheit, ihres Für-sich-selbst-Seins oder
ihrer Individualität, R. S.] und die, wodurch sie im Absoluten ist«. 327
Die Existenz des der Idee entsprechenden Endlichen ermöglicht eine
Trennung beider Einheiten dadurch, dass beide in einem unterschied-
lichen Verhältnis zueinander stehen können. Bezüglich einer je ein-
zelnen Seele muss somit nach dem Verhältnis dieser Einheiten ge-
fragt werden, insbesondere danach, welche derselben das jeweils
Herrschende ist. Es muss gefragt werden, ob die existierende Seele
sich zu ihrer Idee oder ihrem Wesen als zu ihrem Grund verhält,
sodass sie dessen bloßes Organ ist, oder ob die existierende Seele sich
umgekehrt als Grund ihrer Idee als dem Existierenden verhält.

Sinnlichkeit, ein Einziehen der Neigungen und Leidenschaften, ein Absterben für den
Genuss, ein rastendes Zaudern im Handeln, ein Unbekümmertseyn um alles, was
spekulativ heisst, hingegen ein durch Erfahrung und vielseitige Reflexion erworbenes
Gefühl für alles, was wahr, schön und gut ist« und der Tod »eine Metamorphose,
wobey die Puppe der Sinnlichkeit abfällt, damit der Geist sich mit freyern Schwingen
zum Urquell des Lichts erhebe«.
325
Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68).
326 Eschenmayer 1803, 61 (§ 68).

327
Schelling 1804, 45 / SW VI, 44.

315
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Diesen Aspekt jener Unterscheidung bringt Schelling zum Tragen,


indem er bemerkt:
Wenn die Verwicklung der Seele mit dem Leib (welche eigentlich Indivi-
dualität heisst) die Folge von einer Negation in der Seele selbst und eine
Strafe ist, so wird die Seele nothwendig in dem Verhältniss ewig d. h.
wahrhaft unsterblich seyn, in welchem sie sich von jener Negation be-
freyt hat […]. 328
Hierzu ist folgendes zu bemerken: Zum einen ist ›die Verwicklung
der Seele mit dem Leib‹ nicht notwendig ›die Folge einer Negation in
der Seele selbst‹ und damit eine Strafe, sondern nur insofern die
Selbstheit das Übergewicht hat. Die Differenz zwischen der Seele
und ihrer Idee ist nicht notwendig eine Negation, da ein Verhältnis
beider denkbar ist, in welchem die Differenz zwar nicht aufgehoben
ist, aber dennoch aufhört, Negation zu sein. 329 Deshalb ist es auch
nicht das »höchste Ziel aller Geister […], dass sie absolut aufhören
in sich selbst zu seyn«. 330 Dies käme einem Widerspruch zwischen
dem Wesen und dem höchsten Ziel gleich. Das höchste Ziel ist viel-
mehr, dass »dieses In-sich-selbst-seyn aufhöre, Negation für sie zu
seyn«. 331 Zum anderen ist die Gebundenheit der Seele an den Leib
nur insofern eine Strafe, als sie eine Negation oder Beschränkung
der Seele darstellt. Damit lässt Schelling die Möglichkeit einer sol-
chen ›Verwicklung der Seele mit dem Leib‹ offen, die keinen ›straf-
haften‹ Charakter hat, indem sie für die Seele nicht beschränkend ist.
Beachtung verdient außerdem, dass damit die Strafe nicht in die Zu-
kunft oder in ein Jenseits verlegt wird, sondern dass sie in die Gegen-
wart fällt: Die beschränkende Gebundenheit an den Leib ist selbst die
Strafe, da die Seele dadurch eines höheren Grades von Vollkommen-
heit beraubt ist und unter ihren Möglichkeiten bleibt. Die Strafe ist
jenem Zustand immanent und braucht ihm nicht erst noch durch eine
äußere Instanz hinzugefügt zu werden. 332 In dieser Verfassung der
Gegenwart bzw. in ihrem Verhältnis zur Vergangenheit findet Schel-
ling ein Mittel, dem Begriff der Unsterblichkeit einen neuen Sinn zu
geben bzw. zu seinem ursprünglichen Sinn zurückzukehren.

328 Schelling 1804, 69 / SW VI, 61; Herv. v. Verf.


329 Vgl. Schelling 1804, 62 / SW VI, 56.
330 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62

331
Schelling 1804, 71 f. / SW VI, 62.
332 »Die Endlichkeit ist an sich selbst die Strafe, die nicht durch ein freyes, sondern

nothwendiges Verhängniss dem Abfall folgt« (Schelling 1804, 71 / SW VI, 61 f.).

316
Die Unsterblichkeit der Seele

Daraus, dass die Seele auf zweierlei Art mit dem Leib ›verwickelt‹
sein kann, leitet Schelling zweierlei ab. Erstens ist die Seele in dem
Maße notwendig unsterblich, als sie sich von der Bindung an den Leib
befreit, d. h. philosophiert. Zweitens sind alle, denen eine solche Be-
freiung nicht gelingt, »am meisten im wahren Sinne sterblich«. 333
Jenen beiden Modi entsprechen nämlich zwei unterschiedliche Ge-
fühle, in welchen sich der Tod oder die Sterblichkeit bekundet: die
Todesfurcht oder die ›Liebe des Todes‹. Dem Zustand, in welchem
die Selbstheit das Herrschende ist, entspringt notwendig eine Furcht
vor dem Tod, teils weil er mit dem Wunsch, ihn unbegrenzt fortzu-
setzen, einhergeht, teils weil er ›dem Nichts ähnlich‹ ist. 334 Den
»wahrhaft philosophirenden« hingegen entsteht eine »Liebe des
Todes«, indem sie durch ihn erst in ihr wahres Wesen eingehen wer-
den oder genauer, von dem geschieden werden, was auch an ihnen
noch endlich ist. 335 An dieser Stelle hebt Schelling nochmals hervor,
wie diese Ansicht mit der Annahme oder Nicht-Annahme der Reali-
tät der Endlichkeit zusammenhängt. Unter der Annahme der Realität
der Endlichkeit ist eine solche Konzeption der Unsterblichkeit nicht
zu behaupten. 336 Auch dann kommt man jedoch nicht umhin, zwei
entgegengesetzte Zustände nach dem Tod anzunehmen. Das Spezi-
fische liegt somit nicht nur in der Behauptung entgegengesetzter Zu-
stände, sondern auch in ihrer Zuordnung zu einem Verhalten, einem
Streben oder einer Verfassung des gegenwärtigen Willens. Beide Ge-
fühle stehen nämlich nicht gleichgültig nebeneinander, sondern sind
unterschiedlich gewertet.
Schelling hatte darauf hingewiesen, dass der Begriff der Unsterb-
lichkeit, den Eschenmayer behauptet, sich auf einen Gegensatz von
Leib und Seele stützt, den dieser mit dem Dogmatismus teilt. Da-
gegen führt er die Unterscheidung dreier Dimensionen der Seele an.
Zudem hatte er gezeigt, wie Eschenmayer nicht in der Lage ist, zwei
Verhältnisse zum Tod zu unterscheiden. Außerdem hatte dieser sich

333 Schelling 1804, 70 / SW VI, 61.


334 Vgl. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61.
335 Schelling 1804, 69 / SW VI, 60. In einem Brief an Georgii von Ostern 1811 unter-

scheidet Schelling die »Liebe zum Tod« am schärfsten von einer »Sehnsucht nach dem
Tod«, also von einem Herbeiwünschen des Todes (F. W. J. Schelling an E. F. Georgii,
14. April 1811, Plitt II, 249).
336
Am Gefühl der Todesfurcht zeigt sich übrigens besonders eindrucksvoll, wie das
Endliche, trotz seiner Nicht-Realität, »dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankün-
digt« (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.).

317
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

auf ein ›Vorgefühl‹ berufen, um seine Behauptungen plausibel zu


machen. Dagegen kann Schelling nun anführen, dass jenes Vorgefühl
seltsamerweise affektiv neutral bleibt. Die Freiheitsschrift variierend
könnte man sagen, dass es nicht nur ein Gefühl der »Tatsache der
Freiheit«, sondern auch ein Gefühl der Tatsache der Sterblichkeit bzw.
Unsterblichkeit gibt, das zwar »einem jeden eingeprägt ist, doch kei-
neswegs so sehr an der Oberfläche liegt, dass nicht, um sie auch nur
in Worten auszudrücken, eine mehr als gewöhnliche Reinheit und
Tiefe des Sinns erfordert würde«. 337 Eschenmayer hat übersehen, dass
der Mensch sich auf zweierlei, affektiv deutlich unterschiedliche Wei-
sen auf den Tod und damit auf sich selbst verstehen kann. Deshalb ist
ihm auch eine angemessene Explizierung jenes Gefühls nicht gelun-
gen. Damit signalisiert Schelling die Möglichkeit einer ›existentiellen
Hermeneutik‹, die der Bewährung seiner systematischen Erwägun-
gen dienen könnte oder die erst aufgrund einer systematischen Welt-
sicht angemessen durchgeführt werden kann. 338 Deshalb fährt die so-
eben zitierte Stelle auch fort, dass jene Aufgabe einer Explikation der
in einem solchen Gefühl sich bekundenden Tatsache wohl mit der
Aufgabe eines Nachweises des Zusammenhangs eines Begriffs (der
Freiheit bzw. der Unsterblichkeit) ›mit dem Ganzen einer wissen-
schaftlichen Weltansicht‹ ›in Eins zusammenfällt‹.
Der Hinweis auf zwei Gefühle oder zwei Verhältnisse zum Tod ist
nun nicht so zu verstehen, als würde Schelling damit behaupten, dass
einige oder vielleicht die meisten nur die Todesfurcht kennen, andere
hingegen nur die Liebe zum Tode. In jedem sind beide Gefühle, aber

337 Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336. Vgl. »So unfasslich diese Idee der gemeinen
Denkweise vorkommen mag, so ist doch in jedem Menschen ein, mit derselben über-
einstimmendes, Gefühl, als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen, und
keineswegs in der Zeit erst geworden« (Schelling 1809a, 468 f. / SW VII, 386; Herv. v.
Verf.). Dieses Gefühl gibt sich bereits in solchen wenig aufsehenerregenden Äußerun-
gen kund wie dem zur Entschuldigung angeführten ›So bin ich nun einmal‹. Vgl.
damit Spinozas Bemerkungen: »sentimus, experimurque, nos aeternos esse«, und:
»Si ad hominum communem opinionem attendamus, videbimus eos suae mentis ae-
ternitatis esse quidem conscios, sed ipsos eandem cum duratione confundere eamque
imaginationi seu memoriae tribuere, quam post mortem remanere credunt« (Spinoza
1677, Bd. II, 296, 301 f. (Ethica, V 23 sc., V 34 sc.)). Während in der ersten Stelle von
einem Gefühl der Ewigkeit die Rede ist, das nur diejenigen empfinden, die der dritten
Erkenntnisart fähig sind, so wird in der zweiten Stelle auf ein Gefühl der Ewigkeit
hingewiesen, das alle empfinden, wenn sie es auch nicht alle seiner Bedeutung nach
richtig verstehen.
338 Vgl. Zeltner 1931, 62. Für zwei Versuche einer solcher Durchführung, vgl. Wie-

land 1956; van Zantwijk 2000.

318
Die Unsterblichkeit der Seele

in einem unterschiedlichen Verhältnis. So heißt es, dass der »Wunsch


nach Unsterblichkeit« im Sinne der individuellen Fortdauer »am we-
nigsten demjenigen entstehen [kann], welcher schon jetzt bestrebt
ist, die Seele so viel möglich von dem Leibe zu lösen d. h., nach So-
krates, dem wahrhaft philosophirenden«. 339 Umgekehrt kann die Ver-
achtung des Todes oder die Liebe zum Tode am wenigsten in den
Nicht-Philosophierenden entstehen. Dieses Gefühl bleibt bei diesen
in einem Zustand der Latenz. Auf diese Proportionalität legt Schel-
ling ganz besonderes Gewicht. 340 Entscheidend ist, welchem Gefühl
man am meisten Macht über sich gestattet. Wenn Schelling schreibt,
dass »gerade diejenigen, die sich am wenigsten fürchten sterblich zu
seyn, d. h. diejenigen, in deren Seelen das meiste ewig ist, am un-
sterblichsten sind«, dann zeigt diese Formulierung, dass auch jenen
die Todesfurcht keineswegs unbekannt ist, dass aber das entgegen-
gesetzte Gefühl stark genug ist, diese Furcht zu beherrschen (SW
VI, 567; Herv. v. Verf.).
Hierauf liegt bei Schelling auch das Schwergewicht. Hieraus ist zu
ersehen, dass die Annahme »entgegengesetzter Zustände nach dem
Tode« den Kern der schellingschen Lehre von der Unsterblichkeit
ausmacht. 341 Gerade diesen Aspekt hebt er auch an der platonischen
Lehre hervor, an welche er hier ausdrücklich erinnert. Das Vorgefühl,
auf welches Eschenmayer verwiesen hatte, bleibt hingegen auffallend
neutral oder affektiv indifferent. Schelling hält dagegen, dass wir un-
serer Sterblichkeit nicht in einem solchen neutralen Vorgefühl, son-
dern in einem qualifizierten Gefühl innewerden. Zudem gibt es zwei
mögliche Gefühle, die ein Verhältnis zur eigenen Sterblichkeit be-
kunden. In Eschenmayers Äußerungen zu dem ›Wie‹ des Zustandes
nach dem Tode findet sich nichts von einem Unterschied entgegen-
gesetzter Zustände. Neben der erwähnten Proportionalität ist für
Schellings Unsterblichkeitskonzeption gleich bedeutend, dass wir der
Unsterblichkeit »schon jetzt« gewiss sein können. 342 Es ist nicht erst

339 Schelling 1804, 69 / SW VI, 60; Herv. v. Verf.


340 Beachte die vielen Ausdrücke, die eine solche Proportionalität bezeichnen: »am
wenigsten«, »so viel möglich« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 60), »in dem Verhältniss«
(Schelling 1804, 69 / SW VI, 61), »fast bloss«, »am meisten« (Schelling 1804, 70 /
SW VI, 61), »negirteste«, »viel wenigere« (Schelling 1804, 71 / SW VI, 62), »in dem
Mass« (Schelling 1804, 72 / SW VI, 62), »soviel möglich« (Schelling 1804, 74a /
SW VI, 64). Ebenso SW VI, 566 (»so viel«), 568 (»größten Theil«).
341 So Beckers 1865, 83.

342
Vgl. die Verwendung von Ausdrücke wie ›schon jetzt‹ oder ›hier schon‹, die im

319
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

nach dem Tode, dass die Seele in ihre eigentliche Existenz eingeht,
sondern diese kann bereits in der Gegenwart zum Tragen kommen.
Deshalb wird der Tod von Schelling nicht als ein zukünftiges und
noch ausstehendes Ereignis bestimmt, sondern als ein solches, das
bereits in die Gegenwart hineinwirkt. Der Tod wird von ihm be-
stimmt als eine »Reinigung« oder als eine Befreiung von der Sinn-
lichkeit. 343 Die Selbstheit wird nicht aufgehoben, sondern verwandelt.
Zwar kann die Seele sich im gegenwärtigen Leben nie ganz von der
Sinnlichkeit lösen, aber sie kann danach streben, sich so viel wie mög-
lich davon zu lösen. Deshalb die Verwendung des Komparativs und
des Superlativs. 344 Damit führt Schelling die Analysen des dritten
Abschnitts fort, wo er die Identität von Sittlichkeit und Glückseligkeit
beschrieben hatte. Während dort das Verhältnis von Gegenwart und
Vergangenheit im Fokus stand, da wird derselbe Zustand jetzt hin-
sichtlich des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft expliziert.

9. Gott als Liebe

Dies führt uns zum sachlichen Zusammenhang zurück, der Schelling


dazu bewegt haben mag, die Frage nach der Unsterblichkeit an diesem
Punkt von Philosophie und Religion zu erörtern, wenn es dem An-
schein nach auch bloß aus Veranlassung einiger Äußerungen Eschen-
mayers geschah. Die Konstruktion der Vergangenheit diente, wie wir
gesehen haben, dem Nachweis des Abfalls als eines allgemeinen Prin-
zips und der Begründung der Behauptung, dass Gott »eben so in Be-
zug auf die Gattung das gleiche Wesen der Freyheit und der Noth-
wendigkeit« ist. 345 Diese Aufgabe ist jedoch erst dann vollständig
gelöst, wenn es zudem gelingt, zu zeigen, dass die Geschichte des
»Geisterreichs« eine Endabsicht habe, welche diese sei, und, schließ-
lich, dass die Endabsicht des Geisterreichs oder der Geschichte die

vierten Abschnitt viermal und SW VI, 566 (§ 315), auf engstem Raum fünfmal vor-
kommen.
343 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62.

344 So ist z. B. die Rede von solchen, welche »den Dämon in sich am meisten befreyt

haben« und von solchen, die »von Materie trunken gleichsam am meisten, in ihrem
Sinne, fortdauern« (Schelling 1804, 70 / SW VI, 61; Herv. v. Verf.). Ferner noch vom
»negirteste[n] Zustand«, von »viel wenigere[n] Zwischenstufen« usw. (Schelling
1804, 71 / SW VI, 62).
345
Schelling 1804, 63 / SW VI, 56.

320
Gott als Liebe

Endabsicht »des gesammten Weltphänomens« erkennen lässt. 346 Die


Absicht, die sowohl der reellen als auch der ideellen Reihe zugrunde
liegt, wird somit erst und nur innerhalb der ideellen Reihe überhaupt
offenbar.
Beachten wir nochmals kurz den Aufbau des dritten und vierten
Abschnitts. Der Abschnitt Freyheit, Sittlichkeit und Seligkeit handel-
te zunächst von der Gegenwart, in welcher sich ein Abfall zeigte, der
indessen immer noch eine Abhängigkeit von dem bezeugt, wovon
abgefallen wird. Ein angemessener Begriff der Gegenwart beinhaltet
zugleich ihr Verhältnis zur Vergangenheit. Wir können diese Vergan-
genheit auch als eine absolute bezeichnen, da sie nie Gegenwart ge-
wesen ist und, obwohl der Gegenwart nicht homogen, doch in diese
hineinragt oder in sie insistiert. Um das Verhältnis der Gegenwart zur
Vergangenheit zu explizieren, hatte Schelling als paradigmatisches
Beispiel auf die Erziehungsbedürftigkeit des ›gegenwärtigen Men-
schengeschlechts‹ hingewiesen. Die Heterogenität von Vergangen-
heit und Gegenwart schlug sich auch in der Darstellungsweise nieder:
Für die Erkenntnis der Vergangenheit sind wir auf Hypothesen und
Mutmaßungen angewiesen, die insofern als berechtigt gelten kön-
nen, als sie die Verfassung der Gegenwart zu erklären vermögen. Jede
der drei Zeitdimensionen verlangt einen eigenen ihr angemessenen
Modus des Erkennens, um in ihrer Eigenart erschlossen zu werden.
Der Erkenntnismodus, der für die Gegenwart und alles Gegenwärtige
der angemessene ist, eignet sich somit nicht als eine Norm, die auch
für die anderen Zeitdimensionen Gültigkeit hätte.
Der erste Satz des vierten Abschnitts signalisiert dem Leser, dass
jetzt zur Dimension der Zukunft übergegangen werden soll. So heißt
es denn auch wenig später: »Hat schon die erste Endlichkeit der Seele
eine Beziehung auf Freyheit und ist eine Folge der Selbstheit« – was
sich daran zeigte, dass Schelling den gegenwärtigen Zustand als eine
Strafe oder als eine Befreiung von derselben gedeutet hatte –,
so kann auch jeder künftige Zustand der Seele zu dem gegenwärtigen
nur in diesem Verhältniss stehen und der nothwendige Begriff, durch
welchen allein die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird, ist der
der Schuld [und der mit ihr gleichzeitigen Strafe, R. S.] oder der Rein-
heit von der Schuld. 347

346 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57; Herv. v. Verf.


347
Schelling 1804, 70 / SW VI, 61.

321
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

Die Schuld besteht im Versäumnis, das in der eigenen Natur enthal-


tene Potential zur Entfaltung zu bringen. Da die ursprüngliche
Schuld die Möglichkeit, dieses Versäumnis wiedergutzumachen und
den Abfall rückgängig zu machen, nicht aufhebt, ist die Rede von
einer Schuld durchaus berechtigt, da jenes Versäumnis uns deshalb
zugeschrieben werden kann. Erst die Berücksichtigung der dritten
Zeit-Dimension, der der Zukunft, erlaubt es, einen vollständigen Be-
griff der Geschichte und damit des Abfalls zu gewinnen. Der Begriff
der Unsterblichkeit bzw. der Ewigkeit der Seele, so wie Schelling ihn
hier entwickelt, dient dazu, einen Begriff von dem bereitzustellen,
was wir als absolute Zukunft bezeichnen könnten. Auch Gegenwart
und Zukunft sind heterogen: Die Zukunft ist nicht das bloß noch
Ausstehende, sondern ragt ebenfalls in die Gegenwart hinein oder
diese ist auf jene hin geöffnet. Deshalb betont Schelling, dass jene
Zukunft ›schon jetzt‹ und ›schon hier‹ insbesondere in bestimmten
Gefühlen sich kundgibt.
Mit dem Begriff einer absoluten Zukunft hat Schelling einen ers-
ten Schritt zur Lösung der Frage nach der Endabsicht der Geschichte
getan. Aus der näheren Bestimmung dieses Begriffs wird zu ersehen
sein, worin diese Endabsicht besteht. Zunächst scheint es jedoch rät-
selhaft, inwiefern Schelling überhaupt eine solche Endabsicht anneh-
men kann, da die zeitliche Existenz oder der Abfall nach seiner Be-
hauptung doch im Absoluten oder im Wesen der Seele, insofern diese
im Absoluten begriffen ist, nichts verändert. 348 Da die zeitliche Exis-
tenz nichts im Wesen der Seele verändert, scheint sie nach dem Tode
genauso wieder in Gott einzugehen, wie sie von ihm abgefallen ist. In
der erneuten Einswerdung mit dem Absoluten scheint alles Individu-
elle wieder verloren zu gehen. 349 Damit die Reinigung vom Leiblichen
oder ihre Unterlassung einen Unterschied macht, muss etwas von der
Individualität erhalten bleiben, »das nicht von Gott war« und das die
Seele ausschließlich sich selbst zuschreiben könnte. 350 Diese Einswer-
dung mit dem Absoluten darf somit nicht als ein Einerlei-Werden
gedacht werden. Wenn der Abfall auch ein bloßes Akzidens ist, das
im Wesen der Seele nichts verändert, so ist es doch nicht das Wesen
der Seele, das wieder in Gott eingeht, während alles Individuelle der
Seele und des Leibes als Abfall zurückbleibt, sondern nur so viel geht

348
Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42.
349 Vgl. Beckers 1865, 78.
350
So Beckers 1865, 77.

322
Gott als Liebe

von der wirklich existierenden Seele wieder in Gott ein, als von ihr
dem Wesen untergeordnet und dadurch zu einem Ausdruck oder
›Werkzeug‹ des Absoluten gemacht worden ist. Das Verhältnis der
drei ›Dimensionen‹ in der jeweils existierenden Seele ist entscheidend
dafür, wie viel von ihr ewig oder unsterblich ist. Deshalb kann Schel-
ling sagen, dass, je mehr man hier die Seele von ihrer Beziehung zum
Leib reinigt und sie stattdessen zum Organ des Absoluten umgestal-
tet, desto mehr auch unsterblich ist. 351 Schelling definiert den Tod als
die Reinigung vom Leib bzw. von allen Verhältnissen, in welche die
Seele im gegenwärtigen Leben verwickelt ist. Wieviel nach dieser
Reinigung oder Substraktion übrigbleibt, ist jedoch abhängig davon,
wie man gelebt hat. An der platonischen Lehre hebt Schellings ins-
besondere den Gedanken hervor, dass die ethisch qualifizierte Diffe-
renz über den Tod hinaus Bestand hat. 352 Deshalb kann er auch die
Endabsicht der Geschichte als eine »Versöhnung des Abfalls« be-
stimmen. 353
Die Unsterblichkeit der Seele betrifft somit die Folgen des Verhält-
nisses von individueller Seele und Wesen der Seele. Die erste, aus
dem Abfall erfolgende Selbstheit ist eine bloß notwendige, die »aus
der unmittelbaren Wirkung Gottes herfliess[t]« und die »Gott, kraft
der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten […]
verleiht«. 354 Der Abfall in diesem Sinne verknüpft Gegenwart und
Vergangenheit und bindet jene an diese als an ihren Grund. Die zwei-
te, in der Zeit erworbene Selbstheit hingegen ist eine selbstgegebene:
Nur diese geht auch in die Zukunft ein. Der Einzelne hat insofern
eine gewisse Distanz zur ersten Selbstheit, indem es ihm frei steht,
sie zum Herrschenden oder zum Unterliegenden zu machen. Dadurch
kann die erste Selbstheit eine Anreicherung erfahren und einen neu-
en Wert erhalten, den sie in Gott nicht hatte oder haben konnte und
der ihr nur dadurch zuwachsen kann, dass die Idee der Endlichkeit
anheimgegeben wird. 355
Von hier aus »mag auch dieser [Abfall, R. S.] in jener Beziehung
von einer mehr positiven Seite angesehen werden«. 356 Erst jetzt ist es

351 Vgl. Schelling 1804, 69 / SW VI, 60.


352 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62.
353 Schelling 1804, 73a / SW VI, 63.

354 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63.

355
Für den Unterschied zwischen »Ewigkeit des Geistes a parte ante« und »Ewigkeit a
parte post«, vgl. Beckers 1865, 107.
356
Schelling 1804, 73 / SW VI, 63.

323
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

möglich, einen vollständigen Begriff des Abfalls zu entwickeln, den


Schelling von Anfang an in Aussicht gestellt hatte und der mit den
Ausführungen im zweiten Abschnitt noch keineswegs geleistet
war. 357 Dieser Begriff bezieht sich auf den Abfall als allgemeines Ge-
schehen, da es gilt, die Endabsicht »des gesammten Weltphänomens«
zu ermitteln. 358 Der Abfall ist insofern ein allgemeines Geschehen, als
das Prinzip der Seele oder der Individualisierung sich in der ganzen
Natur immer ausgeprägter zeigt. 359 Insofern die Natur im Menschen
den höchsten Grad der Individuation erreicht, kann man sagen, dass
die ganze Natur auf die Hervorbringung des Menschen als eines ver-
nunftfähigen Wesens ausgerichtet ist. Es war die Aufgabe der Natur-
philosophie, zu zeigen, dass das reelle Prinzip sich mit jener Leistung
oder mit der Hervorbringung eines Potenzlosen erschöpft hat. Hierin
lässt sich jedoch noch keine Absicht wahrnehmen, indem jenes Ziel
sich lediglich aus der immanenten Logik des Prinzips ergibt. 360 Mit
dem Menschen ist allerdings eine Wiederholung des Abfalls möglich,
da es nur ihm möglich ist, »aufs Neue in die Nicht-Absolutheit zu
fallen« oder wieder »sich in die Absolutheit herzustellen«. 361 Nur
dem Menschen ist es möglich, eine dieser beiden Möglichkeiten aus
Freiheit zu verwirklichen. Nur in ihm kann die Individuation zu
einem Mittel zur Wiederherstellung der Absolutheit werden. Damit
kann nur in ihm dem ersten Abfall die neue Qualität des Bösen oder
auch des Guten zuwachsen. Diese sittlich differente Qualität erhält
der Abfall erst und nur im Menschen, da nur er den Abfall so zu
wiederholen vermag, dass er ihm zuschreibbar ist. So wird der Abfall
zum »Mittel der vollendeten Offenbarung Gottes«, da nur durch ihn
»die Ideen […] fähig werden, als unabhängig existirende wieder in
der Absolutheit zu seyn«. 362 Da die Ideen nur die Fähigkeit erhalten,
auch ›als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn‹,
heißt dies somit noch nicht, dass der Abfall in dem Sinne ein Mittel

357
Vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.
358 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.
359 Vgl. Schelling 1804, 43 f. / SW VI, 44.

360 Dies bezeichnet Schelling später als den »Willen des Grundes«, der »kein bewuss-

ter oder mit Reflexion verbundner Wille« ist, »obgleich auch kein völlig bewusst-
loser«. Dieser Wille ist insofern blind, als er nicht weiß, was er will, und zwar in einem
doppelten Sinn: Er wird nicht durch eine Absicht geleitet und er sieht nicht voraus,
was aus ihm erfolgen wird (Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395).
361 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f.

362
Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf.

324
Gott als Liebe

zur Offenbarung Gottes wäre, dass die Ideen unmittelbar durch den
Abfall notwendig wieder in der Absolutheit wären.
Damit ist nicht nur der Begriff des Abfalls vervollständigt, son-
dern auch der Begriff des Absoluten erhält auf dieser zweiten Szene,
innerhalb der ideellen Reihe, einen neuen Wert, der ihn vervollstän-
digt. Erst innerhalb der ideellen Reihe zeigt sich eine Dimension des
Absoluten, die innerhalb der reellen Reihe oder nach der Logik des
reellen Prinzips nicht hervorzutreten vermochte. Insofern die End-
absicht, die sich in der Geschichte entdecken lässt, Gott zugeschrieben
werden kann und insofern er somit mit dem Universum insgesamt
eine Absicht verfolgt, ist er selbst als ein Wille zu denken. 363
Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur [und d. h.
insofern er bloß Grund von Realität ist, R. S.], dem Angeschauten die
Selbstheit verleiht [und er kann nicht anders, wenn dasjenige, worin er
sich selbst anschauen soll (das Angeschaute), gleich absolut sein muss
wie er selbst, R. S.], giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert
es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben
waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, als unabhän-
gig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn, welches durch die
vollkommne Sittlichkeit geschieht. 364
Der Abfall erhält dadurch einen sinnhaften Charakter, dass er end-
liche Wesen dazu befähigt, sich ein eigenes Leben zu geben, sich Ei-
genschaften zuwachsen zu lassen, die ihnen nicht bereits aufgrund

363
Wenn dies in Philosophie und Religion auch nicht expressis verbis formuliert
wird, so ist nicht zu sehen, welchen Sinn es hat, von einer Absicht zu sprechen, wenn
diese nicht aus einem Willen erwächst. Dieser Wille wird in den Philosophischen
Untersuchungen, im Unterschied zum »Willen des Grundes«, als ein »Wille der Lie-
be« bestimmt. Dieser ist kein blinder, sondern ein »freyer und bewusster Wille«.
Dieser Wille ist zum einen durch eine Absicht geleitet, zum anderen ist er mit einem
Wissen darüber verbunden, was aus seiner Tat erfolgen wird. Ohne letztere Bestim-
mung wäre dieser Wille zwar nicht völlig blind, indem er ja durch eine Absicht gelei-
tet wird, aber immer noch insofern blind, als er nicht wirklich weiß, was er will bzw.
welche Folgen sich aus seinem Willen ergeben werden, so dass Gott durch diese Fol-
gen unangenehm überrascht sein könnte (vgl. Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395).
Das häufige Vorkommen von ›damit‹, ›daher‹ und ›um‹ markiert stets eine Absicht,
die Gott mit der »Schöpfung« verfolgt (vgl. Schelling 1809a, 487–492 / SW VII, 399–
403).
364 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf. Vgl.: »Die Ideen, die Geister muss-

ten von ihrem Centro abfallen, sich in der Natur, der allgemeinen Sphäre des Abfalls,
in die Besonderheit einführen, damit sie nachher, als besondere, in die Indifferenz
zurückkehren und, ihr versöhnt, in ihr seyn könnten, ohne sie zu stören« (Schelling
1804, 64 / SW VI, 57; Herv. v. Verf.).

325
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

ihrer idealen Verfassung, aber ebenso wenig bloß von den Verhält-
nissen, in welchen sie sich finden, zukommen, sondern die ihnen
selbst zuzuschreiben sind. Erst dadurch ist ihnen die Möglichkeit er-
öffnet, ›als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn‹
oder aber diese Möglichkeit zu verfehlen. Diese ist nur durch die voll-
kommene Sittlichkeit realisierbar, wenn auch niemals der ganze
Mensch, so wie er in der Zeit oder als endliches Wesen ist, in jene
Absolutheit wieder eingeht, sondern nur der Teil von ihm, der jener
vollkommenen Sittlichkeit entspricht. 365 Die Identität mit Gott ist so-
mit keine Aufhebung der Selbstheit oder ein Verschwinden des Indi-
viduums in Gott, sondern die Selbstheit, oder besser, der Teil der
Selbstheit, der Ausdruck des Wesens der Seele geworden ist, bleibt
darin erhalten. Gott, so wie er hier erscheint, fungiert demnach als
ein Auswahl- oder Ausleseprinzip, das nur dasjenige durchlässt, was
Realität hat, insofern es der Idee entspricht, das andere aber zurück-
stößt.
Gott offenbart sich zwar auch in der Natur, aber nur insofern er
Grund ist. Diese eine Seite der ›Offenbarung‹ Gottes wird aber ins-
gesamt Grundlage für die Offenbarung Gottes, insofern er auch actu
existiert oder sich durch die Tat manifestiert, was nur in der Ge-
schichte oder auf geschichtliche Weise stattfinden kann. Deshalb wird
die Endabsicht der Geschichte des Universums oder der Natur nur in
der Endabsicht der Geschichte des Geisterreichs offenbar. 366 Deshalb
kann Schelling schreiben: »Mit dieser Ansicht vollendet sich erst das
Bild jener Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das
Gegenbild«, erst hier zeigt sich die Indifferenz als eine »Liebe Gottes
zu sich selbst«. 367 Die ursprüngliche Indifferenz erhält an dieser Stelle
die Qualität der Neidlosigkeit. Vom Neid war vorher nur ein einziges
Mal die Rede, indem Schelling eine Stelle aus dem Timaios (29e) an-
führte: »Der Ordner des Alls, drückt sich der Timäus in seiner bild-
lichen Sprache aus, war gut: dem Guten aber entsteht niemals, wegen
irgend etwas noch irgendwann, Neid: dessen frey wollte er, dass Alles
so viel möglich ihm ähnlich sey«. 368 Die Neidlosigkeit zeigt sich ins-

365 »Jede Seele ist mit dem Theil ihrer Individualität ewig [d. h. unsterblich, R. S.], der
in Gott ist« (SW VI, 565 f. (§ 315)).
366 Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.

367 Schelling 1804, 73a f. / SW VI, 63.

368
Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Vgl.: »Das Absolute aber ist nothwendig affekti-
onslos. Es ist nichts in Gott, wozu er sich neigen oder bewegen könnte, sondern er ist
das ewig gleich ruhige Centrum« (SW VI, 160 (§ 15)).

326
Gott als Liebe

besondere daran, dass das Absolute sich in sein Gegenbild hinein-


bildet, damit dieses »zugleich es selbst« und »ein wahrhaft anderes
Absolutes« zu sein vermag. 369 Damit ist ihm aber zugleich die Mög-
lichkeit gegeben, vom Urbild abzufallen. Gott kann als neidlos cha-
rakterisiert werden, sowohl indem er gegen das Leiden indifferent
oder gleichgültig ist, das dem Endlichen insofern zu Teil wird, als es
von seinem Urbild abfällt, als auch gegen die Seligkeit, die ihm inso-
fern zu Teil wird, als er ein Leben in Übereinstimmung mit dem Ur-
bild zu führen vermag. Diese Indifferenz oder Neidlosigkeit ist indes-
sen nur der negative Ausdruck der Liebe. Der positive Ausdruck der
Liebe oder einer »göttlichen Identität« findet sich darin, dass »in jener
nicht Entgegengesetzte verbunden werden, die der Verbindung be-
dürfen, sondern solche, deren jedes für sich seyn könnte, und doch
nicht ist ohne das andere«: »Diess ist das Geheimniss der ewigen Lie-
be, dass, was für sich absolut seyn möchte, dennoch es für keinen
Raub achtet, es für sich zu seyn, sondern es nur in und mit den an-
dern ist«. 370 Es ist Gott, der die Eigenschaft der Absolutheit nicht für
einen Raub erachtet, und der somit bereit ist, sie hinzugeben, oder der
nicht neidisch ist, dass auch andere ihrer teilhaftig werden. Würde
Gott es den endlichen Dingen grundsätzlich unmöglich machen, so
wie er selbst absolut zu sein und ihm durch die Absolutheit ähnlich
zu sein, dann wäre dies ein Anzeichen dafür, dass er diese Eigenschaft
(die Absolutheit) für einen Raub erachtet, nämlich für eine solche
Eigenschaft, die er sich selbst exklusiv vorbehält und in Bezug auf
die er nicht bereit ist, sie auch anderen teilhaftig werden zu lassen.
Dem Absoluten fehlt nicht nur der Neid. Es kann zudem nicht so
gedacht werden, als würde es sich über das Unglück der Menschen
(ihre Nicht-Absolutheit) erfreuen und über ihr Glück (die Absolut-
heit) traurig sein. Vielmehr freut es sich über ihr Glück und ist trau-
rig über ihr Unglück: Nur dies ist Anzeichen einer »Liebe Gottes zu
sich selbst«. 371
Dass dieses Theoriestück hier nicht lediglich aus Veranlassung ei-
niger Bemerkungen Eschenmayers vorkommt, zeigt sich daran, dass
es in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freyheit und die damit zusammenhängenden Gegen-
stände keineswegs fehlt, da vielmehr die durch jenes Theoriestück

369
Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34.
370 Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174 (§§ 162 f.).
371
Schelling 1804, 74a / SW VI, 63.

327
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

implizierten Fragen zu den mit der Frage nach dem Wesen der
menschlichen Freiheit zusammenhängenden Gegenständen gehören.
So wird auch in der Freiheitsschrift nach der »Endabsicht« der
›Schöpfung‹ und damit des »gesammten Weltphänomens« gefragt. 372
Auch dort kann die Frage nur dadurch beantwortet werden, dass sich
eine Endabsicht in der Geschichte entdecken lässt. Bevor wir auf die
hier von Schelling formulierte Antwort eingehen können, müssen
wir die Stelle kurz in ihren Zusammenhang zurückstellen, da dieser
nicht leicht zu durchschauen ist. Nachdem Schelling nämlich die
Frage nach der Möglichkeit 373 und der Wirklichkeit 374 des Bösen bzw.
nach der »Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös« behandelt
hat, kommt er auf die »höchste Frage dieser ganzen Untersuchung«
zu sprechen. 375 An dieser Stelle der Untersuchungen vollzieht sich
ein auffälliger Wechsel der Tonart: Nachdem Schelling bislang eine
Deduktion aus den Prinzipien mit Erläuterungen und kritischen An-
wendungen abgewechselt und beide klar unterschieden hatte, 376
nimmt die Darstellung jetzt plötzlich eine dialektische Gestalt an,
indem er sich von einem imaginierten Gegner mögliche Einwände
zuspielen lässt 377 und zeigt, wie die Ergebnisse der vorherigen Deduk-
tion vollkommen ausreichend sind, um diese Einwände zurückzuwei-
sen bzw. ihnen zu entgegnen. 378 Schelling kann die Konstruktion

372 Vgl. Schelling 1809a, 493, 494, 495 / SW VII, 403, 404, 405.
373 Vgl. Schelling 1809a, 438–450 / SW VII, 364–373.
374
Vgl. Schelling 1809a, 451–480 / SW VII, 373–394.
375 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.

376 Vgl. dazu Schelling 1809a, 438–441 / SW VII, 364–366 mit Schelling 1809a, 441–

450 / 366–373 und Schelling 1809a, 451–455 / SW VII, 373–376 mit Schelling 1809a,
455–480 / 376–394.
377 Dieser Teil ist durch Fragen strukturiert: »Die vorläufige Frage wegen der Freyheit

Gottes in der Selbstoffenbarung« (Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »und darin
liegt auch allein die Antwort auf die Frage,« (Schelling 1809a, 487 / 399); »Die Frage
aber, warum Gott« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott den Willen des
Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Eine andre
Gegenrede«, »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schelling 1809a,
493 / 403); »Schon lange hörten wir die Frage« (Schelling 1809a, 496 f. / 406). – Ge-
rade in diesem Teil entsteht der »Gang« der Erörterung noch am meisten »gesprächs-
weise«, indem Schelling erwägt, welche Einwände man gegen seine Ansicht vorbrin-
gen könnte und sogleich zeigt, welche Mittel im Bisherigen bereitliegen, um solche
Zweifel zu zerstreuen (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410). Zu dieser »dialoghaften
Gliederung« vgl. Ehrhardt 1995, 221.
378 »Die vorläufige Frage […] scheint zwar durch das Vorhergehende entschieden«

(Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »Dass die Selbstoffenbarung in Gott […], haben

328
Gott als Liebe

durch die dialektische Erörterung ersetzen, weil er im Vorhergehen-


den bereits alle dazu erforderlichen Mittel gefunden hat. Bis hierher
hatte Schelling dadurch bereits gezeigt, wie das Böse kein anfäng-
liches Wesen sein kann, dass er eine Vergangenheit konstruierte, in
welcher das Böse zwar vorkommt, aber nicht in der Eigenschaft eines
Bösen, sondern nur als ›dunkler Grund‹. Außerdem hatte er gezeigt,
wie das Böse auch in der Gegenwart keine Realität hat, indem es zwar
immer nach seiner Aktualisierung strebt, ihm diese jedoch nicht ge-
lingt oder auch nur gelingen kann, weshalb es nur im Gegensatz
einen Schein von Realität erhält.
Nachdem er so die ›Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös‹
nachgewiesen hat, soll nun die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur
›Schöpfung‹ erörtert werden. 379 Obwohl Schelling betont, dass er da-
mit »die höchste Frage dieser ganzen Untersuchung« in Angriff zu
nehmen gedenkt, so lässt er es doch zunächst offen, welche denn diese
»höchste Frage« sei, um sich stattdessen in der Erörterung von Fragen
zu verwickeln, die auf jene »höchste Frage« höchstens vorbereiten
oder zu ihr hinführen sollen. 380 Als erstes wird die Frage nach dem
Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹ in der Hinsicht betrachtet, ob die
›Schöpfung‹ »mit blinder und bewusstloser Nothwendigkeit erfolgt«
oder ob sie »eine freye und bewusste That« ist. 381 Die Beantwortung
dieser Frage ist aber bereits »durch das Vorhergehende entschieden«:
Die ›Schöpfung‹ ist als eine »That« zu denken. 382 Danach wirft Schel-
ling die Frage nach dem »Verhältniss Gottes als moralischen Wesens
zur Welt« auf. 383 Nur insofern Gott »alle Folgen derselben«, nämlich
seiner Selbstoffenbarung »vorgesehen« hat, ist jene Tat als eine »Ent-
scheidung« und als eine »bewusste und sittlich-freye That« anzu-

wir bereits erklärt« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott […], haben wir
ebenfalls schon gezeigt« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Es giebt darauf keine Antwort,
als die schon gegebene« (Schelling 1809a, 493 / 403); »Die erste Periode der Schöp-
fung ist, wie früher gezeigt worden …« (Schelling 1809a, 394 / 404).
379
Bereits die Überschrift des zweiten Abschnitts von Philosophie und Religion un-
terscheidet zwischen der Frage nach der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Ab-
soluten« und der Frage nach »ihr[em] Verhältniss zu ihm« (Schelling 1804, 18 /
SW VI, 28). Diese Unterscheidung kehrt am Ende wieder, wo zwischen dem »Ur-
sprung des Universum aus ihm [Gott, R. S.]« und »sein[em] Verhältniß zu diesem«
unterschieden wird (Schelling 1804, 74a / SW VI, 63 f.).
380 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.

381
Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.
382 Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394.

383
Schelling 1809a, 483 / SW VII, 396.

329
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sehen. 384 In der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis Gottes
zur ›Schöpfung‹ unterscheidet Schelling somit zweierlei: zum einen
die »Freyheit Gottes in der Selbstoffenbarung« oder die »Freyheit in
der Schöpfung«, zum anderen die Vorsehung. 385 Nur beide zusam-
men, Freiheit und Vorsehung, machen einen vollständigen Begriff
der ›Schöpfung‹ als eine Tat aus. Daran schließt Schelling nun wieder
eine Erläuterung oder kritische Anwendung des Gesagten an. 386 Die
ganze bisherige Erörterung sollte nur auf eine zweite Frage vorberei-
ten, »um deren willen diess vorausgeschickt worden«, nämlich die
Frage »wegen der Möglichkeit des Bösen in Bezug auf Gott«. 387 Aber-
mals wiederholt Schelling nur solches, das früher bereits bewiesen
wurde. Insbesondere hebt er erneut die Nicht-Realität des Bösen in
der gegenwärtigen Weltverfassung hervor, indem er daran erinnert,
dass es nur im Gegensatz Realität hat. Aber auch die Beantwortung
dieser Frage und der damit zusammenhängenden 388 dient nur der
Vorbereitung der Erörterung der eigentlichen, gleich anfangs in Aus-
sicht gestellten »höchste[n] Frage dieser ganzen Untersuchung«,
nämlich nach der Endabsicht der ›Schöpfung‹. 389 Alle diese vorberei-
tenden Fragen kreisen um die eine Frage nach dem Bösen und ins-
besondere nach der Gegenwart, in welcher das Böse eine unverkenn-

384 Schelling 1809a, 484 / SW VII, 397.


385 Schelling 1809a, 481, 483 / SW VII, 394, 396.
386 Vgl. Schelling 1809a, 484–486 / SW VII, 397–398.

387
Schelling 1809a, 481 / SW VII, 399.
388 Schelling 1809a, 492, 493 / SW VII, 402, 403. Die mit der Frage nach dem Bezug

zwischen der Möglichkeit des Bösen und der Güte Gottes zusammenhängenden Fra-
gen sind die, weshalb es überhaupt einen Grund in Gott gibt (Schelling 1809a, 487 /
SW VII, 399), ob Gott als Grund Urheber des Bösen sei (Schelling 1809a, 488 /
SW VII. 399), ob »Gott selbst […] das Böse gewollt [habe]« (Schelling 1809a, 491 /
SW VII, 402 f.), »warum Gott […] nicht vorgezogen habe, sich überhaupt nicht zu
offenbaren« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 402), warum »Gott den Willen des
Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 403), ob Gott
dem Sünder nicht »die Kraft gebe, das Böse zu vollbringen« (Schelling 1809a, 493 /
SW VII, 403).
389 Deshalb heißt es auch: »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schel-

ling 1809a, 493 / SW VII, 403), wobei ›alles dieses‹ sich auf die seit Schelling 1809a,
480 / SW VII, 394 erörterten Fragen bezieht. Obwohl Schelling alle Fragen, die als
Einwände gegen sein System gerichtet werden könnten, bislang erfolgreich hat be-
antworten können, so wäre die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹
doch nicht vollständig und befriedigend beantwortet, wenn nicht auch diese letzte
Frage, nämlich ob die Schöpfung auch eine Endabsicht habe, beantwortet werden
kann.

330
Gott als Liebe

bare und unbestrittene Realität zu haben scheint. Die nach der Beant-
wortung der vorbereitenden Fragen noch unbeantwortet gebliebene
Frage bezieht sich jedoch auf die Zukunft.
Eigentlich sind dabei drei Fragen zu beantworten. 390 Erstens die
Frage, ob »das Böse [endet]« oder nicht, oder ob »überhaupt die
Schöpfung eine Endabsicht« habe oder nicht. 391 Gesetzt, dass das Böse
endet, so ist, zweitens, zu fragen, wie es denn endet oder welche die
Endabsicht der ›Schöpfung‹ ist. Und gesetzt, dass die ›Schöpfung‹ eine
Endabsicht habe, so bleibt, drittens, immer noch die Frage zu beant-
worten, »warum diese […] nicht unmittelbar erreicht [wird]«. 392 Die
›höchste Frage‹ kann als die Frage zusammengefasst werden, warum
überhaupt Geschichte ist und warum diese in den drei Dimensionen
oder Perioden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinan-
dergezogen ist. Es scheint, dass die genannten drei Fragen auch in
dieser Reihenfolge beantwortet werden müssen, da die Beantwortung
der zweiten und dritten Frage voraussetzt, dass über die erste ent-
schieden ist. Dennoch beantwortet Schelling die dritte Frage zuerst,
und zwar, weil er sich damit begnügen kann, auf »die schon gegebe-
ne« Antwort zu verweisen. 393 Diese war dort gegeben worden, wo
Schelling die Konstruktion der Perioden der Geschichte durchgeführt
hatte. Das Ziel der ›Schöpfung‹ wird deshalb nicht unmittelbar er-
reicht, weil der »Wille des Grundes […] in seiner Freyheit bleiben
[muss], bis dass alles erfüllt, alles wirklich geworden sey« oder, an-
ders gesagt, damit das Gute sich ganz aktualisieren kann. 394 Damit
sind jedoch zugleich auch die erste und die zweite Frage beantwortet:
»Denn diess ist die Endabsicht der Schöpfung, dass, was nicht für sich
seyn könnte«, nämlich die Ideen, insofern diese in Gott »ohne selbst-
ständiges Leben waren«, »für sich sey«. 395 Aus dieser Endabsicht der
Schöpfung lässt sich auch eine positivere Ansicht der Geburt oder des
Abfalls gewinnen, der sich als notwendig erweist, um jene Absicht
überhaupt verfolgen zu können. Damit hat auch der Tod sich zugleich
als notwendig erwiesen, da nur so das Böse enden kann. Damit ist die
Stelle in den Philosophischen Untersuchungen bezeichnet, wo die
Unsterblichkeitslehre hingehört. Sie ist in dem systematischen Zu-

390 So auch Brouwer 2011, 263.


391 Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403.
392 Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403.
393
Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403.
394 Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404.
395
Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404.

331
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

sammenhang unentbehrlich, da nur mittels ihrer die Frage nach der


›Endabsicht der Schöpfung‹ und damit die nach dem Verhältnis Got-
tes zur ›Schöpfung‹ sich beantworten lässt. Ohne diese Lehre bliebe
die Frage, ob und wie das Böse endet, ohne Antwort.
Dennoch erweist auch die Beantwortung jener übriggebliebenen
Frage sich plötzlich als ebenfalls nur eine Vorbereitung, die erst »auf
den höchsten Punkt der ganzen Untersuchung« hinführt. 396 Aus der
gleichlautenden Formulierung ist klar, dass Schelling erst hier wirk-
lich an die ›höchste Frage dieser ganzen Untersuchung‹ anknüpft.
Keine der bislang erörterten Fragen war die höchste Frage selbst,
wenn ihre Beantwortung allerdings erforderlich war, um jenen
höchsten Punkt überhaupt ansteuern zu können. Mit der Erreichung
dieses höchsten Punkts kehrt die Untersuchung zugleich zu ihrem
Anfang zurück. 397 Die »gegenwärtige Untersuchung« »gründet[e]«
sich nämlich auf eine Unterscheidung, die Schelling, als er sie ein-
führte, nicht eigens begründet oder gerechtfertigt hatte. 398 Stattdes-
sen hatte er sich darauf beschränkt, sie bloß zu erläutern und für die
Begründung auf die Darstellung meines Systems der Philosophie zu
verweisen. Nach einem solchen provokanten Vorgehen darf es kaum
verwundern, wenn wir »[s]chon lange […] die Frage [hörten]: wozu
soll doch jene erste Unterscheidung dienen«, da es eine solche Frage
gerade herausfordern will. 399 Eine Begründung im eigentlichen Sinn
soll indessen auch hier nicht nachgeliefert werden. Stattdessen möch-
te Schelling vielmehr darauf hinweisen, wie jene Unterscheidung sich
insbesondere durch die Folgen, die sich aus ihr ziehen lassen, bewährt
hat, ebenso durch den Gebrauch, den er von ihr bei der Beantwortung
metaphysischer Grundfragen gemacht hat. Bevor er zur Beantwor-
tung dieser Frage übergeht, schaltet Schelling jedoch erneut eine
»dialektische Erörterung« ein, die als Ziel hat, die Frage zu präzisie-
ren, um möglichen Missverständnissen der Frage selbst vorzubeu-

396 Schelling 1809a, 496 / SW VII, 406.


397
Die ›schon lange gehörte Frage‹ bezieht sich zunächst auf »die höchste Frage dieser
ganzen Untersuchung« (Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394), die dort noch nicht aus-
formuliert wurde, sodann auf Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357, wo »die Unter-
scheidung […] zwischen dem Wesen, sofern es existirt, und dem Wesen, sofern es
bloss Grund von Existenz ist«, ganz unvermittelt eingeführt wurde. Anschließend
kommt Schelling auf Friedrich Schlegels Vorwurf des Pantheismus zurück, der das
Leitthema für die Einleitung der Untersuchungen abgegeben hatte (Schelling 1809a,
502 f. / SW VII, 409 f.).
398 Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357.

399
Schelling 1809a, 496 f. / SW VII, 406.

332
Gott als Liebe

gen. 400 Die positive oder ›ganz bestimmte‹ Erklärung bezieht sich
dann erneut auf den Charakter des Absoluten als Indifferenz und
Liebe. 401
In Philosophie und Religion hatte Schelling bemerkt, dass »der
Ursprung des Universum aus ihm [sc. Gott, R. S.] und sein Verhält-
niss zu diesem« sich noch am angemessensten durch das »Bild der
Liebe Gottes zu sich selbst« darstellen ließen. 402 Als Beleg für die Be-
hauptung führt er lediglich eine Stelle Spinozas an. 403 Die Rede von
einer Liebe Gottes zu sich selbst gilt Schelling indessen nur als ein
›bildlicher Ausdruck‹ eines Sachverhalts. Der gemeinte Sachverhalt
ist jener »Zustand der Seele, in welchem sie das wirklich ist, was sie
der Idee nach ist«, in welchem sie demnach mit ihrer eigenen Natur,
insbesondere mit der Vernunft, völlig in Übereinstimmung ist:
Ist also das ganze Wesen der Seele das, was es an sich oder der Idee nach
ist, auch wirklich, nämlich die absolute Affirmation der Idee Gottes,
nichts außer dem, so können aus ihr auch keine Handlungen folgen, als

400 Schelling 1809a, 499 / SW VII, 407; vgl. Schelling 1809a, 497–499 / SW VII, 406–
407. Die »dialektische Erörterung« knüpft offensichtlich an Philosophie und Religion
an: Die Bemerkung, dass »die beyden Prinzipien« (Reales und Ideales, Objektives und
Subjektives) »von dem Ungrund niemals als Gegensätze prädicirt werden [können]«
(Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407), ist mit der »erste[n] Form des Setzens der Ab-
solutheit« zu vergleichen, wonach diese nur »durch ein Weder – Noch« ausgedrückt
werden kann (Schelling 1804, 11 / SW VI, 23). »Aber es hindert nichts, dass sie nicht
als Nichtgegensätze, d. h. in der Disjunktion und jedes für sich von ihm prädicirt
werden« (Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407). Prädikate ›zugleich‹ oder aber ›glei-
cherweise‹ von etwas (in diesem Fall vom Ungrund) auszusagen, ist für Schelling also
nicht dasselbe. Vgl. für diese wichtige Unterscheidung Schelling 1809a, 499 / SW VII,
408 und beachte Schelling 1804, 13 / SW VI, 24.
401 Dazu Brouwer 2011, 268 f.

402 Schelling 1804, 74a / SW VI, 63 f.

403 Spinoza 1677, Bd. II, 302 (Ethica, V 35). Gerade in der Lehre Spinozas von dem

amor intellectualis Dei, die engstens mit dessen Lehre von der Unsterblichkeit zu-
sammenhängt, dürften die »letzten Anklänge alter, ächter Philosophie« sein, die nach
Schellings Behauptung »durch Spinoza vernommen« wurden (Schelling 1804, 3 /
SW VI, 17). Als solche wurde dort nämlich auch auf die »Ethik« als »die Anweisung
zu einem seligen Leben« verwiesen, »wie sie gleichfalls in dem Umkreiss heiliger
Lehren vorkommt«, wovon es später – mit Hinweis auf Platons Phaidon wie auf die
»Eleusinischen Geheimnisse[…]« – heißt, dass »ihre practische Lehre […] darinn
bestand, dass die Seele, das gefallene Göttliche im Menschen, so viel möglich von der
Beziehung und Gemeinschaft des Leibes abgezogen und gereiniget werden müsse, um
so, indem sie dem Sinnenleben absterbe, das absolute [Leben, R. S.] wieder zu gewin-
nen und der Anschauung des Urbildes wieder theilhaftig zu werden« (Schelling 1804,
36 / SW VI, 39).

333
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

welche die Idee Gottes ausdrücken, d. h. solche Handlungen, in welchen


sich der höchst denkbare Grad von Realität ausdrückt, und welche daher
die vollkommensten sind. (SW VI, 556 (§ 310))
Dieser Zustand kann auch »[b]ildlich« als »die unendliche intellek-
tuelle Liebe der Seele zu Gott« »ausgedrückt werden«, »welche, ab-
solut betrachtet, nur die Liebe ist, mit der Gott sich selbst liebt« (SW
VI, 556 (§ 310)). In den Philosophischen Untersuchungen verzichtet
Schelling auf das Spinoza-Zitat und führt stattdessen eine Stelle aus
den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie an, in wel-
cher er jenen Sachverhalt mittels eines Zitats aus dem Philipper-
brief 404 angedeutet hatte, wenn er auch in der Freiheitsschrift gerade
diese Anspielung unterdrückt. 405 Auch dieses Zitat enthält indessen
nur einen ›bildlichen Ausdruck‹ dessen, was die Philosophie durch-
sichtig gemacht hat. In unmittelbarem Anschluss an das Spinoza-Zi-
tat hatte Schelling nämlich darauf hingewiesen, dass jene Einsicht,
die Spinoza in der zitierten Stelle bildlich ausdrückt, sich auch »in
allen denjenigen Religionsformen« nachweisen lässt, »deren Geist
im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist«. 406 Das Paulus-Zitat, das in
den veröffentlichten Schriften nur ein einziges Mal vorkommt, kann
somit als eine nachträgliche Bestätigung dieser Behauptung verstan-
den werden, die Schelling in Philosophie und Religion nicht weiter
belegt. 407 Auch hier achtet Schelling somit darauf, eine Beziehung
zwischen diesen drei Stellen herzustellen, indem er durch den Hin-
weis auf die Aphorismen an die Paulus-Stelle erinnert, ohne sie zu
wiederholen, zugleich aber auch jene Stelle aus Philosophie und Re-
ligion variierend übernimmt und durch einen Hinweis in einer Fuß-
note den Leser auf dieselbe verweist. 408

404 Vgl. Phil 2,6 f.


405 Vgl. Schelling 1809a, 499 / SW VII, 408; Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174
(§§ 162 f.).
406 Schelling 1804, 74a / SW VI, 64. Nicht nur das Christentum, sondern ebenso sehr

die Mysterien gelten Schelling als eine Form der ganz ›im Wesen der Sittlichkeit
gegründeten‹ Religion innerhalb der Antike.
407 Den 162. Aphorismus (Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174) zitiert Schelling ferner

in Schelling 1806b, XLIX / SW II, 376, den 163. in SW VI, 407 (§ 211) und SW VII,
453. Beachte allerdings den Gebrauch, den er von dem Paulus-Wort macht in Schel-
ling 1806a, 12, 160 / SW VII, 28, 122.
408 Schelling 1809a, 495 / SW VII, 404. Gerade in diesem Zusammenhang zitiert

Schelling übrigens am meisten und auffälligsten die Bibel und versucht dadurch, den
Leser davon zu überzeugen, dass die hier entwickelte Lehre mit der Schrift völlig in
Einklang ist. Die zitierten Stellen entstammen fast ausnahmslos den Briefen Paulus’

334
Gott als Liebe

* * *

Kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, die erst hier ihre voll-
ständige Auflösung gefunden hat. Die Frage lautete: »[W]as der
Grund sey alles Uebels?« 409 Erstens gilt es zu bemerken, dass das Übel
oder die Endlichkeit noch nicht selbst das Böse ist, die Frage nach dem
Bösen aber erst auf der Grundlage einer angemessenen Lösung der
Frage nach der Endlichkeit zu beantworten ist. Da Eschenmayer die
Frage nicht in diese Richtung zugespitzt hatte, so unterlässt Schelling
es, ausführlich darauf einzugehen, während er zugleich einige Hin-
weise gibt, welche Folgerungen aus der dargelegten Lehre bezüglich
jener Frage zu ziehen sind. So wächst der Endlichkeit bzw. dem Abfall
erst in der höchsten Potenz die Qualität des Bösen bzw. der ›Sünde‹
zu. In diesem Sinne kann den Menschen die Schuld für den Abfall
auch der Natur zugeschrieben werden. Zweitens bemerkt Schelling,
dass erst im Gebiet der praktischen Philosophie die ›vollständige Auf-
lösung‹ der Frage nach dem Grund des Übels gegeben werden kann.
Der vollständige Begriff des Abfalls ist erst dann erreicht, wenn man
in ihm eine Absicht erkennt. Innerhalb der Naturphilosophie oder der
reellen Reihe kann er nie anders denn als ein Schicksal erscheinen.
Drittens erfordert der Grund des Übels nicht so sehr eine Erklärung,
sondern vielmehr ein vernünftig nachvollziehbares Motiv (so wie die
Gründe, die jemand für sein Handeln angibt). So liegt der Grund im
›Charakter‹ Gottes, der sich erst und nur hier als Liebe offenbart. Als
solches offenbart er sich indessen ausschließlich dem Philosophen:
Dieser hat insofern eine unmittelbare Erfahrung von Gott als Liebe,
als er in Einklang mit seiner eigenen Natur lebt, d. h. insofern er phi-
losophiert und darin einen Einklang von Notwendigkeit und Freiheit
entdeckt. Erst in diesem Zusammenhang erweist sich die absolute
Identität als Liebe. Die Philosophie ist somit imstande, diesen Cha-
rakter Gottes ohne Rückgriff auf irgendwelche Offenbarung, ledig-
lich auf eigener Kraft, zu entdecken. Sie ist daher »in ewigem Bunde«

und dem Johannes-Evangelium. Von Paulus hatte Schelling früher bemerkt, dass in
dessen »Geiste […] das Christenthum etwas anderes geworden, als es in dem des
ersten Stifters war« (Schelling 1803a, 198 / SW V, 300), und zwar indem er es mit
der Philosophie oder der Spekulation verbindet (vgl. SW V, 426 f.). Schellings Um-
gang mit der Bibel (die Auswahl der von ihm zitierten Stellen sowie deren Deutung)
würde eine eigene Untersuchung verdienen. Zur Methode der Bibel-Auslegung: Ja-
cobs 1993; Danz 2012; Rüttenauer 2015.
409
Schelling 1804, 18 / SW VI, 28.

335
4. Kapitel. Tugend und Geschichte

mit der Religion. 410 Viertens muss es aber auch den Nicht-Philoso-
phen möglich sein, Gott als Liebe zu verstehen, da ja das Verhältnis
Gottes zum Universum »in allen denjenigen Religionsformen […],
deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist«, als ein solches
der Liebe »dargestellt worden« ist – und kaum anzunehmen ist, dass
die Stifter dieser Religionen allesamt Philosophen waren. 411 Damit
stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass auch Nicht-Philoso-
phen zur Entdeckung dieses Grundcharakters Gottes gelangt sind.
Die Antwort muss damit zusammenhängen, dass jene Einsicht sich
nur in solchen Religionen findet, ›deren Geist im Wesen der Sittlich-
keit gegründet ist‹. Darin ist impliziert, dass es auch Nicht-Philoso-
phen möglich sein muss, die wahre Sittlichkeit – oder wenigstens ein
Analogon derselben – zu entdecken, die sich dadurch auszeichnet,
dass in ihr Notwendigkeit und Freiheit identisch sind. Auch sie sind
somit erst da wahrhaft frei, wo sie mit einem Ganzen in Einklang
sind. Dieser Problemzusammenhang bildet den Rahmen der nächst-
folgenden Überlegungen.

410 Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.


411
Schelling 1804, 74 / SW VI, 64.

336
5. Kapitel. Politik und Religion

Nach einem noch immer kolportierten Urteil gilt Schelling als »kein
politischer Denker« 1 oder sogar als »der ›unpolitischste‹« »[u]nter
den Denkern des klassischen deutschen Idealismus«. 2 Vielleicht wol-
len solche Urteile nicht mehr behaupten, als dass Schelling die poli-
tischen Dingen nur selten zum Gegenstand einer ausdrücklichen
Erörterung gemacht hat und sich stattdessen auf metaphysische Spe-
kulationen über die Idee des Absoluten, auf naturphilosophische
Konstruktionen oder auf Analysen zum Thema Religion beschränkt.
Allerdings würden sie dann implizieren, dass solche Spekulationen
und Konstruktionen nicht zum Aufgabenbereich der Politischen Phi-
losophie gehören. Wenigstens Schellings Zeitgenossen scheinen et-
was davon gespürt zu haben, dass die betont ›unpolitischen‹ Spekula-
tionen für die geläufigen Ansichten von Moral, Religion und Politik
von weitreichenden Konsequenzen waren. Jedenfalls scheinen die an-
geführten Urteile auf eine Gleichsetzung von Politischer Philosophie
und politischer Theorie zu beruhen. Da es fraglich ist, inwiefern
Schelling eine solche Gleichsetzung unterschreiben würde, haben
wir den einzigen Text, in welchem er sich ausschließlich politischen
Themen widmet, näher zu untersuchen, um zu sehen, ob nicht in
Schellings Analyse des Politischen ein Argument für das festgestellte
Fehlen einer politischen Theorie im engeren Sinne zu finden ist. Nur
dann dürften wir in der Lage sein, den unvermittelten und über-
raschenden Hinweis auf den Staat im »Anhang« von Philosophie
und Religion angemessen zu interpretieren.
Wenn nicht bereits das Zitat aus dem Zweiten Platon-Brief in der
Präambel zum zweiten Abschnitt den Leser auf den politischen Cha-
rakter von Schellings Philosophie aufmerksam hat machen können,

1
Dieses Urteil stellt Jürgen Habermas an den Anfang seines Aufsatzes (Habermas
1963, 108).
2
So Cesa 1986, 226.

337
5. Kapitel. Politik und Religion

dann wäre spätestens der Hinweis im »Anhang« dazu geeignet, die


Frage nach dem Verhältnis von Politik, Philosophie und Religion ins
Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, wenn dies auch bislang in
der Auseinandersetzung mit Philosophie und Religion unterlassen
worden ist. Der »Anhang«, den Schelling seiner Schrift beigegeben
hat, stellt den Leser nämlich vor einige Schwierigkeiten besonderer
Art. Zunächst dürfte die Bezeichnung als »Anhang« zu der Meinung
verleiten, dass dort nur Fragen von untergeordneter Bedeutung be-
handelt werden, nachdem die Hauptsache bereits im Hauptteil der
Schrift abgehandelt wurde. Die Überschrift des »Anhangs« leistet
dieser Einschätzung noch Vorschub. Es heißt nämlich, dass hier
»[u]eber die äusseren Formen, unter welchen Religion existirt«, ge-
handelt werden soll. 3 Von solchen ›äusseren Formen‹ kann allerdings
erst dann die Rede sein, wenn die Frage nach dem inneren Wesen der
Religion hinreichend geklärt ist. Indessen knüpft der »Anhang« un-
übersehbar an die Einleitung an. Nicht nur ist erneut von den Mys-
terien und von der Volksreligion die Rede, 4 es wird auch die in der
Einleitung angedeutete Frage nach dem Verhältnis von Philosophie
und Religion wieder aufgenommen. 5 Wir können somit vermuten,
dass die in der Einleitung aufgeworfene Frage erst hier ihrer Lösung
zugeführt werden soll. Dann wäre das Programm, das Schelling am
Ende der Einleitung formulierte und im Hauptteil der Schrift ein-
zulösen gesucht hatte, nämlich »diejenigen Gegenstände, welche der
Dogmatismus der Religion und die Nichtphilosophie des Glaubens
sich zugeeignet haben, der Vernunft und der Philosophie zu vindici-
ren«, selbst nur Teil eines umfassenderen Vorhabens. 6 Jenes Pro-
gramm hatte sich selbst nur daraus ergeben, dass das ursprüngliche
Verhältnis von Philosophie und Religion sich verkehrt hatte: Erst die
unrechtmäßige und einseitige Zueignung der Gegenstände der Phi-
losophie durch die Religion wie auch die Entstellung, die diese dabei

3 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.


4
Seit der Einleitung war von den Mysterien und der Volksreligion nur noch einmal
die Rede, und zwar in ein und demselben Satz im zweiten Abschnitt (vgl. Schelling
1804, 35 / SW VI, 39). Dieser Satz hebt den »geradesten und auffallendsten Gegen-
satz« beider hervor, der im Anhang wieder Thema wird (Schelling 1804, 74b / SW VI,
66). Wie wir jedoch gesehen haben, ist die Problematik durch die ganze Schrift hin-
durch unterschwellig präsent.
5 Zudem entfallen fast alle Verwendungen von Religion in einer Schrift, deren zen-

trales Thema das Verhältnis von Philosophie und Religion ist, auf die Einleitung und
den Anhang.
6
Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.

338
5. Kapitel. Politik und Religion

erfuhren, nötigten dazu, sie wieder der Philosophie zu vindizieren.


Bevor wir uns auf diese Fragen einlassen können, stellt sich uns al-
lerdings noch eine weitere Schwierigkeit in den Weg. Gleich im ers-
ten Satz des »Anhangs« ist nämlich unvermittelt und, wie es scheint,
durch nichts Bisheriges vorbereitet, vom ›Staat‹ die Rede. Da es sich
um eine zwar überraschende, aber doch nur vereinzelte Erwähnung
handelt, könnte der weniger aufmerksame Leser veranlasst sein, ihr
kein allzu großes Gewicht beizumessen. 7 In diesem Absatz behauptet
Schelling eine Entsprechung zwischen Universum und Staat, aus wel-
cher er mehrere Sätze ableitet. Eine vollständige Begründung der
Prämisse gibt er in der Folge jedoch nicht, sondern er begnügt sich
mit dem Hinweis, dass der Staat »eine zweyte Natur« darstellt und
als solche der natürlichen Ungleichheit Rechnung zu tragen hat. 8
Da sich in diesen Aussagen der Kern des »Anhangs«, möglicher-
weise der ganzen Schrift und damit vielleicht jener ›brennende Stoff‹
finden dürfte, vor dem Schelling anfangs den leichtsinnigen Leser
gewarnt hatte, werden wir versuchen, den Grundgedanken der Neuen
Deduction des Naturrechts so darzustellen, dass er sich für das
Verständnis von Philosophie und Religion fruchtbar machen lässt.
Nachdem wir nachgewiesen haben, dass Schelling an diesem Grund-
gedanken weiterhin festhält, werden wir deshalb eine eingehende In-
terpretation von Schellings elliptischen und enigmatischen Bemer-
kungen zum Verhältnis von Politik und Religion im »Anhang«
versuchen, insbesondere der grundlegenden Unterscheidung der
Freien und Nicht-Freien. Dabei werden wir auch genötigt sein, eini-
ges zum Thema der Mysterien nachzutragen. Nach einigen Hinweise
auf das politische Handeln Schellings, das aufgrund der zitierten Ur-
teile noch nicht so erforscht worden ist, wie es dies verdient, werden
wir dann zum Schluss auf Schellings Gegenstück zum positiven Teil
von Eschenmayers Programm eingehen können, das, wie wir früher
gesehen haben, darin bestand, ›eine reine und von aller Spekulation
befreyte Theologie‹ zur Entfaltung zu bringen. Zu beachten ist, dass
Schelling damit lediglich die Konsequenzen seiner Überlegungen zu
den Mysterien zieht, wie wir sie im ersten Kapitel zu umreißen ge-
sucht haben, sowie seiner Darlegungen zur Lehre des Absoluten, wie
sie im zweiten und dritten Kapitel entfaltet wurden. Erst die gehörige

7
Anders aber Windischmann, der in seiner Reaktion nur auf diesen einen Punkt
eingeht (s. u.).
8
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.

339
5. Kapitel. Politik und Religion

Beachtung dieser Konsequenzen klärt über Schellings eigentliche In-


tention auf sowie darüber, dass jene metaphysischen und naturphi-
losophischen Spekulationen einen integralen Teil seiner Politischen
Philosophie bilden.

1. Eine neue Deduktion des Naturrechts

Die Neue Deduction des Naturrechts von 1796 ist die einzige Schrift
Schellings, die ausschließlich einer politischen Thematik gewidmet
ist. In späteren Schriften belässt er es bei vereinzelten beiläufigen
Bemerkungen und Andeutungen. Es sieht so aus, als ob ein vorüber-
gehendes Interesse an politischen Fragen anderen Interessen gewi-
chen ist. Wie sich zeigen wird, kommt Schelling gerade deshalb nur
noch selten auf politische Fragen zu sprechen, weil er unverrückbar
am wesentlichen Ergebnis jener frühen Schrift festhält und keinen
Grund sah, es eingreifend zu revidieren. Außerdem wird gerade auf-
grund jenes Ergebnisses das Problem der Religion virulent. Die Fest-
stellung, wonach Schelling sich vom Politischen ›abgewandt‹ und da-
für der Religion ›zugewandt‹ hätte, verfehlt somit das eigentliche
Problem, das Schelling beschäftigt: Die angebliche ›Wende‹ zur Reli-
gion erwächst vielmehr aus seiner Staatskritik, da das Problem der
Politik, wie die Naturrechts-Deduktion zeigt, sich nicht mit poli-
tischen Mitteln, sondern, wenn überhaupt, nur durch die Religion
lösen ließe. Trifft dies zu, dann dürfte die Neue Deduction des Natur-
rechts sich als ein Schlüsseltext für das Verständnis der schellings-
chen Philosophie erweisen. 9

9 Die Schrift erschien im – von Niethammer, später gemeinsam mit Fichte heraus-
gegebenen – Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, der ers-
te Teil (§§ 1–84) im Juli 1796, der zweite Teil (§§ 85–Nachschrift) erst im August 1797.
Die verzwickte editorische Geschichte dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass die
Schrift nur wenig Nachhall gefunden hat. Außerdem veröffentlichten Kant und Fich-
te in der Zeit zwischen den beiden Lieferungen ihre eigenen Rechtslehren. Verfasst
wurde die Schrift wahrscheinlich zwischen dem 22. Januar und dem 23. März 1796.
Vgl. AA I,3, 115–135 (Ed. Bericht); Hofmann 1999, 10–24, 34–36. Die Schrift hat in
der Schelling-Forschung bislang nur wenig Interesse gefunden. Bis auf weiteres bleibt
Hollerbach 1957 unüberholt, allein schon wegen der Quellenstudien und des feinen
Gespürs, das ihn auch dort noch juristische und politische Bezüge auffinden lässt, wo
man sie zunächst nicht suchen würde. Eine Verortung der Naturrechts-Deduktion in
den damaligen Naturrechtdebatten sowie eine Rekonstruktion ihres Verhältnisses zu
den kantischen und fichteschen Rechtslehren, die den von Schelling in der Nach-

340
Eine neue Deduktion des Naturrechts

Man hat zu Recht beobachtet, dass Schelling im ersten Abschnitt


der Naturrechts-Deduktion an Einsichten anknüpft, die er in Vom Ich
und in den Philosophischen Briefen gewonnen hatte, besonders in der
Bestimmung der Moral. 10 Aus dem Begriff des absoluten Ich wird die
höchste Forderung der Moral abgeleitet. Die praktische Philosophie
kennt als einziges Gebot nur die Realisierung der Autonomie oder
Selbstbestimmung: »Sei! im höchsten Sinne des Worts: höre auf,
selbst Erscheinung zu sein: strebe, ein Wesen an sich zu werden! –
dies ist die höchste Forderung der praktischen Philosophie« (AA I,3,
139 (§ 3)); »Strebe daher, um ein Wesen an sich zu werden, absolut-
frei zu sein, strebe, jede heteronomische Macht deiner Autonomie zu
unterwerfen, strebe durch Freiheit deine Freiheit zur absoluten, un-
beschränkbaren Macht zu erweitern« (AA I,3, 139 f. (§ 4); vgl. AA I,2,
126 f.). Damit ist nicht gemeint, dass das jeweilige individuelle Ich
sich alles unterordnen soll, sondern vielmehr ist dieses in seiner Be-
sonderheit selbst nur Erscheinung und damit heteronom. Damit es
autonom werde, muss es aufhören, bloß Erscheinung zu sein, um sich
zum Ausdruck des absoluten Ich zu machen. 11 Es muss somit in erster
Linie auf sich selbst wirken, um dasjenige, was an ihm bloße Erschei-
nung und damit Ausdruck der Heteronomie ist, in einen Ausdruck
der Autonomie zu verwandeln.
Jenes Gebot ist die »höchste Foderung der praktischen Philoso-
phie« (AA I,3, 139 (§ 3); Herv. v. Verf.). Die praktische Philosophie
gliedert sich nach Schelling in mehrere Bereiche, die sich durch eine
jeweils eigene Aufgabe auszeichnen. Schelling unterscheidet Moral,
Ethik und Naturrecht. 12 Die Ableitung dieser Bereiche aus jener
›höchsten Foderung‹, ihre Unterscheidung sowie die Zuweisung ihrer

schrift versprochenen Kommentar nachholen würde, steht bislang noch aus (vgl. AA
I,3, 175). Einen Anfang macht Schröder 2012.
10 So bereits K. F. A. Schelling (Plitt I, 65 f.). Ferner: AA I,3, 127 f. (Ed. Bericht). In

Vom Ich findet sich übrigens bereits eine Skizze eines »System[s] des Naturrechts«
(AA I,2, 164 f.). Vgl. damit die Bemerkungen in der »Vorrede« (AA I,2, 79 f.).
11 Nur wenn man dies nicht beachtet, kann man in solchen Sätzen »eine Aufforde-

rung an das Ich zum Aufruhr« sehen, wie es z. B. Hermann Klenner tut, und in dieser
Schrift eine anarchistische Tendenz gewahren, vgl. Klenner 1991, 71; Habermas 1963,
111; Sandkühler 1968, 21. Hollerbach mahnt denn auch zu Recht zur »Vorsicht«, hier
»einen anarchischen Grundzug sehen zu wollen« (Hollerbach 1957, 115).
12
Diese Gliederung ist nicht vollständig. Schelling verweist nämlich am Ende der
Deduktion auf das »Gebiet einer neuen Wissenschaft«, die wohl auch noch zur prak-
tischen Philosophie gehört (AA I,3, 174 (§ 163)).

341
5. Kapitel. Politik und Religion

jeweiligen Aufgabe ist Thema des ersten Abschnitts. 13 Die Sätze aus
Vom Ich und den Philosophischen Briefen kommen hier demnach
nicht lediglich als Lehnsätze oder als Prämissen vor, aus welchen das
Folgende abgeleitet wird. Vielmehr versucht Schelling hier erst den
Gesichtspunkt zu gewinnen, der es erlaubt, das Problem des Natur-
rechts und der politischen Ordnung sichtbar zu machen. Danach ist
der Titel der Schrift zunächst so zu verstehen, dass das Naturrecht im
Sinne der Rechtswissenschaft aus den Prinzipien des Systems dedu-
ziert werden soll. 14 Es soll gezeigt werden, wie diese Wissenschaft sich
insofern notwendig aus den Prinzipien ergibt, als diese auf ein Pro-
blem führen, das Gegenstand einer besonderen Wissenschaft ist. Dies
geschieht im ersten Abschnitt der Schrift, wo die Rechtswissenschaft
als von der Ethik und der Moral unterschieden konstruiert wird.
Gegenstand dessen, was Schelling Moral nennt, ist die Selbst-
bestimmung, d. h. so zu handeln, wie es der eigenen Natur entspricht.
Nur so lässt sich dem Absoluten durch ein endliches Ich Realität ver-
schaffen. Die Moral geht insofern von der Endlichkeit des Ich aus. 15
Das Streben des endlichen Ich geht dahin, alles Endliche der Er-
reichung jenes Ziels, der Übereinstimmung mit dem Absoluten, un-
terzuordnen. Dies gilt als höchstes Streben des Menschen. Diesem

13 Dieser Abschnitt umfaßt 75 der insgesamt 163 Paragraphen. Es wäre daher über-
eilt, darin nicht mehr als nur eine Einleitung zu sehen.
14 Vgl. den Titel des ersten Abschnitts der Schrift: »1. Deduction der Rechtswissen-

schaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes« (AA I,3, 139). Vgl. auch AA I,2,
164 f.: »Auf dem Begriff der praktischen Möglichkeit (Angemessenheit zur Synthesis
überhaupt) beruht der Begriff des Rechts überhaupt, und das ganze System des Na-
turrechts; auf dem Begriff praktischer Wirklichkeit aber der Begriff von Pflicht, und
das ganze System der Ethik«. Recht und Pflicht haben nur Sinn in Bezug auf das
endliche Ich. »Deßwegen auch insbesondere das höchste Ziel, worauf alle Staatsver-
fassungen, (die auf den Begriff von Pflicht und Recht gegründet sind), hinwirken
müssen, nur jene Identificirung der Rechte und Pflichte jedes einzelnen Individuums
seyn kann«. »Diese Idee lag auch der Platonischen Republik zu Grunde; denn auch in
dieser sollte alles praktisch-mögliche wirklich, alles praktisch-wirkliche möglich seyn;
ebendeßwegen sollte in ihr aller Zwang aufhören, weil Zwang nur gegen ein Wesen
eintritt, das sich der praktischen Möglichkeit verlustig macht. Aufhebung der prakti-
schen Möglichkeit aber in einem Subject ist Zwang, denn praktische Möglichkeit ist
nur durch Freiheit denkbar«.
15 Für das absolute Ich gibt es weder Moral noch Gebot (vgl. AA I,2, 129). Nachdem

Schelling gezeigt hat, dass der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen undenkbar
ist, soll die praktische Philosophie das Prinzip des absoluten Ich dadurch bestätigen,
dass sie zeigt, wie umgekehrt ein Übergang vom Endlichen zum Unendlichen denkbar
ist (vgl. AA I,3, 82 f.).

342
Eine neue Deduktion des Naturrechts

Streben sind keine prinzipiellen Grenzen gesetzt, sondern nur solche,


die sich aus der Beschränktheit seiner tatsächlichen Vermögen er-
geben und deshalb Gegenstand eines Strebens, sie aufzuheben, wer-
den können. 16 Dieses Streben, sich so viel wie möglich dem Absoluten
gleich zu machen, dürfte seine Verwirklichung nur im philosophi-
schen Leben finden. Nur indem er sich durch Vernunft bestimmen
lässt, ist der Wille nämlich mit sich identisch oder selbstkonsistent
und damit autonom. Das philosophische oder vernunftgeleitete Leben
ist danach diejenige Form des Lebens, die in der Natur des Willens
eingeschrieben ist, und damit die höchste Form des Lebens. Diesem
Gesichtspunkt der Moral werden die Ethik und das Naturrecht unter-
geordnet: Diese müssen so eingerichtet werden, dass sie mit dem Ziel
der Moral in Übereinstimmung sind.
Gleichursprünglich mit der Endlichkeit des Ich ist die Intersubjek-
tivität. 17 Während dem Streben nach Unbedingtheit aus der Endlich-
keit des Ich keine grundsätzliche Grenze erwachsen konnte, da jede
Grenze nur in Hinblick auf ihre Überschreitung in Betracht kam, da
gilt dasselbe nicht von jener Dimension der Endlichkeit, wonach ein
endliches Ich nie vereinzelt, sondern immer inmitten anderer Ich auf-
tritt. Jedem Ich ist aufgrund seiner Natur als Ziel die Identität mit sich
selbst vorgegeben, die sich nur durch ein vernunftgeleitetes Streben
verwirklichen lässt. Insofern ich auch im Anderen dieses Ziel erken-
ne, darf ich sie nicht meinem Streben unterordnen. Erst in der kon-
kreten Gestalt oder Richtung, die dieses Streben annimmt, werden
die Ich allerdings unterscheidbar. Erst hier wird »die unbedingte
Causalität der moralischen Wesen im empirischen Streben wider-
streitend« (AA I,3, 143 (§ 21)):
Nur, indem ich meine Freiheit im Widerstreit gegen andre Causalitäten
denke, die ihr gleich sind, wird sie zu meiner Causalität, d. h. zu einer
Causalität, die nicht die Causalität der moralischen Wesen überhaupt,
(der gesammten moralischen Welt) ist. Ich werde moralisches Indivi-
duum. (AA I,3, 143 (§ 22))

16 Vgl. »ich kann nicht weiter« (AA I,3, 141 (§ 12)).


17 Insofern ein endliches Ich Erscheinung des absoluten Ich ist, dem absolute Einheit
zukommt, gelten für jenes die Wechselbegriffe Einheit und Vielheit. Das endliche Ich
ist eine Einheit nur, insofern es sich von Anderen abgrenzt. Mit der Endlichkeit des
Ich ist zugleich die Vielheit solcher Iche oder die Intersubjektivität gesetzt (vgl. AA
I,2, 108, 143 f.). Vgl. Rivelaygue 1983, 16; Hofmann 1999, 71.

343
5. Kapitel. Politik und Religion

Erst in der Konfrontation mit anderen, nicht vernunftgeleiteten Indi-


viduen kommt der Philosoph zur Selbsterkenntnis, indem er sich
durch die Richtung seines Strebens als von anderen unterschieden
erkennt. Auch das nicht vernunftgeleitete Streben steht noch im Zei-
chen eines Strebens nach Identität mit sich selbst, das sich indessen
hinsichtlich der Mittel irrt, durch welche dieses Ziel sich erreichen
lässt. Insofern der Philosoph davon absieht, ob diese Anderen ihren
Willen auch tatsächlich dem Streben nach Autonomie untergeordnet
haben, kann er in ihnen wenigstens die Möglichkeit eines solchen
Strebens anerkennen. Er achtet sozusagen nur auf das Potential, das
ihnen als wollenden Wesen naturgemäß zukommt. Damit ist für
Schelling den Bereich der Ethik, als von der Moral unterschieden,
umrissen, und zwar als ein Systems der Pflichten. Die Ethik gründet
auf einen Respekt für den Willen im Allgemeinen oder die dem Wil-
len inhärierende Möglichkeit, das Streben nach Unbedingtheit reali-
sieren zu können. 18 Dieser Respekt, das Gefühl, Anderen gegenüber
Pflichten zu haben, gründet sich also nicht auf ihre Individualität. Er
bezieht sich gar nicht auf das ›empirische Individuum‹, sondern nur
auf dessen höchste Möglichkeit (vgl. AA I,3, 145 (§ 30)). Insofern
enthält die Ethik nur den Ausdruck des »allgemeinen Willens« oder
der Freiheit überhaupt, nicht der Individualität des Willens (AA I,3,
145 (§ 32)). Unter »allgemeiner Wille« ist hier die bloße Form des
Willens zu verstehen, »abgesehen von aller Materie des Wollens«
(AA I,3, 145 f. (§ 34)). In diesem Zusammenhang bleibt es somit
gleichgültig, welche besondere inhaltliche Ausfüllung jemand seinem
Willen gegeben hat oder welche besonderen Ziele er verfolgt, ob er
alles dem Streben nach Unbedingtheit unterordnet oder nicht. Meine
Pflichten ihm gegenüber sind davon unabhängig. Daraus lässt sich
allerdings eine materiale oder inhaltliche Ausfüllung der Ethik ge-
winnen: Einziger Inhalt der Ethik ist, wie gezeigt, der Respekt für
die Form des Willens überhaupt. Dieser Anforderung hat die Ethik
zu genügen, wenn ein System der Pflichten konstruiert werden soll,
wenn Schelling dies hier auch nicht ausführt, sondern nur das Prinzip
der Konstruktion angibt: Als Pflicht muss alles gelten und kann auch
nur dasjenige gelten, was die Bedingung erfüllt, dass der allgemeine
Wille durch den individuellen bedingt ist, aber nur der Form nach.
Während das Problem der Moral darin bestand, wie ich handeln soll,
damit mein Wille mit dem absoluten Willen identisch ist, sodass mein

18
Vgl. »seine Freiheit überhaupt« (AA I,3, 144 (§ 27)).

344
Eine neue Deduktion des Naturrechts

Handeln meiner höchsten Möglichkeit entspreche, da besteht das


Problem der Ethik in der Frage, wie ich handeln soll, damit mein
Wille mit dem allgemeinen Willen in Übereinstimmung ist. Der ›all-
gemeine Wille‹ wird hier zum Bestimmenden der Materie meines
Willens, als ein Auswahlkriterium, wonach bestimmte Handlungen
ausscheiden und andere zurückbehalten werden. Die Materie meines
Willens selbst soll hier als allgemein gedacht werden, solcherart, dass
sie durch alle gewollt werden könne, und zwar, weil diese dadurch
selbst die Form des individuellen Willens behalten.
Dieses »Gebot der Ethik« ist aber »doch nur abhängig von dem
höhern Gebot der Moral« (AA I,3, 145 (§ 33)): 19 »Nur indem ich den
Willen überhaupt als ursprünglich absolut denke, kann ich den Wil-
len aller übrigen als auf die Bedingung des meinigen, und den meini-
gen als auf die Bedingung des Willens aller übrigen eingeschränkt
denken« (AA I,3, 147 (§ 42); Herv. v. Verf.). Wenn die Ethik als Sys-
tem der Pflichten auch ein eigenständiges Gebiet ist, so ist sie doch
der Moral nachgeordnet. Sie beruht nicht auf dem Respekt für den
Anderen in seiner Individualität, sondern lediglich darauf, dass dieser
in sich das Potential zur höchsten Möglichkeit des Menschseins trägt.
Vorausgesetzt, dass die höchste Möglichkeit nur durch den Philoso-
phen verkörpert wird, dann wird das System der Pflichten unter der
Annahme konstruiert, dass alle potentielle Philosophen wären. Die
Ethik folgt insofern aus der Moral, als der Philosoph dem Rechnung
zu tragen hat, dass alle zwar ihrer Natur nach, nicht aber auch in der
Tat auf die Realisierung dieser Möglichkeit ausgerichtet sind. Er ver-
hält sich den Nicht-Philosophen gegenüber so, dass sein Verhalten
das philosophische Leben begünstigt, wenigstens nicht hindert, und
zwar sowohl, indem das pflichtmäßige Verhalten Anderen gegenüber
die Entfaltung des eigenen philosophischen Lebens unterstützt, als
auch, damit auf diese Weise auch bei diesen Anderen das Streben
nach Autonomie so viel wie möglich gefördert wird. 20 Zusammenfas-
send kann man sagen, dass die Forderung der Moral sich an den Wil-
len überhaupt richtet, der nur insofern konsistent ist, als er sich durch

19 Die Bedeutung dieses Satzes erhellt daraus, dass Schelling im ersten Abschnitt
immer wieder auf ihm rekurriert (vgl. z. B. AA I,3, 146 (§§ 38, 39), 147 (§ 41), 148
(§ 47)).
20 Vgl. Rivelaygue 1983, 16 f.: »L’éthique au contraire exige l’accord des libertés en

général en tant qu’elles n’ont pas pour contenu la détermination par la raison«, d. h.
die Willen, die ausschließlich nach der Realisierung des Unbedingten streben, sind
von sich aus oder ipso facto identisch oder miteinander in Übereinstimmung.

345
5. Kapitel. Politik und Religion

Vernunft bestimmen lässt. Die Ethik hingegen richtet sich an den


vernünftigen Willen, der nur insofern vernünftig ist, als er dahin
wirkt, dass alle Willen, ob vernünftig oder nicht, übereinstimmen.
Es ist somit zu unterscheiden zwischen solchen Handlungen, die sich
auf andere vernünftige Willen richten, und solchen, die sich auf nicht
durch Vernunft bestimmte Willen richten. Letztere sind Pflichthand-
lungen, während die Beziehungen zwischen Philosophen nicht auf
Pflicht beruhen.
Das System der Pflichten sieht von der Individualität des Willens
ab und berücksichtigt nur das höchste Potential, das er als Wille be-
inhaltet. Der Status der potentiellen Philosophen ist allerdings zwei-
deutig: Betrachtet man sie zum einen danach, dass sie ein Streben
nach einem vernunftgeleiteten Leben haben könnten, so heißt dies
zum anderen auch, dass sie bisher dieses Streben noch nicht tätig ver-
folgen, ihm nicht alles andere in der Tat untergeordnet haben. Diese
Zweideutigkeit nötigt zum Übergang von der Ethik zum Naturrecht.
Es entsteht nämlich die Frage, wie der Philosoph mit dem Willen in
seiner Individualität umzugehen habe oder mit den potentiellen Phi-
losophen, insofern diese Nicht-Philosophen sind. Hier heißt es, dass
die Ethik »die Individualität meines Willens der Materie nach nicht
schlechthin aufheben [kann], ohne sie zugleich der Form nach
schlechthin zu behaupten« (AA I,3, 150 (§ 52)). Anders gesagt: In
der Ethik wird die Materie meines Willens (dasjenige, was ich will)
insofern aufgehoben, als der Wille auf solche Handlungen einge-
schränkt wird, die verallgemeinerungsfähig sind. 21 Durch diese Ein-
schränkung der Materie des Willens wird die Form des Willens den-
noch behauptet, da dieser sich selbst widersprechen würde, wenn er
andere Willen nicht nur aufgrund ihres Willenscharakter respektier-
te, sondern sich ihrer lediglich als Mittel zur Erreichung der eigenen
Autonomie bedienen würde. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit
einer »andre[n] Wissenschaft«, »welche Individualität des Willens
der Form nach behauptet« (AA I,3, 150 (§ 52)). Es entsteht die Frage,
welche Rechte der Wille überhaupt hat, unabhängig davon, ob er sich
durch die Vernunft leiten lässt oder nicht, oder was ihm zugesichert
werden muss, damit er sich in seiner bloßen Individualität behaupten
kann.
Aufgabe dieser anderen Wissenschaft ist es, zu zeigen, wie sich

21 Die Ethik »fodert« »Allgemeinheit des Willens der Materie nach« (AA I,3, 150
(§ 52)).

346
Eine neue Deduktion des Naturrechts

zwischen individuellen Willen als solchen eine Übereinstimmung zu-


stande bringen lässt. Sie soll zeigen, wie diese Willen zu organisieren
sind, damit sie, ohne auf die Erreichung des höchsten Ziels gerichtet
zu sein und ohne insofern wahrhaft frei zu sein, dennoch eine Art
von Freiheit genießen können, und dies zudem so, dass diese ihre
Einrichtung der Existenz der Philosophen am meisten förderlich ist.
Diese Aufgabe nimmt die Gestalt einer Deduktion des Naturrechts an
(vgl. AA I,3, 150 (§ 53 f.)). Das Naturrecht muss dabei von all dem
abstrahieren, was bei der Betrachtung der Philosophen und potentiel-
len Philosophen vorausgesetzt werden dürfte. Der Grundsatz des
Naturrechts lautet: »Ich habe ein Recht zu allem, wodurch ich die
Individualität meines Willens der Form nach behaupte« (AA I,3, 153
(§ 68)). Anders gesagt: Ich darf alles wollen, was ich wollen kann, mit
der Ausnahme dessen, was sich überhaupt nicht wollen lässt, und
zwar deshalb, weil es widersprüchlich ist und der Wille, der solches
wollen würde, sich selbst dadurch aufhebt. Danach habe ich ein Recht
auch auf solche Handlungen, die Gegenstand weder der Moral noch
der Ethik sein können. Zu solchen Handlungen bin ich nicht ver-
pflichtet, da sie sich nicht verallgemeinern lassen: Durch sie behaupte
ich lediglich meine Individualität. Damit ist die Aufgabe angegeben,
die die Wissenschaft des Naturrechts zu lösen hat. Damit ist auch
diese selbst als eine eigenständige Wissenschaft deduziert.
Ziel des zweiten Abschnitts ist es, die Natur- oder Ur-Rechte selbst
zu deduzieren. Der Titel der Abhandlung erhält hier dadurch einen
zweiten Sinn: Während es im ersten Abschnitt darum ging, die Not-
wendigkeit einer Wissenschaft des Naturrechts dadurch zu deduzie-
ren, dass gezeigt wurde, welche Aufgabe sie zu lösen hat, da geht es
jetzt darum, die Konturen dieser Wissenschaft und die Art, wie sie
ihre Aufgabe löst, anzugeben. 22 Eine kurze Inhaltsangabe dieses Ab-
schnitts kann hier genügen, da die entscheidenden Ergebnisse dieser
Schrift im ersten (die Einbindung der staatlichen Ordnung in der Per-
spektive der Selbstbestimmung) und im dritten Abschnitt (Kritik des
Naturrechts) zu suchen sind. Aus dem Grundsatz des Naturrechts
leitet Schelling die »ursprünglichen Rechte« oder die Naturrechte ab
(AA I,3, 155 (§ 77)). Diese sind dreierlei: Erstens das »Recht der mo-

22
Aufgrund einer »Analyse des obersten Grundsatzes«, wie er im ersten Abschnitt
durchgeführt wurde, soll eine »Deduction der ursprünglichen Rechte« oder eben der
Naturrechte durchgeführt werden (AA I,3, 155).

347
5. Kapitel. Politik und Religion

ralischen Freiheit« oder das Recht auf sowohl gesetzmäßige als auch
gesetzwidrige Handlungen oder auch das Recht auf alle Handlungen,
die möglich sind und zu denen ich fähig bin (AA I,3, 170 (§ 140)). Die
Einschränkung meiner Rechte auf einen bestimmten Ausschnitt von
Handlungen und damit die Unterscheidung zwischen gesetzmäßigen
und gesetzwidrigen Handlungen lässt sich durch das Prinzip des Na-
turrechts nicht rechtfertigen. Dieses beinhaltet nämlich, dass ich auf
alles das Recht habe, was mit der Form des individuellen Willens in
Übereinstimmung ist. Die einzigen Handlungen, zu denen ich nicht
berechtigt bin, sind solche Handlungen, durch welche ich meine Frei-
heit oder die Form des individuellen Willens aufheben würde. Zwei-
tens das »Recht der formalen Gleichheit« (AA I,3, 170 (§ 140)): Wenn
aus dem Rechtszustand folgen würde, dass ich nicht das Recht habe,
mein eigenes Recht oder meine Individualität sowohl der Form als
auch der Materie nach gegen alle anderen Individuen durchzusetzen,
dann wäre damit der Rechtszustand selbst aufgehoben. Dadurch wäre
nämlich eine Ungleichheit in dem Rechtszustand selbst eingeschrie-
ben. Schließlich das »NaturRecht im engern Sinn« oder das »Recht
auf die ErscheinungsWelt, auf Sachen, auf Objecte überhaupt«, also
auf Eigentum (AA I,3, 170 (§ 140)). Diese ›ursprünglichen Rechte‹
sind bloß formal und erhalten keine positive, inhaltliche Ausfüllung.
Eine solche ist auch mittels des Naturrechts überhaupt nicht zu leis-
ten. Dann kann es aber auch niemals zur Legitimierung irgendeines
positiven Rechts eingesetzt werden. Dies dürfte eine der wesentlichen
Ergebnisse der Naturrechts-Deduktion sein.
Mit dem Ende des zweiten Abschnitts hat Schelling die Deduktion
der ›Urrechte‹ vollendet. Dass er damit einen einzigen Gedankengang
zu Ende geführt hat, hebt Schelling dadurch besonders hervor, dass er
die Ergebnisse der bisherigen Deduktion zusammenfasst und durch
zweimal drei Asterisken vom Vorherigen und Folgenden eigens ab-
grenzt (vgl. AA I,3, 169 f. (§ 140)). Der formale Charakter der ›Ur-
rechte‹ bildet die Grundlage für die jetzt folgende Kritik am Natur-
recht. Damit erhält der Titel der Abhandlung einen dritten Sinn: Das
Naturrecht wird sich als ein Zwangsrecht enthüllen, als ein solches,
das die Willen als Dinge behandelt. Dadurch erweist die Deduktion
des Naturrechts sich als eine Destruktion des Naturrechts. 23 Der Ge-

23
Vgl. Zeltner 1954, 174 f. So auch Alexander Hollerbach, dessen Hauptthese lautet,
dass »Schelling mit seinem Naturrechtsbegriff das Naturrecht als Recht geradezu ad
absurdum geführt« hat (Hollerbach 1957, 114 f.).

348
Eine neue Deduktion des Naturrechts

danke, der zu dieser Destruktion führt, der Gedanke des Zwangs


nämlich, tritt unvermittelt und scheinbar unvorbereitet auf. Der erste
Paragraph des dritten Abschnitts lautet: »Endlich, ich darf nicht nur
überhaupt, sondern ich darf alles, wodurch ich die Individualität mei-
nes Willens behaupte, ich habe ein Recht zu jeder Handlung, wodurch
ich die Selbstheit meines Willens rette« (AA I,3, 170 (§ 141)). Das
›endlich‹ deutet darauf hin, dass hier ein früherer Gedanke, der aber
für die Deduktion der Urrechte zurückgestellt wurde, jetzt in den
Vordergrund gerückt wird (vgl. AA I,3, 153 (§ 68)). Bislang (im zwei-
ten Abschnitt) hatte Schelling nur das Dürfen oder das Rechte-Haben
überhaupt fokussiert. Die Rede von einem Dürfen überhaupt ist je-
doch gegenstandslos, solange es nicht zugleich auch einen Inhalt hat
und als ein Etwas-Dürfen verstanden wird. Dieser Gegenstand des
Dürfens kann aber nicht ohne Verletzung des Prinzips der Deduktion
eingeschränkt werden: Das Dürfen erstreckt sich auf »alle[s], wo-
durch ich die Individualität meines Willens der Form nach behaupte«
(AA I,3, 153 (§ 68)). Die Behauptung der Individualität meines Wil-
lens ist das einzige Prinzip, durch welches das Dürfen eingeschränkt
werden könnte. In Wahrheit ist es jedoch nicht so sehr eine Ein-
schränkung des Dürfens als vielmehr nur ein Ausdruck des Dürfens
selbst. Das einzige, was ich diesem Prinzip zufolge nicht ›darf‹, ist
solches, wodurch ich der Behauptung der Individualität meines Wil-
lens entgegenwirken würde, solche Handlungen also, die ich im ei-
gentlichen Sinne nicht wollen kann, weil der Wille sich dadurch selbst
aufheben würde. Das Naturrecht schließt also nur solche Handlungen
aus, durch welche ich der Behauptung meiner Individualität ent-
gegenwirken würde. Das heißt: Die naturrechtliche Deduktion kann
keine einzige inhaltliche Einschränkung des Dürfens legitimieren. Sie
kann nicht einzelne oder bestimmte Typen von Handlungen aus-
schließen und verbieten. Die Materie des individuellen Willens kann
demnach gar nicht eingeschränkt werden: »Nur durch den allgemei-
nen Willen konnte mein Wille der Materie nach (auf bestimmte
Handlungen) eingeschränkt werden« (AA I,3, 170 (§ 142)). Da aber
»die Materie des allgemeinen Willens selbst bedingt [ist] durch die
Form des individuellen Willens«, da also der allgemeine Wille keine
Handlungen verbieten darf, durch welche die Form des individuellen
Willens aufgehoben werden würde, kann er auch nicht den individu-
ellen Willen der Materie nach einschränken (AA I,3, 170 (§ 142)). Er
muss demnach alle Handlungen erlauben, die das Individuum für die
Behauptung seiner Individualität erforderlich achtet. Ob und welche

349
5. Kapitel. Politik und Religion

Handlungen dazu erforderlich sind, darüber entscheidet in jedem ein-


zelnen Fall nur der individuelle Wille selbst.
Die deduzierten ›Urrechte‹ verlieren ihren Sinn, wenn ich nicht
dazu berechtigt bin, diese Rechte tatsächlich gegen Andere durch-
zusetzen, die mich an ihrer Ausübung hindern. Nur insofern ich diese
Macht habe, haben die Rechte selbst Realität. So werde ich auch selbst
zu einer physischen Macht, zu einem Objekt. Es stehen sich zwei
objektive Mächte gegenüber. Damit verwandelt das Naturrecht sich
in ein Zwangsrecht. Dies ist die Aporie des Naturrechts, die aufge-
deckt zu haben Schelling als »seine originelle Leistung« betrachtet. 24
Ohne das Supplement des Zwangs, nämlich der Macht, meine Rechte
durchzusetzen, ist die Rede von Naturrechten gegenstandslos. Unter
Annahme dieses Supplements kann aber nicht mehr von einem Recht
gesprochen werden. 25 Die Aporie besteht darin, dass ein Recht, das
nicht zugleich die Macht hat, sich gegen anderen durchzusetzen, eine
leere Behauptung bleibt und sich selbst aufhebt. Solange die konstru-
ierten ›Urrechte‹ nicht mit der Macht, sie auch durchzusetzen, ver-
bunden werden, bleiben sie bloße Behauptung (vgl. AA I,3, 160–169
(§§ 96–140)). Das Recht bleibt leer, wenn es nicht zum Naturrecht
wird und sich damit auf Naturobjekte erstreckt. Auf diese haben aber
alle genau die gleichen Rechte. Das Naturrecht hat nur Sinn, wenn es
ein Zwangsrecht ist und wenn ich dementsprechend das Recht habe,
»jede Handlung aufzuheben, mit welcher die Selbstheit meines Wil-
lens nicht bestehen kann« (AA I,3, 171 (§ 145)). Die Aufhebung einer
solchen Handlung ist Zwang, weil sie nur so möglich ist, dass ich die
Form des Willens durch die Materie des Willens bestimme. Daraus
geht zugleich hervor, inwiefern das Naturrecht sich selbst zerstört:
Nach dem Prinzip des Naturrechts wird gar kein Rechtszustand ins-
tauriert, sondern nur die Verfassung des Naturzustandes konturiert

24
So Zeltner 1954, 174 f.; Hollerbach 1957, 115; Hofmann 1999, 84.
25 Jedem der drei Abschnitte entspricht somit ein eigener Sinn von Naturrecht. Es ist
wohl nicht zufällig, dass Schelling das Wort ›Naturrecht‹ erst im letzten Abschnitt
verwendet (vgl. AA I,3, 174 (§§ 161, 162, 163)). Dort, wo es sich gerade angeboten
hätte, den Ausdruck zu verwenden, scheint Schelling ihn geradezu zu vermeiden und
verwendet stattdessen Ausdrücke wie »ursprüngliche Rechte« (AA I,3, 155 (§ 77) u.
Titel des 2. Abschnitts), »Rechtsphilosophie« (AA I,3, 153 (§ 68), 158 (§ 88), 159
(§§ 91, 93, 95)), »Rechtswissenschaft« (AA I,3, 154 (§ 72)), »Rechtslehre« (AA I,3,
154 f. (§§ 73, 75)). Sonst kommt er nur noch in § 140 vor (vgl. AA I,3, 169 f.), gerade
auf der Schwelle zum letzten Abschnitt, und in der Nachschrift. In § 97 ist noch von
»NaturRechtsLehrer« die Rede (AA I,3, 160). Darin zeigt sich die kritische Richtung
der Abhandlung, die auch durch das ›neue‹ im Titel angezeigt wird.

350
Eine neue Deduktion des Naturrechts

und schärfer hervorgehoben. Nach dem Naturrecht ist alles, was


möglich ist, erlaubt. Die kritische Pointe wird vollends dann deutlich,
wenn man diesen Gedanken ein wenig anders wendet. Er besagt näm-
lich ebenso, dass das Naturrecht nur einen solchen Rechtszustand zu
begründen vermag, der auf Zwang beruht. Jeder positive Rechts-
zustand, insofern er bestimmte Handlungen verbietet und so über
das Naturrecht hinausgeht, ist deshalb als Zwang anzusehen. Dann
beruht jede rechtliche bzw. staatliche Ordnung auf Zwang, weil sie
solche Handlungen verbietet, die dem Individuum nicht auf eine
rechtmäßige Weise verboten werden können, wenn ihm, nach den
naturrechtlichen Prinzipien, alles erlaubt sein soll, was er für erfor-
derlich hält, um die Individualität seines Willens zu behaupten. Das
Naturrecht wird damit zu einer Legitimierung des Despotismus oder
des vom Staat ausgeübten Zwangs: Der Staat ist zu allem berechtigt,
wozu er auch fähig ist, insofern er über die Mittel verfügt, sich durch-
zusetzen. Damit hat Schelling eine Lücke aufgedeckt, die in jeder Na-
turrechtstheorie notwendig übersprungen wird, wenn sie überhaupt
gesehen wird. Insofern eine Naturrechtslehre den aporetischen Cha-
rakter des Naturrechts verdeckt, dient sie selbst dazu, den Zwang, der
dem Rechtszustand zugrunde liegt, zu verschleiern. 26 Nun war die
Naturrechtslehre in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen dazu
gedacht, als ein Begründungs- bzw. Rechtfertigungsmittel positiver
Rechtsordnungen zu fungieren. Dies gilt auch dann, wenn sie dazu
eingesetzt wird, bestimmte positive Rechtsordnungen zu kritisieren,
insofern eine solche Kritik immer auf eine mögliche Verbesserung
derselben angelegt ist. 27 Nach dem Ergebnis von Schellings Natur-
rechts-Deduktion hingegen kann keine einzige positive Rechtsord-
nung mehr durch das Naturrecht legitimiert werden, da sie allesamt
als letztlich auf Zwang beruhend angesehen werden müssen. Damit
kann die Naturrechtslehre auch nicht mehr dazu verwendet werden,
wozu sie ursprünglich gedacht war, nämlich eine bestimmte staatliche
Ordnung zu legitimieren oder eine bestehende Ordnung mit Hinblick

26 Nur weil sie dieses Moment der Selbstzerstörung der Naturrechtslehre übersehen
hat, kann Gertrud Jäger zu ihrer Einschätzung gelangen, Schelling sei hier völlig mit
Fichte in Übereinstimmung. Dadurch sieht sie sich zugleich gezwungen, eine »Um-
wandlung« in den politischen Ansichten Schellings um 1803 (angeblich dokumentiert
in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium) anzunehmen, die
von einer Selbstkritik im Gestalt einer Fichte-Kritik begleitet wäre (vgl. Jäger 1939,
40).
27
Schröder 2012, 55 f.

351
5. Kapitel. Politik und Religion

auf ihre Reform zu kritisieren. 28 Auf einen solchen legitimierenden


Gebrauch hatte es Schelling aber von Anfang an gar nicht abgesehen,
da es ihm nur darum ging, eine solche Organisationsform der Nicht-
Philosophen zu finden, die am meisten die Führung eines philosophi-
schen Lebens begünstigt und auch den Nicht- bzw. potentiellen Phi-
losophen am förderlichsten ist. Dadurch verschärft sich das Problem
allerdings nur noch. Das Naturrecht liefert kein Kriterium, wonach
zwischen besseren und schlechteren Rechtsordnungen unterschieden
werden könnte. Dennoch möchte Schelling daraus nicht den Schluss
ziehen, dass damit alle positiven Rechtsordnungen gleichwertig wä-
ren. Die unterschiedliche Bewertung von positiven Rechtsordnungen
lässt sich jedenfalls nicht mehr durch Rekurs auf das Naturrecht
begründen.
Im System des transscendentalen Idealismus streicht Schelling
diesen Punkt noch deutlicher hervor, indem er fragt, weshalb es über-
haupt des Zwangs des Gesetzes bedarf. Das Gesetz ist notwendig,
damit nicht die Wechselwirkung aller die Freiheit des Einzelnen auf-
hebt. Ohne Gesetz würde dieser Zustand der Aufhebung der Freiheit
des Einzelnen unvermeidlich eintreten, da jeder nur insofern frei ist,
als er auch imstande ist, seinen Willen durchzusetzen und dazu nöti-
genfalls andere zu zwingen. Der gesetzlose Zustand ist ein solcher, in
dem jeder jeden zwingt bzw. zu zwingen versuchen wird. Die Einzel-
nen können nur dadurch daran gehindert werden, dass eine andere
Zwangsinstanz eingesetzt wird: das Gesetz. Dem Zwang kann man
nur einen anderen Zwang entgegensetzen. Nur mittels Zwang kön-
nen die individuellen Willen daran gehindert werden, ihr Recht
(Zwangsrecht) so zu missbrauchen, dass sie die Willen anderer auf-
heben. Der Kern der Aporie des Naturrechts lässt sich hiernach so
formulieren: Der Zustand des Naturrechts hebt sich selbst auf, da er
notwendig in einen Zustand des Zwangs umschlägt. Stattdessen soll
das Gesetz den Zustand des Naturrechts aufheben. Die Aporie ist un-
ausweichlich, sobald zugestanden wird, dass ein Recht nur insofern
ein Recht ist, als man auch die Macht hat, es durchzusetzen, und dies
nur mittels der Ausübung von Zwang stattfinden kann. Durch den
Zwang hebe ich jedoch nicht nur die Freiheit des anderen, sondern
auch meine eigene auf, da der Zwang sowohl die Anderen als auch
mich selbst zu Naturobjekten reduziert. Dieser Zustand kann nur
durch die Einführung einer weiteren Zwangsinstanz behoben wer-

28
Dazu Schröder 2012, 58 f.; Rivelaygue 1983, 21.

352
Eine neue Deduktion des Naturrechts

den. Die ›Lösung‹ ist offenkundig aporetisch, da das Mittel (das Ge-
setz, der Zwang) dem Zweck (der Sicherung der Freiheit aller) wider-
spricht. Die Freiheit aller kann nur dadurch gesichert werden, dass
alle gezwungen oder am Missbrauch ihrer Freiheit gehindert werden,
d. h. indem man sie eines Teils ihrer Rechte beraubt. 29
Damit richtet Schelling sich auch gegen alle Versuche, die Ent-
stehung einer staatlichen bzw. rechtlichen Ordnung auf einen Vertrag
zurückzuführen. 30 Gegen solche Theorien führt er folgendes an:

29
Diesen aporetischen Charakter scheint Jürgen Habermas nicht zu bemerken, we-
nigstens zu verharmlosen, wenn er meint, dass diese Ordnung nach den »Grund-
sätzen der praktischen Vernunft« stattfindet und von der »Staatsgewalt« lediglich
›sanktioniert‹ wird. Während Schelling bemerkt, dass dieser Zustand sich aus der
Not und aus dem Zufall ergibt (vgl. AA I,9,1, 281, 283, 284, 286), meint Habermas,
dass die Rechtsordnung von sich aus bereits den Grundsätzen der praktischen Ver-
nunft konform ist. Ferner spricht er von dem »Vorzug des staatlich institutionalisier-
ten rechtlichen Zwangs«, dass »er nämlich Legalität der Handlungen wie durch einen
Mechanismus der Natur verbürgt«. Hier scheint er Schelling nach der klassischen
Naturrechtslehre umzudeuten, wonach das Naturrecht in der Tat dazu dienen soll,
die Staatsordnung zu legitimieren. Damit hat er die ›originelle Leistung‹ Schellings,
die Aufdeckung der Aporie des Naturrechts, wieder verdeckt. Übrigens gelingt es
ihm, bei Schelling »[d]rei Deduktionen des Staates« nachzuweisen, ohne dabei die
Naturrechts-Deduktion zu berücksichtigen oder auch nur zu erwähnen. Während
die (erste) Deduktion des Staates im System des transscendentalen Idealismus (1800)
eine legitimierende Funktion habe, meint er in der »zweiten« Deduktion in den Stutt-
garter Privatvorlesungen (1810) eine anarchistische Tendenz festzustellen. Wenn er
dazu in einer Fußnote bemerkt, dass diese Tendenz sich bereits 1796 im Systempro-
gramm findet, dann wird die Rede von einer »Entwicklung« und von drei einander
widersprechenden Deduktionen hinfällig (Habermas 1963, 108 f., 110, 113). – Auch
Markus Gabriel scheint Schelling wieder in die Bahn der klassischen Naturrechts-
theorien zu lenken. Wenn er schreibt: »Außerdem setzt die Existenz des Vertrags-
rechts den Staat als Rechtsgaranten voraus. Im Naturzustand können daher keine
Verträge geschlossen werden, da es keine Instanz gibt, die die Institution des Vertrags
aufrechterhält«, dann wird dadurch die kritische Pointe weggebrochen, wonach jene
Instanz den Vertrag nur insofern aufrechtzuerhalten vermag, als sie fähig ist, ihn
aufzuzwingen. Ohne Zwang ist der Vertrag kraftlos und löst sich sogleich wieder auf
(Gabriel 2006, 322).
30 Dies ist häufiger bemerkt worden: Cesa 1986, 228 f.; Cesa 1989, 189; Hofmann

1999, 83 f.; Hollerbach 1957, 127; Jäger 1939, 45; Rivelaygue 1983, 31 f.; Sandkühler
2011, 218; Schraven 1998, 197. Schelling belässt es bei einzelnen Hinweisen: vgl. AA
I,3, 157 Anm. D; AA I,9,1, 283. – Die Zurückweisung der Vertragstheorien findet sich
am Anfang des zweiten Abschnitts, und zwar in einer Anmerkung zu § 85, der die
zweite Lieferung der Deduktion eröffnete. Insofern der Zwangscharakter des Rechts
sich unmittelbar aus diese Zurückweisung der Vertragstheorien ergibt, tritt der Ge-
danke des Zwangsrechts nicht so unmittelbar und unvorbereitet auf, als es zunächst
erscheint.

353
5. Kapitel. Politik und Religion

Erstens müsste ein solcher Vertrag die Materie des Willens festlegen.
Damit würde der Inhalt des Willens den Willenscharakter selbst auf-
heben. Ein Wille behält aber immerzu die Möglichkeit, sich zu revo-
zieren und sich für einen anderen Inhalt zu entscheiden. Der Ver-
tragsbegriff führt, zweitens, zu einem regressus in infinitum: Der
Vertrag müsste jedes Mal wieder bekräftigt werden, da er aus sich
selbst keine bindende, weil keine dauerhafte Kraft hat. Es sei denn,
man setzt, drittens, bereits Moralität bei den Vertragspartnern vo-
raus. In diesem Fall erklärt der Begriff allerdings nichts, da er voraus-
setzt, was er erklären soll. Und auch dann, wenn man, viertens, auf
den Eigennutz der Vertragspartner setzt, gilt, dass freie Wesen »sich
nur so lange zwingen lassen, als sie ihren Vortheil dabey finden« (AA
I,9,1, 283). Sobald sie aus dem Vertrag keinen Vorteil mehr ziehen
oder selbst nur der Meinung sind, dass er für sie nicht länger vor-
teilhaft ist, ist der Vertrag de facto aufgelöst. Diese Versuche haben
gemeinsam, dass sie den Zwangscharakter der staatlichen Ordnung
verdecken. Hinter dem moralischen Zwang verbirgt sich ein physi-
scher oder psychologischer Zwang, d. h. Gewalt, Androhung von Ge-
walt oder Gewalt durch Überzeugung (vgl. AA I,3, 171 (§ 148)).
Die Deduktion des Naturrechts erweist sich am Ende als ihre De-
struktion. Das Problem, zu dessen Lösung das Naturrecht gedacht
war, lässt sich mit seiner Hilfe nicht lösen, sondern nötigt dazu, zu
einer anderen Wissenschaft überzugehen. Schelling legt hier die
Aporie im Kern der Politik und des Rechts frei. Das Problem, das die
Politik zu lösen hat, kann sie nur so lösen, dass sie auf externe Res-
sourcen zurückgreift, die sie weder selbst hervorzubringen noch auch
nur zu kontrollieren vermag. Welche diese Wissenschaft sei, lässt
Schelling an dieser Stelle indessen offen. Ihre Aufgabe ist allerdings
bereits aus der Naturrechts-Deduktion zu ersehen. Es gilt, zwischen
individuellen Willen eine solche Übereinstimmung hervorzubringen,
dass diese nicht auf Zwang beruht und nicht als Zwang empfunden
wird. Die Aufgabe besteht somit darin, zu untersuchen, wie ein Wille,
ohne Rekurs auf die Moral oder auf die Pflichtethik, dennoch im Sin-
ne des Ganzen zu handeln vermag.

Schelling hält in der Folge unverbrüchlich an den wesentlichen Er-


gebnissen der Naturrechts-Deduktion fest. In den späteren verstreu-
ten Äußerungen zu politischen Themen finden sich höchstens Präzi-
sierungen, Erläuterungen, zusätzliche Argumente oder prägnantere
Formeln. Von einem Wechsel oder einer Entwicklung im starken Sin-

354
Eine neue Deduktion des Naturrechts

ne kann keine Rede sein. Die ungefähr gleichzeitig mit Philosophie


und Religion in Würzburg gehaltenen Vorlesungen beschließen mit
einer knappen Konstruktion des Staates. Schelling bemerkt, dass in
der hier durchgeführten Konstruktion des Staates, erstens, »kein Bild
des Staats aus der wirklichen Erfahrung gemeint ist« (SW VI, 575).
Es ist nicht seine Absicht, politische Prinzipien aus der Erfahrung zu
abstrahieren. Dies hatte sich bereits dadurch erübrigt, dass er in der
Naturrechts-Deduktion gezeigt hatte, wie jeder mögliche real existie-
rende Staat auf Zwang beruht. Zweitens will er ebenso wenig einen
»Staat, der bloß formell ist, der, um eines äußeren Zwecks willen er-
richtet gedacht wird«, behandeln (SW VI, 575). Solche Konstruktio-
nen können den Staat nur als »ein bloßes Zwangsinstitut« denken, da
sie nur »die bloß negativen Bedingungen eines Staates« sichtbar ma-
chen können (SW VI, 575). Der maschinelle Staat unterscheidet sich
vom organischen Staat jedoch nicht dadurch, dass letzterer zweck-
mäßig eingerichtet wäre, ersterer hingegen nicht, sondern dadurch,
dass der Zweck, wonach ersterer eingerichtet wird, ihm und seinen
Teilen äußerlich bleibt. Demnach kann der maschinelle Staat auch
nach mehreren Zwecken eingerichtet werden. 31 In einer Maschine
ist »der Begriff des Theils« zwar »durch den Begriff des Ganzen be-
stimmt«, aber »der Begriff des Ganzen« ist »dem Theil nur durch
einen ihm fremden Zusammenhang verbunden«, sodass »der Zusam-
menhang also nicht in dem Theil selbst, sonder außer ihm liegt, an-
statt daß im Organismus der Begriff des Ganzen zugleich der Begriff
des Theils selbst, und in diesen übergegangen« ist (SW VI, 378). Die
Zwecke, wonach der Staat eingerichtet werden kann, lassen sich nach
der Naturrechts-Deduktion weder aus dem Naturrecht ableiten noch
unter Hinweis auf es rechtfertigen.
In den etwas früheren Vorlesungen über die Methode des acade-
mischen Studium heißt es:
Wenn die bloß negative Seite der Verfassung, die nur auf Sicherstellung
der Rechte geht, isolirt, und wenn von aller positiven Veranstaltung für
die Energie die rhythmische Bewegung und die Schönheit des öffent-
lichen Lebens abstrahirt werden könnte: so würde sich schwerlich über-
haupt ein anderes Resultat oder eine andere Form des Staats ausfindig
machen lassen, als in jenem [sc. in Fichtes Grundlage des Naturrechts,
R. S.] dargestellt ist. 32

31 Vgl. Schelling 1803, 235 f. / SW V, 316.


32
Schelling 1803a, 234 f. / SW V, 316.

355
5. Kapitel. Politik und Religion

Eine solche Bearbeitung des Naturrechts, die von der Rolle des öffent-
lichen Lebens abstrahiert, hatte Schelling selbst mit der Naturrechts-
Deduktion vorgelegt – allerdings mit der Absicht, den aporetischen
Charakter des Naturrechts aufzudecken und damit die Notwendigkeit
eines Übergangs zu einer anderen Wissenschaft zu erweisen. 33 Diese
Absicht unterscheidet Schellings Bearbeitung in seinem eigenen Ur-
teil von der fichteschen. Deshalb mündet diese in einer bloß mecha-
nischen Ansicht des Staates. Der konkrete Zweck, wonach der Staat
eingerichtet wird, ob zur »allgemeine[n] Glückseligkeit«, zur »Befrie-
digung der socialen Triebe der menschlichen Natur« oder zum »Zu-
sammenleben freyer Wesen unter den Bedingungen der möglichsten
Freyheit«, vermag den maschinellen Charakter desselben nicht zu
berühren. 34 Auch hier hält Schelling daran fest, dass das Naturrecht
letztlich Zwangsrecht ist. Dieses Ergebnis seiner früheren Deduktion
sieht er durch die fichtesche Bearbeitung des Naturrechts nur noch
bestätigt. Allerdings tritt deutlicher als früher hervor, worin die
Grenze des Naturrechts zu suchen ist, nämlich in ihrem Unver-
mögen, der Bedeutung des öffentlichen Lebens Rechnung zu tragen.
Darin dürfte auch das Motiv für Schellings frühere Destruktion des
Naturrechts zu suchen sein.
Alle bisher eruierten Elemente finden sich knapp und prägnant
zusammenführt in einem Fragment wieder, das Schelling im Frühjahr
1807 mit der Absicht schrieb, es in einem damals bereits geplanten
Band seiner Vermischten Schriften zu veröffentlichen. 35 Das Frag-
ment bezeugt, dass das Theoriestück des Naturrechts als Zwangsrecht
von Schelling nicht vergessen wurde, sondern dass es für ihn weiter-
hin seine Gültigkeit behielt. Die sich auf das Naturrecht beziehende
Stelle sei deshalb in ihrer vollen Länge angeführt:
Was zuvörderst das allgemeine Verhältniß der Menschen zueinander
betrifft, so war der Ausgangs- und Unterstützungspunkt der sämmt-

33
Damit liefert die Naturrechts-Deduktion auch die Begründung einer Behauptung
aus dem Ältesten Systemprogramm, nämlich dass der maschinelle Staat keine Idee
der praktischen Vernunft ist (vgl. Systemprogramm, TWA 1, 234). Dazu: Rivelaygue
1983, 13.
34 Schelling 1803a, 235 / SW V, 316.

35 Das Fragment wurde von K. F. A. Schelling unter dem Titel Ueber das Wesen der

deutschen Wissenschaft zum ersten Mal veröffentlicht. In einem Brief vom 16. Juni
1807 an Jacobi, in welchem er diesem einige Auszüge mitteilt, bezeichnet Schelling es
allerdings als Über das Wesen deutscher Philosophie (vgl. F. W. J. Schelling an F. H.
Jacobi, 16. Juni 1807, Fuhrmans, Briefe III, 440).

356
Eine neue Deduktion des Naturrechts

lichen Theorien die absolute Personalität des Einzelnen [1]. Nicht damit
ein dem All ähnliches Ganzes entstünde, nur um eines Ganzen willen,
sondern damit der Einzelne für sich, abgeschlossen und gesondert beste-
hen könnte, gab es Recht und Gesetze. Der Charakter, unter dem der
Einzelne betrachtet wurde, war (dem höchsten, den mechanische Physik
kennt, ähnlich) moralische Undurchdringlichkeit, absolutes Vermögen
für sich zu seyn und seine Sphäre mit Ausschließung aller andern zu
erfüllen. Auf diese unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität wurde eine
den Alten in diesem Sinn völlig unbekannte Wissenschaft gegründet,
ein sogenanntes Naturrecht, das allen zu allem ein gleiches Recht
gibt [2] und keine innerlich bindenden Pflichten, sondern nur äußeren
Zwang, keine positive Handlungen, sondern nur Unterlassungen und
nur Einschränkungen kennt [3], die sich jeder an seinem ursprünglichen
Recht bloß in der Absicht gefallen läßt, um den ihm übrig bleibenden
Rest desselben desto sicherer in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit
genießen zu können. Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht
und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch
menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag [4]. Wenn ein-
mal in der Menschheit kein nothwendiges Princip von göttlicher Einset-
zung ist, wodurch viele zur Einheit verschmolzen, und hinwiederum die
Einheit in Vielheit sich verwirklicht, wenn das Höchste, um dessenwil-
len alles andere da ist und geschieht, die Personalität des Einzelnen ist:
so ist es unmöglich, für das Ganze wahrhaft zu wollen, und das Gesetz
der Sittenlehre, im Sinn und Geist des Ganzen zu handeln, anders als im
negativen Sinn zu verstehen und zu erfüllen, nämlich in dem: nichts zu
thun, das dem Willen des Ganzen, wenn es als solches einen haben
könnte, widerstritte [5]. Alle Tugenden sind dann entweder bloß vernei-
nender Art, oder können ebenfalls nur von dieser Seite erscheinen; der
ganze Werth des Menschen besteht in der Einschränkung, die er sich in
Ansehung anderer auferlegt, nicht in dem, was er für andere vollbringt;
Tugenden, die sich nur im Zustand eines öffentlichen und gemeinsamen
Lebens entwickeln und äußern können, gibt es nicht, sondern bloß Tu-
genden des Privatlebens [5.1]. Auch der Staat glaubt solcher Tugenden
entbehren zu können, sowie jeder innerlich bindenden Kraft. Gesinnun-
gen gehen ihn nichts an, denn Handlungen, die seiner Existenz zuwider,
glaubt er mit Gewalt hindern, deren er bedarf, erzwingen zu können.
Vollkommene Mechanisirung aller Talente, aller Geschichte und Ein-
richtungen ist hier das höchste Ziel [5.2]. Alles soll nothwendig seyn
im Staat, nicht wie in einem göttlichen Werk alles nothwendig ist, son-
dern wie in einer Maschine durch Zwang, durch äußeren Antrieb [6].
Zwar es muß sich in der Anwendung finden, daß der Staat durch alle
diese Mittel nie ein Ganzes wird, ja daß jene blinde Nothwendigkeit
nicht einmal erreicht wird, aber immer wird der Grund nur in der Un-
vollkommenheit des Mechanismus gesucht; neue Räder werden einge-
fügt, die zu ihrer Regulirung wieder anderer bedürfen, u. s. f. ins Unend-

357
5. Kapitel. Politik und Religion

liche; ewig gleich fern aber bleibt das mechanische Perpetuum mobile,
das bloß organischer Kunst der Natur und der Menschen vorbehalten ist
zu erfinden. In einem so gewordenen Staat hat alles nur Werth, soweit
es mit Sicherheit erwartet und berechnet werden kann: alles Dämo-
nische aber, das vom Himmel kommt und nicht berechnet werden kann,
ist von keiner Bedeutung [7]. (SW VIII, 10–12)

Alle Hauptpunkte, die wir vorher herausgearbeitet haben, finden sich


auf diesen wenigen Seiten in knappster Form wieder: (1.) Noch deut-
licher als in der Naturrechts-Deduktion hebt Schelling hervor, dass
die Aporie des Naturrechts sich aus der Annahme einer ›absoluten
Egoität‹ oder der ›absoluten Personalität des Einzelnen‹ ergibt, die
allerdings nicht mit dem ›absoluten Ich‹ aus der Deduktion gleichge-
setzt werden darf, sondern vielmehr auf die Verabsolutierung der
empirischen Individualität abzielt, die in der Naturrechts-Deduktion
lediglich in deren drittem Teil berücksichtigt wurde und die sich auf
das Naturrecht im engeren Sinne bezog. Diese moralische Atomistik
ist indessen eine Abstraktion, die die geschichtliche Gebundenheit der
Individuen übersieht. Das Naturrecht stützt sich auf metaphysische
Annahmen, in erster Linie bezüglich der Natur des Individuums, in-
sofern dieses als eine Art Atom konzipiert wird. Aufgrund dieser Vo-
raussetzung ergibt sich als Aufgabe des Naturrechts, die Mittel zu
suchen, wonach eine Menge solcher Atome sich einigermaßen ein-
trächtig bewegen lassen könnte. Jene Annahme des atomistischen In-
dividuums ist mit den Ergebnissen der schellingschen Naturphiloso-
phie nicht vereinbar. Hier zeigt sich somit unmittelbar, wie Schellings
naturphilosophische Konstruktionen für das Verständnis des Politi-
schen unmittelbare Folgen haben, auch dann, wenn er es vorzieht,
sie nicht unmittelbar auszusprechen oder sie nur höchst selten an-
zudeuten. In ihnen findet Schelling ein kritisches Potential, das sich
insbesondere gegen das Naturrecht richten lässt, das er für den ei-
gentlichen Kern des modernen Verständnisses des Politischen hält.
Deshalb wird an dieser Stelle übrigens auch ausdrücklich an ›die
Alten‹ erinnert. (2.) Die drei ›ursprünglichen Rechte‹, die er im zwei-
ten Abschnitt der Naturrechts-Deduktion deduziert hatte, fasst
Schelling hier in der extrem gedrängten Formel eines ›sogenannten
Naturrechts‹ zusammen, ›das allen zu allem ein gleiches Recht gibt‹.
Zunächst das ›Recht der formalen Gleichheit‹, wonach alle das gleiche
Recht haben. Die Rede von einem Recht ›zu allem‹ ist zweideutig,
insofern damit Sachen oder Dinge und damit das ›Recht auf die Er-
scheinungsWelt‹, auf Eigentum gemeint sein kann. Ebenso gut kön-

358
Eine neue Deduktion des Naturrechts

nen damit auch Handlungen gemeint sein. Danach hätten alle das
gleiche Recht auf alle möglichen Handlungen und damit ein ›Recht
der moralischen Freiheit‹. (3.) Daraus ergibt sich der bloß negative
Charakter des Staates: Dieser kann nur den Missbrauch der Freiheit
verhindern, nicht aber zu positiven Handlungen motivieren.
(4.) Auch die Kritik an den Vertragstheorien wird rekapituliert.
(5.) Ferner wird ersichtlich, was die andere Wissenschaft zu leisten
habe: Diese hat zu zeigen, wie ›innerlich bindende Pflichten‹, ›positive
Handlungen‹ und ›Tugenden‹ möglich sind, deren bestimmendes
Merkmal darin besteht, ›für das Ganze wahrhaft zu wollen‹ und eine
›innerlich bindende Kraft des Staates‹ zu entwickeln. Die andere Wis-
senschaft zielt somit darauf ab, den Staat als Organismus mit einem
inneren Zweck zu denken. Dieser ist nur die Kehrseite des Staates als
Mechanismus. In seinen späteren Erklärungen tritt nur deutlicher die
›positive‹ Seite von Schellings Begriff des Politischen hervor, der sich
in der Naturrechts-Deduktion nur von seiner ›negativen‹, kritischen
oder destruktiven Seite gezeigt hatte. (5.1.) Nach dem Naturrecht gibt
es nur ›Tugenden des Privatlebens‹. Damit verbindet Schelling eine
anthropologische Beobachtung: Zum einen lassen solche Privat-
tugenden den Menschen unbefriedigt, da es etwas im Menschen gibt,
das nach mehr als bloß privaten Tugenden verlangt. Zum anderen
verkümmern die Tugenden, wenn sie sich lediglich in der Privat-
sphäre zeigen können und keine öffentliche Resonanz haben. 36 (5.2.)
Dem schließt sich ein politisches Argument an. Zwar ist es nicht un-
möglich, den Staat so einzurichten, dass die Tugenden sich nur noch
in der Privatsphäre entfalten können, wie gerade der moderne Staat
belegt. Eine solche Einrichtung ist allerdings dem Gedeihen des Staa-
tes selbst abträglich, da sie zum einen bei den Regierten jeden positi-
ven, innerlichen Antrieb, etwas für das Gemeinwohl zu tun, erstickt
und zum anderen bei den Regierenden eine ›bürgerliche Moral‹ un-
terstützt, die für die Ausübung eines Amtes nicht förderlich ist und
ihnen kein angemessenes Verständnis der Bedeutung ihrer Aufgaben
erlaubt (vgl. SW VIII, 12). 37 Die Erfahrung selbst zeigt, wie eine me-
chanische Einrichtung des Staates keine wirkliche Einheit hervor-

36 Vgl. auch Schelling 1803a, 228 / SW V, 313; SW VI, 573.


37
Vgl. auch den vom Herausgeber eingefügten Zusatz aus dem Handexemplar (SW
V, 260), der in allen zu Schellings Lebzeiten erschienenen Ausgaben fehlt (1803, 1813,
1830).

359
5. Kapitel. Politik und Religion

zubringen vermag. 38 (6.) Auch der Zwangscharakter des Staates wird


wieder hervorgehoben. 39 (7.) Dieser begünstigt insbesondere einen
Konformismus, den Schelling für ›ein kleines, friedliches, zu keinen
großen Bestimmungen berufenes Völklein‹ noch gelten lassen will 40
und der der sachgerechten Erfüllung der Aufgaben größerer Staaten
hingegen abträglich ist, die mehr als gewöhnliche Individuen ver-
langt, die sich jenem Zwangscharakter entziehen und denen man im
eigentlichen Sinn ›Persönlichkeit‹ zusprechen kann. Eine Einrich-
tung, die die Entfaltung des ›Dämonischen‹ begünstigte, und die in-

38 Wenn es auch seit Längerem bon ton ist, in Schellings Kritik am mechanischen
Staat einzustimmen, so ist dabei doch nicht zu übersehen, dass eine »Rechts-Verfas-
sung in dem Verhältniß, als sie der Natur sich annähert« – und d. h., wie dem Vor-
hergehenden zu entnehmen ist, als sie »wie eine Maschine, die auf gewisse Fälle zum
voraus eingerichtet ist, und von selbst, d. h. völlig blindlings, wirkt, sobald diese Fälle
gegeben sind« –, »ehrwürdiger wird«, während »der Anblick einer Verfassung, in
welcher nicht das Gesetz, sondern der Wille des Richters, und ein Despotismus
herrscht, der das Recht, als eine Vorsehung, die in das Innere sieht« – wozu nur Gott,
nie aber ein Mensch fähig ist –, »unter beständigen Eingriffen in den Naturgang des
Rechts ausübt, der unwürdigste und empörendste [ist], den es für ein von der Heilig-
keit des Rechts durchdrungenes Gefühl geben kann« (AA I,9,1, 282 f.).
39 So auch noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen: Der Staat ist eine »physische

Einheit«, »eine Einheit, die nur durch physische Mittel wirken kann« (SW VII, 461).
Vicki Müller-Lüneschloß bemerkt zu Recht, dass »der Staat ›einen Widerspruch in
sich selbst‹ hat, welcher darauf beruht, dass er eine Einheit ist, ›die nur durch physi-
sche Mittel wirken kann‹, und sich dabei doch auf geistige und freie Wesen beziehen
soll« (Müller-Lüneschloß 2012, 245 f.). Diese Grundeinsicht hatte Schelling aber be-
reits mit der Neuen Deduction gewonnen. Gerade jener Widerspruch verweist auf
eine »neue Wissenschaft«, die nach einem »organische[n] Ganze[n]« sucht (SW VII,
462). Der Widerspruch ist Ausdruck eines »auf der Menschheit ruhenden Fluchs«
(SW VII, 461). – Es ist nicht leicht zu sehen, inwiefern die Ansicht, wonach der Staat
»nicht mehr als der beweiskräftige Ausdruck einer verkehrten Welt« ist (1810), und
diejenige, wonach er »als heilsame Gewalt gegen die Verkehrung selbst« erscheint
(wie nach 1850), inkompatibel wären, wie Habermas meint. Eben dass es einer solchen
»heilsame Gewalt gegen die Verkehrung« bedarf, kann als ein Beleg der Verkehrung
dienen. Gäbe es diese nicht, dann bräuchte es auch den Staat nicht. Dass hier zudem
einer »unvermittelte[n] Identifikation der in den existierenden Staaten ausgeübten
Autorität« mit einer Sittenordnung das Wort geredet wird, vermag ich ebenfalls nicht
zu sehen. Höchstens wäre die staatliche Ordnung insofern immer vorzuziehen, als die
Alternative der Zustand der Anarchie oder des Aufruhrs wäre, d. h. ein teilweiser
Durchbruch des Naturzustandes, wo jeder jeden zwingt. Das von Habermas angeführ-
te Zitat belegt nur, dass der Mensch (weil gefallen) nun einmal nicht anders leben
kann als in einer staatlichen Ordnung; damit ist aber die bestehende Staatsordnung
noch keineswegs als die bestmögliche oder als sittlichste legitimiert (Habermas 1963,
112).
40
Schelling 1803a, 109 / SW V, 260.

360
Eine neue Deduktion des Naturrechts

sofern dasjenige absichtlich hervorzubringen oder zu fördern suchte,


dessen Hervorbringung sich jeglicher Kontrolle entzieht, wäre für
den Staat selbst von Vorteil. Die Idee einer solchen Einrichtung ist
somit mehr dazu geeignet, auf das grundlegende Problem des Politi-
schen aufmerksam zu machen, als dass es als Lösungsvorschlag ver-
standen werden könnte.
Durch das Bisherige dürfte hinreichend belegt sein, dass die
Selbstzerstörung des Naturrechts als Zwangsrechts für Schelling
bleibende Gültigkeit behält. 41 Daraus dürfte auch zu erkennen sein,
aus welchem Grund die Ausarbeitung einer politischen Theorie für
Schelling keine dringliche Aufgabe sein konnte: Keine solche Theorie
wäre in der Lage, für das Grundproblem, das die Naturrechts-Deduk-
tion aufgedeckt hatte, eine durchführbare praktische Lösung zu ent-
decken. Auch die von Kant und Fichte kurz nach der Naturrechts-
Deduktion veröffentlichten Rechtslehren waren nicht von der Art,
dass sie Schelling dazu zu veranlassen vermochten, die Ergebnisse
seiner eigenen Deduktion einer Revision zu unterziehen. Vielmehr
mussten sie ihn in seiner Überzeugung von der Richtigkeit derselben
noch bestätigen, da sie, insofern sie die Aporie des Naturrechts nicht
bemerkten, zu einem Gebrauch desselben führten, den Schelling in
seinem mystifizierenden Charakter bereits entlarvt hatte. Dazu er-
klärt Schelling:
Das erste Unternehmen, den Staat wieder als reale Organisation zu con-
struiren, war Fichte’s Naturrecht. Wenn die bloß negative Seite der Ver-
fassung, die nur auf Sicherstellung der Rechte geht, isolirt, und wenn
von aller positiven Veranstaltung für die Energie die rhythmische Be-
wegung und die Schönheit des öffentlichen Lebens abstrahirt werden
könnte: so würde sich schwerlich überhaupt ein anderes Resultat oder
eine andere Form des Staats ausfindig machen lassen, als in jenem dar-
gestellt ist. Aber das Herausheben der bloß endlichen Seite dehnt den
Organismus der Verfassung in einen endlosen Mechanismus aus, in
dem nichts Unbedingtes angetroffen wird. 42
Gerade diesen bloß negativen Charakter einer jeglichen Naturrechts-
lehre hatte Schelling noch vor der Veröffentlichung von Fichtes Na-
turrechtslehre bereits in der Neuen Deduction nachgewiesen. Damit
wird die Frage des Rechts und der Gesetze oder die Aufgabe einer

41
Dieter Jähnig ist einer der Wenigen, der eine grundsätzliche Kontinuität der poli-
tischen Lehre Schellings behauptet, vgl. Jähnig 1966, 244 f., 246, 248, 256 f.
42
Schelling 1803a, 234 f. / SW V, 316; Herv. v. Verf.

361
5. Kapitel. Politik und Religion

Konstruktion des Staats ›als einer realen Organisation‹ von unterge-


ordneter Bedeutung. 43 Das zentrale Problem, wie die individuellen
Willen zu einer organischen Einheit gebracht werden können, ist
mit den Mitteln des Naturrechts nicht lösbar. Das Fehlen eines Werks,
»das mit den berühmten politischen Werken Fichtes oder Hegels ver-
glichen werden könnte«, berechtigt somit nicht zu dem Schluss,
Schelling sei »kein politischer Denker« oder sogar »der ›unpolitischs-
te‹« Denker »des klassischen deutschen Idealismus«. 44 Das zugrunde-
liegende Problem hingegen bleibt für Schelling ständig präsent. Eine
Lösung wäre nur in einer »neue[n] Wissenschaft« zu suchen (AA I,3,
174 (§ 163)). Allerdings wird die politische Dimension dieser Wissen-
schaft leicht übersehen.

2. Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

Wie wir im Zusammenhang der Naturrechts-Deduktion bemerkten,


bedürfen die Philosophen untereinander weder der Pflicht noch des
Zwangs, da sie aufgrund ihrer Natur miteinander in Übereinstim-
mung sind. Das Naturrecht hingegen war zur Lösung der Frage ge-
dacht, wie sich zwischen Nicht-Philosophen eine Übereinstimmung

43 Vgl. auch die Bemerkungen zur Jurisprudenz (Schelling 1803a, 226–236 / SW V,


312–316).
44
Habermas 1963, 108; Cesa 1986, 226. – Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass
Schelling es sich, wie Habermas zu Recht beobachtet, ersparen kann, »in die traditio-
nell verbindliche Diskussion über die beste Form des Staates einzutreten« (Habermas
1963, 111). Allerdings nicht, wie Habermas meint, aufgrund einer »kaum verhüllte[n]
anarchistischen Konsequenz« (ebd.), sondern weil das Naturrecht keine beste Regie-
rungsform zu begründen vermag. Die Ausführung des Theoriestücks von der besten
Staatsform hat Schelling somit nicht unterlassen. Sein Fehlen selbst deutet auf ein
Argument, das Schelling in der Naturrechts-Deduktion umständlicher entwickelt
hatte: Keine Form des Staates vermöchte die Aporie des Naturrechts zu lösen. Damit
ist allerdings nicht gesagt, dass es nicht möglich wäre, zwischen besseren und schlech-
teren Einrichtungen des Staates zu unterscheiden, nur dass dieser Unterschied nicht
auf die Staatsform zurückgeführt werden kann. Jede dieser Formen lässt ein Opti-
mum zu. Wenn bei Schelling eine gewisse Neigung zur Monarchie feststellbar ist,
dann dürfte dies u. a. dadurch motiviert sein, dass in derselben mit dem König eine
Instanz eingebaut ist, die ein »Gegengewicht gegen die abstrakte Allgemeinheit des
Gesetzes« bildet, diese aber nicht aufhebt (Hollerbach 1957, 238). – Man kann sagen,
dass man bei Schelling bislang immer nur nach einer politischen Theorie, nicht nach
einer Politischen Philosophie gesucht hat. Für diese grundlegende und weitreichende
Unterscheidung: Strauss 1959, 12–16, 92–94; Meier 2000.

362
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

hervorbringen lässt. Die Leistung der Deduktion besteht somit nicht


nur darin, dass sie den aporetischen Charakters des Naturrechts auf-
gedeckt, sondern zugleich auch eine Unterscheidung zwischen drei
›Klassen‹ von Wesen begründet hat. Den drei von Schelling unter-
schiedenen praktischen Wissenschaften entsprechend kann man
nämlich auch drei Klassen von Wesen unterscheiden, auf welche jene
sich jeweils beziehen: Während die Beziehungen zwischen Philo-
sophen Gegenstand der Moral waren und die Ethik sich mit den
(pflichtmäßigen) Verhältnissen zwischen Philosophen und potentiel-
len Philosophen bzw. mit den Beziehungen letzterer untereinander
beschäftigte, war es Aufgabe des Naturrechts, zu untersuchen, ob
und wodurch sich auch zwischen Nicht-Philosophen eine Einheit her-
vorbringen lässt. An diese grundlegende Unterscheidung erinnert
Schelling sogleich im ersten Absatz des »Anhangs« von Philosophie
und Religion. Er fängt damit an, ein Korrespondenz- oder Identitäts-
verhältnis zwischen Staat und Universum zu behaupten. Der ideale
oder vollkommene Staat soll ein Abbild des Universums, d. h. einer
natürlichen Ordnung sein. 45 Deshalb muss er auch einer natürlichen
Unterscheidung Rechnung tragen. Nach »dem Vorbild des Univer-
sum« zerfällt der Staat als eine »zweyte Natur« nämlich »in zwey
Sphären oder Klassen von Wesen«, die Schelling als die »Freyen«
und die »Nicht-freyen« bezeichnet. 46 Die Freien »repräsentiren« die
Ideen, die Nicht-Freien hingegen »die concreten und sinnlichen
Dinge«. 47 Die jeweils vorherrschende Erkenntnisart ist der Grund
dieser natürlichen Unterscheidung. Demnach ließe die Unterschei-
dung sich auch auf ein und dasselbe Wesen anwenden, indem z. B.

45 Der ideale Staat ist ein solcher, in welchem der Mechanismus oder der Zwang ver-
schwindet. Damit ist gesagt, dass es keinen faktisch existierenden Staat gibt, der nicht
– mehr oder weniger – mechanisch ist: Jeder existierende Staat wäre höchstens ein
Versuch, diesen mechanischen Charakter zum Verschwinden zu bringen und zu einer
organischen Einheit zu gelangen.
46
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. Diese Unterscheidung hat vielfach Missverständ-
nisse veranlasst. So hat man darin eine »Apologie der Ungleichheit« gesehen, vgl.
Sandkühler 1968, 137; Gilson 1988, 37. Markus Gabriel meint sogar, dass Schelling
»damit die Sklaverei ontologisch [rechtfertigt], ein peinlicher Fehltritt, der eines er-
klärten Denkers der Freiheit kaum würdig ist« (Gabriel 2006, 330). Claudio Cesa hin-
gegen bemerkt zu Recht, dass Schelling »selbstverständlich nicht in allem Ernst eine
Wiedereinführung der Sklaverei oder des Leibeigentums befürworten [könnte]«; er
bringt den »Stand der Unfreien« mit der »Sklaverei des Privatlebens« und der Gebun-
denheit am »eigennützigen Trieb« in Verbindung (Cesa 1981, 311).
47
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.

363
5. Kapitel. Politik und Religion

der Philosoph nicht ohne Erkenntnis der sinnlichen Dingen und der
Ideen ist. Entscheidend ist allerdings, welche Erkenntnisart die höchs-
te und damit die anderen bestimmende Stelle einnimmt.
Neben diesen zwei ›Klassen von Wesen‹ gibt es jedoch noch eine
dritte Klasse von Wesen, die im Staat keinen Ort zu haben scheint. Es
gibt nämlich eine »höchste und oberste Ordnung«, die aber, insofern
der Staat in zwei »Klassen von Wesen zerfällt«, »noch unerfüllt durch
beyde« bleibt. 48 Es ist dies die Klasse der Philosophen, die dadurch
eine Sonderstellung erhält. Die beiden Klassen der Freien und
Nicht-Freien stehen in Beziehung zueinander: Die Ideen und damit
auch die Freien als ihre Repräsentanten »bekommen dadurch, dass die
Dinge ihre Werkzeuge oder Organe sind, selbst eine Beziehung auf
die Erscheinung und treten in sie, als Seelen, ein«. 49 Der Staat zerfällt
als zweite Natur in zwei Klassen. Diese zwei Klassen gehören also zur
Natur. So wie nun Gott zur Natur »ewig nur ein indirectes Verhält-
niss« hat und »über alle Realität erhaben [bleibt]«, so haben auch
weder die Freien noch die Nicht-Freien ein direktes Verhältnis zu
Gott. 50 Die Freien erhalten erst durch die dritte Klasse von Wesen
selbst ein Verhältnis zu jener höheren Ordnung. Die dritte Klasse
hingegen bezieht sich direkt auf Gott. Nur die Philosophen repräsen-
tieren Gott. Dadurch können sie aber zur zweiten Natur und damit zu
den Freien wie zu den Nicht-Freien nur ein indirektes Verhältnis ha-
ben. Damit bringt Schelling an dieser Stelle gerade jene Unterschei-
dung wieder zum Tragen, die er in der Naturrechts-Deduktion be-
gründet hatte. 51
Wie wir gesehen haben, nötigte der Nachweis des Naturrechts als
eines Zwangsrechts zu einem Übergang zu einer anderen Wissen-
schaft, deren Aufgabe darin besteht, zu zeigen, wie die individuellen
Willen sich in eine stabile gemeinschaftliche Ordnung einbinden las-
sen. Obwohl Schelling es in der Neuen Deduction offen lässt, welche
Wissenschaft er meint, so ist aus ihr deutlich zu ersehen, welche Auf-
gabe sie zu lösen hat. Ferner ist aus ihr zu ersehen, dass an der Sinn-
lichkeit angeknüpft werden muss, wenn eine solche stabile Ordnung

48 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.


49 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.
50 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.

51 Die zentrale Rolle der Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien geht auch aus

einer von Johann Peter Pauls angefertigte Nachschrift einer Vorlesung hervor, die
Schelling im Sommersemester 1804 in Würzburg gehalten hat, vgl. Scheerlinck
2016a.

364
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

zustande gebracht werden soll, und nicht am Menschen, insofern er


ein vernunftgeleitetes Wesen ist. Diese Ordnung soll den Menschen
dazu bringen, vernünftig zu leben, ohne aus Vernunft zu leben. Der
Staat wurde als ein solches soziales Gebilde bestimmt, das so geordnet
und eingerichtet ist, dass es seine Glieder dazu bestimmt, sich selbst
zu zwingen und den von ihm ausgehenden Zwang zu verinnerlichen
und dadurch sich selbst als ein Objekt oder als ein Mittel zu be-
handeln. Die jetzt gesuchte Form des πολιτεύειν (vgl. SW VI, 576)
soll zwischen den Einzelnen ein gemeinschaftliches Band hervorbrin-
gen, sodass sie, indem sie sich um sich selbst bemühen, zugleich einen
Beitrag zum gemeinsamen Guten liefern und in ihren Bemühungen
um das Gemeinwohl ihre Erfüllung finden. 52 Darauf scheint Schel-
ling abzuzielen, wenn er von »innerlich bindende[n] Pflichten« (SW
VIII, 10) und von einem »öffentlichen Geist« oder »Leben« spricht. 53
Der vernunftgeleitete Wille bedarf eines solchen Gebildes nicht, da er,
wie wir gesehen haben, von selbst mit den anderen vernunftgelei-
teten Willen in Übereinstimmung ist (Moral) und den nicht ver-
nunftgeleiteten Willen gegenüber pflichtmäßig handelt (Ethik). Das
gesuchte Gebilde ist demnach ausschließlich für die nicht vernunft-
geleiteten Willen gedacht. Das Problem besteht darin, wie sich – un-
ter der Annahme, dass das vernunftgeleitete oder philosophische Le-
ben zwar die höchste Verwirklichung der Freiheit ist, wegen seiner
hohen Anforderungen jedoch nur den Wenigsten offensteht – auch
für die Nicht-Philosophen bzw. Nicht-Freien eine Ordnung finden
lässt, die es ihnen erlaubt, etwas der höchsten Freiheit Entsprechen-
des zu erfahren. Als ein solches Gebilde gilt Schelling die Mytho-
logie. 54 Die ›neue Wissenschaft‹ kann entsprechend als eine Neue
Mythologie bezeichnet werden. 55

52 Vgl. dazu Jähnig 1966, 244–248; Jähnig 1969, 194–200.


53
Schelling 1803a, 228 / SW V, 313.
54 Vgl. Jähnig 1966, 244: »die ›mythologisch‹ konstituierte […] Gemeinschaft« ist

»das positive Gegenstück zum Staat«. Dieses »Gegenstück« ist jedes Mal gemeint,
wenn Schelling vom ›Volk‹ oder vom ›Staat als Organismus‹ spricht.
55 Nach Markus Hofmann laufen die bislang vorgeschlagenen Deutungen der ›neuen

Wissenschaft‹ als Staatsrecht, Geschichte oder auch Naturphilosophie in der Bestim-


mung als Neuer Mythologie zusammen, vgl. Hofmann 1999, 87 f. So auch Sziborsky
1987, 40: »Die Forderung [nach einer Neuen Mythologie, R. S.] erwächst aus einer
Staatskritik«. Trifft dies zu, dann wird die übliche Periodisierung, wonach Schelling in
einer ersten Periode (zur Zeit der Neuen Deduction) einen ›mechanistischen‹ Staats-
begriff, in einer späteren (ab 1803) einen ›organischen‹, in der Spätphilosophie
schließlich einen ›eschatologischen‹ Staatsbegriff vertreten habe, wie sie besonders

365
5. Kapitel. Politik und Religion

Dies geht auch aus dem Zusammenhang hervor, in welchem Schel-


ling im Ältesten Systemprogramm zum ersten Mal auf die Neue My-
thologie zu sprechen kommt. Dort heißt es: »Die Idee der Menschheit
voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat
etwas Mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine
gibt« (Systemprogramm, TWA 1, 234). Diesen maschinellen Charak-
ter des Staates, wonach dieser nach keinem immanenten Zweck, son-
dern nur nach ihm äußerlichen Zwecken eingerichtet wird, hatte
Schelling auch in der Neuen Deduction nachgewiesen, und zwar im
Ausgang von der ›Idee der Menschheit‹, wie er sie aus der Idee des
absoluten Ich gewonnen hatte. Daraus schließt Schelling: »[A]lso soll
er [der Staat, R. S.] aufhören« (Systemprogramm, TWA 1, 235). Aus
diesem Satz spricht kein Anarchismus. Ebenso wenig ruft er das Indi-
viduum zum Aufruhr gegen die staatliche Ordnung auf. Diesem Satz
zufolge käme dem Staat vielmehr nur eine vorläufige Bedeutung zu,
in Erwartung dessen, dass entweder alle zum Philosophen werden
oder dass ein Volk als ein organisch gegliedertes Ganzes entsteht.
Dem Staat kommt demnach nur eine negative Bedeutung zu, indem
er im Idealfall zwar den Missbrauch der Freiheit zu verhindern ver-
mag, ohne jedoch dazu beitragen zu können, dass die Bürger ihre
Freiheit zur eigentlichen Selbstverwirklichung gebrauchen. 56 Diese
Einschätzung der Bedeutung des Staates nötigt dazu, »die Prinzipien
für eine Geschichte der Menschheit« darzulegen (Systemprogramm,
TWA 1, 235; vgl. AA I,9,1, 285 f.). Da der Staat keinen Beitrag zum
positiven Gebrauch der Freiheit liefern kann, müsse »der große Hau-
fen […] eine sinnliche Religion haben« (Systemprogramm, TWA 1,
235). Eine sinnliche Religion ist nur ein anderer Ausdruck für My-
thologie. Deshalb heißt es auch noch in Philosophie und Religion:
»Wollt ihr, dass sie [sc. die Religion, R. S.] zugleich eine exoterische

von Hollerbach 1957 vertreten wurde, hinfällig. Obwohl Dieter Jähnig die Unhaltbar-
keit dieser Periodisierung bereits überzeugend nachgewiesen hat (vgl. Jähnig 1966,
256 f.), trifft man sie weiterhin immer wieder an, so z. B. bei Sandkühler 1968; Sand-
kühler 2011. Zum Grund der Mythologie in der Natur vgl. Hühn 1994.
56 Vgl. Jähnig 1966, 256 f.: »Solange das Ideal menschlicher Gemeinschaft als eines

›Organismus‹, in dem jedes Individuum freiwillig das Prinzip des Ganzen will, nicht
(nicht mehr oder noch nicht wieder) wirklich ist, ist eine mechanisch-rechtliche Ord-
nung unvermeidlich, um, den Mißbrauch der Freiheit einschränkend, deren Selbst-
zerstörung zu verhüten. Diese Ordnung ist also, aus demselben Grund, um dessent-
willen sie besteht, vorläufig«. Vgl. auch Rivelaygue 1983, 13 f.

366
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

und öffentliche Seite habe, so gebt ihr diese in der Mythologie, der
Poësie und der Kunst einer Nation«. 57
Zunächst ist der sinnliche Charakter der Mythologie hervorzuhe-
ben. Durch denselben ist sie allen zugänglich und verständlich und
vermag auf eine Einheit aller hinzuwirken. Es sei an dieser Stelle auf
eine Figur hingewiesen, die durchaus als eine ›Urszene‹ 58 des schel-
lingschen Denkens der Geschichte anzusehen ist. Sie stellt die Ge-
stalt, die Rolle und die Aufgabe eines Gegenstücks oder einer Prä-
figuration des Philosophen bildlich dar. Sie findet sich in einer von
Schellings frühesten Schriften, in dem Aufsatz Ueber Mythen, his-
torische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt. Bevor er dort zu
einer Taxonomie der Mythen übergeht, vergegenwärtigt Schelling
kurz und anschaulich das, was man heute vielleicht den ›Sitz im Le-
ben‹ der Mythen nennen würde: Die Mythen werden nämlich er-
zählt, und zwar von einem Stammvater oder denkenden Weisen (vgl.
AA I,1, 197 f., 225 f.). Dieser erklärt die Natur, die Götter, die Bräuche.
Wenn diese Erzählungen uns von der inhaltlichen Seite kaum noch
etwas zu sagen haben, so kommen sie doch einem menschlichen Be-
dürfnis entgegen, das der Nachweis ihrer Falschheit oder ihres feh-
lenden informativen Charakters keineswegs zunichte macht. Diese
Erzählungen haben nämlich eine gemeinschaftsstiftende Funktion,
indem sie eine kollektive Identität hervorbringen:
Was konnte auch ungebildete Menschen eher zu einer Gesellschaft ver-
binden, als die Tradition, die Sagen von den gemeinschaftlichen Vätern
und ihren Thaten, an denen jeder gleiches Interesse nahm? was eher, als
die gemeinschaftlichen Beispiele des Heldenmuths, der Tapferkeit und
der Tugend der Vorväter, was eher, als dieselben Sitten, Gebräuche und
Gesetze, die sie alle als Verlassenschaft der Väter heilig beobachteten?
(AA I,1, 218)
»So wirkten Lehre, Ermahnung und Beispiel der Väter nationale Tu-
gend der Völker; denn auch Tugend ist unter ungebildeten Stämmen
nur das, was durch lange Beobachtung, durch Herkommen, durch alte
Ueberlieferung geheiligt ist« (AA I,1, 240). »Die historischen Sagen
eines jeden Volks werden mitunter immer zur belehrenden, bilden-
den Tradition« (AA I,1, 218). Solche Sagen sind ein Erziehungsmittel,
um »in ungebildete[n] Menschenhorden Harmonie und Einheit« her-
vorzubringen und sie dadurch in einer volksmäßigen, organischen

57 Schelling 1804, 74b / SW VI, 65.


58
Nach einem Ausdruck von Franz 1996, 5.

367
5. Kapitel. Politik und Religion

Einheit zu überführen (AA I,1, 218). Umgekehrt bedeutet die Zer-


störung der Mythologie die Auflösung eines Volkes und eine Rück-
kehr in den Zustand der Horde oder der Barbarei. 59 Wegen ihres
sinnlichen Charakters vermögen die Mythen auch eine motivierende
Wirkung zu entfalten: Sie regen zu Handlungen an, nicht durch
Zwang, sondern durch »Ehrfurcht und Achtung« (AA I,1, 240). 60
Auch ist es schwer, »ein Volk jener lebendigen Lehre der Tradition
zu entwöhnen, ihm andre Begriffe und Kenntnisse, andre Sitten und
Gebräuche heilig zu machen« (AA I,1, 240). Zur Gefährlichkeit eines
solchen Unterfangens äußert Schelling sich hier nicht. Ebenso wenig
reflektiert er über den Unterschied zwischen der Ersetzung alter
durch neue Sitten und der Zerstörung bestehender Sitten, ohne dass
etwas Neues an deren Stelle tritt. Wie dem auch sei, Mythen haben
eine gemeinschaftsstiftende Funktion. Die Gemeinschaft bewegt sich
in einem mythischen Element. Diese Funktion kann durch nichts er-
setzt werden. 61 Dies hat Schelling besonders in dem Mythen-Aufsatz

59 Vgl. Schelling 1803a, 168 f. / SW V, 287.


60
Vgl. Jähnig 1966, 245 f.: »Die Gemeinschaft soll von solcher Art sein, daß der Staat
überflüssig wird. Denn das bedeutet ja nicht etwa Anarchie, sondern vielmehr: das
gemeinschaftstiftende Band (die Form der ›Wechselwirkung‹ der Individuen) soll
nicht von außen wirkend, nur auf den Mißbrauch der Freiheit gerichtet, also nur ver-
bietend und insofern von ›negativer‹ Wirklichkeit, sondern im Innern eines jeden
Menschen tätig sein, – als sein eigener Wille und insofern von ›positiver‹ Wirklich-
keit. Das aber wäre eben dort der Fall, wo Form und Macht der Gemeinschaft nicht auf
abstrakt-›rechtlicher‹ Grundlage beruhen, sondern das Rechte aus Achtung und Ver-
ehrung, (im eigentlichen Sinn des römischen Wortes:) als religio getan wird. Das
positive Gegenstück zum Staat ist die Religionsgemeinschaft« (dritte Herv. v. Verf.).
61 Vgl. Jähnig 1969, 198: »Die Individuen stehen nur dann in harmonischer Zusam-

menstimmung, wenn die Macht der Bindung zugleich der Grund ihrer Freiheit ist;
und das heisst: wenn die Macht der Zusammenstimmung nichts Fremdes, sondern das
Eigene ist. Dieses Verhältnis ist nach Schellings Meinung das eigentümliche und un-
ersetzbare Geheimnis der ›Mythologie‹ […]. In der Mythologie sieht Schelling das
Auszeichnende einer Vermittlung zwischen ›Individuum‹ und ›Geschlecht‹, in der
das Eine selbst zur Sache des Anderen wird. Die Mythologie macht das Ganze zur
Sache des Einzelnen, sie stellt aber zugleich auch den Einzelnen in einen grösseren
(d. h. reicheren, sinnvolleren) Raum, als es der Kreis seiner blosses Individualität sein
würde. Freiheit heisst hier nicht nur: uneingeschränkt, unbedrückt von aussen zu
sein, sondern zugleich auch: von der Last und der Enge der Ichgebundenheit frei zu
sein«. – Das Gesagte dürfte deutlicher werden, wenn man es mit der entgegengesetz-
ten Position vergleicht, wie z. B. der von Elias Canetti, der diese Freiheit »von der Last
und der Enge der Ichgebundenheit« nur in der Masse für möglich hält (vgl. Canetti
1960, 13 f.). Canetti sieht nur Individuen oder Massen; ihm fehlt der Mittelbegriff
eines Volkes oder Gemeinschaft.

368
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

herausgearbeitet. Wenn dies in der Folge eher in den Hintergrund


tritt, so wird dies doch überall dort vorausgesetzt, wo davon die Rede
ist, dass Mythen ein wahrhaft öffentliches Leben erst hervorbrin-
gen. 62 Damit ist auch die Gefährlichkeit eines politischen Programms
klar, dass aufgrund ungenügend geprüfter Annahmen solche Mythen
sämtlich unter dem Aberglauben rubriziert und sie deshalb zu be-
seitigen strebt. Die Mythologie hat nämlich bereits dadurch eine
vernunftähnliche Wirkung, dass sie eine harmonische Übereinstim-
mung zwischen Individuen hervorbringt, die sonst nur durch die Ver-
nunft hervorgebracht werden kann. Aus diesem Grund auch scheint
Schelling immer nachdrücklicher zu betonen, dass Mythen sinnliche
Darstellungen von spekulativen Ideen sind. Darin besteht ihr sym-
bolischer Charakter. Deshalb skizziert Schelling das Programm eines
Nachweises der »immanenten Rationalität« der Mythologie. 63 Im
Rahmen der Vorlesungen zur Philosophie der Kunst gibt Schelling
einige Proben von diesem symbolischen Charakter der Mythen und
der mythischen Gestalten (vgl. SW V, 400–405).
Es ist denn auch nicht ganz unzutreffend, wenn man die Neue
Mythologie gelegentlich als ein »Bildungskonzept« bezeichnet hat,
da sie »die Kluft, die die Aufklärung in ihrer Selbstüberheblichkeit
zwischen Aufgeklärten und Unaufgeklärten aufgerissen hat«, über-
brücken helfen soll. 64 Diese Kluft lässt sich nicht dadurch über-
brücken, dass man sie wegschafft. Dies wäre nur dann möglich, wenn
die Ungleichheit zwischen Aufgeklärten und Unaufgeklärten eine
bloß künstlich erzeugte wäre. Auf dieser Annahme beruhte die Um-
setzung der Aufklärung in ein politisches Programm. Vielmehr han-

62 Das Fehlen von Mythen in der Neuzeit bzw. die zerstörende Wirkung, die die
modernen Staatslehren auf ein mögliches Gedeihen derselben ausüben, bildet ein
Grundthema Schellings. So z. B. Schelling 1803a, 6, 32 f., 200 f., 207 f., 225–231,
322 f. / SW V, 212, 225, 301, 304, 311–315, 352; SW V, 434, 641 f., 643 f., 714–717,
734–736; Schelling 1804, 73b–80 / SW VI, 65–70; SW VI, 572 f., 576; Schelling
1805b, 5 f. / SW VII, 142; Schelling 1809a, 383–386 / SW VII, 326–328; Schelling
1807a, 464 / SW VII, 507–510; SW VIII, 5, 11 f.; Schelling 1812, 118 f. / SW VIII,
85; SW VIII, 342. Beachte auch die Betonung der Bedeutung von Festen und öffent-
lichen Feiern: AA I,1, 199 f.; Schelling 1803a, 32 f., 183 f., 322 f. / SW V, 225, 294, 352;
SW V, 421, 425, 429, 435, 641, 684; Schelling 1809a, 343 / SW VII, 291; Schelling
1812, 115 / SW VIII, 83; SW IX, 11 f., 15 f. – Zu bemerken ist noch, dass auch die
Mysterien in erster Linie Feste sind. Dazu Kerényi 1998, 144–146.
63 Vgl. Jähnig 1969, 194.

64
Sziborsky 1987, 40.

369
5. Kapitel. Politik und Religion

delt es sich um eine natürliche Ungleichheit. 65 Damit stellt sich die


Frage, wie auf eine vernünftige Weise mit dieser Ungleichheit um-
zugehen ist. Schellings Begriff einer Neuen Mythologie ist als Ant-
wort auf diese Frage gedacht. Zum einen ist eine solche erforderlich,
um Nicht-Philosophen ein Leben zu ermöglichen, das eine gewisse
Entsprechung zum vernunftgeleiteten Leben aufweist. Sie soll sie
dazu befähigen, nach der Vernunft zu leben, ohne aus Vernunft zu
handeln. Die Nicht-Philosophen sollen sich in ihrem Handeln an
Vernunftideen orientieren, ohne diese selbst verstehen zu müssen. 66
Deshalb heißt es:
[W]ir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss
im Dienst der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft wer-
den. Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie
für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie ver-
nünftig ist, muss sich der Philosoph ihrer schämen (Systemprogramm,
TWA 1, 236).
In dem Sinne könnte man sie auch eine philosophische Mythologie
nennen. Zum anderen bedarf es einer solchen Mythologie, um die
Philosophen mit dem Volk in eine beide umfassende Einheit auf-
zunehmen. So ermöglicht sie eine organische Einheit in dem Sinne,
dass die Ungleichheit zwar bewahrt bleibt, die natürliche Differenz
jedoch in ein Ganzes integriert ist. 67 Deshalb bedürfen auch die Phi-
losophen der Neuen Mythologie (vgl. Systemprogramm, TWA 1,
235).
Das Bedürfnis nach einer Neuen Mythologie ist somit völlig mit
den Prinzipien der Naturrechts-Deduktion verträglich, indem sie das-
jenige leisten soll, woran das Naturrecht scheiterte. Wenn Schelling
nun auch im »Anhang« von Philosophie und Religion beiläufig auf
das Bedürfnis nach einer Mythologie hinweist, so legt er das Schwer-
gewicht hier allerdings nicht so sehr auf die Mythologie, sondern
vielmehr auf die Mysterien. Die Notwendigkeit, die geistige oder

65 Vgl. Hollerbach 1957, 157, 166.


66 Dadurch bildet die Mythologie das Gegenstück des Instinkts: »Bloß in dem, was sie
[die Tiere, R. S.] thun, ist Vernunft, nicht in ihnen selbst« (SW VI, 462 f.).
67 »So müssen endlich Aufgeklärte [i. e. die Philosophen, R. S.] und Unaufgeklärte

[i. e. das Volk, R. S.] sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden
und das Volk vernünftig […]. Dann herrscht ewige Einheit unter uns«, d. h. unter den
Philosophen und dem Volk (Systemprogramm, TWA 1, 236). Dieses Verhältnis wird
hier von dem Verhältnis zwischen dem Volk und den Priestern unterschieden, das
durch Furcht gekennzeichnet ist.

370
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

ideale Religion in Mysterien einzurichten, ergibt sich aus der Un-


gleichheit zwischen Nicht-Freien, Freien und Philosophen. Daraus
schließt Schelling nämlich, dass »im vollkommensten Staat« die Re-
ligion – und nachdem gezeigt worden ist, dass die Philosophie die
eigentliche Religion ist, heißt dies auch die Philosophie – »nie anders
als esoterisch, oder in Gestalt von Mysterien existiren« kann. 68 Damit
ist Schelling wieder bei der Einrichtung angelangt, von welcher er in
der Einleitung ausgegangen war. Nun ist es nicht so, wie es zunächst
scheinen dürfte, dass die Mysterien exklusiv den Philosophen vor-
behalten und die Freien wie die Nicht-Freien von ihnen ausgeschlos-
sen wären. Vielmehr sind auch letztere ausdrücklich in dieselben ein-
bezogen und werden bei der Einrichtung derselben auch besonders
berücksichtigt. Wenn Schelling auch den Gegensatz der Mysterien
zur »exoterischen Religion« oder zur Volksreligion, die nur mytho-
logisch sein kann, besonders betont, so hebt er doch zugleich hervor,
wie die Teilnahme an jenen allen offenstand. 69 Nur eine solche Ein-
richtung trägt der natürlichen Ungleichheit zwischen Philosophen,
Gelehrten und Volk Rechnung. Sie wirkt auf eine Einheit zwischen
Ungleichen hin, bindet sie in ein Ganzes ein, ohne dass dabei Unglei-
ches gleich, sondern indem vielmehr Ungleiches ungleich behandelt
wird. Die Mysterien sind somit eine Einrichtung, die sowohl der na-
türlichen Ungleichheit der Menschen als auch der Möglichkeit einer
Umkehr Rechnung trägt. Gerade deshalb ist es für den Staat von
solcher Bedeutung, einer solchen Einrichtung Platz einzuräumen. Es
wäre sowohl für den Staat gefährlich als auch der Philosophie und der
Religion abträglich, wenn man der geistigen Religion dadurch eine
wirkliche Objektivität zu geben versuchte, dass man sie öffentlich
machte. 70
Wenn die Rede von den Mysterien zunächst eher – und wohl ab-
sichtlich – mysteriös anmutet, so zerstreut sich diese Aura des Ge-

68
Schelling 1804, 74b / SW VI, 65. Hier kommt Schelling demnach auf die Frage
nach den ›äusseren Formen, unter welchen Religion existirt‹, zu sprechen. Zu beach-
ten ist, dass hier zunächst nur danach gefragt wird, unter welcher Form oder Gestalt
die philosophische Religion existiert und welche Stelle ihr damit innerhalb des Staats
zukommt. Die Frage, unter welcher Form die Volksreligion im Staat existiert, wird
nur am Rande berührt.
69 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

70
Ersteres wird im Anhang herausgestellt (vgl. Schelling 1804, 74b, 80 / SW VI, 65 f.,
70); letzteres war in der Einleitung betont worden (vgl. Schelling 1804, 1 f., 7 / SW VI,
16 f., 20).

371
5. Kapitel. Politik und Religion

heimnisvollen, wenn man beachtet, worauf es Schelling dabei an-


kommt. Aus dem Zusammenhang wird jedenfalls klar, dass Schelling
hier und in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie am histori-
schen Phänomen der Eleusinischen Mysterien interessiert ist, 71 son-
dern sie vielmehr lediglich als ein Modell heranzieht, indem sie auf
etwas aufmerksam machen, dass wegen der Befangenheit in moder-
nen Staatslehren leicht übersehen werden kann. 72 Folgende Elemente
scheinen ihm besonders bedeutsam. Trotz des »geradesten und auf-
fallendsten Gegensatz[es]« zwischen der öffentlichen Religion und
der Mysterien-Lehre war letztere doch für den Staat nicht gefährlich,
da man für eine beiden angemessene Einrichtung gesorgt hatte, die
die Eigenart beider sowie besonders ihrer jeweiligen Adressaten be-
rücksichtigte. 73 So war die Teilnahme an den Mysterien nicht be-
schränkt, »die sich vielmehr auch über die Gränzen von Griechenland
erstreckte«, wie Schelling mit einem Cicero-Zitat belegt. 74 Niemand
war grundsätzlich von der Teilnahme ausgeschlossen. 75 Nur »ihre
Uebertragung ins öffentliche Leben [wurde] als Verbrechen betrach-
tet«. 76 Man hat sich darum bemüht, die Mysterien »in ihrer Geschie-
denheit von allem Oeffentlichen« zu bewahren und zu verhindern,
dass sie in die Öffentlichkeit eingreifen. Dies hängt mit dem folgen-
den Punkt zusammen. 77
Obwohl die Mysterien allen offenstehen, besteht dennoch ein
Schweigegebot. Dies deutet darauf hin, dass dieses Gebot sich nicht
auf Inhalte bezieht, die dort mitgeteilt werden, sondern auf das, was
dort geschieht. Das Schweigegebot gilt nämlich in erster Linie der
Nachahmung dessen, was in den Mysterien geschieht. Die Myste-
rien-Lehre war nicht geheim, weil sie »nur wenigen mitgetheilt«
wurde, sondern weil sie ihrer Natur nach nicht allgemein mitteilbar
ist. 78 Das Schweigegebot bezog sich nicht auf die Mitteilung von be-

71
Anders in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, wenn er sie dort aufgrund
der Absicht derselben auch nur sehr skizzenhaft behandelt (vgl. SW V, 421 f.).
72
Dies hat K. J. H. Windischmann in seinem Brief vom 30. Juni 1804 sehr richtig
bemerkt, wenn er sich auch über die Tendenz von Schellings Aussagen täuscht
(K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90).
73 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

74 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

75 Karl Kerényi drückt dies prägnant aus, indem er von der »Paradoxie der öffent-

lichen Geheimkulte« spricht (Kerényi 1998, 147).


76
Schelling 1804, 74b f. / SW VI, 66.
77 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.

78
Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

372
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

stimmten Inhalten, die man nicht weitererzählen sollte, da dies vo-


raussetzt, dass diese eine Form haben, die ihre allgemeine Mitteilung
möglich macht. 79 Stattdessen bestehen die Mysterien im Wesentli-
chen aus einer Erfahrung. Eine Erfahrung ist ihrer Natur nach nicht
mitteilbar, da man zwar über sie berichten kann, durch den Bericht sie
selbst doch nicht selbst mitteilen oder weitergeben kann. 80 Anderer-
seits ist es doch eine Erfahrung, die jeder machen könnte. Man kann
sie nur an sich selbst erleben und durch sie verwandelt werden. Es
handelt sich um bestimmte symbolische Handlungen oder um »aufs
Unendliche sich beziehende Gebräuche und religiöse Handlungen«,
die am Teilnehmer vollzogen werden und die in ihm eine Verwand-
lung einleiten sollen (SW V, 421). 81 Die Mysterien haben insofern
einen ausgeprägt performativen oder rituellen Charakter. 82 Kenn-
zeichnend für einen Ritus ist, dass er einen anderen und neuen Zu-
stand aus sich selbst hervorbringt, der nur auf diese Weise hervor-
gebracht werden kann. Gleichzeitig wohnt jeder rituellen Handlung
der Charakter einer Wiederholung ein: So ist die Eucharistie die Wie-
derholung des letzten Abendmahls – aber so, dass dieses in seine Wir-
kung erneut aktualisiert und nicht bloß in Erinnerung gerufen wird.
Deshalb dürfte es für Schelling auch so wichtig sein, nachzuweisen,
dass in den Eleusinischen Mysterien ein Mythos inszeniert wird.
Das Geheimnis der Mysterien kann jedenfalls nicht in der Mittei-
lung eines allgemein bekannten Mythos bestanden haben. Schelling
führt den Mythos der Ceres hier nur deshalb an, weil sich aus ihm

79 Vgl. dazu Kerényi 1962, 38: »Die griechische Sprache selbst macht einen Unter-
schied zwischen dem unaussprechlichen Geheimnis: dem arrheton, und dem, was
unter dem Gebot des Schweigens geheimgehalten wurde: dem aporrheton. Der Kreis
der Zugelassenen, sogar derjenigen, die zum wahren Geheimnis, dem Arrheton, zu-
gelassen wurden, konnte ursprünglich die ganze Gemeinschaft, den Stamm oder die
Gemeinde umfassen. Das Arrheton hatte den Grund seiner Unaussprechlichkeit in
sich«. Und Kerényi 1998, 147: »Das Geheimgehaltene im griechischen Kult war si-
cherlich allen, die im Umkreis des betreffenden Kultortes wohnten, bekannt, es war
aber ein Nicht-Auszusprechendes. Ja, es besaß diesen Charakter – den Charakter des
Arreton (ἄρρητον) – unabhängig von der Willkür der Kultteilnehmer. Denn es war
zutiefst […] eben unaussprechlich: ein echtes Geheimnis. Erst nachher machen aus-
drückliche Verbote das Arreton zu Aporreton (ἀπόρρητον)«.
80 Kerényi 1998, 143–151.

81 Vgl. Kerényi 1998, 145: Durch Mysterien wird auch »ein von der Gottheit bewirk-

tes oder erlittenes Geschehen« bezeichnet, »eine rituelle Handlung«, die aber an
Menschen vorgenommen wird.
82 Für das Folgende stütze ich mich auf die Ausführungen über Riten in Vergote 1983,

279–304.

373
5. Kapitel. Politik und Religion

etwas von dem ersehen lässt, was den Teilnehmern an den Mysterien
widerfährt. Man könnte es auch so formulieren, dass in den Myste-
rien der allgemeine Charakter der Dinge, wie er sich in Mythen arti-
kuliert, nun an einem partikulären Fall exemplifiziert angeschaut
wird, insofern der Teilnehmer dasjenige, was der Mythos im Modus
des Erzählens mitteilt, nun am eigenen Leibe erfährt. 83 Gerade durch
die ›Inszenierung‹ oder durch seine Darstellung erhält der Mythos
eine Beziehung auf den Einzelnen. Dieser vermag dadurch im My-
thos den Ausdruck einer allgemeinen Struktur zu erkennen und zu-
gleich sich selbst als ›Fall‹ derselben zu erfahren. Insofern entfaltet
sich erst in den Mysterien das eigentlich symbolische Potential des
Mythos, indem der Teilnehmer diesen jetzt auf sich bezieht und in-
dem ihm dabei aufgeht, wie der Mythos seine eigene Existenz zu
deuten und in ihrem sinnvollen Charakter aufscheinen zu lassen ver-
mag. Damit kommt erst hier die für das Symbol charakteristische
Identität von Allgemeinem und Besonderem zum Zuge. 84 In dieser
Hinsicht bedeuten die Mysterien zugleich eine Befreiung vom oder
wenigstens eine Distanznahme zum mythischen Bewusstsein. Man
sieht leicht, dass Schelling in diesem Mythos eben eine »Anweisung
zu einem seligen Leben« entdeckt. 85 Die Mysterien haben als ein
Ganzes von symbolischen Handlungen eine Dimension, die nicht in
der Mitteilung bestimmter Inhalte aufgeht, und zwar durch die un-
mittelbare Beziehung, die ein Mythos in ihnen auf den Einzelnen
erhält. Von hier aus dürfte auch ein neues Licht auf die Komposition
von Schellings Schrift fallen: Die Mysterien werden, wie gesagt, be-
reits im Haupttext erwähnt. Es wird gezeigt, welcher Mythos in den
Mysterien dargestellt wird, und es wird versucht, in diesem Mythos
einen vernünftigen Inhalt aufzudecken. Die Hauptaufgabe der Schrift
wäre somit erfüllt, wenn es gelänge, zu zeigen, wie diejenigen Inhalte,
die sehr lange nur der Religion zugeteilt wurden, sich für die Phi-
losophie vindizieren lassen. Dies zeigt Schelling im Hauptteil der
Schrift für die Idee Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit. Den

83 Die Unterscheidung der Religion nach ihrer ›dogmatischen‹ Seite (den artikulier-
baren, mitteilbaren Inhalten) und ihrer performativen Dimension (dem Ritus) findet
sich auch in Whitehead 1927, 5 f., 10–13, 112.
84 »Die griechische Mythologie war nicht als solche Religion […]. Religion wurde sie

erst in dem Verhältniß, welches sich der Mensch nun selbst zu den Göttern (dem
Unendlichen) gab in religiösen Handlungen« (SW V, 454).
85
Schelling 1804, 3 / SW VI, 17.

374
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien

Inhalten nach scheint es demnach keinen Unterschied zwischen Phi-


losophie und Religion zu geben. Allerdings ist auch die Philosophie
eine Tätigkeit mit einer performativen Seite: Das Denken eines Ge-
dankens vermag den Denkenden zu verwandeln und ihn in einen
neuen Zustand zu versetzen. Dies mag ein weiterer Grund sein, wes-
halb Schelling auf die intellektuelle Anschauung als auf eine un-
erlässliche Dimension alles philosophischen Denkens insistiert hat.
Schließlich handelt es sich bei den Mysterien auch um ein soziales
Gebilde, eine bestimmte Einrichtung, ein »Institut« oder eine »Ver-
anstaltung«, die, wie gesagt, in erster Linie eine sittliche Wirkung
haben. 86 Es handelt sich um eine den Charakter umwandelnde und
bildende Instanz, die im Zeichen der Selbstvervollkommnung oder
der Erziehung des Einzelnen steht. Dieses Ziel lässt sich nur durch
ein solches Gebilde verfolgen. Deshalb soll der Staat ein solches Ge-
bilde selbst instituieren, gleichzeitig aber auf jede Einflussnahme ver-
zichten, während diese Institution selbst von sich aus »auf die Oef-
fentlichkeit Verzicht« leistet. 87 Nur so wäre die den Mysterien
entsprechende Einrichtung ihrem Zweck gemäß organisiert, nämlich
»auf die innere und sittliche Vereinung aller, die zum Staate gehö-
ren«, hinzuwirken. 88 Dies erfordert insbesondere, dass die in dersel-
ben mitgeteilte Lehre sich an die unterschiedlichen Adressaten an-
passt, da der Staat, wie wir gesehen haben, »nach dem Vorbild des
Universum […] in zwey Sphären oder Klassen von Wesen zerfällt«. 89
Sie hat die natürliche Ungleichheit zu berücksichtigen, ohne sie ein-
zuebnen. Dazu muss sie unterschiedlichen Adressaten Unterschied-
liches zu verstehen gegeben, wenn auch stets in der Absicht, zur sitt-
lichen Vervollkommnung des jeweiligen Typus beizutragen. Ihre
Wirkung wird somit stets die gleiche sein, nämlich auf eine »ruhige
und sittliche Organisation der Seele« hinzuwirken. 90

86 Schelling 1804, 78, 80 / SW VI, 69, 70.


87 Schelling 1804, 74b / SW VI, 65. Deshalb unterscheidet Schelling sie auch von
»geheime[n] Verbindungen von mehr zeitlichen Zwecken« oder von Geheimbünden,
die den Staat zu unterwandern suchen (Schelling 1804, 79 / SW VI, 69) (s. u.)
88
Schelling 1804, 79 / SW VI, 65.
89 Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.

90
Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.

375
5. Kapitel. Politik und Religion

3. Die Anwendung des Modells der Mysterien


auf die Wissenschaft

Da Schelling den Mysterien eine paradigmatische Bedeutung zu-


schreibt, so ist es durchaus möglich, nach Entsprechungen für diesel-
ben zu suchen. In der Tat handelt es sich bei der Differenz von Freien
und Nicht-Freien um einen allgemeinen Unterschied. Wenn wir diese
Differenz bislang auch nur erörtert haben, insofern sie in der Potenz
der Religion zum Tragen kommt, so darf darüber doch nicht über-
sehen werden, dass sie sich in jeder Potenz wiederholt, also auch in
den Potenzen der Wissenschaft und der Kunst. 91 Als die Freien be-
zeichnet Schelling diejenigen, die eine Potenz als solche zur Darstel-
lung bringen, während die Potenz für die Nicht-Freien bloß Grund
ihrer Existenz ist. Jene Unterscheidung stützt sich demnach auf einen
Hauptgedanken aus dem Hauptteil von Philosophie und Religion.
Dort hatte Schelling mit dem Begriff des Abfalls die Unterscheidung
zweier Existenzmodi verknüpft: das nur »für-sich-selbst-Seyn«,
durch welches die Dinge bloß »Werkzeuge der Ideen« sind, und das
an-sich- oder im-Absoluten-Sein. 92 Diese Unterscheidung nimmt
Schelling auf, um sie allerdings in eine Unterscheidung zweier Klas-
sen von Seienden, nämlich der Freien und Nicht-Freien, zu verwan-
deln. Dies ist auch insofern möglich, als im Begriff des Abfalls stets
die Möglichkeit einer Umkehr mit begriffen ist. 93
Es war dieselbe Unterscheidung, die Schelling bereits in den Vor-
lesungen über die Methode des academischen Studium für die Potenz
der Wissenschaft zum Tragen gebracht hatte. In diesen Vorlesungen
fragt Schelling, wie die Akademien als besondere soziale Gebilde ver-
fasst sein müssen, damit sie ihr eigentliches Ziel auch tatsächlich er-
füllen können. Es geht Schelling dabei nicht darum, »von dem Gan-
zen der Wissenschaften ein unabhängiges Bild zu entwerfen«,
sondern er geht vielmehr vom gegenwärtigen Zustand dieser Einrich-
tungen aus. 94 Dieser ist nicht so, dass er die Erreichung jenes eigent-

91 Die Religion ist nach den Würzburger Vorlesungen die zweite Potenz der ideellen
Reihe, die außerdem noch das Wissen und die Kunst einbegreift (vgl. SW VI, 537–
569). Anfangs wird die zweite Potenz allerdings als die des Handelns bezeichnet (so
auch Schelling 1803c, 47 / SW IV, 421), in der Folge aber als die der Religion (vgl.
SW VI, 573, 575).
92
Schelling 1804, 39 f., 41, 57 / SW VI, 41, 42, 52.
93 Vgl. Schelling 1804, 37, 55 f. / SW VI, 40, 51 f.

94
Schelling 1803a, 19 / SW V, 223.

376
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

lichen Ziels sonderlich begünstigt, da diese Einrichtungen in ihrer


gegenwärtigen Verfassung vielmehr darauf ausgerichtet scheinen,
einen Typus von Gelehrten hervorzubringen, dessen Habitus der Er-
arbeitung, Überlieferung und Vermittlung von Wissen zuwiderläuft.
Wenn der Gelehrte auch der Klasse der Freien zuzurechnen ist, so
muss er im gegenwärtigen Zustand der Akademien die in jener Zu-
gehörigkeit enthaltene Bestimmung verfehlen, soweit er sich dem
Bedürfnis nach nützlichem Wissen der Nicht-Freien anzupassen
sucht. Ihm fehlt zudem ein angemessenes Wissen um seine eigent-
liche Aufgabe und Stelle. Aus diesem Grund nimmt Schelling in die-
sen Vorlesungen auch immer wieder Bezug auf die Vorstellung von
ihrer Aufgabe, durch welche die Gelehrten sich leiten lassen, da diese
weitgehend derjenigen Vorstellung zu korrespondieren scheint, die
andere Instanzen an sie herantragen. So erörtert Schelling ausführ-
lich die Frage nach der Nützlichkeit der Wissenschaft, insbesondere
die Frage, ob und inwiefern die Wissenschaft für den Staat schädlich
sein dürfte. Seine Überlegungen laufen auf die Frage hinaus, ob die
Akademien soziale Gebilde sind, die nach eigenen, immanenten Re-
geln eingerichtet werden müssen, oder ob sie in Übereinstimmung
mit den Anforderungen des Staates und nach dem Modell des Staates
einzurichten sind. Schelling führt zwei Argumente an. Das erste Ar-
gument geht von der Voraussetzung aus, dass »der Staat […] in den
Academieen wirklich wissenschaftliche Anstalten sehen [wolle]«. 95
Zwar wäre der Staat »unstreitig befugt, die Academieen ganz auf-
zuheben oder in Industrie- und andere Schulen von ähnlichen Zwe-
cken umzuwandeln«. 96 Jener Wille ist somit nicht selbstverständlich
und ergibt sich nicht von selbst aus der Natur des Staates. Diesen
Willen aber vorausgesetzt, würde sich ein widersprüchlicher Wille
ergeben, wenn der Staat die Akademien zugleich nach bestimmten
ihnen vorgeschriebenen Zwecken einrichten wollte. In einem Zusatz
in seinem Handexemplar bietet Schelling noch ein zweites, stärkeres
Argument auf, da er dabei von jener Voraussetzung keinen Gebrauch
macht (SW V, 229). Hier argumentiert er dafür, dass jener Wille, der
im ersten Argument bloß vorausgesetzt wurde, sich zwangsläufig aus
den Zwecken des Staates ergeben muss: Wenn die Akademien auch
nur Einrichtungen sind, deren hauptsächliches Ziel darin besteht, zu-
verlässige Staatsdiener und Beamte hervorzubringen, dann kann die-

95 Schelling 1803a, 40 / SW V, 229; Herv. v. Verf.


96
Schelling 1803a, 40 f. / SW V, 229.

377
5. Kapitel. Politik und Religion

ses Ziel nur dadurch erreicht werden, dass diese wissenschaftlich aus-
gebildet werden.
Die von Schelling für die Beantwortung dieser Problematik ge-
wählte Vorgehensweise verdient besondere Beachtung. Er fängt damit
an, zu fragen, ob die Philosophie für Staat und Religion schädlich ist
oder nicht. Zur Beantwortung dieser Frage führt er zwei Argumente
an, die die Nützlichkeit der Philosophie für den Staat dadurch dartun,
dass der Staat für sein Gedeihen auf die Wissenschaften angewiesen
ist. Die Behauptung scheint demnach dahin zu gehen, dass die Gelehr-
ten selbst für ein adäquates Verständnis ihres Tuns auf die Philosophie
angewiesen sind. Die Wissenschaft wird erst dann für den Staat
schädlich, wenn sie popularisiert wird oder wenn sie sich durch ein
Nützlichkeitsdenken vereinnahmen lässt. Eine solche popularisierte
Wissenschaft aber ist nicht mehr im eigentlichen Sinne Wissenschaft.
Erst der Philosoph ist imstande, das eigentliche Ziel der Akademien,
die Hervorbringung von Wissenschaft, die Orientierung an der
Wahrheit, zu verstehen und die diesem Ziel entsprechende und för-
derliche Organisationsform zu entwerfen. Die paradoxe Lösung lau-
tet, dass die Wissenschaften nur dann heilsame öffentliche Wirkun-
gen entfalten, wenn diese nicht direkt angestrebt werden und ihnen
erlaubt wird, sich ausschließlich nach ihren immanenten Anforde-
rungen zu entfalten. 97 Der Philosoph tritt hier somit als Gesetzgeber
auf, der einen Entwurf zu einer ihren immanenten Zielen entspre-
chende Organisationsform der Wissenschaft vorlegt. Die Philosophie
ist allerdings bereits insofern gewinnbringend, als sie die Gelehrten
zu einem angemessenen Verständnis ihres Tuns hinleitet.
Schelling widmet dieser Frage eine eigene Erörterung. 98 Er gibt

97 Ganz analog heißt es in Philosophie und Religion, dass die Religion »auf die Oef-
fentlichkeit Verzicht« leiste (Schelling 1804, 74b / SW VI, 65), und vom Staat wird
erwartet, dass er seinerseits darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu nehmen (Schelling
1804, 78 f. / SW VI, 69). In allen diesen Fällen wird nach den »äusseren Formen«
gefragt, »unter welchen« Wissenschaft, Religion, Kunst »existir[en]« (Schelling 1804,
73b / SW VI, 65) oder nach den institutionellen Bedingungen, die ihrem Wesen ent-
sprechen. Auch bei der Verfassung der Münchner Akademie der Bildenden Künste
verfährt Schelling ganz analog, da diese so eingerichtet werden soll, dass »dem Schü-
ler ›die Freiheit‹« gelassen wird, »›sein besonders Talent, und die Eigenheiten seiner
Ansicht der Gegenstände, so wie die Art, sie nachzuahmen‹ […] entfalten und zeigen
zu können« (Sziborsky 2006, 431). Es ist daher leicht irreführend, wenn Sziborsky
sich in ihren sonst so hellsichtigen Analysen zu der Bemerkung verleiten lässt, dass
»die Kunst in den Dienst des Staates gestellt wird« (Sziborsky 1987, 52).
98
Vgl. Schelling 1803a, 103–118 / SW V, 257–265.

378
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

sogleich zu verstehen, dass die Philosophie der Religion und dem


Staat sehr wohl gefährlich sein kann, nämlich dann, wenn der Staat
bereits korrumpiert ist oder wenn es nur eine »vorgebliche[…] Reli-
gion« gibt. 99 Es gibt also Fälle, in denen die Philosophie durchaus
gefährlich ist. Der Grund der Gefährlichkeit ist in diesem Fall indes-
sen in der Religion oder im Staat, nicht in der Philosophie zu suchen.
In Klammern bemerkt Schelling noch, dass »es allerdings Verfassun-
gen oder Zustände derselben [sc. der Rechtsgrundsätze, R. S.] geben
könnte, denen die Philosophie zwar nicht gefährlich, aber eben auch
nicht günstig seyn kann«. 100 Er belässt es an dieser Stelle bei diesem
Wink. Stattdessen geht er anders an die Frage heran: Die Philosophie
kann nämlich auch dann gefährlich sein, wenn das, was für Philoso-
phie gilt, es nicht wahrhaft ist. Dann kann sie für den Staat entweder
»verderblich« oder »untergrabend« sein. 101 (1.) Die Philosophie kann
gerade dann für den Staat ›verderblich‹ werden, wenn das Wissen zur
Meinung wird oder die Gestalt eines »durch falsche und oberfläch-
liche Kultur zum hohlen und leeren Räsonniren gebildeten Verstan-
d[es]« annimmt, »der sich für absolut gebildet hält«. 102 Das Wissen
wird dann verderblich, wenn es selbst bereits verdorben ist. Zudem
kann der Staat diesen Zustand noch sanktionieren und unterstützen.
Schelling erläutert diese Behauptung am Beispiel der französischen
Revolution, die er darauf zurückführt, dass es in Frankreich »in kei-
ner Epoche, am wenigsten in derjenigen, welche der Revolution vo-
ranging, Philosophen« gegeben habe. 103 Das Fehlen von Philosophen
hat zuerst die Wissenschaften verdorben und nachher auch die Stabi-
lität des Staats untergraben: »Die Erhebung des gemeinen Verstandes

99 Schelling 1803a, 103 / SW V, 257.


100 Schelling 1803a, 105 / SW V, 258.
101 Schelling 1803a, 104 / SW V, 258.

102
Schelling 1803a, 105 / SW V, 258.
103 Schelling 1803a, 106 / SW V, 258. Schelling fügt hinzu: »einige wenige Individuen

früherer Zeiten ausgenommen, (denen man aber gewiß keinen Einfluß auf die politi-
schen Begebenheiten der späteren zuschreiben wird)« (Schelling 1803a, 105 f. / SW V,
258). Möglich, dass Schelling dabei an Rousseau denkt, da er in der Fragestellung
sowohl an dieser Stelle wie auch in den ganzen Vorlesungen immer wieder an dessen
ersten Discours anknüpft. Von den sogenannten philosophes behauptet Schelling,
dass diese »den Namen der Philosophen usurpirt haben« (Schelling 1803a, 106 /
SW V 259). Rousseaus Kritik an les philosophes ist bekannt. Den Grund der franzö-
sischen Revolution sucht Schelling somit im Fehlen von Philosophen: Dadurch war
dem gemeinen Verstand – der desto gefährlicher ist, je mehr er sich für gebildet hält –
die Möglichkeit gegeben, sich des Staates zu bemächtigen (vgl. Jäger 1939, 60).

379
5. Kapitel. Politik und Religion

zum Schiedsrichter in Sachen der Vernunft, führt ganz nothwendig


die Ochlokratie im Reiche der Wissenschaften und mit dieser früher
oder später die allgemeine Erhebung des Pöbels herbey«. 104 Es gibt
also einen Zustand der Wissenschaft, der auch für den Staat ver-
derbliche Folgen hat, und dies desto mehr, wenn dieser jenen auch
noch begünstigt oder sanktioniert. (2.) Die Frage, unter welchen Be-
dingungen die Philosophie bzw. die Wissenschaft für den Staat
›untergrabend‹ wird, beantwortet Schelling nicht direkt, sondern er
verweist stattdessen auf die ausschließliche Ausrichtung auf das
Nützliche als eine Denkungsart, die für den Staat untergrabend ist.
Eine solche Ausrichtung kann niemals auf etwas Dauerhaftes zufüh-
ren, da die Bestimmung dessen, was als nützlich zu erachten ist, sehr
wechselhaft ist. Schwerwiegender ist, dass diese Denkungsart »alles
Große« und Außer-Gewöhnliche erstickt und stattdessen einen Kon-
formismus begünstigt, der auch dem Staat abträglich ist. 105 In einem
Zusatz im Handexemplar fügt Schelling dem noch hinzu, dass das
Nützlichkeitsdenken das »innere Band« untergräbt und dafür sorgt,
dass »Eigennutz noch das einzige Band« ist, »das den Staat selbst zu-
sammenhält« (SW V, 260).
Wenn wir diese Beobachtungen nun wieder mit der Ausgangsfra-
ge nach der untergrabenden Rolle von Wissenschaft und Philosophie
verbinden, dann zeigt sich, dass die Philosophie insofern für den Staat
›untergrabend‹ ist, als sie solche den Staat untergrabenden Tendenzen
ihrerseits untergräbt. Die Frage nach der Verderblichkeit der Philoso-
phie für den Staat beantwortet Schelling so, dass er zeigt, wie das
Fehlen einer wahrhaften Philosophie zunächst für die Wissenschaft
und dadurch letztlich auch für den Staat verderblich ist. Die Gelehr-
ten sind anscheinend selbst anfällig für jenes Nützlichkeitsdenken,
durch welches sie sich von der Philosophie zu emanzipieren suchen.
Nur die Philosophie kann diesem für die Wissenschaft selbst ver-
derblichen Nützlichkeitsdenken entgegenwirken, um dadurch dem
»Pöbel« »Einhalt zu thun«. 106 Nur die Philosophie vermag den Staat
auf dauerhaftere Ziele auszurichten, um die Entfaltung eines ›inneren
Bandes‹ zu begünstigen und ein Gegengewicht gegen den schleichen-
den, den Staat untergrabenden Konformismus zu bilden. Diese Frage

104 Schelling 1803a, 107 / SW V, 259; vgl. auch Schelling 1809b, 105, 115 / SW VII,
521, 533 f.
105 Schelling 1803a, 108 / SW V, 259.

106
Schelling 1803a, 110 / SW V, 261.

380
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

nach der Größe, die im Grunde keine andere ist als die nach den Be-
dingungen, unter welchen Persönlichkeit gedeiht, ist ein beständiges
Thema dieser Vorlesungen. 107 Sie artikuliert sich als die Frage nach
dem sittlichen oder bildenden Einfluss der Wissenschaft: 108
Die Bildung zum vernunftmäßigen Denken, worunter ich freylich keine
bloß oberflächliche Angewöhnung, sondern eine in das Wesen des Men-
schen selbst übergehende Bildung, die allein auch die ächtwissenschaft-
liche ist, verstehe, ist auch die einzige zum vernunftmäßigen Han-
deln […]. 109
Die »Academieen« sollen »zugleich allgemeine Bildungsanstalten«
sein. 110 Damit sie auch eine sittliche Wirkung haben und einen Bei-
trag zur Bildung der Persönlichkeit liefern können, müssen sie auf
eine bestimmte Art eingerichtet sein. Schelling macht hier eine
grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Akademie als zwei
wesentlich verschiedenen Verfassungen oder Formen des sozialen Le-
bens; in beiden herrscht ein anderes Ethos oder eine eigene Form des
πολιτεύειν. Für die Wissenschaft wäre es verhängnisvoll, wenn man
die Form des sozialen Lebens des Staates auf die Akademien übertra-
gen und diese nach dem Modell des Staates einrichten würde, oder
wenn man auch nur zulassen würde, dass der Staat auf die Akademien
Einfluss nehme:
Der Staat hat zur Erreichung seiner Absichten Trennungen nöthig, nicht
die in der Ungleichheit der Stände bestehende, sondern die weit mehr
innerliche, durch das Isoliren und Entgegensetzen des einzelnen Talents,
die Unterdrückung so vieler Individualitäten, die Richtung der Kräfte
nach so ganz verschiedenen Seiten, um sie zu desto tauglicheren Instru-
menten für ihn selbst zu machen. 111
Ein ›wissenschaftlicher Verein‹ muss sein eigentliches Ziel, nämlich
Wissenschaft, verfehlen, wenn er nach dem Muster des Staates einge-
richtet wird. Er bedarf zur Erreichung seines Zwecks einer anderen
Verfassung: »In einem wissenschaftlichen Verein haben alle Mitglie-

107 Vgl. Schelling 1803a, 132 f. / SW V, 271 f.; Schelling 1809b, 98 f. / SW VII, 513.
108 Karl Albert hat völlig zu Recht die Hauptabsicht dieser Vorlesungen darin gese-
hen, »den Bildungssinn des wissenschaftlichen Studiums«, d. h. die Bedeutung der
Wissenschaft für die Bildung der Persönlichkeit ans Licht zu heben (Albert 1984, 63;
vgl. auch Albert 1984, 65, 68).
109
Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237.
110 Schelling 1803a, 51 / SW V, 235.

111
Schelling 1803a, 53 / SW V, 236.

381
5. Kapitel. Politik und Religion

der der Natur der Sache nach Einen Zweck: es soll auf Academieen
nichts gelten, als die Wissenschaft, und kein anderer Unterschied
seyn, als welchen das Talent und die Bildung macht«. 112 Damit soll
nicht gesagt sein, dass es in diesem sozialen Gebilde keine Unter-
schiede gibt. Nur soll es bloß natürliche Unterschiede sanktionieren.
Künstlich hervorgebrachte Unterschiede, wie sie für die Aufrecht-
erhaltung der staatlichen Ordnung erforderlich sind, damit alle einem
äußeren Zweck untergeordnet werden können, sollen in einer Aka-
demie keine Gültigkeit haben. Deshalb heißt es auch: »Das Reich der
Wissenschaften ist keine Demokratie, noch weniger Ochlokratie, son-
dern Aristrokratie im edelsten Sinne. Die Besten sollen herrschen«. 113
Die Wissenschaft verlangt nach solchen Institutionen, deren einzige
Aufgabe darin besteht, Wissen zu überliefern, es zu lehren und mit-
zuteilen, und dazu zu erziehen, an dieser Aufgabe teilzunehmen, da
sie »Sache der Gattung« ist. 114 Dieses Ziel (Wissenschaft) kann dem-
nach nicht durch Einzelne erreicht werden, sondern bedarf eigener
sozialer Gebilde, die ausschließlich auf dieses Ziel ausgerichtet sind. 115

112
Schelling 1803a, 53 / SW V, 236.
113 Schelling 1803a, 55 / SW V, 237; Herv. v. Verf. Die Verwendung von ›sollen‹ in
diesem Satz dürfte darauf hinweisen, dass Schelling an dieser Stelle eine Konstruk-
tion von Pflichten durchführt. Damit wäre hier ein Beispiel der Moral als »spekulati-
ve[r] Wissenschaft« gegeben, die »so wenig als Philosophie ohne Construction gedacht
werden« kann: »Die Construction dieser sittlichen Organisation ist eine ganz gleiche
Aufgabe mit der der Construction der Natur, und ruht auf spekulativen Ideen«. Wenn
Schelling auch bemerkt, dass »eine Sittenlehre in diesem Sinne noch nicht existirt«, so
hat er doch an der oben behandelten Stelle sowie an mehreren anderen in diesen Vor-
lesungen Beispiele einer solchen gegeben (Schelling 1803a, 146 f. / SW V, 276).
114 Schelling 1803a, 31 / SW V, 224.

115 Vgl. Schelling 1803a, 46–58 / SW V, 233–238; Schelling 1804, 64–68 / SW VI,

57–59. – In diesen Vorlesungen beschränkt Schelling sich auf den beispielhaften Fall
der Erziehung zum Wissenschaftler oder Gelehrten. Erziehung ist jedoch allgemein
Bildung des Charakters oder der Persönlichkeit, die in der Übereinstimmung von
Wissen und Handeln zum Ausdruck kommt. Nun ist es weder möglich noch wün-
schenswert, dass jeder zum Gelehrten erzogen wird. Auch Nicht-Gelehrte müssen
indessen zur Persönlichkeit erzogen werden können. Diese Frage rückt Schelling in
der Niethammer-Rezension in den Vordergrund. Wenn Rie Shibuya auch das Ver-
dienst zukommt, wieder auf diese Schrift aufmerksam gemacht zu haben, so geht sie
m. E. zu weit, wenn sie in dem Begriff der Persönlichkeit die entscheidende Neuerung
derselben zu finden meint (vgl. Shibuya 2003; Shibuya 2005, 143–155). Der Gedanke
einer Einheit von Wissenschaft und Bildung, d. h. von Vernunft und Persönlichkeit,
ist nicht lediglich in den Vorlesungen zum akademischen Studium bereits präsent,
sondern er bildet die Grundlage dessen, was Schelling dort insbesondere über die
Bestimmung des Gelehrten behauptet, auch dann, wenn der Ausdruck ›Persönlich-

382
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft

Wie wir gesehen haben, wird im modernen bzw. in einem nach


dem Prinzip des Naturrechts eingerichteten Staat der Zusammen-
hang zwischen öffentlichem und privatem Leben aufgehoben. Gerade
wegen dieser Trennung können im Staat keine Ideen mehr zum Aus-
druck kommen, sondern der Staat vermag nur noch mechanisch zu
funktionieren. Dennoch erwägt Schelling in den Vorlesungen eine
»wissenschaftliche« oder eine »aus Ideen geführte Construction des
Staats«. 116 Wenn Schelling eine solche Konstruktion auch nicht mit
aller vielleicht wünschenswerten Ausführlichkeit durchgeführt hat,
so hat er dennoch deutlich genug angedeutet, wie eine solche aus-
zusehen hätte. Wenn er z. B. am Ende der Würzburger Vorlesungen
abschließend auf den Staat zu sprechen kommt, dann ist dies kein
bloßer Zusatz noch geschieht es in der verzweifelten Absicht, eine
Instanz anzugeben, die das System abzuschließen und zu vollenden
vermöchte. Dazu gilt es zu beachten, dass Schelling im Vorhergehen-
den Wissenschaft, Religion und Kunst als die Potenzen der idealen
Reihe konstruiert hat und dabei ganz parallel zum Vorgehen inner-
halb des naturphilosophischen Teils verfährt. 117 Dort war nach der
Konstruktion der Potenzen der realen Reihe noch das Potenzlose kon-
struiert worden, das alle Potenzen umfasst, selbst aber keiner zu-

keit‹ sich dort nicht findet (vgl. Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237 f.). So auch Albert
1984, 63, 68; Sziborsky 1987, 37. Das Ziel der von Schelling vorgeschlagenen Reform
besteht nämlich gerade darin, die Akademien so einzurichten, dass sie nicht mehr, wie
bisher, bloße Gelehrte, sondern Wissenschaftler, die zugleich Persönlichkeiten sind,
hervorbringen. Das gegenwärtige und das entworfene zukünftige Erziehungssystem
unterscheiden sich durch den Typus Mensch, den sie hervorbringen. Rie Shibuya
bemerkt zwar zu Recht, dass die Umwandlung von Niethammers Humanitätsbegriff
in den Begriff der Persönlichkeit »den Leitfaden der Rezension [bildet]« und die Aus-
einandersetzung mit Fichte weiterführt, dessen Gegensatz von Ich und Nicht-Ich kei-
nen zureichenden Begriff von Persönlichkeit gestattet (vgl. Schelling 1806a, 144 f. /
SW VII, 112 f.; Schelling 1809b, 101 f. / SW VII, 517; Schelling 1809a, 448, 471 f. /
SW VII, 371, 388 f.). Das ihre Auslegung leitende Interpretament der ›Selbstbildung‹
blendet indessen weitgehend die Bedeutung der Erziehung für die Bildung von Per-
sönlichkeit und damit den politischen Zusammenhang von Fragen der Erziehung aus.
Schließlich ist fraglich, ob mit dem Persönlichkeitsbegriff nicht mehr gemeint sei, als
dass der Mensch »ein Gebilde aus unzähligen Facetten, eine Aufeinanderfolge seiner
individuellen Entwicklungsstufen« ist (Shibuya 2005, 19, 118 f., 145, 148, 150, 152 f.).
Vgl. dazu: Schelling 1809b, 99 / SW VII, 514.
116 Schelling 1803a, 227, 232 / SW V, 313, 315.

117 Bei der Erläuterung des § 325 verweist er ausdrücklich auf die realen Potenzen der

Schwere, des Lichts und des Organismus sowie auf den Weltbau als die Objektivie-
rung des Potenzlosen, das »alle jene Potenzen trägt und in sich begreift« (SW VI, 575;
vgl. SW VI, 471–492).

383
5. Kapitel. Politik und Religion

gehört. Genau so stellt sich nach der Konstruktion der idealen Poten-
zen die Frage nach dem Potenzlosen, das jene umfasst und die Poten-
zen »in ihrer Einheit« und d. h. als ›Teile‹ eines Ganzen, das gleich-
zeitig in diesen Teilen präsent ist, »objektiv werden« lässt (SW VI,
575 (§ 325)). Zwar ist aufgrund des Konstruktionsprinzips allein
schon klar, dass die Potenzen, eben als diese, auch das Ganze in sich
zum Ausdruck bringen und demnach keine bloßen ›Teile‹ eines Gan-
zen sind, da dieses selbst nicht wäre, was es ist, ohne diese ›Teile‹.
Damit ist indessen noch nicht gezeigt, ob, inwiefern und unter wel-
chen Bedingungen die Einheit selbst der Potenzen eine objektive Ge-
stalt gewinnt – oder ob sie vielmehr nur von demjenigen, der die
Konstruktion vornimmt, eingesehen werden kann. Als Darstellung
der (ideellen) Potenzen in ihrer Einheit denkt Schelling den Staat.
Ein Organismus ist dieser nur insofern, als er die Potenzen der ideel-
len Reihe enthält. Wenn nur die Potenzen der ideellen Reihe dazu
beitragen, dass der Staat als ein Organismus sich entfaltet, dann ist
der Staat der eigentliche Gegenstand der ganzen Konstruktion der
ideellen Reihe (vgl. SW VI, 495–576), wenn dies auch erst ganz am
Schluss expliziert wird (vgl. SW VI, 575 f.).
Wissenschaft, Religion und Kunst sind nämlich die »Form des öf-
fentlichen Lebens«. 118 In diesen Potenzen ist eine »harmonische Zu-
sammenstimmung« der Individuen möglich. 119 Man könnte sagen,
dass die Potenz der Wissenschaft einen Bereich bezeichnet, in dem
eine »praktisch-politische Kommunikation über die Endzwecke und
das normative Menschenbild der betreffenden Gesellschaft« statt-
findet, wo »Geltungsansprüche auf intersubjektiver Ebene der allge-
meinen Überprüfung unter Bedingungen nicht behinderter Argu-
mentation auch zugänglich gemacht werden« und wo »idealisierte
Gesprächssituationen ohne von außen eingeführte Gewalt« stattfin-
den können. 120 Hieraus erklärt sich, weshalb Schelling den Topos der
Gelehrtenrepublik wieder aufnehmen kann. Diese kennt nur ein ›Ge-
setz‹, nämlich dass bei der Überprüfung von Aussagen durchgängig

118 Schelling 1803a, 228 / SW V, 313.


119 Vgl. Jähnig 1969, 198.
120 Frank 1982, 165 f. Es scheint mir allerdings zweifelhaft, ob sich dies, wie Frank tut,

besonders mit der Mythologie in Verbindung bringen lässt, da auch diese in diesem
Bereich der Überprüfung unterworfen wird. Ferner übersieht er, dass nach Schelling
eine solche Gesprächssituation nur in einem abgeschirmten Bereich stattfinden kann
und es einer besonderen Qualifizierung bedarf, um an ihr teilnehmen zu dürfen. Eben
darauf zielt die Rede von ›Mysterien‹.

384
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

vom Subjektivem abstrahiert wird. Dabei werden nur die Ergebnisse


berücksichtigt, während die Weise, wie der Einzelne zu diesen gelangt
ist, für die Beurteilung der Gültigkeit derselben ohne Bedeutung
bleibt. Solche ›idealen Gesprächssituationen‹ setzen allerdings vo-
raus, dass weder der Staat noch auch die innerhalb dieser Gelehr-
tenrepublik tätigen einzelnen Individuen direkten Einfluss auf die
Ergebnisse nehmen. Eine solche ›ideale Gesprächssituation‹ hatte
Schelling übrigens im Bruno vor Augen geführt. Die Vehemenz der
schellingschen Polemik gegen Fichte und Jacobi erklärt sich teilweise
daraus, dass diese in ihrer Polemik gegen die Naturphilosophie das
(stillschweigende) Gesetz der Gelehrtenrepublik verletzt und zu Mit-
teln gegriffen hatten, die jeder, der in jene eintritt, sich versagt und
versagen soll: Sie haben ihre Kritik nicht gegen Schellings Behaup-
tungen, sondern gegen seine Person gerichtet. Deshalb rügt er vor
allem die Weise, wie sie ihre eigenen Behauptungen geltend zu ma-
chen suchen. 121 Ein solches Vorgehen führt die Gepflogenheiten des
Staates, wo nur das Sich-Durchsetzen gilt, im Bereich der Gelehrten-
republik ein, wo doch nur die Kraft der Beweise, nicht die Autorität
der Person ausschlaggebend sein soll. In der Gelehrtenrepublik ist das
sonst im Staat geltende ›Gesetz‹ (die Macht des Stärksten) außer
Kraft gesetzt.

4. Exkurs zur Politischen Philosophie


als politischem Handeln

Bei einem Denker, der erklärt, dass »nur Ideen […] dem Handeln
Nachdruck und sittliche Bedeutung« geben und dass »alles sittliche
Handeln […] nur als Ausdruck von Ideen« ist, hat man Anlass zu
fragen, ob er damit nur eine theoretische Behauptung aufgestellt hat,
die lediglich darauf zu prüfen wäre, ob sie ihren Gegenstand trifft,
oder ob diese Erklärung uns auch über Schellings Handeln Aufschluss
zu geben vermag. 122 Es ist somit zu untersuchen, ob Schellings Phi-
losophie nur insofern politisch ist, als sie die politischen Dingen, we-
nigstens gelegentlich, zu ihrem Gegenstand macht, oder ob sie Schel-
ling nicht auch als Leitfaden dient, um in die politische Realität

121
Vgl. Schelling 1806a, 41 f., 157 / SW VII, 47, 120 f.; Schelling 1812, 19 f., 31 f.,
120 f. / SW VIII, 31, 36, 86.
122
Schelling 1803a, 147 f., 107 / SW V, 277, 259.

385
5. Kapitel. Politik und Religion

einzugreifen. 123 Man hat die Bezeichnung Schellings als eines ›un-
politischen Denkers‹ dadurch bestätigt gesehen, dass er auch in seinen
Briefen sich nur selten zu den politischen Ereignissen der Zeit, ins-
besondere den Napoleonischen Kriegen geäußert hat. 124 Über die Fi-
xierung auf große Ereignisse hat man übersehen, dass der Briefwech-
sel dieser Zeit immer wieder um politische Themen kreist und
zugleich ein deutliches Zeugnis von Schellings politischen Bemühun-
gen ablegt. Diese waren in erster Linie darauf gerichtet, dazu bei-
zutragen, die für die Philosophie und für die Wissenschaft unter den
gegebenen Umständen möglichst förderlichsten Bedingungen herbei-
zuführen. Es ist denn auch kaum zufällig, dass Schelling vor allem im
Bereich der Universität politisch handelte. 125 In der Tat schien die
Lage in Würzburg, wohin Schelling im Oktober 1803 übergesiedelt
war, für solche Bemühungen zunächst nicht ungünstig. 126 Seine Be-
rufung dorthin hing damit zusammen, dass die Universität der Be-
fugnis des Bischofs von Würzburg entzogen worden war. Dies ge-

123 Dazu Hofmann 1999, 42, 89 f.; Schraven 1998, 190. Auch Wilhelm G. Jacobs
scheint zwei Bedeutungen von politischer Philosophie zu unterscheiden, zum einen,
insofern sie »zu ihrem Gegenstand die Politik hat«, zum anderen, insofern ihre »In-
tention politisch ist« (Jacobs 1981, 289.) Allerdings dürfte es noch einen Unterschied
machen, ob ›die Politik‹ lediglich als ein Gebiet unter anderen Gebieten zu denken ist,
das, wie diese auch, zum Gegenstand der Philosophie gemacht werden kann, oder ob
die Frage nach den politischen Dingen an die Frage nach dem richtigen Leben gebun-
den bleibt. Beschränkt man den politischen Charakter einer Philosophie auf die ›poli-
tische Intention‹, dann scheint allerdings die Frage berechtigt, »was an dieser so ver-
standenen politischen Philosophie eigentlich philosophisch [ist]?«: »Die politischen
Intentionen, die Schelling mit seiner Philosophie verfolgt, scheinen [dann] selbst kei-
ne philosophische Qualität zu haben«. Dann klaffen eine »politische Funktionalisie-
rung der Philosophie« und eine für sich betrachtet apolitische Philosophie erneut aus-
einander (Wild 1981, 315).
124 Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Vgl. Schellings Bezugnahmen auf politische

Ereignisse und die Briefe Carolines, aus welchen zudem hervorgeht, dass Schelling
sich wenigstens im Gespräch dazu äußerte, vgl. Jäger 1939, 13–39, insbes. 22–24.
Auch die Tagebücher von 1809 belegen ein deutliches Interesse an solchen Ereignissen
(vgl. Tagebücher 1809–1813, 6, 8, 12, 13, 16, 17, 19 u. ö.). Dazu Knatz 1993.
125 Diese Tätigkeit führte er auch in München weiter, am deutlichsten wohl dadurch,

dass er die Verfassung der Akademie der Bildenden Künste konzipierte. Dazu Szibor-
sky 2006; Jacobs 2002. Die Verfassung ist abgedruckt in Pareyson 1977, 311–327.
Siehe ferner SW VII 553–568. Siehe auch Rall 1953/54.
126 Einen knappen Überblick über Schellings Aufenthalt in Würzburg bieten Plitt II,

1–5; Fuhrmans, Briefe I, 287–301. Über Schellings Lehrtätigkeit in Würzburg, vgl.


Fischer 1902, 102–105; Tilliette 1999, 117–132. Über die Universität Würzburg, vgl.
Schwab 1869.

386
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

schah im Rahmen der vom König, von den Ministern (bes. Mont-
gelas) und den Beamten beschlossenen und vorangetriebenen Säku-
larisation. Hier wurde die Aufklärung zum politischen Programm. 127
Damit schien sich für die Wissenschaft zunächst eine günstige Ge-
legenheit darzubieten, sich an diesem Ort nur nach den eigenen Ge-
setzlichkeiten und Anforderungen zu entfalten. In dieser Absicht ver-
suchte Schelling denn auch, geeignete Wissenschaftler, besonders
Mediziner, an die Universität berufen zu lassen. 128 Alsbald zeigte sich
allerdings, dass Unterricht und Forschung, nachdem sie der religiösen
Aufsicht entzogen waren, jetzt der staatlichen Kontrolle unterstellt
zu werden drohten. Diese Gefahr scheint Schelling auch deutlich
gesehen zu haben. Allmählich hatte sich eine Lage gebildet, in wel-
cher unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen versuchten, sich des
Staats für die Durchsetzung ihrer Weltanschauung zu bedienen. 129
Schelling versucht mehrmals, die Regierung auf diese Gefahr auf-
merksam zu machen: Die Wissenschaft kann nur dann für den Staat
heilsam sein, wenn dieser darauf verzichtet, über sie Kontrolle aus-
zuüben. Schelling wittert die Gefahr, »dass die Geistlichkeit das Ver-

127 Über Montgelas vgl. Junkelmann 1985, 49 f.: »Sein Ideal war der nach rationalen
Gesichtspunkten straff durchorganisierte, zentralistisch geleitete Verwaltungsstaat,
der den Untertanen ihre passiven Bürgerrechte und ihre wirtschaftliche Entfaltungs-
möglichkeit garantierte, sie aber daran hinderte, durch unerwünschte politische Eigen-
initiative oder gar Opposition Unruhe zu stiften. Das war nichts anderes als aufgeklär-
ter Despotismus in vollendeter Form«. Die Motive sucht er teils in den aufklärerischen
Auffassungen der Staatsmänner, teils in der Aussicht, Gelder in die Staatskasse flie-
ßen zu lassen. Zur Säkularisation vgl. Junkemann, 181–187. Für eine umfassende
Darstellung von Montgelas’ Rolle in der Säkularisation vgl. jetzt Weis 2005, 149–229.
128 Vgl. den Überblick über Schellings Würzburger Zeit in Fuhrmans, Briefe I, 287 f.

129 Vgl. Schellings Brief an K. J. H. Windischmann vom 24. Oktober 1804, mit wel-

chem er diesem die Veröffentlichung eines Pamphlets mit dem Titel Darstellung der
Secte, welche in Bayern der Philosophie entgegen arbeitet ankündigt, worauf er dann
– wohl aus politischer Vorsicht – letztlich verzichtete (F. W. J. Schelling an K. J. H.
Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans, Briefe III, 131). Wenig später sah
Schelling sich doch zu öffentlichen Reaktionen genötigt. Siehe die Erklärung von
Ende März 1805 An das Publicum (Pareyson 1977, 218–225), die anonym veröffent-
lichten Nachrichten über das Studiumwesen in Franken und die Proceduren zur Ein-
führung desselben (Pareyson 1977, 251–253) und Über die neuesten obscurantischen
Verfügungen der Regierung in Würzburg (Pareyson 1977, 274–279), schließlich die
Auseinandersetzung, die sich um den Schulplan für die bayerischen Gymnasien ent-
spann: Fuhrmans, Briefe I, 299; F. W. J. Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September
1804, Fuhrmans, Briefe III, 118–123, 155 f.; F. K. v. Thürheim an F. W. J. Schelling,
7. November 1804, Fuhrmans, Briefe, 134 f. Der Schulplan ist abgedruckt in Plitt II,
32 f. Vgl. auch Schelling 1805b, 81 f. / SW VII, 193 f.

387
5. Kapitel. Politik und Religion

fahren eines Regenten in seinem Staat umzustossen oder zu verhin-


dern hoffen dürfte, und sich eine Regierung in der Regierung an-
masste«. 130 Wir haben bereits gesehen, wie er diese Gefahr auf den
Nenner der Ochlokratie bringt. 131 Dieser Begriff dürfte somit einen
Schlüssel für das Verständnis der politischen Philosophie Schellings
sein, jedenfalls der Richtung seines politischen Handelns. So heißt es
in einem 1805 veröffentlichten pamphletartigen Zeitungsartikel:
Gebt auf ihre sonstigen und beyläufigen Reden acht: so ist der Stoff
derselben jederzeit Aufklärung, Toleranz, Fortschreiten zum Bessern:
merkt ihr aber auf die Form ihrer Darstellungen, ihrer Widerlegungen,
ihrer Declamationen: so werdet ihr eine gänzliche Abwesenheit alles
guten Geschmacks, eine jesuitische, mit Consequenzen kämpfende, Dia-
lektik, ihr werdet die Beredsamkeit ehemaliger Capuzinaden verneh-
men. Desgleichen seht ihr auf die Mittel, die sie zur Befestigung ihres
Aufklärungsreiches anwenden möchten, so werdet ihr ganz dieselben
erkennen, die man mitten in den Zeitaltern der Barbarey zur Unterdrü-
ckung aller Aufklärung anwandte; den grössten Zwang der Jugend im
Betrieb der Wissenschaften, blinde Beschränkung auf vorgeschriebene
Normen und Formeln, Verfolgung – nicht gegen Einen oder gegen Ein-
zelne, sondern gegen alle, die sich davon durch Wort oder Schrift ent-
fernen. 132
Solche Überlegungen sind in erster Linie durch Sorge um das Gedei-
hen der Wissenschaft und der Philosophie eingegeben. Zugleich sind

130
Pareyson 1977, 279.
131 Die Gefahr der Ochlokratie, die besonders dann drängend wird, wenn die bisheri-
gen Legitimationssysteme zusammenbrechen, bildet das Movens von Schellings poli-
tischem Denken, vgl. Hofmann 1999, 97, 123; vgl. Frank 1982, 176, 180 mit Frank
1982, 171, 174 f. Wenn Martin Schraven behauptet, dass Schelling »durch alle Wand-
lungen der Gesamtkonzeption seiner Philosophie hindurch […] stets für eine freie
Entfaltung des Individuums [optiert] und gegen eine Politik, die die Entwicklungs-
möglichkeiten des Individuums von Seiten des Staates einzuschränken versucht«,
dann schreibt er Schelling das grundlegende Dogma einer bürgerlichen Gesellschaft
zu und verfehlt damit den entscheidenden Punkt von Schellings Staatskritik. Nach der
Naturrechts-Deduktion ist nämlich alles Recht Zwangsrecht: Es gibt somit kein
Recht, das die »Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums« nicht einschränken
würde. Damit macht er Schelling zu einem Befürworter des Privatrechts, das dieser
gerade unter Kritik gestellt hatte (Schraven 1998, 190; vgl. Schelling 1803a, 227 f. /
SW V, 313; SW VI, 572 f.; SW VIII, 11 f.).
132 Pareyson 1977, 221 f.; Herv. v. Verf. Ferner: »Jeder beschränkte, auf gemachte For-

men eingeengte Kopf wird zum Verfolger, wenn er scheinbar Fug und Macht dazu
hat« (Pareyson 1977, 223; Herv. v. Verf.). Vgl. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel,
21. Juli 1795, AA III,1, 27.

388
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

sie von der Überzeugung getragen, dass ein solcher Zustand der ge-
genseitigen Nicht-Einmischung auch für den Staat am vorteilhaftes-
ten wäre. Nach der Aufklärung können und müssen die Ergebnisse
der Wissenschaft allgemein zugänglich gemacht und verbreitet wer-
den. Nach Schelling widerstreitet es jedoch geradezu der Natur so-
wohl der Wissenschaft als auch der Philosophie, dass sie jedem
verständlich gemacht werden könnten. Dafür stellen sie an den Ein-
zelnen zu hohe Anforderungen, als dass es möglich oder auch nur
wünschenswert wäre, dass jeder sich daran beteiligen würde. Diese
Ergebnisse können durch solche, die diesen Anforderungen nicht ge-
wachsen sind, nur so verstanden werden, als wären sie bloße Meinun-
gen. Daraus ergibt sich ein Zustand des Streits zwischen Meinungen
und, indem man versucht, die eigene Meinung mit politischen Mit-
teln durchzusetzen, ein Zustand der allgemeinen Verfolgung. Diesen
Zusammenhang zwischen Aufklärung und »Verfolgungssucht« hebt
Schelling besonders hervor. 133 Dadurch ist die Aufklärung bzw. die
allgemeine Verbreitung der Ergebnisse der Wissenschaft nicht nur
für die Wissenschaft selbst, sondern auch für die Gesellschaft gefähr-
lich, indem dadurch der Volksglaube, das bindende Element jeder Ge-
sellschaft untergraben und zerstört wird. Gegen solches religiöses
Brauchtum, wie beispielsweise Heiligenverehrung, Wallfahrten, kurz
gegen die Volksreligion, hatte die Säkularisation sich insbesondere
gerichtet, da solche Praktiken nach einem aufklärerischen Vorurteil
sämtlich als Aberglauben zu rubrizieren waren. 134 Durch diese Zer-

133 Pareyson 1977, 278.


134 Vgl. Schwaiger 1980, 122 f., 124 f.; Junkelmann 1985, 183 f.; van Dülmen 1989, 50–
69, 204–214. – Als Beispiel seien hier einige Sätze aus der ›Instruktion der kurfürst-
lichen Commission in Klostersachen vom 25. Januar 1802‹ angeführt: »Da Wir über-
zeugt sind, […] daß die moralische Ausbildung eines Volkes die Grundbedingung ist,
ohne welche man keinen dauerhaften Wohlstand erlangen kann, und daß die besten
Regierungs-Anstalten ohne Wirkung bleiben, wenn die Unterthanen nicht durch jene
dafür vorbereitet werden, so halten Wir Uns verpflichtet, die Hindernisse, welche
dieser Kultur entgegenstreben, vor Allem wegzuräumen. – Eines der mächtigsten
Hindernisse zeigt sich in der dermaligen Verfassung der Klöster und besonders der
Bettelmönche, die, weil sie selbst fühlen, daß der Geist der Zeit eine Veränderung in
der öffentlichen Stimmung gegen sie hervorgebracht hat, mit doppelten Kräften für
ihre Erhaltung dadurch arbeiten, daß sie bei dem Volke durch Fortpflanzung des Aber-
glaubens und der schädlichsten Irrthümer richtigen Begriffen den Eingang zu er-
schweren, jede zu seiner wahren moralischen Bildung führende Anstalt demselben
verdächtig zu machen und einen beständigen bösen Willen dagegen zu unterhalten
suchen. Ihre fortdauernde Existenz ist daher nicht nur zwecklos, sondern positiv
schädlich« (zit. in Schwab 1869, 336).

389
5. Kapitel. Politik und Religion

störung der Volksreligion leistet die Aufklärung einem despotischen


Staat Vorschub, da gerade eine Volksreligion vielleicht zu verhindern
vermag, dass der Staat zu einem reinen Zwangsinstitut wird.
Auf diesem Hintergrund ist eine beiläufige Bemerkung in Phi-
losophie und Religion zu sehen, wonach das Christentum aus dem
Heidentum
nur dadurch entstand, dass es die Mysterien öffentlich machte: ein Satz,
der sich historisch durch die meisten Gebräuche des Christenthums, sei-
ne symbolischen Handlungen, Abstufungen und Einweihungen durch-
führen liesse, welche eine offenbare Nachahmung der in den Mysterien
herrschenden waren. 135
Wenn dieser politische Kontext sich aus der Schrift Philosophie und
Religion selbst nur mit Mühe erschließen lässt und lediglich ange-
deutet wird, so wird er in einem späteren, allerdings nur Fragment
gebliebenen und erst posthum veröffentlichten Text ausdrücklich mit
zur Darstellung gebracht. Gemeint ist das Gespräch Ueber den Zu-
sammenhang der Natur mit der Geisterwelt. Diese Gespräche sind
nämlich in eine Rahmenerzählung eingebettet, die den Realkontext,
in welchem sie stattfinden, mit zur Darstellung bringt. Sie finden in
einer Landschaft statt, die zutiefst geprägt ist von den gesellschaft-
lichen Umwälzungen, die sich durch eine zum politischen Programm
gewordene Aufklärung anbahnen. So ist es mehr als Kulisse, nämlich
historisch ganz zutreffend und bedeutsam, wenn die Gesprächsteil-
nehmer in einem Kloster zusammentreffen und dort durch einen (ka-
tholischen) Geistlichen in eine Auseinandersetzung verwickelt wer-
den, die die ganze folgende Gesprächsreihe bestimmt. Von den
Klöstern nämlich war jene aufklärerische Bewegung ausgegangen. 136
Zugleich hat Schelling diesem Geistlichen auch einige Züge verlie-
hen, die ihn als Repräsentanten der kantischen Philosophie erkennbar
machen. 137 Die Auseinandersetzung entzündet sich daran, dass der
Pfarrer, der Erzähler und zugleich eine der Hauptfiguren der Erzäh-
lung, in der Allerseelenfeier, bei welcher er kurz vorher zugegen war,

135 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Es handelt sich um die einzige Erwähnung des
Christentums in einer Schrift über Philosophie und Religion.
136 Dazu van Dülmen 1989, 125 f.

137 Vgl. Marquet 1984, 16, 19 f.; Grau 1997, 597. – Es ist durchaus bezeichnend, dass

der katholische Geistliche wie ein Protestant spricht. Er findet sein Gegenstück in der
protestantischen Frau, die als eine Katholikin handelt (vgl. SW IX, 102–104). Beide
sind somit zerrissen und keiner von beiden ist es gelungen, beide Ausgestaltungen der
christlichen Religion zu einer harmonischen Einheit zu bringen.

390
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

einen höheren Sinn entdeckt. Dies weist der Geistliche entschieden


zurück: Wenn solche Gebräuche die Moral unterstützen würden, wä-
re er noch bereit, sie gelten zu lassen, selbst wenn sie auf Aberglauben
beruhen. Da es für ihn feststeht, dass sie der Moral abträglich sind,
wäre es seiner Meinung nach besser, sie ganz abzuschaffen. 138 Die
Absicht der Gesprächsreihe als ganzer besteht darin, zu untersuchen,
inwiefern solche Bräuche sich rechtfertigen lassen. Dazu soll gezeigt
werden, wie in denselben spekulative Ideen, dem Fassungsvermögen
des Volks angepasst, zum Ausdruck kommen. Der gewählte zeitliche
Rahmen, wonach jeweils ein Gespräch einer der vier Jahreszeiten ent-
spricht, ist denn auch mehr als ein bloßer Rahmen, indem dadurch
jeweils ein besonderes Fest in den Mittelpunkt gestellt wird (Aller-
seelen, Weihnachten, Ostern …). Ferner finden sich auch deutliche
Hinweise auf die voranschreitende Säkularisation, indem die Auf-
lösung der Klöster und die Frage ihrer möglichen Verwendung aus-
führlich erörtert werden (vgl. SW IX, 21–26). Die konfessionelle
Spaltung Deutschlands ist im ganzen Text präsent, desto mehr, da
das Schicksal der Hauptfigur, Clara, diese Spaltung widerspiegelt:
Sie hat als Katholikin einen Protestanten geheiratet, der kurz vor An-
fang der Erzählung gestorben ist (vgl. SW IX, 14 f.). Das Verhältnis
des Philosophen zum Volk wird durch das Verhältnis des Arztes und
des Pfarrers zu Clara als Repräsentantin des Volks vorgeführt. 139
Auch der Schrift Philosophie und Religion kann eine politische
Absicht nicht völlig abgesprochen werden. So schickt Schelling sie
Windischmann zu und schreibt im Begleitbrief: »Ich wünsche Ihrem

138 Zu vergleichen mit einem Erlass der kurpfalzbayerischen Regierung vom 18. März
1802: Der Klerus hat »sich als eigentliche Volkslehrer und Erzieher zu betrachten,
deren Händen die religiöse und sittliche Bildung einer ganzen Nation größtentheils
anvertraut ist«, statt sich in erster Linie um den »eigentlichen Opfer- und Altar-
Dienst oder die Beobachtung äußerlicher Gebräuche« zu kümmern. Eingriffe in die
Feier der großen Feste, in das Schmücken der Gräber usw. werden dadurch motiviert,
dass das alles bloße »Vehikel zur religiösen Belehrung« sind, denen die Einwohner, da
sie »seit geraumer Zeit so weit in der religiösen Aufklärung fortgeschritten«, nicht
mehr bedürfen (zit. in Schwab 1869, 336 f., 339).
139 »Sonst war der religiöse Glaube, der verschwunden ist, ihr inneres Band; zurück-

gehen lässt sich nicht, nachdem einmal die Bahn freyer Erkenntniss betreten ist«
(Schelling 1809b, 108 / SW VII, 525): Durch die Spaltung der Konfessionen ist die
Religion als ›inneres Band‹, d. h. in ihrer sozialen Funktion, verschwunden und statt-
dessen vielmehr zu einem Faktor der Entzweiung geworden. Damit stellt sich nun der
Philosophie die Aufgabe, zu untersuchen, wie das Verschwundene sich ersetzen ließe.
Die Konfessionsspaltung ist somit zugleich eine Chance für die Philosophie.

391
5. Kapitel. Politik und Religion

Churfürsten ein Exemplar der mitfolgenden Schrift zu schicken«. 140


Zwei Monate später kommt er darauf zurück:
Schon längst habe ich eingesehen, daß es vernünftig, ja gewissermaßen
Pflicht der Devotion wäre, Ihrem edeln Kurfürsten die kleine Schrift zu
Füßen zu legen – auch soll dies das Erste von der Art seyn, das ich thue –
melden Sie mir nur nochmals, ich bitte, (werden Sie nicht böse) Anrede
und Titulatur. 141
Am 20. Juli gelingt es Schelling dann endlich, das Paket dem Kur-
fürsten zuzuschicken. 142 Es handelt sich dabei um den Freiherrn von
Dalberg, Kurfürst von Mainz, dann Erzbischof von Regensburg. 143
Schelling hat ihm die Schrift auch deshalb geschickt, um dessen
Wohlwollen ihm gegenüber zu festigen, auch für den Fall, dass er,
wie er befürchtete, im Zuge seiner universitätspolitischen Aktionen
des Landes verwiesen werden sollte. 144 Jedenfalls meinte er von ihm
eine günstige Aufnahme seiner Ideen erwarten zu dürfen. 145
Wenn Schelling damit von seiner Schrift einen politischen Ge-
brauch zu machen sucht, so scheint doch auch in dieser selbst eine
politische Tendenz durchzuschimmern. Zum einen findet sich gerade
im »Anhang« bis zu zweimal eine auffällige direkte Anrede. 146 Zwei-
mal wird eine Gruppe von Adressaten direkt mit ›ihr‹ angesprochen.

140 F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 22. April 1804, Fuhrmans, Briefe III,


79.
141 F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 26. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III,
89.
142 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 20. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe
III, 103.
143 Vgl. Fuhrmans, Briefe I, 300; Fuhrmans, Briefe III, 47. Windischmann war Leib-

arzt des Kurfürsten und hatte schon länger zwischen Schelling und dem Kurfürsten
vermittelt. Nach Fuhrmans »hat [es] wohl auch Briefe Schellings an den Kurfürsten
gegeben […], die wir leider nicht kennen« (Fuhrmans, Briefe II, 47). Zu Dalberg, vgl.
Hammermayer 1980, 154–156; Schwaiger 1980, 129, 133.
144 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans,

Briefe III, 131: »Man ist in B. [Bayern, R. S.] in nicht geringer Verlegenheit wegen
meiner; doch will ich nicht dafür stehen, daß wenn jene Schrift [das oben genannte
Pamphlet Darstellung der Secte …, R. S.] erscheint, man nicht unklug genug ist, mich
des Landes zu verweisen. Ich verlange es nicht besser und will mich nur nicht so im
Dunkeln, heimtückisch wegdrängen lassen. Ich wünschte auf den Fall, bei Ihrem Kur-
fürsten ein Asyl zu finden« (sc. in Regensburg).
145 Dalberg verfolgte eine gemäßigtere Form der Aufklärungspolitik, vgl. Schwaiger

1980, 133.
146 Eine erste direkte Anrede fand sich bereits im dritten Abschnitt (vgl. Schelling

1804, 61 / SW VI, 55).

392
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

Es bleibt offen, welche Gruppe genau gemeint ist. Vielmehr bleibt es


dem Leser anheimgestellt, darüber zu entscheiden, ob er sich zu die-
sen Adressaten zählt, ob er sich angesprochen fühlt, ob er sich in dem
›Willen‹ wiedererkennt, der als Bedingung des formulierten Aufrufs
angesetzt wird und ob er sich denjenigen zurechnet, die es in ihrer
Gewalt haben, jener Aufforderung zur Ausführung zu verhelfen. Die
Anreden lauten im Wortlaut wie folgt: »Wollt ihr, dass sie [die Reli-
gion, R. S.] zugleich eine exoterische und öffentliche Seite habe, so
gebt ihr diese in der Mythologie, der Poësie und der Kunst einer Na-
tion«, und: »Sucht ihr also eine universelle Mythologie, so bemächti-
get Euch der symbolischen Ansicht der Natur«. 147 Die Bedeutung
dieser Aufrufe dürfte sich noch am ehesten dann erschließen, wenn
man beachtet, wogegen sie sich richten und was durch sie zurück-
gewiesen werden soll. Zunächst ist zu bemerken, dass sie beim Adres-
saten einen bestimmten Willen voraussetzen. Gesetzt, der Adressat
teilt diesen Willen, dann lässt dieser sich nur so verwirklichen, dass er
der Handlungsanweisung Folge leistet. Im ersten Aufruf wird ge-
fragt, ob der Adressat will, dass die Religion auch ›eine exoterische
und öffentliche Seite‹ habe. Eine solche kann ihr nur auf die Weise
erteilt werden, dass man die Entwicklung einer ›Mythologie‹, ›Poësie‹
und ›Kunst einer Nation‹ begünstigt. Zwar wollte auch die Aufklä-
rung, dass die Religion eine ›exoterische und öffentliche Seite‹ habe,
sie richtete sich aber besonders gegen die Volksfrömmigkeit, die man
als Aberglauben ansah und die es deshalb nur verdiente, beseitigt zu
werden, damit das wahre Christentum im Sinne einer christlichen
Moral dessen Platz einnehmen könne. Durch Moral allein kann der
Staat nach Schelling jedoch nicht zusammengehalten werden, wenn
er nicht Zwangsanstalt werden soll, sondern nur durch die ›Mytho-
logie einer Nation‹. Gegen eine solche richteten sich aber hauptsäch-
lich die Bestrebungen der Aufklärung, insofern sie zu einem poli-
tischen Programm wurde. 148 Schelling möchte das Christentum, in
erster Linie in seiner Gestalt der Volksfrömmigkeit, gegen solche An-
griffe in Schutz nehmen. In dieser hat das Christentum eine exoteri-
sche und öffentliche Gestalt angenommen, die es in die Nähe einer
Mythologie rückt. Mit diesem Aufruf stimmt Schelling somit in die
Bestrebungen nach einer exoterischen Religion ein, warnt jedoch da-

147
Schelling 1804, 74b, 76 / SW VI, 65, 67.
148Zu dieser Feindseligkeit der Volksreligiosität gegenüber, vgl. van Dülmen 1989,
204–214.

393
5. Kapitel. Politik und Religion

vor, für die Begünstigung einer solchen nicht gerade auf solche Mittel
zurückzugreifen, die sie vielmehr zerstören würden. Der zweite Auf-
ruf setzt den Willen einer öffentlichen Religion weiterhin voraus,
weitet die Zielrichtung indessen aus. Jetzt soll nicht mehr eine par-
tielle, weil historisch gewachsene und den Umständen und der Be-
schaffenheit eines besonderen Volks angemessene und somit bloß na-
tionale, sondern eine universelle Mythologie gesucht werden. 149
Zwischen beiden Aufrufen gibt es demnach eine Stufung. Der zweite
Aufruf dehnt den Anspruch des ersten aus, indem eine universelle
Mythologie keinem Volk exklusiv gehört, sondern auf eine Einswer-
dung der ganzen Menschheit hinwirken soll. Eine solche nun kann
nur in der ›symbolischen Ansicht der Natur‹ gefunden werden.
Zum anderen sind besonders im »Anhang« Spuren politischer
Vorsicht feststellbar. Schellings politisches Unternehmen war, wie
wir gesehen haben, nicht ganz ungefährlich. Aus diesem Grund ver-
sucht er seine Lehre so zu verschleiern, dass nur aufmerksame Leser
sie so verstehen, wie sie gemeint ist, andere hingegen dazu verleitet
werden, sie als mit den herrschenden Meinungen in Übereinstim-
mung zu verstehen. Wie Schelling weiß, sind die meisten seiner
(gebildeten) Leser für die Ziele der Aufklärung gewonnen. Während
sie die Volksreligion als teils abergläubisch, teils nutzlos betrachten
und ihr deshalb entgegenarbeiten wollen, so sehen sie die Religion
dennoch als eine Stütze des Staates, schätzen diese bloß nach ihrer
politischen Nützlichkeit ab und wollen sie demnach auf Moralität
einschränken oder ihr jedenfalls nur eine moralische Bedeutung be-
lassen, die sie staatstauglich machen soll. 150 Vorsicht musste Schelling

149 Vgl. AA I,1, 206–208; AA I,9,1, 283.


150 Als ein typischer Vertreter dieser Richtung kann Heinrich Eberhard Gottlob Pau-
lus gelten. Über den Zusammenhang von Paulus’ exegetischen Arbeiten mit seinen
politischen Bemühungen vgl. Graf 1990, 129, 137, 145. Paulus scheint jedenfalls mit
betroffen, wenn Schelling eine Tendenz der zeitgenössischen Theologie bzw. Exegese
zurückweist, wonach »die flachen Begriffe des behaglichsten gemeinen Verstandes,
der modernen Moral und Religion in die Urkunden hinein erklärt werden« (Schelling
1803a, 204 / SW V, 303; vgl. auch Schelling 1803a, 23 f. / SW V, 221). Paulus dürfte
für Schelling als ein exemplarischer Repräsentant der Aufklärung gelten. Obwohl die
konstante Auseinandersetzung mit und die Bezugnahme auf Paulus an manchen Stel-
len kaum übersehbar ist, steht eine eingehendere Untersuchung derselben noch aus,
die nicht unerheblich dazu beitragen dürfte, Schellings eigene Position schärfer zu
konturieren. Für einen biographischen Überblick vgl. Schönwitz 2001. – Ist es bloßer
Zufall, wenn Schelling in dem Brief vom 7. April 1804, mit welchem er Eschenmayer
den Empfang seiner Schrift meldet, erwähnt, dass »H. Prof. Paulus« ihn »gleich bey

394
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

bereits dazu bewegen, den Verdacht zu zerstreuen, dass seine Phi-


losophie für Religion und Sittlichkeit bedrohlich sein könnte. Bereits
die unmittelbare und durch nichts im Vorherigen vorbereitete Rede
vom ›Staat‹ im ersten Satz des »Anhangs« dürfte den unaufmerk-
samen Leser dazu verführen, diesem Thema kein sonderliches Ge-
wicht beizumessen. Der allgemeine Eindruck, dass die dargelegten
Ansichten sich nicht leicht auf eine klare und eindeutige Behauptung
zurückbringen lassen, dürfte diese Einschätzung noch bekräftigen.
Sowohl die Undurchsichtigkeit des Textes als auch die Tatsache, dass
es sich um einen bloßen Anhang handelt, laden den Leser dazu ein,
das Gesagte nicht sonderlich wichtig zu nehmen. Hinzu kommt, dass
sich wohl kaum zufällig gerade im Schlusssatz eine Erklärung findet,
die den Leser zu der Annahme verleiten könnte, das von Schelling
Gemeinte sei weitgehend mit den verbreiteten (aufklärerischen) An-
sichten in Übereinstimmung. In diesem Satz heißt es nämlich, dass
die Philosophie »durch solche Veranstaltung« (gemeint sind die Mys-
terien), erstens, »ganz von rein sittlicher Wirkung« ist, und zweitens,
»ausser Gefahr gesetzt wäre, […] auf äussere Herrschaft und Gewalt,
die ihrer Natur widerstrebt, Ansprüche zu machen«, und, drittens,
»mit der Religion in ewigem Bunde« ist. 151 Dadurch soll der Verdacht
zerstreut werden, als könnte die Philosophie bzw. die Religion mit der
Politik in Konkurrenz treten. Der Leser soll somit davon überzeugt
werden, dass, wenn nur der Staat darauf verzichtet, in die Philosophie
einzugreifen, bzw. wenn er ihr einen Freiraum gewährt, in welchem
sie sich ihren eigenen Anforderungen gemäß entfalten kann, dass
Philosophie und Religion dann ihrerseits darauf verzichten werden,
in das politische Geschehen eingreifen zu wollen. Auffälligerweise
bleiben die tragenden Begriffe dieser Erklärung (Sittlichkeit und Re-
ligion) merkwürdig verschwommen. Dies soll den weniger aufmerk-
samen Leser dazu einladen, diese Erklärung nach seinen eigenen vor-
gefassten Ansichten von Sittlichkeit und Religion auszulegen. Gerade
an dieser Stelle wäre jedoch daran zu erinnern, dass Schelling eben in
dieser Schrift einen Begriff der Sittlichkeit angedeutet hatte, den er
der geläufigen Auffassung schroff entgegensetzt und als grundsätz-

ihrer Erscheinung damit bekannt« machte (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer,


7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71) und in einem späteren Brief vom 22. Dezem-
ber 1804 suggeriert, dass Paulus der Verfasser einer – wenig wohlwollenden – Rezen-
sion von Eschenmayers Schrift ist (F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. De-
zember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157)?
151
Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.

395
5. Kapitel. Politik und Religion

liche Kritik derselben intendiert. Wie man Schellings Begriff der Sitt-
lichkeit auch interpretieren mag, kein Zweifel kann darüber bestehen,
dass sie sich mit der geläufigen Ansicht auf keine Weise vereinigen
lasse. Auch der Begriff der Religion ist in der Schlusserklärung ganz
unbestimmt gelassen, obwohl doch die ganze Schrift darauf abzielte,
diesen Begriff näher zu bestimmen. Durch diese Unbestimmtheit
scheint Schelling die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der
Religion, wie sie in den Mysterien gelehrt wird, und der Religion als
Volksglaube oder Mythologie wieder einzuziehen. Zwar erklärt er,
dass die Religion durch die besondere Veranstaltung der Mysterien
›ganz von rein sittlicher Wirkung‹ sein werde, über die Art dieser
Wirkung und ihre Folgen für die öffentliche Religion spricht er sich
nicht aus. Und wenn die Philosophie auch ›mit der Religion in ewi-
gem Bunde‹ ist, so ändert dies doch nichts daran, dass sie mit der
Mythologie als der anderen Gestalt der Religion dennoch »im gera-
desten und auffallendsten Gegensatz« sein kann. 152 Selbst wenn die
philosophische Religion nicht mit der Politik in Konkurrenz tritt, so
bleibt doch offen, ob dies auch für die Volksreligion gilt.
Schließlich hat auch Windischmann, mit dem Schelling zu dieser
Zeit in einem regen Briefwechsel stand, im »Anhang« eine politische
Tendenz entdeckt, wenn er sich auch über ihren Charakter täuscht. So
schreibt er nach Erhalt der Schrift, dass er von der »Unstatthaftigkeit
einer esoterischen u. exoterischen Behandlung der Religion in der
neuen Welt«, wie er sie in Philosophie und Religion befürwortet
sieht, »ganz überzeugt« ist:
[D]ie neue Zeit hat eine höhere Tendenz, die man durch Freimaurer-
mysterien und Ordensceremonien nicht zu hemmen suchen soll, auch
hiedurch nicht aufhalten wird: die Hierarchie hat auch lange genug ge-
dauert, als daß man sie unter neuen Formen wieder einführen sollte. So
reines Vergnügen mir Ihre Schrift sonst gewährt hat, so auffallend war
mir bei weiterem Nachdenken der Anhang, den ich jedoch immer mehr
als eine Beschreibung der Dinge wie sie sind und sich von selbst ver-
bergen und offenbaren, ansehe, als wie sie sein sollten. 153

152Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.


153K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III,
90. Er bemerkt auch noch, dass Schelling und er »in manchen Dingen verschieden
denken«. Diese ›Dinge‹ lässt er aber gegen solche Meinungsverschiedenheiten, die
»wesentliche Ansichten« betreffen, zurücktreten (K. J. H. Windischmann an F. W. J.
Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90). Diese ›wesentlichen Ansichten‹

396
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

Es lag also für einen ›leichtsinnigen‹ Leser wie Windischmann, 154 der
mit dem Illuminatismus bestens vertraut war, 155 nahe, die Unter-
scheidung von Freien und Nicht-Freien und die Rede von den Myste-
rien mit solchen Geheimbünden in Verbindung zu bringen. Zwar war
der – 1776 gegründete – Geheimbund der Illuminaten 1785 bereits
wieder aufgehoben und verboten worden, 156 dessen politische Ideen
lebten jedoch weiter, wie auch viele der früheren Mitglieder nachher
hohe politische Ämter bekleideten. 157 Aus der Bemerkung Windisch-
manns geht hervor, dass ihm besonders der Gedanke der Hierarchie
zuwider ist, dass er die noch bestehende Ungleichheit nur für vorläu-
fig erachten kann und dass er alles auf eine Beseitigung derselben
hinwirken sieht. Die von Schelling gemeinte natürliche Ungleichheit
deutet Windischmann zu gesellschaftlichen oder konventionellen

betreffen die politischen Konsequenzen, die sich nach seiner Meinung aus dem im
Anhang Gesagten ergeben.
154 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe

III, 98.
155 Sowohl sein Onkel von Colborn als auch der Freiherr von Dalberg waren früher

Mitglied des Geheimbundes der Illuminaten gewesen (vgl. van Dülmen 1975, 61, 68,
73, 441, 445).
156 Vgl. van Dülmen 1975, 13; Hammermayer 1980, 146–150. – Freimaurer und Illu-

minaten bezeugten übrigens ein besonderes Interesse für die Eleusinischen und ande-
re Mysterien und versuchten, ihre Organisation nach diesem Vorbild zu gestalten.
Dazu van Dülmen 1975, 35, 37, 116, 119, 120–123; Hammermayer 1980, 147 f. So
z. B. auch Reinhold, vgl. dazu Roehr 2004.
157
Vgl. van Dülmen 1975, 96: »Der Montgelas-Staat bildete im Prinzip die Erfüllung
der aufgeklärten politischen Wünsche ehemalig engagierter Illuminaten«. Die per-
sonelle und ideologische Kontinuität betont auch Hammermayer 1980, 149. – Auf
die Frage, ob »die früheren Illuminaten eine entscheidende Rolle für die Säkularisa-
tion [spielten]«, gibt Eberhard Weis folgende Antwort: 1. Unter den Mitarbeitern
Montgelas’ »befanden sich sowohl ehemalige Illuminaten als Nichtilluminaten, aller-
dings alles entschiedene Aufklärer. Dieses war das einigende Band, nicht das ehemali-
ge Illuminatentum«; 2. Allerdings suggerierten Gegner dieser aufklärerischen Politik
aus politisch-taktischen Gründen eine Nähe zum Illuminatentum – um »Montgelas
um so mehr suspekt erscheinen [zu] lassen«. Die aufklärerische Voreingenommenheit
scheint dennoch überwogen zu haben, indem Weis nachweist, wie Montgelas und
seine Mitarbeiter, trotz eindeutiger Befunde, dass die Klosteraufhebung kaum dazu
beitragen würde, die Lücke in der Staatskasse zu schließen, dennoch an ihrem Plan
festhielten, ja sogar verhinderten, dass diesbezügliche Akten zum Kurfürsten gelang-
ten. Außerdem kam noch ein genuin politisches Moment hinzu, nämlich die Unter-
grabung der Ständeverfassung: »die Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz, des
gleichen Zuganges aller Bürger zu öffentlichen Ämtern, der Gleichberechtigung der
christlichen Konfessionen« (Weis 2005, 154, 157, 159, 160–162, 166, 183–191, 217–
225).

397
5. Kapitel. Politik und Religion

Ungleichheiten um. 158 Während er die Idee eines Geheimbundes zu-


rückweist, hält er somit dennoch an einer allgemeinen Aufklärung als
politischem Ziel fest. In seiner Antwort weist Schelling diese Aus-
legung entschieden zurück:
Was Sie mir von wegen der esoterischen Religion schreiben, die Sie für
eine Hierarchie oder Pfaffentum, oder Freimaurerorden zu halten schei-
nen, zeigt mir, lieber Freund, wie leichtsinnig Sie meinen Anhang gele-
sen haben. Nichts ist ferner von mir, als solche abgedroschene Dinge. 159
Wenn Windischmanns Deutung somit einer ›leichtsinnigen‹ Lektüre
entspringt, so finden sich im »Anhang« dennoch Elemente, die einer
solchen geradezu Vorschub leisten. Schelling scheint deutlich zu
sehen, dass die aufklärerischen Bemühungen in der Tat auf eine Er-
füllung des politischen Programms des Illuminaten-Bundes abzie-
len. 160 Letzterer versuchte, durch eine »indirekte stillschweigende
Okkupation des Staates« »die angestrebte Weltreformation« zu er-
möglichen oder eine Regierung in der Regierung zu bilden, um die
weltliche Macht dazu zu benützen, seine weltanschaulichen Ansich-
ten durchzusetzen. Zu diesem Ziel war auch die Verfolgung von Geg-
nern erlaubt. 161 Darin erkennt Schelling einen »umgekehrte[n] Jesui-
tismus«. 162 Sowohl der Illuminatismus als der Jesuitismus laufen

158 Darin folgt ihm Hans-Jörg Sandkühler, der darin eine ›metaphysische Begründung
des Politischen‹ und zwar als eine »spekulative Apologie der Konterrevolution« und
eine »Apologie der Ungleichheit« sieht (Sandkühler 1968, 136 f.).
159
F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III,
98.
160 Vgl. auch den Brief an K. J. H. Windischmann vom 16. September 1804, in wel-

chem Schelling »dem ganzen Illuminirungs-Wesen und den Welt-Erziehungsplanen,


welche in jenem Lande [sc. Bayern, R. S.] ausgeheckt werden, jetzt den offnen Krieg
erklärt – und der ganze künftige Winter soll unter steten Exploits dieser Gattung
vergehen« (F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 16. September 1804, Fuhr-
mans, Briefe III, 117 f.).
161 Vgl. van Dülmen 1975, 137; Hammermayer 1980, 147 f.

162
In einem Brief an den Grafen von Thürheim vom 26. September 1804 (F. W. J.
Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September 1804, Fuhrmans, Briefe III, 122). –
Richard van Dülmen hat die »strukturelle Verwandtschaft beider Ordenssysteme«
überzeugend nachgewiesen und im Illuminaten-Bund »ein Spiegelbild des Jesuiten-
ordens« erkannt, wenn dieser ursprünglich auch »gegen die Allmacht der Jesuiten
entstanden« war. Dies war auch den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. So lau-
tet ein zeitgenössisches Zitat: »der ehemalige Jesuitismus hatte den Aberglauben zur
Triebfeder und der gegenwärtige Illuminatismus den Unglauben, im Ganzen aber war
dort wie hier universelle Beherrschung der gesammten Menschheit durch den Orden
der Zweck« (van Dülmen 1975, 98, 127–129). Ferner: van Dülmen 1989, 141–171.

398
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln

darauf hinaus, eine Regierung in der Regierung zu bilden. 163 Auf die-
sem Hintergrund dürften auch die Verdächtigungen einsichtiger wer-
den, nach denen Schelling katholisch gewesen sei und eine Art von
Katholizismus propagiert habe. Damit soll nichts weiter besagt sein,
als dass seine Lehre darauf abzielt, die angestrebten Reformen rück-
gängig zu machen bzw. zu untergraben. 164 Schelling musste somit den
Verdacht zu beseitigen suchen, als würde er einen so verstandenen
›Katholizismus‹ unterstützen und einer Verflechtung von Bildung,
Kirche und Staat das Wort reden. Zugleich musste er auch vermeiden,
den Eindruck des Atheismus aufkommen zu lassen, da dieser, sobald
die Religion zu einer staatstragenden Moral umgedeutet wird, den
Staat zu untergraben scheinen muss.
Wenn auch eine auf den ersten Blick so unpolitische Schrift wie
Philosophie und Religion nicht ohne Bezüge auf die damalige Ge-
schehnisse in Bayern ist, so diente dieser Nachweis doch nicht der
Absicht, sie zu einem politischen Pamphlet zu erklären. Wenn ihm
die Lage ein unmittelbares Eingreifen zu erfordern schien, hat Schel-
ling, wie wir gesehen haben, solche Pamphlete auch wirklich verfasst.
In Philosophie und Religion hingegen werden die Beziehungen zu
zeitlichen und örtlichen Umständen, von einigen vagen Andeutun-
gen abgesehen, vielmehr ausgeblendet. Nur mittels Heranziehung
des Briefwechsels, zeitgenössischer Dokumente und jener pamphlet-
artiger Schriften lassen sie sich einigermaßen erschließen, sind aber
aus der Schrift selbst nicht unmittelbar ersichtlich. Schelling hatte
auch im »Vorbericht« ausdrücklich erklärt, sich mit dieser Schrift
nicht in erster Linie an die Zeitgenossen als die ›Werkzeuge der Zeit‹
zu richten. Nur mittels Akkommodation an die zeitgenössischen
Meinungen kann man überhaupt auf eine unmittelbare Wirkung
auf die eigene Zeit hoffen. Stattdessen richtet die Schrift sich in erster
Linie an die potentiellen Philosophen, deren Vormeinungen Schelling
insofern berücksichtigt, als sie jene daran hindern könnten, den Zu-
gang zur schellingschen Lehre zu finden. Die gewichtigste Vormei-
nung betrifft jedoch das Verhältnis von Philosophie und Religion.

163 Der Geheimbund war darauf abgesehen ein »Sittenregiment« zu bilden, das die
bestehenden Regierungen regieren soll, ohne sie aufzulösen. Weishaupt, Gründer des
Bundes erklärte: »Man muß um die Mächtigen der Erde her eine Legion von Männern
versammeln, die unermüdet sind, alles zu dem großen Plan, zum Besten der Mensch-
heit zu leiten und das ganze Land umzustimmen; dann bedarf es keiner äußern Ge-
walt« (van Dülmen 1975, 115).
164
Vgl. Fuhrmans, Briefe I, 289–300; Tilliette 1999, 117 f.

399
5. Kapitel. Politik und Religion

5. Religion und Glaube

Im Laufe unserer Erörterungen scheinen wir die Auseinandersetzung


mit Eschenmayer völlig aus dem Auge verloren zu haben. Tatsächlich
wird er im »Anhang« auch kein einziges Mal mehr erwähnt. 165 Nach-
dem Schelling im Hauptteil von Philosophie und Religion das zu Be-
ginn formulierte »Vorhaben«, »diejenigen Gegenstände, welche der
Dogmatismus der Religion und die Nichtphilosophie des Glaubens
sich zugeeignet haben, der Vernunft und der Philosophie zu vindici-
ren«, durchgeführt und damit den negativen Teil von Eschenmayers
Aufgabe, der in der Behauptung der Eigenständigkeit der Nichtphi-
losophie bestand, zurückgewiesen hat, 166 scheint es sich zu erübrigen,
auch noch auf den positiven Teil einzugehen, der auf den Glauben die
Religion zu gründen und dadurch der Nichtphilosophie die Gestalt
einer »reine[n] und von aller Spekulation befreyte[n] Theologie« zu
verleihen suchte. 167 Diesen positiven Teil übergeht Schelling denn
auch mit völligem Stillschweigen. Nachdem die bislang geführte
Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Glauben den Glauben
der ihm von Eschenmayer zugedachten Fundierungsfunktion beraubt
hat, scheint die Frage wieder offen zu sein, ob und wie die Religion
sich überhaupt ›begründen‹ lässt. Wenn Schelling dies in Philosophie
und Religion auch nicht ausführt, so lassen sich doch durchaus Be-
züge zum positiven Teil des eschenmayerschen Programms herstel-
len, die dazu beitragen dürften, Schellings Position klarer zu kon-
turieren. Bevor wir diese im nächsten Abschnitt näher umreißen,

165 Stattdessen scheint der Anhang wieder am Bruno anzuknüpfen (vgl. Schelling
1802a, 33–35 / SW IV, 233 f.). Auch die Fußnote, die auf Friedrich Schlegel verweist,
stellt wieder die Beziehung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Mysterien und
Mythologie, zwischen Philosophen und Dichtern her, wie sie bereits im Bruno in
deutlicher Anspielung auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie berührt wurde
(vgl. Schelling 1804, 76 / SW VI, 67). Es ist dies die einzige Fußnote, die, wenn wir
von Eschenmayer absehen, auf einen zeitgenössischen Autor verweist. Schlägt man
die Stelle in Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer nach (vgl.
Schlegel 1798, 6–9), dann findet sich dort eine Übersetzung von Lukrez, De Natura
rerum, II 598–642. Beachte dazu: Lukrez, De Natura rerum, II 643–650 und I 57–62.
Von den sechs Fußnoten, die auf andere Autoren als Eschenmayer und Schelling
selbst verweisen, verweist somit nur eine einzige auf einen modernen Autor, von
dem es allerdings heißt, dass er als einziger noch die »letzten Anklänge alter, ächter
Philosophie […] vernommen« hat (Schelling 1804, 3 / SW VI, 17).
166
Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.
167 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); vgl. Eschenmayer 1803, 53 (§ 45), 38 (§ 48), 43

(§ 51), 104 f. (§ 99), 106 f. (§ 100).

400
Religion und Glaube

dürfte es indessen hilfreich sein, einiges zu rekapitulieren und einiges


ein wenig ausführlicher zu erläutern, als es bislang möglich war.
Außer den grundsätzlichen Einwänden, die Schelling gegen
Eschenmayers Vorhaben, die Religion auf den Glauben zu gründen,
anführt und die er im Hauptteil der Schrift ausführlich entwickelt
hatte, gibt er bereits in der Einleitung einen historischen Hinweis, in
dem sich ein kritisches Bedenken verbirgt: »Es war eine Zeit, wo Re-
ligion« und Philosophie »Ein gemeinschaftliches Heiligthum« hatten
und wo somit die Absonderung beider, auf welche es Eschenmayer
ankamm, gar nicht stattfand, da beide vielmehr in Übereinstimmung
waren. 168 Diese historische Beobachtung gibt zu der Vermutung An-
lass, dass das Vorhaben, die Religion auf den Glauben zu gründen, mit
einem Religionsbegriff operiert, der von vornherein auf eine be-
stimmte Form von Religion zugeschnitten ist und nicht in der Lage
wäre, bestimmte Gestalten von Religion als Religion anzuerken-
nen. 169 Dennoch hebt Eschenmayer als einen Vorzug seines Reli-
gionsbegriffs hervor, dass dieser ›tolerant‹ sei, da es ihm nicht darum
zu tun sei, ihn auf eine bestimmte Konfession einzuschränken, und
dass gerade die Abstraktion von konfessionellen Inhalten ihn zu
einem offenen Religionsbegriff macht. 170 Seine Bestimmung von Re-
ligion bzw. Religiosität kann es jedoch nicht vermeiden, sich auf einen
spezifischen Begriff dessen, was als Gott gelten kann, festzulegen. Als
Hauptmerkmal der Gottheit galt ihm, wie wir gesehen haben, die
Unerkennbarkeit oder Transzendenz. Als ›Gott‹ vermag Eschenmayer
nur solches anzuerkennen, was über alles Erkennen erhaben ist. Diese
für Eschenmayer derart selbstverständliche Annahme, dass er sie in
der ganzen Schrift niemals begründet oder auch nur als einer Begrün-
dung bedürftig ansieht, da vielmehr seine ganze Kritik an der Phi-
losophie nur unter dieser Annahme konsistent und zutreffend ist –
eine Annahme, zu der Schelling scharfsichtig bemerkt, dass »der
Glaube, könnte er bewiesen werden, aufhörte Glaube zu seyn« –, ge-
horcht der Forderung, dass das Absolute so zu denken sei, dass es
außer dem Ich bleibt, oder dass, umgekehrt, das Ich so zu denken ist,

168 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16.


169 Die Religionsphilosophie darf nicht mit einem Religionsbegriff operieren, wonach
nur das Christentum als Religion anerkannt werden könnte, vgl. Whitehead 1927, 74;
Danz 2002, 206. Allerdings scheint aus der so formulierten Aufgabe bereits zu folgen,
dass in einer mit einem solchen Begriff operierenden Religionsphilosophie die Frage
nach der Wahrheit der verschiedenen Religionen nicht mehr thematisiert wird.
170
Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49), 42 f. (§ 51).

401
5. Kapitel. Politik und Religion

dass es außer dem Absoluten gehalten bleibt. 171 Die Berechtigung


dieser Forderung zieht Eschenmayer niemals in Zweifel. Es war übri-
gens diese Forderung, die nach Schelling der Idealismus à la Fichte als
nicht weniger selbstverständlich voraussetzte als der Dogmatismus.
Erst die Naturphilosophie hat es Schelling zufolge ermöglicht, diese
Voraussetzung als eine solche sichtbar zu machen und dadurch eine
Distanz zu ihr zu gewinnen. Darin dürfte auch ein Grund dafür lie-
gen, dass Schelling »sich bloss auf naturphilosophische Untersuchun-
gen beschränkt« hat und sich noch in der Auseinandersetzung mit
Fichtes religionsphilosophischen Schriften von 1806 auf eine Kritik
an dessen Begriff von Natur und vom Absoluten beschränken zu kön-
nen meinte. 172 Auch die Behauptung, wonach das schellingsche Sys-
tem die Tugend und die Religion ausschließe, ist nur eine Folge jener
grundlegenden Voraussetzung und damit ein ausreichendes Indiz da-
für, dass dessen Prinzip nicht angemessen verstanden wurde. 173 Des-

171 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18, vgl. Schelling 1802f, 5–14 / SW V, 109–115. Dazu
Volkmann-Schluck 1960, 279 f.: »Diese Forderung enthüllt sich Schelling als der
Grundirrtum der Neuzeit. Und in diesem Zusammenhang wird für den Deutschen
Idealismus eine Auseinandersetzung mit dem Christentum unumgänglich«; »Das
Christentum hat, so erklärt Schelling, die ganze Kultur der späteren Welt allgebietend
bestimmt. Deshalb muß eine Philosophie, welche den Zentralpunkt der ganzen mo-
dernen Kultur als einen Grundirrtum erkennt, notwendigerweise in eine Auseinan-
dersetzung mit dem Christentum kommen«; »Die Grundbedingung für die schran-
kenlose Herrschaft des Verstandes über diese Welt liegt nicht in einer groben
Leugnung des Daseins Gottes, sondern darin, das Göttliche in einem absoluten Jen-
seits und sich dadurch gegen es gesichert zu halten«; Die »äußerste Irreligiosität«
»richtet sich in der Welt ein, indem sie durch Entfernung des Göttlichen aus der Welt
diesem zugleich den höchsten Tribut der Frömmigkeit zu zahlen glaubt. Denn kann
der Mensch Gott höher ehren als dadurch, daß er ihn von allem Weltlichen absolut
scheidet? Schelling hat hier einen Sachverhalt entdeckt, dessen Bedeutsamkeit wir
nicht hoch genug veranschlagen können: die verborgene Gottlosigkeit der modernen
Welt. Sie besteht nicht in einer Leugnung des Daseins Gottes, sondern verträgt sich
mit dem Anschein der höchsten Frömmigkeit, in den sie sich verbirgt […]. Die Forde-
rung, das Absolute außer sich zu haben, hat darin ihr Motiv, daß sie sich unter dem
Anschein der höchsten Frömmigkeit der Irreligiosität am meisten empfiehlt«.
172 Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f.

173 Deshalb hat Schelling gerade diesen Punkt »etwas härter nehmen müssen«

(F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72),


weniger weil sich darin eine moralische Verdächtigung verbergen würde, als weil
seine Philosophie sich gerade dadurch entscheidend von »den bisherigen Systemen«
unterscheidet, dass sie »in ihrem Princip schon Religion ist« (Schelling 1802f, 15 /
SW V, 116). Das ›Merkwürdige‹ an Eschenmayers Schrift dürfte denn auch insbeson-
dere darin zu suchen sein, dass auch und gerade Schellings System zu einer Ergän-
zung »mit dem Glauben« nötigen würde (Schelling 1804, III / SW VI, 13).

402
Religion und Glaube

halb sah Schelling sich in seiner Auseinandersetzung mit Eschen-


mayer dazu genötigt, im ersten und zweiten Abschnitt, die mehr als
die Hälfte der Schrift einnehmen, gerade dieses Prinzip erneut zu
erläutern und auf die Kritik, wonach er Tugend und Religion nicht
gerecht zu werden vermag, nur durch knappste Andeutungen zu ant-
worten.
Wie dem auch sei, der eschenmayersche Religionsbegriff weist
nicht nur den Mangel auf, andere Religionen nicht als solche anerken-
nen, sondern ebenso wenig von wichtigen Aspekten derjenigen Reli-
gion, der er entlehnt wurde, Rechenschaft ablegen zu können, wie
z. B. von der rituellen Seite jeglicher Religion. Damit bestreitet Schel-
ling nicht nur die Notwendigkeit einer Ergänzung des Wissens durch
Glauben, sondern ebenso entschieden die Beschränkung der Religion
auf Glauben. Seine Polemik richtet sich somit insbesondere gegen
Eschenmayers Identifikation von Religion und Glauben, gegen die
Reduktion der Religion auf innere Überzeugung und intensive Erfah-
rungen. 174 Diesem Kritikpunkt lässt sich bereits eine Anforderung
entnehmen, die ein tragfähiger Religionsbegriff zu erfüllen hat: Die-
ser darf nicht von einer bestimmten Form von Religion abstrahiert
werden, sondern er soll beweglich genug sein, auch andere Gestalten
von Religion als solche anzuerkennen.
Noch abgesehen davon, ob Eschenmayers Identifikation von Reli-
gion und Glauben zulässig ist, wäre zudem zu fragen, ob er den Glau-
ben selbst angemessen verstanden hat, wenn er ihn in erster Linie als
eine Erfahrung von einer besonders starken Intensität charakterisiert.
So beschreibt er den Glauben als einen »Zustand« der »Begeisterung,
Entzücken und Anbetung«. 175 Es ist die Rede von den »tiefsten Rüh-
rungen«, in welche man versetzt wird. 176 Die Erfahrung Gottes ist
eine solche, die einen in die Knie zwingt: »Jeder fühlt in seiner Brust
die Nähe Gottes und sinkt in stummer Anbetung nieder«. 177 Es bleibt
fraglich, ob Eschenmayer über die Ressourcen verfügt, dieses Gefühl
angemessen zu artikulieren und zu interpretieren und ob er, aufgrund

174 Bereits der Kontrast des Titels der Schrift Philosophie und Religion zum hegel-
schen Titel Glauben und Wissen macht darauf aufmerksam, dass das Verhältnis bei-
der nicht so sehr mittels einer Differenzierung von zwei Zugangsweisen geschehen
wird, sondern dass stattdessen die erschlossene Inhalte (die ›Gegenstände‹) im Fokus
stehen werden.
175
Eschenmayer 1803, 37 (§ 47).
176 Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47).

177
Eschenmayer 1803, 33 (§ 42); Herv. v. Verf.; vgl. Eschenmayer 1803, 32 (§ 41).

403
5. Kapitel. Politik und Religion

seines Ausgangspunktes, dazu befugt ist, solche Ressourcen anders-


woher zu nehmen als aus dem Gefühl selbst. Wir haben gesehen, wie
nach Schellings Einschätzung Eschenmayers Beschreibungen dieses
Gefühl in seiner eigentlichen Bedeutung verfehlen, ohne dass er des-
halb gesonnen war, solche Erfahrungen zu leugnen oder auch nur
verdächtigen zu wollen, sie vielmehr »in ihrer Sphäre« durchaus an-
zuerkennen bereit ist. 178 Schwerwiegender ist die Frage, ob die In-
tensität des Gefühls die Richtigkeit der Behauptungen zu verbürgen
vermag, die Eschenmayer mit demselben verbinden möchte. In
Eschenmayers Beschreibungen mischen sich nämlich wiederholt An-
leihen bei dogmatischen Vorstellungen ein, die ihm derart selbstver-
ständlich scheinen, dass er sie selbst nicht als solche durchschaut. 179
Er hatte jedoch zugleich erklärt, dass »die geringste Spekulation« die
»Reinheit« des Glaubens »verderbt«. 180 Dann wäre der Nachweis,
dass seine Beschreibungen von spekulativen Vorstellungen durch-
setzt sind, für ihn fatal, da damit die Reinheit des Glaubens verdorben
und das Vorhaben, auf ihn eine ›von aller Spekulation befreyte Theo-
logie‹ zu gründen, als gescheitert angesehen werden müsste. Das Pro-
blem scheint wenigstens nicht so sehr im Gefühl als solchem zu lie-
gen, sondern im Gebrauch, den Eschenmayer von ihm machen
möchte. 181
Daran schließt sich die Frage an, ob sich mittels der ausschließ-
lichen Abhebung auf die subjektive Bedeutsamkeit des Gefühls dieje-
nige Absicht verfolgen lässt, die Eschenmayer mit ihr verbinden
möchte. Dies wird dort am deutlichsten greifbar, wo Eschenmayer
selbst auf den Unterschied zwischen »Philosoph« und »Laye«, zwi-
schen Philosophen und Nicht-Philosophen zu sprechen kommt. 182 Er
befürchtet nämlich, dass mit der Gleichsetzung von Absolutem und

178 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.


179
Ingo Kauttlis bemerkt, dass »die Inhaltsleere solchen Ahndens oder gar unmittel-
baren Wissens von dessen Repräsentanten durch stillschweigende Anleihen an der
positiven Religion überspielt wird« (Kauttlis 1994, 10).
180 Eschenmayer 1803, 41 (§ 50); Herv. v. Verf.

181 Vgl. GuW, TWA 2, 383: »Indem er im gemeinen Bewußtseyn unbewußt vorhan-

den ist, vermag der Glaube, und das, was aus dem Glauben kommt, rein zu seyn, denn
die Subjectivität und Endlichkeit liegt völlig jenseits, ohne Berührung und Beziehung
darauf; so bleibt aber der in die Philosophie eingeführte Glaube nicht; denn hier hat er
eine Rücksicht und Bedeutung des Negirens, und in diesem Negiren berührt und
dadurch erhält er die Subjectivität«.
182 Eschenmayer 1803, 35 f. (§ 45), 37 (§ 47), 42 (§ 51); vgl. Eschenmayer 1803, 33

(§ 42), 44 f. (§ 53).

404
Religion und Glaube

Gott nur den Philosophen die Erkenntnis Gottes zugänglich ist, die
Nicht-Philosophen von ihr ausgeschlossen blieben. Es ist gerade diese
Kluft zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, die durch die
Religion überbrückt werden soll. Während Begriffe und Ideen »nicht
mehr allgemeinfasslich« und »schwer verständlich« sind, wird,
»[g]erade dadurch, dass in der Religion weder Begriffe noch Ideen
gültig sind«, diese »wieder ein allgemeiner Antheil der Menschen,
und die Gleichheit, welche auf der Stufe der Spekulation verloren
gehen müsste, stellt die Religion für die gesammte Menschheit wie-
der her«. 183 Im Glauben macht sich Gott auf eine solche Weise kennt-
lich, dass der Umweg über die Spekulation sich erübrigt. Nur so stün-
de die Religion allen offen: »Der Glaube ist in allen Menschen und die
Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann sich
keines bessern rühmen, als der Laye«. 184 »Das Selige in uns ist das
allgemeine Gut, das unabhängig von Verdienst und Fähigkeiten, un-
abhängig von aller Spekulation und von allen Gütern der Erde, der
Laye wie der Philosoph auf gleiche Weise in sich aufbewahrt«. 185 Das
Ergebnis seiner Schrift fasst Eschenmayer so zusammen,
dass ich den Gott, welchen wir mit dem Volke anbeten, nicht für einen
Götzen unseres Verstandes, auch nicht für ein Ideal der Vernunft oder
für eine Ausgeburt der Spekulation überhaupt halte, […] welchem sich
der Philosoph in Gedanken mehr annähern könnte als das Volk«. 186
Der Begriff von Gott, wozu der Philosoph gelangt und auf welchen
Eschenmayer durch die Erwähnung des ›Ideals der Vernunft‹ deutlich
genug anspielt, kann ihm höchstens als ein Symbol gelten. Sobald
dieser Begriff mit dem Anspruch auf Erkenntnis verbunden wird, gilt
er ihm als ›Götze‹. Nur solange man ihn als bloßes Symbol oder blo-
ßen Versuch, das Unerkennbare zu artikulieren, gelten lässt, kann
man ihn als den Vorstellungen, die die Nicht-Philosophen sich von
Gott bilden, gleichberechtigt ansehen. Damit wird der Wahrheits-
anspruch jeglicher Rede von ›Gott‹ aus moralischen Erwägungen auf-
gegeben. Das Wort ›Gott‹ ist nur noch eine Chiffre, gut genug, um
eine bestimmte Art von Erfahrungen zu kommunizieren oder zu er-
zeugen. 187 Es ist somit nicht bloße Polemik, wenn Schelling den Glau-

183 Eschenmayer 1803, 27 (§ 35), 27 (§ 36), 35 f. (§ 45); Herv. v. Verf.


184 Eschenmayer 1803, 42 (§ 51); Herv. v. Verf.
185
Eschenmayer 1803, 36 (§ 45); Herv. v. Verf.
186 Eschenmayer 1803, 106 (§ 100); Herv. v. Verf.
187
Die Analogie mit dem Vorhaben Jaspers’ ist erstaunlich. Auch für ihn ist an den

405
5. Kapitel. Politik und Religion

ben Eschenmayers mit einem ›Volksglauben‹ in Verbindung bringt,


sondern durchaus mit dessen Selbstverständnis in Übereinstim-
mung. 188
Fraglich bleibt, ob ein solcher Glaube imstande ist, die Kluft zwi-
schen ›Philosoph‹ und ›Laye‹ zu überbrücken. So ist es, erstens, zwei-
felhaft, ob Spekulation und Glaube sich überhaupt in einem konsis-
tenten existentiellen Entwurf vereinigen ließen. Zweitens ist auch
nicht ersichtlich, wie die Gegenstände oder Inhalte des Glaubens
einen allgemeinen Grund der Verständigung abgeben sollen, wenn
sie sich auf individuellsten Erfahrungen gründen und selbst die Sym-
bole, in welche diese sich artikulieren, nur durch ihre Rückbindung
an dieselben überhaupt bedeutsam sind. 189 Wenn der im Gefühl er-
schlossene ›Gegenstand‹ auch mittels des Symbols nicht wirklich
kommunizierbar ist, dann scheinen weder Gefühl noch Symbol sich
als Grundlage einer Volksreligion zu eignen. Dann ist die Nichtphi-
losophie nicht in der Lage, eine Grundlage für die soziale Bedeutsam-
keit der Religion zu legen, die Eschenmayer doch gerade durch die
starke Betonung der subjektiven Bedeutsamkeit derselben zu retten
gesucht hatte. 190

Chiffern der Transzendenz nur das Moment der Transzendenz von Bedeutung. Darin
findet sich der Kern seiner Kritik an Schelling, der nur deshalb von der Existenzerhel-
lung in eine ›Gnosis‹ verfallen sei, weil er das Moment der Transzendenz dadurch
verdeckt habe, dass es ihm nur auf eine Erschließung oder begriffliche Durchdringung
dessen, was sich in dieser Erfahrung zeigt (ihren Gehalt), ankomme. – Der Theologe,
so Eschenmayer, »muss es immer als einen Missgriff ansehen, die Religion mit der
Moral zu vermischen, die Offenbarung mit Ideen zu bereichern, und den höchsten
Punkt der Spekulation als Maasstab anzunehmen, die Chiffern der Gottheit zu en-
träthseln« (Eschenmayer 1803, 43 (§ 51); Herv. v. Verf.).
188 Nachdem Schelling im Vorbericht Eschenmayers Vorhaben als ein Versuch, »die

Philosophie aufs neue mit dem Glauben« zu »ergänzen«, charakterisiert hatte (Schel-
ling 1804, III f. / SW VI, 13), findet die zweite Erwähnung von ›Glauben‹ sich in der
Zusammensetzung ›Volksglaube‹ (Schelling 1804, 1 / 16), den Schelling ausdrücklich
von Religion im eigentlichen Sinn unterscheidet. Der Ausdruck kommt nur an dieser
einen Stelle von Philosophie und Religion vor und scheint dort besonders deshalb
eingeführt zu sein, um die Assoziation mit Eschenmayer herzustellen. Er wird zu-
nächst durch ›Volksreligion‹ (Schelling 1804, 35 / 39), schließlich durch ›Mythologie‹
ersetzt (Schelling 1804, 74b–76 / 65–67).
189 Ein ähnliches Argument auch in Whitehead 1927, 53 f., 56, 71; Kauttlis 1994, 10.

190 Zudem ebnet Eschenmayer den Unterschied zwischen natürlicher und ziviler Un-

gleichheit dadurch ein, dass er den Unterschied zwischen »Philosoph und Laye« in
einer Reihe mit dem Unterschied zwischen »Mächtige[n]« und »Schwachen«, »Rei-
che[n]« und »Armen« stellt (Eschenmayer 1803, 36 (§ 45)). Übrigens operiert er

406
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

6. Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

Wie bereits bemerkt, unterlässt Schelling es, auf die These einzu-
gehen, die Eschenmayer durch seine ganze Schrift zu untermauern
suchte, nämlich die Bestimmung der Nichtphilosophie als einer ›von
aller Spekulation befreyten Theologie‹. Da der einzige, jedenfalls der
erste Gegenstand, der von sich aus ›der Speculation entrückt‹ ist, nach
Eschenmayer Gott ist, ist jene Gleichsetzung auch ganz folgerichtig:
Die Nichtphilosophie ist nur als Theologie möglich. Da aber auch
umgekehrt die Theologie nur als Nichtphilosophie möglich ist, hat
diese Bestimmung weitreichende Folgen für das Verfahren der Theo-
logie und für die ihr zulässige Art des Sprechens, da durch sie zu-
gleich der Wahrheitsanspruch theologischer Aussagen aufgegeben
ist. Eschenmayers Verständnis der nichtphilosophischen Theologie
kommt am Klarsten und Folgerichtigsten in folgenden zwei Sätzen
zum Ausdruck: »Die geringste Spekulation verderbt seine Reinheit
[sc. des Glaubens, R. S.]«, und: »Sobald aber jene [die Theologie,
R. S.] sich aufs Beweisgeben einläßt und der Spekulation das Beweis-
fodern zugesteht, so ist sie verloren«. 191 Das einzig angemessene
Sprechen von Gott kann ihn nur als unerkennbar behaupten und
mit dieser Erklärung der Unerkennbarkeit Gottes ist es zugleich be-
reits erschöpft. Eschenmayer scheint somit eine Art negativer Theo-
logie anzuvisieren. Negativ kann die von Eschenmayer angepeilte
Theologie insofern genannt werden, als sie sich zur Philosophie da-
durch ein negatives Verhältnis gibt, dass sie ihre einzige Aufgabe in
Bezug auf dieselbe darin sieht, ihren Anspruch auf eine Erkenntnis
Gottes zurückzuweisen. Sie ist aber außerdem auch insofern negativ,
als sie sich selbst zu ihrem eigenen Gegenstand nur negativ verhält,
da sie sich darin erschöpft, dessen Unerkennbarkeit zu behaupten. Die
theologische Rede kann somit höchstens eine symbolische sein. Auch
dort, wo sie sich dazu genötigt sieht, »aus der Sprache unserer Er-
kenntnisse« Ausdrücke zu entlehnen und auf Gott zu übertragen,
handelt es sich dabei doch nur um eine »bildliche Darstellung«, die
keinen Erkenntnisanspruch erhebt. 192 Eschenmayer selbst führt als
Beispiel die Dreieinigkeit an. Mit derselben trägt »die philosophische

immer mit nur zwei Kategorien, während Schelling außer den Freien und Nicht-Frei-
en noch eine dritte Klasse unterscheidet, die über diesem Gegensatz steht.
191 Eschenmayer 1803, 41 (§ 50), 44 (§ 52).

192
Eschenmayer 1803, 36 (§ 46).

407
5. Kapitel. Politik und Religion

Reflexion jene ewige Dreyeinheit, welche sie in sich selbst findet,


nicht als Inhalt, sondern nur als Symbol und Schema in den Glauben
hinein«. 193 Die Theologie nimmt »ihre Bilder, Würden und Eigen-
schaften aus unserer Erkenntnisswelt« und überträgt sie »im Super-
lativ auf das Uebersinnliche«. 194
In Philosophie und Religion geht Schelling mit keinem Wort auf
diese Hauptthese Eschenmayers ein. 195 Dies dürfte umso mehr ver-
wundern, als er bereits über einen Begriff der Theologie verfügte, den
er dem eschenmayerschen Theologie-Begriff hätte entgegensetzen
können, und dass er somit durchaus in der Lage war, Eschenmayer
in diesem Punkt zu entgegnen. Schelling selbst macht auf diese Lücke
in Philosophie und Religion ausdrücklich aufmerksam, indem er nur
ein Jahr später erklärt, dass der »bis jetzt namhafteste, aber ohne
Zweifel auch lezte Versuch, die Erkenntniss des Absoluten in eine
Subjectivität zu verwandeln« »dem Verf. nicht [unerwartet] seyn
[konnte]«, und zwar weil er »ihn in den Vorlesungen über die Metho-
de des akademischen Studiums […] so bestimmt vorhergesagt hat,
dass er jetzt nicht bestimmter davon schreiben könnte«. 196 Damit ver-
weist Schelling nachträglich auf eine Schrift, die er auffälligerweise in
Philosophie und Religion kein einziges Mal erwähnt hatte, wenn er
auch an mehreren Stellen deutlich auf sie anspielt oder sie sogar fast
wörtlich zitiert. 197 Gerade in jenen Vorlesungen hatte Schelling einen
Theologie-Begriff entwickelt, der als Gegenstück des eschenmayer-
schen Begriffs gelten könnte. Schelling scheint sich in Philosophie

193 Eschenmayer 1805, 122 f.


194 Eschenmayer 1805, 123.
195 Weder Theologie noch eine ihrer Ableitungen kommen in der ganzen Schrift vor.

196 Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150 f. Jenen Versuch scheint Schelling in den Vor-

lesungen Schleiermacher zuzuschreiben (vgl. Schelling 1803a, 150 / SW V, 278 f.).


Dass er ihn in den Aphorismen auf Eschenmayer bezieht, geht aus dem Aphorismus
hervor, wozu jene Anmerkung gehört. Dort heißt es nämlich: »Du redest von einer
Ahnung des Göttlichen, einem Glauben, den du höher setzest als die Erkenntniss«
(Schelling 1805b, 17 / SW VII, 150 (§ 53); vgl. F. W. J. Schelling an C. A. Eschen-
mayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 158). – Am Schluss der Aphorismen
heißt es: »Die weitere Ausführung und die sinnbildliche Darstellung dieser Ansicht
gehört der Religionslehre an: sie dem Theil des Zeitalters weiter zu deuten, der sie bey
ihrer ersten Darstellung [* In der Schrift: Philosophie und Religion. Tübingen. 1804.]
nicht begriffen hat, fühle ich keinen Beruf. Ihr Sinn mag ruhen, bis er von selbst sich
aufthut« (Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197).
197
Vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59 mit Schelling 1803a, 31 f., 167 / SW V
224 f., 286; Schelling 1804, 73b / SW VI, 65 mit Schelling 1803a, 110 / SW V, 260 f.
und Schelling 1804, 75 / SW VI, 66 mit Schelling 1803a, 172 f. / SW V, 288 f.

408
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

und Religion somit absichtlich auf eine Auseinandersetzung mit dem


negativen Teil von Eschenmayers Unternehmen zu beschränken, und
damit auf die Widerlegung solcher Vormeinungen, die daran hindern,
die wirkliche Aufgabe der Philosophie in den Blick zu bekommen. 198
Dementsprechend können wir den positiven Teil von Schellings Auf-
gabe darin sehen, nicht eine ›von aller Spekulation befreyte‹, sondern
eine spekulative bzw. philosophische Theologie zu entwickeln.
Schelling entwickelt seinen eigenen Begriff von Theologie in der
achten und neunten der Vorlesungen über die Methode des acade-
mischen Studium. Die Erörterung dieses Begriffs im Rahmen einer
Vorlesungsreihe, die allem Anschein nach pflichtmäßig den Inhalt der
verschiedenen universitären Fächer abhandelt und sich dabei, trotz
einiger Modifikationen, weitgehend an der geläufigen Unterschei-
dung der drei Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz und Medizin) hält,
dürfte bereits dazu beitragen, sowohl Schellings eigentliche Intention
als auch die Radikalität ihrer Durchführung zu verschleiern. Auch die
harmlos wirkende Überschrift der neunten Vorlesung, die »Ueber das
Studium der Theologie« zu handeln verspricht, lässt nicht ersehen,
dass die Theologie, wovon hier die Rede sein soll, weder zur selben
Gattung gehört wie die damals an der Universität unterrichtete Theo-
logie noch auch mit der von Eschenmayer konzipierten Theologie auf
einer Ebene steht, sondern als eine grundsätzliche Alternative zu bei-
den gedacht ist. So lädt bereits die Bezeichnung ›Theologie‹ zu Miss-
verständnissen ein. Die Darlegungen gerade in diesem Teil der Vor-
lesungen sind denn auch nicht leicht durchschaubar und in der Tat
höchst kunstvoll verschlüsselt. 199 Auf diese Weise vermag Schelling

198 Auch der sich an der Veröffentlichung von Philosophie und Religion anschließen-
de Briefwechsel beschränkt sich ausschließlich auf eine wiederholte Erörterung der
Idee des Absoluten und der intellektuellen Anschauung (vgl. F. W. J. Schelling an
C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157 f.; F. W. J. Schelling
an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224).
199
Die achte und neunte Vorlesung gehören zudem zu einem Geflecht von mehreren
fast gleichzeitig verfassten Texten, die sich alle mit den religionsphilosophischen Fol-
gen der Naturphilosophie befassen. Zu nennen sind Ueber das Verhältniß der Natur-
philosophie zur Philosophie überhaupt, 1802 im Kritischen Journal der Philosophie
erschienen (vgl. Schelling 1802f, 14–20 / SW V, 116–120), der Zusatz zur Einleitung
der 1803 erschienenen zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (vgl.
Schelling 1803b, 86–88 / SW II, 72 f.), die im Winter 1802–1803 zum ersten Mal
gehaltenen und 1804 und 1805 in Würzburg wiederholten Vorlesungen über die Phi-
losophie der Kunst (vgl. SW V, 418–451). Wir werden in der Folge gelegentlich auf
diese Texte zurückgreifen.

409
5. Kapitel. Politik und Religion

bei der Behandlung der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie
und Religion bzw. Theologie sowie nach »ihre[r] institutionelle[n]
Entsprechung, d[er] Theologische[n] Fakultät«, »bewußt jede offene
Konfrontation vor seinen Hörern« zu vermeiden. 200 Zwar hebt er
durchgehend die Rolle der Philosophie als Zentralwissenschaft her-
vor, womit bereits »die Vorrangstellung der Philosophie auch gegen-
über Religion und Theologie hinreichend zum Ausdruck gebracht«
wäre, aber »bei der direkten Behandlung der Frage nach dem Verhält-
nis der Philosophie zur Religion« verhält er sich »defensiv und erklärt
lediglich, beide könnten einander nicht ersetzen«. 201 Auch wenn er
der Theologie die Stelle der ersten Wissenschaft einräumt, kann dies
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorrangstellung der Philoso-
phie dadurch unangetastet bleibt. Diese Unklarheit pflegt Schelling
insbesondere in den Vorlesungen, die sich unmittelbar mit dem
Christentum und der Religion befassen. Dies hindert nicht daran,
dass sich in denselben einige äußerst kühne Behauptungen finden,
die genau überdacht sein wollen, bevor man sich Schelling als Ge-
währsmann für die Grundlegung einer christlichen Philosophie aus-
erwählt.
Die Aufgabe der achten und neunten Vorlesung besteht darin, die
Bedingungen zu formulieren, unter welchen die Theologie als Wis-
senschaft möglich ist. Dies ist nach Schellings Behauptung nur auf
der Grundlage seines eigenen Systems möglich. Bereits damit ist ge-
sagt, dass dasjenige, was bislang Theologie genannt wird, nicht als
Wissenschaft gelten kann. Schelling will an dieser Stelle weder die
bestehende Theologie nachträglich begründen noch auch Hinweise
dazu geben, wie sie sich zu einer Wissenschaft reformieren ließe,
sondern stattdessen den Begriff einer spekulativen oder philosophi-
schen Theologie und damit etwas grundsätzlich Neues entwickeln.
Die Theologie muss auf die Philosophie und nicht, wie bislang, auf
den Glauben oder auf eine Offenbarung gegründet werden. Deshalb
wird dieser Begründungsversuch der Theologie von einer im Ton
äußerst scharfen Polemik mit den (zeitgenössischen) Theologen be-
gleitet. 202 Diesen fehlt ein adäquates Verständnis ihrer Wissenschaft.

200 Schuffenhauer 1984, 59.


201 Ebd.
202 Wenn Schelling bemerkt, dass er hier »den [wohl zeitgenössischen, R. S.] Zustand

der Theologie« hat berücksichtigen müssen (Schelling 1803a, 205 / SW V, 303), so


spricht er sonst meistens nur ganz im Allgemeinen, ohne Einschränkung, von den
»Theologen« (Schelling 1803a, 189 / SW V, 296), von den »christlichen Religionsleh-

410
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

Gerade dieses unzulängliche Verständnis ihrer eigenen Tätigkeit hin-


dert die Theologie daran, sich zu einer Wissenschaft zu entwickeln.
Die Theologen bedürfen somit bereits der Philosophie, um sich über
den Sinn ihrer Wissenschaft aufzuklären. Bereits von dem Grund-
begriff der Theologie – dem Begriff der Offenbarung – haben sie eine
nur dürftige Vorstellung: »Die Theologen behaupten, das Christent-
hum sey eine göttliche Offenbarung, die sie als eine Handlung Gottes
in der Zeit vorstellen«. 203 Nachdem Schelling vorher alle empirischen
Erklärungsversuche der Religion bzw. des Christentums als unzuläs-
sig zurückgewiesen hatte, lässt er sie hier ausdrücklich zu, wenn auch
nicht in einem absoluten Sinne, sondern in einer bloß polemischen
Beziehung: Gegen den Begriff der Offenbarung, wie er gemeinhin
verstanden wird, sind diese empirischen oder natürlichen Erklärungs-
arten durchaus zulässig. Damit scheint Schelling zwei widersprechen-
de Behauptungen aufzustellen: Zum einen wendet er sich gegen
solche Theologen, die alle Wunder und damit die Offenbarung weg-
zuerklären suchen, zum anderen richtet er sich auch gegen solche, die
behaupten, das Christentum sei ein Wunder oder eine Offenbarung.
Schelling fährt fort: »Die christlichen Religionslehrer können kei-
ne ihrer historischen Behauptungen rechtfertigen, ohne zuvor die
höhere Ansicht der Geschichte selbst, welche durch die Philosophie
wie durch das Christentum vorgeschrieben ist, zu der ihrigen ge-
macht zu haben«. 204 Die historischen Behauptungen, durch welche
die ›christlichen Religionslehrer‹ das Christentum zu rechtfertigen
und zu begründen suchen, sind mit dem Christentum selbst in Wider-
spruch. Gleich vorher hatte Schelling zwei solcher ›historischer Be-
hauptungen‹ diskutiert. Die erste bezog sich auf die Entstehung, die
zweite auf die »Ausbreitung« des Christentums. 205 Schellings Absicht
beschränkt sich nun nicht darauf, für die Behauptungen, die die
›christlichen Religionslehrer‹ nicht zu rechtfertigen vermochten, eine
tragfähige Begründung nachzuliefern, sondern er weist diese Be-
hauptungen selbst zurück: Weder ist der Ursprung des Christentums
durch eine Offenbarung zu erklären noch ist in dessen Ausbreitung

rer[n]« (Schelling 1803a, 191 / SW V, 297), von »alle[n] Dogmen der Theologie«
(Schelling 1803a, 192 / SW V, 297; Herv. v. Verf.). Erst ab Schelling 1803a, 198 /
SW V, 300 werden die Auswirkungen der »neueren Aufklärerey« auf die Theologie
ausdrücklich berücksichtigt.
203
Schelling 1803a, 189 / SW V, 296.
204 Schelling 1803a, 191 / SW V, 297; Herv. v. Verf.

205
Schelling 1803a, 189 f. / SW V, 296 f.

411
5. Kapitel. Politik und Religion

ein »besonderes Werk der göttlichen Vorsehung« zu sehen. 206 Zwar


bemerkt Schelling, dass die Theologen ›keine ihrer historischen Be-
hauptungen rechtfertigen‹ können ›ohne die höhere Ansicht der Ge-
schichte‹. Daraus folgt allerdings nicht, dass sie in der Lage gewesen
wären, diese ›historischen Behauptungen‹ zu rechtfertigen, wenn sie
der ›höheren Ansicht‹ fähig gewesen wären, sondern dass sie in die-
sem Fall gar nicht zu jenen Behauptungen gelangt wären, da diese
sich mit jener höheren Ansicht überhaupt nicht vertragen. Wenn zu-
dem die Rede davon ist, dass diese höhere Ansicht ›durch die Philoso-
phie wie durch das Christentum vorgeschrieben ist‹, dann ist damit
noch nicht besagt, dass sie der christlichen Ansicht der Geschichte
gleichzusetzen ist oder dass die Philosophie ihre Ansicht der Ge-
schichte sogar dem Christentum entlehnen würde. Das Christentum
schreibt eine solche höhere Ansicht nur insofern vor, als es selbst nur
mittels einer solchen erklärt werden kann. Die ›höhere Ansicht der
Geschichte‹ muss demnach zugleich die christliche Ansicht der Ge-
schichte erklären können. Sowohl die Offenbarung als auch die
christliche Ansicht der Geschichte treten hier lediglich als Gegen-
stand der Erklärung auf.
Der leitende Begriff der Geschichte ist der entscheidende Punkt
der beiden Vorlesungen. Schellings Darstellung ist allerdings darauf
angelegt, einer Verwechslung von philosophischem und christlichem
Geschichtsbegriff Vorschub zu leisten. Bereits die Überschrift der
achten Vorlesung ist irreführend. Diese lautet: »Ueber die historische
Construction des Christenthums«. Diese Vorlesung führt allerdings
nicht so sehr die historische als vielmehr die spekulative Konstrukti-
on des Christentums durch, indem sie zeigt, dass das Christentum als
Form der Religion in der Vernunft vorgezeichnet ist und deshalb als
eine notwendige Form von Religion aus derselben entwickelt werden
kann. Für diese Konstruktion ist die Vernunft somit weder auf die
Historie noch auch auf eine Offenbarung angewiesen: Sie vermag
sie vielmehr aus sich selbst, aus eigener Kraft zu finden. 207 Die his-
torische Konstruktion des Christentums, die übrigens auch die his-
torische Konstruktion des Heidentums umfasst, ist hingegen Aufgabe

206Schelling 1803a, 190 / SW V, 297.


207Vgl. z. B. Schelling 1803a, 185 f. / SW V, 295, wo dreimal auf engstem Raum die
Notwendigkeit der Konstruktion hervorgehoben wird. Damit ist auch jedes Mal ge-
sagt, dass es dazu keiner Offenbarung bedarf. ›Notwendigkeit‹, ›notwendig‹ usw.
kommen innerhalb der achten und neunten Vorlesung insgesamt 23 Mal vor, am
meisten im angedeuteten Zusammenhang.

412
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

der Theologie als Einzelwissenschaft. Sie kann allerdings erst auf der
Grundlage der spekulativen Konstruktion erfolgen, so wie diese von
der Philosophie bzw. der philosophischen Theologie geleistet wird.
Die Verwischung der grundlegenden Differenz zwischen spekulativer
und historischer Konstruktion und, damit zusammenhängend, zwi-
schen der philosophischen und der christlichen Ansicht der Geschich-
te hat innerhalb dieser beiden Vorlesungen systematischen Charak-
ter. Sie verschleiert die eigentliche Richtung der Argumentation. So
behauptet Schelling zunächst, dass die Theologie sich durch eine be-
sondere »historische Beziehung« auszeichnet, die er darauf zurück-
führt, dass »in dem Christenthum das Universum überhaupt als
Geschichte, als moralisches Reich, angeschaut wird, und dass diese
allgemeine Anschauung den Grundkarakter desselben ausmacht«. 208
Aufgrund dieser Erklärung liegt es nahe, die »höhere Ansicht der
Geschichte«, jedes Mal wenn von ihr in der Folge die Rede ist, mit
der christlichen Anschauung der Geschichte gleichzusetzen. 209 Die
Konstruktion der ›höheren Ansicht der Geschichte‹ ist jedoch Auf-
gabe der Philosophie. Zu dieser Verwechslung trägt nicht unerheblich
bei, dass Schelling im Rahmen der philosophischen Konstruktion der
Geschichte immer wieder auf Ausdrücke wie z. B. Vorsehung oder
Sündenfall zurückgreift, die auf eine christliche Ansicht zu deuten
scheinen.
Sowohl die höhere, philosophische Ansicht der Geschichte als
auch die im Christentum implizierte Anschauung der Geschichte set-
zen die philosophische Konstruktion möglicher Gestalten von Religi-
on voraus. Nach derselben sind zwei Dimensionen, Gestalten oder
Potenzen von Religion zu unterscheiden. Diese zwei Potenzen be-
zeichnet Schelling jedoch nicht immer einheitlich. Bald bezeichnet
er sie als Heidentum und Christentum, bald als Mythologie und
Mysterien, bald als die exoterische und esoterische Seite der Religion.
Man kann sagen, dass die erstgenannte Potenz eher auf die soziale
Funktion der Religion abhebt und an ihr dasjenige hervorhebt, wo-
durch eine Gemeinschaft zusammengehalten und wodurch aus einer
Menschenmenge erst eine Gemeinschaft oder ein ›Volk‹ wird. Die
jeweils letztgenannte Potenz streicht hingegen die subjektive Bedeut-
samkeit der Religion hervor, wonach diese den Einzelnen zu verwan-

208 Schelling 1803a, 167, 169 f. / SW V, 286, 287.


209
Schelling 1803a, 185 / SW V, 295.

413
5. Kapitel. Politik und Religion

deln und zu einem innigeren Selbstverständnis zu führen vermag. 210


›Heidentum‹ und ›Christentum‹ bezeichnen somit nicht nur zwei For-
men von Religion, sondern sie können auch dazu verwendet werden,
die zwei in jeder Religion enthaltenen und nachweisbaren Faktoren
zu bezeichnen. Da diese nur quantitativ different sind und jeder somit
sein Anderes in sich enthält, kann eine Religion auch durch den Fak-
tor bezeichnet werden, der in ihr gerade herrschend ist. Diese unter-
scheiden sich dadurch voneinander, dass jene Dimensionen in ihnen
unterschiedlich koordiniert sind. Danach sind in jeder Religion ›heid-
nische‹ und ›christliche‹ Elemente nachweisbar. Da diese Potenzen
a priori konstruierbar sind, können einzelne religiöse Erscheinungen
bei der historischen Forschung auch antizipiert werden. So kann man
nach dieser Konstruktion im Voraus wissen, dass es auch im ›Heiden-
tum‹, in welchem die Mythologie vorherrscht, Spuren des ›mysti-
schen‹ Elements geben muss. Das Umgekehrte gilt vom Christen-
tum. 211 Deshalb kommt Schelling zu Aussagen wie:
Hätte man den Begriff des Heydenthums nicht immer und allein von
der öffentlichen Religion abstrahirt: so würde man längst eingesehen
haben, wie Heydenthum und Christenthum von jeher beysammen wa-
ren und dieses aus jenem nur dadurch entstand, dass es die Mysterien
öffentlich machte […]. 212
Oder: »Die griechische Mythologie war nicht als solche Religion; sie
ist an sich nur als Poesie zu begreifen; Religion wurde sie erst in dem
Verhältniß, welches sich der Mensch nun selbst zu den Göttern (dem
Unendlichen) gab in religiösen Handlungen u. s. w.« (SW V, 454 (§ 52
Erl.); erste Herv. v. Verf.). Danach ist die Mythologie nicht selbst Re-
ligion, sondern das Heidentum unterscheidet sich dadurch, dass in
ihm die Religion »auf die Mythologie […] gegründet« ist, jene sich
mithin nur auf deren Grundlage entfalten konnte und sie durchgän-
gig voraussetzt (SW V, 454 (§ 52)).
Dass es diese zwei Formen von Religion gibt, lässt sich auf zweier-
lei Art beweisen: einmal apriorisch, dann auch historisch. Die aprio-
rische Konstruktion hat den Vorzug, dass sie zugleich zu zeigen ver-
mag, dass es außer diesen beiden keine anderen Formen von Religion
geben kann und dass die Möglichkeiten somit erschöpft sind. Es gibt
somit »zwey bestimmte verschiedene Ströme von Religion« oder

210
Eine entsprechende Unterscheidung findet sich auch in Whitehead 1927, 5–7, 37.
211 Schelling 1802f, 18 / SW V, 119.
212
Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.

414
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

»zwey Erscheinungen der Religion«: eine Naturreligion und eine


gänzlich sittliche Religion oder Offenbarungsreligion. 213 Da beide
Faktoren unterschiedlich koordiniert werden können und damit
immer noch vielfältige Ausprägungen zulassen, ermöglicht dieser di-
mensionale Religionsbegriff eine Typologie der Religionen, die es er-
laubt, verschiedene Religionsformen einer der beiden Grundtypen
zuzuordnen und zugleich auch innerhalb dieser Typen feinere Diffe-
renzierungen vorzunehmen (vgl. SW V, 418). 214 Wenn Schelling die
Durchführung einer solchen Typologie zu dieser Zeit auch nur skiz-
zenhaft andeutet, so ist das Programm, das ihm vorschwebt, deutlich
genug zu erkennen. 215 ›Heidentum‹ und ›Christentum‹ können je-
doch auch noch zu einem anderen Zweck als dem typologischen ver-
wendet werden. Man kann sich derselben nämlich nicht nur als Po-
tenzen, sondern auch zur Bezeichnung von Epochen bedienen. Nach
der eigentümlichen Strukturierung der Potenz des Heidentums kann
dieses nämlich nicht anders denn als eine erste Epoche gesetzt wer-
den. Damit werden die Potenzen in einem Nacheinander gesetzt. Nur
indem sie so gesetzt werden, sind sie sich auch wirklich entgegen-
gesetzt, sodass die eine die andere ausschließt: Durch die Potenz des
Christentums wird die Potenz des Heidentums als »unwiederbring-
lich verloren« oder als eine absolute Vergangenheit gesetzt. 216 Ferner
ist aufgrund dieser Typologie einsehbar, dass eine Offenbarungsreli-
gion, im Unterschied zur Naturreligion, notwendigerweise eine
Anschauung von Geschichte beinhaltet und dass es eine solche nur
insofern geben kann, als diese »nach zwey Seiten differenziirt er-
schein[t]« und die zweite Seite als die Umkehrung der ersten gedacht
wird. 217 Wenn es somit gelingt, die erste Seite, die der Naturreligion,
zu konstruieren, können wir daraus durch Umkehrung der konstitu-
tiven Bestimmungen derselben auch die Offenbarungsreligion nach
ihren wesentlichen Bestimmungen konstruieren. Dieser Begriff bzw.
diese Konstruktion der Geschichte bildet die Alternative für die Er-

213 Schelling 1803a, 193, 196 / SW V, 298, 299. Diese Einsicht gehört selbst zur »wah-
re[n] Vernunftreligion« (Schelling 1803a, 196 / SW V, 299).
214 Innerhalb dieser Typologie wäre das Judentum dem Heidentum, die indische und

persische Religion dem Christentum zuzuordnen (vgl. SW V, 425, 422 f.).


215 Besonders in den Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (vgl. SW V, 418–

451; auszugsweise Schelling 1803a, 167–186 / SW V, 286–295).


216 Schelling 1802f, 18 / SW V, 119.

217
Schelling 1803a, 179 / SW V, 292.

415
5. Kapitel. Politik und Religion

klärung der Entstehung und Verbreitung des Christentums durch


Offenbarung und Vorsehung und damit für die Behauptung der
Unerklärlichkeit derselben. Daraus folgt schließlich, dass »das Chris-
tentum als Gegensatz«, in der wirklichen Entgegensetzung mit dem
Heidentum und somit als eine bestimmte Epoche betrachtet, nur als
»Weg zur Vollendung« oder als »Uebergang« betrachtet werden
kann. 218 Christentum wie Heidentum lassen sich somit sowohl spe-
kulativ als auch historisch konstruieren. Die historische Konstruktion
des Christentums ist selbst erst dann vollständig, wenn sie zugleich
die historische Konstruktion des Heidentums in sich enthält.
Erst eine philosophische Konstruktion des Begriffs der Religion,
die die Mysterien und die Mythologie als zwei gleichgewichtige As-
pekte von Religion überhaupt hervortreten lässt, erlaubt es, auch
einen adäquaten Begriff sowohl des Heidentums als auch des Chris-
tentums zu konstruieren. Es handelt sich somit um einen tragfähigen
Religionsbegriff, der nicht einer bestimmten Form von Religion ent-
nommen ist und der es erlaubt, unterschiedlichste Gestalten von Re-
ligion als solche anzuerkennen. Diese werden nicht einfach auf einen
gemeinsamen Nenner gebracht, sondern Schellings Begriff ist beweg-
lich und anpassungsfähig genug, dass er auf unterschiedliche Formen
von Religion anwendbar ist, diese eben als Formen von Religion sicht-
bar macht, ohne die feineren Unterschiede einebnen zu müssen. 219

218 Schelling 1802f, 19 / SW V, 120; SW V, 448.


219
Trotzdem geschieht es immer wieder, dass Leser wieder in die Reflexionsgegen-
sätze verfallen, die Schelling mit seinen Konstruktionen zu überwinden sucht. So
stellt Christian Danz zwei Tendenzen in der Deutung der Religionsphilosophie Schel-
lings fest: »Im Resultat, so Jaeschkes Deutung, laufe Schellings religionsphilosophi-
sche Reformulierung der Querelle [des Anciens et des Modernes, R. S.] auf eine Rück-
führung des Christentums in die griechische Mythologie hinaus. Im Gegensatz zu
Jaeschke interpretierte Werner Becker Schellings identitätsphilosophische Christen-
tumsdeutung geradezu als eine Ablösung des Christentums von der griechischen My-
thologie. Schellings Intention sei es, so Becker, den christlichen Offenbarungsgedan-
ken geschichtsphilosophisch zu begründen« (Danz 2002, 198). Karl-Heinz Volkmann-
Schluck weist beide Positionen zurück: Es gehe Schelling nicht um eine »rückwärts
gewandte Flucht in den antiken Mythos«, denn »solche Zuwendung zur Antike nährt
sich aus der Gegnerschaft gegen das Christentum und bleibt erst recht unfrei«. Es
gehe Schelling aber auch nicht darum, eine »christliche Philosophie« zu entwickeln,
sondern etwas, das Volkmann-Schluck als »freie Religion«, Schelling selbst später als
philosophische Religion bezeichnet: »[F]rei ist die Religion, die nicht durch den Ge-
gensatz zu einer anderen, sondern allein durch sich selbst bestimmt ist. Darum hat das
Christentum nach Schelling die Freiheit seines Wesens so lange noch nicht erreicht,
als es sich noch in der Gegenstellung zur Antike befindet« (Volkmann-Schluck, 287).

416
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

Von diesem Gegensatz zwischen Heidentum und Christentum be-


hauptet Schelling, dass er »für sich zureichend [ist], das Wesen und
alle besondere Bestimmungen des Christenthums einzusehen«. 220
Für die Ableitung keiner dieser besonderen Bestimmungen ist es
demnach erforderlich, auf eine andere Instanz als auf die Vernunft
zurückzugreifen. Aus jenem Gegensatz ist einsehbar, dass die »erste
Idee des Christenthums« »nothwendig der Menschgewordene Gott,
Christus als Gipfel und Ende der alten Götterwelt« und damit die Idee
der Trinität ist. 221 Schelling vermag den Theologen kein adäquates
Verständnis dieser grundlegenden Idee des Christentums zu beschei-
nigen: »Von der Idee der Dreyeinigkeit ist es klar, daß sie, nicht spe-
culativ aufgefaßt, überhaupt ohne Sinn ist«. 222 Dies geht auch daraus
hervor, dass die Theologen die Idee einer ›Menschwerdung Gottes in
Christo‹ nicht spekulativ, sondern ganz empirisch aufgefasst haben.
Stattdessen behauptet Schelling: »Die Menschwerdung Gottes ist also
eine Menschwerdung von Ewigkeit«; der »Mensch Christus« hin-
gegen ist »in der Erscheinung nur der Gipfel und in so fern auch
wieder der Anfang« der Menschwerdung Gottes. 223 Nachdem Schel-
ling den Theologen bereits das Verständnis der nicht nur für ihre
Wissenschaft tragenden, sondern für die christliche Religion grund-
legenden Begriffe der Offenbarung, des Wunders, der Dreieinigkeit
abgesprochen hat, fügt er dem noch eine weitere kühne Behauptung
hinzu: Er leugnet die Einzigkeit Christi, indem er bemerkt, dass »in
Christo zuerst Gott wahrhaft objectiv geworden« ist, da niemand
»vor ihm […] das Unendliche auf solche Weise geoffenbaret [hat]«. 224
Damit wird zwar behauptet, dass Christus als Erster, zugleich aber
geleugnet, dass er als Einziger Gott ›auf solche Weise geoffenbaret‹
habe. Es ist jedoch nicht nötig, sich auf Implikationen des Gesagten zu
stützen, da Schelling wenig später ausdrücklich erklärt, dass die Be-
wohner Indiens es »bloß seltsam« fanden, dass »bey den Christen nur
Einmal geschehen sey, was sich bey ihnen oftmals und in steter Wie-
derholung zutrage«, wodurch sie bezeugten »von ihrer Religion mehr
Verstand gehabt [zu] haben, wie die christlichen Missionarien von der
ihrigen«, indem diese an der Einmaligkeit einer solchen Menschwer-

220 Schelling 1803a, 180 / SW V, 292; Herv. v. Verf.


221 Schelling 1803a, 180 / SW V, 292; Herv. v. Verf.
222
Schelling 1803a, 192 / SW V, 297.
223 Schelling 1803a, 192 f. / SW V, 298; Herv. v. Verf.
224
Schelling 1803a, 193 / SW V, 298; Herv. v. Verf.

417
5. Kapitel. Politik und Religion

dung glaubten. 225 Die Menschwerdung Gottes ist somit weder ein
einmaliges noch auch ein historisches Ereignis. 226
Besonders im Zusammenhang der Idee der Dreieinigkeit findet
sich bei Schelling ein kaum durchschaubares Zusammenspiel unter-

225 Schelling 1803a, 195 / SW V, 299; Herv. v. Verf.


226 Beachtung verdient noch folgende Stelle: »Was seiner [Christus, R. S.] Sache den
höchsten Schwung gab, war die letzte Katastrophe seines Lebens und das vielleicht
beispiellose Ereigniß, daß er den Kreuzestod überwand und lebendig wieder hervor-
ging, eine Thatsache, welche etwa als Allegorie wegerklären und also als Faktum
leugnen zu wollen, historisch wahnsinnig ist, da diese Eine Begebenheit die ganze
Geschichte des Christenthums gemacht hat. Alle Wunder, die man nachher auf dieß
Eine Haupt häufte, hätten dieß nicht vermocht« (SW V, 425; Herv. v. Verf.). Diese
Stelle ist mit folgende zusammenzulesen: »Hier besteht eine Hauptkunst darin, so
viel Wunder als möglich aus der Bibel weg oder heraus zu erklären, welches ein eben-
so klägliches Beginnen ist, als das umgekehrte, aus diesen empirischen, noch dazu
höchst dürftigen, Factis die Göttlichkeit der Religion zu beweisen. Was hilft es, noch
so viele hinwegzuschaffen, wenn es nicht mit allen möglich ist, denn auch nur Eines
würde, wenn diese Beweisart überhaupt Sinn hätte, so viel wie tausend beweisen«
(Schelling 1803a, 203 / SW V, 302). – Wir müssen uns an dieser Stelle auf einige
vereinzelte Beobachtungen beschränken. 1) Zunächst scheint Schelling zu behaupten,
dass das Unterfangen, die im Neuen Testament erzählten Wunder wegzuerklären,
unsinnig ist, da es letztlich an der Auferstehung als dem einzigen Wunder, das nicht
wegerklärt werden kann, scheitern muss. 2) Bei näherer Betrachtung zeigt sich aller-
dings, dass jenes Unterfangen nicht deshalb unsinnig ist, weil darunter einige wirk-
liche Wunder sind, sondern weil vielmehr die überlieferten Fakten so dürftig sind,
dass sie eine Entscheidung in allen Einzelfällen nicht zulassen. Das Unternehmen ist
aber nur dann sinnvoll, wenn es für alle Fälle durchgeführt werden könnte. Jedenfalls
gibt Schelling durch die Erklärung, dass manche Wunder erst ›nachher auf dieß Eine
Haupt‹ gehäuft wurden, also spätere Zusätze sind, zu verstehen, dass er die Ergebnisse
jener Nachforschungen durchaus billigt (vgl. auch Schelling 1803a, 201–203 / SW V,
302; SW V, 426 über die erfundenen Fabeln, die in der Biographie Christi verwoben
sind). Bereits die Überlieferungslage erschwert somit erheblich die Entscheidung, ob
es sich im Fall der Auferstehung tatsächlich um ein Wunder handelt oder nicht. Das
Wunder der Auferstehung kann somit weder bewiesen noch widerlegt werden. 3) Der
Versuch, die Wunder aus dem Neuen Testament wegzuerklären, ist polemisch moti-
viert: Es richtet sich gegen den Versuch, die Göttlichkeit Christi bzw. des Christen-
tums aus Wundern zu beweisen. Da die Göttlichkeit des Christentums sich gar nicht
durch Wunder als empirische Fakten beweisen lässt, so ist die Polemik gleich unsin-
nig. Selbst wenn es gelingen könnte, die Auferstehung unwiderleglich als ein Wunder
zu beweisen, wäre damit für den Beweis der Göttlichkeit des Christentums noch gar
nichts gewonnen. 4) Auch eine allegorische Erklärung der Auferstehung, wonach die
Erzählung dieses Ereignisses nur eine allgemeine Idee vermitteln soll, z. B. dass »Alles
Endliche höherer Vermittlungen bedarf um mit der Göttlichkeit zusammenzuhän-
gen«, hilft hier nicht weiter (Schleiermacher 1799, 321 f.). (Eine Alternative zur alle-
gorischen wäre die symbolische ›Erklärung‹.) 5) Gerade gegen diesen allegorischen
Erklärungsversuch richtet Schelling seine Bemerkung, dass es ›historisch wahnsinnig‹

418
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

schiedlicher, oft scheinbar widersprüchlicher Behauptungen (vgl.


SW V, 431–433). Seine leitende These lautet, dass die Idee der Drei-
einigkeit »von ganz philosophischem Gehalt« ist (SW V, 431). Sie ist
somit kein Symbol oder keine Darstellung einer Idee, sondern selbst
eine Idee. Allerdings war es »der ersten Anlage nach unmöglich, daß
sie [die Ideen der drei Personen Gottes, R. S.] sich symbolisch gestal-
ten konnten« (SW V, 431). Diese Ideen lassen somit bereits aufgrund
ihrer Natur keine Symbolisierung oder Darstellung mittels der Natur
zu. Dennoch wurden sie »gleich anfänglich völlig unabhängig von
ihrer speculativen Bedeutung, ganz historisch, buchstäblich genom-
men« (SW V, 431), d. h. so, dass sie »überhaupt ohne Sinn« sind und
dabei »schlechterdings nicht zu denken seyn kann«. 227 Da diese Ideen
nicht symbolisiert oder durch die Natur dargestellt werden können,
können sie nur mittels bestimmter historischer Gestalten, die jene
Ideen verstanden und verkörpert haben, zur Darstellung gelangen.
Schließlich behauptet Schelling jedoch, dass die Idee des Sohns und
die der Mutter Gottes, im Unterschied zur Idee des Vaters und des
Geistes, doch einer symbolischen Darstellung fähig sind. 228 Aus der
Idee der Dreieinigkeit als erster Idee des Christentums vermag die

wäre, diese ›eine Thatsache als Faktum leugnen zu wollen‹. Da aufgrund von (2.) be-
zweifelt werden kann, ob Schelling die Auferstehung als eine unwiderleglich bewie-
sene historische Tatsache annimmt, so dürfte das historisch Wahnsinnige jener Erklä-
rung darin liegen, dass man sich dadurch des Mittels begibt, ›die ganze Geschichte des
Christenthums‹ zu verstehen, da die Verbreitung und Wirkung, die es entfaltet hat,
durch diese ›Eine Begebenheit gemacht‹ wurde. 6) Zu beachten ist schließlich, dass die
Auferstehung Christi als ein ›vielleicht beispielloses Ereigniß‹ apostrophiert wird.
Damit meldet Schelling Zweifel sowohl an der Einmaligkeit als an der Erstmaligkeit
dieses Ereignisses an. – Die Auferstehung Christi wird in Philosophie und Religion
kein einziges Mal erwähnt. Dafür wird Auferstehung einmal im Zusammenhang der
Mysterien erwähnt: Die Absicht der »pracktische[n] Lehre« derselben »geht auf Be-
freyung der Seele von dem Leib als ihrer negativen Seite«. Diese praktische Absicht
liest Schelling daran ab, dass »der Eingang in die alten Mysterien als eine Dahingabe
und Opferung des Lebens, als ein leiblicher Tod und eine Auferstehung der Seele
beschrieben wurde« (Schelling 1804, 77 f. / SW VI, 68; vgl. Schelling 1804, 71 f. /
SW VI, 62).
227 Schelling 1803a, 192 / SW V, 297 f.

228 Vgl. Allwohn 1927, 40: »In diesen und anderen Ausführungen Schellings über

Christus finden sich unklare und widerspruchsvolle Bestimmungen, was daher


kommt, daß nicht weniger wie drei verschiedene Betrachtungensweisen ohne deut-
liche Unterscheidung ineinander übergehen. Erstens wird Christus vom Standpunkt
der griechischen Mythologie aus angesehen, zweitens vom Standpunkt der christ-
lichen und drittens von den Forderungen aus, die Schelling für die Entstehung einer
neuen Mythologie aufstellt«.

419
5. Kapitel. Politik und Religion

Vernunft alle weitere Bestimmungen desselben abzuleiten: Das


Christentum vermag sich, erstens, nur mittels einer Anschauung des
Universums als Geschichte zu artikulieren, wenn diese vom Chris-
tentum verlangte Geschichtsanschauung auch nicht mit der philo-
sophischen Konstruktion der Geschichte verwechselt werden darf.
Ferner ist es notwendigerweise Monotheismus, während die Natur-
religion notwendig Polytheismus ist. 229 Innerhalb des Christentums
ist, drittens, eine Symbolik im eigentlichen Sinne unmöglich. Dieser
Mangel soll, schließlich, durch die Begriffe des Wunders und der
Offenbarung gehoben werden.
Nicht nur geht Schelling nicht auf Eschenmayers Hauptthese zur
Theologie ein, sondern es gelingt ihm, in einer Schrift, die das Ver-
hältnis von Philosophie und Religion zu behandeln verspricht, das
Christentum nur ein einziges Mal zu erwähnen. Dort, wo es offen-
sichtlich gemeint ist, wird es dennoch nicht ausdrücklich genannt. 230
Die Erwähnung findet sich im »Anhang« zu dieser Schrift, in wel-
chem sonst nur von Religion die Rede ist. Das Verhältnis der in dieser
Schrift entwickelten philosophischen Lehre zum Christentum wird
damit im Unklaren belassen. Es bleibt dem Leser überlassen, sich aus
dem Gesagten die angemessene Erläuterung für Schellings Ansicht
dieses Verhältnisses zu nehmen. 231 Dieses Vorgehen dürfte zunächst
durch Vorsicht eingegeben sein. So betont Schelling gerade im »An-
hang« mehrmals und emphatisch die Übereinstimmung zwischen
Philosophie und Religion. Solange jedoch unbestimmt bleibt, was da-
bei unter ›Religion‹ zu verstehen ist, bleibt auch die Behauptung un-
bestimmt. Schelling dürfte damit rechnen, dass der unaufmerksame
Leser sich durch eine solche Erklärung beruhigen lässt, indem dieser
unter Religion ohne weiteres die christliche Religion verstehen wird.
Er legt diesem die Meinung nahe, dass seine Lehre mit dieser in Ein-
klang ist. So reichte bereits die Verwendung des Worts ›Abfall‹ aus,
um Schelling die Intention einer philosophischen Rechtfertigung der
christlichen Sündenlehre zuzuschreiben. Ob der Leser die Ausfüh-
rung dann als gelungen erachtet, ist eine andere Frage. Jedenfalls
scheint Schelling den Leser absichtlich über seine Intention mit dieser
Schrift im Unklaren lassen zu wollen. Während die Intention von
Eschenmayers Schrift »vor Augen liegt«, lässt sich dasselbe wohl

229
Schelling 1803a, 171 f. / SW V, 288.
230 So z. B. Schelling 1804, 2 / SW, VI, 16 f.
231
Vgl. Schelling 1805b, 85 f. / SW VII, 196.

420
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

kaum von Philosophie und Religion behaupten. 232 Der Leser, dem der
Inhalt der ganzen Schrift noch gegenwärtig ist, dürfte sich weder
durch solche allgemeinen Versicherungen beruhigen lassen noch die
genannte Intention als selbstverständlich hinnehmen. So war bereits
durch die Kritik an der Unterscheidung von Gott und Absolutem im
ersten Abschnitt die Rede von einem Gott, der sich offenbart und der
aufgrund seiner Unerkennbarkeit nur geglaubt werden kann, grund-
sätzlich problematisiert. Ferner hat Schelling die Lehre einer creatio
ex nihilo keineswegs philosophisch zu rechtfertigen gesucht, sondern
sie unmissverständlich als den »roheste[n] Versuch«, sich das Ver-
hältnis von Gott und den endlichen Wesen einsichtig zu machen, zu-
rückgewiesen und als eine Vorstellung, die lediglich der »Volksreli-
gion« angehört, apostrophiert. 233 Außerdem haben wir zu zeigen
versucht, dass es wenigstens nicht unproblematisch ist, die Lehre
vom Abfall als eine Sündenfallslehre zu interpretieren, und dass auch
die Interpreten, die Schelling eine solche Intention zuschreiben, nicht
umhin können, Widersprüche in der Durchführung festzustellen, die
einem auch nur ein wenig in der Theologie versierten Autor schwer-
lich entgangen sein könnten. Schließlich wurde im dritten Abschnitt
eine Sittenlehre angedeutet, die jeden Versuch, die Sittlichkeit als
eine »Unterwerfung unter das Gesetz« zu denken, resolut zurück-
weist und stattdessen die wahre Sittlichkeit nur in der Verwirk-
lichung der eigenen Natur sucht (SW VI, 565). 234 Daran schloss sich
eine Lehre an, wonach wir der Unsterblichkeit »hier schon« gewiss
sein können. 235 Damit hat Schelling das anfangs formulierte Pro-
gramm, diejenige Fragen, wofür bislang nur die Religion sich zustän-
dig erklärte, wieder der Philosophie zu »vindiciren«, durchgeführt. 236
Dieses Programm scheint kaum der Intention entsprungen, sich an
einer philosophischen Rechtfertigung der christlichen Lehre zu ver-
suchen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ›brennende‹ Charak-
ter dieser Schrift gerade in dieser Intention zu suchen ist, die Schel-
ling allerdings durch absichtliche Unklarheit der Mehrzahl seiner
Leser zu entziehen sucht. 237

232 Schelling 1804, 4 / SW VI, 18.


233 Schelling 1804, 31, 35 / SW VI, 36, 39.
234 Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55; SW VI, 558.
235
Schelling 1804, 74a / SW VI, 64.
236 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.
237
Vgl. Schelling 1804, VI / SW VI, 15.

421
5. Kapitel. Politik und Religion

Während Schelling somit die Übereinstimmung von Philosophie


und Religion mit Nachdruck hervorhebt, so hat die einzige Stelle, die
das Christentum nennt, eine durchaus kritische Pointe. Dort heißt es
nämlich zum einen, dass »Heydenthum und Christenthum von jeher
beysammen waren«. 238 Damit werden Heidentum und Christentum
für gleichberechtige Gestalten der Religion erklärt. Zum anderen be-
merkt Schelling, dass das Christentum aus dem Heidentum
nur dadurch entstand, daß es die Mysterien öffentlich machte: ein Satz,
der sich historisch durch die meisten Gebräuche des Christenthums, sei-
ne symbolischen Handlungen, Abstufungen und Einweihungen durch-
führen ließe, welche eine offenbare Nachahmung der in den Mysterien
herrschenden waren. 239
Damit macht er auf einen historischen Zusammenhang aufmerksam.
An einer früheren Stelle hieß es indessen bereits fast gleichlautend,
dass »[i]n den spätern Zeiten […] die Mysterien öffentlich« gemacht
wurden, ohne dass das Christentum dort erwähnt wurde. 240 Schelling
lässt es an dieser Stelle der Einleitung vielmehr absichtlich noch in
der Schwebe, welche ›Zeiten‹ er meint und welche Instanz für die
öffentliche Bekanntmachung der Mysterien verantwortlich war.
Wenn Schelling vom Christentum behauptet, dass es dadurch aus
dem Heidentum entstand, dass ›es die Mysterien öffentlich machte‹,
dann scheint er damit jedenfalls nicht zu meinen, dass diese ur-
sprünglich nur wenige zuließen, die Mehrzahl aber ausschlossen, da
er nichts so betont wiederholt, als dass die Mysterien sich nicht auf
eine kleine Gruppe oder selbst nur auf die Mitglieder einer bestimm-
ten Nation beschränkten, sondern dass grundsätzlich jeder daran teil-
nehmen dürfte. 241 Wir dürften uns Schellings Meinung mit jener
Behauptung schon eher nähern, wenn wir bedenken, dass er die Mys-
terien insbesondere als eine Institution ausgezeichnet hatte, die dem
natürlichen Unterschied zwischen Nicht-Freien, Freien und Philoso-
phen gerecht zu werden vermochte. Obwohl nach außen hin allen
zugänglich, waren sie ihrer inneren Verfassung nach doch so einge-
richtet, dass sie jene Rangordnung durchgängig berücksichtigten.
Diese Rangordnung kann nun dadurch öffentlich gemacht werden,
dass sie sich als eine institutionelle Hierarchie darstellt. In der Tat

238 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.


239
Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.
240 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16.
241
Schelling 1804, 75 / SW VI, 66; vgl. Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

422
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

hebt Schelling an der Kirche, die er für ein Analogon der Mysterien
hält, insbesondere die hierarchische Organisationsform hervor, wäh-
rend er zugleich betont, wie sie zugleich alle aufnehmen soll (vgl.
SW V, 435). In Philosophie und Religion heißt es, dass das Christen-
tum insbesondere seine symbolischen Handlungen und Gebräuche
sämtlich den Mysterien entlehnt habe. 242 Diese Handlungen finden
ihre Einheit in der Kirche oder in einer kirchlichen Organisation. Da
auch die Mysterien eine gestufte oder hierarchische Einrichtung sind,
hat es somit einen guten Grund, dass auch eine kirchliche Organisa-
tion hierarchisch aufgebaut ist: Die Kirche »bildete sich nothwendig
zur Hierarchie, deren Urbild in der Ideenwelt lag« (SW V, 434; Herv.
v. Verf.). 243 In diesem Zusammenhang blendet Schelling die christ-
liche Theologie und Dogmatik und alles Spekulative völlig aus und
beschränkt seine Überlegungen ganz auf die Form der kirchlichen
Institution. Jedenfalls ist die Kirche damit als eine in ihrem Prinzip
widersprüchliche Einrichtung gedacht, insofern sie dasjenige öffent-
lich zu machen sucht, »was seiner Natur nach nicht öffentlich und
real seyn konnte« oder eine natürliche Ungleichheit in einer konven-
tionellen abzubilden sucht. 244
Alle Bestimmungen des Christentums lassen sich auf die Umkeh-
rung des ursprünglichen und für das Heidentum charakteristischen
Verhältnisses von Mysterien und Mythologie als seines Prinzips zu-
rückführen. Durch diese Umkehrung treten die beiden Potenzen aller
Religion, die sich im Heidentum in einem Verhältnis der Indifferenz
zueinander befinden, in ein gegenseitiges Spannungsverhältnis. Die-
se Spannung zwischen der subjektiven Bedeutsamkeit und der sozia-
len Funktion der Religion ist für das Christentum charakteristisch
und innerhalb desselben unauflösbar. Es ist deshalb nicht lediglich
durch ihren Ort innerhalb von Vorlesungen über die Philosophie der
Kunst motiviert, wenn die Frage nach der Möglichkeit einer christ-
lichen Mythologie Schelling derart beschäftigt, sondern sie ent-
springt dem Grundproblem des Christentums, trotz des Vorherr-
schens der subjektiven Bedeutsamkeit zugleich eine soziale oder

242 Vgl. Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.


243 Diese Formulierung ist fast gleichlautend mit derjenigen, die Schelling in Philoso-
phie und Religion (vgl. Schelling 1804, 73b / SW VI, 65) und in den Vorlesungen über
die Methode des academischen Studium (vgl. Schelling 1803a, 110 / SW V, 260) dort
verwendet, wo er die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien einführt. Zur Ge-
schichte der Kirche vgl. SW V, 434 f.; SW VII, 463–465.
244
Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.

423
5. Kapitel. Politik und Religion

gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllen zu müssen. Die Grundrich-


tung des Christentums hebt nämlich »alle symbolische Anschauung«
auf, ohne jedoch auch das Bedürfnis nach einer Mythologie dadurch
aufheben zu können (SW V, 447). In ihrer Funktion als das Handeln
orientierende und motivierende Kraft, die eine Menschenmenge zur
Einheit zu bringen vermag, ist die Mythologie nämlich unersetzbar.
Obwohl seinem eigentlichen Prinzip nach mythologie-feindlich, be-
darf das Christentum als Religion dennoch einer Mythologie. Das
Christentum als ›Katholizismus‹ ist der hybride Versuch, jenes
Grundproblem zu lösen. Im ›Protestantismus‹ tritt das ursprüngliche
mythologie-feindliche Prinzip erneut hervor. Beide werden von
Schelling ambivalent gedeutet, da beide für ihn nur unterschiedliche
Gestalten desselben Widerspruchs sind. 245 Damit kehrt der Gegensatz
von Heidentum und Christentum innerhalb des Christentums als
Gegensatz zwischen ›Katholizismus‹ und ›Protestantismus‹ wieder.
Im ›Katholizismus‹ ist das mythologische Moment erneut vorherr-
schend. Dies sucht Schelling mittels des Begriffs der symbolischen
Handlung zu entwickeln. 246 Symbolische Handlungen sind solche,
durch welche ein Endliches eine Verwandlung erfährt und zum Sym-
bol des Unendlichen wird. Innerhalb der Potenz des Christentums ist
die Symbolik nur im Bereich des Handelns möglich. Wie wir gesehen
haben, bedeutet ein Symbol eine Idee und hat dadurch einen speku-
lativen Gehalt, ist darüber hinaus »für sich selbst bedeutend« und hat
ein unabhängiges Leben (SW V, 447): »Nur in der Historie konnte
eine solche Religion mythologischer Stoff werden. Denn nur darin
erlangen sie [die Ideen, R. S.] eine Unabhängigkeit von ihrer Bedeu-
tung« (SW V, 455 (§ 52 Zus. 4)). Schelling behandelt hier der Reihe
nach alle möglichen Kandidaten für einen christlich-mythologischen
Stoff. Die Idee der Dreieinigkeit schließt er sofort aus, da diese nur
einen spekulativen Sinn haben kann. Auch die Engel, als Mittelwesen

245 Vgl. Schelling 1802f, 16 f. / SW V, 118; Schelling 1803a, 183 f., 200 f. / SW V, 294,
301; SW V, 440, 447. – Die mythologische und damit historische Beziehung des
Christentums ist durch den Protestantismus zerstört worden. In diesem zieht das
Christentum seine letzte Konsequenz, indem alle endlichen Formen zerstört werden:
»Aber wie alles Endliche im Christenthum in das Unendliche verschwimmt, so mußte
auch die Katholische Kirche sich selbst aus sich selbst ihren Zerstörer den Protestan-
tismus gebähren, mit deßen Daseyn sie als Katholische aufgehoben ist. Im Protestan-
tismus erlischt das Christenthum selbst, indem es in ihm seinen historischen Charac-
ter verliert« (nach Henry Crabb Robinsons Nachschrift der Philosophie der Kunst,
wiedergegeben in Behler 1976, 178). Vgl. Behler 1993, 292–295.
246
Zur Bedeutung solcher ›symbolischer Praktiken‹, vgl. Whistler 2013, 216–221.

424
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

zwischen Gott und Menschen, eignen sich, weil keine historische Ge-
stalten, nicht zum Stoff einer Mythologie. Die Suche nach einem
möglichen christlichen mythologischen Stoff gelangt erst dort an ihr
Ziel, wo das Wunder erwähnt wird (vgl. SW V, 429 f.): »Das Wunder-
bare in der historischen Beziehung ist nun der einzige mythologische
Stoff des Christenthums« (SW V, 439). Nur das Wunder erfüllt die
Anforderung, ›mitten in der Zeit über alle Zeit‹ zu sein und dadurch
einen Einschlag des Unendlichen in der Zeit darzustellen. Aus diesem
Grund hat man das Leben Christi so zu erzählen versucht, dass es ein
Wunder darstellt. Auch die Heiligen oder Propheten bieten als his-
torische Figuren einen solchen Stoff dar, da sie ihren historischen
Kontext zugleich überragen und eine von diesem unabhängige Be-
deutung haben (vgl. SW V, 436). Sie können somit als die großen
Gestalten angesehen werden, die die Einheit des Endlichen und Un-
endlichen darstellen, insofern diese in ihnen realisiert ist. Die christ-
liche Ansicht der Geschichte enthält demnach das Leben Christi, die
Heiligenlegenden sowie eine Kosmologie, »eine mythologische Erklä-
rung der concreten Welt, der Mischung des unendlichen und end-
lichen Princips in den sinnlichen Dingen« (SW V, 437). Der Abfall
Lucifers ist »eine wirklich mythologische Ansicht der Geschichte der
Welt« (SW V, 437). 247
Als Mysterien bezeichnet Schelling jedoch nicht lediglich eine be-
stimmte Institution, sondern auch und vor allem die Lehren, die dort
gelehrt werden. Diese scheinen dort, wo von den ›spätern Zeiten‹, da
die Mysterien ›öffentlich gemacht wurden‹, die Rede ist, auch in ers-
ter Linie gemeint. Sie umfassen die Lehre vom Absoluten, von der
ewigen Geburt der Dinge, eine praktische Lehre und die Lehre von
der Unsterblichkeit. 248 Durch die Einrichtung der Mysterien waren
sie vom Volksglauben strengstens getrennt und erst durch eine all-
mähliche, stufenweise Einweihung erlernbar. Durch die Aufhebung
der stufenweisen Einweihung vermischen jene Lehren sich mit Vor-
stellungen aus dem Volksglauben, wodurch sie »ihre Natur völlig

247 An dieser Stelle wird der Abfall als ein Mythologem oder als Sündenfall betrach-
tet. An anderer Stelle gibt Schelling jedoch zu verstehen, dass diese Erklärung nichts
erklärt: »Nun scheint die Solicitation zum Bösen selbst nur von einem bösen Grund-
wesen herkommen zu können«, und: »Wir können aber auch nicht etwa einen ge-
schaffenen Geist voraussetzen, der, selbst abgefallen, den Menschen zum Abfall soli-
zitirte, denn eben wie zuerst das Böse in einer Kreatur entsprungen, ist hier die Frage«
(Schelling 1809a, 452, 453 / SW VII, 374, 375).
248
Schelling 1804, 3 / SW VI, 17.

425
5. Kapitel. Politik und Religion

umwandelten«. 249 Auf diese Bekanntmachung der Lehren der Myste-


rien ist das spannungsvolle Verhältnis von Philosophie und Religion
zurückzuführen.
Wenn Schelling schließlich auf die Bestimmung der Aufgabe der
Theologie als Einzelwissenschaft zu sprechen kommt, sind seine Be-
hauptungen nicht weniger kühn. Sie können auf drei Thesen zurück-
geführt werden. Zunächst soll die Theologie Wissenschaft sein und
keinen moralischen Zwecken unterworfen werden (Theologie ohne
Moral). 250 Zweitens plädiert Schelling für ein kritisches und philo-
logisches Studium der Bibel ohne Einmischung der Theologie (Bibel
ohne Theologie). 251 In der Bibel ist kein Wissen von Gott zu suchen.
Damit spricht Schelling der Bibel den Rang einer Offenbarung ab: Die
Idee des Christentums ist »nicht in diesen Büchern zu suchen«, die
somit keinen Glauben verlangen, sondern nur Stoff philologischer
Erforschung bilden. 252 Dadurch führt Schelling lediglich die damalige
Richtung des Bibelstudiums zu ihrer letzten Konsequenz: Die ganze
Theologie ist in Philologie zu verwandeln (vgl. bereits Plitt I, 39–49).
Eine solche »gänzlich profane Scienz« kann allerdings nicht länger
das »Fundament der Theologie« abgeben. 253 Umgekehrt ist drittens
die Theologie vom Bibelstudium zu trennen (Theologie ohne Bibel):
Die Lehre oder Idee des Christentums ist nicht in den heiligen Bü-
chern zu suchen, da diese erst später in diese hineingelegt worden
ist. 254 Sonst »wurde« »der Glaube an seine Göttlichkeit [sc. die des
Christentums, R. S.] auf empirisch-historische Argumente gebaut«:
»Die Göttlichkeit des Christenthums kann schlechterdings auf keine
mittelbare Weise, sondern nur eine unmittelbare und im Zusammen-
hang mit der absoluten [d. h. spekulativen, philosophischen, R. S.]
Ansicht der Geschichte erkannt werden«. 255 »Die historische Con-
struction des Christenthums kann wegen dieser Universalität seiner
Idee nicht ohne die religiöse Construction der ganzen Geschichte ge-
dacht werden«. 256 In dieser Konstruktion ist aber das Heidentum mit
einbegriffen. »Eine solche Construction ist schon an sich selbst nur

249 Schelling 1804, 2 / SW VI, 17.


250 Vgl. Schelling 1803a, 204 / SW V, 303.
251 Vgl. Schelling 1803a, 205 f. / SW V, 303 f.
252 Schelling 1803a, 197 / SW V, 300.
253 Schelling 1803a, 202 / SW V, 302.
254
Schelling 1803a, 197 f. / SW V, 300.
255 Schelling 1803a, 202, 205 / SW V, 302, 303.
256
Schelling 1803a, 195 / SW V, 299.

426
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie

der höhern Erkenntnißart«, d. h. der Philosophie, »möglich, welche


sich über die empirische Verkettung der Dinge erhebt«. 257 Die Theo-
logie kann nur so zu einer Wissenschaft werden, dass sie sich auf die
Philosophie gründet, auf eine Lehre »von dem göttlichen Wesen«,
von »der Natur als dem Werkzeug« dieses Wesens und von »der Ge-
schichte als der Offenbarung Gottes«, auf die Lehren somit, die
Schelling in Philosophie und Religion für die Philosophie vindiziert
hatte. 258

257 Schelling 1803a, 195 / SW V, 299.


258
Schelling 1803a, 196 / SW V, 299; vgl. Schelling 1804, 3, 7 / SW VI, 17, 20.

427
Nachwort

»Philosophie und Religion« hat uns als Leitfaden bei der Darstellung
von Schellings Politischer Philosophie gedient. Da im Laufe dieser
Darstellung dennoch nur selten ausdrücklich von Politischer Philoso-
phie die Rede zu sein schien, dürfte es nicht überflüssig sein, am Ende
dieser Arbeit noch einmal auf diesen Begriff zurückzukommen, damit
dem Leser vielleicht im Rückblick deutlicher wird, inwiefern dieser
den eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung ausmacht. An die
Ergebnisse des fünften Kapitels anknüpfend können wir sagen, dass
Schellings Überlegungen zu den politischen Dingen auf das Argu-
ment hinausliefen, dass eine politische Theorie sich insofern erübrigt,
als der Staat als Zwangsinstitution keiner philosophischen Rechtfer-
tigung fähig ist. Die philosophische Behandlung des Politischen
nimmt zwangsläufig die Gestalt einer Kritik des empirischen Staates
an. Das politische Problem ließe sich dann nicht mit politischen Mit-
teln, sondern nur durch die Religion lösen. Wenn der Zusammen-
bruch der Naturrechtslehre auch in die Idee einer Neuen Mythologie
mündete, der Schelling die Aufgabe zuwies, ein hierarchisch geord-
netes Ganzes so zu begründen, dass die natürliche Ungleichheit zwi-
schen Freien und Nicht-Freien ihre angemessene Entsprechung in
einer politischen Ordnung findet, so ist doch leicht festzustellen, dass
die Durchführung einer solchen Neuen Mythologie bei Schelling
ebenso fehlt wie die einer politischen Theorie. Was wie ein Versäum-
nis und damit wie ein weiteres Indiz eines Scheiterns aussieht, dürfte
durch die Einsicht getragen sein, dass Mythologie als naturwüchsiges
Erzeugnis des menschlichen Bewusstseins sich nicht ›machen‹ lässt
und das Programm einer Neuen Mythologie somit nach dem Ein-
bruch der Offenbarungsreligion oder nachdem die Mysterien öffent-
lich gemacht wurden, undurchführbar ist. Dann würde der Begriff
einer Neuen Mythologie nicht so sehr ein politisches Programm be-
zeichnen, an dessen Ausführung Schelling gescheitert wäre, sondern
eher schon auf eine Aporie deuten, die dem Politischen innewohnt

429
Nachwort

und an welche jeder Versuch, das politische Problem zu lösen, letzt-


lich scheitern muss. ›Neue Mythologie‹ wäre damit nicht die Bezeich-
nung einer Lösung, sondern eines Problems. Statt eines neuen ›My-
thos‹ findet sich bei Schelling in der Tat nur eine neue Mythologie als
eine neue Wissenschaft des Mythischen. Die Gründung einer Neuen
Mythologie hat nämlich lediglich im Denken in der Gestalt einer Phi-
losophie der Mythologie zu erfolgen, in der Absicht nicht einer Lö-
sung des politischen Problems, sondern einer Auslotung im Denken
der Bedingungen, unter welchen es sich lösen ließe, und damit einer
gedanklichen Durchdringung der politischen als Alternative zur phi-
losophischen Lebensweise. Was Schellings politisches Handeln be-
trifft, so bestand dieses vor allem darin, für solche Instanzen ein-
zutreten, die innerhalb des Gemeinwesens auf die Grenzen der
Politik aufmerksam machen. Das vermeintliche Fehlen einer politi-
schen Theorie bei Schelling beruht somit auf einem Argument. Inso-
fern dieses mit einem hartnäckigen modernen Vorurteil bricht, hat
dieses Fehlen besonderen Anstoß erregt und Schelling politische Ver-
dächtigungen eingetragen.
Unser Gang durch Schellings Denken fing mit der Auseinander-
setzung zwischen Vernunft und Glauben oder zwischen Philosophie
und Nichtphilosophie an. Diese kreiste um die Bestimmung der Idee
des Absoluten und insbesondere um die Frage, inwiefern eine Unter-
scheidung von Gott und Absolutem tragfähig sei. In dieser ganzen
Auseinandersetzung setzt Schelling durchgängig voraus, dass sein
Gegner ihm eine einzige Prämisse zugibt, die jedoch niemals aus-
gesprochen wird, nämlich dass Gott Vernunft zuzuschreiben sei. Die
Vernunft ist das tertium comparationis zwischen Gott und Mensch.
Wer diese Prämisse zugibt, so Schellings Behauptung, der ist, falls er
konsequent denkt, dazu genötigt, auch alles das, was er aus ihr ablei-
tet, zuzugeben. Dabei verfolgt er die Absicht, seinen Gegner zu dem
Punkt zu führen, wo dieser genötigt ist, entweder diese Prämisse und
damit alle ihre Konsequenzen zu unterschreiben, oder aber einzuge-
stehen, dass seine eigene Position auf nichts als Glauben beruht und
einer rationalen Rechtfertigung somit auf keinerlei Weise fähig ist.
Deshalb kreist die Auseinandersetzung um die Frage, ob Gott als
transzendent zu denken ist, sodass er alle Bemühungen um rationale
Einsicht übersteigt, oder ob ein der Vernunft zugänglicher Begriff
von Gott möglich ist. Die zentrale Rolle, die die Idee des Absoluten
bei Schelling erhält, ist somit so wenig das Charakteristikum eines
bestimmten Stils des Philosophierens, als dass sie nach Schellings Be-

430
Nachwort

hauptung den eigentlichen und einzigen Gegenstand des Philosophie-


rens ausmacht. So viel geht jedenfalls aus seiner Auseinandersetzung
mit Fichte hervor, dass noch dessen Begriff des Ich sich auf der An-
nahme eines bestimmten – und, nach Schellings Behauptung, einer
rationalen Prüfung nicht standhaltenden – Begriffs des Absoluten
aufbaut. Diesen Gedanken wird Schelling erst viel später prägnant
so formulieren, dass der Mensch natura sua das Gott-Setzende We-
sen ist (vgl. SW XI, 185, 198). Es hängt somit nicht vom Belieben oder
von einer Vorliebe ab, ob man diese Idee zum Gegenstand der phi-
losophischen Klärung macht, sondern sie ist der eigentliche Locus der
Selbstverständigung des Philosophen. Wenn diese Idee auch der ei-
gentliche Anfang des Philosophierens ist, so ist damit doch nicht ge-
sagt, dass man unmittelbar mit ihr anfangen kann, ohne vorherige
Arbeit am Begriff: Die Freilegung dieser Idee als des eigentlichen,
primordialen Gegenstands der menschlichen Vernunft verlangt eine
besonders zu erbringende Leistung. Ohne diese gelangt sie nicht zur
Darstellung. Wenn Schelling auf den Begriff der ›Darstellung‹ zu-
rückgreift, dann in der Tat auch, um auf diese besondere Leistung
aufmerksam zu machen. Das Denken oder die begriffliche Arbeit ist
eine Tätigkeit, wenn nicht sogar eine Handlung eigener Qualität. Aus
diesem Grund bedarf es bei Schelling keiner ausdrücklichen oder di-
rekten Ausführungen zur Ethik, da alles, was zur Tugend gehört in-
sofern in der Darstellung eingesenkt ist, als der Nachvollzug seiner
Denkbewegung selbst über alle Sittlichkeit hinausgeht, insofern diese
an Gesetze und Konventionen gebunden ist. Auch insofern ist Schel-
lings Philosophie ›Naturphilosophie‹. 1 Wenn Schelling denn auch
ausschließlich theoretische Fragen zu behandeln und sich für prakti-
sche Philosophie kaum zu interessieren scheint, dann weil die theo-
retische Einstellung eine Haltung beinhaltet, die eine grundlegende
Umwandlung der gewöhnlichen, am Handeln interessierten, in der
Welt aufgehenden Haltung einleitet. Insofern braucht Schelling auch
nicht direkt über Gegenstände der praktischen Philosophie zu reflek-
tieren. Wenn er dies denn doch tut, dann beschränkt er sich dabei
meistens darauf, zu zeigen, wie jene nicht eigens thematisierte theo-
retische Haltung sich von der gewöhnlichen unterscheidet bzw. wie
die für diese leitenden Begriffe (Gut und Böse, Gesetz usw.) keine
Gültigkeit haben, ohne dass eine solche Haltung dadurch ›unmora-
lisch‹ ist. Erst in diesem Zusammenhang dürfte auch ersichtlich wer-

1
Vgl. Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357.

431
Nachwort

den, weshalb Schelling betont, dass der höchste sittliche Zustand über
dem Gesetz steht, ihn dementsprechend als ›Liebe‹ und damit die
›Persönlichkeit‹ als das Höchste, deshalb jedoch auch Außer-Gewöhn-
lichste bestimmt, das nicht mit Individualität zu verwechseln ist.
Wir haben gesehen, wie Schelling mit Philosophie und Religion
und mit den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freyheit eine doppelte Darstellung des ideellen Teils
der Philosophie vorlegt. Keiner der beiden ist vollständig, sondern
jede derselben blendet entscheidende Theoriestücke aus oder erkennt
ihnen nur eine marginale Rolle zu, sodass beide Darstellungen zu-
sammengelesen werden müssen, um Schellings eigentliche Intention
zu entdecken, die unzugänglich bleibt, solange man zwischen beiden
Schriften einen Gegensatz annimmt. Wie dem auch sei, Schelling
macht in beiden Fällen unmissverständlich klar, dass die eigentliche
Absicht beider Darstellungen in einer Verteidigung der Philosophie
gegen ihre radikalste Alternative besteht, nämlich gegen eine solche,
die die Philosophie schlechthin wertlos machen würde. Diese Absicht
geht klar genug aus der Einleitung von Philosophie und Religion her-
vor. Schelling wiederholt sie auf den ersten Seiten der Freiheits-
schrift, indem er das Interesse der Auseinandersetzung mit dem Pan-
theismus darin sieht, dass die Alternative die Philosophie dann
wertlos machen würde, wenn die Gleichsetzung von Philosophie und
System Gültigkeit hätte. Die zweideutige Verwendungsweise von
Ausdrücken, die jener Alternative entnommen sind, wie die Dunkel-
heit der Darstellung sollen dazu beitragen, den Rechtfertigungsdruck
auf beide Seiten zu erhöhen. Man kann nicht sagen, dass die Philoso-
phischen Untersuchungen in dieser Hinsicht besonders erfolgreich
gewesen sind, da man diese Frage bislang kaum wahrgenommen zu
haben scheint. Dies scheint darauf zurückzuführen, dass die Aus-
einandersetzung mit Schelling in einem historischen Augenblick
stattfindet, da die historische Erledigung des Christentums un-
umkehrbar scheint und es somit dem Belieben des Lesers überlassen
scheint, die ›religiösen‹ Assoziationsfelder seiner Begrifflichkeit aus-
zublenden oder aber bei ihm eine Bestätigung für die eigene christ-
liche ›Weltanschauung‹ zu suchen. Die Beschäftigung mit Schelling
scheint mehr durch ein Verlangen nach Klarheit über die eigene
Weltanschauung als durch die Einsicht in die Notwendigkeit einer
rationalen Rechtfertigung der Philosophie als Lebensweise bewegt
zu sein. Im ersteren Fall allerdings kommt dem rationalen Argument
höchstens sekundäre Bedeutung zu, als Unterstützung eines Glau-

432
Nachwort

bens, der selbst nicht in Frage gestellt wird, da er nur einer Klärung,
nicht aber einer Begründung fähig wäre. Gerade eine solche Haltung
ist es aber, die Schelling unter Druck setzen möchte, damit sich viel-
leicht ein Übergang von der Nicht- oder Unphilosophie zur Philo-
sophie vollziehe.
Wie dem auch sei, wenn Schelling seinen Ausgangspunkt von
einer in der Natur des Menschen gründenden Idee des Absoluten
nimmt, dann ist damit nicht behauptet, dass der Philosoph über ein
absolutes Wissen verfügte, das ihn von allen Nicht-Philosophen un-
terscheidet, sondern dass im natürlichen Bewusstsein eine Annahme
enthalten ist, die, konsequent durchdacht, allerdings zur Annahme
der Möglichkeit eines absoluten Wissens führt. Die vage oder nicht-
entwickelte Idee des Absoluten ist indessen der Berührungspunkt
zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen. Dieselbe lässt nur
zwei Möglichkeiten offen: entweder die Annahme der Möglichkeit
eines absoluten Wissens oder den radikalen Skeptizismus. Die erste
Möglichkeit ist dialektisch durch den Nachweis zu bewähren, dass die
zweite sich nicht zu einer konsistenten philosophischen Position aus-
bauen lässt und, falls sie konsequent sein will, nur zum Glauben über-
gehen kann. Deshalb führt ein Weg von Schellings Lehre von der Idee
des Absoluten als philosophischer Theologie zur Auseinandersetzung
mit der Religion als nicht-philosophischer Entfaltung jener Idee und
zum Versuch darüber, inwiefern die Religion als Mythologie und als
Offenbarungsreligion eine konsistente Ausgestaltung gestattet. Um-
gekehrt muss aber auch der Weg, von der ›Politik‹ zur Mythologie
über deren Transformation in eine Offenbarungsreligion, letztlich
wieder in die Aufgabe einer philosophischen Theologie münden.

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Namensregister

Albert, K. 381, 383 Ehrhardt, W. E. 328


Allwohn, A. 419 Eschenmayer, C. A. 2–5, 7, 11–14, 16,
Aristoteles 141 21 f., 35 f., 56 f., 63–67, 73, 80–104,
Audié, F. 121 107–109, 117, 127, 131–138, 140–
145, 151–155, 159, 161, 167 f., 189,
Bahr, P. 33 191, 212–217, 219–240, 242 f., 245–
Bardili, C. G. 46, 48, 66 249, 251, 258, 281, 285, 288, 306–
Barth, B. 44 309, 312–315, 317–320, 327, 335,
Beckers, H. 308, 319, 322 f. 339, 394 f., 400–409, 420
Behler, E. 424
Berg, F. 5 f. Fichte, J. G. 3, 8, 20, 26, 33, 44–46,
van Bladel, L. 15, 119, 166, 168 48 f., 51, 55 f., 66, 72, 82, 89, 99 f.,
Blanchard, G. 18, 151, 178, 186 119, 122, 125, 132, 135 f., 140, 153,
Brouwer, C. 168, 255, 293, 331, 333 166, 171, 183–185, 187, 189, 204,
Brown, R. F. 262 206 f., 215, 222 f., 234, 259 f., 340,
Bruno, G. 46, 52 351, 355 f., 361 f., 383, 385, 402,
Buchheim, T. 15, 18, 26, 34, 118 f., 431
127, 149, 178 f., 193, 209, 280 Fischbach, F. 109
Burgh, A. 53 Fischer, K. 386
Florig, O. 2, 18, 200, 209, 217, 225,
Canetti, E. 368 229, 232, 262
Ceres 373 Frank, M. 384, 388
Cesa, C. 9, 44, 337, 353, 362 f. Franz, M. 13, 16, 367
Cicero, M. T. 36, 372 Fuhrmans, H. 3 f., 7, 13, 15 f., 19, 20,
Clara 49, 391 66, 81 f., 84, 87 f., 94 f., 101, 108,
Cotta, J. F. 19 167, 169, 181, 217 f., 220, 230 f.,
234, 246, 356, 372, 386 f., 392, 395–
von Dalberg, C. T. 392, 397 399, 402, 408 f.
Danz, C. 35, 335, 401, 416
Davidson, D. 171 Gabriel, M. 353, 363
De Dijn, H. 155 Gasché, R. 33
Deleuze, G. 46, 48, 180, 198 von Georgii, E. F. 317
Demeter 307 Gibbon, E. 304
Dilthey, W. 308 f. Gilson, B. 363
Dionysios von Syrakus 142, 144 f. Goethe, J. W. 43
van Dülmen, R. 389 f., 393, 397–399 Graf, F. W. 394

449
Namensregister

Grau, A. 308, 390 Kant, I. 3, 26, 32 f., 45, 60, 72, 89–91,
Guattari, F. 46, 49 100, 105, 112, 119 f., 136, 141, 176,
Gueroult, M. 159 189, 206 f., 214, 221, 223, 258, 272–
276, 280 f., 340, 361, 390
Habermas, J. 9, 38 f., 84, 100, 235, Kauttlis, I. 102, 404, 406
337, 341, 353, 360, 362 Kerényi, K. 369, 372 f.
Hammermayer, L. 392, 397 f. Kierkegaard, S. 5, 167
Hartkopf, W. 2, 196 Klenner, H. 341
Harward, J. 141 Knatz, L. 386
Hay, K. 91 Koller, H. 28
Hegel, G. W. F. 1, 38, 72, 79, 96, Korsch, D. 18, 107, 125, 144
104 f., 293, 362, 388, 403 Kunz, H. 49
Heidegger, M. 166, 211, 265, 293
Hermanni, F. 254–256, 262, 265, 272, Leibniz, G. W. 15, 45, 46, 226, 258,
276 260, 275
Heuer, F. 28 Leinkauf, T. 206–208
Hinske, N. 60 Lessing, G. E. 45, 58, 60
Hobbes, T. 291 Lévy, P. 119
Höffe, O. 293
Hösle, V. 29 f., 37 f. Marks, R. 2 f.
Hofmann, M. 340, 343, 350, 353, 365, Marquet, J.-F. 47, 52, 121, 294, 390
386, 388 Meier, H. 54, 77, 362
Hogrebe, W. 149, 301 Menninghaus, W. 28
Hollerbach, A. 340 f., 348, 350, 353, Michelet, C. L. 35, 307 f.
362, 366, 370 Mokrosch, R. 168, 255
Holz, H. 147, 151, 168 Montesquieu, C. S. 303
Homer 36, 296 Montgelas, M. J. von 387, 397
Horatius Flaccus, Q. 35, 74 Mülder-Bach, I. 28
Horn, F. 306 Müller-Bergen, A.-L. 77, 304
Hühn, L. 207, 366 Müller-Lüneschloß, V. 360

Jacobi, F. H. 8, 44 f., 52, 56 f., 76, 82, Oberg, E. 62


102 f., 141, 155, 233 f., 306, 356,
385 Pareyson, L. 49, 386–389
Jacobs, W. G. 162, 294, 335, 386 Paulus 334, 335
Jäger, G. 351, 353, 379, 386 Paulus, H. E. G. 81, 394 f.
Jähnig, D. 31, 43, 127, 191, 361, 365 f., Petri, M. 292, 304
368 f., 384 Phaedrus 61 f.
Jantzen, J. 2, 103 Pieper, A. 293
Jaspers, K. 5, 38, 81, 84 f., 99 f., 102, Platon 13, 36, 41, 60, 141–143, 145,
111, 118–120, 133, 137, 167, 225, 161, 163, 169, 171, 189, 286, 305,
235, 405 307, 309, 319, 323, 333, 337, 342
Jesus von Nazareth 168, 302, 304, Plessner, H. 187
417–419 Plutarch 76 f.
Johannes 335
Jürgens, S. 18, 153 Rall, H. 386
Junkelmann, M. 387, 389 Rang, B. 272

450
Namensregister

Reinhold, K. L. 9, 23, 46, 48, 59, 66, Sziborsky, L. 365, 369, 378, 383, 386
118 f., 206, 216, 256, 397
Rivelaygue, J. 343, 345, 352 f., 356, Tennemann, W. G. 141
366 Theunissen, M. 167, 174, 188
Roehr, S. 397 Thürheim, F. K. Graf v. 387, 398
Rousseau, J.-J. 35, 54, 77, 291, 304, Tiedemann, D. 141
379 Tilliette, X. 2, 5, 8, 16, 18, 44, 52, 113,
Rückert, J. 138, 216, 232, 282 145, 166, 169, 182, 185, 386, 399
Rüttenauer, A. 335 Todorov, T. 43
Tomberg, M. 44
Sandkühler, H.-J. 166, 341, 353, 363,
366, 398 Unger, F. 19
Schalow, F. 308
Schelling, K. F. A. 341, 356 Vergauwen, G. 169
Schlegel, A. W. 35, 50 Vergilius Maro, P. 74
Schlegel, F. 36, 44 f., 56, 143, 161, Vergote, A. 373
258 f., 332, 400 Vetö, M. 71, 217
Schleiermacher, F. D. E. 408, 418 Volkmann-Schluck, K.-H. 402, 416
Schlosser, J. G. 141
Schmidt, A. 256 Wagner, J. J. 5 f., 235
Schönwitz, U. 394 Walch, J. G. 183
Schopenhauer, A. 207 Weis, E. 387, 397
Schraven, M. 353, 386, 388 Weiß, C. 216, 232, 282
Schröder, W. M. 341, 351 f. Whistler, D. 42 f., 134, 424
Schuffenhauer, H. 410 Whitehead, A. N. 374, 401, 406, 414
Schuffenhauer, W. 410 Wieland, W. 22, 25, 31, 34, 90, 130,
Schuffenhauer, D. 410 136, 178, 206, 286, 318
Schurr, A. 153 Wild, C. 386
Schwab, J. B. 386, 389, 391 Widerporsten, H. 49
Schwaiger, G. 389, 392 Windischmann, K. J. H. 13, 19, 141,
Shibuya, R. 209, 382 f. 169, 181, 243, 339, 372, 387, 391 f.,
Shikaya, T. 176, 188 396–398
Siep, L. 314 Wolff, M. 273, 275
Sokrates 319 Wuttke, W. 2, 88
Souilhé, J. 141
Spinoza, B. 13, 36, 45, 53, 108, 121, Xenophon 11
155, 159, 247, 291, 318, 333 f.
Stahl, E. L. 28 van Zantwijk, T. 118, 318
Steinhart, K. 141 Zeltner, H. 318, 348, 350
Stolzenberg, J. 33, 256 Ziche, P. 35
Strauss, L. 362

451
Sachregister

Abfall 5, 139 f., 144, 160, 161, 165– Erziehung 25, 66–71, 74, 238, 289–
172, 176–186, 192, 195, 199, 202– 292, 321, 367, 375, 382
204, 209, 212–214, 248 f., 251–257,
259–261, 288, 293, 297 f., 320–325, Figuren, konzeptuelle 36, 39, 44, 46,
327, 331, 335, 376, 420 f., 425 48 f., 51, 53, 66
Absolutheit, derivierte 157, 167, Freiheit 6 f., 55, 62, 83, 101, 137,
174 157 f., 163, 174, 177 f., 187, 189,
Ahnung 73, 97, 98, 101, 104, 132, 194, 204–208, 211–214, 217, 219,
136, 243, 285, 404, 408 222, 226, 228, 238, 241, 249, 250–
Anschauung, intellektuelle 12, 32 f., 253, 255 f., 262, 276, 278, 282–288,
79–81, 92–101, 111, 114, 116 f., 293, 296 f., 318, 324, 330, 335 f.,
121, 124–128, 131 f., 147 f., 231 f., 341, 352 f., 359, 365 f., 368
375
Gefühl 136, 204, 208, 243, 280, 314 f.,
Böses 6, 15, 60, 143, 148, 158, 161 f., 317–319, 403 f., 406
166–168, 189, 198, 203, 205, 210– Gegend 46–49, 51 f., 54
214, 226, 237, 242, 247, 252–255, Geschichte 75, 214, 218–221, 261,
257–281, 285, 293, 299 f., 302–308, 271, 283, 292–300, 303, 306 f., 320,
324, 328–332, 335, 425, 431 322 f., 325 f., 331, 366 f., 411–413,
420, 426
Darstellung 2 f., 9, 11, 15 f., 18–20, Glaube 3–5, 9 f., 56, 73, 80 f., 83, 85–
22 f., 27–29, 31–33, 37, 41–44, 51, 88, 91, 95 f., 98, 101–104, 109, 117,
55, 61, 67, 77, 80, 120–123, 125, 132–134, 136, 138, 167, 221, 223 f.,
127 f., 141, 156– 159, 169 f., 173, 227, 230–233, 235 f., 239–243, 247,
175–177, 179, 181, 184, 190–194, 314 f., 338, 389, 396, 400–406, 410,
197, 202, 208, 213, 215, 217, 220, 425 f., 430, 433
252, 254, 264, 282, 321, 328, 369, Gott 80, 83 f., 90, 94, 99–105, 108 f.,
374, 407, 419, 431 f. 117 f., 131, 133 f., 136–138, 157 f.,
162, 167, 177, 179, 188, 203, 209 f.,
Emanation, Entfernung 160–162, 219, 223, 230, 235–237, 240 f.,
165, 182 f., 198, 203 253 f., 259 f., 268–270, 277 f., 285,
Endlichkeit 15, 139 f., 143 f., 160–162, 287 f., 293, 300–305, 320, 322–336,
172, 177, 185–187, 192, 197, 202, 364, 374, 401, 403, 405, 407, 417,
205, 212, 226, 251–253, 258–260, 421, 426, 430
262 f., 265, 317, 321, 323, 335, Größe, negative 214, 258, 272–274,
342 f. 280

453
Sachregister

Grund 71, 148, 155 f., 197, 248, 251, Politische Philosophie 4, 8–10, 61, 77,
278, 300 f., 305, 324 f., 328, 330–332 337, 340, 361 f., 385 f., 429 f.

Identität 92–94, 96, 112, 114, 116, Seele 75, 89, 94–96, 140, 177, 188–
119, 128–131, 136, 146, 152–154, 191, 193, 198–201, 240, 242, 247,
164, 190, 192, 198, 225–231, 244, 249 f., 254, 282–287, 310–317, 320,
282, 284, 286 f., 293, 296 f., 320, 322 f.
326, 335, 343 f., 363 Sehnsucht 135 f., 241
Identitätsphilosophie 5 f., 8 f. Symbol 12, 37, 38, 41–45, 51, 54–57,
62, 65 f., 74 f., 133 f., 137, 232, 369,
Mysterien 12, 39, 52 f., 67–76, 245, 373 f., 405–408, 419 f., 424
307, 334, 338 f., 369–376, 384, 390,
395–397, 400, 413 f., 416, 419, Theologie 84–86, 102, 133 f., 166–
422 f., 425 f., 429 168, 313, 339, 400, 404, 407–411,
Mythologie 39, 365–370, 372, 393 f., 413, 420, 426 f., 433
396, 400, 413 f., 416, 423–425, Tugend 83, 101, 137, 212, 215, 220–
429 f., 433 224, 233 f., 236–241, 244 f., 255,
261, 271, 275, 288, 359, 402, 431
Naturphilosophie 8–10, 22, 49, 52 f.,
60 f., 171, 190 f., 195, 202, 205, 213, Unsterblichkeit 7, 83, 101, 137, 189,
215–217, 237, 252, 257, 310, 324, 214, 219, 222, 305, 307–309, 312–
335, 337, 340, 358, 383, 385, 402, 320, 322 f., 326, 331, 333, 374, 421,
409, 431 425
Nichtphilosophie 81, 83–86, 102, 103,
137, 222–224, 228, 231, 400, 406 f. Vergangenheit 204, 207, 221 f., 261,
290 f., 293, 298 f., 304, 306 f., 316,
Offenbarung 133–136, 157, 166 f., 320 f., 323, 329, 331, 415
231, 241, 324–326, 328–330, 335,
405, 410–412, 415–417, 420 f., Wille 89, 140, 174, 176 f., 188–191,
426 f., 429, 433 193, 198, 224–230, 252 f., 255 f.,
276, 286 f., 324 f., 331, 343–350,
Persönlichkeit 6, 148, 168, 188 f., 203, 352, 354, 362, 364 f., 377
207–209, 211 f., 252, 360, 381–383,
432 Zukunft 221 f., 286, 293, 298 f., 304–
306, 313, 316, 320–323, 331

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