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SCHELLING-FORSCHUNG
Ryan Scheerlinck
»Philosophie und
Religion« –
Schellings
Politische Philosophie
Der Autor:
Ryan Scheerlinck, geb. 1976, studierte Philosophie und klassische
Philologie in Löwen, Gent und München. 2014 wurde er mit vor-
liegender Arbeit an der Ludwig-Maximilians-Universität promoviert.
Er veröffentlichte zu Nietzsche, Schelling und Seneca in Interpreta-
tion, Schelling-Studien, Philosophisches Jahrbuch und Gymnasium.
Ryan Scheerlinck
»Philosophie und Religion« –
Schellings Politische Philosophie
BEITRÄGE ZUR 7
SCHELLING-FORSCHUNG
Herausgegeben von
»Philosophie
und Religion« –
Schellings
Politische Philosophie
Originalausgabe
IX
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1. Kapitel. Darstellungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . 11
1. Der »Vorbericht« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2. Der Begriff der ›Darstellung‹ . . . . . . . . . . . . . . 18
3. Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die
konzeptuellen Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
4. Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift . 56
5. Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift . . 67
2. Kapitel. Glaube und Anschauung . . . . . . . . . . . . . 79
1. Das Programm der Nichtphilosophie . . . . . . . . . . 81
2. Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung . 92
3. Das negative Verfahren: Die Unterscheidung
von Absolutem und Gott . . . . . . . . . . . . . . . . 101
4. Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche
Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5. Anschauung und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . 132
3. Kapitel. Absolutes und Abfall . . . . . . . . . . . . . . . 139
1. Die Präambel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
2. Die innere Artikulation der Idee des Absoluten . . . . . 146
3. Der Abfall als formelle Anforderung . . . . . . . . . . 158
4. Die Möglichkeit des Abfalls . . . . . . . . . . . . . . 171
5. Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre
von der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
4. Kapitel. Tugend und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 211
1. Das Problem der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . 215
2. Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung
der Tugend‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
3. Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹
und erneut der Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
XI
Inhalt
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
1. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
2. Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439
Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453
XII
Einleitung
Diese Arbeit nimmt ihren Ausgang von der auf den ersten Blick tri-
vialen Feststellung, dass Schelling in keiner der von ihm veröffent-
lichten Schriften eine auch nur ansatzweise umfassende Darstellung
des von ihm dennoch mit Nachdruck zum Zielpunkt aller Philosophie
erklärten Systems gegeben hat. Stattdessen hat er dieses System
immer nur bruchstückhaft dargestellt, sich zudem dazu stets wech-
selnder literarischer Formen bedienend. Gerade weil Schelling selbst
immer wieder auf der Notwendigkeit eines Systems insistiert hat,
scheint es nur zu naheliegend, das Bruchstückhafte und die Formen-
vielfalt als ein Indiz dafür zu nehmen, dass Schelling die anvisierte
Darstellung seines Systems nicht hat gelingen wollen, um daraus auf
eine Unzulänglichkeit des von ihm gewählten Systemprinzips zu
schließen. Diese immer noch geläufige Ansicht ist am wirkungs-
mächtigsten durch Hegel formuliert worden, indem er erklärte, dass
Schelling sich »in verschiedenen Formen und Terminologien herum-
geworfen« habe, da »das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan«
habe (GeschPh III, TWA 20, 422; vgl. GeschPh III, TWA 20, 445 f.).
Diese Einschätzung, wonach Schelling mit jeder Schrift wieder von
vorne angefangen habe, da er das anvisierte Ziel nicht zu erreichen
vermochte, ist nicht nur nachweislich falsch, sondern zugleich auch
am meisten dazu geeignet, die von Schelling mit seinen verschiede-
nen Darstellungen verfolgte Intention dem Blick vollends zu entzie-
hen. Man legt damit an Schellings Schriften den Maßstab eines kla-
ren und wohlgeordneten Schreibens an, wovon erst zu untersuchen
wäre, ob er selbst ihm Gültigkeit zuzuerkennen vermochte. Dieser
Maßstab führt zudem allzu leicht dazu, dass man allein schon die
Form, um von demjenigen, was er durch sie zu vermitteln sucht, noch
zu schweigen, als defizient beurteilt, ohne auch die eigentümliche, im
1
Einleitung
1
Auch Werner Hartkopf, der eine instruktive Untersuchung zu Schellings Dialektik
verfasst hat, vermag bei Schelling nur die Dialektik des Begriffs, nicht den in der Form
eingesenkten dialektischen oder dialogischen Charakter von Schellings Denken wahr-
zunehmen (vgl. Hartkopf 1986).
2 Schelling 1809a, X / SW VII, 334.
4 Bislang liegt weder eine Monographie zum gesamten Denkweg Eschenmayers noch
eine kritische Ausgabe seiner Schriften vor. Verwiesen sei hier auf Wuttke 1972; Jant-
zen 1994; Jantzen 2005; Florig 2010. Ferner Tilliette 1992, 479–484; Tilliette 1999,
133–151. Die Arbeit von Ralph Marks beschränkt sich auf naturphilosophische The-
2
Einleitung
men, die in unserem Zusammenhang nicht unmittelbar relevant sind (vgl. Marks
1985).
5
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71.
6 F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71.
7
Schelling 1804, III / SW VI, 13.
3
Einleitung
dass es »Ein und derselbe Geist ist, der die Wissenschaft und das Leben unterrichtet«,
und dass »weder Sittenlehre noch Sittlichkeit […] ohne Anschauung der Ideen« ist
(Schelling 1804, 58 f. / SW VI, 53 f.; Herv. v. Verf.).
11
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72.
4
Einleitung
lassen konnte. 12 Im Laufe dieser Arbeit werde ich hin und wieder
Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen, dass diese Gegenposition
nicht an die durch seine Denkkraft vielleicht nicht sonderlich beein-
druckende Figur eines Eschenmayer gebunden ist, sondern insofern
weit über diesen hinausreicht, dass sie jederzeit möglich ist, und die-
ser Auseinandersetzung somit exemplarische Bedeutung zukommt. 13
Insbesondere dürfte Eschenmayers Rekurs auf den Begriff des Glau-
bens Schelling dazu Gelegenheit gegeben haben, seine eigentlichen
Adressaten, die ebenfalls für eine Ergänzung der Philosophie durch
den Glauben einzutreten schienen, seinerseits dazu aufzufordern,
sich über jene entscheidende Alternative Klarheit zu verschaffen.
Ein weiterer Grund für diese Wahl ist folgender: Philosophie und
Religion hat seit ihrem Erscheinen weder bei Anhängern noch bei
Gegnern Schellings besonders großen Beifall gefunden. Auch heute
löst die Schrift noch am ehesten eine gewisse Irritation aus, wenn
man nach dem geringen Interesse urteilen darf, das man ihr in der
Regel entgegenbringt. Bestenfalls werden die Darlegungen aus dem
ersten und zweiten Abschnitt zur Erläuterung von Thesen heran-
gezogen, die Schelling auch in früheren Schriften behauptet hatte.
Sonst wird meistens nur noch an den berühmt-berüchtigten Begriff
des Abfalls erinnert, der die »zentrale Aporie der Identitätsphiloso-
phie« vollends aufbrechen lässt und einen Neuansatz unausweichlich
zu machen scheint. 14 Jedenfalls hatten es so bereits Zeitgenossen
Schellings wie z. B. Eschenmayer, Johann Jakob Wagner und Franz
Berg empfunden. 15 Vermutlich würde die Mehrzahl der Kommenta-
»Dass Sie mit mir einsehen, dass Schelling sich durch die Idee des Abfalls eben so
5
Einleitung
wenig aus der Verlegenheit rettet, als durch andere Versuche, freut mich sehr, aber es
lässt sich entschuldigen, dass er vorher alle Arten der Auflösung versucht, ehe er den
Knoten für unauflösbar annimmt«. Vgl. Wagner 1804, XXI, XXIV, XLI f.; Berg 1804,
IV.
16
Schelling 1809a, IX / SW VII, 334; vgl. auch Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410.
6
Einleitung
soweit ich sehe, noch niemand versucht, jene Erklärung ernst zu neh-
men, oder in ihr eine Aufforderung gesehen, zu untersuchen, ob und
wie Schelling sich über die genannten Themen in Philosophie und
Religion erklärt hätte. Jedenfalls haben gerade Schellings – zugegebe-
nermaßen sehr verklausulierten – Überlegungen zum Problem der
menschlichen Freiheit, der Sittlichkeit, der Unsterblichkeit und der
Religion, die nach seiner eigenen Erklärung den eigentlich neuen Bei-
trag jener Schrift darstellen, da er sich darüber vorher nicht mit aller
Bestimmtheit geäußert hatte, bislang kaum Beachtung gefunden. Da-
zu müsste man sich allerdings auf die Annahme stützen, dass Schel-
ling sich beim Verfassen sowohl von Philosophie und Religion als
auch der Philosophischen Untersuchungen durchaus darüber im Kla-
ren war, was er tat und was er dachte. Für den Kommentator brächte
dies die Pflicht zur Bescheidenheit, wenn nicht sogar zur Demut mit
sich, Schelling nicht besser verstehen zu wollen, als er sich selbst ver-
stand. Was Eschenmayer betrifft, so lässt Schelling selbst keinen
Zweifel daran bestehen, dass jener ihn in keinem einzigen Punkt so
verstanden habe, wie er sich selbst versteht und wie er verstanden
werden will. 17
Der Versuch, Schellings Erklärung einer grundsätzlichen Verträg-
lichkeit der in beiden Schriften umrissenen Position als berechtigt
nachzuweisen, führt fast zwangsläufig dazu, die geläufige Meinung
anzuzweifeln, wonach es im Denkweg Schellings einen tiefgreifenden
Einschnitt gibt, der am offensichtlichsten durch die Freiheitsschrift
markiert werde und der einer Absage an das sogenannte Identitäts-
system gleichkomme. Stattdessen werde ich für die Aufgabe des Be-
griffs eines ›Identitätssystems‹ eintreten, mit welchem sich inzwi-
schen allzu viele Vormeinungen verbunden haben, die den Zugang
zur Sache versperren und der auch überhaupt ungeeignet ist, die Ei-
genart der schellingschen Denkbewegung einzufangen. 18 Stattdessen
17 Vgl. Schelling 1804, 4–8, 18–20, 24–28, 53–55, 59, 69, 74 / SW VI, 18–21, 27–29,
31–34, 50 f., 54, 61, 64. – Bei Gelegenheit einer späteren Auseinandersetzung bemerkt
Schelling: »Das Bedauerlichste für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden
zu haben und daß Sie die Versicherung des Gegentheils mir vielleicht als Anmaßung
auslegen« (Schelling 1813b, 127 / SW VIII, 188). Dasselbe ließe sich vielleicht bereits
für die Zeit um 1803–05 sagen (vgl. übrigens F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer,
30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224).
18 Schelling selbst hat wiederholt vor solchen Namen oder Kennzeichnungen eines
7
Einleitung
übrige von selbst, und man ist der Mühe, sein Eigenthümliches genauer zu unter-
suchen, enthoben« (Schelling 1809a, 402 / SW VII, 338). Seiner Einschätzung zufolge
haben auch Fichte und Jacobi sich durch den Namen ›Naturphilosophie‹ blenden las-
sen und ihre Polemik vorwiegend auf eine – überdies unzutreffende – Auslegung
dieses Namens gegründet. Schwerwiegender ist, dass Schelling selbst den Ausdruck
›Identitätssystem‹ zur Bezeichnung seines ›Systems der Philosophie‹ in dieser Zeit
kaum jemals verwendet. Eigentlich kommen nur folgende vier Stellen in Betracht:
AA I,10, 115 (»das absolute Identitäts-System, welches ich hiermit aufstelle«); AA
I,10, 163; Schelling 1802d, 42 / SW V, 45 und SW VI, 164. Der Ausdruck wird vor
allem von seinen Gegnern mit einer gewissen Vorliebe verwendet. Stattdessen ver-
wendet Schelling selbst eine Fülle an Namen, um sein System zu bezeichnen (vgl.
Tilliette 1992, 310). So ist vom »absoluten Idealismus« oder »Real-Idealismus« die
Rede (AA I,10, 93, 144; Schelling 1802b, 46, 62 / SW IV, 370, 381; SW IV, 377; Schel-
ling 1802d, 13 f., 19 / SW V 26, 30; Schelling 1802f, 9, 24 / SW V, 112, 124; Schelling
1802g, 41 / SW V, 136; Schelling 1803a, 254 f. / SW V, 324; Schelling 1803b, 80 /
SW II, 68; Schelling 1803c, 23, 29 / SW IV, 404, 408; Schelling 1809a, 419 / SW VII,
350), von »Vernunftwissenschaft« (Schelling 1803a, 129 / SW V, 270; SW V, 381;
SW VI, 214; Schelling 1805b, 75 / SW VII, 189; Schelling 1806a, 19, 23 / SW VII,
33, 35; Schelling 1806b, IX / SW II, 359), von »Naturphilosophie« (SW VI, 494;
Schelling 1806a, 15–19 / SW VII, 30–33; Schelling 1812, 9 f. / SW VIII, 26 f.; ferner:
Schelling 1802f, 1–5 / SW V, 106–109; Schelling 1803b, 78–85 / SW II, 67–71), von
»Pantheismus« (vgl. SW VI, 177; Schelling 1809a, 402–419, 502 f. / SW VII, 338–
350, 409 f.; SW, VIII 339 f.) oder ganz allgemein vom »System der Philosophie«
(Schelling 1802b, 5 / SW IV, 342; Schelling 1802c, VII / SW V, 6; Schelling 1802d,
14 / SW V, 27; SW V, 363, 371; Schelling 1804, 60 / SW VI, 54; beachte auch die Titel:
Darstellung meines Systems der Philosophie, Fernere Darstellungen aus dem System
der Philosophie und System der gesammten Philosophie). Jede dieser Kennzeichnun-
gen würde eine eigene Erläuterung erfordern, wenn deutlich werden soll, in welcher
Hinsicht sie nicht gänzlich unzutreffend sind. Erst in seiner Spätzeit bezeichnet Schel-
ling das System jener früheren Zeit als ein »Identitätssystem«, aber auch dann nicht
ohne seine Vorbehalte dadurch zu erkennen zu geben, dass er meistens von dem »so-
genannten Identitätssystem« spricht (so SW XI, 371, 373; SW XII, 71): »Nur einmal,
in der Vorrede, also in dem exoterischen Theil meiner ersten Darstellung dieses Sys-
tems, hatte ich es das absolute Identitätssystem genannt, um eben anzudeuten, daß
hier kein einseitiges Reales noch ein einseitiges Ideales behauptet werde […]. Allein
auch diese Bennenung wurde übel gedeutet und von denen, welche nie in das Innere
des Systems eindrangen, benutzt, um daraus zu schließen, oder dem ununterrichteten
Theil des Publikums glauben zu machen, es werden in diesem System alle Unter-
schiede, namentlich jeder Unterschied von Materie und Geist, von Gutem und Bösem,
selbst von Wahrheit und Irrthum aufgehoben« (SW X, 107 f.). Und ferner: »Bekannt-
lich war dieß die Ausdrucksweise des sogenannten absoluten Identitätssystems, ein
Name, den übrigens der Urheber selbst nur einmal gebraucht hat, nur, um es über-
haupt und insbesondere von dem Fichteschen zu unterscheiden […]. Abgesehen von
8
Einleitung
ten Urteil als »kein politischer Denker« oder sogar als der »›unpoli-
tischste‹« Denker »des klassischen deutschen Idealismus«. 19 Dieses
Urteil beruht darauf, dass das ›Politische‹ einer Philosophie aus-
schließlich über ihren Gegenstand definiert wird statt über die Art
der Darstellung. Um zu verstehen, was unter ›Politische Philosophie‹
zu verstehen sei, verdienen die nachfolgenden Überlegungen zum
Problem der Darstellung deshalb besondere Beachtung. Zudem ope-
riert das genannte Urteil mit einer für selbstverständlich erachteten
Festlegung dessen, was als ›Gegenstand‹ einer als ›politisch‹ zu be-
zeichnenden Philosophie zu gelten hat und was nicht. Nun hat Schel-
ling in Philosophie und Religion die Herausforderung des Glaubens
gerade darin gesehen, dass er die Philosophie ihrer Gegenstände be-
raube, weshalb er es zu seinem Programm erklärt, »diejenigen Ge-
genstände, welche der Dogmatismus der Religion und die Nichtphi-
losophie des Glaubens sich zugeeignet haben, der Vernunft und der
Philosophie zu vindiciren«. 20 Diese ›Gegenstände‹ beschränken sich
nicht nur oder nicht in erster Linie auf die sogenannten ›politischen
Dinge‹, sondern er hat sie durch die Überschriften der Abschnitte, aus
welcher die Schrift besteht, deutlich genug zu erkennen gegeben.
Wenn ich auch an geeigneter Stelle näher erörtern werde, weshalb
die Erörterung der ›politischen Dinge‹ in Schellings Denken einen
vergleichsweise geringen Stellenwert aufweist, und das Argument,
das sich in dieser ›Lücke‹ verbirgt, herauszuarbeiten suchen werde,
so darf es an dieser Stelle genügen, daran zu erinnern, dass bereits
die »naturphilosophische[n] Untersuchungen«, auf welche Schelling
sich lange »beschränkt« habe, 21 eminent politisch sind, wie wenigs-
tens seine Zeitgenossen wie durch einen Schleier wahrgenommen zu
haben scheinen, da sie durch die Naturphilosophie die geläufigen Vor-
stellungen von Moral und Religion gefährdet sahen. Wenn es Schel-
ling zufolge auch »für das Innere der Wissenschaft […] vorerst
21
Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f.
9
Einleitung
gleichgültig [ist], auf welchem Wege die Natur construirt wird, wenn
sie nur construirt wird« (AA I,10, 92 f.), so zeigt sich die Wichtigkeit
dieser Konstruktion der Natur erst an dem Gebrauch, den Schelling
von ihr macht und der zuallererst ein kritischer ist: Erst sie erlaubt es,
den Schein zu durchschauen, in welchem der Idealismus befangen
bleibt und der sowohl das Ich als auch das Absolute betrifft, und da-
durch die Basis zu erschüttern, auf welche Moral und Religion auf-
bauen, während das Versäumnis solcher Untersuchungen letztlich
darin mündet, dass auch Philosophen entweder einer Ergänzung der
Philosophie durch den Glauben oder sogar einer Gründung der Phi-
losophie auf den Glauben das Wort reden. Das kritische Potential sei-
ner ›naturphilosophischen Untersuchungen‹ stellt er somit insbeson-
dere dadurch immer wieder unter Beweis, dass er sich derselben als
eines Werkzeugs der Selbstkritik der Philosophie bedient, zum Zweck
der Selbsterkenntnis des Philosophen. Allein aus diesem Grund be-
reits wäre die Rede von Schellings Politischer Philosophie berechtigt.
10
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
11
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
1. Der »Vorbericht«
12
Der »Vorbericht«
8 Es ist dies übrigens kein Einzelfall. So suggeriert der Titel Fernere Darstellungen
aus dem System der Philosophie eine Fortführung der ein Jahr älteren Darstellung
meines Systems der Philosophie. Aus der Schrift selbst wird jedoch klar, dass diese
weniger eine Fortsetzung derselben als vielmehr eine erneute Darstellung des Sys-
13
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
tems aus einer allerdings anderen Perspektive enthält. Im Falle jener Schrift, die
Schelling ausdrücklich für eine Weiterführung jener Darstellung ausgibt (die sog.
Freiheitsschrift), ist ebenso wenig zu ersehen, wie sich diese an die geometrische Form
der früheren Schrift anschließen ließe (vgl. Schelling 1809a, VIII f. / SW VII, 333 f.).
9 Ähnlich war Schelling bereits einige Jahre zuvor in noch größerem Umfang in dem
11
Schelling 1809a, X / SW VII, 334.
14
Der »Vorbericht«
12
Schelling 1809a, IX / SW VII, 334. Die Bemerkung lässt sich nicht, wie Horst Fuhr-
mans es will, als eine Selbstkritik deuten, als ob Schelling damit erklärte, dass er von
der Lehre, wie er sie in Philosophie und Religion dargelegt hatte, inzwischen abge-
rückt wäre (vgl. Fuhrmans 1954, 70). Schelling bemerkt nämlich nicht, dass er jene
Lehre nicht mehr unterschreibt, sondern nur, dass sie »undeutlich geblieben« ist, d. h.
dass sie von seinen Lesern nicht verstanden worden ist (Schelling 1809a, IX / SW VII,
334). Den Grund dieses Unverständnisses sieht er allerdings in der von ihm gewähl-
ten Darstellungsweise. Zu fragen ist, ob jene Undeutlichkeit – für eine bestimmte
Klasse von Lesern – nicht von Anfang an beabsichtigt war. Aus keiner der weiteren
Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie und Religion und Freiheitsschrift lässt
sich eine eindeutige Absage an erstere Schrift herauslesen. – Die Bemerkung findet
sich in der »Vorrede« zum ersten (und einzigen) Band der 1809 veröffentlichten Phi-
losophischen Schriften, der auch die Freiheitsschrift enthält, und zwar gerade in dem
Teil der »Vorrede«, der letztere Schrift betrifft. Wenn Louis van Bladel zu Recht be-
merkt, dass Schelling in der Freiheitsschrift »dazu übergeht, die noch undeutlich ge-
bliebene Lehre aus Philosophie und Religion zu klären«, so bleibt dennoch fraglich, ob
die für die Freiheitsschrift gewählte Darstellungsweise sich zur größeren Deutlichkeit
besonders eignet (van Bladel 1965, 56). So spricht Thomas Buchheim von einem
»schwer zu durchschauende[n], in Gliederung und Gedankenführung scheinbar ver-
schwommene[n] Text« (Buchheim 1997, 169). Die »scharf gegliederte Struktur des
Argumentationsgangs« wird dadurch verschleiert, dass Schelling jede äußerlich sicht-
bare Gliederung unterlassen hat (ebd.). Vgl. zur Gliederung Tagebücher 1809–1813,
14 f. Fast am Ende der Schrift bemerkt Schelling in einer langen Fußnote: »Manches
konnte hier schärfer bestimmt und weniger lässig gehalten, manches vor Misdeutung
ausdrücklicher verwahrt werden. Der V f. unterliess es zum Theil absichtlich« (Schel-
ling 1809a, 503 / SW VII, 410; Herv. v. Verf.). Gleich anschließend verweist er erneut
auf Philosophie und Religion.
13
Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197.
15
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
16
Der »Vorbericht«
um die »größte Kürze der Darstellung« bemüht habe, weil diese »die
Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10,
115). Gerade diese fast provozierend anmutende Knappheit der Dar-
stellung dürfte allerdings die Unverständlichkeit des Ganzen noch
erheblich steigern. So verzichtet er beispielsweise auf Definitionen
der den Argumentationsgang tragenden Begriffe. Dass Schelling sich
über die Verständnisschwierigkeiten, die er dem Leser dadurch be-
reitet, durchaus im Klaren war, geht auch daraus hervor, dass er über
dieselben in den beigegebenen Anmerkungen und Erläuterungen
immer wieder reflektiert. Diese bieten dem Leser nicht Definitionen
oder Präzisierungen, die ihn imstande setzen würden, die Hindernis-
se zu beseitigen, sondern sie weisen ihn lediglich darauf hin, dass die
Unverständlichkeit des Textes möglicherweise nicht ausschließlich
dessen eigentümlicher Gestalt zuzuschreiben ist, sondern ihren
Grund, außer in der Sache selbst, auch in einer dem Leser beinahe
natürlichen Haltung haben könnte. Das Verstehen erfordert vielmehr
eine Abgewöhnung von festen Lesegewohnheiten 17 und ein Verges-
sen von »gangbaren Begriffe[n]« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)). Schließ-
lich wird dem Leser mit unverkennbarer Ironie versichert, dass die
gebotenen Demonstrationen »vollkommen verständlich seyn wer-
den, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe
subjectiv und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem
Satz genau eben das denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Er-
innerung, die wir hiemit ein für allemal machen« (AA I,10, 125 (§ 23
Erl.); Herv. v. Verf.), ohne dass ihm, wie es scheint, Mittel in die Hand
gegeben werden, sich dessen zu vergewissern, ob er denn ›bey jedem
Satz genau eben das denkt‹, was Schelling gedacht haben will. Wenn
dieser sich dann am Schluss des Textes trotzdem zuversichtlich zeigt,
dass die »größere Anzahl meiner Leser« imstande sein wird, »den
Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu begreifen (AA
I,10, 211 Anm. F), dann wird die Bestimmtheit dieser Erklärung
durch die Zwischenbemerkung, dass es »nicht unmöglich ist«, »den
Sinn des Ganzen schon aus diesem Bruchstück« zu erschließen (AA
I,10, 211 Anm. F; Herv. v. Verf.), doch wieder relativiert und ironi-
siert. Die Rezeption scheint jedenfalls zu belegen, dass die Darstel-
17 Vgl. AA I,10, 117 (§ 2 Erl.), 130 f. (§ 32 Anm.). An letzterer Stelle ist die Rede von
denjenigen, »welche in den gewöhnlichen Vorstellungen so fest, und gleichsam ver-
härtet sind« (hier setzt Schelling sogar einer Parataxe ein). Das Verstehen philosophi-
scher Beweise setzt einen Losriss aus solchen Vorstellungen voraus.
17
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Bereits durch ihren Titel lenkt die Darstellung meines Systems der
Philosophie die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Darstellung. Der
Begriff ist allerdings mehrdeutig oder vielschichtig. In der Tat bohrt
Schelling im Laufe der nur wenige Seiten umfassenden »Vorerinne-
rung« nach und nach mehrere dieser Schichten an. Zunächst, auf den
ersten Seiten der »Vorerinnerung«, kommen gehäuft Ausdrücke vor,
die auf die Differenz von Darstellung als Ausführung, als schriftliche
Fixierung und als Veröffentlichung hindeuten. Zu nennen sind Aus-
drücke wie »öffentlich aufstellen«, »zur Bekanntschaft aller bringen«,
»vortragen«, »erscheinen«, »Darlegung«, »Ausführung«, »Behand-
lung« (AA I,10, 109, 114 f.). Danach wäre ›Darstellung‹ als eine
Handlung zu verstehen, die einer Sache eine öffentlich sichtbare
Existenz oder Präsenz verschafft. Auf ›Darstellung‹ im Sinne einer
18
Unter den wenigen Ausnahmen: Blanchard 1979, 308–312; Buchheim 1990, 334–
336; Buchheim 1992, 57–60, 74–80; Florig 2010, 85–110; Jürgens 2000; Korsch 1980,
106–110; Tilliette 1992, 305–333.
18
Der Begriff der ›Darstellung‹
19 Schelling 1804, III / SW VI, 13. Übrigens hält Schelling noch lange am Vorhaben
fest, das zweite Gespräch bzw. die ganze Gesprächsreihe zu vollenden. Erst 1806, dann
1811 ist das zweite Gespräch so weit gediehen, dass er eine Veröffentlichung erwägt,
den Plan dann letztendlich doch aufgibt. Vgl. F. W. J. Schelling an F. Unger, 8. Februar
1806, Fuhrmans, Briefe III, 304; F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 21. Feb-
ruar 1806, Fuhrmans, Briefe III, 309; F. Unger an F. W. J. Schelling, 18. März 1806,
Fuhrmans, Briefe III, 320. Ferner Fuhrmans, Briefe III, 346 f.; und die Briefe von
F. W. J. Schelling an J. F. Cotta, 18. Oktober 1807, 26. Februar 1808, 15. November
1808, 13. Januar 1809, 30. Januar 1811, Schelling-Cotta 21, 27, 37, 39, 50.
19
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
20
Der Begriff der ›Darstellung‹
21
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
26Wieland 1995, 17. Ich knüpfe hier und in der Folge an die Überlegungen Wielands
an.
22
Der Begriff der ›Darstellung‹
27
Vgl. AA I,7, 65; AA I,10, 211; Schelling 1802d, 15 / SW V, 27.
23
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
fehlt, nur beiläufig Rücksicht. 28 Es ist auch gar nicht zufällig, wenn
Schelling Gegnern wie Anhängern immer wieder vorhält, dass sie ihn
missverstehen. Dies sieht zunächst wie eine bequeme Entgegnung
aus, da man sich dadurch die Mühe zu ersparen scheint, auf Einwände
einzugehen. Das Problem des Verstehens und der Verständlichkeit
hat für die Philosophie aber eine ganz besondere Prägnanz. Die
zugrundeliegende Behauptung lautet, dass es kein »reine[s] Nicht-
begreifen« gibt, sondern dass dieses sich immer in der Gestalt eines
Missverstehens manifestiert. 29 Jede Unverständlichkeit ist nur relativ,
und zwar relativ auf die Verstehenshaltung, mit welcher der Leser
philosophischer Texte an diese herantritt: »[W]as der oft belobte
Cajus oder Titius nicht versteht, ist darum noch nicht unverständ-
lich« (SW X, 163). 30 Die Unverständlichkeit philosophischer Behaup-
tungen ist keine Qualität, die diesen inhäriert, sondern sie ergibt sich
allererst aus der Haltung des interpretierenden Subjekts. Demzufolge
sind philosophische Sätze nur so lange unverständlich, als man mit
einer unangemessenen Verstehenshaltung an sie herantritt und sie
nach einem ungeeigneten Maßstab der Verständlichkeit beurteilt.
Für denjenigen, der sich die für das Verständnis solcher Sätze erfor-
derliche Verstehenshaltung herangebildet hat, sind diese nicht mehr
unverständlich. Die Sache der Philosophie ist denn auch nichts Über-
verständiges, d. h. etwas, was von sich aus jede Möglichkeit eines Ver-
stehens schlechthin ausschließt. In der Mitteilung philosophischer
Inhalte hat der Philosoph also durchaus auf solche Verstehensproble-
me Rücksicht zu nehmen. Es kann ihm nicht genügen, Sätze einfach
hinzustellen, wenn er Grund hat, anzunehmen, dass dem philosophi-
schen Publikum die erforderlichen Kompetenzen zu ihrem Verständ-
nis fehlen. Er muss für den Leser die Mittel bereitstellen, sich solche
Kompetenzen heranzubilden, wenn dieser über Wahrheit oder Un-
wahrheit dieser Sätze urteilen und sie einer Prüfung unterziehen soll.
Das Nicht-Verstehen ist demnach kein Phänomen sui generis. Das
Korrelat des Verstehens ist nicht das Nicht-Verstehen, sondern das
Missverstehen. Das Missverstehen ist selbst eine Form des Ver-
stehens. Man missversteht einen Satz, wenn man ihm eine Aus-
legung unterschiebt, die ihm nicht angemessen ist.
24
Der Begriff der ›Darstellung‹
25
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
33
Dieses Beispiel entlehne ich aus Buchheim 1992, 25 f.
26
Der Begriff der ›Darstellung‹
27
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
gebaut sein, dass sie den Leser zu einer bewussten Eigenleistung ver-
anlassen. Dies können sie nur, indem sie dem unmittelbaren Ver-
ständnis Widerstand leisten, da jene stets erbrachte Eigenleistung
bei zu ›glatt‹ gestalteten Texte gerade verschleiert wird. 34 Der Text
als ›Aktenstück‹ dient bloß als ein Mittel, das den Leser in die Lage
versetzen soll, sich auf die im und durch den Text zur Darstellung
gelangende Sache zu beziehen. Da die Sache der Philosophie – die
von Schelling bekanntlich als die ›Idee des Absoluten‹ bezeichnet wird
– in der Erfahrung nicht zugänglich ist, bedarf es auch einer besonde-
ren Art von Texten, um den Leser den Zugang zu derselben finden zu
lassen. Falls die Sache auch ohne den Umweg über einen Text zugäng-
lich ist, weil sie z. B. in der Erfahrung gegeben ist, kann durch die
Vergleichung des Textes mit dem Gegenstand darüber entschieden
werden, ob die Wiedergabe die Sache trifft oder nicht. Das Verhältnis
zwischen Text und Sache ist hier ein solches der Nachahmung. 35
Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn die Sache nicht in der
Erfahrung gegeben ist und erst durch den Text zur Präsenz gelangt.
›Darstellung‹ ist danach eine indirekte Vergegenwärtigung einer Sa-
che. Gerade weil die Philosophie ihren Gegenstand nicht in der Erfah-
rung vorfindet, ist auch sie insbesondere auf Texte angewiesen, um
sich ihrer Sache zu vergewissern. Aus diesem Grund hat Schelling
den Begriff der Darstellung, der sich in der kunsttheoretischen Re-
flexion bereits als höchst fruchtbar erwiesen hatte, aufgegriffen, um
die damit verbundenen Probleme zu artikulieren. Zunächst dürfte es
so aussehen, als ob dadurch einer ›Ästhetisierung‹ der Philosophie
Vorschub geleistet wird. Zum Teil dürfte dies daran liegen, dass jener
Ausdruck ursprünglich im literarischen und ästhetischen Bereich hei-
misch war. Da das vornehmste Geschäft der Dichter und Künstler in
34 Es ist vielleicht dies keine ungeeignete Stelle, daran zu erinnern, dass gerade die
Darstellung meines Systems gleich nach ihrem Erscheinen eine ganze Reihe von hef-
tigen Reaktionen hervorgerufen hat, die öfters die Form einer – absichtlichen oder
unabsichtlichen – Parodie annehmen. Zu nennen ist Des Paracelsus Spinosiors Abo-
lutes Ey, von Johann Heinrich Abicht unter dem Pseudonym Ernest Polarch 1803
veröffentlicht (vgl. AA I,10, 69 (Ed. Bericht)). Ferner die von Aenesidemus verfassten
Aphorismen über das Absolute (vgl. dazu Schelling 1805b, 22, 81 / SW VII, 153, 193).
35 Über den Paradigmenwechsel, den die Ersetzung des Nachahmungsbegriffs durch
den Begriff der Darstellung bedeutete: Stahl 1957; Heuer 1970; Menninghaus 1994;
außerdem Koller 1954. Zur Begriffsgeschichte: Mülder-Bach 1998. – In der Aka-
demierede von 1807 entfaltet Schelling übrigens rigoros das kritische Potential des
Darstellungsbegriffs in Bezug auf alle möglichen Varianten der Nachahmungstheorie
(bes. Schelling 1809a, 345–360 / SW VII, 293–305).
28
Der Begriff der ›Darstellung‹
36
Hösle 2006, 7.
29
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
37 Dies nimmt Vittorio Hösle in seiner »Taxonomie und Kategorienlehre des philoso-
phischen Dialogs« ausdrücklich in Kauf: Zwischen theoretisch-inhaltlicher und ästhe-
tisch-formaler Analyse besteht ein »komplementäres Verhältnis«. Beide können ne-
beneinander und unabhängig voneinander praktiziert werden: »Beide Betrachtungen
sind legitim, können einander aber auch immer wieder ignorieren« (Hösle 2006, 9,
14).
30
Der Begriff der ›Darstellung‹
man ihm eine flache, von Schelling nicht intendierte, Vorstellung von
Philosophie wie Poesie zugrunde legt, derart, dass beide Lesarten
gleich verhängnisvoll sind.
Über das Interesse an der Form scheint demnach die intentionale
Dimension von philosophischen Texten aus dem Blick zu geraten. 38
Die gegenständliche Betrachtung, die den Text nach seinen formalen
Aspekten untersucht, ist aber dadurch motiviert, dass der Text einem
intentionalen Zugang Widerstand leistet. Wenn dieser Widerstand
nun in der besonderen Beschaffenheit des Gegenstandes dieser Texte
seinen Grund hat, dann braucht das Interesse an der Form nicht eo
ipso zu einem ›ästhetisierenden‹ Umgang mit philosophischen Texten
zu führen. Der Widerstand gegen einen unmittelbar intentionalen
Umgang wäre sogar notwendig, um der naiven Einstellung zu Texten
vorzubeugen und die übertriebenen Erwartungen an ihre Leistungs-
fähigkeit zu durchkreuzen, da für den Leser nur so die Chance be-
stünde, einen Zugang zu diesem Gegenstand zu gewinnen. Die naive
Einstellung würde selbst bereits auf einer Vorentscheidung über die-
sen Gegenstand beruhen. Was diese Sache sei, ist aber »eine nicht-
triviale Frage, deren Erörterung bereits in den Innenbereich der Phi-
losophie gehört«. 39 Der Widerstand, den philosophische Texte dem
intentionalen Umgang leisten, gründet in der eigentümlichen Be-
schaffenheit der Sache, auf welche sie sich beziehen. Diese Sache ist
nicht von einer solchen Beschaffenheit, dass sie sich beschreiben oder
nachahmen ließe, sie ist nicht unabhängig von dem durch philosophi-
sche Texte eröffneten Zugang erschließbar, derart, dass die philoso-
phische Darstellung mit der dargestellten Sache verglichen werden
könnte. 40 Wenn der Philosoph in einer Reflexion über seine schrift-
stellerische Tätigkeit den Begriff der Darstellung aufgreift, dann be-
wegen ihn dazu die eigen- und einzigartige Beschaffenheit der Sache
der Philosophie und das Problem ihrer Darstellbarkeit.
Die Philosophie kann nie ein nachahmendes Verhältnis zu ihrer
Sache haben; sie kann nur Darstellung ihrer Sache sein. Ist sie aber
Darstellung, dann ist eine vergleichende Betrachtung ausgeschlossen.
Damit stellt sich die Frage nach dem Kriterium, wonach wir die mit
solchen Texten verknüpften Wahrheitsansprüche beurteilen können.
Es ist wohl die Befürchtung, dadurch philosophische Behauptungen
38
Wieland 1995, 16–21.
39 Wieland 1982, 8. Vgl. Wieland 1995, 15, 26–30.
40
So auch Jähnig 2011, 41.
31
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
der Beliebigkeit preiszugeben, die dazu führt, dass man in die naive
Einstellung zu Texten zurückfällt. Gerade dort, wo ein textfreier Zu-
gang zur Sache der Philosophie angenommen wird, ist die Gefahr
besonders groß, dass sich Vormeinungen über die Sache einmischen
und dass gerade der angeblich textfreie und vorphilosophische Zu-
gang zur Sache von – freilich verwässerten und trivialisierten – phi-
losophischen Vormeinungen durchsetzt ist. Darauf hat Schelling in
seinen frühesten Schriften, besonders in seiner Auseinandersetzung
mit der Kant-Rezeption seiner Zeit, immer wieder aufmerksam ge-
macht. »Was Philosophie überhaupt seye«, so Schelling, »läßt sich
nicht so schnell beantworten«. Um diese Frage zu beantworten, muss
man bereits philosophieren, oder: »[D]ie Idee von Philosophie« ist
»nur das Resultat der Philosophie selbst« (AA I,5, 69; vgl. AA I,9,1,
48; AA I,10, 89). Die Bestimmung dessen, was die Philosophie ihrem
Wesen nach ist und was sie zu leisten hat, welche Aufgaben sie zu
lösen hat, lässt sich demnach nicht von außen an einen philosophi-
schen Text herantragen. Der Leser hat sich also zunächst zu fragen,
ob er angesichts dieser Idee der Philosophie mit dem Autor überein-
stimmt, so wie der Autor zunächst dafür zu sorgen hat, dass der Leser
imstande gesetzt wird, der Sache, an welcher er (der Autor) sich ori-
entiert, innezuwerden.
Solche Verhältnisse scheint Schelling im Auge zu haben, wenn er
in Philosophie und Religion zwei Zugangsweisen zur Idee des Abso-
luten als ›Beschreibung‹ und ›Anschauung‹ unterscheidet. Diese Un-
terscheidung wurzelt in einer Reflexion über die Leistungsfähigkeit
von philosophischen Texten sowie auf die Folgen eines unreflektier-
ten Umgangs mit solchen Texten. Die Sätze, die der Philosoph über
die Idee des Absoluten aufstellt, sind nicht als eine Beschreibung der-
selben gemeint. Der Leser, der übersieht, dass »die Beschreibung […]
bloss negativ« ist und »nie das Absolute selbst, in seiner wahren We-
senheit, vor die Seele« bringt, fällt dadurch »fast nothwendig« in
einen »Irrthum«. 41 Das Absolute selbst lässt sich nicht beschreiben;
eine Erkenntnis desselben ist nicht auf dem Wege einer Beschreibung
erreichbar: »[N]ur das Zusammengesetzte ist durch Beschreibung er-
kennbar«. 42 Nur eine überzogene Erwartung an die Leistungsfähig-
32
Der Begriff der ›Darstellung‹
keit von philosophischen Texten lässt den Leser in jenen Irrtum fal-
len, da er meint, ein Text vermag die Sache unmittelbar, ohne Eigen-
leistung des Lesers, zur Präsenz zu bringen. Diese Eigenleistung be-
zeichnet Schelling auch als ›Anschauung‹. Die Beschreibung des
Philosophen beschreibt nämlich nicht so sehr die Sache selbst, son-
dern vielmehr nur eine geordnete Folge von Leistungen, die der Leser
zu erbringen hat, wenn er zur Einsicht in jene Sache gelangen will.
Der Text fungiert somit in etwa wie eine Partitur oder eine bloße
Vorlage: Es bleibt dem Leser überlassen, diese zur Ausführung zu
bringen. Schellings Texte insbesondere sind meistens so verfasst, dass
die wesentliche Arbeit dem Leser oder Interpreten überlassen bleibt.
So begründet Schelling die gewählte Darstellungsweise damit, dass
sie »die größte Kürze der Darstellung verstattet« und dadurch »die
Evidenz der Beweise am bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10,
115). Diese Kürze bedeutet indessen auch, dass die einzelnen Schritte
eigentlich mehr nur andeutungsweise gegeben werden, die wirkliche
Ausführung aber dem Leser überlassen bleibt. 43 Insofern vermag der
philosophische Text seine Sache nur indirekt zu vergegenwärtigen. Er
kann sie nicht zur Vorstellung, sondern immer nur zur Darstellung
bringen. Damit ist auf das einzigartige Verhältnis der Philosophie zu
Texten hingewiesen: Zwar ist sie auf Texte angewiesen, um über-
haupt Zugang zu ihrer Sache zu gewinnen, da diese nicht in der Er-
fahrung gegeben ist. Andererseits ist diese Sache jedoch nicht derart,
dass sie eine nur textimmanente Realität hätte, wie im Falle eines
literarischen Textes. Der Leser bedarf zwar der Unterstützung eines
Textes, um überhaupt auf diese Sache gerichtet zu werden, muss dann
doch wieder dem Text gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit erlan-
gen, da auch die Sache selbst eine gewisse Unabhängigkeit dem Text
351–354 (§ 59)). Eine Idee lässt sich also per definitionem nicht so beschreiben, dass
das Beschriebene durch die Beschreibung selbst zur Präsenz gelangte. Die Beschrei-
bung kann höchstens eine Anleitung bieten, wie man zu verfahren habe, um die Idee
zu konstruieren. Nur wenn diese Anleitung befolgt und die Idee auch selbst konstru-
iert wird, tritt das Absolute in seiner wahren Wesenheit selbst vor die Seele. Zum
Darstellungsbegriff bei Kant: Gasché 1994; Bahr 2004. Bei Fichte: Stolzenberg 1986,
120–137, 148–161.
43 Ähnlich auch in den Aphorismen zur Einleitung in die Naturphilosophie: Hier
kommt es nur darauf an, einen Überblick über das Ganze und eine Einsicht in den
Zusammenhang zu gewinnen (vgl. Schelling 1805b, 12 / SW VII, 146). Am offen-
sichtlichsten ist dies wohl bei der Darstellung in der Form eines Gesprächs, wo es beim
Leser liegt, sich die Figuren in ihrer Interaktion vorzustellen statt sich mit einer der-
selben zu identifizieren.
33
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
gegenüber hat, durch welche sie überhaupt erst zur Darstellung ge-
langt.
Damit ist auch gesagt, dass alle Sätze, die sich bei Schelling über
das Absolute oder dessen Idee finden, nicht als Aussagen über be-
stimmte Sachverhalte zu verstehen sind, da sie dasjenige, worauf sie
sich beziehen, gar nicht zu ›beschreiben‹ oder auf eine direkte Weise
präsent zu machen beabsichtigen. Stattdessen handelt es sich um
Handlungsanweisungen oder Anleitungen. 44 Auch wenn diese Sätze
wie Theoreme aussehen, die über einen Sachverhalt etwas aussagen
sollen, wollen sie doch nur zeigen, wie man zu verfahren habe, um
einen bestimmten Begriff bzw. eine Idee zu konstruieren. Dem Leser
sollen nicht Wissensinhalte unmittelbar mitgeteilt, sondern ihm soll
vielmehr gezeigt werden, wie er sich eine bestimmte Form des Wis-
sens, das sich nie in solchen Inhalten oder Ergebnissen erschöpft,
selbst erwerben kann. 45 Der Grund, weshalb Schelling hier den Be-
griff der ›Beschreibung‹ einführt, ist folgender. Unter ›Beschreiben‹
versteht man gemeinhin die Auflösung eines Gegenstandes in Begrif-
fen. Bei seiner Verwendung des Begriffs der ›Beschreibung‹ hebt
Schelling auf diesen Moment der Auflösung in einzelne Konstruk-
tionsschritte ab. Wenn er hinzufügt, dass dasjenige, was hier auf-
gelöst wird, »in dem Gegenstand absolut Eins ist«, dann heißt dies
natürlich nicht, dass der Leser diese einzelnen Schritte auch auf ein-
mal zu vollziehen habe. 46 Er hat während der Konstruktion nur
immer zu bedenken, dass dasjenige, was in einzelnen Schritten kon-
struiert wird, dadurch, dass es sich nur sukzessiv denken lässt, nicht
auch im Gegenstand sukzessiv ist. So bedarf es auch zur Konstruktion
einer geometrischen Figur einzelner Schritte und es besteht eine lo-
gische Folge zwischen diesen Schritten, aber dies heißt nicht, dass
eine Figur auf diese Weise auch wirklich entsteht, als ob mit dieser
begrifflichen Genese auch eine wirkliche Genese beschrieben wäre.
Deshalb muss während der Konstruktion von der Sukzession ›abstra-
hiert‹ werden. So kann es von den Potenzen auch heißen, dass sie
selbst »absolut gleichzeitig« sind, obwohl sie in einer logischen
Schrittfolge konstruiert werden (AA I,10, 136 (§ 44)).
Auch die Angaben im »Vorbericht« von Philosophie und Religion
sind nicht so sehr als Materialien einer Entstehungsgeschichte der
44
Vgl. Buchheim 1990, 334 f.
45 Vgl. Wieland 1982, 21.
46
Schelling 1802b, 52 / SW IV, 374.
34
Der Begriff der ›Darstellung‹
47
Der Hinweis auf ein »schon seit längerer Zeit« halbfertiges Gespräch (Schelling
1804, III / SW VI, 13) dürfte auch dadurch motiviert sein, den Verdacht nicht auf-
kommen zu lassen, dass die Ausführungen in Philosophie und Religion erst aus An-
lass von Eschenmayers Bedenken entwickelt wurden. Dass ein solcher Verdacht unbe-
gründet ist, zeigt sich allerdings bereits an dem früheren Aufsatz Ueber das
Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt von 1802. Auf die viel-
fältigen Beziehungen zwischen beiden Schriften wurde bereits früh hingewiesen, vgl.
Michelet 1839, 33 f., 52, und neuerdings Danz 2002, 205 und Ziche 2002, 211.
48 Vgl. indessen den Brief vom 4. April 1802 an A. W. Schlegel, wo es heißt, dass
Bruno »der erste Versuch [ist], ich hoffe aber nun weiter auf dieser Bahn fortzugehen,
und mir diese Form immer mehr zu eigen zu machen« (F. W. J. Schelling an A. W.
Schlegel, 4. April 1802, AA III,2,1, 426).
49 »Wenn aufmerksame Leser, in dieser [sc. in Philosophie und Religion, R. S.], Spu-
ren einer höheren organischen Verbindung erkennen, aus der die einzelnen Theile
gerissen sind, so werden sie es sich aus dem Gesagten erklären« (Schelling 1804, III /
SW VI, 13). Der Satz enthält eine (von Schelling bereits AA I,9,1, 301 zitierte) An-
spielung auf Horaz’ Sermones, I 4, 57–62: Nähme man aus den von Horaz zitierten
Ennius-Versen Versmaß und Rhythmus hinweg und veränderte zudem die Wortstel-
lung, dann würde man selbst nicht mehr die Teile oder Glieder eines zerrissenen
Dichters finden, sondern die poetische Qualität wäre schlechthin zerstört. Schelling
kontrastiert hier die Weise, wie er selbst in dieser Schrift aus ›einzelnen Theilen‹ ein
neues Ganzes bildet mit der Art, wie Gegner und Anhänger einzelne Teile aus dem
Ganzen herausreißen. – Wenn Schelling auch folgende Sätze Rousseaus nicht kennen
konnte, da diese erst 1861 zum ersten Male veröffentlicht wurden, so drücken sie doch
seltsamerweise ganz treffend sein eigenes Verfahren aus: »Quelques précautions
m’ont donc été d’abord nécessaires, et c’est pour pouvoir tout faire entendre que je
n’ai pas voulu tout dire. Ce n’est que successivement et toujours pour peu de Lecteurs,
que j’ai développé mes idées. Ce n’est point moi que j’ai ménagé, mais la vérité, afin de
la faire passer plus sûrement et de la rendre utile. Souvent je me suis donné beaucoup
de peine pour tâcher de renfermer dans une Phrase, dans une ligne, dans un mot jetté
comme au hasard, le résultat d’une longue suitte de réflexions. Souvent la pluspart de
mes Lecteurs auront du trouver mes discours mal liés et presque entierement décou-
sus, faute d’appercevoir le tronc dont je ne leur montrois que les rameaux. Mais c’en
étoit assez pour ceux qui savent entendre, et je n’ai jamais voulu parler aux autres«
(Rousseau 1754, 106).
35
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Das Gespräch Bruno ist die erste Schrift, die Schelling in Philosophie
und Religion erwähnt, und zwar sogleich im ersten Satz. Es ist auch
diejenige Schrift, auf welche Schelling in der Folge am meisten ver-
weist. 52 Insofern er Philosophie und Religion als eine Art Weiterfüh-
rung jenes Gesprächs präsentiert, ist klar, dass diesem für jene eine
besondere Bedeutung zukommen muss. 53 Wir werden in der Folge
noch Gelegenheit haben, auf jene Hinweise zurückzukommen, die in
50
Vgl. Schelling 1802a, 33–35 / SW IV, 233 f.
51 Schelling 1804, III / SW VI, 13.
52
Außer im Vorbericht wird das Gespräch noch sechsmal erwähnt: einmal im ersten
(Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) und fünfmal im zweiten Abschnitt (Schelling 1804,
19, 19 f., 26, 27, 53 / SW VI, 28, 29, 32, 33, 50). Außerdem finden sich im Anhang
deutliche Anklänge, die aber nicht als solche kenntlich gemacht werden. Neun der
neunundzwanzig Fußnoten verweisen auf weitere Schriften Schellings, vierzehn auf
die Schrift Eschenmayers. Nur sechs Fußnoten verweisen auf andere Autoren, davon
vier auf antike und zwei auf moderne Autoren (Homer, zweimal Platon, Cicero, Spi-
noza und Friedrich Schlegel).
53 Dies dürfte teils auch dadurch motiviert sein, dass Eschenmayer besonders diese
Schrift wiederholt zitiert, vgl. Eschenmayer 1803, 62 (§ 70), 67–69 (§ 72), 78 (§ 79).
36
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
57 Die nachfolgenden Überlegungen können als eine Ergänzung zur »Poetik und Her-
meneutik« des »philosophischen Dialogs« angesehen werden, die Vittorio Hösle vor-
gelegt hat. Hösle unterscheidet allerdings nicht zwischen symbolischem und natür-
lichem Gespräch. Überhaupt differenziert er kaum zwischen unterschiedlichen
Dialogtypen. Zwar arbeitet er einen Satz von flexiblen formalen Kriterien heraus,
die einer solchen Differenzierung hätten dienlich sein können. Er bringt sich aller-
dings um den Gewinn, der mittels seiner anvisierten »Taxonomie und Kategorien-
lehre des philosophischen Dialogs« zu erzielen gewesen wäre, indem er jene Kriterien
durch die Annahme einschränkt, dass der philosophische Dialog ein »literarisches
Genre« ist, das »ein reales Phänomen, den philosophischen Austausch zwischen ver-
schiedenen Menschen« nur »spiegelt bzw. transformiert«, und somit eine bloß litera-
risch überformte oder stilisierte Darstellung eines »direkten sozialen Austausches«.
Dieser Begriff von dem, was ein Dialog zu sein hat, den er nicht aus einer Analyse von
Dialogen gewonnen hat, sondern anfangs apodiktisch aufstellt, wird in der Folge als
ein normatives Kriterium angewandt. Dies hindert ihn von vornherein daran, über-
haupt noch die Frage zu stellen, inwiefern es einem Autor gelingt, ein vorgefundenes
Genre nach seinen eigenen Zwecken und in Übereinstimmung mit seiner eigenen
37
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Absicht zu verwenden und zu verwandeln. Es darf denn auch kaum verwundern, dass
der Autor, wenn er im zweiten Teil seiner Arbeit auf Bruno zu sprechen kommt, nur
wenig mit diesem Dialog anzufangen weiß und ihn nach seinem Maßstab nur als
defizient einstufen kann. So sieht er sich dazu genötigt, dem Gespräch die »dramati-
sche Qualität« abzusprechen, da es keinen besonders hohen »Polyphoniegrad« auf-
weise, »auf der theoretischen Ebene zu wenig Diversität zwischen den verschiedenen
Gesprächspartnern« herrsche und in seiner Form nicht die postulierte Intersubjekti-
vität spiegele. Durch seine bloße Form würde es »jede Andersheit perhorreszieren«.
Der Autor schließt, dass die Dialogform »in einem solchen Fall ganz gewiss überflüs-
sig« ist und somit nur eine literarische Einkleidung von Inhalten, die sich ohne we-
sentliche Verluste auch ohne diese aufwendige literarische Aufmachung hätten ver-
mitteln lassen. Im Allgemeinen kann man zu solchen Urteilen bemerken, dass sie der
bestimmenden Urteilskraft entspringen, da ein besonderer Fall nach einem allgemei-
nen Kriterium beurteilt wird. Da in diesem Fall das Besondere dem Kriterium nicht
genügt, wäre allerdings zu fragen gewesen, ob dies nicht vielmehr die Unzulänglich-
keit der angelegten Kriterien anzeigt. Vielleicht wäre hier vielmehr die reflektierende
Urteilskraft gefragt, die das der Sache angemessene Kriterium erst noch zu suchen hat
und aus der Sache selbst zu erschließen sucht. Die Subsumtion des Bruno unter den
allgemeinen Begriff des Dialogs reicht nicht aus, um auch die mit dieser Form ver-
folgte Absicht zu erkennen (Hösle 2006, 7–10, 32, 49 f., 54, 279–282). Übrigens ist der
Vorwurf eines Mangels an ›Polyphonie‹ nur die Neuauflage einer bereits von Karl
Jaspers formulierten Kritik: »Die Philosophie des deutschen Idealismus in ihren viel-
fachen Gestalten hat das Gemeinsame, eine Philosophie des Abschließens, der Kom-
munikationslosigkeit zu sein in der Behauptung und systematischen Darstellung des
absoluten Wissens. Es ist keine Philosophie, in der sich lebendige Menschen, die noch
fragen und im Ernst ihr Schicksal ergreifen, die Hand reichen, sondern eine Philoso-
phie, die man als Anhänger in gehorsamer Unterwerfung glauben und fanatisieren
[…] kann, die aber unfähig ist, zu Dasein und Lebensform durch den Ernst einer sie
ergreifenden Existenz zu werden«. Und: »Kommunikationslos ist die Philosophie, die
Gefolgschaft will und bewirkt. Sie fordert Gehorsam. Wer sie verkündet, will beleh-
ren, einprägen, Denkmanieren erzeugen, aber nicht antworten, wo ihm etwas Frem-
des begegnet, das für ihn nicht einzubeziehen ist. Kommunikativ dagegen ist die Phi-
losophie, die ihre Wahrheit nicht als das eine Gebilde des Denkens beansprucht,
sondern sie, als in Kommunikation stattfindend, in dieser selbst immer noch sucht«.
Allerdings ist Jaspers gezwungen zuzugeben, dass die Wirkung Schellings »nicht als
Schelling-Schule faßbar« ist: »Sie ist zudem zerronnen, unmerklich, als ob sie gar
nicht gewesen wäre«; Schelling »hat keine Schule. Schulen produzieren eine brauch-
bare Literatur der Mediokrität, wie Hegel oder Herbart«; eine Philosophie wie die
Schellings kann »nur auf Einzelne« wirken (Jaspers 1955, 284, 340, 329; vgl. auch
Jaspers 1955, 119). Die Tendenz dieser Kritik hat Jürgen Habermas treffend charakte-
risiert: »So unterstehen alle philosophischen Gedanken als ihrem obersten Richtmaß
der Frage, ob sie Kommunikation hemmen oder fördern«. Damit folgt Jaspers dem
38
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
»Impuls«, dass »sich die bewährten Methoden der parlamentarischen Diskussion auch
in der philosophischen fruchtbar verwirklichen lassen« (Habermas 1971, 99 f.).
58
Vgl. Schelling 1802a, 3–35 / SW IV, 217–234.
59 Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. Schelling 1802a, 23–35 / SW IV, 227–233.
61 In der Darstellung meines Systems hatte Schelling bereits angekündigt, dass diese
Frage bei einer Weiterentwicklung des Systems zur Sprache kommen werde (vgl. AA
I,10, 211). Dieses Versprechen wird hier also eingelöst.
62 Wenn dieser Punkt Schelling 1802a, 23 / SW IV, 227 auch im Wesentlichen er-
reicht ist, so ist das Gespräch doch erst Schelling 1802a, 33 / 233 wirklich zu dem
Punkt zurückgebracht, wo es am Vortag abgebrochen wurde; hier gibt Anselmo eine
Zusammenfassung des damals von Polyhymnio Gesagten.
39
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
werden kann. 63 Der Hauptteil des Gesprächs ist somit auch als ein
Beitrag zur endgültigen Beantwortung jener Frage nach dem Verhält-
nis von Philosophie und Dichtung gedacht. Anselmo, der hier zu-
nächst in der Rolle eines Gesprächsleiters auftritt, 64 erinnert Lucian
und Alexander an ihre früheren Behauptungen. Während Lucian be-
hauptet hatte, dass »in vielen Werken die höchste Wahrheit seyn
könne, ohne daß ihnen darum auch der Preis der Schönheit zuerkannt
werden dürfte«, vertrat Alexander hingegen die These, dass »die
Wahrheit allein alle Foderungen der Kunst erfülle, und daß einzig
durch diese ein Werk wahrhaft schön werde«. 65 Während er die These
Lucians keiner weiteren Untersuchung für würdig befindet, wendet
Anselmo sich ausschließlich Alexander zu. Seine Fragen zielen in
erster Linie darauf ab, herauszufinden, in welchem Sinne Alexander
die Begriffe ›Wahrheit‹ und ›Schönheit‹ verstanden habe, als er be-
hauptete, dass ein Werk einzig durch die Wahrheit dessen, was in ihm
ausgedrückt ist, auch schön ist und dadurch »allein alle Foderungen
der Kunst erfülle«, dass es den Erfordernissen der Wahrheit genügt. 66
Dabei stellt sich heraus, dass Alexander die Schönheit nur deshalb der
Wahrheit hat unterordnen können, weil er Wahrheit als die korrekte
Wiedergabe eines vorhandenen Wirklichen verstand. Dem hält An-
selmo entgegen, dass diese »Art der Wahrheit […] nur Der zur Regel
und Norm der Schönheit machen [kann], welcher nie die unsterbliche
und heilige Schönheit erblickte«. 67 Alexanders These ist somit nur
deshalb falsch, weil er dabei einen unzureichenden Begriff von Wahr-
heit als Nachahmung von in der Erfahrung gegebenen Dingen zu-
grunde gelegt hatte. Dennoch beschließt Anselmo die Überredung
mit der unverkennbar ironischen Bemerkung, dass Alexander »also
ganz rechte« hatte, wenn er urteilte, dass »ein Kunstwerk einzig
durch seine Wahrheit schön sey«, da er hingegen damit sagen will,
dass nur der wahre Philosoph auch am besten die Kunst des Schrei-
bens beherrsche. 68 Dementsprechend bringt er Alexander, ihn dem
66
Schelling 1802a, 3 / SW IV, 217.
67 Schelling 1802a, 21 f. / SW IV, 226 f.
68
Schelling 1802a, 21 / SW IV, 226.
40
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
69 Schelling 1802a, 29 / SW IV, 230 f.; Herv. v. Verf. Solche Figuren des Unbewussten
fanden übrigens von früh an Schellings Interesse. Siehe das Studienheft ›Über Dich-
ter, Propheten, Dichterbegeisterung, Enthusiasmus, Theopnevstie, u. göttliche Ein-
wirkung auf Menschen überhaupt‹ (vgl. AA II,4, 15–28).
70
Schelling 1802a, 22 / SW IV, 227.
41
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
71
Vgl. Whistler 2013, 15.
42
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
so besagt der Satz, wonach das Symbol das Dargestellte ist, nicht, dass
Symbol (die Darstellung) und Idee (das Dargestellte) einerlei sind,
sondern dass sie identisch sind oder dass zwischen beiden ein Darstel-
lungsverhältnis besteht. Daraus folgt, dass es bei der symbolischen
Darstellung kein äußeres Kriterium der Beurteilung wie z. B. die Ver-
gleichung gibt. Anders als Schema und Allegorie erfährt das Symbol
seine Deutung nicht von etwas außer ihm, sondern es ist selbst deu-
tend. Es stellt ein Potential bereit, das Wirkliche auf seine Bedeutung
oder seinen Sinngehalt hin zu erschließen. Deshalb gibt »die deutsche
Sprache Symbol vortrefflich als Sinnbild wieder« (SW V, 412). 72 Dies
geschieht dadurch, dass das Symbol, nach der ursprünglichsten Be-
deutung von ›Symbolon‹, zwei Bereiche zusammenbringt, die sich
aufgrund ihrer formalen Entsprechungen wechselseitig zu deuten
und durchsichtig zu machen vermögen. So können Phänomene aus
einem bestimmten Bereich zum »Sinnbild von etwas Höherem« 73
oder zum »Gleichniss und Sinnbild des andern« werden. 74 Sie können
denn auch als Modell verwendet werden, um Phänomene anderer Art
zu deuten. 75 Diese Erschließungskraft eignet nur dem Symbol. Diese
erhält es daher, dass es Darstellung einer Idee ist. 76
Nach der zweiten These korrespondiert jedem Darstellungsmodus
auch eine ihm eigene und nur ihm angemessene Art der Aufnahme
oder der ›Lektüre‹. Die Unterscheidung verschiedener Darstellungs-
typen impliziert somit die Unterscheidung verschiedener Aufnahme-
modi, die keine bloß subjektiven ›Sichtweisen‹ sind, sondern ihren
Grund in der Darstellung selbst haben. Jeder Darstellungstypus ver-
langt einen ihm angemessenen Aufnahmemodus, wenn man dem
Dargestellten in seiner Eigenart gerecht werden will. Es ist somit auch
möglich, die Darstellung in ihrer Eigenart zu verfehlen, so wenn man
72 »Wir begnügen uns allerdings nicht mit dem bloßen bedeutungslosen Seyn, der-
gleichen z. B. das bloße Bild gibt, aber ebensowenig mit der bloßen Bedeutung, son-
dern wir wollen, was Gegenstand der absoluten Kunstdarstellung seyn soll, so con-
cret, nur sich selbst gleich wie das Bild, und doch so allgemein und sinnvoll wie der
Begriff« (SW V, 411 f.). Hier kehrt eine der allgemeinsten Denkfiguren Schellings
zurück, nämlich dass Wesen und Form einander nicht äußerlich sind, sondern einan-
der wechselseitig ›eingebildet‹ sind.
73 AA I,7, 284; vgl. Schelling 1803b, 393 / SW II, 275.
75 Vgl. AA I,7, 356; Schelling 1803b, 103 / SW II, 82; Schelling 1806b, XX f. / SW II,
360; Schelling 1809a, 441, 457 f., 511 / SW VII, 366, 378, 415.
76 Ein Vergleich mit dem goetheschen Symbolbegriff findet sich bei Todorov 1977,
235–249; Whistler 2013, 25–27, 37–40, 163 f., 228–243. Vgl. Jähnig 1969, 190.
43
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
anderen Gesprächsteilnehmer. Zwar hat z. B. Xavier Tilliette in der »Rede von der
Mythologie und Poesie« (Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234) eine Anspielung auf
Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie erkannt, ohne dass man untersucht hat,
ob dieser nicht auch als Figur im Bruno auftritt (vgl. Tilliette 1992, 335 f.). Alexander
wäre hier, wie mir scheint, ein guter Kandidat. Ferner spricht einiges dafür, dass sich
hinter Anselmo Jacobi verbirgt. So fängt Bruno die Unterredung mit Lucian mit einer
Verbeugung vor Anselmo an, indem »[z]um Grunde […] des Gesprächs zu legen«
44
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
nichts »Vortrefflicheres« zu erfinden sei, »als wozu du uns geführet, die Idee dessen,
worin alle Gegensätze nicht sowohl vereinigt als vielmehr eins, und nicht sowohl
aufgehoben als vielmehr gar nicht getrennt sind« (Schelling 1802a, 38 / SW IV, 235;
Herv. v. Verf.), im deutlichen Unterschied zum fichteschen Ich als der Idee dessen,
worin die Gegensätze vereinigt und aufgehoben sind, als der Idee einer Identität,
nicht einer Indifferenz. Bruno erkennt hier ausdrücklich an, dass dasjenige, was ihm
als Ausgangspunkt dienen wird, nicht von ihm zuerst erfunden oder gefunden wurde,
sondern dass ein anderer zuerst zu dieser Idee hingeführt hat. Gerade diese Stelle
zeigt eine auffällige Ähnlichkeit mit einigen Jacobi-Stellen, die Schelling im ungefähr
gleichzeitigen Reinhold-Gespräch zitiert und wovon er ausdrücklich erklärt, dass ge-
nau sie ihm zur Idee der Indifferenz geführt haben (vgl. Schelling 1802d, 62 / SW V,
58 f.). Außerdem übernimmt Anselmo am Ende des Gesprächs die Darstellung der
leibnizischen Philosophie. Nun war es Jacobi, der, unter dem Einfluss Lessings, ein
neues Verständnis Leibniz’ auf die Bahn gebracht hatte. In den Anmerkungen zu
Bruno verweist Schelling zudem mehrfach auf Jacobis Spinozabüchlein. Schließlich
ist daran zu erinnern, dass sowohl Friedrich Schlegel als auch Jacobi sich in der Dia-
logform versucht hatten. Keiner der beiden scheint sie allerdings als symbolische
Form gepflegt zu haben, sondern sie bleiben sehr nah am (mehr oder weniger ver-
schlüsselten) Protokoll eines ›realen‹ Gesprächs. So bemerkt Schlegel über sein Ge-
spräch über die Poesie, dass »vieles […] wirklich darin [ist], andres ersonnen«. Den
Vorzug der Dialogform sieht er darin, dass sie es erlaubt, »ganz verschiedene Ansich-
ten gegeneinander [zu] stellen«. Die Wahl dieser Form ist durch ein »Interesse an
dieser Vielseitigkeit« motiviert (Schlegel 1800, 286).
80 Durch diese Maxime hatte Schelling sich bereits bei seiner Kant-Interpretation
leiten lassen. Auch die Spinoza-Deutung in den Ferneren Darstellungen scheint nach
dieser Maxime durchgeführt. Schelling war sich übrigens durchaus dessen bewusst,
dass er »das Fichtesche System hier nicht dar[stellt], wie es sich selbst darstellt, son-
dern wie es von einem höheren Standpunkt aus erscheint« (SW VI, 123). Dies gilt
45
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
auch für die Lehren von Giordano Bruno und Leibniz, wozu Schelling bemerkt, dass
es ihm nicht um eine historisch-korrekte Darstellung derselben geht als vielmehr um
eine Umdeutung derselben »zu einem höhern Sinn« (Schelling 1802a, 229 / SW IV,
332).
81 Ich übernehme damit einen Begriff von Deleuze/Guattari 1991, 60–81.
82
Im Anti-Fichte hingegen lautet die Kritik, dass das Verhältnis zwischen dem Organ
und demjenigen, was es ausdrücken soll, eine Verkehrung erleidet: Die philosophische
Doktrin wird für die Person Fichte zu einem Mittel, andere als philosophische Ziele zu
verfolgen (vgl. Schelling 1806a, 36–43, bes. 41 f. / SW VII, 44–48, bes. 47 f.).
83 Reinhold und Bardili hingegen treten im Gespräch Ueber das absolute Identitäts-
System unter eigenen Namen auf. Damit gibt Schelling zu erkennen, dass die Position
Reinholds sich nicht als eine in der Vernunft vorgezeichnete Position einsichtig ma-
chen lässt. Sie lässt sich gar nicht einsichtig machen, wenn man nicht auch die Person
und die besonderen Bedingungen ihres Existierens mitberücksichtigt.
84
Vgl. Schelling 1802a, 184 / SW IV, 309.
46
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
restlos in Sätzen aufgeht. Sie lässt sich demnach auch nur indirekt zur
Darstellung bringen.
Eine solche ›Gegend‹ ist ihrerseits in einem sie umfassenden Feld
aufgenommen, in welchem mehrere ›Gegenden‹ unterscheidbar sind.
Keine der Gegenden fällt mit diesem Feld zusammen, das sie alle in
einem Verhältnis der Indifferenz in sich enthält. Statt auf eine Ge-
schichte der Philosophie zielt Schelling damit auf eine Geographie
der Philosophie ab. 85 Erstere ist erst aufgrund der letzteren durch-
führbar. Dies tritt insbesondere im Schlussteil des Gesprächs hervor,
in welchem Schelling eine Konstruktion der »vier Weltgegenden der
Philosophie« durchführt: 86 Jeder der vier Gesprächsteilnehmer über-
nimmt die Darstellung einer dieser ›Weltgegenden‹. Die Darstellung
weist allerdings eine auffällige Asymmetrie auf. Während Alexander
und Anselmo ihre jeweilige ›Gegend‹ (Materialismus und Hylozois-
mus) auf erzählende Weise und gesondert, sozusagen in der Disjunk-
tion, vorstellen, werden die Positionen des Realismus und Idealismus
wiederum gesprächsweise und damit in einer polaren Beziehung dar-
gestellt, wobei jeder Pol von sich aus auf den anderen verweist. 87
Während die beiden ersteren Positionen eine innere Konsistenz auf-
weisen, die eine gesonderte und erzählende Darstellung erlaubt, und
ihre Grenzen nicht von innen heraus wahrnehmbar sind, sondern
erst durch die Gegenposition Zweifel an ihrer Haltbarkeit entstehen,
da verweisen Realismus und Idealismus hingegen von sich aus auf ihr
Gegenteil, sodass ein Übergang vom einem zum anderen möglich
und sogar notwendig ist. 88 Allerdings kann keine dieser Positionen
für sich beanspruchen, das wahre System der Philosophie zu sein,
87
Marquet 1976, 583: »alors qu’Alexandre et Anselme exposent chacun leur doctrine
sous forme de monologues indépendants […] – Lucien et Bruno ne pourront s’ex-
primer qu’à travers un dialogue qui démontrera leur égalité«. Den Grund sieht er
darin, dass Alexander der potentiellen oder wesentlichen Identität, Anselmo der ak-
tuellen oder affirmierten Identität und Lucian und Bruno schließlich der Form der
Affirmation der Identität, die zwei Pole hat (der Indifferenz), zugewiesen werden. Zu
beachten ist ferner, dass Alexander und Anselmo das von ihnen dargestellte System
nicht so darstellen als wäre es ihr eigenes, als würden sie sich mit demselben identifi-
zieren.
88
Einen solchen Übergang hatte Schelling auch AA I,10, 89 f. angedeutet.
47
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
das nur in dem sie alle umfassenden und koordinierenden Feld exis-
tiert. Ebenso wenig wie die Gegenden selbst vermag das umfassend-
koordinierende Feld direkt dargestellt zu werden, sondern nur durch
die Darstellung der Gegenden kommt es auch selbst indirekt zur Dar-
stellung.
An diesem Punkt wird eine zweite Einzelheit von Bedeutung: Un-
ter dem Decknamen Lucian tritt Fichte als selbst agierende Figur auf.
Er ist Teilnehmer am Gespräch, stellt Fragen, macht kritische Bemer-
kungen, äußert seine Zweifel, antwortet auf die Fragen, die ihm ge-
stellt werden. 89 Daran lässt sich erst die Bedeutung einer konzeptuel-
len Figur erläutern. Das Verhältnis zwischen Sätzen und Gegend ist
nämlich kein solches der Ableitung. Es bedarf einer Vermittlung zwi-
schen Sätzen und Gegend, die durch die konzeptuelle Figur geleistet
89 Die Bedeutsamkeit dieses Elements tritt noch klarer hervor, wenn man Bruno mit
dem fast gleichzeitig erschienenen Reinhold-Gespräch vergleicht, in welchem Rein-
hold gar nicht leibhaftig auftritt, sondern bloß Gegenstand der Unterredung ist: Es
wird lediglich über ihn gesprochen, er selbst spricht aber nicht mit. (Dadurch unter-
scheidet das Gespräch sich übrigens auch von der durch Fichte geführten Auseinan-
dersetzung mit Reinhold: Das Antwortschreiben an Reinhold richtet sich direkt an
Reinhold.) Höchstens redet er indirekt, insofern aus seinen Schriften zitiert wird.
Allerdings werden diese Zitate eher als Objekte einer Erörterung genommen, als dass
sie so im Gespräch einfließen würden, dass die dort aufgestellten Behauptungen es
wert wären, durch den Verfasser und seinen Freund wirklich erwogen zu werden.
Dadurch soll markiert werden, dass Reinhold kein im strengen Sinne gesprächsfähi-
ger Partner ist. Dies wird im Gespräch selbst überall dort markiert, wo die »Absurdi-
tät« von Reinholds Behauptungen herausgestrichen wird (vgl. u. a. Schelling 1802d,
2 f., 5, 10, 29 f., 32 / SW V, 18 f., 20, 24, 37, 39). Auch die Rede von Reinholds »phi-
losophische[r] Imbecillität« (AA I,10, 113) soll seine Gesprächsunfähigkeit hervor-
heben. Allerdings ist er doch nicht völlig gesprächsunfähig. Wenn er auch nicht über
die erforderlichen Kompetenzen verfügt, um sich in einer philosophischen Auseinan-
dersetzung zu behaupten, so zeigt er wenigstens die Bereitschaft, sich in das philoso-
phische Gespräch einzumischen. Um seine Schriften gesprächstauglich zu machen,
bedarf es allerdings einer besonderen Aufbereitung. Dies ist eine der Aufgaben des
›Freundes‹. Das Gespräch macht durch seine Form deutlich, wie die Figur des Rein-
hold zwar nicht direkt gesprächsfähig ist, aber sich durch Vermittlung noch ge-
sprächsfähig machen lässt. Darin unterscheidet sie sich von der vierten Figur, die in
diesem Gespräch eine nicht unwichtige Rolle spielt und die ebenfalls unter seinem
eigenen Namen auftritt: Bardili. Dieser tritt nun einmal wirklich als Gesprächspartner
auf, in einem vom ›Verfasser‹ erzählten ›Gespräch im Gespräch‹ (vgl. Schelling 1802d,
47–50 / SW V, 48–50). Dieses stellt aber nur umso klarer heraus, dass Bardili im Ver-
gleich zu Reinhold ein durchaus gesprächsunfähiger Partner ist. Keine der ihm ge-
stellten Fragen weiß er zu beantworten. Die unschuldigste Frage bringt ihn sogleich in
Verlegenheit, wenn nicht in Verwirrung. Und die Unterredung wird dadurch beendet,
dass er in ein besinnungsloses Gelächter ausbricht.
48
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
90
Deleuze/Guattari 1991, 73: »Les personnages conceptuels constituent les points de
vue selon lesquels les plans d’immanence se distinguent ou se rapprochent, mais aussi
les conditions sous lesquelles chaque plan se trouve rempli par des concepts de même
groupe. […] Les concepts ne se déduisent pas du plan, il faut le personnage conceptuel
pour les créer sur le plan, comme il le faut pour tracer le plan lui-même, mais les deux
opérations ne se confondent pas dans le personnage qui se présente lui-même comme
un opérateur distinct«.
91
Dies ist auch die ausdrückliche Absicht der »allegorischen Vision« im Jacobi-Denk-
mal, die »dem Gegner […] wo möglich noch selber zu einer richtigeren Selbst-
erkenntniß […] verhelfen« soll (Schelling 1812, 34 / SW VIII, 38; Herv. v. Verf.).
92 Nicht nur im Bruno treten konzeptuelle Figuren auf. So könnte man in der Figur
49
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Die Frage nach dem Subjekt des Sprechens wird übrigens explizit
in der einleitenden Unterredung zwischen Anselmo und Alexander
angesprochen. Ausgangspunkt ist dort die Frage nach dem Realitäts-
status des Irrigen, Verkehrten, Unvollkommenen. Darauf antwortet
Alexander, dass er sich »nicht denken [kann], daß z. B. die Unvoll-
kommenheit irgend eines menschlichen Werks nicht wirklich in An-
sehung dieses Werkes Statt finde«. 93 Anselmo bemerkt, dass Alexan-
der zu einer solchen Antwort nur deshalb gelangt, weil er den Sinn
der Frage nicht genügend beachtet hat. Es ist nämlich nicht die Rede
davon, ob ein unvollkommenes Kunstwerk in Wahrheit nicht doch
ein vollkommenes sei oder ob ein Irrtum in Wahrheit nicht doch
Wahrheit sei. Deshalb lenkt Anselmo die Aufmerksamkeit auf den-
jenigen, der das Werk hervorgebracht hat. Keiner aber bringt »etwas
anders hervor«, »als was theils aus der Eigenthümlichkeit seiner
Natur, theils aus den Einwirkungen, welche auf ihn von aussen ge-
schehen sind, nothwendig folgt«. 94 Damit unterscheidet er zwischen
der Natur oder der idealen Verfassung des Subjekts und den Bedin-
gungen, die den Spielraum seines Handelns umreißen. Jedes einzelne
und endliche Ding hat demnach eine doppelte »Beschaffenheit«. 95 Ein
Individuum kann auf zweierlei Weise »Organ« sein: entweder als Or-
gan seiner »idealen Natur« oder als Organ des Realkontextes, in wel-
chem es auftritt und von welchem es für seine Existenz abhängig ist. 96
Dem entspricht Anselmos Unterscheidung zwischen den »ewigen Ur-
ohne des Geschauten wirklich mächtig zu sein und ohne es auch diskursiv entfalten zu
können. Dazu bedarf sie der Hilfe von zwei weiteren Figuren: Es gelingt ihr erst in
einem »Gespräch mit zwei Männern, einem Priester als Repräsentanten des Geistes
sowie einem Arzt als Repräsentanten des Körpers, ihre für sie selbst unformulier-
baren Gewißheiten zum Ausdruck [zu] bringen« (AA III,2,1, 164). Diese Gestalt des
Wissens wird übrigens bereits 1802 antizipiert, wo die Rede ist von der »reine[n] Idee
der Philosophie«, wo sie »ohne wissenschaftlichen Umfang mit Geist als eine Naivetät
sich ausdrückt, welche nicht zur Objectivität eines systematischen Bewußtseyns ge-
langt; es ist der Abdruck einer schönen Seele, welche die Trägheit hatte, sich vor dem
Sündenfall des Denkens zu bewahren« (Schelling 1802c, VII / SW V, 6). Auf diese
Gestalt des Wissens macht Schelling immer wieder aufmerksam, vgl. z. B. SW IV,
357; Schelling 1804, 6 f. / SW VI, 19; F. W. J. Schelling an A. W. Schlegel, 3. Juli 1801,
AA III,2,1, 355 f. Vgl. auch Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357 mit Schelling 1806a,
154–159 / SW VII, 119–122 und SW X, 166, 184–187.
93 Schelling 1802a, 12 / SW IV, 221. Diese Antwort bestätigt zudem, dass ihm die Idee
96
Schelling 1802a, 19 / SW IV, 225.
50
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
100 Vgl. Schelling 1802b, 9 f., 47 / SW IV, 344 f., 370; Schelling 1803c, 27 f. / SW IV,
408. Aus diesen Stellen geht hervor, dass die intellektuelle Anschauung keine der
Philosophie eigentümliche Voraussetzung ist, sondern Voraussetzung der Wissen-
schaftlichkeit überhaupt.
51
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
suchungen der Einflüsse Giordano Brunos auf Schelling blieben unergiebig. Sie kom-
men nicht an der Tatsache vorbei, dass Schellings Kenntnisse der nolanischen Phi-
losophie eher dürftig waren und, jedenfalls zur Zeit der Verfassung dieses
Gesprächs, kaum weiter reichten, als was sich aus den Auszügen in der ersten Beilage
von Jacobis Spinozabüchlein erschließen ließ. Die Einführung der Figur des Bruno
dürfte also mehr mit Jacobi als mit Giordano zu tun haben. Dazu Tilliette 1992, 306 f.
Diese Feststellung hätte dazu führen müssen, zu fragen, welche Intention Schelling
damit verfolgt haben mag, die der Naturphilosophie entsprechende konzeptuelle Fi-
gur mit dem Namen ›Bruno‹ zu bezeichnen.
104
Schelling 1802a, 36 / SW IV, 234.
52
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
mene, jedenfalls nicht von ihm erst angestoßene Debatte ein. Die
Lösung, die die Naturphilosophie für diese Debatte bereithält, ist in-
sofern originell, als sie eine Einigung der verschiedenen Positionen
ermöglicht. Dass die Naturphilosophie dieser Debatte bzw. den vor-
her erprobten Lösungsversuchen vieles zu verdanken hat, bezeugt
Bruno sogleich in seinem ersten Satz: »Undankbar würde ich erschei-
nen, wenn ich, so oft und so reichlich bewirthet von euch, nicht hin-
wiederum so gut ich vermag, euch von dem Meinigen mittheilen
sollte«. 105 Zweitens präzisiert Bruno selbst sogleich seinen Status, in-
dem er, mit einer Anspielung auf Spinoza, 106 zunächst um Verzei-
hung bittet, »wenn ich euch nicht sowohl sage, welche Philosophie
ich für die beste halte, in Mysterien gelehrt zu werden, als vielmehr
von welcher ich wisse, daß sie die wahre sey«, und dem noch die Ein-
schränkung hinzufügt: »und auch diese nicht selbst, sondern nur den
Grund und Boden darstelle, auf welchem sie erbaut und aufgeführt
werden müsse«. 107 Das Verhältnis der Naturphilosophie zur Philoso-
phie überhaupt ist eine Identität, aber keine Einerleiheit: Die Philoso-
phie überhaupt geht nicht in Naturphilosophie auf, diese ist nicht die
ganze Philosophie, sondern nur deren Grund. Insofern muss ihr al-
lerdings eine gewisse Priorität zuerkannt werden. 108 Drittens deutet
sein Status als Gast an, dass Bruno zu jenen »wenige[n] große[n]
Erscheinungen« gehört, die »allgemein miskannt und verfolgt wor-
den sind«, deren Größe aber darin besteht, dass sie sich des Haupt-
stroms der modernen Philosophie, »in welchem sich die längst vor-
handene Entzweyung nur mit Bewußtseyn und wissenschaftlich
ausgesprochen hat«, zu entziehen vermocht haben. 109 Darin dürfte
ein Grunde dafür liegen, dass Schelling, trotz seiner dürftigen Kennt-
nisse der nolanischen Philosophie, Bruno als zentrale Figur des Ge-
sprächs gewählt hat.
In der Bezeichnung des Bruno als eines symbolischen Gesprächs
drückt sich insofern Schellings Absicht mit demselben aus, als in ihm
nicht so sehr Nachahmungen realer Personen als vielmehr symboli-
sche Figuren auftreten. Es handelt sich um ein symbolisches Ge-
108 Vgl. dazu Schellings wiederholte Erklärung, dass die Naturphilosophie nur die
eine Seite des Systems ist, so z. B. Schelling 1802f, 2 f. / SW V, 107; Schelling 1803b,
67, 78–85 / SW II, 58, 66–71.
109
Schelling 1802f, 14 / SW V, 116.
53
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
110
Deshalb sind in diesem Gespräch, wie auch sonst, mittels nicht kenntlich gemach-
ter Zitate oder Anspielungen Erkennungszeichen für die Adressaten eingestreut. Ein
Symbol ist nach seiner ursprünglichen Bedeutung nämlich auch ein Erkennungszei-
chen (vgl. Schelling 1802a, 230 / SW IV, 332, wo »das Symbolum der wahren Phi-
losophie« erwähnt wird). Auch am Ende der Philosophischen Briefe erwähnt Schel-
ling »ein Symbol für den Bund freier Geister, an dem sie sich alle erkennen, das sie
nicht zu verbergen brauchen, und das doch, nur ihnen verständlich, für die Andern
ein ewiges Räthsel sein wird« (AA I,3, 112). Hier ist die Erinnerung an Rousseaus
›signe caractéristique‹ unübersehbar: »Des êtres si singulierement constitués doivent
necessairement s’exprimer autrement que les hommes ordinaires. Il est impossible
qu’avec des ames si differemment modifiées, ils ne portent pas dans l’expression de
leurs sentimens et de leurs idées l’empreinte de ces modifications. Si cette empreinte
échappe à ceux qui n’ont aucune notion de cette maniére d’être, elle ne peut échapper à
ceux qui la connoissent et qui en sont affectés eux-mêmes. C’est un signe caractéris-
tique auquel les initiés se reconnoissent entre eux, et ce qui donne un grand prix à ce
signe, si peu connu et encore moins employé, est qu’il ne peut se contrefaire, que
jamais il n’agit qu’au niveau de sa source, et quand il ne part pas du coeur de ceux
qui l’imitent il n’arrive pas non plus aux coeurs faits pour le distinguer« (Rousseau
1776, 672; vgl. dazu Meier 2011, 49 f.).
54
Das Gespräch Bruno: Die ›Gegend‹ und die konzeptuellen Figuren
114 So der Titel der Zweiten Einleitung zu Fichtes Versuch einer neuen Darstellung
der Wissenschaftslehre von 1797/98. Die erste Einleitung richtet sich hingegen an
»unbefangene Leser«, d. i. »solche, die ohne vorgefasste Meinung sich dem Schrift-
steller überlassen, ihm nicht nachhelfen, aber auch nicht widerstehen« (GA I,4, 209).
Schelling scheint diese Unterscheidung unterschiedlicher Adressatentypen aufzuneh-
men, wenn auch mit einer bedeutsamen Amendierung.
55
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Die Analyse des Bruno hat gezeigt, wie die Eigenart der symbolischen
Form durch Schellings Absicht sowie durch seine Ausrichtung an
einer Klasse von vorzüglichen Adressaten motiviert ist. Wenn Schel-
ling nun im »Vorbericht« zu Philosophie und Religion erklärt, dass
die Schrift die Umarbeitung eines fast fertig vorliegendes Gesprächs
enthält, das als Fortsetzung des Bruno gedacht war, und »äussere Um-
stände nicht zugelassen haben«, diesem zweiten Gespräch »die letzte
Vollendung […] zu geben«, 115 dann können wir vermuten, dass an der
Vollendung gerade der Umstand gehindert hat, dass bislang weder
Fichte noch Jacobi noch auch Friedrich Schlegel sich der für sie im
Bruno enthaltenen Herausforderung gestellt hatten. Um diese für
diese Adressaten noch zu verschärfen, verfasst Schelling Philosophie
und Religion, wählt allerdings Eschenmayer als Stellvertreter, um die
alles entscheidende Frage stellen zu können, auf welche er zuallererst
von den Genannten eine Antwort verlangt. Eschenmayer eignete sich
desto mehr zu diesem Zweck, da er, genau wie Fichte und Jacobi, »die
Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 116 Solange
Fichte und Jacobi sich nicht ausführlich zum Verhältnis von Philo-
sophie und Religion erklären, ist Schelling allerdings im Umklaren
darüber, in welchem Sinne sie den Begriff des Glaubens verstanden
haben wollen. Die Schrift soll sie somit dazu auffordern, sich unzwei-
deutig zu diesen ›Verhältnissen‹ zu erklären.
Allerdings führt Schelling die fehlende Vollendung nur als Grund
dafür an, dass das zweite Gespräch bislang nicht veröffentlicht wurde.
Für die Umarbeitung des Gesprächs in eine verwandelte Form und für
eine Veröffentlichung derselben führt er aber nicht den unvollende-
ten Charakter des Gesprächs, sondern einen anderen Grund an, näm-
lich die Erscheinung jener »merkwürdigen Schrift von Eschenmay-
er«, besonders wegen der Tendenz, die sich darin zu erkennen gibt, als
auch wegen Eschenmayers Charakter. 117 Wichtiger als die Richtigkeit
dieser Angaben ist somit das Motiv, das Schelling für diese Umarbei-
tung anführt. Ein symbolisches Gespräch wie Bruno oder wie das –
nicht fertiggestellte und nicht veröffentlichte – zweite Gespräch rich-
115
Schelling 1804, III / SW VI, 13.
116 Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.
117
Schelling 1804, III / SW VI, 13.
56
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
tet sich an einen »unabhängigen und freyen Geiste«. 118 Wir haben
gesehen, wie das Gespräch zwischen Philosophen, wie Bruno es vor-
führt, so eingerichtet ist, dass die teilnehmenden Philosophen durch
es insofern zu einem neuen und angemesseneren Verständnis ihres
eigenen Systems gelangen, als es sie in die Lage versetzt, sich auf der
philosophischen ›Weltkarte‹ zu verorten. Erst durch diese Selbst-
erkenntnis werden die Philosophen selbst zu ›unabhängigen und
freyen Geistern‹. Zu dieser Selbsterkenntnis gelangen sie erst da-
durch, dass die Identifikation mit dem eigenen System durchkreuzt
wird und sie sich über ihr Verhältnis zu anderen Systemen Klarheit
verschaffen. Die Gesprächsform eignete sich besonders zu einer sol-
chen Distanznahme zum eigenen System, insofern sie nicht darauf
ausgerichtet ist, dass der Leser sich mit einem der Gesprächsteilneh-
mer bzw. der von ihm vertretenen Position identifiziert, sondern ihn
auf Distanz zu allen Gesprächsteilnehmern stellt und ihm diese in
ihrer Auseinandersetzung vor Augen führt. Die hauptsächlichen
Adressaten eines symbolischen Gesprächs sind demnach die Philoso-
phen; seine Absicht besteht darin, diesen zu einem angemessenen
Selbstverständnis zu verhelfen und sie dadurch zu ›unabhängigen
und freyen Geistern‹ zu machen.
Bei der Auseinandersetzung mit Eschenmayer ist die Ausgangs-
lage eine andere. Schelling charakterisiert ihn als »scharfsinnig«, als
einen »geistreiche[n] Forscher«, allem voran als einen »edlen Geist«,
der sich durch seine Wahrheitsliebe auszeichnet. 119 Damit dürfte
Eschenmayer gerade durch solche lobenden Charakterisierungen
von den wirklichen Philosophen ausgenommen werden. Dass Schel-
ling Eschenmayer nicht als einen Philosophen betrachtet, dürfte aus
der zweideutigen Weise hervorgehen, wie er ihn von den ›Werkzeu-
gen der Zeit‹ ausnimmt. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich
eine philosophischen Lehre so »zurechtzumachen und anzueignen«
suchen, dass sie sie zeitgemäßen Meinungen anpassen, eine Anpas-
57
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
58
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
129 Vgl. Schelling 1804, VI, 52, 60 f. / SW VI, 15, 49, 55. Im Reinhold-Gespräch geht
Schelling darin noch weiter, als es dem heutigen Geschmack genehm ist. Jedenfalls
lässt er kein Mittel aus, um Reinholds Selbstverständnis, wie dieses sich in beiläufigen
Bemerkungen zu erkennen gibt, zu erschüttern.
59
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
geschlechtslosen, aber unproduktiven Bienen die Rede, »die, weil ihnen zu produciren
versagt ist, durch anorgische Absätze nach außen, ihre eigene Geistlosigkeit in Ab-
drücken vervielfältigen« (Schelling 1803a, 16 / SW V, 217). Die Rede von ge-
60
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
sich an diesem Punkt bereits, wie sowohl die Form der Darstellung als
auch die Naturphilosophie einen integralen Teil von Schellings Poli-
tischer Philosophie bilden.
Schelling dürfte wohl kaum gehofft haben, dass die »Drohworte
der Vorrede« eine derartige Wirkung erzielen würden, dass sie tat-
sächlich »unberufene[…] Nachfolger[…] und Gegner[…]« von der
Lektüre der Schrift abhalten würden. 134 Mehr noch als die ›Drohwor-
te‹ dürfte die Art der Darstellung dazu beigetragen haben, dass die
Schrift unverstanden blieb. Wie dem auch sei, wenn z. B. Bruno und
Philosophie und Religion, wie wir zu zeigen versucht haben, sich an
unterschiedliche Adressaten richten, dann braucht dies doch nicht
auszuschließen, dass nicht auch andere Adressatentypen dabei stets
mitberücksichtigt werden. 135 Es steht nämlich nicht in der Gewalt
eines Schriftstellers, zu verhindern, dass seine Schriften auch durch
solche, für welche sie nicht zuallererst gemeint sind, gelesen werden.
So dient der feierlich-gehobene Ton des Bruno auch dazu, den nicht-
philosophischen Lesern einen Inhalt, der »seiner Natur nach der Ge-
meinheit unzugänglich seyn soll«, »auch durch die Form äusserlich-
sichtbar, zu entziehen«. 136 Vielmehr soll er die Differenz zwischen
135
Wir werden in der Folge noch Gelegenheit haben, zu zeigen, wie besonders die
Unterbestimmtheit einiger von Schelling gewählter Ausdrücke sich vorzüglich dazu
eignet, unterschiedlichen Adressaten Unterschiedliches zu verstehen zu geben.
136 Schelling 1804, V / SW VI, 14. Wenn nicht immer ›Töne alter Philosophie‹, so
finden sich in dem kurzen Vorbericht jedenfalls auch ›Töne‹ alter Dichtung: Wenn
Schelling seinen »Anhänger[n]« rät, sich »die Mühe« zu nehmen, »selbst Gedanken
zu haben, für die sie dann selbst verantwortlich sind« und »sich des ewigen Gebrau-
ches fremder, für den sie ihren Urhebern die Verantwortlichkeit aufladen«, zu ent-
halten: »[E]s hielte sie denn die billige Rücksicht auf sich selbst zurück, daß, da sie von
fremdem Eigenthum schon so aufgeblasen sind, sie von eignen Gedanken, wenn sie
deren hätten, vollends platzen möchten« (Schelling 1804, VI / SW VI, 15; Herv. v.
Verf.), dann spielt er damit lose auf die Fabel Rana Rupta et Bos des Phaedrus an.
61
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Bei Phaedrus ist es der Neid (invidia tantae magnitudinis), der den Frosch dazu ver-
lockt, den Ochsen nachzueifern oder nachzuahmen (imitari), ohne zu bedenken, dass
ihm dazu die Fähigkeiten fehlen. Das Verhalten des Frosches wird vorgeführt, nicht
um es aus moralischen Gründen zu brandmarken, sondern um zu zeigen, dass der
Frosch dadurch nur sich selbst schadet. Zu beachten ist, dass der Ochse bloß Auslöser
des Geschehens ist, an dem er sonst nicht beteiligt ist. Vielmehr ist es der Blick seiner
Kinder, der den Frosch in seinem Begehren bestimmt. Vgl. Oberg 2000, 81.
137 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.
138
Schelling 1804, IV / SW VI, 14.
62
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
139 Diese Situation wiederholt sich bei einer späteren Auseinandersetzung. Dort heißt
es: »[D]as Bisherige könnte hinreichen, Sie zu überzeugen, daß Sie den Sinn und
Zusammenhang der in meiner Abhandlung enthaltenen Ideen noch nicht völlig er-
reicht haben« (Schelling 1813b, 108 / SW VIII, 177). Ferner: »Es fehlt Ihnen an den
eigentlichen Mittelbegriffen meines Systems«. Und schließlich: »Das Bedauerlichste
für mich ist Ihre Meynung, mich wirklich verstanden zu haben« (Schelling 1813b,
127 / SW VIII, 188).
63
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
64
Philosophie und Religion: Die Adressaten der Schrift
ganz andere Frage zur Debatte gestellt. Entsprechend wandelt sich auch die Art, wie
die Untersuchung geführt wird bzw. der Status der Ergebnisse. Während der Philo-
soph für sich angesichts des zukünftigen Lebens zur völligen Gewissheit gelangen
konnte, ist ihm dies angesichts der Frage des zukünftigen Lebens der Nicht-Philoso-
phen nicht möglich (vgl. »So wäre es also denkbar« (SW IX, 80), »so wäre […] noch
begreiflich«, »Sollte nun nicht […] möglich seyn« (SW IX, 81), »ließe sich mit großer
Wahrscheinlichkeit […] sagen« (SW IX, 83)).
142 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.
145 Auch in den Ferneren Darstellungen, die sich ebenfalls an den »noch weniger
Eingeweihten« richten (Schelling 1802b, 32 / SW IV, 361), ist mehrmals von einem
»Zweck« die Rede, der mit der Darstellung verfolgt wird und dem diese sich anzupas-
sen hat (vgl. Schelling 1802b, 30, 35 / SW IV, 359, 362; Schelling 1803c, 67, 71, 92, 97,
175 / SW IV, 434, 437, 451, 455, 492).
146
Schelling 1804, IV / SW VI, 14.
65
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Ansicht, die er sich von Schellings System gebildet hat, eine bloße
Meinung ist, die der Intention seines Autors nicht entspricht. Inso-
fern die symbolische Form sich in erster Linie an Philosophen richtet,
eignet sie sich nicht für diesen Zweck bzw. für einen solchen Adres-
saten. Aufgrund seiner Natur eignet Eschenmayer sich nicht dazu, in
eine konzeptuelle Figur überführt zu werden. Dennoch ist er auch
nicht, wie Reinhold oder Bardili, eine geradezu gesprächsunfähige
Figur, deren Behauptungen sich erst durch die Vermittlung eines
›Freundes‹ in eine diskussionsfähige Form überführen lassen. Eschen-
mayer nimmt somit eine Art von Zwischenposition zwischen ›Fichte‹
und ›Reinhold‹ bzw. ›Bardili‹ ein. Anders als die letzteren gibt er ein
aufrichtiges Bestreben zu erkennen, das schellingsche System zu be-
greifen: Aus der Art, wie er seine Bedenken formuliert, geht hervor,
dass er sie nicht unbedingt als Einwände verstanden haben will, son-
dern nur Schwierigkeiten signalisieren will, die er in diesem System
wahrzunehmen meint. Sie können also auch als das Geständnis eines
noch unzureichenden Verständnisses desselben verstanden werden.
Gerade diese Haltung macht ihn zu einem gesprächsfähigen Partner.
Aus diesem Grund richtet Schelling sich mittels einer argumentativ
aufgebauten Schrift direkt an ihn. Der Verzicht auf die symbolische
Gesprächsform bedeutet somit offensichtlich nicht, dass damit auch
die gesprächsweise Darlegung aufgegeben wird. 147 Der ›Stoff‹ wird
nämlich gerade so entwickelt, dass die Darlegung sich durchgehend
auf die Einwände Eschenmayers bezieht. Zudem ist sie als eine Ant-
wort auf die in »mehreren öffentlichen Aeuserungen« enthaltenen
»Auffoderungen« gedacht. 148
Der Zweck der Schrift ist zunächst ein erzieherischer. Sie richtet
147 Vgl. Schelling 1809a, X / SW VII, 334: »in einer […] polemischen Beziehung«;
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72: »die
sich fast durchgehends auf die Ihrige bezieht«; Schelling 1813b, 79 / SW VIII, 161:
»Wären wir nicht durch Räume getrennt, vielleicht hätte sich aus Ihrem Brief und
meiner Antwort ein Gespräch gemacht. Ich wünsche, auch der Verhandlung in die
Ferne so weit es seyn kann diese Form zu geben […]. Ich habe oft gewünscht, daß,
wie in alten Zeiten so in unsern, wenn nicht über Glaubensartikel, doch über phi-
losophische Behauptungen und Systeme öffentliche Gespräche in Gegenwart gelehr-
ter Zeugen stattfinden möchten …« – Die ›allegorische Vision‹, die das Jacobi-Denk-
mal beschließt, dürfte ein Beispiel eines solchen ›öffentlichen Gesprächs‹ darstellen.
148 Schelling 1804, III / SW VI, 13. Auch von der Freiheitsschrift bemerkt Schelling,
dass diese zwar die Form einer Abhandlung angenommen hat, dennoch durchgängig
»gesprächsweise« verfährt (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410; vgl. Schelling 1809a,
X / SW VII, 334).
66
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
Die Überlegungen zur Form der Schrift und zum Typus des Adressa-
ten dürften dazu beitragen, ein neues Licht auf die Mysterien zu wer-
fen, die in Philosophie und Religion eine so bedeutsame, wenn auch
rätselhafte und vielschichtige Rolle spielen. Dabei wird sich zeigen,
dass das richtige Verständnis der Mysterien der eigentliche Schlüssel
zum rechten Verständnis des ganzen Werkes ist. Alle bislang erörter-
ten Fragen – nach der Darstellung und Mitteilung philosophischer
Lehren, der Ausrichtung an unterschiedliche Typen von Adressaten,
der Eigenständigkeit des nichtpropositionalen Wissens im Verhältnis
zum propositionalen Wissen, der erzieherischen Absicht, die in die
Form der Schrift eingesenkt ist – laufen im Begriff der Mysterien
zusammen. Als Mysterien werden zunächst die Gegenstände be-
149
Vgl. Schelling 1804, 15 f. / SW VI, 26.
67
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
zeichnet, wovon in dieser Schrift die Rede ist. In der geplanten Ge-
sprächsreihe sollte nur von solchen Gegenständen die Rede sein, die
in Mysterien gelehrt werden müssen. 150 Bedeutender ist aber die für
die Mysterien charakteristische Art der Mitteilung. 151 Wenn die Rede
von Mysterien zunächst auch mysteriös anmutet, so gibt Schelling
selbst genügend Hinweise, die den Leser imstande setzen, sich durch
diesen Eindruck nicht in die Irre führen zu lassen. Nur nebenbei ist
die jetzt geläufigere Bedeutung von ›Geheimnissen‹ mitzuhören. 152
Sonst verweist der Ausdruck, wie Schelling hinreichend klar macht,
zuallererst auf ein ganz präzises historisches und auch – bis zu einem
gewissen Grade – der historischen Forschung zugängliches Phäno-
men: die Mysterien von Eleusis als eine besondere religiöse Ver-
anstaltung oder Einrichtung. Der besondere Zweck derselben besteht
in der Mitteilung oder Vermittlung bestimmter Lehren. Diese Lehren
werden allerdings nicht in erster Linie als eine Doktrin oder ein Kor-
pus von Behauptungen weitergegeben, sondern die Mysterien zielen
vor allem darauf ab, eine bestimmte Erfahrung zu vermitteln und
eine Verwandlung im Selbstverhältnis der Teilnehmenden in die We-
ge zu leiten. Die eigentlich vermittelte Lehre lässt sich denn auch
nicht restlos in Behauptungen auflösen, sondern das Verständnis
selbst der doktrinalen Lehre bleibt unlöslich an jenes verwandelte
Selbstverhältnis gebunden. Insofern kann man in ihnen auch eine
Erziehungsanstalt sehen. Wenn die Mysterien auch prinzipiell allen
zugänglich sind und jeder berechtigt ist, an denselben teilzunehmen,
so sind es dennoch nur ganz wenige, die zur eigentlichen Einsicht in
die dort mitgeteilten Lehren gelangen. 153 Obwohl es demnach schei-
nen dürfte, dass diese Veranstaltung für die Mehrzahl, die jene Leh-
ren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, nutzlos und über-
150 Vgl. Schelling 1802a, 33 f., 37 f. / SW IV, 233 f., 235; Schelling 1804, 3, 35 f., 76–
78 / SW VI, 17, 39, 67 f.
151 Auf der ersten Seite von Philosophie und Religion (Schelling 1804, III / SW VI,
13) verweist Schelling den Leser auf Seite 35 der Originalausgabe des Bruno, wenn er
wissen will, welche Gegenstände in der Gesprächsreihe behandelt werden sollten.
Schlägt man die Stelle nach, dann fällt auf, dass auf der vorhergehenden und nach-
folgenden Seite zwar von diesen Gegenständen die Rede ist, auf Seite 35 selbst aber
nur von den Mysterien als einer besonderen Anstalt zur Mitteilung philosophischer
Lehren. Die Aufmerksamkeit des Lesers wird dadurch nicht so sehr auf die mitgeteilte
Lehre, sondern vielmehr auf die Art ihrer Mitteilung gelenkt.
152
Nur in Schelling 1804, VI / SW VI, 15 scheint der Ausdruck (fast) ausschließlich
als Synonym für Geheimnisse verwendet zu werden.
153
Vgl. Schelling 1804, 74 / SW VI, 66.
68
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
flüssig wäre, wurden sie dennoch von allen als die »heilvollsten und
wohlthätigsten aller Einrichtungen« gepriesen. 154 Auch solchen, die
diese Lehren nicht ihrem eigentlichen Sinn nach verstehen, muss
dort etwas vermittelt worden sein, dass sie als heilsam erfuhren. In
der Tat weist Schelling im »Anhang« unserer Schrift auf die beson-
deren Abstufungen in der Einrichtung der Mysterien hin, durch wel-
che sie unterschiedlichen Klassen von Teilnehmern jeweils etwas an-
deres vermitteln, das aber von allen in seiner jeweiligen Form als
heilsam empfunden wird. Das Eigentümliche der Mysterien besteht
demnach darin, dass sie grundsätzlich allen offenstehen, aber so ein-
gerichtet sind, dass sie unterschiedlichen Klassen von Adressaten Un-
terschiedliches vermitteln und dadurch einer unaufhebbaren Un-
gleichheit zwischen den Menschen Rechnung tragen. Die Mysterien
sind demnach nicht nur etwas, worüber in dieser Schrift gesprochen
wird, sondern sie liefern zugleich das Modell, wonach sie selbst, ihrer
Form und ihrer Intention nach, interpretiert werden muss. Die
Schrift reflektiert in ihrer Form über die Notwendigkeit, die Philoso-
phie in Mysterien einzurichten. 155
Dass jene antike Einrichtung gerade unter diesem Aspekt Schel-
lings Interesse auf sich zog, geht mit aller nur wünschenswerter
Deutlichkeit aus einer der frühesten Erwähnungen der Mysterien
bei Schelling hervor, die alle diese Elemente bereits in konzentrierter
Form enthält. Sie findet sich in einem Brief, den Schelling am
12. März 1796 an Jakob Hermann Obereit schrieb. Der einundzwan-
zigjährige Schelling schreibt:
Ihr Wunsch, daß man die neue Philos. nicht zur Sprachmode werden
laßen soll, ist völlig hgegründeti. Ich glaube daß zu einer Nationalerzie-
hung Mysterien gehören, in welche d[er] Jüngling stufenweise einge-
weiht wird. In diesen sollte die neue Phil. gelehrt werden. Sie sollte die
lezte Enthüllung seyn, die man d[em] erprobten Schüler der Weisheit
widerfahren ließe, wenn sie anders etwas ist, das man von andern emp-
fangen kann, u. nicht sich selbst verschaffen muß. Diß ist aber bei der
Fluth unsrer Literatur durch die alles in’s weite Publ. gehtriebeni wird
69
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
70
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
71
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
158 Diese immer noch verbreitete Ansicht wurde am beredtsten und wirkungsmäch-
tigsten von Hegel formuliert: »Schelling hat seine philosophische Ausbildung vor
dem Publikum gemacht. Die Reihe seiner philosophischen Schriften ist zugleich Ge-
schichte seiner philosophischen Bildung und stellt seine allmähliche Erhebung über
das Fichtesche Prinzip und den Kantischen Inhalt dar, mit welchen er anfing; sie ent-
hält nicht eine Folge der ausgearbeiteten Teile der Philosophie nacheinander, sondern
eine Folge seiner Bildungsstufen«. Und: »In späteren Darstellungen fing er in jeder
Schrift nur immer wieder von vorne an (stellte nie ein vollendet durchgeführtes Gan-
zes auf), weil man sieht, daß das Vorhergehende ihm nicht Genüge getan; und so hat
er sich in verschiedenen Formen und Terminologien herumgeworfen«. Und noch: »In
der neuesten Darstellung hat Schelling andere Formen gewählt; er hat sich, wegen
unausgebildeter Form und Mangel an Dialektik, in verschiedenen Formen herum-
geworfen, weil keine befriedigend ist« (GeschPh III, TWA 20, 421, 422, 445 f.).
159 Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.
160
Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.
72
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
»Nullität« (Schelling 1804, 59 / SW VI, 54), die der Leser fast zwangsläufig zunächst
auf Eschenmayer beziehen muss, da dessen Name im vorherigen Absatz betont ge-
nannt wurde. Auch wenn Schelling ihn gleich anschließend von diesem Urteil aus-
nimmt, so scheint Eschenmayer doch mit davon betroffen. – Das Reinhold-Gespräch
wie auch das Jacobi-Denkmal bieten eine Fülle von Beispielen dieses Vorgehens, das
allerdings der Absicht untergeordnet ist, ihnen dadurch zur Selbsterkenntnis zu ver-
helfen.
73
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Gemeinheit unzugänglich seyn soll, ihr auch durch die Form äusserlich-sichtbar«
entzieht, scheint Schelling nicht zu erwarten, dass die »Töne alter Philosophie«, die
auch dort anklingen, übel vernommen werden. Gerade weil Philosophie und Religion
auf die symbolische Form verzichtet, meint er nun erwarten zu können, dass »die Zeit
diese Töne alter Philosophie […] übel vernehmen werde« (Schelling 1804, V / SW VI,
14). Die symbolische Form scheint den provokativen Charakter solcher ›Töne‹ zu
mildern, während er, ohne diese Form, desto stärker hervortritt.
167
Damit macht Schelling sich die Worte zum Wahlspruch, die die Sibylle in der
Aeneis VI, 258 Aeneas’ Begleitern in dem Augenblick zuruft, als die Göttin Hekate
sich naht und Aeneas sich als einziger Eingeweihter zum Abstieg in die Unterwelt
bereitmacht, wo sein Vater Anchises ihn mit den Geheimnissen der Philosophie, ins-
besondere bezüglich des Lebens nach dem Tod, sowie mit der Zukunft Roms bekannt
macht. Es dürfte Schelling kaum entgangen sein, dass gerade diese Stelle der Aeneis,
insbesondere der Ausruf der Sibylle selbst, mit Anspielungen auf und Erinnerungen
an die Mysterien von Eleusis durchsetzt ist. Jenen Ausruf war bereits von Horaz auf-
gegriffen worden, als er in Carmina, III, 1, 1–4 sich selbst zum Priester der Musen
erklärte und das profanum volgus den Abstand zu wahren hieß, da er nur für die
Edlen oder Reinen singe. Auch Schelling scheint die Parallele beider Stellen aufgefal-
len zu sein: Jedenfalls führt er in den Vorlesungen über die Methode des acade-
74
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
mischen Studium statt des procul o procul esto das Odi profanum volgus et arceo als
»natürlicher Wahlspruch« der Philosophie an (Schelling 1803a, 111 / SW V, 261).
168
Schelling 1804, 80 / SW VI, 69.
169 Insofern die »Freyen« die Dinge als »Werkzeuge oder Organe« der Ideen betrach-
ten (Schelling 1804, 73 / SW VI, 65), bleibt ihre Erkenntnis durchaus »exoterisch«,
insofern als »jede Erkenntniß, welche die Ideen nur an den Dingen, nicht an sich selbst
zeigt, exoterisch« ist. Alle, die sich im Bereich (oder in der Potenz) der Wissenschaft,
Religion oder Kunst bewegen, sind zwar auf Ideen gerichtet, aber nur insofern diese
sich an den Dingen zeigen. Davon ist noch die Erkenntnis der Ideen zu unterscheiden,
insofern diese an sich betrachtet oder, was dasselbe heißt, insofern sie auf das Absolute
bezogen werden. Diese Erkenntnis nennt Schelling »esoterisch«, da sie »die Urbilder
der Dinge an und für sich selbst [zeigt]« (Schelling 1802a, 30 / SW IV, 231).
170 Schelling 1804, 80 / SW VI, 69.
171
Schelling 1804, 80 / SW VI, 70.
75
1. Kapitel. Darstellungsprobleme
Mysterien lässt sich somit ersehen, mit welcher Absicht er seine Rhe-
torik einsetzt.
* * *
76
Die Mysterien: Der erzieherische Zweck der Schrift
schaftlichen Gewinn aus einer Auseinandersetzung zu ziehen, ihn bei einer früheren
Gelegenheit auf eine Polemik hat verzichten lassen.
175 Zur Plutarch-Stelle als Vorlage für das Frontispiz des ersten Discours: Rousseau
1755, LI–LIII; Meier 2011, 19–22. Das Frontispiz war allerdings nicht wiederabge-
druckt in der Rousseau-Ausgabe, die in Schellings Besitz war, vgl. Rousseau 1782
und Müller-Bergen 2007, 135. Gleich im Anschluss an das Plutarch-Zitat richtet üb-
rigens auch Rousseau sich gegen die »Büchermacherey« (Rousseau 1776, 673; vgl.
Schelling 1804, V / SW VI, 14).
176
Schelling 1804, V f. / SW VI, 14 f.
77
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
79
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
1
Schelling 1804, 21 / SW VI, 29.
80
Das Programm der Nichtphilosophie
In seiner Antwort auf den Brief vom 30. März 1804, der Eschenmay-
ers Übersendung seiner Schrift Die Philosophie in ihrem Uebergang
zur Nicht-Philosophie begleitete, 2 bemerkt Schelling, dass er diese
»schon lange gelesen und wieder gelesen« und inzwischen bereits
eine Erwiderung auf dieselbe fertiggestellt habe. Es ist dies die »kleine
Schrift Philosophie und Religion«, die, wie er bemerkt, »sich fast
durchgehends auf die Ihrige bezieht«. 3 Die Schrift Eschenmayers er-
nehmes Geschenk, obgleich ich sie schon lange gelesen und wieder gelesen hatte, wie
sich versteht. H. Prof. Paulus machte mich gleich bey ihrer Erscheinung damit be-
kannt. Sonderbarer Weise kommt Ihr Geschenk in dem Augenblick, da ich eben das
lezte Blatt einer kleinen Schrift: Philosophie und Religion, die sich fast durchgehends
auf die Ihrige bezieht, in die Druckerey geben will. Sie erhalten diese, sobald sie fertig
und aus der Presse ist. Wie vielen Dank ich Ihnen für Ihre Schrift, deren Tiefe mich im
Innersten angeregt hat, schuldig bin, will ich Ihnen hier nicht sagen, ich glaube, daß
so, wie Sie mich genommen haben, allerdings noch ein bedeutend höherer Schritt in
ein andres Gebiet geschehen muß; aber dieses Gebiet glaube ich noch in der Spekula-
tion selbst zu finden, u. viel klarer durch dieses Organ in ihm zu sehen, als durch
81
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
schien Ende 1803. Der Brief Schellings, der die Fertigstellung seiner
Antwortschrift meldet, ist auf den 7. April 1804 datiert. Die rasche
Reaktion bezeugt, dass Schelling die Schrift Eschenmayers zum will-
kommenen Anlass nahm, sich über bestimmte Themen zu äußern. 4
Mit der Veröffentlichung seiner Antwort erachtet Schelling die Aus-
einandersetzung jedoch noch keineswegs für abgeschlossen; noch
mehr als ein Jahr lang führt er sie sowohl in Briefen als auch in neuen
Veröffentlichungen weiter. 5 Wenn die in Eschenmayers Schrift ent-
haltene »Auffoderungen« Schelling zu einer Antwort veranlassen,
wie es andere nicht vermocht haben, dann steht für ihn wohl noch
etwas mehr auf dem Spiel, als nur die Berichtigung einiger Miss-
deutungen. 6 Vielmehr erblickt Schelling in der von Eschenmayer
umrissene Position, trotz der Unzulänglichkeiten und der begriff-
lichen Unschärfe, die sich bei diesem leicht feststellen ließen, eine
grundsätzliche Alternative nicht nur zu seiner eigenen Position, son-
Glauben. Sie haben vieles als durch diesen erfaßt ausgesprochen, was ich im ersten zu
besitzen längst die Gewißheit habe«. Die Absicht der Schrift besteht darin, »einen
Geist, wie Sie, mit mir vielleicht ganz aus[zu]söhnen« (F. W. J. Schelling an C. A.
Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 71 f.). Schelling schickt Eschen-
mayer die Schrift wohl Anfang Juni (vgl. Fuhrmans, Briefe I, 320). Eschenmayer
meldet den Empfang in einem Brief vom 24. Juli 1804 (C. A. Eschenmayer an F. W. J.
Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108).
4 Schellings Reaktion auf die öffentliche Kritik Fichtes mit der Darlegung des wahren
322; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108–
112; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe
III, 157 f.; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 201 f.; F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III,
222–224; C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 10. August 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 227–229. Dann scheint der Briefwechsel bis 1810 zu ruhen (vgl. Fuhrmans, Briefe
III, 229). Vgl. ferner die »Vorrede« zu den Jahrbüchern der Medicin als Wissenschaft
(Schelling 1805a, XII f. / SW VII, 135 f.) sowie die dort veröffentlichten Aphorismen
zur Einleitung in die Naturphilosophie (Schelling 1805b, 18, 69–71 / SW VII, 150 f.,
186 f.) und Kritischen Fragmente (Schelling 1807b, 286 f. / SW VII, 247 f.). Siehe auch
F. W. J. Schelling an C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III,
158: Das erste Heft der Jahrbücher »wird eröfnet durch Aphorismen über Naturphi-
losophie, wo bey Gelegenheit der ersten Grundsätze auch Ihrer mehrmals Meldung
geschehen muß«. Wie bei Schelling üblich geschieht dies jedoch manchmal ohne aus-
drückliche Namensnennung; dass Eschenmayer gemeint ist, lässt sich meistens leicht
aus dem Zusammenhang wie aus der Terminologie erschließen.
6
Schelling 1804, III / SW VI, 13.
82
Das Programm der Nichtphilosophie
7 Noch 1805 spricht er vom »bis jetzt namhaftesten« Versuch, eine solche Gegen-
position aufzustellen (Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150).
8 Schelling 1804, 2 / SW VI, 16; Herv. v. Verf.
9 Schelling 1804, 1 / SW VI, 16; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1804, 3 / SW VI, 17;
83
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
Bedeutung, dass sie vielmehr über den Wert der Philosophie über-
haupt entscheidet. Ihre Beantwortung kann denn auch nicht warten,
bis das System irgendwann zu einem Abschluss gelangt ist – umso
mehr, als das System »in seiner empirischen Totalität« gar nicht ab-
schließbar ist (SW VII, 421) –, sondern erhält eine ganz besondere
Dringlichkeit. Hierin dürfte ein wichtiger Grund liegen, weshalb die
Position Eschenmayers für Schelling eine derart ernstzunehmende
Herausforderung darstellt, dass es ihm wichtiger ist, direkt auf dessen
Bedenken zu antworten, als eine Schrift zu veröffentlichen, der nur
»die letzte Vollendung« fehlte und durch welche er sich auf eine an-
gemessenere Art über jene »Ideen« und »Verhältnisse« hätte erklären
können. 11
Jene Alternative kommt bereits in dem befremdlichen und rätsel-
haften Titel von Eschenmayers Schrift klar zum Ausdruck, der sein
Programm auf eine griffige und prägnante Formel bringt. 12 Diesem
Titel zufolge soll die Philosophie in ihrem Übergang zur Nichtphi-
losophie begleitet werden. Dazu muss zunächst das Bedürfnis oder
die Notwendigkeit eines solchen Übergangs nachgewiesen werden.
Dazu ist in der Philosophie selbst eine Aporie aufzudecken, die dazu
nötigt, über sie hinauszugehen. Es steht denn auch zu vermuten, dass
Eschenmayer auf ein Problem aufmerksam macht, dem der Philosoph
sich nicht zu entziehen vermag und das er nach Eschenmayers Urteil
mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln auch nicht zu lösen
vermag. Wir können dies als den negativen Teil von Eschenmayers
Unternehmen bezeichnen. Der positive Teil wird die konkrete Aus-
füllung der Nichtphilosophie betreffen. 13 Die Erfüllung des negativen
Teils verlangt allerdings, dass die Nichtphilosophie sich auf das Gebiet
der Philosophie selbst begibt. Die Grenze oder das Gebiet, wo Phi-
losophie und Nichtphilosophie sich berühren und wo sie auseinander-
gehen, betrifft insbesondere die Lehre von Gott und die Lehre von der
Eschenmayer, 7. April 1804, Fuhrmans, Briefe III, 72). Dasselbe Motiv ist auch in
Jaspers’ Kritik an Schelling deutlich feststellbar. Vgl. dazu Habermas 1971, 95.
11 Schelling 1804, IV / SW VI, 13.
12 Vgl. auch die für Jaspers entscheidende Alternative zwischen ›Gnosis‹ und ›Exis-
und damit der Spekulation zu bestimmen, wonach sich in der Folge zeigen wird, dass
»das, was ich unter Nichtphilosophie verstehe, bestimmter ausgedrückt eine reine und
von aller Spekulation befreyte Theologie wäre« (Eschenmayer 1803, I f.). Zum positi-
ven Teil siehe das 5. Kapitel.
84
Das Programm der Nichtphilosophie
16
Eschenmayer 1803, II (Vorbericht), 34 (§ 43), 58 (§ 65).
17 Eschenmayer 1803, 44 (§ 53).
18
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).
85
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
23
Eschenmayer 1803, 44 (§ 52).
86
Das Programm der Nichtphilosophie
auf Erfolg, wenn sie solcherart auf eine Übereinstimmung mit der
Philosophie aufbauen kann. Dadurch bietet sie der Philosophie aller-
dings zugleich eine Angriffsfläche. Solche Annahmen sind nämlich,
wie Eschenmayer es auch anerkennt und anerkennen muss, nicht
mehr oder noch nicht Gegenstand des Glaubens, d. h. sie müssen auch
für solche, die den Glauben nicht zugeben, einsichtig sein und sich
auch ohne Rekurs auf den Glauben behaupten lassen. Damit hat
Eschenmayer sie auch für eine kritische Überprüfung durch die Phi-
losophie freigegeben. Eine solche wird Schelling denn auch unterneh-
men. Dazu wird er zum einen zeigen, dass er den von Eschenmayer
vorausgesetzten Begriff von Philosophie nicht als triftig anzuerken-
nen vermag. Dadurch versucht Schelling zu zeigen, wie Eschenmay-
ers Einwände ihr Ziel verfehlen, indem sie sich gegen eine Meinung
richten, der er selbst nicht zustimmt. Zum anderen wird er zeigen,
welchen prinzipiellen Schwierigkeiten ein solches Unterfangen aus-
gesetzt ist. Gelingt es dem Philosophen, die Unhaltbarkeit dieser An-
nahmen nachzuweisen bzw. zu zeigen, wie bestimmte Fragen, die für
philosophisch unlösbar gehalten werden, doch »durch Philosophie
befriedigend zu beantworten« sind, dann ist das Vorhaben Eschen-
mayers gescheitert oder es müsste ein neuer Angriff mit leistungs-
fähigeren Argumente gewagt werden. 24
Eschenmayer verwendet viel Mühe darauf, einen solchen Begriff
von Philosophie zu entwickeln, der jenen Übergang als notwendig
einsichtig zu machen vermag. Dazu sind die Paragraphen 1 bis 40
seiner Schrift gedacht. Die Plausibilität jenes Übergangs hängt denn
auch weitgehend davon ab, ob man bereit ist, ihm hierin zuzustim-
men. Jedenfalls rechnet Eschenmayer gerade in diesem Punkt mit der
Zustimmung Schellings. 25 Die Aufgabe der Philosophie sieht Eschen-
87
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
Gott sind und nicht Gott in uns, lassen sich nun in der Tat bei Schelling auffinden.
Daraus folgt nach Eschenmayer unmittelbar, dass Gott »kein Gegenstand mehr der
Erkenntniß und der Anschauung« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli
1804, Fuhrmans, Briefe III, 110), also nur des Glaubens ist.
26 Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne, was
Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Universum
als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegenstände
der Nichtphilosophie solche seyn welche weder für das Wollen noch Erkennen er-
reichbar sind«. Dazu ist anzumerken, dass Handeln und Wollen, insofern sie Gegen-
stand der Philosophie werden sollen, selbst bereits den Glauben voraussetzen.
27 Eschenmayer 1803, 1 (§ 2): »Unser Geistesvermögen ist im Ganzen genommen
eine Masse, welche von einander zu sondern, wir in uns selbst zurückgehen und auf
uns selbst reflektiren müssen. Der Antheil, welchen die Vernunft, der Verstand, Emp-
findung und Anschauung, die Sinne u. s. w. an dieser Masse haben, muss von einander
gesondert und nachher wieder in den verschiedenen Beziehungen untereinander be-
trachtet werden«.
28 Nach Walter Wuttke tritt diese in späteren Schriften noch deutlicher hervor:
Eschenmayer trennt »den Bereich des Glaubens strikt von dem der Philosophie, faßt
beide jedoch unter einem anthropologischen Gesichtspunkt zusammen, da der
Mensch Wissen und Glauben als psychologische Tatsachen erfährt« (Wuttke 1972,
262). Auch Schelling erwägt, ob Eschenmayer ihn nicht auf eine solche psychologi-
sierende Weise verstanden hat (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23), setzt sich auch
andernorts mit solchen psychologistischen Deutungen auseinander (vgl. Schelling
1803b, 69 / SW II, 60; Schelling 1802d, 44, 51, 56, 60 / SW V, 46 f., 51, 54, 57).
88
Das Programm der Nichtphilosophie
erfährt der Mensch sich nicht nur als ein erkennendes, sondern auch
als ein wollendes, fühlendes und glaubendes Wesen. Im Erkennen
lassen sich seinerseits mehrere Funktionen unterscheiden, die nur
durch ihr Zusammenspiel in einer Erkenntnis resultieren. Den syste-
matischen Zusammenhang dieser Funktionen zu rekonstruieren ist
Aufgabe der Philosophie. Die anderen Funktionen des Geistes (Wol-
len, Fühlen, Glauben …) lassen sich hingegen weder aus dem Erken-
nen ableiten noch auf es zurückführen. So lässt sich der Wille z. B.,
auch wenn Erkennen und Erkenntnisse in ihm eingehen, doch nicht
in lauter erkenntnismäßige Elemente auflösen. Zum Wollen braucht
es ein zusätzliches Element, das nicht mehr von der Art des Erken-
nens ist. Wenn einmal feststeht, dass die Aufgabe der Philosophie nur
in der Auslotung unserer Erkenntnistätigkeit und -vermögen besteht,
dann ist durch den Nachweis, dass das Wollen sich nicht auf einen
bloßen Modus des Erkennens zurückführen lässt, ein Argument da-
für gegeben, dass der Wille nicht Gegenstand der Philosophie sein
kann. Außerdem lässt sich auch der Träger dieser Tätigkeit nicht in
Erkennen auflösen. 29 Die Art, wie Eschenmayer von Potenzen, Funk-
tionen und Vermögen redet, scheint stets ein Subjekt als deren Träger
vorauszusetzen. Das Subjekt dieser Funktionen nennt Eschenmayer
die Seele. Insofern diese deren Subjekt ist, kann sie nicht selbst wieder
durch jene objektiviert werden.
Seine Bestimmung der Aufgabe der Philosophie versucht Eschen-
mayer zudem durch ein historisches Argument abzustützen: Er bietet
einen problemorientierten Überblick über die »Schicksale der Phi-
losophie in der Geschichte der Menschheit«, wobei er sich besonders
auf die neuere Philosophie (Kant, Fichte, Schelling) konzentriert. 30
Dieser Überblick soll plausibel machen, dass das Erkennen in der Tat
einziger Gegenstand der Philosophie ist und dass alle wesentlichen
Bemühungen und Fortschritte in der Geschichte der Philosophie im
Problem des Erkennens ihren Grund haben. 31 Nach dieser Deutung
29 Das Selige »erfüllt« »unser ganzes Wesen«, während das Erkennen nur einen Teil
unseres Wesens erfüllt (Eschenmayer 1803, 15 (§ 21; Herv. v. Verf.); vgl. Eschenmayer
1803, 105 (§ 99)). Daher muss das Selige eine höhere Potenz sein, da es nämlich die
Potenz des Erkennens in sich enthält, nicht aber vollständig davon ausgefüllt oder
erfüllt wird. Diese Annahme bricht erneut in Eschenmayers Reaktion auf die Frei-
heitsschrift durch (vgl. Eschenmayer 1813, 47 f. / SW VIII, 149, und Schellings Re-
aktion: Schelling 1813b, 82–84 / SW VIII, 163 f.).
30 Eschenmayer 1803, 1 (§ 1); vgl. Eschenmayer 1803, 2–14 (§§ 5–20).
31
In diesem Bereich gibt es also eindeutig feststellbare Fortschritte. Auch wenn es
89
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
von Eschenmayer so nicht ausgesprochen wird, so ist doch zu vermuten, dass der
Entzug bestimmter Gegenstände (bes. Gott und die Tugend) von der Befugnis der
Philosophie darauf abzielt, diesen einen überzeitlichen Wert zu sichern. Im Bereich
der Moral bzw. des praktischen gibt es keinen Fortschritt.
32 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 10 f. (§ 16), 11 f. (§ 17).
33 Für einen solchen Umgang mit der Geschichte der Philosophie, siehe: Wieland
1995, 14 f.
34 Vgl. Eschenmayer 1803, 2 f. (§ 5), 4 (§ 7), 5–8 (§§ 9–11).
35
Schelling 1804, 1 / SW VI, 16.
90
Das Programm der Nichtphilosophie
39
Schelling 1802f, 20 f. / SW V, 120 f.
91
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
Im ersten Teil der Einleitung hebt Schelling besonders auf das Ver-
hältnis von Philosophie und Religion als bestimmend für die Bestim-
mung der Philosophie ab. Das Verhältnis, das die Philosophie sich
selbst zu ihrem Anderen gibt, bestimmt mit darüber, was sie selbst
ist. Der erste Teil der Einleitung ist also u. a. auch gegen Eschen-
mayers Abriss der Geschichte der Philosophie gerichtet.
Von mehr Gewicht als die psychologische Annahme und das his-
torische Argument ist indes der Begriff der intellektuellen Anschau-
ung, in welchem Eschenmayer einen Grund zu finden meint, über die
Philosophie hinauszugehen. Dieser verdient eine ausführlichere Erör-
terung, da dieser Begriff auch für Schelling von entscheidender Be-
deutung ist. Zudem drückt Eschenmayer sich gerade hier in einer
schellingianisierenden Sprache aus, was dazu verführen könnte, beide
auch in der Sache als übereinstimmend zu betrachten. Ob eine solche
Übereinstimmung auch tatsächlich gegeben ist, bedarf einer besonde-
ren Überprüfung, wenn man sich in die Lage versetzen will, über die
Triftigkeit von Eschenmayers Einwänden zu urteilen.
scheidet. Das Begreifen beinhaltet immer noch einen Bezug auf einen Gegenstand, der
begriffen wird und allgemein zugänglich ist. Der Begriff hat nur deshalb nicht die
allgemeine Verständlichkeit, weil es im Belieben des Individuums steht, wie er die
ihm sich darbietenden sinnlichen Eindrücken ordnet (vgl. Eschenmayer 1803, 27
(§ 35)). Ferner bemerkt er, dass im Begriff das Erkannte nur »mittelbar und in einer
92
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung
weit niedrigern Potenz« integrierender Teil des Erkennenden ist. (Eschenmayer 1803,
24 (§ 31)) Das Erkannte ist im Begriff Teil des Erkennenden, insofern es stets durch
das Selbstbewusstsein vermittelt ist; es ist nur auf mittelbare Weise Teil desselben,
weil in ihm immer auch die Beziehung auf einen Gegenstand enthalten ist, der ihm
von außen, nämlich durch die Sinnlichkeit gegeben ist.
43 Eschenmayer 1803, 27 (§ 36).
44
Eschenmayer 1803, 24 (§ 31).
93
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
45C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201;
Herv. v. Verf.
94
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung
Totalität nicht gleich kommt« (C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804,
Fuhrmans, Briefe III, 110). Anders gesagt: die Spekulation, als nur ein Teil der Seele,
kann niemals die Seele selbst, als Träger der Spekulation, in ihrer Totalität objekti-
vieren, sondern höchstens gewisse Teile derselben. In der intellektuellen Anschauung
ist nur der erkennende Teil der Seele (wozu Sinnlichkeit und Verstand gehören) in
seiner Totalität objektiviert. Dies scheint auch der Hintergrund folgender Bemerkung
zu sein: »Wäre die Vernunft das höchste, so müsste der Mensch ganz in Denken und
Handeln bestehen. Der physische Zustand des Philosophen müsste dem höchsten Akt
seiner Reflexion gleich werden, er würde sich in das auflösen, was er dächte und
handelte, und zuletzt selbst in die absolute Identität übergehen. So aber ist die Ver-
95
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
Diese Objektivierung ihrer selbst durch eine höhere Instanz kann die
Seele selbst allerdings nur fühlen, ohne das Gefühlte in der Spekula-
tion artikulieren zu können.
In der intellektuellen Anschauung, so wie Eschenmayer sie ver-
steht, ist somit die grundsätzliche Differenz von Subjekt und Objekt
nicht aufgehoben. Sie impliziert zugleich, dass die Philosophie sich
selbst als Erkenntnis nicht zu rechtfertigen vermag. Sie beruht in
letzter Instanz selbst auf einem Glauben. Die Identität, auf welcher
sie aufbaut, ist ihr eine bloße Voraussetzung, von welcher sie selbst
keine Rechenschaft mehr abzulegen vermag. 51 Gerade diese Folge-
rung ist für Schelling ein klares Indiz dafür, dass die von Eschen-
mayer gemeinte Anschauung nicht im eigentlichen Sinne eine intel-
lektuelle genannt werden kann. Schelling richtet seine kritischen
Nachfragen deshalb genau gegen den eschenmayerschen Begriff der
intellektuellen Anschauung. Da dieser der intellektuellen Anschau-
ung selbst eine zentrale Rolle in seinem eigenen System zuweist, ha-
ben wir es hier nicht mit denjenigen zu tun, »welche nichts von einer
solchen wissen, und zu wissen vorgeben«, die, Schelling zufolge, we-
niger »Rücksicht« verdienen, sondern mit jemandem, der sich
»rühm[t], sie zu besitzen« und von dem demnach zu untersuchen ist,
ob er wirklich die »wahren Idee von ihr« hat oder nicht. 52 Schelling
hält sich an die Merkmale und Behauptungen, die Eschenmayer mit
der intellektuellen Anschauung verbindet, und untersucht sie auf
ihre Voraussetzungen und Implikationen hin. Als wesentliches
Merkmal derselben hatte Eschenmayer, wie gesehen, die Identität
von Erkanntem und Erkennendem herausgestellt. Oder, in seiner ei-
genen Formulierung: »das Erkennen […] erlöscht erst im Absoluten,
wo es mit dem Erkannten identisch wird«. 53 Da auch bei Schelling
mehrfach von einer Identität von Erkennendem und Erkanntem,
Idealem und Realem, Subjektivem und Objektivem die Rede ist, er-
weist es sich als besonders dringlich, zu prüfen, ob beide unter diesem
Ausdruck dasselbe verstehen. Ein Indiz dafür, dass Eschenmayer da-
nunft selbst nur ein Modus existendi der Seele, welche ihren Bestand im Glauben hat«
(Eschenmayer 1803, 105 (§ 99)). Auf dieser Annahme scheinen auch die Bedenken zu
beruhen, die Eschenmayer 1810 gegen Schellings Freiheitsschrift formuliert (vgl.
Eschenmayer 1813, 46 f. / SW VIII, 148 f.).
51 Dies ist auch nach Hegel die »Hauptschwierigkeit bei der Schellingschen Philoso-
phie« (GeschPh III, TWA 20, 436; vgl. GeschPh III, TWA 20, 435, 439 f., 445 f., 454).
52 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.
53
Eschenmayer 1803, 25 (§ 33); von Schelling 1804, 5 / SW VI, 18 zitiert.
96
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung
97
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
98
Eschenmayers Begriff der intellektuellen Anschauung
solchen besonderen Fall hält Schelling auch Fichtes intellektuelle Anschauung: Der
besondere Fall der Einheit von Erkennendem und Erkanntem ist mit einer Differenz
zwischen empirischem und reinem Bewusstsein gesetzt; »in intellectueller Anschau-
ung […] verschwindet die Form [der Ichheit, R. S.], als besondre Form« (Schelling
1802b, 23 / SW IV, 355). Hier gibt es nur eine relative Identität von Erkennendem
und Erkanntem (vgl. Schelling 1802b, 29 / SW IV, 359).
60 Vgl. Schelling 1803a, 149 / SW V, 278. Dieses Verfahren lässt sich beispielhaft am
Vorgehen Jaspers’ zeigen. Was bei ihm die Gestalt einer abweisenden Kritik annimmt,
enthält zugleich die Andeutung derjenigen Korrektur, die am schellingschen Denken
vorzunehmen wäre, um sie mit Jaspers’ Position verträglich zu machen. Auch Jaspers
baut seine Kritik auf eine Deutung der intellektuellen Anschauung auf. Auch er
schiebt Schelling einen Begriff unter, den dieser nicht mit diesem Ausdruck verbun-
den hat. Der Hauptpunkt von Jaspers’ Kritik ist darin zu sehen, dass Schelling Gott
vergegenständlicht. Die Annahme ist, dass auch die intellektuelle Anschauung ein
vergegenständlichendes Denken ist und dass auch in ihr die für alles Denken charak-
teristische Subjekt-Objekt-Spaltung nicht überschritten wird. Diese Struktur wäre
von Schelling, in dem Gebrauch, den er von der intellektuellen Anschauung machen
will, verschleiert worden. Deshalb ist es in kritischer Absicht nötig, daran zu erinnern,
dass auch in der intellektuellen Anschauung diese Spaltung bestehen bleibt. Damit ist
angenommen, dass in dieser Anschauung der Anschauende sich auf das Absolute
99
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
(oder Gott) als auf einen Gegenstand bezieht. Unterschlagen wird dabei, dass das
Kennzeichnende dieser Anschauung eben darin besteht, dass sie sich auf das An-
geschaute nicht als auf einen Gegenstand bezieht, sondern das Absolute als die Mate-
rie oder den Stoff des Denkens entdeckt. Dies hatte Jaspers übrigens selbst hervor-
gehoben, scheint es allerdings dort wieder zu vergessen, wo er zur Kritik übergeht.
Wenn das Denken in der intellektuellen Anschauung sich auf das Absolute nicht als
auf einen Gegenstand, sondern als auf seine eigene Materie bezieht, dann verfehlt der
Einwand, wonach in diesem Denken Gott objektiviert oder vergegenständlicht wird,
allerdings sein Ziel. Es dürfte kaum zufällig sein, dass Jaspers Schelling wiederholt
vorwirft, die wesentliche Einsicht Kants ›preisgegeben‹ zu haben (Jaspers 1955, 78,
129 f., 176 f., 192, 194, 197–210, 313–323). Jürgen Habermas hat somit wohl Recht,
wenn er bemerkt, »wie sehr Jaspers’ Existentialismus ein Neukantianismus ist«
(Habermas 1971, 105).
61 Schelling 1802b, 21–29 / SW IV, 353–359. Dass Jaspers gerade diesen Einwand
gegen Schelling geltend zu machen sucht, geht mit aller nur wünschenswerten Deut-
lichkeit aus folgender Stelle hervor: »In der Situation unseres Denkens ist die Sub-
jekt-Objekt-Spaltung, d. h. daß wir, was immer wir denken, im meinenden Gerichtet-
sein auf das Gedachte erfassen, unüberwindlich. […] [W]as immer wir erfahren, was
wir umgreifend sind als Dasein, als Geist, als mögliche Existenz, und was wir als diese
ergreifen, was wir sind als Vernunft und als solche ins Offene wenden, alles muß im
Medium des ›Bewußtseins überhaupt‹ eine Weise der Gegenständlichkeit gewinnen,
um mittelbar zu werden […]. Schelling steht in der Reihe derer, die den Grundtat-
bestand unseres Denkens nicht zu wollen scheinen: daß alles Gedachte in der Subjekt-
Objekt-Spaltung ein gegenständliches bleibt, daß alle Kategorien zum Bewußtsein
überhaupt gehören«. Auch hier scheint Jaspers eine frühere Behauptung vergessen
zu haben, wonach »der Versuch, die intellektuelle Anschauung aus dem Bewußtsein
und aus Bewußtseinserscheinungen zu widerlegen oder zu beweisen, fehlschlagen
[muß]«, da er in der oben zitierten Stelle eben dies versucht: die intellektuelle An-
schauung dadurch zu widerlegen, daß an den »Grundtatbestand« alles Bewußtseins,
nämlich die Subjekt-Objekt-Spaltung, erinnert wird (Jaspers 1955, 205, 80).
100
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
welchem sie die Vernichtung aller Speculation in sich gleichsam empfindet« (C. A.
Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201 f.).
64
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).
101
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
65
Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 31 (§ 39), 53 (§ 43), 53 (§ 44), 56 (§ 46), 41 (§ 50), 58
(§ 65); vgl. Eschenmayer 1803, 25 (§ 33), 32 (§ 40). Auch Jaspers’ Kritik stützt sich auf
diese Unterscheidung, die er als die Unterscheidung zwischen der Transzendenz und
deren ›Chiffern‹ bestimmt. Er ordnet Schelling gerade deshalb der Gnosis, d. h. einem
»gegenständliche[n] Erkennen des Übersinnlichen« zu, weil dieser die ›Chiffern‹ der
Transzendenz für die Transzendenz selbst hält (Jaspers 1955, 130). Schelling habe es
versäumt, die »Objektivitäten, die selber Gott zu sein beanspruchen, zu Chiffern«
herabzusetzen, und habe dadurch »[d]ie Transzendenz […] verschleiert« (Jaspers
1955, 216, 210). Er habe »den Gottesgedanken eigentlicher Transzendenz zum Ver-
schwinden« gebracht, da »Gott absolut verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit
entzieht« (Jaspers 1955, 218, 184).
66 C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 110.
68 Darin scheint Eschenmayer in der Tat mit Jacobi einig, insofern dieser »die Bedin-
gungen, an welche die begriffliche Erkenntnis gebunden ist, […] absichtlich so refor-
muliert« hat, dass »der Gottesgedanke solchem Denken nicht mehr zugänglich ist«.
Damit wird die »Annahme der Unerreichbarkeit des Gottesgedankens für das Denken
[…] zum Kriterium der Richtigkeit […] des Gottesbegriffs« (Kauttlis 1994, 2). Ob-
wohl Eschenmayer behauptete, Jacobi zur Zeit der Abfassung seiner Schrift noch
102
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
nicht gelesen zu haben, hat man ihm bei deren Erscheinung die Absicht einer Ver-
söhnung zwischen Schelling und Jacobi zugeschrieben (vgl. Jantzen 1994, 82).
69 Schelling 1804, 8 / SW VI, 21; Herv. v. Verf.
70
Schelling 1804, 54 / SW VI, 51.
71 Vgl. Schelling 1802b, 43, 54 / SW IV, 367, 375.
72
Vgl. Schelling 1804, 8 / SW VI, 21.
103
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
wie sich nicht verhindern lässt, die Absolutheit von Gott zu prädizie-
ren. Beide Argumente zielen darauf ab, einen Widerspruch aufzude-
cken zwischen dem, was eine Begriffsanalyse der Idee des Absoluten
ergibt, und den Implikationen, die Eschenmayer dennoch damit ver-
binden will. Daraus geht nach Schelling klar hervor, »dass Eschen-
mayer bey dem Absoluten etwas ganz anderes denkt als ich dabey
denke«. 73
Bereits diese Begriffsanalyse bringt Widersprüche ans Licht, die in
Eschenmayers Unterscheidung impliziert sind. Diese Widersprüche
sind offensichtlich, 74 da sie sich aus einer bloßen Analyse von Eschen-
mayers Behauptungen und deren Implikationen ergeben. Nun be-
gnügt Schelling sich nicht damit, diese Widersprüche aufzudecken.
Wenn diese derart ›offenbar‹ sind, dann fragt sich, weshalb Eschen-
mayer sie dennoch hat übersehen können. Er hat sie wohl deshalb
nicht bemerkt, weil er einer »Täuschung« unterlegen ist. 75 Diese Täu-
schung hat zunächst einen subjektiven Grund, der in Eschenmayers
»Absicht« besteht, »ausser der Philosophie einen leeren Raum zu er-
halten, welchen die Seele durch Glauben und Andacht ausfüllen
könnte«, oder die Subjektivität zu retten. 76 Dieser Absicht kommt
die eschenmayersche These auch entgegen. Trotz ihrer offensicht-
lichen Falschheit scheint jene Unterscheidung auf den ersten Blick
nämlich nicht ganz unplausibel. Dies deutet darauf hin, dass jene
Täuschung auch einen ›objektiven‹, in der Sache selbst wurzelnden
Grund hat: Die Idee des Absoluten ist gleichursprünglich mit einem
natürlichen Schein, der zur genannten Täuschung verführt und da-
rauf aufbauenden Behauptungen eine gewisse Plausibilität verleiht.
104
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
Deshalb kann Schelling auch sagen, dass man dem »Irrthum«, wozu
diese Täuschung verführt, »fast nothwendig« unterliegt, was bei
einer bloß subjektiven Täuschung nicht der Fall wäre. 77 Die Sache
selbst ist demnach von der Art, dass sie von Natur aus zu einer sol-
chen Täuschung verführt, der man, wenn man nicht äußerste Vor-
sicht übt, ›fast nothwendig‹ erliegt. Damit ist dreierlei gesagt: Erstens
resultiert die Unterscheidung von Absolutem und Gott aus einer Täu-
schung, der man dann erliegt, wenn man nicht genügend beachtet,
wie man zur Idee des Absoluten gelangt. Zweitens muss es möglich
sein, diese Täuschung als eine solche zu durchschauen und ihr somit
nicht zu verfallen. Schließlich muss man davon Rechenschaft geben
können, weshalb man ihr dennoch so leicht verfällt, dass man jene
offenbar widersprüchlichen Behauptungen nicht bemerkt. Es stellt
sich daher die Frage, was »es also seyn [mag], das der Idee des Abso-
luten in derjenigen Vorstellung anhängt, welche es zwar als absolut,
aber doch nicht zugleich als Gott anerkennt?« 78
Allerdings dürfte man bereits der Rede von einem Absoluten und
von einer besonderen Erkenntnisart eine gewisse Skepsis entgegen-
bringen. Vor allem der Gedanke, in der Philosophie oder im Wissen
ein Absolutes zu suchen, dürfte befremden. Indessen wäre zu fragen,
ob diese Skepsis, falls sie sich gegen die Idee des Absoluten überhaupt
und als solche richtet, nicht verfehlt wäre. Wenn Schelling bemerkt,
dass die Philosophie »von dem Unbedingten auszugehen habe«, 79
dann knüpft er damit lediglich an die kantische Behauptung an, dass
die Metaphysik einer Naturanlage des Menschen entspringt und dass
sie sich mit Fragen beschäftigt, die die »menschliche Vernunft […]
nicht abweisen kann« (KrV, AA 4, 7; Herv. v. Verf.). Dem entspricht
auch, dass Schelling zu jenem Satz lediglich durch eine Begriffsana-
lyse der konstitutiven Aufgabe der Philosophie gelangt. Falls es Auf-
gabe der Philosophie ist, die Realität unseres Wissen zu begründen,
kann sie diese Aufgabe auf keine andere Weise zu erledigen hoffen,
als dass sie von einem Unbedingten oder Absoluten anfängt.
Wer die Skepsis gegen die Idee eines Absoluten schlechthin rich-
ten möchte, müsste somit behaupten, dass die Metaphysik sich mit
Scheinfragen beschäftigt, die wir abweisen könnten, statt dass die
105
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
80 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339. In der Philosophie hat man »nicht so sehr auf
diejenigen Rücksicht zu nehmen, welche nichts von einer solchen [absoluten Erkennt-
nisart, R. S.] wissen, und zu wissen vorgeben, als auf diejenigen, welche sich rühmen,
sie zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben, und denen mit der wahren
Idee von ihr nothwendig auch sie selbst mangelt. Wollten wir unter absoluter Er-
kenntniss überhaupt nur eine solche verstehen, über welche es in irgend einer Bezie-
hung keine höhere giebt, so müssten wir zugeben, dass jeder, auch der gemeine Ver-
stand, im Besitz einer solchen seye« (Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339). Und: »Jeder ist
von Natur getrieben, ein Absolutes zu suchen« (SW IV, 357; Zusatz im Handexem-
plar; Herv. v. Verf.).
81 In den Ferneren Darstellungen nimmt Schelling durchgängig Rücksicht auf solche
skeptischen Einwände (vgl. Schelling 1802b, 18, 40 / SW IV, 351, 365 f.). Bereits in
Vom Ich stellt er seinen eigenen Lösungsvorschlag als Glied einer Alternative auf:
»Entweder muß unser Wissen schlechthin ohne Realität […] seyn […], oder – Es
muß einen lezten Punkt der Realität geben, an dem alles hängt« (AA I,2, 85; Herv. v.
Verf.). Wenn nachher nur das zweite Glied dieser Alternative verfolgt wird, so darf die
Alternative darüber doch in keinem Augenblick vergessen werden. Die einzig kon-
sequente Alternative zu Schellings Ansatz wäre somit im Skeptizismus zu finden.
Alle Zwischenformen müssen in letzter Instanz zu einer dieser beiden zurückführen.
Deshalb bemerkt Schelling, dass »dieser Kriticismus mit der leichtesten Mühe unmit-
telbar zum Skepticismus umgearbeitet werden konnte« (Schelling 1802b, 18 / SW IV,
351); sein eigenes System hingegen sieht er als eine Umarbeitung in der anderen
Richtung. Deshalb heißt es auch, dass die Philosophie »eben dadurch, daß sie von
jenem absoluten Erkennen ausgeht, zugleich ihren Selbstbeweis [führt]« – gegen die
skeptische Alternative (SW IV, 371; Zusatz im Handexemplar).
106
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
dert, zuzugeben, dass die Philosophie, wenn sie denn ihre Aufgabe
erfüllen soll, von einem Unbedingten auszugehen habe, dem aber
gleich hinzuzufügen, dass es der menschlichen Vernunft nicht gege-
ben ist, den Zugang zu diesem Absoluten zu finden.
Die Frage ist demnach nicht, ob die Philosophie vom Absoluten
anzufangen habe oder nicht, sondern vielmehr, wie wir den Zugang
zu diesem Absoluten finden und, damit zusammenhängend, wie wir
uns dessen vergewissern können, dass dasjenige, das wir als Absolu-
tes setzen, auch tatsächlich ein solches ist. Es bedarf somit eines Kri-
teriums, durch welches wir versichert sein können, dass unser An-
fangspunkt auch wirklich das Absolute ist und das uns gleichzeitig
erlaubt, unzutreffende Begriffe des Absoluten als solche einzusehen
und als unrechtmäßig zurückzuweisen. Es ist somit nicht so, dass
Schelling sich gleich anfangs sozusagen im Absoluten ansiedelt und
sich damit begnügt, sich auf eine – schwer nachvollziehbare – An-
schauung zu berufen, um die Richtigkeit seiner Idee des Absoluten
zu behaupten. Vielmehr gewinnt die Frage nach dem Zugang zum
Anfang an Dringlichkeit. 82 Es ist demnach nicht möglich, sich gleich
anfangs auf diesen Punkt zu stellen, sondern es gilt nur, den Weg
dahin so schnell wie möglich zu finden.
Diese Frage meint Schelling mittels einer Begriffsanalyse lösen zu
können. Dabei leitet ihn die Überzeugung, dass es genügt, eine Frage
nur ausreichend klar zu formulieren, um auch die Antwort zu ent-
decken, oder dass die Frage in sich bereits die Elemente ihrer Lösung
enthält. Wenn es zutrifft, dass die Metaphysik eine Naturanlage ist,
dann muss jeder wenigstens eine vage, noch unentwickelte Idee des
Absoluten haben. Eine solche vage Idee des Absoluten kann auch der
Skeptiker zugeben, solange er allein die Lösbarkeit der metaphysi-
schen Fragen bestreitet. Von dieser vagen Idee ausgehend, untersucht
Schelling, welche formalen Merkmale sich aus derselben gewinnen
lassen. Diese Begriffsanalyse zielt somit zunächst lediglich darauf
ab, solche formalen Merkmale herauszuarbeiten. Diese Merkmale er-
lauben es, uns darüber zu vergewissern, dass das von uns angesetzte
Absolute auch ›wirklich‹ das Absolute ist, und falsche Prätendenten
auf diesen Titel auszuscheiden. 83 An diesem Punkt könnte die Skepsis
107
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
ansetzen. Aus der vagen Idee können wir folgende Kriterien gewin-
nen: Erstens muss aus der (entwickelten) Idee selbst einsehbar sein,
dass sie eine adäquate Idee des Absoluten ist. Dadurch gibt sie uns,
zweitens, auch ein Kriterium an die Hand, zwischen solchen, die sie
wirklich haben, und falschen Prätendenten, »welche sich rühmen, sie
zu besitzen, ohne gleichwohl die Idee von ihr zu haben« zu unter-
scheiden. 84 Schließlich muss sich aus der adäquaten Idee selbst er-
geben, dass von ihr auszugehen sei und dass das Absolute nicht als
Resultat, als Noumenon oder als bloßes Gedankending gedacht wer-
den kann.
Zunächst ist zu bemerken, dass Schelling nicht nur eine Reihe von
Behauptungen über die Idee des Absoluten aufstellt, sondern dass er
diese durchgängig mit Anweisungen darüber verknüpft, wie man zu
derselben gelange und wie man mit ihr umzugehen habe. 85 Wenn
Eschenmayer somit das Absolute von Gott unterscheiden zu müssen
glaubt, dann ist dies in erster Linie auf einen Mangel an Aufmerk-
samkeit und Vorsicht zurückzuführen. 86 Schelling stellt denn auch
nicht Eschenmayers Auffassung vom Absoluten schlechthin die eige-
ne entgegen, sondern er versucht ihn vielmehr darauf aufmerksam zu
machen, wie er dazu gekommen ist, das Absolute so zu denken, dass
er es als von Gott verschieden ansehen zu müssen meint. Die zur
Konstruktion der Idee des Absoluten zu durchlaufenden Schritte sind
deshalb mit einer Reflexion über das, was man dabei tut, verwoben.
Damit hat Schelling dem Leser zugleich einen Fingerzeig gegeben,
wie er mit dessen früheren Darstellungen umzugehen habe (s. u.).
Obwohl der widersprüchliche Charakter von Eschenmayers Behaup-
tungen offensichtlich ist, so dürften sie so lange plausibel scheinen,
und dem Verdacht, dass Eschenmayer unter dem Begriff des Absoluten etwas ganz
anderes denkt, als Schelling darunter verstanden haben will, in welchem Fall es sich in
der Debatte um eine sachliche Differenz handelt.
84 Schelling 1802b, 1 / SW IV, 339.
85
»Diejenigen, welche zu der Idee des Absoluten durch die Beschreibung, welche der
Philosoph davon giebt, gelangen wollen, fallen fast nothwendig in diesen Irrthum«
(Schelling 1804, 9 / SW VI, 21). Und: »weil man […] durch Vermittlung seiner [sc.
Spinozas, R. S.] – Definitionen und Beschreibungen, zur Erkenntniss dessen gelangen
wollte, was von allen Gegenständen allein nur unmittelbar erkannt werden kann«
(Schelling 1804, 13 / SW VI, 24).
86 Vgl. Schelling 1804, 10 f. / SW VI, 23: »So wenig sie bemerken«, »so wenig fällt es
ihnen auf«, »Es entgeht ihnen nicht minder«: Dieser dreifachen Unachtsamkeit ent-
sprechen drei Überlegungen, die bei der Suche nach einer adäquaten Idee des Absolu-
ten anzustellen sind (s. u.).
108
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
90 So auch Fischbach, 2000, 146, 151: »Ce sur quoi Schelling insiste cependant par-
ticulièrement, c’est sur l’idée que ce procédé de division est en même temps un pro-
cédé d’élimination«; »la dialectique progresse en supprimant les hypothèses« (Herv. v.
Verf.).
109
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
91 In der Erstausgabe werden die erste und zweite Überlegung in einem einzigen
langen Absatz behandelt (der dritte Absatz des ersten Abschnitts). In den Sämmt-
lichen Werken ist der Abschnitt anders gegliedert. Hier findet sich die erste Über-
legung im dritten bis fünften Absatz, während der Übergang zur zweiten Überlegung
und diese selbst sich im sechsten Absatz finden. Die dritte Überlegung findet sich in
der Erstausgabe in den Absätzen 4 bis 9, in den Sämmtlichen Werken in den Absätzen
7 bis 12 (hier stimmt die Gliederung der beiden Ausgaben wieder überein).
92
Schelling 1804, 9 / SW VI, 22.
110
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
93 Das negative Verfahren scheint demnach dem »Scheitern der Kategorien« zu ent-
sprechen; daraus lässt sich aber noch nicht schließen, dass sich »im Scheitern des
Denkens durch Denken« dasjenige zeigt, »was nicht gedacht werden kann«, es sei
denn, man nimmt die Subjekt-Objekt-Spaltung als »Grundtatbestand unseres Den-
kens« an (Jaspers 1955, 145, 195; vgl. Jaspers 1955, 191, 205).
111
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
94 Schelling 1804, 11 / SW VI, 23. Hiermit greift Schelling ein Ergebnis der kanti-
schen transzendentalen Dialektik auf. Dort wurden die Schlussarten als Leitfaden zur
Auffindung der Ideen genommen, in Analogie zur transzendentalen Analytik, wo die
Urteile als Leitfaden zur Auffindung der Kategorien dienten. Dadurch finden wir nur
die Ausdrucksformen des Absoluten, nicht das Absolute selbst. – Dies geht auch her-
vor aus der Behandlung der Lehre von den Schlussformen in den Würzburger Vor-
lesungen, wo es von Kants Lehre der Antinomien heißt, diese ist »ohne allen Zweifel
der speculativste Theil seiner Kritik« (SW VI, 527). – Schelling verweist in einer Fuß-
note (vgl. Schelling 1804, 11 / SW VI, 23) selbst auf eine Stelle im Bruno, wo er den
»unseligste[n] Misgriff« darin sieht, »diese dem Verstand untergeordnete Vernunft«
(in den Schlussformen) »für die Vernunft selbst zu halten«, d. h. zu meinen, dass die
Ausdrucksformen des Absoluten im Verstand bzw. der Reflexion uns eine Erkenntnis
des Wesens des Absoluten selbst geben könnten (Schelling 1802a, 165 / SW IV, 300).
Es ist dies der erste Hinweis auf eine präzise Bruno-Stelle in Philosophie und Religion.
95 Schelling 1804, 11 / SW VI, 23.
96
Schelling 1804, 10 / SW VI, 22.
112
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
97 In der Darstellung schließt Schelling daraus, dass die absolute Vernunft sich zu
ihrem Gegenstand nicht als ein Subjektives zu einem Objektiven verhält, dass dieser
Gegenstand unter dem formellen Gesetz A = A steht (vgl. AA I,10, 116 (§ 1), 118
(§ 4)).
98 Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 24.
99 So auch Tilliette 1992, 485: »L’identité prédiquée de l’Absolu peut être déterminée
113
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
100 Schelling 1804, 12 / SW VI, 23. Wir haben hier erst eine Identität von Subjektivi-
tät und Objektivität, noch keine Identität ohne alle weitere Bestimmung (vgl. Schel-
ling 1802b, 58 / SW IV, 378; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; vgl. auch die »Recapitu-
lation« im Handexemplar der Ferneren Darstellungen, SW IV, 391).
101
Schelling 1804, 12 / SW VI, 24.
114
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
115
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
Wesen sein kann, das sich einmal als Subjekt, das andere Mal als
Objekt zeigt. In der dritten Form werden beide ersten Formen zusam-
mengeführt, woraus sich eine Denknotwendigkeit ergibt. Etwas kann
nur auf eine solche Weise weder das eine (subjektiv) noch das andere
(objektiv) sein und dennoch das gleiche Wesen beider, dass es sich in
beiden gleicherweise ausdrückt, dass man beide als seine Attributen
versteht und dass diese beiden (subjektiv und objektiv) auch die ein-
zig möglichen sind (d. h. dass die Disjunktion erschöpfend ist). Hier-
mit haben wir eine Denknotwendigkeit gefunden und zugleich die
Natur des Absoluten, nämlich dass es dem Wesen nach eine absolute
Identität ist, die sich ausschließlich in der Form von zwei gleich abso-
luten Formen darstellen kann und muss. Subjekt und Objekt sind
völlig gleiche Ausdrucksweisen dieses Wesens: Das Absolute selbst
ist somit nur, indem es sich auch in diesen Formen ausdrückt und
darstellt. Das Absolute muss bald ganz subjektiv, bald ganz objektiv
gedacht werden. Hieran zeigt sich auch, wie die drei Ausdrucksfor-
men nicht einfach nebeneinander stehen, als drei alternative Aus-
drucksmöglichkeiten des Absoluten, sondern dass sie in eine Denk-
bewegung eingebunden sind. Die Beschreibung mittels der drei
Schlussarten zerlegt die Idee des Absoluten in Momente. Das Positive
erhält man erst dann, wenn man sieht, dass es sich in der Tat bloß um
Momente handelt, durch welche ein und dasselbe bestimmt wird. Der
unerlässliche Beitrag der intellektuellen Anschauung besteht darin,
diese Momente eben als Momente zu verstehen. Eine Undeutlichkeit
entsteht allerdings daraus, dass Schelling die Unterscheidung von ne-
gativ und positiv hier noch in einem anderen Sinn als oben angegeben
einsetzt. Zum einen wird die Beschreibung als negativ, die intellek-
tuelle Anschauung als positiv unterschieden. Das heißt: Alle drei
Schlussarten sind negativ, da sie alle nur formal sind und zudem je-
weils nur ein Moment der Idee des Absoluten enthalten. Erst auf-
grund der intellektuellen Anschauung, die diese drei Formen als Mo-
mente in der Bestimmung jener Idee zusammenbringt, erhalten sie
eine positive Bedeutung. Zum anderen wird die erste Schlussart als
negativ, die zweite als positiv unterschieden. Zu beachten ist schließ-
lich, dass entsprechend jeder Schlussart ein anderer Begriff von Iden-
tität hervortritt. Die Reflexion über die erste Schlussart ergibt eine
Identität als Negation von Gegensätzen, die zweite als das Gegenteil
eines Gegensatzes, die dritte als eine innere, unmittelbare Identität. 103
103
Vgl. Schelling 1804, 12 / SW VI, 23 f.
116
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
104Damit ist das Verfahren charakterisiert, das Schelling in den Ferneren Darstellun-
gen anwendet, vgl. Schelling 1803c, 34 f. / SW IV, 412.
117
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
118
Das negative Verfahren: Die Unterscheidung von Absolutem und Gott
Potenzen. 108 Die Vernunft hat es dabei mit lediglich virtuellen ›Ge-
genständen‹ zu tun. 109 Diese Virtualisierung geht nicht mit einem
Verlust der Realität des Denkens einher, sondern eröffnet erst den
Bereich einer in diesem präzisen Sinn absoluten Realität, d. h. einer
Realität des Gedachten, die durch das Denken desselben unmittelbar
gewährleistet wird. Hiergegen, so Schelling, könnte nur der oben re-
ferierte fichtesche Einwand geltend gemacht werden. 110
108 Deshalb ermöglicht die Einsicht in die Struktur der Idee des Absoluten auch eine
Wissenschaft, vgl. Schelling 1803, 3–33 / SW IV, 391–411.
109 Darauf hat besonders Thomas Buchheim insistiert: »Die Nichtunterscheidung von
virtuellen und wirklichen Gegenständen des Denkens bei Schelling führt zu gravie-
renden Mißverständnissen seiner Philosophie« (Buchheim 1992, 68 f.). Vgl. damit
eine Stelle wie: »Wesentlich zur Erkenntniss der wahren Philosophie ist dieses abso-
lute Getrennthalten der erscheinenden Welt [worin wir es ausschließlich mit wirk-
lichen Gegenständen zu tun haben, R. S.] von der schlechthin realen [d. h. die Welt der
Ideen oder der virtuellen Gegenstände, R. S.]« (Schelling 1802b, 73 / SW IV, 388; von
Schelling 1804, 52 / SW VI, 49 f. zitiert). Nach Louis van Bladel kann man Schelling
nur dann eine schöpfungstheologische Intention unterschieben, wenn man »immer-
während den […] Unterschied zwischen der ewig-realen und der raum-zeitlichen,
wirklichen Welt [vernachlässigt]« (van Bladel 1965, 53). Diese Konfusion von wirk-
lichen und virtuellen Gegenständen schreibt Schelling Reinhold zu: Sie zeigt sich ins-
besondere an dessen Gleichsetzung von ›Konstruktion‹ und ›Ableitung‹ (vgl. Schel-
ling 1802b, 3 f. / SW IV, 340 f.; Schelling 1803c, 4 f., 10 f. / SW IV, 392 f., 396 f.).
Reinhold sucht ein Prinzip, aus welchem sich die wirkliche Welt ableiten ließe; diese
ist aber gar nicht Gegenstand oder Ziel der Konstruktion. Ihren Grund hat diese Ver-
wechslung in der Verwechslung einer absoluten oder Vernunftidentität mit einer bloß
logischen oder Verstandesidentität (vgl. Schelling 1802b, 10 / SW IV, 345). Vgl auch
die Hauptthese von Pierre Lévy: »le virtuel ne s’oppose pas au réel mais à l’actuel [das
wirklich Existierende, R. S.]« (Lévy 1995, 13). Gerade die Mathematik dient Schelling
als Beispiel eines Denkens, das es lediglich mit solchen virtuellen Gegenständen zu
tun hat. So bemerkt Karl Jaspers zu Recht, dass die intellektuelle Anschauung als das
»Konstruktionsfeld« zu denken ist, »in dem die metaphysischen Denkfiguren wie die
geometrischen im Raum entwickelt werden« (Jaspers 1955, 78).
110
Vgl. Schelling 1802b, 44, 55 f. / SW IV, 368, 376. Auch das Argument, das Karl
Jaspers wiederholt gegen Schelling vorbringt, ist im Grunde kantisch-fichtescher Pro-
venienz. So z. B.: »Wie auch immer ich die Transzendenz denke oder vorstelle, ich
ziehe sie durch Denkbarmachen und Bildwerden in diese Welt der gegenständlichen
Dinge«. Und: »[D]ieses, eine Sache als sie selbst ergreifende Denken kann das Sach-
werden dessen, was keine Sache ist, nicht ohne Täuschung erzwingen. Es kann in
Kategorien nicht einfangen, was über alle Kategorien hinaus liegt« (Jaspers 1955,
176). Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, dass das Denken unvermeidbar
vergegenständlichend oder objektivierend ist. Es müsste somit gezeigt werden, dass es
die von Schelling behauptete ›andere Erkenntnisart‹ nicht gibt, was Jaspers jedenfalls
bloß behauptet, nicht begründet. Insbesondere hätte er zu zeigen gehabt, dass Schel-
ling in der Tat Reflexionsbegriffe auf das Absolute anwendet und damit dem trans-
119
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
113 Die Würzburger Vorlesungen wie auch die Vorlesungen zur Philosophie der Kunst
scheinen eine Mischform zu sein: Der Anlage nach wird auch hier das System seiner
immanenten Logik nach entfaltet, begleitet aber von ständigen kritischen Beziehun-
gen, die in Anmerkungen und Erläuterungen ausgelagert werden. Die Vorlesungsform
nötigt zwangsläufig dazu, auf die Vormeinungen der Zuhörer Rücksicht zu nehmen.
114 Vgl. Schelling 1812, 6 / SW VIII, 25. Alle späteren Hinweise auf die Darstellung
120
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
liche Charakter derselben liegt in erster Linie darin, dass hier die ein-
zelnen Schritte, die man bei der Darstellung dieses Systems zu durch-
laufen habe, ihrem inneren Zusammenhang nach präsentiert werden.
Er ist somit nicht so sehr in der Nachahmung der von Spinoza ge-
borgten Darstellungsform zu suchen, der doch als Muster nur für
die »Weise der Darstellung« des Systems dient (AA I,10, 115; Herv.
v. Verf.). Wenigstens war Schelling der Meinung, dass diese Darstel-
lungsweise am meisten dazu geeignet war, eine wissenschaftliche
Darstellung seines Systems zu bieten, weil sie »die größte Kürze der
Darstellung verstattet« und dadurch »die Evidenz der Beweise am
bestimmtesten beurtheilen läßt« (AA I,10, 115). 115 In einer späten
Erklärung erkennt Schelling der Darstellung meines Systems zudem
deshalb als der einzig »streng wissenschaftliche[n]« Darstellung eine
Sonderstellung zu, weil in ihr »das Wort intellektuelle Anschauung
gar nicht vorkommt« (SW X, 147; erste Herv. v. Verf.). In der Tat
muss auffallen, wie in allen Darstellungen aus dieser Zeit mehr oder
weniger ausführlich die intellektuelle Anschauung erörtert wird,
außer in der genannten wissenschaftlichen Darstellung. Man könnte
deshalb leicht geneigt sein, in jener späten Erklärung einen Widerruf
jener anderen, sich auf eine intellektuelle Anschauung angeblich be-
rufenden Darstellungen zu sehen, zu Gunsten eines Verfahren, das
angeblich ohne dieselbe auskommt. 116 Allerdings hat Schelling bereits
in den Ferneren Darstellungen die Darstellung von 1801 als die
»strengwissenschaftliche« bezeichnet, und zwar weil in ihr, wie in
jeder streng wissenschaftlichen Konstruktion (wofür ihm an dieser
Stelle besonders die Geometrie als Modell dient), »die intellectuelle
oder Vernunftanschauung etwas Entschiednes« ist, »worüber kein
Zweifel statuirt oder Erklärung nöthig gefunden wird«. 117 In einer
streng wissenschaftlichen Darstellung wird an der intellektuellen An-
schauung, als der Voraussetzung, auf welcher sie beruht und ohne
welche sie gar nicht erst durchführbar ist, kein Zweifel geäußert. Es
wird nicht für nötig erachtet, diese Voraussetzung in derselben zu
115 Die brevitas hatte auch Spinoza mehrmals als Vorzug des mos geometricus her-
vorgehoben. Vgl. dazu Audié 2007, 13–19.
116 So z. B. Marquet 1979, 435.
117 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361. Vgl. die entsprechende Stelle in der Darstellung:
»Es giebt keine Philosophie, als vom Standpunct des Absoluten, darüber wird bey
dieser ganzen Darstellung gar kein Zweifel statuirt […]. [D]er gegenwärtige Satz gilt
mithin bloß unter dieser Voraussetzung« (AA I,10, 117 (§ 2 Anm.)). Im Beweis des § 2
wird die im § 1 aufgestellte Erklärung als eine ›Voraussetzung‹ bezeichnet.
121
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
120 So heißt es z. B. lakonisch: »Wir bitten den Leser uns in diesen Demonstrationen
indessen wenigstens mit dem Zutrauen zu folgen, daß sie vollkommen verständlich
seyn werden, sobald man die bisher besonders über die gangbaren Begriffe subjectiv
und objectiv gefaßten Begriffe ganz vergißt, und bey jedem Satz genau eben das
denkt, was wir gedacht wissen wollen, eine Erinnerung, die wir hiemit ein für allemal
machen« (AA I,10, 125 (§ 23 Erl.)), oder: »Es ist kaum zu zweifeln, daß nicht diese
122
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
reits bei der Verfassung der Darstellung meines Systems war Schel-
ling sich somit durchaus darüber im Klaren, dass sie für die meisten
Leser – wegen ihrer »bisher […] gefaßten Begriffe« (AA I,10, 125
(§ 23 Erl.)) – unverständlich bleiben musste. Bestimmter formuliert:
Die Darstellung muss für die meisten Leser deshalb unverständlich
bleiben, weil sie die Annahmen, mit welchen diese an sie herantreten,
nicht mitmacht und stattdessen auf eine Voraussetzung aufbaut, von
welcher Schelling annehmen konnte, dass sie nicht derart selbstver-
ständlich ist, dass sie nicht für die meisten umständliche Erklärungen
erfordert. Gerade über diese Voraussetzung wurde in der Darstellung
weder ein »Zweifel statuirt« noch auch nur eine »Erklärung« für
»nöthig gefunden«, obwohl Schelling annehmen konnte, dass man
gerade hier Zweifel anmelden und Erklärungen verlangen würde. 121
Die Wissenschaftlichkeit der streng wissenschaftlichen Darstel-
lung besteht demnach darin, dass sie so schnell wie möglich zum
Prinzip der Philosophie führt, um dann die immanente Logik dieses
Prinzips weiter zu verfolgen, ohne sich um mögliche Bedenken oder
Einwände zu kümmern. Um zu diesem Prinzip hinzuführen, benötigt
Schelling aufgrund der in der »Erklärung« vorausgesetzten intellek-
tuellen Anschauung lediglich sechs Paragraphen (AA I,10, 116 (§ 1)).
Es gehört somit gar nicht zum Aufgabenbereich einer wissenschaftli-
chen Darstellung, solchen Verständnisschwierigkeiten zu begegnen
oder zu zeigen, wie sie zu beheben sind. Stattdessen setzt sie von
Anfang an voraus, dass der Leser über all diejenigen Kompetenzen
und Mittel verfügt, die für ein Verständnis derselben erforderlich
sind. 122 Auf solche unangemessen zugerüsteten Leser kann die wis-
senschaftliche Darstellung keine Rücksicht nehmen. Dies heißt aller-
dings nicht, dass der Philosoph überhaupt keine Rücksicht auf solche
Beweise für manche Leser einige Dunkelheiten zurückließen« (AA I,10, 147 (§ 54
Anm.)). Vgl. auch AA I,10, 130 f. (§ 32 Anm.).
121 Schelling 1802b, 33 / SW IV, 361.
122
Dies macht Schelling in den Ferneren Darstellungen unmissverständlich klar: »Zu
begreifen ist auch nicht, warum die Philosophie eben zu besonderer Rücksicht auf das
Unvermögen verpflichtet sey, es ziemt sich vielmehr, den Zugang zu ihr scharf ab-
zuschneiden, und nach allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu isoliren, dass
kein Weg oder Fusssteig von ihm aus zu ihr führen könne. Hier fängt die Philosophie
an, und wer nicht schon da ist, oder vor diesem Punct sich scheut, der bleibe auch
entfernt oder fliehe zurück«. Dies gilt nicht nur für die Philosophie, sondern für alle
Wissenschaften, insofern die intellektuelle Anschauung »die Bedingung des wissen-
schaftlichen Geistes überhaupt und in allen Theilen des Wissens« ist (Schelling
1802b, 34 / SW IV, 362; Herv. v. Verf.).
123
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
124
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
125 Zu diesem Ergebnis kommt auch Dietrich Korsch: »Ernötigt wird dieser Begriff
[sc. der intellektuellen Anschauung, R. S.] aber erst dann, wenn die Frage nach jener
Einheit [von Wesen und Form, R. S.] gestellt wird, wenn also über den Indifferenz-
punkt reflektiert wird: daher ist es nicht verwunderlich, daß der Begriff in der ›Dar-
stellung‹ von 1801 nicht auftaucht, obwohl die Sache immer präsent ist. – Hier ist also
dasselbe Phänomen zu beobachten wie bei Fichte im Verhältnis der WL 94 zu den
›Einleitungen‹ von 1797« (Korsch 1980, 112).
126 Schelling 1802b, 33 f. / SW IV, 361; Herv. v. Verf.
127
Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362.
125
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
reits de facto »vom Denkenden abstrahirt« (AA I,10, 116 (§ 1)). 128
Daran knüpft Schelling folgende Überlegung an: Subjektives und Ob-
jektives sind Wechselbegriffe. Das eine kann nicht ohne das andere
vorkommen, ist also stets im anderen impliziert. Wenn in der intel-
lektuellen Anschauung vom Denkenden oder Subjektivem abstra-
hiert wird, dann kann auch dasjenige, worauf das Denken sich dabei
richtet oder womit es dabei zu tun hat, nicht von der Art eines Ob-
jekts sein. Die ganze Darstellung richtet sich nun auf dieses Gedachte,
auf diesen dem Denken immanenten ›Gegenstand‹ oder diesen im
Denken enthaltene ›Stoff‹ und versucht, diesen ›Stoff‹ seiner inneren
Verfassung nach zu entwickeln (vgl. AA I, 10, 117 (§ 2)).
In den Ferneren Darstellungen hingegen wird die intellektuelle
Anschauung ausführlich thematisiert. Damit ist auch gesagt, dass sie
in denselben nicht vorausgesetzt wird. Beide Darstellungen richten
sich, wie aus dieser Erklärung hervorgeht, an unterschiedliche Typen
von Adressaten, die sich gerade durch ihre Verstehenskompetenzen
voneinander unterscheiden. Während die Darstellung nur für solche
Leser verständlich ist und sein will, die jener Anschauung bereits
fähig sind, versuchen die Ferneren Darstellungen erst zu einem sol-
chen Verständnis hinzuleiten. Indem diese die intellektuelle An-
schauung eigens thematisieren, können sie nur insofern hoffen, ver-
ständlich zu sein, als sie sich für die Evidenz ihrer Darlegungen nicht
auf diese zu stützen brauchen. Sie bewegen sich denn auch durchgän-
gig im Bereich einer ›nicht-absoluten‹ Erkenntnisart (der Reflexion),
gerade dann, wenn sie versuchen deren Grenzen sichtbar zu machen.
Damit ist allerdings auch gesagt, dass die Lektüre der Ferneren Dar-
stellungen die Lektüre der Darstellung nicht ersetzen kann, da sie nur
dazu dienen sollen, auf diese vorzubereiten.
Dieses Problem der initia philosophiae, d. h. sowohl des Anfangs
der Philosophie als auch des Findens des eigentlichen Zugangs zu ihr,
hat Schelling auch weiterhin beschäftigt. Es ist dies zum einen die
Frage nach dem, womit die Philosophie anzufangen habe, d. h. nach
dem, was als Prinzip derselben fungieren kann, zum anderen aber
auch die Frage danach, wie wir, die wir ein solches Prinzip suchen, es
auch finden können bzw. uns dessen vergewissern können, dass das-
128 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass diese Abstraktion vom Denkenden oder
Subjektiven dem Philosophen nicht eigentümlich ist, sondern dass auch der Geometer
oder jeder, der im eigentlichen Sinn wissenschaftlich tätig ist, eine solche Abstraktion
bei sich feststellen würde, wenn er über das, was er tut, reflektiert.
126
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
jenige, was wir als Prinzip ansetzen, auch wirklich sich dazu eignet,
als Prinzip zu dienen. Das Besondere an Schellings Vorgehen liegt
somit nicht so sehr in seiner Behauptung, dass vom Unbedingten aus-
gegangen werden oder dass die Idee des Absoluten Prinzip der Phi-
losophie sein muss, sondern vielmehr in der Frage, wie wir dieses
Unbedingte finden können bzw. wie wir dessen gewiss sein können,
dass wir eine angemessene Deutung der Idee des Absoluten zum
Prinzip machen. Das Finden des Anfangs erfordert eine Umwandlung
der gewohnten Einstellung. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass
der Erkennende das Erkannte zum Gegenstand macht und damit in
eins sich selbst in die Stellung eines Subjekts versetzt. Diese natür-
liche Einstellung wird dadurch noch nicht geändert, dass der Erken-
nende nicht nur die ihm in der Erfahrung erschlossenen Dinge, son-
dern nun auch sich selbst zum Gegenstand macht. In der Reflexion
ändert sich zwar der Gegenstand des Denkens, das nun nicht länger
ein bloßes Objekt, sondern ein Subjekt-Objekt ist, aber nicht die
Grundhaltung des Erkennenden, der sich diesem Subjekt-Objekt ge-
genüber weiterhin als Subjekt verhält. So unterscheidet dasjenige,
was Eschenmayer als intellektuelle Anschauung bezeichnet, sich nur
durch seinen Gegenstand (das Ich selbst), nicht aber durch die
zugrundeliegende Einstellung von sonstigen Erkenntnisweisen. Das-
jenige, was Schelling als intellektuelle Anschauung bezeichnet, impli-
ziert hingegen eine solche Aufgabe oder Umwandlung jener Grund-
haltung, die er als eine ›Abstraktion vom Subjektiven‹ charakterisiert.
In der Darstellung wird demnach schlechthin vorausgesetzt, dass der
Leser bereits dazu fähig ist, eine solche Abstraktion zu vollziehen. 129
Die nicht-wissenschaftlichen Darstellungen hingegen verfolgen eine
durchaus propädeutische oder pädagogische Absicht, insofern als sie
einen Beitrag dazu leisten sollen, den Leser zu jenem Punkt hin-
zuführen, wo die wissenschaftliche Darstellung anfängt. Daraus, dass
in der wissenschaftlichen Darstellung das Wort ›intellektuelle An-
129 Vgl. dazu Buchheim 1990, 334–336; Jähnig 1975, 58 f. – Die Umwandlung der
natürlichen Einstellung, die unabdingbar ist, um den Zugang zum System zu finden,
nötigt somit auch zu ganz besonderen darstellerischen Veranstaltungen. Diese haben
durchgängig auf die natürliche Einstellung Rücksicht zu nehmen, wenn auch in der
Absicht, sie zu erschüttern. Aus diesem Grund müssen sie auch der natürlichen Ein-
stellung Widerstand leisten. Erst das Scheitern der natürlichen Einstellung eröffnet
die Chance einer Umwandlung. Es geht dabei darum, das in jener Einstellung be-
anspruchte Wissen als ein Nicht-Wissen oder eine Unwissenheit erfahrbar zu machen
(vgl. Schelling 1802b, 6 f., 14 f. / SW IV, 342 f., 349).
127
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
130
Vgl. Schelling 1802b, 34 / SW IV, 362.
128
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
erkenntnis derselben ist. Erst daraus folgert Schelling, dass die Form
der Subjekt-Objektivierung wesentlich zur absoluten Identität ge-
hört.
Die Argumentation lässt sich in folgende Schritte zerlegen:
(1.) Wir, die wir uns, mittels der Abstraktion vom Denkenden, in die
als ›absolute Vernunft‹ bezeichnete Lage des Denkens versetzt haben,
haben darin die Erkenntnis einer absoluten Identität überhaupt (vgl.
AA I,10, 119 (§ 7)). Der Genitiv ist hier als genitivus obiectivus zu
verstehen: Insofern wir uns in die genannte Lage des Denkens ver-
setzen, entdecken wir die absolute Identität als eigentlichen Gegen-
stand oder Gehalt dieses Denkens, das, weil es darin einen Gegen-
stand hat, kein bloßes Denken, sondern Erkenntnis genannt werden
kann. An dieser Stelle ist es allerdings noch durchaus denkbar, dass
dieser Gegenstand von einer Instanz außer ihr erkannt wird und aus
dritter Warte heraus als das, was sie ist, zu erkennen wäre. Darauf
verweist Schelling in der ersten Hälfte des Beweises (vgl. AA I,10,
123 (§ 17)). (2.) Diese Erkenntnis kann aber nicht bloß unsere Er-
kenntnis sein, in dem Sinne, dass wir die absolute Identität hier als
bloßes Objekt unseres Erkennens oder als ein rein Erkanntes hätten.
Der Genitiv kann demnach kein bloß objektiver sein. Der ›Gegen-
stand‹ muss selbst das Prinzip seines Erkennens enthalten. Die abso-
lute Identität ist demnach sowohl Inhalt als Prinzip dieser Erkenntnis.
Erst hier wird also gezeigt, dass eine solche Erkenntnis nur sozusagen
von innen heraus möglich ist. Der Gegenstand dieser Erkenntnis hat
die Eigentümlichkeit, dass er gar nicht aus dritter Warte, sondern nur
von innen heraus erkennbar ist. Dies formuliert Schelling gelegent-
lich auch so, dass im Denken der absoluten Vernunft nicht ich es bin,
der erkennt, sondern es nur die absolute Identität selbst ist, die sich
selbst erkennt: »Nicht ich weiß, sondern nur das All weiß in mir,
wenn das Wissen, das ich das meinige nenne, ein wirkliches, ein wah-
res Wissen ist« (SW VI, 140 (§ 1)). Diese ein wenig sonderlich an-
mutende Formulierung will auf einen Sachverhalt hinweisen, der
uns nicht unvertraut sein dürfte. Schelling will damit nämlich nicht
leugnen, dass alles Wissen für seine Erarbeitung auf eine subjektive
Instanz angewiesen ist. Diese Abhängigkeit von einer subjektiven In-
stanz betrifft indessen nur die Art der Erarbeitung des Wissens. Das
Eigentümliche der wissenschaftlichen Praxis besteht jedoch darin,
dass sie in einem Wissen resultiert, das als solches gar nicht mehr
auf jene subjektive Instanz angewiesen ist. Die gewonnenen Inhalte
lassen sich auch rein als solche erwägen, ohne Berücksichtigung der
129
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
131 Wolfgang Wieland sieht darin das Wesensmerkmal der theoretischen Wissen-
schaften, das sie von den praktischen Wissenschaften trennt. Der Unterschied theo-
retisch/praktisch ist die Trennlinie der Wissenschaften, die alle anderen vorgenom-
menen Unterschiede (Theorie/Empirie, Natur- und Geisteswissenschaften)
durchkreuzt (Wieland 1986, 33 f.). Auch Schelling sieht in der Operation der Abs-
traktion vom Subjektivem die Grundoperation einer rein theoretischen Wissenschaft
(vgl. AA I,10, 89). In der Wissenschaftslehre wären theoretische und praktische Wis-
senschaft demnach auf eine eigentümliche Weise vermischt.
130
Wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Darstellungen
Selbsterkenntnis Form der absoluten Identität ist. Das heißt, dass eine
absolute Identität ohne diese Form der Selbsterkenntnis gar keine
absolute Identität mehr wäre.
Dadurch soll zum einen der Fall ausgeschlossen werden, dass die
absolute Identität von außen erkennbar wäre. Für eine solche Außen-
position wäre eine absolute Identität kein möglicher Gegenstand des
Erkennens. Eine absolute Identität ist nur für solches erkennbar, das
selbst eine Instanz von ihr ist, so wie auch der Raum nur durch sol-
ches erkannt werden kann, das selbst ein Räumliches und im Raum
ist. Dies formuliert Schelling auch so, dass die Erkenntnis einer abso-
luten Identität sich bei näherer Überlegung nur als eine Selbst-
erkenntnis derselben enthüllen kann (vgl. AA I,10, 119 (§ 7), 123 f.
(§§ 19 f.)). Zum anderen wird dadurch ebenso der Fall ausgeschlossen,
dass eine absolute Identität sein könnte, auch wenn sie nicht als sol-
che von sich selbst erkannt würde. Dies wäre der Fall, wenn die abso-
lute Identität einfach ist, ohne sich auch als das, was sie ist, zu er-
kennen.
Der Beweis, dass das Selbsterkennen die notwendige Form des Ab-
soluten ist, stützt sich demnach auf eine Erkenntnis, die wir haben,
nämlich auf die intellektuelle Anschauung. Dass Schelling, auch
wenn er den Ausdruck hier nicht verwendet, dennoch auf die intel-
lektuelle Anschauung anspielt und sie für den Beweis in Anspruch
nimmt, geht zudem noch mit aller nur wünschenswerten Deutlich-
keit aus einer Parallelstelle in den Würzburger Vorlesungen hervor.
Nachdem er dort für den Satz »Es ist eine unmittelbare Erkenntniß
Gottes oder des Absoluten« (SW VI, 150 (§ 8)) einen Beweis geführt
hat, der völlig dem in der Darstellung gegebenen parallel verläuft,
schiebt Schelling einige Überlegungen zur intellektuellen Anschau-
ung ein (vgl. SW VI, 153–155 (§ 8)). Auch hier wird sie dazu bemüht,
die Behauptung zu untermauern, dass Wesen und Form zwar unter-
schiedliche Momente sind, jenes Wesen aber nicht ohne diese (abso-
lute) Form vorkommt. Dadurch soll die Bezeichnung der Form als
eines Selbsterkennens des Absoluten gerechtfertigt werden. Dazu
verweist Schelling darauf, dass wir eine Erkenntnis des Absoluten
haben oder dass es eine Erkenntnis des Absoluten gibt. Bezeichnen-
derweise hatte Schelling sich kurz zuvor abermals von Eschenmayers
Auffassung distanziert (vgl. SW VI, 152 (§ 8)). Die Bemerkung macht
zum einen klar, dass Schelling sich über die Deutung der intellek-
tuellen Anschauung mit Eschenmayer nicht einig ist. Er weist die-
jenige Auffassung zurück, wonach die intellektuelle Anschauung sich
131
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
dadurch von der sinnlichen unterscheide, dass jene sich auf einen
»Gegenstand des inneren Sinns« statt wie diese auf einen »Gegen-
stand des äußeren Sinns« richtet (SW VI, 154 (§ 8)). Die intellektuelle
Anschauung ist demnach nicht mit der bloßen Selbstanschauung des
Ichs zu verwechseln, wie Schelling sie hier Fichte zuschreibt, wie aber
auch Eschenmayer sie aufgefasst hatte. 132 Nur weil Eschenmayer die-
se Verwechslung unterläuft, sieht dieser sich zum anderen dazu ge-
nötigt, auf den Glauben oder die Ahnung als Komplement zurück-
zugreifen (vgl. SW VI, 152).
132
Anschauung und Glaube
verborgen ist und sich jeder Erdenkbarkeit entzieht« (Jaspers 1955, 184).
133
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
137 Der Begriff des Symbolischen, den Eschenmayer hier verwendet, unterscheidet
sich grundlegend vom schellingschen Begriff. Vielmehr weist er Merkmale dessen
auf, was Daniel Whistler leicht missverständlich das ›romantische Symbol‹ nennt:
Dieses verweist auf etwas, das in seiner Bedeutung jeden Versuch, es auszudrücken,
übersteigt oder transzendiert; es ist deshalb bloß ›evokativ‹. Das Symbol in diesem
Sinn deutet auf etwas hin, das sich aufgrund seiner Natur unserem Verstehen wider-
setzt; es bezieht sich auf ein von sich aus Unbegreifliches. Deshalb verfährt das Sym-
bol mittels Analogien, da es nur so die Unbegreiflichkeit des Angedeuteten zu wahren
vermag (Whistler 2013, 25, 27, 28). Vgl. damit Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47): »Dies
ist die ächte Weise der Offenbarung Gottes; alle übrige ist symbolisch und vorhanden
als ein Bedürfniss, den Umgang mit Gott durch bildliche Sprache zu ersetzen«, d. h.
ein Mittel, den unbeschreiblichen »Zustand der Begeisterung« zu evozieren. Ferner
Eschenmayer 1803, 35 (§ 44): »so geht die an Ausdruck schon so arme Sprache der
Ideen jenseits des Absoluten über in Gebet, d. i. in eine Sprache, die gar keine Worte
mehr hat«; und Eschenmayer 1803, 36 (§ 46); »Da jenseits des Absoluten die Sprache
keines Ausdrucks mehr fähig ist, so tritt das Symbol an ihre Stelle, d. h. eine aus der
Sprache unserer Erkenntnisse übertragene [d. h. analogisch verfahrende, R. S.] bild-
liche Darstellung«. Dementsprechend gewährt die Idee der Dreieinigkeit keine Ein-
sicht in das Wesen Gottes, sondern ist nur ein bildlicher oder analogischer Ausdruck
(ebd.). Hierher gehört auch die Verwendung des Bilds der Asymptote (Eschenmayer
1803, 31 f. (§ 40), 52 (§ 59)). Beachte insbes. Eschenmayer 1803, 44 f. (§ 53), 59 (§ 66).
138
Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49).
139 »Jeder, auch der noch übrigens in der Endlichkeit befangne, ist von Natur getrie-
ben, ein Absolutes zu suchen« (Schelling 1804, 6 / SW VI, 19; Herv. v. Verf.).
134
Anschauung und Glaube
Idee wieder verschwindet: »Es umschwebt ihn ewig, aber es ist, wie
Fichte sehr bezeichnend sich ausdrückt, nur da, inwiefern man es
nicht hat, und indem man es hat, verschwindet es«. 140 Zum Absoluten
ist ein Verhältnis der Habe ausgeschlossen. 141 Den Nicht-Philosophen
zeichnet ein Zustand der Zerrissenheit aus, eine Unvereinbarkeit des-
sen, was er will, und der Art, wie er diesen seinen Willen zu realisie-
ren sucht. Indessen ist nicht ganz auszuschließen, dass in einem sol-
chen Zustand nicht eine plötzliche und unerwartete, weil nicht auf
überlegte Weise gesuchte Harmonie eintritt:
Nur in Augenblicken dieses Streits, wo die subjective Thätigkeit sich mit
jenem Objectiven in eine unerwartete Harmonie setzt, die ebendess-
wegen, weil sie unerwartet ist, vor der freyen, sehnsuchtslosen Erkennt-
niss der Vernunft, diess voraus hat, als Glück, als Erleuchtung oder als
Offenbarung zu erscheinen, tritt es vor die Seele. 142
Diesen Widerstreit von Subjektivem und Objektivem bezeichnet
Schelling an dieser Stelle auch als das Charakteristikum der Sehn-
sucht. 143 Das einzige, was jene Erfahrung der Harmonie vor der Ver-
nunft- oder philosophischen Erkenntnis voraushat, besteht darin,
dass sie als ein Glück empfunden wird. Die Verwendung des Aus-
drucks ›Glück‹ ist zweideutig. Zum einen kann er den Charakter der
Harmonie, der Aufhebung eines Zwiespalts hervorheben, zum ande-
ren geht daraus auch hervor, dass es sich um eine Glückssache han-
delt: Die orientierungslose Suche nach dem Absoluten, ohne genaue-
res Wissen darüber, wie es zu finden sei, und ohne Einsicht in die
Ungeeignetheit der verwendeten Mittel, trifft irgendwann unerwar-
teterweise ins Schwarze. Dieser ›Vorzug‹ ist in Wahrheit also ein
Mangel. Der Philosoph hingegen weiß, wie er das Gesuchte zu suchen
Rede.
135
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
hat, und kann sich dessen sicher sein, es zu finden. 144 Im Zustand der
Zerrissenheit wird nicht nur das Absolute verfehlt, sondern demjeni-
gen, der sich in diesem Zustand befindet, mangelt es auch an Selbst-
erkenntnis, die in jenem Glückszustand mehr geahnt als wirklich er-
langt wird. Die Erkenntnis des Absoluten, die der Philosoph besitzt,
ist hingegen zugleich Selbsterkenntnis. Deshalb sagt Schelling auch,
dass man diese Idee nicht haben kann, ohne dass zugleich »das Wesen
als das An-sich der Seele selbst ein[tritt]«, oder dass die intellektuelle
Anschauung »eine Erkenntniss ist, die das An-sich der Seele selbst
ausmacht«. 145
Nach Eschenmayers Deutung ist jene Glückserfahrung vielmehr
die Erfahrung einer Transzendenz oder eine Offenbarung Gottes.
144 Vgl. Schelling 1804, 7 / SW VI, 20. Zur Sehnsucht siehe Wieland 1956, 63: »In der
Struktur der Sehnsucht selbst liegt daher schon der Grund ihres Scheiterns«. Übri-
gens lässt sich an diesem Fall exemplarisch demonstrieren, wie sich ein Konzept bei
Schelling bildet, entwickelt und wieder verschwindet. Die allgemeine Struktur der
Sehnsucht hat Schelling spätestens 1802 aufgedeckt bzw. von Kant und Fichte über-
nommen (vgl. Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357). Hinsichtlich des Ausdrucks, der
diese Struktur bezeichnen soll, hat er sich damals noch nicht festgelegt. Wenn zwar
bereits 1802 (vgl. Schelling 1802f, 25 / SW V, 124) und 1804 (vgl. Schelling 1804, 5 f. /
SW VI, 19) von Sehnsucht die Rede ist, so scheint Schelling sich noch 1805 nicht auf
einen einzigen Ausdruck festlegen zu wollen, sondern verwendet ›Sehnsucht‹, ›An-
dacht‹, ›Gefühl‹ und ›Glaube‹ als weitgehend gleichbedeutend. Alle diese Ausdrücke
bezeichnen dieselbe Struktur der Zerrissenheit oder des Zwiespalts von Subjektivität
und Objektivität, in welcher die Identität nur im Modus ihrer Verneinung oder Ab-
wesenheit erfahren wird (vgl. Schelling 1805a, XIV / SW VII, 135 f.). In der Zeit von
1804 bis 1806 scheint Schelling ›Glaube‹ und ›Ahnung‹ zu bevorzugen (vgl. SW VI,
152, 558 f.; Schelling 1805b, 17 f. / SW VII, 150; Schelling 1807b, 287 / SW VII, 248).
Erst in der Freiheitsschrift entscheidet er sich für die ›Sehnsucht‹ (vgl. Schelling
1809a, 431–435 / SW VII, 358–362). Wenn auch dieser Ausdruck erst 1809 eine pro-
minente Rolle erhält, so verfügt Schelling doch seit längerem über den entsprechen-
den Begriff. Den Ausdruck behält er bis ungefähr 1815 bei (vgl. Schelling 1815, 11 f.,
14 f., 53–55, 57, 60–63 / SW VIII, 352, 354, 377 f., 379, 382–384; SW VIII, 200, 233,
239–241, 297); nachher kommt er nur noch sporadisch vor – was jedoch nicht bedeu-
tet, dass auch der entsprechende Begriff verschwindet. In Clara kommt der Ausdruck
übrigens nur sehr selten und kaum in einer signifikanten Verwendung vor (dies wür-
de für eine Datierung vor der Freiheitsschrift oder den Weltaltern sprechen); statt-
dessen ist prononzierter von ›Gefühl‹ die Rede. Die spätere Bevorzugung von ›Sehn-
sucht‹ wäre so zu deuten, dass diese die allgemeinste Struktur alles Gefühls deutlicher
hervorstreicht. Schließlich ist zu bemerken, dass dort, wo das Gefühl oder die Sehn-
sucht als »Mutter der Erkenntniss« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 433 / SW VII,
360), im Hintergrund die Frage nach der Bedeutung des φιλεῖν und der φιλία in der
Philosophie mitschwingt. Beachte auch GuW, TWA 2, 387, 389, 390.
145
Schelling 1804, 11, 23 / SW VI, 23, 31.
136
Anschauung und Glaube
137
2. Kapitel. Glaube und Anschauung
149 Vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49). Vgl. auch die von Schelling zitierte Äuße-
rung Rückerts: »Ich glaube an einen Gott heißt: ich thue, als wäre ein Gott«. Schelling
fügt hinzu: »– welches denn philosophisch betrachtet die allerschlechteste und nieder-
trächtigste Sorte von Atheismus ist« (Schelling 1802e, 88 / SW V, 88). Die Stelle
findet sich in: Rückert 1801, 51. Die Hervorhebung stammt von Schelling.
150
Vgl. als Ergänzung zu diesem Kapitel Scheerlinck 2016b.
138
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
139
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
140
Die Präambel
1. Die Präambel
141
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
Während Schelling die Echtheit des Timaios »wegen seiner Annäherung an moderne
Begriffe« in Zweifel zieht, knüpft er durch die Erwähnung des Ersten, Zweiten und
Dritten an genau diejenige folgenschwere Stelle des Zweiten Briefes an (vgl. Platon,
Zweiter Brief, 312d–e), die ihm in der Geschichte des Platonismus deshalb eine be-
sondere Stelle sicherte, weil man darin eine Antizipation der Idee der Dreieinigkeit
gesehen habe (vgl. Schelling 1804, 22, 32, 45, 47 / SW VI, 30, 36, 45, 46).
3 Schelling 1804, 18 / SW VI, 28.
5
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.
6 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.
7
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.
142
Die Präambel
8
Vgl. Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.; Schelling 1804, 30–33 / SW VI, 35–38.
9 Schelling 1809a, 426 f. / SW VII, 356.
10 Ähnlich erinnert er Friedrich Schlegel, der gegen Schelling eingewendet hatte, sein
System vermöge die Frage nach dem Bösen nicht zu lösen, daran, dass dieses Problem
»nicht bloss dieses oder jenes System, sondern, mehr oder weniger, alle trifft«. Des-
halb ist mit einem solchen Einwand nicht viel gewonnen, wenn man nicht »seine
eigne Ansicht vom Ursprung des Bösen und seinem Verhältniss zum Guten« mitteilt
(Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352 f.). Eschenmayer ist zugute zu halten, wenigstens
versucht zu haben, eine eigene Ansicht von der Abkunft der Endlichkeit zu ent-
wickeln.
11 Schelling 1802a, 81 / SW IV, 257; Herv. v. Verf. Die ganze Stelle wird zitiert in:
Eschenmayer 1803, 68 f. (§ 72). – Das Recht der Frage nach der Endlichkeit erkennt
Schelling auch dadurch an, dass er bemerkt, dass gerade diese Frage einen Zweifel an
der Gültigkeit des Prinzips aufkommen lässt. Dieses wird sich nur insofern bewähren,
als es gelingt, diesen Zweifel zu beheben (vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29). Damit
ist zugegeben, dass die Endlichkeit das wichtigste Argument gegen die Gültigkeit
jenes Prinzips zu sein scheint, weil es einen Zweifel an demselben entstehen lässt.
Wäre das System außerstande, diese Frage zu lösen, dann wäre das Prinzip damit
widerlegt. Damit gewinnt diese Frage für dieses System eine ganz besondere Urgenz.
143
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
144
Die Präambel
17
Vgl. Platon, Siebter Brief, 330a–b, 338d–e, 345a.
18 Damit gibt Schelling abermals zu erkennen, dass er Eschenmayer eben nicht für
»[son] lecteur [le] plus attentif« hält (Tilliette 1992, 479).
145
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
19
Dieser Gedanke, dass die Absolutheit das einzige Prädikat ist, das sich vom Abso-
luten aussagen lässt, ist eine Konstante (vgl. Schelling 1802b, 58 / SW IV, 378; SW IV,
391; Schelling 1804, 21 / SW VI, 29; SW VI, 143, 496). Es ist demnach zu unterschei-
den zwischen der absoluten Identität ohne alle weitere Bestimmung und der absolu-
ten Identität, insofern sie als Identität des Idealen und Realen, des Subjektivem und
Objektivem weiter bestimmt werden kann. Vom Wesen des Absoluten kann nur die
Identität ohne alle weitere Bestimmung ausgesagt werden. Erst in einem weiteren
Moment oder erst in ihrer Darstellung (was Schelling als das Sein oder das Reale, als
das dritte Moment der Idee des Absoluten bezeichnet) kann die Identität als eine
solche des Idealen und Realen weiter bestimmt werden.
146
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
20 Für den Unterschied zwischen einer Bestimmung des Absoluten im Vergleich mit
Anderem (im Verhältnis zum nichtabsoluten Erkennen) und einer Bestimmung des
Absoluten ›an sich selbst‹, also eine ›immanente‹ Bestimmung desselben, vgl. Holz
1970, 41 f., 43.
21 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29.
23
Ganz analog verfährt Schelling in den Ferneren Darstellungen: In § II werden die
negative Bestimmungen gewonnen, in § III soll dann die innere Artikulation dieser
Idee konstruiert werden.
147
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
24 Vgl. auch: »Wir können noch nicht sogleich zur eigentlichen Beantwortung jener
Frage gehen: noch stellen sich uns andre Zweifel in den Weg, deren Auflösung jener
vorangehen muss« (Schelling 1804, 20 / SW VI, 29; Herv. v. Verf.). Ferner der Hin-
weis auf zwei ganz verschiedene Fragen, die »nach der Möglichkeit des Selbsterken-
nens der Absolutheit« und die »nach Entstehung der wirklichen Differenzen aus ihr«,
wobei die Auflösung der ersteren derjenigen der zweiten vorangehen muss (Schelling
1804, 25 / SW VI, 32).
25 Ähnlich geht Schelling in der Freiheitsschrift vor. Auch dort wird von der Poten-
zenkonstruktion nur so viel entwickelt, als für die Lösung der zentralen Fragen jener
Schrift (das Wesen der menschlichen Freiheit, das Böse, die Persönlichkeit) unbedingt
erforderlich ist. Selbst für die Rechtfertigung der Unterscheidung, »auf welche die
gegenwärtige Untersuchung sich gründet«, begnügt Schelling sich mit einem Hin-
weis auf die Darstellung meines Systems (Schelling 1809a, 429 / SW VII, 357). Jene
grundlegende Unterscheidung wird in der Freiheitsschrift selbst also nicht begründet,
sondern bloß erläutert. Zudem wird sie auf eine solche Weise erläutert, dass fast nur
das eine Glied derselben (sc. der Grund von Existenz) erläutert wird.
26 Schelling 1804, 21 / SW VI, 29 f.; vgl. Schelling 1802b, 43 / SW IV, 367 f.
27
Schelling 1804, 9 / SW VI, 22.
148
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
ein Ding zu dem machen, was es ist, und durch welche es auch erst
sich zu erkennen gibt. Als ›Wesen‹ bezeichnet Schelling hingegen
dasjenige, wovon etwas ausgesagt wird oder dem gewisse Bestim-
mungen beigelegt werden können. Wenn das Wesen auch immer
»nur im Verein mit einer logisch komplexen Form anzutreffen« ist,
so ist es doch als ein von dieser unterschiedliches Moment zu betrach-
ten. 28 Das Wesen ist »seiner eigenen Binnenstruktur« nach zwar ein-
fach, kommt aber dennoch nicht vor ohne eine solche komplexe
Form. 29 Die Idee des Absoluten wird sich dementsprechend als eine
Mannigfaltigkeit erweisen, an welcher drei Momente unterscheidbar
sind, die alle für die Vollständigkeit der Idee erforderlich sind. Es ist
somit unzulässig, das Absolute mit einer dieser Momente gleich-
zusetzen.
Jenen Satz, wonach dem Absoluten ›kein Seyn zukommen kann,
als das durch seinen Begriff‹, verwendet Schelling nun jedoch noch
nicht sogleich, um jenes ›Seyn‹ weiter zu bestimmen, sondern zieht
aus ihm zunächst nur eine Folgerung hinsichtlich des Wesens. Aus
ihm folgt nämlich, dass das Wesen »an sich selbst nur ideal« ist. 30 Es
ist somit weder etwas Wirkliches, das unter anderem Wirklichem
auch vorkommt, noch ist es an sich real, da es dasjenige ist, wovon
alle Realität ausgesagt wird. 31 Deshalb heißt es auch, dass das Wesen
»ausser aller Form« ist oder aller Form gegenüber eine Eigenständig-
keit behauptet. 32 Auch dieser Satz wird nur ex absurdo contrario be-
wiesen: Die kontradiktorisch entgegengesetzte Behauptung, wonach
jenem Wesen noch ein anderes Sein als nur durch seinen Begriff zu-
käme, impliziert nämlich, dass es durch etwas anderes außer ihm be-
stimmt wäre, was der einzig leitenden Bestimmung der Absolutheit
geradezu widerspricht. Gerade weil diese Anforderung, die das ›Seyn‹
des Absoluten erfüllen muss, unmittelbar aus der Absolutheit des
28
Buchheim 1992, 28.
29 Ebd.
30
Schelling 1804, 21 / SW VI, 30. Nichts betont Schelling auf diesen Seiten so oft, als
dass das Wesen sich mit dem Sein nicht vermengt (vgl. Schelling 1804, 22, 24, 25, 27 /
SW VI, 30, 31, 32, 33), beide also als zwei unterschiedliche Momente der Idee des
Absoluten strengstens auseinanderzuhalten sind. Thomas Buchheim umschreibt dies
so, dass »die Identität einer Sache nicht aufgeht in den sie beschreibenden Prädikaten,
und weiter, daß sie schon feststehen muß auch ohne die in Frage kommenden und sie
tatsächlich treffenden Prädikate« (Buchheim 1992, 71).
31
Vgl. dazu die Überlegungen zur logischen Möglichkeit in Buchheim 1992, 27–31.
Ähnlich, allerdings im Zusammenhang der Weltalter, Hogrebe 1989, 49 f., 64 f.
32
Schelling 1804, 21 / SW VI, 30.
149
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
150
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
nicht aufgehoben wird. Das erste Moment (das Wesen oder das
schlechthin Ideale) lässt sich somit nicht setzen, ohne sogleich auch
das zweite (die Form) und das dritte Moment (das Reale) zu setzen,
weil sich nur so die vollständige Idee des Absoluten konstruieren
lässt, die der negativen Norm wirklich adäquat ist. Deshalb heißt es,
dass die Form und das Reale »bloße Folge« des ersten sind: Sie können
selbst nur insofern gesetzt werden, als auch das Erste gesetzt ist; und
sobald dieses gesetzt ist, müssen auch das Zweite und Dritte gesetzt
werden. 36 Bei der Konstruktion der Idee des Absoluten ist somit eine
Ordnungsfolge zu beachten, die sich aus dem negativen Beweisgang
ergibt. Hierbei zeigt sich abermals die Unerlässlichkeit desselben.
Diese Ordnungsfolge hebt Schelling auch dadurch hervor, dass er be-
tont, dass das Erste sich nicht mit dem Dritten »vermengt«. 37 Das
Dritte ist »ewig ein anderes, der ideellen Bestimmung nach« oder in
der Ordnungsfolge. 38 Damit erweist die Idee des Absoluten sich als
eine Mannigfaltigkeit. Die genetische Konstruktion der Idee genügt
erst dann der auf negativem Weg gewonnenen Norm, wenn in ihr
diese drei Momente in dieser Ordnungsfolge unterschieden werden. 39
Deshalb verbietet es sich auch, diese als Teile zu denken, aus welchen
das Absolute zusammengesetzt wäre. Nach einer solchen Auffassung
würde der Unterscheidung unterschiedlicher Momente eine Unter-
scheidung im Gegenstand selbst entsprechen oder man würde die
bloß ideelle Unterscheidung für eine reelle halten. Die Unzulässigkeit
dieser Gleichsetzung hebt Schelling noch dadurch hervor, dass er sie,
trotz der Ordnungsfolge, in welcher sie zueinander stehen, als gleich
absolut bezeichnet.
Schelling widmet zunächst dem zweiten Moment einige ausführ-
lichere Überlegungen, da auch Eschenmayers Einwände sich ins-
39
So auch Holz 1970, 43 f.: »Das Absolute ist daher in dreifacher Weise von ihm
selbst her charakterisiert, und zwar so, daß zwischen diesen drei Weisen eindeutige,
nicht umkehrbare Bezüge herrschen« und: »Die ›ganze Wesenheit‹ des Absoluten
konstituiert sich eben in mehreren Momenten«. Auch Gert Blanchard spricht von
einer »Folge im Absoluten«, die darin besteht »a) eine Folge dreier selbständiger [also
gleich absoluter, R. S.] Glieder zu denken, die aber b) in das Eine Absolute eingebettet
ist. Die drei Glieder gehören in ihrer ›Reihenfolge‹ doch untrennbar zusammen als
verschiedene Gestalten des Absoluten, in die nicht das Absolute sich verändert, indem
es seine ›vorherige‹ Gestalt aufhebt, sondern deren Zusammenbestehen allein das
Absolute selbst ausmacht« (Blanchard 1979, 431).
151
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
43
Eschenmayer 1803, 63 (§ 71).
44 Eschenmayer 1803, 63 (§ 71).
zu Recht das Indifferenzierende als ein drittes, eigenständiges Moment vom Produkt
dieser Synthese. Diese Indifferenz setzt er aber mit der absoluten Identität gleich.
Daher Schellings Aufforderung, dass »dieser geistreiche Forscher sich selbst deutlich
machen [möge], wozu in seiner Vorstellung unser Absolutes herabgesunken ist und
wodurch« (Schelling 1804, 54 / SW VI, 51).
46 Eschenmayer 1803, 64 (§ 71).
47
Eschenmayer 1803, 69 f. (§ 73).
152
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
153
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
sich nicht auch darstellen würde. Die absolute Identität muss danach
auch zu erkennen sein, wobei dieses Erkennen doch nur ein Selbst-
erkennen sein kann, weil das Wesen sonst als ein Objekt oder Erkann-
tes für eine außer ihm befindliche Instanz gedacht würde, was mit
dessen Absolutheit in Widerspruch wäre. Deshalb legt Schelling ein
solches Gewicht auf das Selbsterkennen oder auf die Form als not-
wendiges (und zweites) Moment der Idee des Absoluten.
Eschenmayers Einwand beruht denn auch auf einer Annahme be-
züglich der Natur der Selbsterkenntnis:
Sagt man etwa, die absolute Form der Vernunft ist das Selbsterkennen,
sie kann aber nicht sich selbsterkennen, ohne aus sich herauszutreten,
und kann nicht aus sich heraustreten, ohne sich zu theilen, so ist dies
immer einerley, und das Problem kommt immer wieder in einer neuen
Gestalt. 50
Schellings Erwiderung richtet sich denn auch gegen die Annahme,
wonach ein Selbsterkennen ohne ein Heraustreten oder ohne eine
Differenz zwischen sich selbst als Erkennendem und als Erkanntem
nicht zu denken wäre. Der Einwurf übersieht, dass die Form als ein
konstitutives Moment zur Idee des Absoluten gehört. Die Hauptfrage
dieses Abschnitts kann somit erst dann »mit einiger Hoffnung, über
die Antwort nicht wieder missverstanden zu werden, beantwortet
werden«, wenn zunächst das Bedenken zurückgewiesen ist, dass ein
Selbsterkennen nicht anders denn als »ein Herausgehen der Absolut-
heit aus sich selbst, ein Sich-theilen derselben, ein Differenziirtwer-
den, verstanden« werden kann. 51 Es gilt somit zu zeigen, dass das
Selbsterkennen oder die Form ein notwendiges Moment der Idee des
Absoluten selbst ist. Schelling erwägt dazu ausführlichst alle mögli-
chen Annahmen, wonach das Selbsterkennen als ein Herausgehen
der Identität aus sich selbst zu denken wäre. 52
Den »Grund des Misverständnisses« sieht Schelling darin, dass
»der Begriff einer realen Folge […] auf diese Verhältnisse übergetra-
gen wird, welche ihrer Natur nach bloss die einer idealen Folge seyn
den Ferneren Darstellungen antizipiert und dort auch mittels der Behauptung der
Indifferenz von Wesen und Form im Fall des Absoluten zu erwidern gesucht (vgl.
Schelling 1802b, 44 f., 50, 60 f. / SW IV, 368, 373, 380; Schelling 1803c, 4 f. / SW IV,
392).
154
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
mals bekräftigt: »dass auch in Bezug auf die Form das schlechthin-Ideale in seiner
reinen Identität bleibt«.
56 Dies gilt auch für geometrische Konstruktionen, die ebenfalls nicht zu erklären
versuchen, »wie ein Ding tatsächlich hervorgebracht wird, sondern wie die Hervor-
bringung desselben gedacht werden kann, damit wir seine wesentliche Struktur ein-
sehen« (De Dijn 1973, 716). Hierher dürfte auch Schellings Versicherung gehören,
dass er »weiß, daß ich durchgängig nur mit meiner eignen Construction zu thun
habe« (AA I,10, 95). Dadurch soll diese keine bloß subjektive Bedeutung erhalten (als
ob diese Konstruktion im Belieben des konstruierenden Subjekts standen), sondern
Schelling will nur betonen, dass er hier kein tatsächliches Geschehen konstruiert,
sondern nur eine Struktur aufdeckt, die es erlaubt, alle Eigenschaften des Konstruier-
ten daraus abzuleiten und damit diese als notwendig dazugehörig einzusehen.
57
Schelling 1804, 28 f. / SW VI, 34 f.
155
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
Auch hier geht er zunächst wieder negativ vor, indem er mit solchen
Merkmalen des Absoluten operiert, die sich aus einem Vergleich mit
Nicht-Absolutem ergeben. Der für das endliche Vorstellen oder Er-
kennen gültige Schluss, wonach das Reale oder Erkannte vom Erken-
nen verschieden sein muss, da das Erkennen nur ideal ist, gilt in An-
sehung des absoluten Selbsterkennens nicht. Das Reale oder das
Dritte kann somit kein bloßes Objekt sein, sondern ist als Subjekt-
Objekt zu denken, so wie die Objektivierung des Wesens als ein »Hi-
neinbilden, Hineinschauen seiner selbst in das Reale«. 58 Nur als Sub-
jekt-Objekt ist das dritte Moment auch selbst absolut und selbstän-
dig, was es nach der Anforderung sein soll. Umgekehrt impliziert die
Form in diesem Fall kein Außer-sich-Sein des sich darstellenden We-
sens, da es sich in die Form einbildet und statt in einem Objekt sich in
einem Subjekt-Objekt darstellt. Auch die Selbsterkenntnis impliziert
in diesem Fall kein Aus-sich-Herausgehen, kein Sich-Teilen oder
-Differenzieren des Absoluten. Zugleich erhält das Wesen oder das
Ideale, indem es sich mittels der Form in dem Realen einbildet, selbst
dadurch eine neue Qualität, nämlich die eines Subjekts. 59 Erst mit
diesem dritten Moment ist die Idee vollständig, da diese erst hier der
auf negativem Wege gewonnenen Norm genügt. Im Gegensatz zum
Wesen ist das Dritte oder das Reale nicht einfach, sondern selbst eine
Mannigfaltigkeit: Es ist nicht ein einfach Reales, sondern »das Ideale
dargestellt im Realen«, es ist per definitionem Darstellung des Idea-
len. 60 Demnach gibt es »kein Reales an sich, sondern nur ein durch
Ideales bestimmtes Reales«. 61 In ihrer Eigenschaft als Moment der
Idee des Absoluten kommt jedem dieser Momente die Absolutheit
zu. Deshalb bestimmt Schelling das Reale auch als »ein anderes Ab-
solutes«. 62 Dies ist es insofern, als das Wesen in ihm eingebildet ist,
dieses in dieser Einbildung aber, wie gesagt, die Qualität des Subjekts
oder auch des Grundes annimmt.
Das Verhältnis des ersten, zweiten und dritten Moments in der
Idee des Absoluten wiederholt sich somit im Fall des dritten Mo-
ments, indem dieses selbst ein (anderes) Absolutes ist: Wie jenes, so
61 Schelling 1804, 22 / SW VI, 30. In der Darstellung meines Systems wird das Dritte
oder Reale auch als »absolute Totalität« bestimmt (AA I,10, 127 (§ 26)). Vgl. dazu
auch: Schelling 1803c, 4–21 / SW IV, 392–403.
62
Schelling 1804, 23, 28 / SW VI, 31, 34.
156
Die innere Artikulation der Idee des Absoluten
ist auch dieses als selbst produktiv von besonderen Formen zu den-
ken, von welchen es selbst die Totalität ist. Dadurch verhält das Dritte
sich zu seinen ›Produktionen‹ oder Darstellungen selbst wie das Erste
oder wie ein Subjekt. Es macht sich selbst zum Subjekt, insofern es
sich auch selbst objektiviert. »Dieses zweyte Produciren ist das der
Ideen« oder der Potenzen. 63 Diese Ideen verhalten sich zum Dritten,
insofern dieses sich zum Ersten oder Subjekt macht, selbst wieder als
das Dritte oder Subjekt-Objekt:
Auch die Ideen sind relativ auf ihre Ureinheit [relativ auf das Reale, das
im Verhältnis zum schlechthin-Idealen Dritte, R. S.] in sich selbst, weil
die Absolutheit der ersten in sie übergegangen ist, aber sie sind in sich
selbst, oder real, nur sofern sie zugleich in der Ureinheit, also ideal
sind […].
Auch die Ideen sind nothwendig wieder auf gleiche Weise pro-
ductiv […]. 64
Diesen Prozeß bezeichnet Schelling auch als »die wahre transcenden-
tale Theogonie«, als einen Prozeß der Zeugung oder als einen Prozeß
einer »ewigen Geburt«. 65 Diese Bezeichnung ist deshalb zutreffend,
weil »das Gezeugte von dem Zeugenden abhängig und nichts desto-
weniger selbständig ist«. 66
66
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35. In der Freiheitsschrift spricht Schelling deshalb
von einer »derivirten Absolutheit«: »Die Folge der Dinge aus Gott ist eine Selbst-
offenbarung Gottes«, da »eine Folge, die nicht Zeugung, d. h. Setzen eines Selbststän-
digen ist«, der »Idee« des »göttlichen Wesens« »völlig widersprechen« würde (Schel-
ling 1809a, 413 f. / SW VII, 346 f.). In Philosophie und Religion und früher spricht
Schelling stattdessen von einem Selbsterkennen des Absoluten (vgl. Schelling 1804,
24 / SW VI, 31; AA I,10, 124 (§ 19 Zus.; § 20)). Das Selbst der Selbstoffenbarung ist
zugleich Subjekt und Objekt des Offenbar-Werdens, indem es sich selbst als es selbst
offenbar wird oder eben: sich selbst erkennt. Schelling fährt fort: »Allein die göttliche
Imagination, welche die Ursache der Spezifikation der Weltwesen ist, ist nicht wie die
menschliche, dass sie ihren Schöpfungen bloss idealische Wirklichkeit ertheilt. Die
Repräsentationen der Gottheit können nur selbstständige Wesen seyn […]. Der Be-
griff einer derivirten Absolutheit oder Göttlichkeit ist so wenig widersprechend, dass
er vielmehr der Mittelbegriff der ganzen Philosophie ist. Eine solche Göttlichkeit
kommt der Natur zu« (Schelling 1809a, 414 f. / SW VII, 347; vgl. Schelling 1804,
28 / SW VI, 34). Wenn Schelling dazu bemerkt, dass »eine so allgemeine Deduktion«
»für den tiefer sehenden« »ungenügend« ist, dann betrifft dies nur die Frage nach
dem Wesen der menschlichen Freiheit. Die allgemeine Deduktion zeigt zwar, dass »die
Läugnung formeller Freyheit mit dem Pantheismus nicht nothwendig verbunden« ist,
157
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
sondern dass die schellingsche Version des Pantheismus mit dem Begriff formeller
Freiheit sehr wohl verträglich ist (Schelling 1809a, 415 / SW VII, 347). Damit ist aber
das Spezifische der menschlichen Freiheit (vgl. Schelling 1809a, 419 f. / SW VII,
350 f.), als »Vermögen des Guten und des Bösen« (Schelling 1809a, 422 / SW VII,
352), noch ungenügend erfasst. Jenen Zeugungsprozess wiederholt Schelling erneut
im Rahmen des eigentlichen Gedankengangs der Abhandlung (Schelling 1809a, 432–
435 / SW VII, 359–362). »Theogonie« definiert Schelling als eine Zeugung, als »die
einzige Art der Abhängigkeit, bei welcher das Abhängige gleichwohl in sich absolut
bleibt« (SW V, 405).
67
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
68 Vgl. auch die wichtige Bemerkung Schelling 1803c, 8 / SW IV, 395: »jene Schema-
tismen [der Weltanschauung; gemeint sind die Ideen oder Potenzen, R. S.] sind nur
dadurch möglich, dass sie die ungetheilte Fülle der Einheit in sich aufnehmen können,
also als besondere vernichtet werden«. Alle Potenzen sind sich demnach darin gleich,
dass sie alle die dreieinige Struktur des Absoluten aufweisen und dadurch alle als
Darstellungen desselben gelten können. Schelling fährt fort: »Denn als solche [als
Besondere, R. S.] würden sie das absolute Wesen beschränken, indem sie andere For-
men von sich ausschlössen«. Für das Verhältnis der Potenzen zum absoluten Wesen
gilt der Satz determinatio est negatio demnach nicht: Die Potenzen sind keine solche
Bestimmungen, die eine Negation implizieren. Dies zeigt sich daran, dass das Abso-
lute oder die dreieinige Struktur es von sich aus nicht ausschließt, auf unendlich viele
158
Der Abfall als formelle Anforderung
tion auch auf gar kein anderes Resultat führen als ein solches, das
selbst unendlich ist. 69 Auf diese Weise soll die Konstruktion der »ab-
solute[n] Welt, mit allen Abstufungen der Wesen« der Forderung,
dass die absolute Identität gleich der absoluten Totalität ist, Genüge
tun. 70 In diesem System der Vernunftwissenschaft wird demnach, wie
bereits 1801 bemerkt, durchgängig von der ›Absondrung‹ abstra-
hiert. 71 Die Grenze, die Schelling hier andeutet (vgl. ›bis hierher‹),
gibt zu erkennen, dass jetzt die zweite der Fragen, die Eschenmayer
vermischt hatte, behandelt werden soll. Die erste Frage, die ›bis hier-
her‹ Thema war, war die »nach der Möglichkeit des Selbsterkennens
der Absolutheit«. 72 Insofern jene Darstellungen dem Sich-Darstellen-
den völlig angemessen sind, bilden sie das geeignete Medium seiner
Selbsterkenntnis. Jetzt soll die Frage »nach Entstehung der wirklichen
Differenzen aus ihr, (welche zu begreifen etwas ganz anders erfordert
wird)« behandelt werden, und damit, so können wir schließen, die
Weisen repräsentiert zu werden. Die Potenzen werden erst dann zur Negation, wenn
sie aufeinander bezogen werden und sich dadurch gegenseitig ausschließen oder in
einem Gegensatz gesetzt werden.
69
Hier ist an die von Spinoza übernommene Unterscheidung zu erinnern zwischen
dem, was »an sich« oder »Kraft seiner Definition« unendlich ist und dem, was »nicht
unendlich ist Kraft seines Wesens, sondern Kraft seiner Ursache (vi causae suae)«
(Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Die erste Unendlichkeit kommt dem Wesen zu
und, indem dieses im Realen eingebildet wird, auch dem subjektiven oder idealen
Moment im Realen. Die zweite Form der Unendlichkeit kommt dem Realen zu, inso-
fern dieses nur als Darstellung des Wesens unendlich ist. Wird die ›Ursache‹ seiner
Unendlichkeit oder die Beziehung auf das Wesen, dem es seine Unendlichkeit ver-
dankt, weggenommen, so schließt es die Endlichkeit nicht aus. Schelling greift hier
auf Spinozas Epistola de Infinito zurück (Spinoza 1677, Bd. IV, 52–62; dazu Gueroult
1968, 500–528). Vgl. AA I,10, 120 (§ 10): »Die absolute Identität ist schlechthin un-
endlich«, schlechthin, d. h. »so gewiß als sie ist« oder aufgrund ihres Wesens. Der dort
gegebene Beweis zeigt, dass es dem Begriff einer absoluten Identität widerstreitet, als
endlich gedacht zu werden. Dem Begriff des Realen aber widerstreitet es nicht, endlich
zu sein, da es nur aufgrund seiner Ursache oder seiner Beziehung auf das Wesen
unendlich ist.
70
Schelling 1804, 22 / SW VI, 35. Vgl. AA I,10, 127 (§ 26).
71 »Wie es aber möglich sey, daß von dieser absoluten Totalität irgend etwas sich
absondere oder in Gedanken abgesondert werde, dieß ist eine Frage, welche hier noch
nicht beantwortet werden kann, da wir vielmehr beweisen, daß eine solche Absond-
rung nicht an sich möglich, und vom Standpunct der Vernunft aus falsch, ja, (wie sich
wohl einsehen läßt) die Quelle aller Irrthümer seye« (AA I,10, 130 (§ 30 Erl.)). Dass
jene Absonderung ›nicht an sich möglich‹ ist, heißt noch nicht, dass sie schlechthin
unmöglich wäre, sondern nur, dass dazu ›etwas ganz anders erfordert wird‹, als durch
das Prinzip der Potenzenkonstruktion zur Verfügung gestellt wird.
72
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.
159
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
160
Der Abfall als formelle Anforderung
77
Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1805b, 77–80 / SW VII, 191 f.
78 Das zeigt sich auch daran, dass er den Begriff, durch welchen er diesen Versuch
charakterisiert (»Entfernung«: Schelling 1804, 31 / SW VI, 35 f.), wenig später
(Schelling 1804, 35 / SW VI, 38) für seine eigene Position vindiziert. – In der Frei-
heitsschrift wird Schelling diese Kritik an der Emanationslehre wiederholen (vgl.
Schelling 1809a, 426, 505 / SW VII, 355, 411). Diese scheitert daran, die Endlichkeit
und a fortiori das Böse zu erklären, d. h. gegen diese Lehre lässt sich genau jener
Einwand vorbringen, den Eschenmayer und Friedrich Schlegel gegen Schelling vor-
gebracht hatten. Sie scheitert an dieser Erklärung aber nicht, weil sie eine Form des
Pantheismus ist, sondern weil sie den Pantheismus mit einer mit ihm nicht verträg-
lichen Voraussetzung (nämlich der Realität der Endlichkeit) verknüpft oder auch weil
sie nicht ›pantheistisch‹ genug ist.
79 Schelling 1804, 31 / SW VI, 35. »Nur der wird den Stachel jener Frage, wie Plato
sagt, aus der Seele sich reissen, der alle Stetigkeit des erscheinenden Alls mit der
göttlichen Vollkommenheit abbricht« (Schelling 1804, 31 / SW VI, 36). Schelling ruft
hier das Platon-Zitat aus der Präambel in Erinnerung (vgl. Schelling 1804, 18 f. /
SW VI, 28).
80 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.
81
Schelling 1804, 31 / SW VI, 36; vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Wenig später
ordnet Schelling den Begriff einer »Schöpfung, als ein positives Hervorgehen aus der
Absolutheit« der »Volksreligion« zu und setzt dieser die platonische Lehre eines Ab-
falls entgegen (Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 39). Da sich auf die Lehre des Abfalls
auch eine »practische Lehre« gründet, so impliziert die Kritik am Schöpfungsbegriff
auch die Zurückweisung der dazu gehörigen praktischen Lehre. Diese Folgerung wird
erst später expliziert (vgl. Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55). – Auch die folgende
Bemerkung, die erste der »Ramificationen« des »zum Princip der Welt gemachten
Nichts der Ichheit« betreffend, scheint gegen den Schöpfungsbegriff gerichtet: »Das
erscheinende Universum ist nicht dadurch abhängig, dass es einen Anfang in der Zeit
161
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
hat, es ist vielmehr der Natur oder dem Begriff nach abhängig und hat wahrhaft
weder angefangen noch auch nicht angefangen, weil es ein blosses Nichtseyn ist, das
Nicht-seyn aber eben so wenig geworden als nicht geworden seyn kann« (Schelling
1804, 43 f. / SW VI, 44; vgl. Schelling 1804, 48, 49 / SW VI, 47, 48).
82 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.
83
Vgl. Jacobs 1986, 233.
84 Vgl. Schelling 1804, 33 / SW VI, 37.
85
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf.
162
Der Abfall als formelle Anforderung
fall« gedacht werden. 86 Die Erörterung jener ›Versuche‹ führt also auf
dasselbe Resultat wie die immanente Logik des Prinzips.
Erst nach dem Referat der überlieferten Lehren kehrt Schelling
zur eigentlichen Fragestellung zurück. Er hatte behauptet, dass »bis
hierher«, also in der absoluten Welt, »nichts ist, das nicht absolut,
ideal, ganz Seele, reine natura naturans wäre«. 87 Durch das ›Eine
erste Gesetz der Form der Absolutheit‹ ist alles, was innerhalb der
absoluten Welt konstruiert werden kann, insofern es im Absoluten
ist, auch selbst absolut, d. h. »absolut in sich selbst«. 88 Dies ist eine
Folge des Obigen und nach Schelling auch mit der platonischen Lehre
in Übereinstimmung. Schelling formuliert dies nochmals so: »Das
ausschliessend Eigenthümliche der Absolutheit ist, dass sie ihrem Ge-
genbild mit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit ver-
leiht. Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität
des ersten Angeschauten ist Freyheit«. 89 Im Absoluten sind demnach
Notwendigkeit und Freiheit absolut identisch. Die Formen können
das Absolute nur insofern zum Ausdruck bringen, als sie auch selbst
absolut sind. Die Potenzen sind demnach absolute Formen. Schelling
fügt hinzu:
[V]on jener ersten Selbstständigkeit des Gegenbildes [von dieser abso-
luten Freiheit, R. S.] fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit
wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel der
in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 90
Wenn es so ist, dass das (absolute) Gegenbild frei ist, dann muss die
Freiheit auch in der Erscheinungs- oder Sinnenwelt, in der natura
naturata, ebenso auftreten. Die Freiheit muss somit selbst erscheinen
können. In einer solchen Erscheinung der Freiheit hätten wir ›die
letzte Spur‹ oder das ›Siegel‹ der absoluten Freiheit. Zweierlei gilt es
danach zu erklären: Erstens, dass die endlichen Dinge in den Ideen
ihren Ursprung haben, oder die Abkunft der endlichen Dinge aus
dem Absoluten; zweitens, wie sie aus den Ideen entspringen und da-
mit wie sie sich zum Absoluten verhalten, oder ihr Verhältnis zu ihm.
Dabei wird sich zeigen, dass den nicht-menschlichen endlichen Din-
gen nur ein mögliches Verhältnis zum Absoluten offensteht, nämlich
163
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
nur ein indirektes oder nur ein Verhältnis zu ihm als zu ihrem Grun-
de. Umgekehrt verhält sich das Absolute dadurch zu ihnen als der
Grund ihrer Existenz oder Realität. Erst den menschlichen Wesen ist
ein doppeltes Verhältnis zum Absoluten möglich.
Aus den bisherigen Betrachtungen zieht Schelling, wie gesagt, den
Schluss: »[V]om Absoluten zum Wirklichen gibt es keinen stetigen
Uebergang«. 91 Dies war bereits dem Prinzip der Potenzenkonstrukti-
on abzulesen, da nach demselben die Potenzen untereinander nur
quantitativ different sein können und sie auch im Verhältnis zum
Absoluten nicht wirklich oder qualitativ von diesem verschieden sein
können. Damit hat Schelling bloß wiederholt, dass zur Lösung dieser
Frage »nach Entstehung der wirklichen Differenzen« aus dem Abso-
luten »etwas ganz anders erfordert wird«, als für die Potenzenkon-
struktion erforderlich war. 92 Wenn es zwischen dem Absoluten bzw.
dessen Potenzen und dem Wirklichen bzw. den endlichen, einzelnen
Dingen keine Stetigkeit geben kann, dann kann man dies auch so
formulieren, dass »der Ursprung der Sinnenwelt […] nur als ein voll-
kommnes Abbrechen von der Absolutheit, durch einen Sprung,
denkbar« ist. 93 Wie gesagt geht Schelling hier ganz analog vor wie in
der Darstellung meines Systems. Dort hatte er gezeigt, wie das
Selbsterkennen wesentlich zur Idee einer absoluten Identität gehört,
jenes Selbsterkennen aber eine Differenz von Subjektivität und Ob-
jektivität erfordert, die nur quantitativer Art sein kann, weil die An-
nahme einer andersgearteten Differenz zu einem Widerspruch mit
dem Prinzip der absoluten Identität und damit einer Aufhebung der
91 Schelling 1804, 34 / SW VI, 38; Herv. v. Verf. So soll der Satz, dass »der Ursprung
keines endlichen Dings unmittelbar auf das Unendliche zurückgeführt, sondern nur
durch die Reihe der Ursachen und Wirkungen begriffen werden kann«, »dass nämlich
kein Endliches unmittelbar aus dem Absoluten entstehen und auf dieses zurück-
geführt werden kann« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41; Herv. v. Verf.), andeuten, dass
die hier durchgeführte Konstruktion der Forderung, keine Stetigkeit zwischen Abso-
lutem und Wirklichem anzunehmen, auch wirklich genügt. Dies zeigt sich daran, dass
das Absolute nur »nach dem Einen ersten Gesetz der Form der Absolutheit«, also nach
dem Gesetz der Identität gedacht werden kann, das Endliche aber gar nicht nach die-
sem Gesetz abgeleitet werden kann, sondern vielmehr nach dem Gesetz der Kausali-
tät, nämlich ›nur durch die Reihe von Ursachen und Wirkungen begriffen werden
kann‹, die endlos ist (Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. AA I,10, 127 (§§ 27 f.) u.
132 f. (§§ 35–38)). Das Endliche ist also gar nicht durch das Gesetz der Identität, son-
dern durch das Kausalitätsgesetz bestimmt. Bereits dieses Gesetz drückt »ein absolu-
tes Abbrechen vom Unendlichen« aus (Schelling 1804, 39, 34 / SW VI, 41, 38).
92 Schelling 1804, 25 / SW VI, 32; Herv. v. Verf.
93
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.
164
Der Abfall als formelle Anforderung
Idee des Absoluten führen würde (vgl. AA I,10, 125 (§ 23)). Es ist also
zunächst gezeigt worden, dass das Selbsterkennen wesentlich zur
Idee des Absoluten gehöre, diese Idee ohne jenes Selbsterkennen
selbst aufgehoben wäre. Wenn es also eine zum Selbsterkennen er-
forderliche Differenz von Subjektivität und Objektivität geben soll,
dann muss diese als eine quantitative gedacht werden, weil sonst er-
neut die leitende Idee aufgehoben wäre. Daraus entsteht die Aufgabe,
wie eine solche quantitative Differenz zu denken sei. 94
So ist auch mit der Einführung des Ausdrucks des Abfalls nur eine
Konstruktionsanforderung oder eine Präzisierung der Aufgabe for-
muliert. Jeder Versuch, das Verhältnis von Absolutem und endlichen
Dingen nicht als einen Abfall zu denken, führt, so Schellings Behaup-
tung, auf Widersprüche. Der ganze Zusammenhang der Einführung
dieses Ausdrucks macht deutlich genug, dass Schelling mit ihm zu-
nächst nur eine formelle Anforderung bezeichnet haben will. So
kommt er erst ganz am Ende eines Absatzes vor, nachdem Schelling
dort vorher andere Ausdrücke verwendet hatte, wie ›Abbrechen‹,
›Sprung‹, ›Entfernung‹, als Gegenstücke zur Annahme einer Stetig-
keit oder Mitteilung. Wenn die Abkunft der endlichen Dinge aus dem
Absoluten erklärt werden soll, dann muss diese Erklärung der Anfor-
derung genügen, dass sie keine Stetigkeit beider impliziert, sondern
als ein Abfall gedacht wird. Dadurch ist somit noch nichts darüber
gesagt, wie diese Anforderung zu erfüllen sei. Damit argumentiert
Schelling dafür, dass jeder Lösungsversuch der Frage nach der Ab-
kunft der endlichen Dinge diese Anforderung zu erfüllen hat, wenn
er die Widersprüche vermeiden will, auf welche die bisherigen Ver-
suche nach dem Vorhergehenden unweigerlich führen. Damit ist also
nur die Richtung angezeigt, in welcher zu suchen sei, sowie die Rich-
tungen, die von vornherein auszuschließen sind, da sie gegen die An-
forderung verstoßen. Wie die Aufgabe zu lösen sei, ist erst in der
Folge zu zeigen. Man hat demnach strengstens zwischen zwei Thesen
zu unterscheiden. Nach der ersten These ist die gestellte Aufgabe nur
so zu lösen, dass die Abkunft der endlichen Dinge als ein Abfall ge-
dacht wird. Diese These ließe sich nur dadurch bestreiten, dass man
nachweist, wie eine Stetigkeit zwischen dem Absoluten und den end-
lichen Dingen angenommen werden kann, ohne dass sich daraus die
94
In der Darstellung meines Systems dienen die §§ 24–29 (AA I,10, 126 f.) dazu, diese
Aufgabe weiter zu präzisieren, während Schelling in den §§ 30–50 (AA I,10, 127–143)
zeigt, wie sie seiner Meinung nach zu lösen ist.
165
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
95 So van Bladel 1965, 52, 59 f. Mit einem anderen kritischen Vorzeichen findet die-
selbe Interpretationslinie sich bspw. auch bei Hans-Jörg Sandkühler, der Schelling
eine »Wendung zur theologischen Sündenfallslehre« bescheinigt und daraus schließt:
»Schellings Geschichtsphilosophie ist eine eschatologische Fortschrittstheorie mit
dem Kriterium der Offenbarung des Absoluten. Sie ist eine verfallstheoretische Fort-
schrittskonzeption, denn unter den Bedingungen des Absoluten degeneriert die end-
liche Geschichte des Menschen zu einem notwendigen Medium der Seinsgeschichte,
notwendig in ihrer Depraviertheit« (Sandkühler 1968, 166, 168). Ebenso wenig kön-
nen wir Heideggers Diagnose zustimmen, wonach Sünde bei Schelling ein Indiz für
eine »Verweltlichung des theologischen Begriffs der Sünde und eine Verchristlichung
des metaphysischen Begriffes des Bösen« darstellt (Heidegger 1988, 251). Wenn
Schelling den Ausdruck gelegentlich auch verwendet, so stets im Zusammenhang
eines Begriffs des Bösen, wovon noch zu untersuchen wäre, inwiefern er sich mit
dem christlichen Sündenbegriff vereinigen ließe. In Philosophie und Religion jeden-
falls ist genau besehen nur ein einziges Mal von Sündenfall die Rede, und zwar um
die Philosophie Fichtes zu charakterisieren (vgl. Schelling 1804, 42 / SW VI, 43).
Xavier Tilliette bemerkt denn auch zu Recht, dass der Begriff »n’est pas emprunté à
la théologie, malgré l’emploi incident du terme ›péché originel‹ […]. [I]ci la significa-
tion chrétienne de la chute, et corrélativement de la création, est écartée« (Tilliette
1992, 490). Hier wie sonst werden dieser und verwandte Ausdrücke höchstens als
bildliche Ausdrücke verwendet, teils um zu einer christlich-orthodoxen Lektüre zu
verführen, teils um dem aufmerksamen Leser anzudeuten, wogegen das gerade ent-
wickelte Theoriestück sich richtet, teils um den sittlichen Charakter hervorzuheben,
der dem Abfall im Menschen zuwächst.
166
Der Abfall als formelle Anforderung
Wahl solcher Ausdrücke ist die Frage nach Schellings Intention mit
denselben von entscheidender Bedeutung, die Frage also, ob er eine
philosophische Rechtfertigung der christlichen Lehre intendiert oder
ob er durch solche Ausdrücke nicht vielmehr signalisiert, gegen wel-
che Alternative sein eigener Entwurf sich im Grunde richtet. 96 Da es
96 So unterstellt Michael Theunissen Schelling zwar die Intention, sowohl die Lehre
vom Sündenfall als auch der Schöpfung philosophisch zu legitimieren, kommt aber
dennoch nicht umhin, festzustellen, dass Schellings Begriffe von ›Sünde‹, ›Abfall‹ und
›Schöpfung‹ sich nur schwer mit christlichen Begriffen zur Deckung bringen lassen,
und ist z. B. dazu genötigt, von »Schellings, christlich gesehen, defizientem Schöp-
fungsbegriff« zu sprechen (Theunissen 1965, 181 f.). Sein Fazit lautet, dass »die Ver-
knüpfung der neuen Lehre vom Menschen mit der biblischen Sündenfallgeschichte
nur äußerlich ist« (Theunissen 1965, 185). Am schwerwiegendsten ist wohl, dass der
Sündenfall nach der christlichen Lehre eine Erbsünde ist, d. h. eine solche, der »zu-
folge sich in Adam das ganze Menschengeschlecht für das Böse entschieden hat«
(Theunissen 1965, 186), während nach dem Theorem der intelligiblen Tat jeder ein-
zelne sich für oder wider das Böse entscheidet. Nach dem christlichen Dogma ist die
Entscheidung für das Böse für die übrige Menschheit außer Adam notwendig, weil
durch diesen notwendig gemacht. Die Erkenntnis dieses Aspekts der christlichen Sün-
denfallslehre setzt keine mehr als nur gewöhnliche Bekanntschaft mit der christlichen
Lehre voraus. Nur weil er Schelling jene Intention zudichtet, sieht Theunissen sich
dazu genötigt, dessen Vorhaben als gescheitert anzusehen. Aufschlussreich sind fer-
ner noch folgende Äußerungen, aus welchen auch erhellen dürfte, inwieweit die Les-
art Theunissens sich der Position Eschenmayers annähert: »[E]s könnte sogar sein,
daß sich in der Abwegigkeit des Weges das Recht der Philosophie durchsetzt, die nicht
zu denken vermag, was Schelling ihr zu denken aufgibt: die derivierte Absolutheit im
schöpfungstheologischen Sinne. Dann wäre Schellings Scheitern das notwendige
Schicksal des Philosophen, der die geglaubte Geschöpflichkeit des Menschen zu den-
ken versucht, obwohl er sie nur glauben kann« (Theunissen 1965, 188; Herv. v. Verf.).
Auch Eschenmayer hatte behauptet, dass sich im Glauben eine Abhängigkeit des
Menschen von Gott zeigt oder offenbart, die nicht mehr demonstriert werden kann,
sondern die nur durch das Scheitern jeder Demonstration beglaubigt werden kann,
eine Abhängigkeit, die nur geglaubt, nicht erkannt werden kann. Zum Schluss ver-
weist auch Theunissen auf Kierkegaard und unterschreibt damit das jaspersche Dik-
tum, dass man Schelling nur im Ausgang von Kierkegaard wirklich verstehen kann.
Selbst in der Spätphilosophie verstünde Schelling die Gesetztheit oder Faktizität der
Freiheit als »Geschöpflichkeit«, aber »daß sie Geschöpflichkeit ist, das läßt er sich von
der Erfahrung vorgeben […]. Damit läßt sich der späte Schelling das Wissen von der
Geschöpflichkeit des Menschen zwar gerade nicht durch die Offenbarung vermitteln.
Aber seine These, wonach das Faktum der Schöpfung von der bei sich verbleibenden
Vernunft nicht begriffen werden kann, macht doch immerhin Platz für die Erkennt-
nis, daß dieses Faktum allein dem Glaubenden gewiß ist« (Theunissen 1965, 189;
zweite u. dritte Herv. v. Verf.). Anlässlich der Interpretation Fuhrmans’ bemerkt Louis
Van Bladel: »Die Schwierigkeiten aber, die Fuhrmans befürchtet, die Widersprüche,
die er entdeckt […] scheinen uns nur dann zu entstehen, wenn man Schellings Phi-
losophie um jeden Preis als einen transzendenten, explikativschöpferischen Theismus
167
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
interpretieren will«, d. h. sie entstehen aus der Intention, die man Schelling zuschreibt
(van Bladel 1965, 53).
97 Vgl. Brouwer 2011, 172 f.: »Jedoch muss dieser Beruhigung, die mit dem bloßen
168
Der Abfall als formelle Anforderung
ling 1809a, 403 / SW VII, 339: »Absolute Kausalität in Einem Wesen lässt allen an-
dern nur unbedingte Passivität übrig«.
99 In einem Brief an K. J. H. Windischmann vom 5. September 1805 bemerkt Schel-
ling, dass die Idee des Abfalls »unbequem für den wissenschaftlichen Vortrag der
Philosophie [ist], daher ich sie für diesen auch fallen lasse, wie ich sie ursprünglich
nur für die Darstellung eines philosophischen Gesprächs aufgenommen hatte«
(F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. September 1805, Fuhrmans, Briefe
III, 252; Herv. v. Verf.). Es wird demnach nicht »die Abfallslehre relativiert«, sondern
es werden nur die Vor- und Nachteile des Ausdrucks diskutiert (Vergauwen 1975, 96).
In der von Vergauwen zitierte Briefstelle bemerkt Schelling: »[W]as gegen sie [die
Idee bzw. die Lehre des Abfalls, R. S.] gesagt worden ist, ist leicht zu beantworten«,
anders gesagt: Von den bisher vorgebrachten Einwürfen gegen die Idee selbst meint
Schelling, dass sie allesamt leicht zu beantworten sind. Er gesteht aber, dass der Aus-
druck leicht ›zu vielen Mißverständnissen‹ Anlass geben kann und ›daher unbequem
für den wissenschaftlichen Vortrag der Philosophie‹ ist. Es darf hier offenbleiben,
inwiefern er solche Missverständnisse hatte voraussehen können und inwiefern er
sie somit in Kauf genommen oder sogar beabsichtigt hat. – Ebenso verfehlt scheint
es mir, den Begriff des Abfalls dadurch zu ›erklären‹, dass man ihn auf christliche,
neuplatonische oder gnostische Quellen zurückzuführen sucht. Dort, wo Schelling
den Ausdruck zum ersten Mal einführt, verweist er eben nicht auf solche Quellen,
sondern behauptet nur, dass diese Ansicht mit der »wahrhaft Platonische[n] [Lehre]«
übereinstimmt (Schelling 1804, 35 / SW VI, 38). – Für frühere Verwendungen des
Ausdrucks vgl. Schelling 1803a, 175 / SW V, 290; SW V, 424, 429, 437, 453, 467.
100 So auch Tilliette 1992, 487: »la clef de la solution, la théorie de la chute, n’est pas
une hypothèse soudaine, étrangère, et amenée pour les besoins de la cause«. Noch
169
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
stärker: »la chute n’a jamais été absent de l’horizon intellectuel de Schelling […]
l’Abfall est une constante de la pensée mouvante de Schelling« (Herv. v. Verf.).
101 Schelling 1804, 19 / SW VI, 28.
103
Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.
104 Dies geschieht in den Würzburger Vorlesungen in den §§ 36–41 (SW VI, 189–
199).
170
Die Möglichkeit des Abfalls
gen sind folgende: 1) Ein Endliches oder Einzelnes ist datierbar und
lokalisierbar oder zeitlich und räumlich verortbar; es nimmt einen
bestimmten räumlich-zeitlichen Ausschnitt ein. Diese Bestimmung
ist, wie die andere auch, nicht auf das, was man gewöhnlicherweise
›Ding‹ oder materielle Entität nennt, eingeschränkt, sondern ebenso
für Ereignisse gültig. So ist beispielsweise die Überschreitung des
Rubikons durch Caesar ebenso lokalisierbar und datierbar wie Caesar
oder der Rubikon selbst. 2) Es steht in kausalen Verhältnissen zu
anderen Dingen. So bildet die Überschreitung des Rubikons ein Er-
eignis, das in einer Kette von Ursachen und Wirkungen eingebunden
ist. Wir können sowohl die Ursachen untersuchen, die zu diesem Er-
eignis geführt, als auch die Folgen, die sich aus ihm ergeben haben.
3) Ein Einzelnes ist durch die ›Differenz von Wesen und Form‹ ge-
kennzeichnet. Keine der Ursachen, die zu jenem Ereignis geführt
haben, ist derart, dass es sich zwangsläufig aus ihnen ergeben hat.
Dasselbe gilt auch von den Wirkungen, die sich an es angeknüpft
haben. Diese tatsächlichen Wirkungen sind sozusagen nur ein Aus-
schnitt der möglichen Wirkungen, die sich daran hätten anknüpfen
können. 105
105 Vgl. Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386. Vgl. dazu Davidson 1969, der zu dem Er-
gebnis kommt, dass die Individuation von Ereignissen sich nicht wesentlich von der
Individuation von Individuen oder materiellen Dingen unterscheidet.
106 Vgl. Schelling 1804, 28–36 / SW VI, 35–39.
107
Vgl. Schelling 1804, 36–40 / SW VI, 39–42.
108 Vgl. Schelling 1804, 41–43 / SW VI, 42–44.
109
Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49.
171
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
172
Die Möglichkeit des Abfalls
118
Schelling 1804, 22 / SW VI, 30.
119 Schelling 1804, 24 / SW VI, 31; Herv. v. Verf.
120
Schelling 1804, 29 / SW VI, 34.
173
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
121 Vgl. Schelling 1809a, 414 / SW VII, 347. – Die ›derivirte Absolutheit‹ kommt dem
Realen oder den Ideen, nicht erst den endlichen Dinge zu. Dies scheint z. B. Michael
Theunissen übersehen zu haben. Er setzt nämlich die derivierte Absolutheit schlecht-
hin mit dem Erschaffensein des Menschen gleich. Aus der einzigen Stelle, wo der
Ausdruck in der Freiheitsschrift vorkommt, geht jedoch klar hervor, dass diese deri-
vierte Absolutheit vorzugsweise der Natur zukommt, d. h. auch auf den Menschen
nur insofern zutrifft, als dieser ein Naturwesen ist. Der Begriff dient demnach gar
nicht dazu, das Spezifische der menschlichen Freiheit zu fassen. Dies muss Theunis-
sen letztlich auch selbst eingestehen, wenn er sagt, dass »Schelling hier noch jene
Unabhängigkeit von Gott im Auge [hat], die auch der nicht-menschlichen Kreatur
eignet«; »In diesem Zusammenhang tritt die menschliche Freiheit zunächst sozusa-
gen nur als ein besonders eklatanter Fall von Selbständigkeit auf« (Theunissen 1965,
180 f.).
122 Schelling 1804, 29 / SW VI, 34.
123
Schelling 1804, 30 / SW VI, 35.
124 Schelling 1804, 36 / SW VI, 39.
125 Statt von einer »gedoppelte[n] Seite« (Schelling 1804, 39 / SW VI, 41) kann man
auch von zwei Prinzipien sprechen: eines, durch welches es selbst absolut ist (ein
anderes Absolutes ist), ein anderes, durch welches es ›im An-sich‹ ist, also eine nur
derivierte Absolutheit hat. Insofern das Reale zum einen nur durch die Idealität ab-
solut ist, zum anderen zwei Prinzipien oder eine gedoppelte Seite in sich hat, ist ihm
und allem, was in ihm begriffen ist, ein »doppeltes Leben verliehen« (Schelling 1804,
40 / SW VI, 41). Dies bezeichnet Schelling später als Eigen- und Universalwillen (vgl.
Schelling 1809a, 436–440 / SW VII, 363–365).
174
Die Möglichkeit des Abfalls
stimmen ist. Letztere ist diejenige, wonach das Wesen oder das Ideale
im Realen eingebildet ist und dieses dadurch absolut und selbständig.
Das Reale hat nur durch die Einbildung des Idealen in ihm Realität.
Die erste Seite ist die, wonach diese Absolutheit doch nur bedin-
gungsweise vom Realen gilt, nämlich nur insofern es zugleich in der
absoluten Form und im Absoluten ist. Jene Realität hat es nur, inso-
fern es ganz ideal ist. Am Realen können demnach diese beiden Seiten
– Realität und Idealität – unterschieden werden, obwohl sie in ihm
zunächst in der Indifferenz oder der völligen Übereinstimmung sind.
Es wurde gesagt, dass das Ideale (das Wesen) sich in das Reale ein-
bildet. Als wesentlich für das Wesen hatten wir hervorgehoben, dass
es sich darstellt oder objektiviert. Demnach muss auch dem Realen
diese Möglichkeit der Darstellung zukommen oder es muss darstel-
lungsfähig sein: Das Reale muss »gleich ihm [dem Idealen, R. S.] sei-
ne Idealität in Realität« umwandeln können. 126 Hier wiederholt sich
somit das Verhältnis zwischen Realem und Idealem. Die Objektivie-
rungen des Realen verhalten sich jetzt genau so zum Realen, wie
dieses sich zum Idealen verhielt, und umgekehrt verhält das Reale
sich zu seinen Objektivierungen wie deren Ideale. Auch die Objekti-
vierungen sind »real nur, sofern sie zugleich in der Ureinheit, also
ideal sind«. 127 Realität wird hier auch mit ›in-sich-Seyn‹ oder Selb-
ständigkeit gleichgesetzt. Diese Doppelung des Realen oder des Drit-
ten überhaupt gilt von allen Ideen. So wie das Gegenbild oder das
Reale überhaupt diese doppelte Möglichkeit hat, genau so kommt
diese auch allem in ihm Begriffenem, d. h. allen Ideen, zu. Die Ideen
sind danach als Selbstrepräsentationen des Gegenbilds zu denken.
Diese können indessen nur insofern als angemessene Darstellungen
des Absoluten bestimmt werden, als sie selbst, wie jenes, ebenfalls die
Struktur eines Selbsterkennens aufweisen und d. h. indem sie auch
selbst wieder fähig sind, sich darzustellen. Der Prozess der Darstel-
lung wiederholt sich demnach im Falle der Potenzen. Hieraus ergeben
sich folgende Forderungen: 1) Die Ideen können nur insofern als Dar-
stellungen des Absoluten gelten, als ihnen auch selbst die Darstel-
lungsfähigkeit zukommt. 2) Die Darstellung einer Idee kann indessen
nicht wieder unendlich sein, da sie dadurch selbst wieder eine Idee
und damit eine Darstellung des Absoluten wäre. Von den Ideen ist
175
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
128 Damit hat Kant allerdings nur ein Merkmal einer Idee hervorgehoben.
129 Vgl. Schelling 1804, 37 f., 44, 47 / SW VI, 40, 44, 46.
130 So Shikaya 2000, 96, 98: »Das endliche Ding und auch der es betrachtende reflek-
tierende Verstand dürfen in diesem System demnach nicht sein«. Träfe dies zu, dann
müsste es verwundern, dass Schelling behauptet, dass »alle diese Bestimmungen«,
nämlich der endlichen Dinge oder der »wirkliche[n] Welt, die es«, nach Shikaya,
»identitätsphilosophisch eigentlich nicht gibt«, »selbst erst abgeleitet werden müs-
sen« (Schelling 1802b, 70 / SW IV, 386).
131 Mit der Behauptung einer Schein-Realität nimmt Schelling das kantische Theo-
rem des transzendentalen Scheins verwandelnd auf. Dies geht am deutlichsten aus
Schelling 1802b, 27 / SW IV, 357, hervor, wo er eine kantische Formulierung aufgreift
(vgl. KrV, AA 4, 215). – Die endlichen Dinge sind insofern mit einem Schein ver-
wachsen, als sie zwar nur ihren Eigenwillen oder ihre Selbstheit verfolgen, dabei
außerstande sind, einzusehen, dass dieser im Universalwillen eingebunden bleibt.
Dies lässt sich auf exemplarische Weise am tierischen Instinkt zeigen, wonach die
Tiere zwar vernünftig, aber nicht aus Vernunft handeln (vgl. SW VI, 457–470, bes.
459, 460, 462 f.). Gerade deshalb bleiben sie im Schein befangen: ihnen ist nicht die
Möglichkeit gegeben, diesen Schein als einen solchen zu durchschauen. Die Möglich-
keit, den Schein als Schein zu durchschauen, ist erst dem Menschen gegeben. Hier
dürfte auch der Grund liegen, weshalb Schelling hier auch von einem »Leben der
Lüge« spricht (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; SW VI, 541): Der Schein wird dort
zur Lüge, wo auch die Möglichkeit gegeben ist, ihn als einen solchen zu durchschauen.
Der Mensch hat diesen Schein zu verantworten, er kann ihm zugeschrieben werden.
Dazu ist es nicht erforderlich, eine Intention zu lügen zu unterstellen.
176
Die Möglichkeit des Abfalls
132 »Wie Gott in dem ersten Gegenbild, durch die Form, nicht nur überhaupt sich
objectiv wird, sondern auch sein Anschauen selbst wieder in jenem anschaut, damit
es ihm vollkommen ähnlich und gleich sey« (Schelling 1804, 51 / SW VI, 49). Nur
durch die Einbildung der Selbstanschauung im Angeschauten (im Realen) ist dieses
ein anderes Absolutes.
177
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
gefallenen oder Endlichen selbst liegt, ist die Anforderung erfüllt, die
Abkunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten als einen Abfall zu
denken. Diese Unterscheidung bedeutet nicht mehr, als dass alle Din-
ge in irgendeinem Grad eine Form der Ichheit aufweisen. Damit ist
nachgewiesen, dass die Möglichkeit eines Abfalls in der Idee des Rea-
len oder Dritten notwendig enthalten ist. 133 So wie der Konstruktion
der Idee des Absoluten ihrer inneren Artikulation nach eine negative
Betrachtung voranging, so lässt sich auch das Auffinden des Prinzips
der Absonderung weiter negativ präzisieren. Es ist, erstens, gezeigt
worden, wie das Reale notwendigerweise zwei Seiten hat, obwohl
diese in ihm nur ideell unterscheidbar sind. Damit ist die Möglichkeit
eines Abfalls in der Verfassung des Realen selbst angelegt. Jetzt gilt es
zu zeigen, wie diese beiden Seiten auseinandertreten oder in einem
reellen Gegensatz zueinander treten können, wodurch die Wirklich-
keit des Abfalls nachgewiesen wäre. Bis zum Menschen sind sie zwar
in Differenz, aber noch nicht in einem wahren Gegensatz; ihr Ver-
hältnis lässt sich ja noch gar nicht umkehren.
Bevor wir darauf eingehen können, wie der Abfall sich wirklich
aktualisiert, haben wir noch einige propria des Abgefallenen zu be-
achten. (1.) Vom ›Abfall‹ wie von dessen Folge behauptet Schelling,
dass sie in Beziehung auf das Absolute bzw. auf die Ideen »ein blosses
Accidens« sind. 134 Ein Akzidenz ist eine solche Eigenschaft, die von
einem Ding weggenommen werden kann, ohne dass sich dadurch et-
133 Gert Blanchard weist darauf hin, dass Schelling mit dieser Konstruktion des Ab-
soluten als einer Mannigfaltigkeit oder mit dem Nachweis dreier Momente, die in der
Idee des Absoluten enthalten sind, »sich die Basis [schafft], die Entstehung des End-
lichen seiner Möglichkeit nach im Absoluten selbst zu begründen« (Herv. v. Verf.)
und dass die Konzeption des Absoluten als von seiner Objektivierung abgehoben
»fruchtbar gemacht [wird] für die Deduktion des Prinzips der Möglichkeit von Frei-
heit« (Blanchard 1979, 433, 448). Die Abhebung des Wesens von den Potenzen oder
Ideen, in welchen es objektiv wird, berechtigt Schelling dazu, die selbstische Seite der
Ideen als ›Freiheit‹ zu bezeichnen. Wolfgang Wieland hat in Schellings Philosophie
»einen großangelegten Versuch« gesehen, »die natürliche Welt […] so zu konstruie-
ren, wie sie sich für ein ›moralisches Wesen‹, d. h. unter der Bedingung, daß Freiheit
möglich sein soll, darstellen muß« (Wieland 1967, 413). Vgl. Buchheim 1992, 29 f.
134 Schelling 1804, 40 / SW VI, 41. Es sei darauf hingewiesen, dass ›Ab-fall‹ auch als
Übersetzung von accidens (accidere) gelesen werden kann: Die Eigenschaften, die
einer Idee dadurch zuwachsen, dass das ihr Entsprechende auch existiert, sind in Hin-
sicht auf die Idee bloß akzidentell. – Ein weiteres Assoziationsfeld ist das der Bewe-
gung, vgl. Schellings Unterscheidung von Fall- und Umlaufbewegung (vgl. Schelling
1803c, 68–77 / SW IV, 435–441).
178
Die Möglichkeit des Abfalls
was am Wesen dieses Dings ändert. So hat sich gezeigt, dass nur die
Möglichkeit eines Abfalls oder einer Umkehrung des ursprünglichen
Verhältnisses der beiden Seiten des Gegenbildes zur Verfassung des-
selben und damit zur vollständigen Idee des Absoluten gehört, nicht
aber die Realisierung dieser Umkehrung. In der Verfassung des Rea-
len ist die Darstellungsfähigkeit, nicht aber die wirkliche Darstellung
eingeschlossen. Ferner »verändert« der Abfall »nichts in beyden«,
weder im Absoluten noch im Urbild. 135 Dies kann man sich durch eine
Analogie näherbringen. In jeder Idee oder Potenz ist eine Unendlich-
keit von möglichen Positionen oder Realisierungen enthalten, ähnlich
wie die Spielregeln des Schachspiels eine Unendlichkeit an möglichen
Spielabläufen enthalten, ohne dass dadurch ein einziger wirklicher
Spielablauf festgelegt ist. Keiner der wirklichen Spielabläufe ändert
etwas an den Spielregeln. Damit ist behauptet, dass weder dem Abso-
luten noch dem Urbild (den Ideen) dadurch etwas fehlt, dass das
ihnen Entsprechende nicht existiert oder es sich nicht darstellt. Dem
Urbild wohnt demnach auch keine Tendenz ein, von der Potenz zum
Aktus überzugehen. 136 Die Darstellung des Urbildes in einem ihm
entsprechenden Existierenden ändert im Urbild selbst ebenso wenig
etwas, wie die Spiegelung eines Objekts etwas an diesem Objekt än-
dert. Gott bringt nur die ewigen Begriffe oder die Ideen der Dinge
hervor, ist aber nicht die Ursache davon, dass ein dieser Idee entspre-
chender Modus auch wirklich existiert, da das Dasein eines Dings von
anderen Dingen abhängt als von den Umständen, die es ihm erlauben,
ins Sein zu treten.
(2.) Obwohl ein bloßes Akzidens, so bezeichnet Schelling den Ab-
fall dennoch als »ewig«. 137 Dabei handelt es sich erneut um ein pro-
prium oder eine extrinsische Eigenschaft, d. h. eine solche, die zwar zu
einer Sache gehört, aber nicht deren Wesen erklärt, sondern erst aus
der Erkenntnis dieses Wesens geschlossen werden kann. Das Ding
wäre zwar nicht das, was es ist, ohne diese Eigenschaft, aber es ist
nicht das, was es ist, durch oder aufgrund derselben. Ein solches pro-
prium liefert denn auch keine besondere inhaltliche Information über
179
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
138 Dies gilt übrigens noch deutlicher vom proprium der Unendlichkeit: Es macht
einen Unterschied, ob diese einem Ding aufgrund seiner Definition oder aufgrund
seiner Ursache zukommt (vgl. Schelling 1802b, 64 / SW IV, 382). Zu den propria:
Deleuze 1981, 132 f.
139 Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42.
140
Vgl. Schelling 1804, 40, 56 / SW VI, 42, 52.
180
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
III, 252.
181
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
144 Dies ist auch Xavier Tilliette nicht entgangen: »il s’empare volontiers des mots
polyvalents, scintillants, dont les flexions de sens reproduisent en pointillé son itiné-
raire mental. Potenz est évidemment le plus riche, le plus malléable, mais Wurzel, par
exemple, comporte une signification arithmétique, une sémantique, une botanique,
une philosophique […]. Les vocables électifs et leurs sens modifiables sont une pierre
de touche de l’évolution schellingienne« (Tilliette 1992, 345 f.).
145 Vgl. Schelling 1804, 39, 48, 57 / SW VI, 41, 47, 52, 53. So auch Tilliette 1992, 495:
»Ce qui est exclu par la chute, c’est la relation directe à Dieu et à l’idée«.
146 ›Sprung‹ kommt nachher nicht mehr, ›Abbrechen‹ nur noch ein einziges Mal vor
(vgl. Schelling 1804, 39 / SW VI, 41). Nur von einer ›Entfernung‹ ist in der Folge
wiederholt die Rede (vgl. Schelling 1804, 41, 56, 64, 71 / SW VI, 42, 52, 57, 62).
Auffälligerweise wird dieser Ausdruck aber zunächst im Zusammenhang mit einem
der »[u]nzählige[n] Versuche« eingeführt, die Schelling einer kritischen Überprüfung
unterzieht, und zwar der Emanationslehre (Schelling 1804, 30 f. / SW VI, 35 f.).
182
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
183
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
schaftslehre: Das Ich »ist zugleich das Handelnde [oder Produzierende, R. S.], und
das Produkt der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervor-
gebracht wird [die Tat oder die Tatsache, R. S.]; Handlung, und That [das Produkt
der Handlung, R. S.] sind Eins und eben dasselbe; und daher ist das: Ich bin, Ausdruk
einer Thathandlung« (GA I,2, 259).
184
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
151 Man darf also vermuten, dass dieser Punkt im fast vollendeten Gespräch bereits
behandelt wurde und in einer Auseinandersetzung mit Lucian vorgetragen worden
wäre. In der Tat war der Gedanke der Ichheit als allgemeines und als höchstes Prinzip
der Endlichkeit, Vereinzelung oder Individuierung im Bruno nicht abwesend, wie aus
der Unterredung hervorgeht, die mit der in der Präambel zitierten Stelle anfängt (vgl.
Schelling 1804, 19 f. / SW VI, 28 f.; Schelling 1802a, 131 f. / SW IV, 282) und in Luci-
ans Nennung des ›Ich‹ gipfelt (Schelling 1802a, 143 / SW IV, 288). Während der erste
Teil der Unterredung darauf abzielte, die Relativität des fichteschen Prinzips darzutun
und zu zeigen, dass es sich nicht zum Prinzip des gesamten Systems der Philosophie
eignet (vgl. Schelling 1802a, 46–81 / SW IV, 239–257), soll jetzt gezeigt werden, wie
es sich in dieses System integrieren lässt (vgl. Schelling 1802a, 130–136 / SW IV,
282–285). Ähnlich auch: AA I,10, 166 (Anm. im Handexemplar zu § 95); Schelling
1802b, 75 / SW IV, 389; Schelling 1803c, 12 f. / SW IV, 398; SW VI, 123. (Aus letzte-
rer Stelle wird auch klar, dass Schelling sich dessen bewusst ist, dass seine eigene
Deutung des fichteschen Begriffs wohl nicht mit Fichtes Selbstverständnis überein-
stimmt.) Im Reinhold-Gespräch (1802) findet sich zudem folgende Stelle: »Das Ich,
welches nichts anders, als der höchste Ausdruck jenes Absonderungsacts ist, ist nach
ihm [Fichte, R. S.] reiner Act, nichts als sein eigenes Thun, nichts, unabhängig von
seinem Handeln, überhaupt bloß durch und für sich selbst, nichts also an sich oder in
Ansehung des Absoluten, eben so auch alles, was mit dem Ich und eben deßwegen
auch nur für das Ich abgesondert ist von der Allheit« (Schelling 1802d, 13 f. / SW V,
26; Herv. v. Verf.). Damit ist der zentrale Gedanke von Philosophie und Religion, dass
bei Fichte die Ichheit als Prinzip des Abfalls zu verstehen sei, hier bereits formuliert.
Und Schelling fügt hinzu: »Mehr als diese negative Seite der Philosophie kann im
Idealismus als Idealismus nicht dargestellt werden«. Dies scheint Xavier Tilliette über-
sehen zu haben, wenn er die eigentliche Leistung und »le trait génial de Philosophie et
Religion« nicht in »l’intervention de la chute«, sondern in »l’assimilation, le télésco-
page du thème et de la philosophie criticiste« sieht: »On reconnait là sa marque,
l’acuité interprétative. Par une sorte de métaschématisme ou de ›péritrope‹, il s’em-
pare de la pensée qui le contredit, celle de Fichte […], pour la retourner contre elle-
même« (Tilliette 1992, 487).
185
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
Pole sich in ihm in einem Zustand der Indifferenz. Nach dem ur-
sprünglichen Verhältnis der Pole ist das Reale nur ganz real, insofern
es zugleich ganz ideal ist. Das Reale kann nur als das andere Absolute
sein, indem es die Möglichkeit hat, sich in seiner Selbstheit zu er-
greifen. Die Seite der Selbstheit, die dem Realen bzw. den Ideen
zukommt, ist von einem ausdrücklichen »Ergreifen« derselben zu un-
terscheiden. 152 Zu unterscheiden ist somit zwischen der Zertrennlich-
keit beider Seiten, durch welche die Identität oder Isomorphie beider
Seiten noch nicht aufgehoben ist und die als bloße Möglichkeit in der
Struktur des Realen angelegt ist, und der tatsächlichen Zertrennung
beider. Dieses Ergreifen oder diese Aktualisierung der Selbstheit ist
jedoch nicht durchzusetzen, ohne dass sie sich vom Wesen trennt,
diesem gegenüber ihre Eigenständigkeit behauptet, und sie ist damit
auch notwendigerweise mit einem Verlust der Absolutheit erkauft:
»[E]s kann nicht als das andere Absolute seyn, ohne sich eben da-
durch von dem wahren Absoluten zu trennen, oder von ihm abzu-
fallen«. 153 Das Ergreifen der Selbstheit lässt sich nicht denken, ohne
eine Folge, die unmittelbar sich daraus ergibt. Darin ist somit bereits
die oben umrissene Struktur einer Tat-Handlung angelegt. Zwischen
beiden Modi besteht somit eine deutliche Asymmetrie, indem beide
zwar gleichmöglich sind, dafür aber doch nicht gleichwertig.
Dass der Grund der Möglichkeit eines Abfalls im Absoluten bzw.
im Realen angelegt sein muss, war bereits in der formellen Anforde-
rung enthalten, die Abkunft der endlichen Dinge als einen Abfall zu
denken. Die Ichheit hingegen wird eingeführt, um die Frage nach der
Wirklichkeit des Abfalls oder nach der Form, in welcher dieser sich
aktualisiert, zu beantworten. 154 Allerdings beinhaltet die Art, wie
152 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39. Vgl. Blanchard 1979, 440: »[D]as, was schon sei-
nem Wesen nach Selbstheit ist, erfaßt sich in dieser seiner Selbstheit auf die Weise,
daß dieses sich-Erfassen zugleich die Möglichkeit beinhaltet, sich als die Selbstheit,
die es ist, ausdrücklich selbst zu setzen«. Schelling unterscheidet also zwischen der
Selbstheit, die dem Realen seinem Wesen nach (als der einen Seite seiner selbst) zu-
kommt, und dem tatsächlichen Ergreifen oder Aktualisieren dieser Selbstheit.
153 Schelling 1804, 37 / SW VI, 39 f.
154 Dass gerade die Ichheit der Anforderung, die Abkunft der Endlichkeit aus einem
Abfall zu erklären, genügt, geht aus folgender Stelle hervor: »[D]rittens ist jederzeit
die Ichheit als der eigentliche Absonderungs- und Uebergangspunct der besondern
Formen aus der Einheit, als das wahre Princip der Endlichkeit aufgestellt und von ihr
dargethan worden, dass sie nur ihr eigne That und unabhängig von ihrem Handeln,
ebenso wie das Endliche, das mit ihr und nur für sie abgesondert ist vom All, wahr-
haftig Nichts sey« (Schelling 1804, 53 / SW VI, 50; erste Herv. v. Verf.). Während
186
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
Schelling als Beleg für die erste und zweite These jeweils nur eine Stelle angeführt
hatte, so führt er hier gleich drei Fundorte an: erstens »viele[…] Stellen in Bruno«,
dann eine Stelle aus den Ferneren Darstellungen (vgl. Schelling 1803c, 13 / SW IV,
398), schließlich eine Stelle aus dem Reinhold-Gespräch (vgl. Schelling 1802d, 13 /
SW V, 26).
155 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; Herv. v. Verf. Vgl. Schelling 1802a, 143 / SW IV,
288.
156 Dies bezeichnet Schelling später auch als den Begriff der formellen Freiheit (vgl.
158
Vgl. dazu Plessner 1954, 90.
187
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
159
Schelling 1804, 43, 50 / SW VI, 44, 48. Eine vollständige Darstellung derselben
findet sich besonders in den Würzburger Vorlesungen (vgl. SW VI, 215–494). Die
Kosmologie, in welcher diese Erörterungen gipfeln, wurde auch in einem langen Mo-
nolog Brunos entwickelt (vgl. Schelling 1802a, 82–135 / SW IV, 258–285), wonach
die Unterredung mit Lucian wieder aufgenommen wird, in welcher die Ichheit als
höchster Ausdruck der Absonderung bezeichnet wird.
160 Die Seele zeigt sich erst in der höchsten Potenz, im Menschen, als Ichheit oder
Wille. Deshalb geht dem berühmten Satz aus der Freiheitsschrift: »Wollen ist Ur-
seyn« die Einschränkung vorab: »Es giebt in der letzten und höchsten Instanz gar kein
andres Seyn als Wollen« (Schelling 1809a, 419 / SW VII, 350; Herv. v. Verf.). D. h. nur
›in der letzten und höchsten Instanz‹ gibt es kein anderes Sein als Wollen. Dadurch
sieht Schelling sich berechtigt, die Bezeichnung ›Wille‹ oder ›Ichheit‹ auch auf die
niedrigeren Stufen zu übertragen und diese als Vorstufen oder Analoga des Willens
oder der Ichheit auszulegen, obwohl ihnen gerade dasjenige fehlt, wodurch sie im
eigentlichen Sinne zum ›Willen‹ oder zur ›Ichheit‹ werden. Was solchen ›Willen‹ noch
fehlt, damit sie im eigentlichen Sinn ›Wille‹ sind, ist das Wissen – das Wissen-was-
man-will ist nur im Menschen möglich. Michael Theunissen hingegen setzt bei der
Auslegung von Schelling 1809a, 435 f. / SW VII, 362, »die Seele« schlechthin mit dem
»eigentlich Menschliche[n] im Menschen« gleich (Theunissen 1965, 182), obwohl aus
dem Zusammenhang klar hervorgeht, dass mit ›Seele‹ hier nichts spezifisch Mensch-
liches gemeint ist, sondern schlechthin das Individuationsprinzip. Durch die Seele hat
alles Seiende eine Unabhängigkeit von Gott. Erst im Menschen wird die Selbstheit,
die in allem Seienden ist, zum Geist, d. h. aber auch zur Möglichkeit der Selbstsucht.
161
Den Ausdruck der ›Individuation‹ oder der Subjektivierung verwendet Schelling
zu dieser Zeit nur sehr spärlich und oft in einem konzeptuell nicht relevanten Sinn.
Daraus lässt sich indes noch nicht schließen, dass damit auch die dadurch bezeichnete
Problematik abwesend ist (so Shikaya 2000, 93). Als »Individualität« bezeichnet
Schelling »die Verwicklung der Seele mit dem Leib« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61);
die Kraft, durch welche die Seele auch Leib ist, ist die »Kraft der Individuation« (SW
V, 386). Ferner: »[D]er Magnetismus ist der allgemeine Akt der Beseelung oder der
Individuation als Akt, als Thätigkeit angeschaut« (SW VI, 326). (Später verwendet
Schelling ›Seele‹ auch, um dasjenige, wodurch man sich über die Selbstheit erhebt,
zu bezeichnen, im Gegensatz zum Prinzip der Individualität (vgl. Schelling 1809a,
368 f. / SW VII, 312).) Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Individualität und
Persönlichkeit, die hierdurch möglich wird: »Die Individualität ist zwar nicht die Per-
188
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
zu erfüllen gedenkt, die Abkunft der endlichen Dingen aus dem Ab-
soluten und ihr Verhältnis zu ihm als Abfall zu denken. Der Sinn des
Begriffs des Abfalls erschließt sich somit erst aus Schellings Lehre
von der Seele. Auch ist es gerade diese Lehre, auf welche Schelling
sich in den Abschnitten, die die Darstellung seines Systems zum Ge-
biet der praktischen Philosophie fortführen, ausschließlich stützt. 162
Schelling führt hier somit zwei Terminologien oder Register zusam-
men: Zum einen versucht er, insbesondere in Philosophie und Religi-
on, deutlich zu machen, wie er einige wesentliche Einsichten Fichtes
in sein System zu integrieren vermag, und hält sich dabei oft an die
fichtesche Terminologie (›Ichheit‹, ›Tathandlung‹), während er zum
anderen zugleich auch diejenige Terminologie beibehält, die ins-
besondere im platonisierenden Gespräch Bruno vorherrschte, wo öf-
ters von der ›Seele‹ und vom ›Wesen der Seele‹ die Rede war. 163 Nach-
dem wir Schellings Lehre von der Seele, wie sie sich aus Philosophie
und Religion erschließen lässt, umrissen haben, werden wir deshalb
jetzt zeigen, wie diese sowohl mit der Lehre von der Seele im Bruno
als auch mit der Lehre vom Willen in der Freiheitsschrift in Überein-
stimmung ist.
Unter »Seele« ist, so Schelling, »die Idee« zu verstehen, »sofern
sönlichkeit selbst, aber doch ihre Basis und gleichsam ihr Organ« (Schelling 1809b,
110 / SW VII, 528).
162 Bereits Eschenmayer hat auf diese Bedeutung hingewiesen (vgl. Eschenmayer
1803, 78–80 (§ 79)). Seine Kritik richtet sich teilweise gegen den schellingschen See-
lenbegriff. So stützt Schelling sich sowohl für seine Zurückweisung von Eschen-
mayers Einwand, das System Schellings habe keinen wirklichen Ort für die Freiheit
des Willens und die Tugend (dritter Abschnitt), als auch für seine Lehre von der
Unsterblichkeit der Seele (vierter Abschnitt) fast ausschließlich auf diese Lehre von
der Seele (vgl. Schelling 1804, 55 f., 61, 68 / SW VI, 51 f., 55, 60).
163 Es kann denn auch kaum verwundern, dass nach Schelling die fichtesche Lehre der
189
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
190
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
auch so aus, dass er die Seele »als identisch mit dem [von ihr, R. S.]
Producirten« bestimmt. 166
Was Schelling hier ›Seele‹ nennt, weist die gleiche Struktur auf
wie das, was er später als ›Willen‹ bezeichnet. 167 Dies geht daraus her-
vor, dass er der Seele nicht nur eine subjekt-objektive Verfassung zu-
schreibt, sondern immer wieder ihren produktiven, strebenden,
trachtenden Charakter hervorhebt. 168 Daraus dürfte auch klar wer-
den, weshalb er behaupten kann, dass die ichhafte Verfassung des
Bewusstseins ein allgemeines ontologisches Prinzip ist, das in allen
Dingen nachweisbar ist: Alle endlichen Dinge weisen diese Doppe-
lung auf, die Selbstbezüglichkeit und die Richtung auf anderes als es
selbst, oder verknappt gesagt: Alles Endliche ist Subjekt-Objekt. So-
wohl die Seele als auch das durch sie Produzierte sind nur »Werk-
zeuge der Ideen«. 169 Hier ist auch immer von einem ›indirekten‹ Ver-
hältnis die Rede: Das Absolute oder die Idee verhält sich dabei
lediglich als Grund. Das impliziert zugleich die Frage nach der Mög-
haupt meinen. Dann meint der Satz, dass das Gegenbild in allen Dingen ein Analogon
jenes Prinzips der Ichheit einbaut, dass es sich selbst nicht zur Darstellung bringen
oder objektivieren kann, ohne in dem, durch welches es zur Darstellung gelangen soll,
ein solches Subjektivierungsprinzip einzubauen. Man könnte auch von einer idealis-
tischen (subjektivistischen) und realistischen (objektivistischen) Lesart sprechen. Bei-
de sind hier gleich möglich. Zwar ist es so, dass wir fähig sind, in allen Dingen ein
Analogon dieses Prinzips anzuschauen, aber dies ist nicht lediglich Sache unserer
Anschauung oder Betrachtungsweise, so als ob dem in den Dingen selbst nichts ent-
spräche. Sondern wir schauen ein Analogon dieses Prinzips in allen Dingen an, weil
diese Dinge auch wirklich so verfasst sind, dass ein Analogon desselben in ihnen
eingebaut ist. – Nach Dieter Jähnig besteht die Absicht von Schellings Naturphiloso-
phie darin, zu beweisen, dass »die organische Natur […] willens-analog« ist (Jähnig
1975, 42; vgl. auch Jähnig 1966, 55–72; 133–154). Dies hat Schelling auch selbst rück-
blickend als die eigentliche Absicht seiner Naturphilosophie hervorgehoben (vgl.
Schelling 1809a, VII f., 419, 429, 482 f. / SW VII, 333, 350, 357, 395 f.).
166 Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.
167
Deshalb kann Schelling am Anfang des dritten Abschnitts einen Satz Eschenmay-
ers zitieren, wonach es diesem »immer ein unauflösliches Problem zu seyn [schien],
den Willen […] aus der absoluten Identität […] zu entwickeln« (Eschenmayer 1803,
51 f. (§ 58); vgl. Schelling 1804, 53 f. / SW VI, 50). Diese ›Entwicklung‹ hatte er näm-
lich im vorhergehenden Abschnitt geleistet.
168 So übrigens auch bereits in den Ferneren Darstellungen: Alle ›erscheinenden‹ oder
endlichen ›Dinge‹ zeichnen sich durch ein ›Bestreben‹, ein ›Trachten‹, einen ›doppel-
ten Trieb‹ aus (vgl. Schelling 1803c, 9 / SW IV, 395 f.). – Schelling bezeichnet die
»Ichheit«, genauer: die »aktivirte Selbstheit« als »Lust und Begierde«, als »Trieb, sich
nicht nur überhaupt, sondern in diesem bestimmten Daseyn zu erhalten«, und sieht
darin »eine Art von Freyheit« (Schelling 1809a, 455 / SW VII, 376).
169
Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.
191
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
170 Vgl. damit Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364, wo erst »in dem ausgesprochnen
Wort«, im Geist oder in der realen, an ein Subjekt gebundenen Vernunft Gott »actu
existirend« ist.
171
Schelling 1804, 45 / SW VI, 44.
172 Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.
173
In diesem Streben als Ausdruck des Verhältnisses des Endlichen zu seinem Grund
zeigt sich die Endlichkeit auch als ein Leiden, der Abfall als die kontinuierliche Geburt
des Endlichen als Ur-Schmerz. Vgl. die Bemerkung, dass »unglücklich zu seyn oder
sich zu fühlen die wahre Unsittlichkeit selbst ist« (Schelling 1804, 61 / SW VI, 55). Da
einzig die Erhebung über die Endlichkeit als wahrhaftes ›Glück‹ oder als Seligkeit
bestimmt werden kann, so ist die Endlichkeit überhaupt als ein Zustand der Unselig-
keit oder des Unglücklichseins zu bezeichnen. Dieses Unglück zeigt sich auch daran,
dass die endliche Seele nur »Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit« produzieren kann
(Schelling 1804, 37 / SW VI, 40; vgl. Schelling 1804, 44 / SW VI, 44). Diese ›Produk-
tionen‹ entspringen einem Leiden, sind aber nicht dazu geeignet, es zu lindern.
192
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
Endlichen nicht der Fall. Hier ist eine doppelte Modalität des Darstel-
lens möglich. Ob es die Idee darstellt, wird hier zu einer eigenen Leis-
tung, die es demnach auch verfehlen kann. Ob es ihm gelingt, die Idee
zur Darstellung und zum Ausdruck zu bringen, hängt vom Endlichen
selbst ab. Auf welche Weise eine solche Darstellung gelingen kann,
liegt aber nicht mehr in seiner Macht. Das Endliche wird dadurch zu
einer Darstellung der Idee, zu einem »Bild des An-sich«, insofern es
ihm gelingt »die beyden Einheiten der Substanz als blosse Attribute«
unterzuordnen. 174
Als einen dritten Aspekt des Begriffs der Seele oder des Willens
hebt Schelling hervor, dass in diesem Fall das »In-sich-selbst-Seyn
[…] unmittelbar das Seyn mit Differenz der Wirklichkeit von der
Möglichkeit« impliziert: »[D]ie allgemeine Form dieser Differenz ist
die Zeit«. 175 So heißt es gelegentlich, dass Möglichkeit und Wirklich-
keit sich an einander abtrennen oder unterscheiden. 176 Damit ist ge-
meint, dass es sich um korrelative Begriffe handelt. Die Rede von
Möglichkeit hat nur Sinn, insofern diese von sich aus auf eine be-
stimmte Wirklichkeit verweist, so wie die Rede von Wirklichkeit nur
sinnvoll ist, insofern sie mit bestimmten Möglichkeiten verknüpft
ist. 177 Jede Möglichkeit ist demnach an ein bereits Wirkliches gebun-
den und ist erst aufgrund dieser Bindung denkbar. Dies ist so möglich,
dass irgendetwas Wirkliches eine Möglichkeit hat oder über ein be-
stimmtes Vermögen verfügt, etwas hervorzubringen. Dies setzt vo-
raus, dass es sich in einem Geflecht von Verhältnissen befindet, das
ihm immer mehrere Handlungsmöglichkeiten offenlässt. Anderer-
seits ist auch jede Wirklichkeit an eine Möglichkeit geknüpft: Es gibt
kein Wirkliches, das nicht selbst wieder als die Realisierung einer be-
stimmten, aber nicht einzig möglichen Möglichkeit gelten muss und
177
Damit reserviert Schelling den Ausdruck ›Möglichkeit‹ ausschließlich für die
›reelle Möglichkeit‹. Den Ausdruck ›Potenz‹ behält er der ›materialen Möglichkeit‹
vor. Vgl. dazu Buchheim 1992, 37: Die »reelle Möglichkeit« ist stets an ein Wirkliches
als an einen »Fixpunkt« gebunden: »Nur insofern die Möglichkeit durch ein in seiner
Identität verwahrtes Wirkliches lizensiert wird, ist sie als reelle Möglichkeit zu be-
zeichnen«. Diese lässt sich »in mehreren Versionen spezifizieren, nämlich entweder
so, daß das betreffende Wirkliche die Möglichkeit hat, so und so beschaffen zu sein
oder sich so und so zu verhalten (was Vermögen heißt), oder auch in der anderen
Version, daß es mit eben diesem Wirklichen anders bestellt sein könnte, als es tatsäch-
lich der Fall ist (kontrafaktische Möglichkeit oder Kontingenz)«.
193
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
umgekehrt gibt es kein Wirkliches, das nicht für anderes als Möglich-
keit gilt. Dies heißt, erstens, dass jedes endliche Ding, solange es exis-
tiert, immer auf Dinge außer sich angewiesen ist, um sich behaupten
zu können. In dieser Hinsicht lässt ein endliches Ding sich auch nicht
verstehen, wenn man nicht die Umstände mit in Betracht zieht, unter
welchen es existiert und auf welche es für seine Existenz angewiesen
ist. Dies formuliert Schelling so, dass ein endliches Ding »die voll-
kommne Möglichkeit seines Seyns nicht« und nie »in sich selbst,
sondern in einem andern hat«. 178 Erst damit sind auch reelle Möglich-
keiten gegeben oder solche, die man einem Ding zuschreiben kann
und die es insofern hat. Damit treten Möglichkeit und Wirklichkeit
auseinander. Die Potenzen hingegen waren keine solchen Möglich-
keiten, die einem Ding zugeschrieben werden könnten. Diese all-
gemeine Verfassung eines endlichen Dings bringt Schelling nun mit
der Zeitlichkeit in Verbindung. Aufgrund der angegebenen Struktur
ist ein Ding zeitlich. Dies drückt Schelling auch noch mittels eines
Rückgriffs auf die Differenz von Sein und Begriff aus: Das Sein eines
endlichen Dings ist nicht vollständig durch seinen Begriff bestimmt
oder es ist »nicht auf einmal«, was es »dem Begriff nach seyn« könn-
te, d. h. es wird erst oder höchstens nach und nach seinem Begriff
immer mehr angemessen (SW VI, 275).
Erst wenn die Potenzen sich an endlichen Dingen darstellen, ent-
steht eine wirkliche Einschränkung: Die endlichen Dinge sind in ihrer
Potenz eingeschlossen. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung der
Bestimmung des Menschen als des Potenzlosen, als des aus aller Po-
tenz Losgelassenen. Erst an den endlichen Dingen wird die Potenz zur
Negation oder zum Ausschluss der anderen Potenzen: Ihr Weltein-
tritt ist auf dasjenige eingeschränkt oder ist auf jene Bedingungen
festgelegt, die sich aus der Potenz ergeben, zu welcher sie gehören
oder deren Fall sie sind. Die Potenz legt somit einen Spielraum fest,
innerhalb dessen das Ding sich bewegen kann, der aber zugleich eine
Schranke bildet, die es nicht zu überschreiten vermag. Dennoch wird
diese Negation nicht als eine Einschränkung seiner Freiheit empfun-
den. Diese Negation ist somit keine Beraubung: Ihm sind dadurch
keine Eigenschaften oder Möglichkeiten geraubt, die ihm eigentlich
zukommen müssten. Während z. B. das Tier in eine gewisse Lebens-
form eingebunden bleibt, ohne dass es das Wesen selbst direkt zur
Darstellung gelangen lassen kann, ist der Mensch als Vernunftwesen
178
Schelling 1804, 45 / SW VI, 45.
194
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
nicht länger an eine Potenz, deren Fall er ist, gebunden. Aus diesem
Grund bezeichnet Schelling die Vernunft auch als das Potenzlose, das
allen Potenzen gegenüber Freie oder das nicht an irgendeine Potenz
Gebundene. Deshalb spricht Schelling hier auch von einer Absonde-
rung: Dadurch haben die Dinge eine Eigenständigkeit oder Abge-
schlossenheit dem All gegenüber, indem ihnen Bestimmungen zu-
wachsen können, die ihnen nicht aufgrund ihrer Idee zukommen.
Die Negation oder die Absonderung ist indessen eine doppelte: Die
Potenzen können sich voneinander absondern oder die zu einer und
derselben Potenz gehörigen Dinge können sich voneinander abson-
dern. Das Prinzip dieser Absonderung ist die Ichheit oder die Selbst-
heit. Manche Dinge sondern sich nur minimal vom All ab, heben sich
nur geringfügig von ihrem Grund ab, behaupten diesem gegenüber
nur ein minimales Maß an Eigenständigkeit. Je höher aber der Reali-
tätsgrad der Potenz, desto ausgeprägter auch das Bewusstsein, die In-
dividualität, die Absonderung. Abstrahiert von einem in seiner Iden-
tität verwahrten Wirklichen gibt es jene Trennung indessen nicht.
Die Trennung hat nur Realität, insofern die Potenz an ein bereits
Wirkliches gebunden ist. Es handelt sich demnach um solche Eigen-
schaften, die einem Ding (als Fixpunkt) zuschreibbar sind. Dennoch
ist die Rede von ›Eigenschaften‹ oder ›Bestimmungen‹ insofern ein
wenig irreführend, als Schelling bemerkt, dass diese nur in Bezug
auf ein Bewusstsein Realität haben und somit eine Tat sind. Alle diese
›Eigenschaften‹ wären danach als Taten oder als Ergebnisse einer Tat-
handlung anzusehen. Der Schein liegt darin, dass dasjenige, was nur
in Bezug auf diesen Fixpunkt Realität hat, dennoch als eine Realität
an sich, unabhängig vom Ich, angesehen wird. Das Ich ist somit
gleichursprünglich mit diesem Schein, da es die Dinge als bloße Ob-
jekte betrachtet und sich als bloßes Subjekt. Schelling sieht die Leis-
tung der Wissenschaftslehre darin, dass sie gezeigt hat, wie dasjenige,
was als reine Objektivität erscheint, doch nur für das Ich oder unter
Voraussetzung des Subjekts Objekt ist. Damit ist konstruiert, wie al-
len endlichen Dingen eine Innenperspektive zukommt, die nur für sie
selbst zugänglich ist und die von außen nicht erreichbar ist.
Hier ist daran zu erinnern, dass die Potenzenkonstruktion der Be-
handlung der Frage nach dem Abfall oder der Individuation voran-
zugehen hat. Nichts betont Schelling so sehr wie die Priorität der
Naturphilosophie oder der Konstruktion der Potenzen. 179 In dieser
179
Vgl. AA I,10, 92; Schelling 1803c, 51 / SW IV, 424; SW VII, 427.
195
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
Konstruktion sind alle Potenzen gleichzeitig und gleich reell. Sie ist
deshalb mit einigem Recht auch als eine ›statische‹ Konstruktion zu
bezeichnen. 180 Anschließend ist in einer weiteren Untersuchung die
Entstehung wirklicher Differenzen auf der Grundlage dieser poten-
tiellen Differenzen zu klären oder die Frage, wie die Potenzen sich
voneinander absondern bzw. in einen Gegensatz zueinander gesetzt
zu werden vermögen, damit sie als Ideen gesonderter Seinsbereiche
gedacht werden können. Insofern die Potenzen in Beziehung auf ei-
nander gedacht werden, ergibt sich die Möglichkeit, einen Prozess zu
denken. Jeder Potenz entspricht eine ihr eigentümliche Form der Ich-
heit bzw. der Individuation. Entsprechend dem Realitätsgrad der Po-
tenzen ist in jeder höheren Potenz die Individualisierung dessen, was
Fall von ihr ist, ausgeprägter. So ist an dem, was Fall der niedrigsten
Potenz (der Schwere) ist, zwar noch ein Analogon von Individualität
zu erkennen, das Schelling als die Starrheit oder Kohäsion bezeich-
net. 181 Diese ist jedoch wie eine Minimalform oder der niedrigste Grad
von Individualität. Mit jeder Potenz korrespondiert somit ein eigen-
tümliches Prinzip der Individuation, und damit auch der Verräumli-
chung und Verzeitlichung. So gibt es im Planetensystem eine imma-
nente Zeitlichkeit. Die körperlichen Dinge hingegen sind bloß in der
Zeit, während Pflanzen und Tiere bereits in einem bestimmten Grade
eine eigene Zeit haben. Dagegen hat nur der Mensch eine geschicht-
liche Zeit oder eine solche Zeit, die nicht bloß nach drei Dimensionen
strukturiert ist, sondern zudem die Möglichkeit enthält, die Zeitlich-
keit in ihrer Dimensionalität auch als solche zu erfahren. 182
180 Für den Unterschied zwischen einer statischen und einer dynamischen Konstruk-
tion oder Genese, vgl. Hartkopf 1986, 210 f.
181 Vgl. AA I,10, 153 (§ 67); Schelling 1804, 41 / SW VI, 42; SW VI, 287 f. (§ 124).
182 Zu beachten sind folgende Andeutungen: Die Kohäsion wird als eine »Form des
196
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
Zugvögel, die ebenfalls eine eigene Zeit in sich haben, die dem periodisch Wieder-
kehrendem der Zeit gehorchen (auch hier also nur eine rotatorische Zeit). Diese peri-
odische Zeit ist letztlich nur eine Darstellung oder Wiederholung der kosmischen
Zeit, der Zeit des Umlaufs der Planeten bzw. der Erde um die Sonne. – Für eine erste
allgemeine und von daher vorläufige Deduktion der Zeit, vgl. SW VI, 220–227, 270–
277.
183 Vgl. Schelling 1802a, 124 / SW IV, 279.
184
Schelling 1802a, 123 f. / SW IV, 278.
185 Vgl. Schelling 1802a, 125 f. / SW IV, 279.
186
Schelling 1802a, 126 / SW IV, 280.
197
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
198
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
190 Schelling 1802a, 137 / SW IV, 285; vgl. Schelling 1802a, 130 / SW IV, 282.
191 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285 f.
192 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
193
Schelling 1804, 19 / SW VI, 28; vgl. Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.
194 Schelling 1802a, 131 / SW IV, 282.
195
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.
199
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
nötigt zu sein, präzisiert Schelling auch so, dass die »Trennung« oder
die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit mit dem Bewußtsein
gleichursprünglich ist. 196 Diese Trennung ist somit für das Bewusst-
sein konstitutiv. Sie hat aber nur in Ansehung des Bewusstseins
selbst oder nur für es Realität, nicht »in Ansehung des Absoluten«. 197
Das Bewusstsein vollzieht sich demnach als ein ›Losriss‹ vom Abso-
luten. Dabei bemerkt Schelling, dass wir »auch uns [zu] erinnern
[haben], wie allem, was aus jener Einheit hervorzugehn, oder von
ihr sich loszureißen scheint, in ihr zwar die Möglichkeit für sich zu
seyn vorher bestimmt sey«, oder dass die Ichheit oder die Seele ihrer
Möglichkeit oder idealen Struktur nach im Absoluten vorgezeichnet
sein muss, »die Wirklichkeit aber des abgesonderten Daseyns nur in
ihm selbst liege, und selbst blos ideell, als ideell aber nur in dem
Maaße statt finde, als ein Ding durch seine Art im Absoluten zu seyn,
fähig gemacht ist, sich selbst die Einheit zu seyn«: »[W]ir haben also
notwendig eine gedoppelte Ansicht der Seele«. 198
Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine solche doppelte Optik
aus dem Absoluten zu konstruieren, wenn es gilt, einen vollständigen
Begriff der Seele zu gewinnen. Jede der beiden Ansichten für sich
genommen liefert noch keinen Begriff von dem, was wir gewohnt
sind, ›Seele‹ zu nennen. Darauf macht Lucian aufmerksam, wenn er
sagt: »[S]etzen wir sie [die Seele, R. S.] bloß als sich beziehend auf
dieses, dessen Begriff sie ist [den Leib, R. S.], so setzen wir sie nicht
als unendliches Erkennen«. 199 Die Seele wird dann lediglich in ihrem
›objektiven‹ oder repräsentativen Charakter ins Auge gefasst, wäh-
rend die Selbstbezüglichkeit ausgeblendet wird, durch welche alles,
was für sie Objekt ist, zugleich nur in Beziehung auf sie gesetzt ist.
Setzen wir die Seele aber »bloß als unendlich, so setzen wir sie nicht
als Begriff eines existirenden Dinges, mithin selbst nicht als existi-
rend«, sondern bloß als Idee oder Wesen der Seele, wie diese in Gott
sind. 200 Wenn gesagt wird, dass beide »nothwendig vereinigt« sind,
»die Seele insofern sie mit dem Leib Eins, ja er selbst ist, und die
Seele, in so fern sie das unendliche Erkennen ist«, dann ist damit
Recht auf diese doppelte Ansicht oder Optik, unterlässt es aber, zu zeigen, inwiefern
diese für die Seele konstitutiv ist (vgl. Florig 2008, 77, 92 f.).
199 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 285.
200
Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
200
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
gemeint, dass beide gleichursprünglich sind. 201 Die Seele macht nur
mit dem Leib zusammen ein Individuum aus, so dass dieses sich auf
zwei Weisen zu erkennen gibt. Umgekehrt kann die Seele kein un-
endliches Erkennen sein, wenn sie nicht zugleich mit einem ihr ent-
sprechenden Leib gesetzt ist. Sie kann ja nur als ein Erkennen be-
stimmt werden, wenn es auch etwas gibt, das durch sie erkannt
wird. Das erste, was die Seele erkennt, ist aber der Leib. Die Seele
muss somit in zwei Hinsichten betrachtet werden: Erstens insofern
sie der Begriff von etwas ist oder ihrer ›repräsentativen‹ Seite nach,
andererseits als bloßer Modus des Erkennens. Diese beiden Seiten
sind notwendig vereinigt. Dies verweist auf ein Drittes, das beide ver-
einigt und die Identität beider garantiert und das Schelling die Idee
oder den »ewigen Begriff« der Seele nennt: »Nur diese Idee ist in
Gott, der Gegensatz aber von Differenz und Indifferenz«, also die
Unterscheidbarkeit der Seele als Begriff des Leibes und die Seele als
bloßer Erkenntnismodus, ist »nur in der Seele selbst, sofern sie exis-
tirt«. 202 Dieser Gegensatz gehört also lediglich zur Erscheinung; zu-
gleich ist er aber die Bedingung, damit die Idee selbst erscheinen
kann. Das Verhältnis von der Seele als unendlichem Erkennen zu
der Seele als Begriff des Leibes ist die Reflexion. Dieses reflexive Mo-
ment gehört ebenso wesentlich zum Begriff einer (existierenden)
Seele. Hier wird die Seele, als Begriff des Leibes, zum Objekt der Seele
selbst.
Diese drei Momente lassen sich an allen »endlich erkannten Din-
gen« nachweisen:
Denn auch die nicht existirenden Dinge und die Begriffe dieser Dinge
sind in dem Ewigen nicht anders als wie die existirenden Dinge und die
Begriffe dieser Dinge, nämlich auf eine ewige Weise enthalten. Hinwie-
derum sind auch die existirenden Dinge, und die Begriffe dieser Dinge
im Absoluten doch auf keine andre Weise, als auch die nicht existiren-
den Dinge und ihre Begriffe, nämlich in ihren Ideen […] Der Begriff
keines Einzelnen ist in Gott getrennt vom Begriff aller Dinge, die sind,
waren oder seyn werden […]. 203
Sowohl die nicht-existierenden als auch die existierenden Dinge wie
auch die ihnen entsprechenden Begriffe sind im Absoluten auf gleiche
Weise. Die Eigenschaften, die einem Ding dadurch zukommen, dass
201
Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
202 Schelling 1802a, 138 / SW IV, 286.
203
Schelling 1802a, 69 f. / SW IV, 251; vgl. SW VI, 534 (§ 297).
201
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
202
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
207 Vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 f. / SW VI, 42, 47, 52, 61.
208 Vgl. Schelling 1805b, 39, 50 / SW VII, 165 (§ 120), 173 (§ 155).
209 Vgl. SW VI, 552; Schelling 1805b, 50 / SW VII, 173.
210 Schelling 1804, 41, 64 / SW VI, 42, 57; vgl. SW VI, 124.
von Persönlichkeit. Der Begriff der intelligiblen Tat dient gerade dazu, die Zurech-
nungsfähigkeit der Handlungen einsichtig zu machen, d. h. zu zeigen, wie jene Tat
eben als eine Schuld oder ›Sünde‹ bezeichnet werden kann (vgl. Schelling 1809a, 467,
470, 472 / SW VII, 385, 387, 388).
203
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
der Privation« ansehen zu müssen. 212 Wenn man sich dadurch nun
darin bestätigt sehen möchte, dass der ›Abfall‹ nur eine Nothilfe und
Verlegenheitslösung darstellt, dann bleibt doch zu erwägen, dass bei-
des – die Einführung des Ausdrucks sowie deren Grund – sich im Text
so nah bei einander findet, dass der Verfasser der Schrift dies wohl
kaum hätte übersehen können. Der Abfall ist nicht von der Art, dass
ich ihm gegenwärtig hätte sein können, da ich selbst erst in Folge
desselben überhaupt hervortrete. Er ist demnach nicht von der Art
einer Tatsache, die sich feststellen ließe. Stattdessen sucht Schelling
Argumente dafür, dass irgendetwas von der Art hat statthaben müs-
sen, und zwar in solchen Gefühlen, die eine einzigartige Verfassung
aufweisen. So heißt es z. B. von der intelligiblen Tat, dass sie in »dem
Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch ist,
[…] freylich nicht vorkommen [kann], da sie ihm, wie dem Wesen,
vorangeht, es erst macht; aber sie ist darum doch keine That, von der
dem Menschen überall kein Bewusstseyn geblieben«. 213 Das ›Be-
wusstseyn‹ jener Tat geschieht in der Form bestimmter Gefühle oder
auch von sittlichen Urteilen, in welchen jenes sich bekundet. Es sind
dies Gefühle, in welchen sich eine Spur der Freiheit nachweisen
lässt. 214
Wie wir gesehen haben, hatte Schelling mit dem fichteschen Be-
griff der Ichheit zugleich die Bestimmung des Endlichen als Tat-
Handlung übernommen und auf alles endliche Seiende ausgeweitet.
Diesen Charakter des Seins des Endlichen bezeichnet Schelling in der
Freiheitsschrift als den formellen Begriff der Freiheit. Dies geht aus
einer Stelle hervor, wo es heißt, dass wir dem Idealismus Fichtes »den
ersten vollkommnen Begriff der formellen Freyheit verdanken«. 215
An diesem bemängelt Schelling allerdings, dass Fichte es unterlassen
hat nachzuweisen, dass »alles Wirkliche (die Natur, die Welt der Din-
ge) Thätigkeit, Leben und Freyheit zum Grund habe, oder im Fich-
te’schen Ausdruck, dass nicht allein die Ichheit alles, sondern auch
umgekehrt alles Ichheit sey«. 216 So geht in Philosophie und Religion,
wie wir gesehen haben, die Aufnahme des fichteschen Begriffs der
Ichheit mit dem Nachweis einher, dass die Ichheit »das allgemeine
heit (vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59; vgl. dazu auch SW VII, 459 f.).
215 Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351.
216
Schelling 1809a, 420 / SW VII, 351; Herv. v. Verf.
204
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
Princip der Endlichkeit« ist. 217 Diesen Begriff der formellen Freiheit
des nicht-menschlichen Seienden behandelt Schelling in der Frei-
heitsschrift nicht ausführlich, sondern er begnügt sich mit einigen
Hinweisen. So ist es die »Aufgabe einer vollständigen Naturphiloso-
phie«, nachzuweisen, dass
das allerinnerste Band der Kräfte nur in einer stuffenweise geschehen-
den Entfaltung sich löst; und bei jedem Grade der Scheidung der Kräfte
ein neues Wesen aus der Natur entsteht, dessen Seele um so vollkomm-
ner seyn muss, je mehr es das, was in den andern noch ungeschieden ist,
geschieden enthält. 218
Dort, wo in der Freiheitsschrift ausführlich von diesem formellen
Freiheitsbegriff die Rede ist, ist diese Behandlung von vornherein
auf den Menschen zugeschnitten. 219 Nachdem im Vorhergehenden
besonders der reale Begriff der Freiheit erörtert wurde, und zwar in
der Gestalt, die er in der höchsten Potenz, d. h. im Menschen, an-
nimmt, nämlich als ein Vermögen zum Guten und zum Bösen, ist
auch die gesonderte Behandlung des formellen Begriffs bereits auf
den vorher gewonnenen realen Begriff zugeschnitten. Der reale Be-
griff der Freiheit bestand darin, sie als Vermögen zum Guten und
zum Bösen zu denken. Diese Handlungsvielfalt ist aber erst dann ein
wirklicher Begriff der Freiheit oder Komponente eines solchen, wenn
auch der formelle Aspekt betrachtet wird, nämlich dass die Realisie-
rung des einen oder anderen Modus dem einzelnen Menschen auch
tatsächlich zugeschrieben werden kann. Schelling bemerkt zu Recht,
dass dies bislang nur »weniger in’s Auge gefasst« wurde. 220 So war
bereits früher die Rede von der Unentschiedenheit und der Unmög-
lichkeit, in derselben zu bleiben, also der Notwendigkeit, sich zu ent-
scheiden. Der »gewöhnliche Begriff der Freyheit« nun hebt nur auf
diesen formellen Aspekt ab, wonach die Freiheit in die Freiheit der
Wahl gesetzt wird. Dies ist aber eine ungenügende Erfassung dessen,
was besser Entscheidung hieße. 221
221 Diesen setzt Schelling dort von dem »gewöhnliche[n] Begriff der Freyheit, nach
welchem sie in ein völlig unbestimmtes Vermögen gesetzt wird, von zwei kontradik-
torisch Entgegengesetzten, ohne bestimmende Gründe, das eine oder das andre zu
wollen, schlechthin bloss, weil es gewollt wird«, ab (Schelling 1809a, 463 / SW VII,
382). Die Kritik am ›gewöhnlichen Begriff der Freyheit‹ als Willkür bildet auch den
205
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
roten Faden in der Behandlung der Potenz des Handelns in den Würzburger Vor-
lesungen (vgl. SW VI, 539, 540, 541, 558, 560). Als exemplarischer Vertreter dieses
Begriffs galt Schelling Reinhold. – Für den Unterschied zwischen Entscheidung und
Wahl, vgl. Wieland 1956, 33.
222 Aus einer Bemerkung im System des transscendentalen Idealismus geht hervor,
dass Schelling bereits 1800 beide Lehren miteinander in Verbindung gebracht hat
(vgl. AA I,9,1, 279). Vgl. dazu Leinkauf 1998, 171, 178.
223 Schelling 1809a, 465 / SW VII, 383.
224
Schelling 1809a, 465, 466 f. / SW VII, 383, 384.
225 Vgl. Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385: »das Wesen des Menschen ist wesentlich
seine eigne That«; »Das Ich, sagt Fichte, ist seine eigne That«. Kurz vorher hatte
Schelling bemerkt, dass er hier die kantische Lehre »nicht eben genau mit seinen
Worten« ausdrückt (Schelling 1809a, 466 / SW VII, 384). Diese Formulierung er-
innert an die Maxime von Schellings Kant-Deutung, die er 1797 in einer Abhandlung
formulierte (vgl. AA I,4, 102), die er in einer überarbeiteten Fassung unter dem neuen
Titel Abhandlungen zur Erläuterungen des Idealismus der Wissenschatfslehre in
dem Band der Philosophischen Schriften veröffentlichte, in welchem auch die Frei-
heitsschrift erstveröffentlicht wurde. An der zitierten Stelle wird nun deutlich, dass er
206
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
hört selbst nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit an: sie geht dem Le-
ben auch nicht der Zeit nach voran, sondern durch die Zeit, (unergrif-
fen von ihr), hindurch als eine der Natur nach ewige That«. 226
In dem Bewusstseyn, sofern es blosses Selbsterfassen und nur idealisch
ist, kann jene freye That, die zur Nothwendigkeit wird, freylich nicht
vorkommen, da sie ihm, wie dem Wesen, vorangeht, es erst macht; aber
sie ist darum doch keine That, von der dem Menschen überall kein Be-
wusstseyn geblieben. 227
Das Wesen des Menschen darf kein »ihm bloss gegebenes« sein, das
er einfach vorfindet und hinzunehmen hätte, sondern es muss der
Mensch an diesem seinem Wesen selbst beteiligt sein. 228 Formell ist
die kantische Lehre nicht mit Kants eigenen, sondern mit den Worten Fichtes aus-
drückt. Schellings erklärte Absicht mit den erwähnten Abhandlungen bestand darin,
die kantische Lehre dadurch konsistent darzustellen, dass er sie in die fichtesche Be-
grifflichkeit übersetzt. Vgl. Leinkauf 1998, 160, 169 f., 183 f. Für die unterschiedliche
Aufnahme dieses Begriffs durch Schelling und Schopenhauer vgl. Hühn 1998, 85,
92 f.
226 Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385 f. Vgl. dazu Leinkauf 1998, 158, 187, 159, 170,
160 f.: Es handelt sich nicht so sehr um eine besondere Tat, sondern um eine Tat oder
Tathandlung, die angenommen werden muss, um alle anderen Taten erklären zu kön-
nen, demnach um einen ›formalen Grund‹. Deshalb betont Schelling, dass diese Tat
allen Taten nicht der Zeit, sondern dem Begriff nach vorangeht und dass die Tathand-
lung eine ewige Handlung ist. Man kann also alle Taten nicht chronologisch als nach
dieser Tat und aus ihr folgend darstellen, sondern man kann nur ausgehend von jenen
Taten auf sie zurückschließen. Nur so können wir auch alle nachfolgenden Taten als
frei und d. h. von sittlicher Bedeutung und zurechnenbar begreifen. Deshalb spricht
Leinkauf zutreffend von einem »unhintergreifbare[n] unkorrigierbare[n] Perfekt des
sich-Zugezogenhabens«, von einer »nur ex post zu konstatierende[n] Tatsache«, von
einem »immer schon geschehen seienden Akt«, kurz: von einer absoluten Vergangen-
heit. Die Geschichte selbst, die Verwicklung mit dem Endlichen, stellt sich zunächst
als ein Verhängnis dar, das einfach aus dieser ursprünglichen Tat folgt; wie wir im
nächsten Kapitel noch sehen werden, kann ihr aber auch eine andere Qualität zuwach-
sen.
227 Schelling 1809a, 469 / SW VII, 386. Gegen den ›gewöhnlichen Begriff der Frey-
heit‹ führt Schelling folgendes an: (1.) Ein solches Handeln wäre unvernünftig; man
wäre nicht imstande, seine Handlungen zu rechtfertigen; (2.) der einzig mögliche Be-
weis für eine solche Freiheit sind immer nur ganz triviale Beispiele; (3.) das Nicht-
wissen eines Grundes vermag noch nicht auszuschließen, dass nicht im Verborgenen
doch ein Grund wirksam ist; vielmehr ist es wahrscheinlich, dass man gerade dann
durch unbekannte Gründe bestimmt werde; (4.) der Haupteinwand ist jedoch, dass
»dieser Begriff eine gänzliche Zufälligkeit der einzelnen Handlungen einführt«, d. h.
die Handlungen sind nicht länger Ausdruck eines Charakters oder der Person (Schel-
ling 1809a, 464 / SW VII, 383).
228
Schelling 1809a, 467 / SW VII, 385.
207
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
229 Schelling 1809a, 468 / SW VII, 385. Vgl. den berühmten Satz, dass es »gar kein
andres Seyn als Wollen« gibt, dass »Wollen […] Urseyn« ist; dies gilt allerdings nur
»in der letzten und höchsten Instanz«, d. h. im Menschen (Schelling 1809a, 419 /
SW VII, 350).
230 Vgl. Leinkauf 1998, 199: »Diese positive, ja konstitutive Bedeutung [des Charak-
ters als Quelle von Freiheit, R. S.] kann er […] nur aus der Wurzel seines Zustande-
kommens haben, aus der Tatsache, daß die charakterliche Individuation einerseits die
Bedingung jeder Individuation teilt, d. h. der singuläre inverse Ausdruck der Negation
aller anderen Faktoren einer Totalität oder Ganzheit zu sein, und andererseits diese
passiv ausfüllende, kombinatorische Bedingung dadurch transzendiert, daß in der
Einzigkeit des Charakters durch diese Negation die Positivität von Freiheit vermittelt
ist, die darin besteht, daß für bewußtes, intelligentes Sein das negierte Andere auf-
gehoben ist in einen aktiven Horizont von Realisierungsmöglichkeiten. Diese aller-
dings sind, indem sie frei sind, zugleich gebunden an den Index des Individuellen. Das
genau ist ja Charakter: einen potentiell unendlichen Handlungsreichtum dennoch
unter die unerbittliche Schranke eines durch nichts substituierbaren individuellen
Kerns zu versammeln«.
231
Schelling 1804, 69 / SW VI, 61.
208
Die Wirklichkeit des Abfalls: Schellings Lehre von der Seele
* * *
Wir können die Vorzüge des Begriffs des Abfalls wie folgt zusam-
menfassen: Erstens verführt er den unaufmerksameren Leser dazu,
in ihn die Sündenfallslehre hineinzulesen und damit eine Überein-
stimmung zwischen Schellings Lehre und der christlichen Lehre an-
zunehmen. Die Rezeption hat gezeigt, dass Schelling in dieser Hin-
sicht nicht ganz ohne Erfolg geblieben ist. Zweitens kann der Begriff
auch leicht als eine bloße Verlegenheitslösung aufgefasst werden, so-
dass es sich kaum lohnt, sich näher mit ihm zu befassen. Auch auf
diese Weise gelingt es, solche Leser, für welche Schellings Lehre nicht
232
Es scheint mir, dass dieser Umstand in den Untersuchungen zum Thema nicht
ausreichend beachtet wurde. Vgl. Shibuya 2005; Florig 2010a.
233
Vgl. Buchheim 2004, 23–27.
209
3. Kapitel. Absolutes und Abfall
210
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
211
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
tem für das Böse überhaupt keinen Platz gibt, um von der Persönlich-
keit ganz zu schweigen, die sogar kein einziges Mal auch nur erwähnt
wird. Die Erklärung scheint somit nur dadurch motiviert, dass Schel-
ling den Neuansatz, den er mit der Freiheitsschrift gemacht hätte, für
seine Leser, vielleicht sogar für sich selbst, hat verschleiern wollen,
um eine Kontinuität vorzutäuschen, für welche es in der Sache keinen
Grund gibt. Dennoch ist es befremdlich, dass es für Freiheit, Gut und
Böse und Persönlichkeit in dem System, von welchem Philosophie
und Religion die ideelle Seite wenigstens darzustellen anfangen
möchte, keinen Ort geben würde, da die Schrift doch in erster Linie
einen Einwand Eschenmayers zu widerlegen beabsichtigt, wonach das
schellingsche System der Philosophie ›die Tugend ausschließe‹. Da
die Rede von Tugend ohne Freiheit, ohne einen Unterschied von Gut
und Böse und ohne Persönlichkeit oder Zuschreibbarkeit von Hand-
lungen gegenstandslos scheint, ist kaum zu ersehen, wie Schelling
jenen Einwand zu widerlegen vermöchte, wenn er nicht die genann-
ten Hauptpunkte zur Sprache brächte.
Im dritten und vierten Abschnitt von Philosophie und Religion
führt Schelling die Darstellung seines Systems endlich »bis zu dem-
jenigen Gebiet, (dem der praktischen Philosophie)« fort, das in frühe-
ren Darstellungen noch nicht beschritten wurde. 3 Obwohl er verspro-
chen hatte, im zweiten Abschnitt den »Schleyer« von der Frage nach
der Endlichkeit »ganz hinwegzuheben«, so ist die vollständige Lö-
sung dieser Frage doch erst auf dem Gebiet der praktischen Philoso-
phie zu suchen. 4 Dementsprechend erhält auch der Begriff des Ab-
falls, den er zur Lösung der Frage nach der Endlichkeit eingeführt
212
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
5 Vgl. Schelling 1804, 43–52 / SW VI, 44–49 mit Schelling 1804, 20, 64, 73 / SW VI,
29, 57, 63.
6 Vgl. Schelling 1805b, 87 / SW VII, 197; Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334,
410.
213
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
7
Schelling 1803a, 146 / SW V, 277.
214
Das Problem der Darstellung
Der Anlass für die Weiterführung der Darstellung des Systems auf
dem Gebiet der praktischen Philosophie scheint zunächst ein pole-
mischer. Im Zentrum des dritten Abschnitts steht Eschenmayers kri-
tische Bemerkung, dass Schelling »den intelligiblen Pol oder die
Gemeinschaft vernünftiger Wesen […] in keiner seiner Schriften
deutlich und ausführlich berührt, und dadurch die Tugend als eine
der Grundideen aus der Vernunft ausgeschlossen« hat. 9 Der Einwand
enthält zwei Behauptungen. Die erste gibt sich als eine einfache Be-
obachtung, nämlich dass Schelling »in keiner seiner Schriften deut-
lich und ausführlich« von der ideellen Philosophie oder dem »intelli-
giblen Pol« gehandelt habe. Es scheint also nicht die Rede davon, dass
Schelling nirgends und überhaupt nicht Themen der praktischen Phi-
losophie ›berührt‹ habe. In der Tat zeigt sich einer genaueren Betrach-
tung, dass Schelling immer wieder auf solche Themen zu sprechen
kommt, wenn auch in der Tat nicht mit aller vielleicht wünschens-
werten Deutlichkeit und Ausführlichkeit. So hatte er sich 1802 in
einer Abhandlung Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur
Philosophie überhaupt besonders gegen die praktischen Konsequen-
zen der fichteschen Philosophie gewandt und einige wichtige Andeu-
tungen über die sich aus der Naturphilosophie ergebende Ansicht der
Sittlichkeit und der Religion hinzugefügt. 10 Auch in den gleichzeitig
gehaltenen und ein Jahr später veröffentlichten Vorlesungen über die
Methode des academischen Studium nehmen ethische Fragen einen
großen Raum ein. 11 Besonders am Schluss des gleichzeitigen Rein-
hold-Gesprächs treten die ethische Fragen, die den Hintergrund des
276–279.
215
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Gesprächs bilden, deutlicher hervor und werfen ihr Licht auf das vo-
rangegangene Gespräch zurück. Dort gibt Schelling nämlich zu ver-
stehen, dass insbesondere die Tatsache, dass Reinhold, wie es ein kurz
zuvor von ihm veröffentlichter Aufsatz belegte, weiterhin an seiner
»heillose[n] Theorie« der Willkür festhielt und es nicht für nötig
hielt, auf die von Schelling dagegen bereits 1797 vorgebrachten kriti-
schen Bedenken einzugehen, ihn dazu bewegt hat, dieses Gespräch zu
verfassen und zu veröffentlichen. 12 Zu der ebenfalls 1802 veröffent-
lichten Rezension einiger Werke von Joseph Rückert und Christian
Weiß, deren Umfang kaum durch den philosophischen Gehalt ihrer
Schriften gerechtfertigt ist, scheint Schelling in erster Linie ihr Pro-
gramm einer ›durchaus praktischen Philosophie‹ bewegt zu haben.
Wo in den genannten Schriften Fragen der praktischen Philosophie
nur in polemischem Zusammenhang und punktuell behandelt wer-
den, da konstruieren die Ferneren Darstellungen parallel zur reellen
Reihe den Umriss der ideellen Reihe, deren zweite Potenz die des
Handelns ist. 13 Wenn die ideelle Reihe dort auch nicht ausgeführt
wird, so war daraus wenigstens ersichtlich, dass sie wesentlich zum
System der Philosophie gehört. Im Bruno schließlich deutet Schelling
an, dass die dort entwickelte Naturphilosophie auch den »Antrieb
eines seligen und göttlichen Lebens« enthalte. 14
Die Behauptung, wonach Schelling bis dahin ›in keiner seiner
Schriften‹ die praktische Philosophie auch nur ›berührt‹ hätte, erweist
sich damit als nachweislich falsch. Allerdings scheint Eschenmayer
sich auch nicht auf eine solche starke These festlegen zu wollen, da
er seine Behauptung sogleich durch die Bemerkung präzisiert und
abschwächt, dass Schelling diese Fragen nur nicht ›deutlich und aus-
führlich berührt‹ hat. Er bemängelt somit nur die Art und Weise, wie
Schelling diese Fragen bislang behandelt hat. 15 Dieser Version des
Einwands ist nun vollends zuzustimmen. Schelling selbst scheint sie
wieder auf, wo er bemerkt, dass auf die »Lehre des Absoluten« und auf die von der
»ewigen Geburt der Dinge« (nur diese waren im Bruno behandelt worden) »die ganze
Ethik als die Anweisung zu einem seligen Leben […] erst gegründet« ist (Schelling
1804, 3 / SW VI, 17; vgl. Schelling 1804, 35 f. / SW VI, 38 f.).
15 Schelling selbst macht darauf aufmerksam: Weil er »die sittliche Gemeinschaft ver-
nünftiger Wesen in seinen Schriften nicht ausführlich und deutlich berührt, (also nur
nicht auf diese Weise berührt) hat, hat er die Idee der Tugend positiv ausgeschlossen«
(Schelling 1804, 60 / SW VI, 54).
216
Das Problem der Darstellung
führlichkeit behandelt, so kann man dennoch bezweifeln, ob sie dadurch auch in aller
Hinsicht ›deutlich‹ ist oder es auch nur zu sein beabsichtigt.
19
So beispielsweise Florig 2010a, 12, 43 f. Auch Horst Fuhrmans meint, dass das
217
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
System Schellings »überhaupt keinen Raum habe für eine eigentliche Ethik« (Fuhr-
mans 1954, 168). Auf welche Vorstellung von ›Ethik‹ sich solche ›Beobachtungen‹
stützen, lässt er unerörtert. Schelling gibt jedoch mehrmals zu erkennen, dass eine
Ethik oder Sittenlehre, wie er sie versteht, »noch nicht existirt« und somit kaum etwas
mit den geläufigen Vorstellungen von ›Ethik‹ gemeinsam haben dürfte (Schelling
1803a, 146 / SW V, 277; vgl. Schelling 1802f, 15, 22 / SW V, 116, 122; Schelling 1804,
60 f. / SW VI, 55; SW VI, 556, 559).
20
Schelling 1804, III / SW VI, 13; vgl. auch Schelling 1809a, IX, 503 / SW VII, 334,
410.
21
Schelling 1804, 53 / SW VI, 50.
218
Das Problem der Darstellung
27 Vgl. Schelling 1804, 64–68 / SW VI, 57–59 (21. bis 26. Absatz).
28
Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60 mit Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.
29 Vgl. Schelling 1804, 68–73 / SW VI, 60–63 (2. bis 11. Absatz). Vgl. Eschenmayer
1803, 81 (§ 80).
219
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
220
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
39 Schelling 1804, 70 / SW VI, 61. Vgl. Schelling 1804, 70 / SW VI, 61: »[D]er noth-
wendige Begriff, durch welchen allein die Gegenwart mit der Zukunft verknüpft wird,
ist der der Schuld oder der Reinheit von der Schuld«. Aus der ersten Hälfte des Satzes
geht hervor, dass durch den Begriff der Strafe die Gegenwart mit der Vergangenheit
221
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
verknüpft wird (vgl. Schelling 1804, 40, 49, 56, 70 / SW VI, 42, 47, 52, 61; s. u.). So
bezieht auch das ›Schicksal‹ sich in erster Linie auf die Vergangenheit, während die
›Vorsehung‹ auf die Zukunft geht. Daraus ist auch zu ersehen, weshalb Schelling hier
nur zwei Begriffe unterscheidet und entsprechend an der Geschichte nur »zwei
Hauptpartien« unterscheidet, während er sonst immer drei Perioden unterscheidet
(Schelling 1804, 64 / SW VI, 57).
40 Schelling 1804, 59 f. / SW VI, 54.
41
Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86).
42 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); von Schelling 1804, 59 / SW VI, 54, zitiert.
43
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.
222
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
44 Eschenmayer 1803, 6 (§ 10), 8 (§ 12). Auch § 23 scheint von einer solchen ›Aus-
schließung‹ die Rede zu sein, wenn Eschenmayer bemerkt, dass die »Idee der Ewigkeit
[…] bisher blos ein ausschliessender Besitz der Religion [war]« und die »Spekulation
[…] vor ihr zurück[floh]«, während Schelling diese unrechtmäßige Ausschließung
aufhob, »indem er die Idee der Ewigkeit als ihre [sc. der Spekulation, R. S.] höchste
Potenz aufstellte« (Eschenmayer 1803, 16 f.).
45 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41).
46
Vgl. Eschenmayer 1803, 32 f. (§ 41), 34 (§ 43), 52 f. (§ 59), 75 (§ 76).
223
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Bei Eschenmayer finden sich sowohl Stellen, die für eine positive,
als auch solche, die für eine negative Antwort auf die Frage nach der
Möglichkeit einer Integration der Tugend in der Philosophie spre-
chen. Aus mehreren Stellen geht eindeutig hervor, dass die Tugend
für Eschenmayer zur Philosophie gehört und sogar den Gegenstand
einer eigenen philosophischen Disziplin (der Moralphilosophie) bil-
det. 47 Allerdings behauptet Eschenmayer auch mehrmals und ebenso
eindeutig, dass nur das Erkennen Gegenstand der Spekulation ist und
alles, was über es hinausgeht, nur dem Glauben zugänglich ist und
dadurch zur Nichtphilosophie gehört. Wenn er außerdem behauptet,
dass der Wille nicht aus dem Erkennen ableitbar ist, sondern nur
durch eine Überschreitung desselben einsichtig wird, dann scheint er
damit zuzugeben, dass der Wille und damit auch die Tugend nicht zur
Philosophie gehören. Dessen ungeachtet ordnet er den Willen mit
dem Erkennen zusammen dem ›Diesseits‹ zu und setzt beide dem
Glauben als zum ›Jenseits‹ gehörig entgegen. Der zugrundeliegende
Gedanke scheint folgender zu sein: Während das Erkennen sich aus-
schließlich innerhalb des ›Diesseits‹ bewegt und demnach ohne eine
Überschreitung des ›Diesseits‹ vollständig erschließbar und in einen
systematischen Zusammenhang zu bringen ist, so bewegt auch der
Wille sich zwar im ›Diesseits‹, enthält aber ein Element, das sich aus
diesem allein nicht einsehen lässt. Während der Glaube sich aus-
schließlich auf das ›Jenseits‹ bezieht und dadurch gänzlich »der Spe-
kulation entrückt« ist, 48 so geht im Willen zwar ein Element aus dem
›Jenseits‹ ein, das daran hindert, ihn bloß aus dem ›Diesseits‹ abzulei-
ten, durch seine Beziehung auf dieses dennoch eine philosophische
Durchdringung erlaubt. Anders als der Glaube ist der Wille nicht
gänzlich ›der Spekulation entrückt‹. Um bestimmte Dimensionen
des menschlichen Daseins wie z. B. den Willen zu erschließen, muss
man somit zwar aus dem Glauben entlehnte Elemente in Anspruch
47
So z. B. Eschenmayer 1803, I (Vorbericht): »Wenn ich zur Philosophie alles rechne,
was Gegenstand des Erkennens und Handelns ist, sowohl in dem sichtbaren Univer-
sum als in der intellektuellen Gemeinschaft vernünftiger Wesen, so werden Gegen-
stände der Nichtphilosophie solche seyn, welche weder für das Wollen noch Erkennen
erreichbar sind« (Herv. v. Verf.); und 24 (§ 30): »Die höchsten Systeme sind das Sys-
tem der Naturphilosophie und das System der Moralphilosophie. Das erste hängt in
der Idee der Nothwendigkeit, das andere in der Idee der Freyheit zusammen – aber
beyde sind verknüpft in dem System aller Systeme – in der Vernunft« (Herv. v. Verf).
Vgl. auch 62 (§ 69), 75–78 (§§ 76–79).
48
Eschenmayer 1803, I (Vorbericht).
224
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
53
Vgl. Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58).
225
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
226
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
58 Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58). Die Konstruktion oder die Entwicklung der ›ersten
Ansicht‹ scheint mit § 29 weitgehend abgeschlossen. Ab § 34 wird der Übergang zum
Glauben und damit zur ›zweiten Ansicht‹ eingeleitet.
59
Vgl. Eschenmayer 1803, 1 (§ 2).
227
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
und zugleich, was sie aus eigener Kraft nicht zu leisten vermag. Die
Philosophie ist danach auf die Instanz der Nichtphilosophie angewie-
sen, um Einsicht in ihr eigenes Wesen zu erlangen. Während nach der
ersten Ansicht alle Gegensätze aufgehoben sind, erschließt die zweite
Ansicht einen weiteren Gegensatz, der von allen Reflexionsgegen-
sätzen dadurch verschieden ist, dass er durch die Spekulation nicht
mehr vermittelt werden kann. Da die Philosophie zu dieser Einsicht
in ihre eigene Natur nicht aus eigener Kraft gelangen kann, muss es
ihr zwangsläufig so erscheinen, als ob mit der absoluten Identität alle
Gegensätze aufgehoben sind, während sich erst für die veränderte
Ansicht zeigt, dass durch die Aufhebung dieser Gegensätze nicht alle
Gegensätze aufgehoben sind. Ohne Rekurs auf die Nichtphilosophie
vermag die Philosophie dieses unvermittelbaren Gegensatzes nicht
ansichtig zu werden, den Eschenmayer als den Gegensatz zwischen
»Diesseits« und »Jenseits« oder zwischen der »sichtbaren« und »un-
sichtbaren« Welt bezeichnet. 60
Wenn Eschenmayer behauptet, der Wille trägt ›alle Spuren von
einer Abkunft jenseits des Absoluten in sich‹, dann sind diese nur
aus diesem Gegensatz zu erklären. Erstens ist der Wille nicht ohne
Freiheit denkbar. Der Wille, der nur auf das »Diesseits« gerichtet oder
»ans Endliche gefesselt« ist, 61 kennt jedoch nur eine Richtung, wes-
halb Eschenmayer auch behaupten kann, dass in einem solchen Wil-
len die Notwendigkeit überwiegt. Dies ist der Wille im Modus des
Erkennens. Das Erkennen oder die ›Fesselung‹ des Willens am End-
lichen im Erkennen ist also nur ein Modus des Willens. 62 Zweitens
kann ein Wille ohne den Gegensatz von Diesseits und Jenseits nicht
als frei bezeichnet werden, da die Freiheit nicht ohne eine doppelte
Richtung denkbar ist. Der Wille selbst ist die Indifferenz beider Rich-
tungen. Die ›Spuren‹, wonach eine Ableitung des Willens aus der
absoluten Identität undurchführbar erscheinen muss, entstammen
Eschenmayer zufolge zuallererst der Möglichkeit dieser doppelten
Richtung, während im Erkennen »die Richtung nur gegen einen
Punkt möglich ist«: »Der Wille bringt daher aus der unsichtbaren
Welt die Möglichkeit aller Richtungen oder die Freyheit mit, und
erhält erst in der diesseitigen Welt den Zwang nach einer Richtung
60
Eschenmayer 1803, 53 (§ 59), 54 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 15 (§ 21), 46 (§ 54).
61 Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).
62
Vgl. Eschenmayer 1803, 48 (§ 56), 52 (§ 58).
228
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
67
Eschenmayer 1803, 54 (§ 60).
229
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
72
Dies stellt Eschenmayer in seinen Briefen noch deutlicher heraus: »Will der Philo-
soph ein getreues Nachbild von dem Wesen der Vernunft als dem Urbild entwerfen,
was vermittelst der intellectuellen Anschauung zu Stande kommt, so muß ihm die
Vernunft (oder das Urbild oder die Indifferenz im Ewigen) ganz und völlig zum Object
werden. Wird aber die Vernunft als das Urbild ganz zum Object, wo ist alsdann das
Auge noch, das die Gleichheit und Aehnlichkeit des Urbildes mit dem Nachbilde –
oder der Vernunft mit der entworfenen Idee des Absoluten erkennt und anschaut?«
Und: »Unmittelbarer ist das, was ich hier meyne, in dem Unterschiede beider folgen-
der Fragen enthalten: Ist Gott in Uns? oder – sind wir in Gott« (C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 109 f.).
230
Eschenmayers Einwand: Die ›Ausschließung der Tugend‹
ist. 73 Dieser Gegensatz ist nach Eschenmayer ein Postulat der Phi-
losophie, eine Voraussetzung, zu welcher sie genötigt werden kann,
ohne sie doch selbst begründen und dadurch einholen zu können: Er
ist »blos durch Offenbarung vorhanden«. 74 Dieses Postulat entlehnt
die Philosophie der Nichtphilosophie: »So wahr es ist, daß alle Gegen-
sätze der Erkenntnißsphäre in der absoluten Identität aufgehoben
sind, so wenig möglich ist es, über den Hauptgegensatz des Diesseits
und des Jenseits hinauszukommen«. 75 Das Erkennen vermag diesen
Gegensatz nur als gegeben anzuerkennen. Zudem vermag auch der
Glaube nicht, darüber hinauszugehen: Der Glaube besteht gerade in
der Anerkennung dieses Gegensatzes und seiner Unaufhebbarkeit.
Es ist Eschenmayer somit nicht lediglich darum zu tun, auf die
Eigenständigkeit des Glaubens im Verhältnis zum Erkennen hin-
zuweisen, so, als ob beide Bereiche nebeneinander bestehen könnten:
Der Übergang der Philosophie zur Nichtphilosophie vollzieht sich als
die Einsicht in die Abhängigkeit des Erkennens vom Glauben und der
Philosophie von der Nichtphilosophie. Mit ihm behauptet Eschen-
mayer ein Primat des Glaubens vor dem Wissen. 76 Durch die ›zweite
Ansicht‹ erfährt die absolute Identität, die für die ›erste Ansicht‹ als
das Höchste gilt, in welchem die Spekulation ihre Erfüllung findet
und wonach für diese ›nichts zu wünschen übrig bleibt‹, eine Herab-
setzung oder Depotenzierung: Die für die Spekulation höchste Potenz
erweist sich als ein bloß »Vermitteltes«. 77 Durch die Anerkennung der
Unaufhebbarkeit dieses Gegensatzes und damit der Grenze der Phi-
losophie verwandelt die intellektuelle Anschauung sich in Gewissen,
das Eschenmayer als das Vermögen bestimmt, das »uns von dem jen-
seits des Absoluten unterrichtet«. 78 Für diese Weiterbestimmung fin-
det sich bei Schelling kein Beispiel; es findet sich auch keine einzige
Stelle, die eine solche Umdeutung auch nur veranlasst haben könnte:
73
Eschenmayer 1803, 2 (§ 4).
74 Eschenmayer 1803, 55 (§ 60); vgl. Eschenmayer 1803, 59 (§ 66), 106 (§ 100).
75
Eschenmayer 1803, 54 (§ 60); von Schelling 1804, 54 / SW VI, 50, zitiert.
76 Vgl. auch Eschenmayer 1803, 56 (§ 62): »Für das Diesseits ist die Vernunft abso-
lut […]; für das Jenseits […] hört die Absolutheit der Vernunft auf«; und 57 (§ 63):
»[S]ie [die Spekulation, R. S.] erblickt sich abhängig«. Vgl. auch 57 (§ 64), 59 (§ 66), 76
(§ 77). C. A. Eschenmayer an F. W. J. Schelling, 30. März 1804, Fuhrmans, Briefe III,
69: »[I]ch gestehe, noch keine befriedigendere Auflösung der höchsten Probleme in
der Philosophie zu kennen, als durch die Annahme der Abhängigkeit des Wissens
vom Glauben«.
77 Eschenmayer 1803, 56 (§ 62).
78
Eschenmayer 1803, 33 (§ 42), 35 (§ 44).
231
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
79 Eschenmayer 1803, 38 (§ 48), 40 (§ 49); Herv. v. Verf. Vgl. dazu auch Florig 2008,
86.
80 Dieses Motiv hat Schelling noch deutlicher in seiner Auseinandersetzung mit Rü-
ckert und Weiß ausgemacht: »›Jetzt ist die Aussicht eröffnet zu einer andern nicht auf
Theorie gebauten Philosophie,‹ welche also auch alle die Fehler vermeidet, die an den
andern gerügt worden sind, nämlich, daß sie diejenigen ausschließt, die nicht Gaben
genug haben, um sich zur Einsicht in Principien zu erheben« (Schelling 1802e, 82 /
SW V, 83). Schelling bezieht sich dabei auf folgenden Satz, der seiner Ansicht nach
das Motiv oder die Triebfeder des Programms von Rückert und Weiß am deutlichsten
erkennen lässt: »Alle bisherige Philosophie hat die Eigenthümlichkeit gehabt, daß
man ihre Grundsätze mit dem Verstande aufgefaßt haben oder wissen mußte, bevor
man zu ihrem vollen Besitze gelangen konnte. So richtig dieser Weg scheinen mag, so
hat er doch dieß gegen sich, daß alle diejenigen übel berathen bleiben, welche bei dem
besten Willen nicht im Stande sind, sich mit ihrem Verstande zu jener Einsicht in die
Wahrheit der Principien zu erheben. Soll dann die Philosophie Weisheitslehre seyn,
und zwar zu der Weisheit der einzige richtige Weg, so scheint allen denen die Weis-
heit versagt zu seyn, welche nicht theoretisch genug gebildet sind, um durch das
Wissen der Principien der Philosophie zu ihr zu gelangen« (Weiß 1801, III f.).
81 Eschenmayer 1803, 32 (§ 41), 40 (§ 49). Vgl. auch 42 (§ 51): »Der Glaube ist in allen
Menschen und die Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann
sich keines bessern rühmen, als der Laye. Wenn der wahre Glaube sich zuweilen
unter verschiedene irrige Bekenntnisse versteckt, so ist es nicht so häufig die Schuld
der Doctrin desselben als des Klügerseynwollens der Leute, welche dem Glauben
durch ihre vage Begriffe aufhelfen wollen« (Herv. v. Verf.). Dazu Schelling 1809a,
400 / SW VII, 337, wo es heißt, dass »der Philosoph eine solche (göttliche) Erkennt-
niss behaupte«, die nur »der Grammatiker und der Unwissende […] als aus Prahlerei
und Erhebung über andre Menschen entspringend vorstellen [können]«.
232
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
3. Schellings Erwiderung:
Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
85
Eschenmayer 1803, 89 f. (§ 86).
233
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
dass die Philosophie die Tugend ausschließe, kann nämlich auf zwei-
erlei Weise verstanden oder verwendet werden. Sie kann zum einen
dazu gebraucht werden, um gegen ein bestimmtes philosophisches
System, im Grunde aber gegen die Philosophie überhaupt, mora-
lische Gründe geltend zu machen und sie als immoralisch zu verdäch-
tigen. Dass die Philosophie die Tugend ausschließt, wäre dann so zu
verstehen, dass das philosophische Leben grundsätzlich immoralisch
ist und kein tugendhaftes Handeln gestattet. Damit wird die argu-
mentative Auseinandersetzung durch die moralische Verdächtigung
ersetzt. Die Person des Philosophen wird angriffen und in ein mora-
lisch bedenkliches Licht gerückt, um beim Publikum an bestimmte
Gefühlen zu appellieren. Wenn dieses Verfahren auch auf Argumente
verzichtet, so stützt es sich dennoch auf eine für selbstverständlich
gehaltene Konzeption von Sittlichkeit, die ihrerseits einer kritischen
Analyse und Überprüfung unterzogen werden kann. Ferner kann
auch der Gebrauch, der von jener Ansicht der Sittlichkeit gemacht
wird, selbst analysiert oder eher, wie Schelling sagt, »charakterisirt«
werden. 86
Jedenfalls erspürt Schelling auch bei Eschenmayer Anklänge die-
ses entrüsteten Tons. Dies ist auch der Grund, weshalb er besonders
diesen Einwand »etwas härter [hat] nehmen müssen«. 87 In der Tat
wird Schelling hier ungemein scharf. So ist die Rede von einer »plat-
te[n] Unwissenschaftlichkeit«, die »sich für ihre Nullität durch herz-
brechende Aeusserungen über die Nichtsittlichkeit einer Philosophie
an dieser rächt«. 88 Zwar nimmt Schelling im folgenden Satz Eschen-
mayer sogleich gegen diese Beschuldigung in Schutz – die Tatsache
aber, dass sie sich gleich im Anschluss an ein Eschenmayer-Zitat fin-
det, legt es geradezu nahe, sie zunächst auf diesen zu beziehen. Damit
möchte Schelling suggerieren, dass es einen mehr als zufälligen Zu-
sammenhang gibt zwischen solchen Verdächtigungen an die Adresse
88
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.
234
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
der Person des Philosophen und dem Einwand bzw. der Position
Eschenmayers. 89 Wenn Schelling den Gebrauch des Einwands auch
»andre[n]« zuschreibt, d. h. solchen, die im Verhältnis sowohl zu
Schelling als zu Eschenmayer als »andre« zu bezeichnen sind, so legt
er es nahe, dass letzterer leicht mit diesen zu verwechseln wäre und
dass er vielleicht selbst sich leicht mit solchen verwechseln dürfte. 90
Schelling nimmt Eschenmayer dadurch von jener Beschuldigung aus,
dass er zunächst darauf hinweist, dass dieser so »nur in Widerspruch
mit sich selbst [geräth]«. 91 Wichtiger dürfte sein, dass sich in dieser
Behauptung ein zwar ungeschickt formulierter, dennoch eine ernst-
hafte Erwiderung verdienender Einwand verbirgt. Wie gesagt hat
Eschenmayers Hauptthese Schelling wohl kaum überrascht, da er in
ihr nur eine weitverbreitete Tendenz wiedererkennt, wonach sie »die
Philosophie aufs neue mit dem Glauben ergänzen will«. 92 Es handelt
92
Schelling 1804, III f. / SW VI, 13.
235
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
236
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
ligion sprechen oder hervorrufen […]. Noch wohlfeiler ist der Vorwurf der Nicht-
oder Unsittlichkeit, mit dem ein mark- und kraftloses Reden von Moralität, aus dem
alle Idee Gottes entfernt ist, erst die Religion verdrängt hat, und nun auch die Phi-
losophie zu verdrängen versucht« (Schelling 1802f, 22 / SW V, 122).
96
Schelling 1804, 59 / SW VI, 54.
237
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
238
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
also der Philosophie: sie thun solche nicht aus freyer Nothwendigkeit, sondern als
Unterworfne eines Begriffs, den ihnen die Wissenschaft an die Hand giebt« (Schelling
1803a, 23 f. / SW V, 221). Vgl. auch die Überlegungen zur Idee einer »durchaus prak-
tischen Philosophie« (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105).
99
Schelling 1804, 60 / SW VI, 55.
100 Es ist dies die vorletzte Erwähnung von ›Glauben‹ in der ganzen Schrift.
101
Vgl. Schelling 1804, 57 / SW VI, 53.
239
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Wir wollen es also unverhohlen bekennen und deutlich sagen: Ja! wir
glauben, dass es etwas Höheres giebt, als eure Tugend und die Sittlich-
keit, wovon ihr, armselig und ohne Kraft, redet: wir glauben, dass es
einen Zustand der Seele giebt, in welchem für sie so wenig ein Gebot,
als eine Belohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwen-
digkeit ihrer Natur gemäss handelt. 102
Bekennt Schelling sich damit in letzter Instanz doch noch zur eschen-
mayerschen These, nachdem er diese bereits hinlänglich widerlegt zu
haben meinte? Sieht er sich schließlich, und bezeichnenderweise dort,
wo von Moral und Sittlichkeit die Rede ist, doch noch dazu genötigt,
auf einen Glauben zurückzugreifen, wo die Vernunft nicht mehr wei-
terhilft? Läuft diese Berufung auf den Glauben auf ein Scheitern des
gesamten Programms hinaus? Steht hier ›Glaube‹ gegen ›Glaube‹ ?
Schauen wir genauer hin. Die emphatische Rede von einem ›Glauben‹
findet sich in einem polemischen Zusammenhang. Gegen die Gleich-
setzung der Tugend mit dem Gehorsam und der Unterwerfung unter
das Gesetz führt Schelling den Glauben als einen höheren »Zustand
der Seele« an, »in welchem für sie so wenig ein Gebot, als eine Be-
lohnung der Tugend ist, indem sie bloss der innern Nothwendigkeit
ihrer Natur gemäss handelt«. 103 Das Gesetz hingegen wäre eine nur
äußerliche Norm, der wir unser Willen und Handeln zu unterwerfen
hätten. Stattdessen sucht Schelling eine immanente Normativität, die
er darin findet, dass das Handeln oder der Wille von sich aus auf ein
bestimmtes Ziel ausgerichtet ist. Dieses Ziel ist die Wiederherstel-
lung der Identität. Es ist dies kein Ziel, das man sich setzen könnte
oder auch nicht, da alle besonderen Ziele nur Mittel sind, jenes ur-
sprüngliche Ziel zu erreichen. Insofern handelt es sich um eine innere
Notwendigkeit oder um eine Gesetzmäßigkeit, die aus der Natur des
menschlichen Willens erwächst. Schicksal und Vorsehung wären
zwei Exponenten, unter welchen diese innere Notwendigkeit sich zu
erkennen geben kann. Sittlichkeit besteht somit darin, diese Natur
und damit zugleich das Wesen Gottes zum Ausdruck gelangen zu
lassen. Die Seligkeit oder die erfüllte Existenz besteht darin, der eige-
nen Natur entsprechend zu handeln. Schelling charakterisiert diesen
102 Schelling 1804, 60 f. / SW VI, 55; erste u. letzte Herv. v. Verf. Die nachdrückliche
zweimalige Wiederholung von ›glauben‹ im 17. Absatz bildet eine Parallele zur auf-
fälligen viermaligen Wiederholung von ›erkennen‹ im 11. Absatz (vgl. Schelling
1804, 57 / SW VI, 53). In beiden Absätzen handelt es sich um die Bestimmung von
Religion, laut dem Titel eine der zentralen Themen der ganzen Schrift.
103
Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.
240
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
104 Vgl. Schelling 1804, 56 f., 63 / SW VI, 52, 56; SW VI, 556 (§ 310).
105 Vgl. Schelling 1804, 61 / SW VI, 55.
106 Schelling 1804, 62 / SW VI, 55 f.
108 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53; vgl. auch Schelling 1804, 69 / SW VI, 60.
109
Beachte auch Schelling 1804, 6 / SW VI, 19, wo von einer »Harmonie«, einem
Verschwinden der Sehnsucht, einem Zustand der Sehnsuchtslosigkeit die Rede ist,
die nicht lediglich den Philosophen vorbehalten ist.
241
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
gion ist Glaube (vgl. SW VI, 558 (§ 310)). 110 Auch hier weist Schel-
ling, als Vorbereitung auf diese These, die Auffassung einer »Morali-
tät, die das Individuum als Individuum sich geben« könnte, zurück
und schließt sie ausdrücklich aus seinem System aus, um stattdessen
eine »göttliche Beschaffenheit der Seele« zu behaupten (SW VI, 557
(§ 310)). Diese Behauptung erläutert er durch den Hinweis, dass unter
»Glaube« kein »Fürwahrhalten« oder bloßes Meinen verstanden wer-
den darf, »überhaupt nicht ein Fürwahrhalten, welches in irgend
einer Beziehung zweifelhaft ist«, nämlich insofern das Fürwahrgehal-
tene ja eine philosophische Begründung ausschließt (SW VI, 559
(§ 310)). Wenn Schelling an dieser Stelle Religion als Glauben de-
finiert, dann schließt er dabei genau diejenige Bedeutung von Glau-
ben aus, die er Eschenmayer zuschreibt. Wenn sie dennoch als Glau-
ben bestimmt werden kann, dann in einem ganz anderen Sinn,
nämlich als »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle
Wahl aufhebt« (SW VI, 559 (§ 310)). Die Rede von einem Glauben
bezieht sich somit nicht auf bestimmte Inhalte, insofern diese für
wahr gehalten werden, sondern hebt nur ihren Einfluss auf den
Lebenswandel hervor.
Die zweite Potenz, deren Konstruktion Schelling hier abschließt
und die er anfangs als die Potenz des Handelns bzw. der Sittlichkeit
bezeichnete, ist im eigentlicheren Sinn als die Potenz der Religion zu
bezeichnen. Das »Absolute dieser Sphäre« nämlich »ist Religion, es
ist Heroismus, es ist Glaube, es ist Treue gegen sich selbst und Gott«
(SW VI, 558 (§ 310)). 111 In seiner Erläuterung dieser Behauptung
weist Schelling Punkt für Punkt alle zentralen Thesen Eschenmayers
zurück. 112 1. »Unter Religion verstehe ich […] nicht das, was man
394. Nachdem Schelling dort die Erscheinung des Bösen im einzelnen Menschen be-
schrieben hatte (Schelling 1809a, 474–476 / 389–391), beschreibt er anschließend die
Erscheinung des Guten im einzelnen Menschen (Schelling 1809a, 476–480 / 391–
394). Die Stelle ist eine Umarbeitung einer Stelle im Würzburger System (vgl.
SW VI, 558 f. (§ 310)). Die einzige signifikante Neuigkeit in der Umarbeitung der
Stelle ist die wohl einmalige Anführung eines Beispiels, das das geschilderte Ideal
verkörpert: Marcus Porcius Cato Uticensis, der entschiedenste Gegner Caesars.
112
Wie in den bereits zitierten Stellen den ›Glauben‹, so greift Schelling mit der
›Andacht‹ einen weiteren zentralen Ausdruck Eschenmayers auf, nicht ohne ihn je-
doch in einem tiefgreifenden Sinn zu verwandeln, und zwar in den Aphorismen zur
242
Schellings Erwiderung: Das ›moralische Argument‹ und erneut der Glaube
Ahndung des Göttlichen, was man Andacht nennt«; »Religion ist hö-
her als Ahndung und als Gefühl« (SW VI, 558). Glaube ist danach
keine Ahnung oder Gefühl, sondern ein Wissen, insofern es nicht
müßig lässt, sondern unmittelbar in einem Handeln resultiert.
2. »Die erste Bedeutung dieses oft mißbrauchten Worts ist Gewissen-
haftigkeit, es ist Ausdruck der höchsten Einheit des Wissens und des
Handelns, welche unmöglich macht, seinem Wissen im Handeln zu
widersprechen« (SW VI, 558). 113 »Religiosität bedeutet schon dem
Ursprung nach ein Gebundenseyn des Handelns, keineswegs aber
eine Wahl zwischen Entgegengesetztem […], sondern die höchste
Entschiedenheit für das Rechte, ohne Wahl« (SW VI, 558). 114 Hier
wird die Art des Handelns näher bestimmt, das aus jenem Wissen
erfolgt: Gemeint ist ein Handeln, das mit dem Erkennen in Einklang
ist; 3. »Wahre Religion ist Heroismus, nicht ein müßiges Brüten,
empfindsames Hinschauen oder Ahnden. Diejenigen nennt man
Männer Gottes, in denen das Erkennen des Göttlichen unmittelbar
zur Handlung wird« (SW VI, 559). 115 4. Schließlich: Religion ist
Glaube, d. h. »Zutrauen, Zuversicht auf das Göttliche, welche alle
Wahl aufhebt«, ist »Treue gegen sich selbst und das Göttliche« (SW
VI, 559). 116 Dieser Glaube nun, so fährt Schelling fort, ist auch »die
einzige wahre Frucht der Philosophie« (SW VI, 559). Es ist also ein
Glaube, der der Philosophie nicht entgegengesetzt ist, sondern eine
motivierende Kraft, die aus der Kontemplation erwächst. Es ist ein
Glaube, der nur auf dem Weg der Philosophie überhaupt zugänglich
ist und gewonnen werden kann. 117
Einleitung in die Naturphilosophie, die sich nach seiner Erklärung ebenfalls auf
Eschenmayer beziehen (vgl. Schelling 1805b, 5 / SW VII, 141 (§ 9)). Die Übernahme
eines Ausdrucks beinhaltet somit keinesfalls eine Zustimmung zu den zentralen The-
sen desjenigen, von dem Schelling ihn übernimmt.
113 Vgl. Schelling 1809a, 478 / SW VII, 392.
114
Vgl. Schelling 1809a, 477 / SW VII, 392.
115 Vgl. Schelling 1809a, 477, 480 / SW VII, 392, 393 f.
116
Vgl. Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394. Beachte Schelling 1813b, 121 / SW VIII,
185: »Das Wort Glaube […] drückt eigentlich nur die Zuversicht in der Ueberzeu-
gung, die Einstimmigkeit des Herzens mit der gewissen Erkenntniß aus. Aechter
Glaube ist selbst nichts anders, als ein glaubendes, d. h. zuverzichtliches Wissen, in
welchem, wie in allem wahren Wissen, Herz und Geist in Einklang sind; keineswegs
aber ist er, wie Sie und einige Andere wollen, eine gänzliche Negation alles Wissens«,
sondern vielmehr eine Folge des Wissens.
117
Vgl. auch F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 5. April 1812, Plitt II, 301:
»Das Thema, das Sie [sc. Windischmann, R. S.] sich zu bearbeiten vorgesetzt, ist von
der größten Wichtigkeit, ich meine das von der Kraft der Wissenschaft in Bezug auf
243
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
(2.) Die Bestimmung der Tugend als einer Identität von Sittlich-
keit und Seligkeit bleibt allgemein. Was auch immer als ›Tugend‹ gel-
ten soll, es muss eben diese Identität aufweisen. Daraus folgt unmit-
telbar, dass allem, was für Tugend ausgegeben oder gehalten wird,
was diese Identität jedoch nicht aufweist oder einen Gegensatz beider
impliziert, im Voraus, ohne weitere Untersuchung, das Prädikat ›Tu-
gend‹ abgesprochen werden kann. Auf eine Konstruktion solcher
konkreten Tugenden lässt Schelling sich aber weder hier noch in den
Philosophischen Untersuchungen ein. Dennoch heißt es an anderer
Stelle, dass eine Sittenlehre die Gestalt einer Konstruktion von Tu-
genden anzunehmen habe und dass »die Moral eine nicht minder
spekulative Wissenschaft« ist »als die theoretische Philosophie«, in-
sofern es ihre Aufgabe ist, »besondere Pflicht[en]« zu konstruie-
ren. 118 Dazu bemerkt Schelling ebendort, dass »eine Sittenlehre in
diesem Sinne noch nicht existirt«. Gerade in den Vorlesungen über
die Methode des academischen Studium, wo er dies behauptet, gibt
Schelling indessen ein Beispiel davon, wie eine Konstruktion konkre-
ter Tugenden oder besonderer Pflichten aussähe, indem er ebendort
die Pflichten und Tugenden konstruiert, die zu einer besonderen Le-
bensform gehören, nämlich der des Gelehrten und des Lehrers. So
heißt es: »Wer sein besonderes Lehrfach nur als besonderes kennt,
und nicht fähig ist, weder das Allgemeine in ihm zu erkennen, noch
den Ausdruck einer universell-wissenschaftlichen Bildung in ihm
niederzulegen, ist unwürdig, Lehrer und Bewahrer der Wissenschaf-
ten zu seyn«. 119 Ferner zeigt er, dass das Lehren als bloße Vermittlung
oder Mitteilung von Lehrinhalten nicht möglich ist: Die Vermittlung
ist nur insofern möglich, als der Lehrende imstande ist, die zu lehren-
de Wissenschaft für sich selbst wieder zu erfinden oder nachzuerfin-
den: »Jemand, der bloß überliefert, wird also in vielen Fällen falsch
überliefern«. 120 Ein solcher kann deshalb nicht lehren, weil man nur
von einem solchen lernen kann, der nicht nur Resultate mitteilt, son-
120
Schelling 1803a, 47 / SW V, 233.
244
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
dern zugleich auch »die Art zu ihnen zu gelangen« vorführt. 121 Die
Konstruktion dieser Pflichten und Tugenden wird zugleich mit der
Konstruktion der Art der Einrichtung der dieser Aufgabe gewidme-
ten Institution durchgeführt. So zeigt Schelling, wie die Akademien
ihr Ziel – Überlieferung und Produktion von Wissenschaft – nur in-
sofern erfüllen können, als sie zwar durch den Staat eingerichtet und
gefördert werden, dieser aber darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu
nehmen. Zu beachten ist noch, dass diese Konstruktion Aufgabe der
Philosophen ist. Dadurch verhelfen sie z. B. den Lehrern zur Selbst-
erkenntnis: Erst mittels der Konstruktion erlangen diese Einsicht in
die Pflichten und Tugenden, die in ihrem Amt impliziert sind, und in
die Weise, wie sie dieses erfüllen können. Darin ist die Unterschei-
dung impliziert zwischen den Freien und Unfreien einerseits und den
Philosophen andererseits, die über beiden stehen. 122 Der polemische
Ton, der hier immer wieder anklingt, richtet sich dabei nur gegen
solche, die in der Rangordnung, die dadurch bezeichnet ist, eine hö-
here Stelle beanspruchen, als ihnen aufgrund ihrer Fähigkeiten zu-
kommt, da in der Konstruktion diese Rangordnung zugleich impli-
ziert ist. So erfährt der Lehrer, insofern sich seine wirkliche Existenz
jener Idee des Lehrers annähert, eine erfüllte Existenz, ohne dass ihm
dadurch schon die noch höhere des Philosophen zu Teil wird.
Von den zwei Sätzen Eschenmayers, die Schelling zitiert, deutete der
erste das Problem, der zweite Eschenmayers Lösung an. Letztere
scheint Schelling zu billigen, indem er erklärt, dass Eschenmayer in
der im zweiten Abschnitt angegebenen »absoluten Unterscheidung«
»die vollkommene Bestätigung seines Gegensatzes finden« wird. 123
245
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
eine »schneidende Gränze«, die »das Reich des Nichts [die Sinnenwelt, R. S.] vom
Reiche der Realität« [der Ideen, R. S.] scheidet.
124 Obwohl Schelling und Eschenmayer im Briefwechsel wiederholt die Vermutung
aussprechen, dass ihre Differenz fast nur terminologischer Art ist (F. W. J. Schelling
an C. A. Eschenmayer, 10. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe I, 321; C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 24. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III, 108; C. A. Eschenmayer an
F. W. J. Schelling, 23. März 1805, Fuhrmans, Briefe III, 201), so erhält man aus ihrer
Auseinandersetzung vielmehr den umgekehrten Eindruck, dass es zwar nicht unmög-
lich wäre, die Position des einen in die Terminologie des anderen zu übersetzen, aber
nur um den Preis, dass die Termini dabei einen ganz anderen Sinn annähmen. So wäre
auf terminologischer Ebene zwar eine Aussöhnung möglich, nicht aber in der Sache:
Durch bloß terminologische Akkommodationen ist die sachliche Differenz nicht lös-
bar; vielmehr drohen diese die sachliche Differenz ständig zu verschleiern. Das Ver-
ständnis dieser Auseinandersetzung wird nicht unerheblich dadurch erschwert, dass
Eschenmayer sich durchgängig schellingscher Termini bedient, diese in seiner Ver-
wendung aber wesentliche Modifikationen erfahren, und Schelling seinerseits sich
der eschenmayerschen Terminologie anzunähern versucht.
125 Dies ist mit dem Verfahren in der Freiheitsschrift zu vergleichen, wo Passagen, die
246
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
441–450 / 366–373). Dann werden die Bedingungen der Aktualisierung des Bösen
behandelt (Schelling 1809a, 451–455 / 373–376), wonach der auf diese Weise gewon-
nene Begriff erneut erläutert wird (Schelling 1809a, 455–463 / 376–382). Hier droht
die Darstellung durch Ausführlichkeit statt, wie in Philosophie und Religion, durch
allzu große Kürze undeutlich zu werden.
126 Eschenmayer 1803, 51 f. (§ 58); Schelling 1804, 53 / SW VI, 50.
127 Schelling 1804, 54 / SW VI, 51; vgl. Schelling 1804, 22 f., 28 f. / SW VI, 30 f., 34 f.
129
Schelling 1804, 23 / SW VI, 31. Dieser Satz ist selbst nur eine Umformulierung
des vorher zitierten Spinoza-Satzes (vgl. Schelling 1804, 13 / SW VI, 24; vgl. Spinoza
1677, Bd. II, 299 (Ethica, V 30)).
247
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ten unterscheidbaren Form. 130 Diesen Charakter der Potenzen als Prä-
sentationsweisen des Absoluten hat Eschenmayer in seiner Abhand-
lung unterschlagen. In einem zweiten Schritt hatte Schelling gezeigt,
dass es den endlichen Dingen bzw. einer bestimmten ›Klasse‹ dersel-
ben möglich ist, auch selbst wieder die Ideen zu denken und der Ver-
nunft fähig zu sein. 131 Wo auch immer »die Ureinheit, das erste Ge-
genbild, in die abgebildete Welt selbst hereinfällt, erscheint sie als
Vernunft; denn die Form, als das Wesen des Wissens, ist das Urwis-
sen, die Urvernunft selbst«. 132 Und: »Durch dieselbe stille und ewige
Wirkung der Form, durch welche die Wesenheit des Absoluten sich
im Object ab- und ihm einbildet, ist dieses [das Objekt, R. S.] auch,
gleich jenem [dem Absoluten selbst, R. S.], absolut in sich selbst«. 133
Gerade die Einbildung des Unendlichen in einem Endlichen als Wis-
sen gibt diesem Endlichen die Möglichkeit »ganz in sich selbst zu
seyn, so wie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 134
(3.) Diese Möglichkeit, »ganz in sich selbst zu seyn« oder »ganz
im Absoluten zu seyn«, kommt nicht jeglichem endlichem Ding als
solchem zu. Die nicht-menschlichen oder nicht-vernunftfähigen We-
sen haben keine andere Möglichkeit, im Absoluten zu sein, als im
Grund ihrer Existenz. Sie können demnach nie ganz im Absoluten
sein, da dasjenige, wodurch sie angesichts dieses Grundes ihre Selbst-
heit behaupten, einer solchen Aufnahme in das Absolute nicht fähig
ist. Umgekehrt können sie indessen ebenso wenig ganz in sich sein,
da sie gerade durch ihre Selbstheit an jenen Grund gebunden bleiben.
Dementsprechend sind sie nur Werkzeuge oder Organe, durch welche
das Absolute sich selbst – sei es nur indirekt – zu erkennen zu geben
vermag. Hier liegt die »absolute Unterscheidung beyder, der er-
scheinenden und der absoluten Welt«, die Schelling im zweiten Ab-
schnitt im Zusammenhang des Begriffs des Abfalls erörtert hatte. 135
(4.) Nach den zwei Zitaten am Anfang des Abschnitts zitiert Schelling
noch einen dritten Satz Eschenmayers:
Der göttliche Funke der Freyheit, welcher aus der unsichtbaren Welt
sich der unsrigen mittheilt, durchbricht die absolute Identität, und erst
248
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
jetzt entsteht nach Maasgabe seiner Vertheilung auf einer Seite Denken
und Seyn (Form und Wesen), und auf der andern Wollen und Handeln,
jetzt erst entsteht mit einem Worte Leben und Weben durch die ganze
Sinnen- und intellektuelle Welt. 136
Diesen Gedanken greift er dort wieder auf, wo es heißt, dass »der
Grund der Erscheinung der Freyheit« zwar »unerklärbar« ist, »deren
erster Ausgangspunct aber, von dem sie in die Erscheinungswelt erst
herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden kann und muss«. 137 In
diesem Satz klingt bis in die Formulierung hinein ein Satz aus dem
zweiten Abschnitt an:
»Dieses In-sich-selbst-seyn, diese eigentliche und wahre Realität des
ersten Angeschauten ist Freyheit und von jener ersten Selbstständigkeit
des Gegenbildes fliesst aus, was in der Erscheinungswelt als Freyheit
wieder auftritt, welche noch die letzte Spur und gleichsam das Siegel
der in die abgefallene Welt hineingeschauten Göttlichkeit ist. 138
Zudem antizipiert Schelling mit der Verwendung des Ausdrucks
einer ›Spur‹ der ›Göttlichkeit‹ in der ›abgefallenen Welt‹ (oder im
›Diesseits‹) die Stelle Eschenmayers, die er an den Anfang des dritten
Abschnitts gestellt hatte. 139
(5.) Damit haben wir den für die Beantwortung der Frage nach der
menschlichen Freiheit entscheidenden Punkt erreicht, auf welchen
diese gerafften Überlegungen zulaufen: die Unterscheidung zwischen
dem Grund der Möglichkeit und dem Grund der Wirklichkeit des
Abfalls. Im zweiten Abschnitt hatte Schelling gezeigt, dass diese Un-
terscheidung eine allgemeine, für alles endliche Seiende gültige Un-
terscheidung ist. Relativ zur Potenz, von welcher das jeweilige Seien-
de einen ›Fall‹ ist, ändert sich allerdings der Sinn derselben: Erst in
der höchsten Potenz, wo das Unendliche in die Seele als Objekt einge-
136
Eschenmayer 1803, 90 (§ 86). Schelling 1804, 55 / SW VI, 51, zitiert den Satz mit
einigen geringfügigen Änderungen. Obwohl von einer Seitenangabe begleitet und
von einem »wenn er sagt« eingeleitet, ist der Satz doch nicht durch Anführungs-
zeichen als Zitat kenntlich gemacht
137 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.
139 Der Gedanke einer solchen ›Spur‹ des ›Jenseits des Absoluten‹ im ›Diesseits‹ kehrt
249
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
bildet wird und das Endliche dadurch die Fähigkeit zum Wissen er-
hält, erhält es auch die Möglichkeit, sich »in die Ureinheit« aufzulö-
sen und »ihr gleich« zu werden. 140 Erst in der höchsten Potenz ist der
Seele somit die Möglichkeit gegeben, »ganz in sich selbst zu seyn,
sowie die Möglichkeit, ganz im Absoluten zu seyn«. 141 Diese beiden
Möglichkeiten sind eigentlich nur eine Möglichkeit oder zwei Aus-
drucksweisen für eine und dieselbe Möglichkeit. Den sonstigen Sei-
enden ist nämlich weder die Möglichkeit gegeben ›ganz in sich selbst
zu seyn‹ noch die Möglichkeit ›ganz im Absoluten zu seyn‹. Sie sind
nämlich nur, insofern sie im Absoluten als im Grund ihrer Existenz
sind und demnach nie ganz im Absoluten, da sie sich zu diesem nur
als zu ihrem Grund verhalten können. Nur solchen Wesen, die der
Vernunft fähig sind, ist diese doppelte Möglichkeit gegeben. Ob sie
diese auch aktualisieren, liegt indessen ganz bei ihnen selbst. Nur
deshalb kann sich nur in der höchsten Potenz das Verhältnis der
Ureinheit oder des Gegenbildes wiederholen. »Dieses Verhältniss
von Möglichkeit und Wirklichkeit« ist Bedingung dafür, dass die Frei-
heit auch erscheinen kann. 142 Wenngleich die »Erscheinung der Frey-
heit« oder ihre tatsächliche Aktualisierung »unerklärbar« ist, da der
Grund derselben nirgends als in der Seele selbst liegt, so »kann und
muss« doch der »erste Ausgangspunct« derselben, »von dem sie in die
Erscheinungswelt erst herabfliesst, gleichwohl aufgezeigt werden«. 143
Schelling kann und muss somit zeigen, dass die Verfassung des Uni-
versums eine solche Erscheinung der Freiheit in demselben nicht aus-
schließt. Insofern diese nur im wahren Wissen stattfindet, dieses nur
durch den Philosophen realisiert wird, muss das Universum so ge-
dacht werden, dass ihre Verfassung die Erscheinung des Philosophen
nicht unmöglich macht und ihn zudem als höchste Möglichkeit er-
scheinen lässt.
Die Erinnerung an die Hauptpunkte aus dem zweiten Abschnitt
soll den Leser darauf aufmerksam machen, dass die für die Lösung
der Frage nach der menschlichen Freiheit unabdingbaren Elemente
dort bereits niedergelegt waren, auch wenn Schelling es dort und
sonst unterlassen hat, ihr Potential für die praktische Philosophie
143
Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.
250
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
251
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
146
Schelling 1804, 25 / SW VI, 32.
147 Vgl. SW VI, 212–214 (§ 61). Diesem Lehrsatz kommt übrigens im Zusammen-
hang der Erörterung der Frage nach dem Bösen ein besonders Gewicht zu (s. u.).
148 Schelling 1804, 30 / SW VI, 35; vgl. Schelling 1804, 53–52 / SW VI, 44–49. Vgl.
auch AA I,10, 128–130 (§ 30 Erl.), wo die Frage nach der Absonderung ausdrücklich
ausgespart wird. In den Anmerkungen im Handexemplar hebt Schelling dies beson-
ders nachdrücklich hervor.
149 Schelling 1804, 41 / SW VI, 42.
150 Erst in der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling diese auch ausdrücklich als »Per-
sönlichkeit«: Nur im Menschen zeigt sich die Selbstheit oder der Eigenwille, in der
Verbindung »mit dem idealen Prinzip« (dem Universalwillen), als »Persönlichkeit«,
d. h. als ein solcher Wille, der »nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden
252
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
Universalwillens« ist (Schelling 1809a, 438 / SW VII, 364; vgl. Schelling 1809a,
448 f. / SW VII, 371 f.).
151 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f.; Herv. v. Verf.
152
Vgl. Schelling 1804, 34 f. / SW VI, 38.
253
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
notwendig vollziehen müsste, dann kann dies doch nicht als ein Ar-
gument für Gottes Urheberschaft der Privation und des Bösen gelten,
insofern der ›ursprüngliche‹ Vollzugsmodus nicht die Möglichkeit
ausschließt, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Dies wäre
nur dann der Fall, wenn man diese Entscheidung als so vor aller Zeit
erfolgt annimmt, dass dadurch alles zeitliche Handeln ein für allemal
festgelegt ist. Eine »durch das Absolute begründete Möglichkeit zum
Abfall wirft« denn auch nur dann »einen Schatten auf die Gottheit«,
wenn diese Möglichkeit sich nur als eine Entscheidung für das Böse
aktualisieren kann. 153 Das Abfalltheorem ist aber gerade dazu ge-
dacht, diese Folgerung zu vermeiden: Die Aktualisierung kann im
Menschen noch auf eine andere Art erfolgen als durch die Entschei-
dung zum Bösen.
Die beiden möglichen Vollzugsmodi sind, drittens, unterschiedlich
gewertet: Es gibt eine grundsätzliche Asymmetrie zwischen densel-
ben. Dies zeigt sich besonders an den Folgen, die sich mit dem jewei-
ligen Vollzugsmodus verbinden. Im Absoluten ist nicht im Voraus
festgelegt, wofür dieser oder jener sich entscheidet. In ihm ist jedoch
sehr wohl vorherbestimmt, welche Art von Folgen sich aus der jewei-
ligen Entscheidung ergeben: So kann die Seele, die den Abfall aufs
Neue vollzieht, nur Bilder ihrer eigenen Nichtigkeit hervorbringen.
Zwar ist es ihr möglich, sich anders zu entscheiden, nicht aber, sich
für diesen defizienten Modus zu entscheiden und dennoch dessen
Folge, der Produktion der Bilder der eigenen Nichtigkeit, zu ent-
gehen, die ihm deshalb wie ein ›Verhängnis‹ folgt. Umgekehrt ist es
ebenso unmöglich, sich in die Absolutheit wiederherzustellen und
dennoch Bilder der eigenen Nichtigkeit hervorzubringen. Die Ergrei-
fung der Selbstheit ist nämlich nur auf die Weise möglich, dass das
Unendliche dem Endlichen untergeordnet wird und jenes (die Idee)
nur noch indirekt zur Darstellung gelangt. 154 In dem Fall, dass das
Endliche dem Unendlichen untergeordnet wird, gelangt dieses selbst
zur Darstellung. Die derart strukturierte Seele produziert demnach
notwendigerweise Ideen oder Darstellungen von Ideen. In Schellings
Worten:
254
Das Spezifische der menschlichen Freiheit
Die Seele, die, sich in der Selbstheit ergreifend, das Unendliche in sich
der Endlichkeit unterordnet, fällt damit von dem Urbild ab, aber die un-
mittelbare Strafe, die ihr als Verhängniss folgt, ist, dass das Positive des
in-sich-selbst-Seyns ihr zur Negation wird und dass sie nicht mehr Ab-
solutes und Ewiges, sondern nur Nicht-Absolutes und Zeitliches pro-
duciren kann. 155
Die Belohnung oder die Strafe des jeweiligen Modus liegt demnach in
diesem selbst. Der Lohn des Tugendhaften ist die Tugend selbst, die
Seinsvollkommenheit oder die Seligkeit, die mit der Tugend gleich-
ursprünglich und dasselbe ist, da sie ja einen höheren Realitätsgrad
impliziert. Die Strafe desjenigen, der im defizienten Modus verharrt,
ist eben dieser Modus selbst oder dass er durch ihn der Seligkeit oder
der Seinsvollkommenheit beraubt ist.
Wenn auf diese Weise der Abfall im Menschen aus den drei ge-
nannten Gründen eine ethische Bedeutung erhält, dann fehlt es nur
noch an der ausdrücklichen Bezeichnung, dass damit die Freiheit als
ein Vermögen des Guten und des Bösen gedacht wird. 156 Gerade weil
es dem Menschen offensteht, den Abfall rückgängig zu machen, kann
ihm auch das Unterlassen derselben als ›Schuld‹ angelastet werden.
Dem Eigenwillen wächst erst hier eine ›sündhafte‹ Qualität zu. 157
155 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52; vgl. Schelling 1804, 40, 44, 71 / SW VI, 42, 44,
61 f. In der Freiheitsschrift bezeichnet Schelling dies als die Erhebung des Eigenwil-
lens über den Universalwillen: Der Eigenwille kann sich unmöglich ganz vom Uni-
versalwillen losreißen, sondern wird dadurch, dass er sich über diesen zu erheben
versucht, zum Vollzug einer Notwendigkeit, die er nicht in seine Gewalt bringen kann
(Schelling 1809a, 441, 475 f. / SW VII, 366, 390 f.).
156 So auch Mokrosch 1976, 316, 371. Nach Friedrich Hermanni ist die Tatsache, dass
der Wille »innerhalb zweier Freiheitsmodi tätig werden« kann, ausreichend, um die
Freiheit als »ein Vermögen des Guten und des Bösen« zu bezeichnen (Hermanni 1994,
127). Wie aber Christian Brouwer bemerkt, »scheint der Freiheitsvollzug – als Mög-
lichkeit des Guten und Bösen – von vornherein eingebettet zu sein in einen Horizont,
der über die Verfehlung urteilt, also in einen sittlichen Horizont, dessen Maßstab
unmöglich aus dem Freiheitsvollzug selbst erschlossen werden kann«. Er fügt hinzu:
»Ohne diese zweite Beobachtung würde Schellings Theorie wenig mehr behaupten als
die Unerklärbarkeit der Freiheit wie auch des Sündigwerdens«. Damit ist Gott zwar
nicht Urheber des Bösen, aber sehr wohl Urheber der »Strafe«, die also ebenfalls »die
Entfaltung einer göttlich konstituierten Wesensgesetzlichkeit« ist (Brouwer 2011,
230).
157 Dies scheint Friedrich Hermanni übersehen zu haben, wenn er auf die Frage:
»Welcher Typ von Freiheit ist es, der dem Besonderen durch seine Immanenz im
Absoluten eröffnet wird?« antwortet: »Freiheit als unbedingte Selbstbestimmung,
das heißt als eine in ihren Äußerungen nicht fremdbestimmte Macht« und damit die
Folgerung verbindet: »Freiheit steht demnach nicht vor alternativen Möglichkeiten
255
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ihrer Äußerungen, sondern sie wird spinozistisch als alternativlose Entfaltung der
Wesensgesetzlichkeit verstanden«. Das besondere Leistungspotential des Abfall-
begriffs liegt gerade darin, dass es einerseits die Erscheinung jener Freiheit als »Ent-
faltung der Wesensgesetzlichkeit« auch innerhalb der Erscheinung oder der endlichen
Welt einsichtig macht, andererseits aber solch eine »alternative Möglichkeit ihrer
Äußerungen« impliziert (Hermanni 1994, 74 f.).
158 Vgl. damit Hermanni 1994, 203 f.: »Damals [1804, R. S.] bestand keine Differenz
zwischen der Schöpfung und dem Fall der Ideen, jetzt [1809, R. S.] dagegen nimmt
Schelling eine supralapsarische Schöpfung an, in der es erst nachträglich zum Fall
kommt. Damals wurde die endliche Welt selbst als Folge des Falls verstanden, jetzt
dagegen wird ›nur‹ ihre gegenwärtige, üble Verfassung auf den Sündenfall zurück-
geführt«.
159 Dadurch wird der Begriff des Abfalls zum entscheidenden Gegenbegriff des Will-
kürbegriffs, wonach in der Neuzeit der Wille vorzüglich interpretiert wird. Als exem-
plarischer Vertreter einer solchen Theorie gilt für Schelling Reinhold. Deshalb durch-
zieht die kritische Auseinandersetzung mit Reinhold alle Darstellungen von
Schellings Freiheitsbegriffs, am offensichtlichsten in den Würzburger Vorlesungen
(vgl. SW VI, 539–555): Während Schelling in der Kette der Lehrsätze und Beweise
ausschließlich der immanenten Logik seines Prinzips folgt, werden die auf diesem
Wege gewonnenen Einsichten in den anschließenden Anmerkungen und Erläuterun-
gen unmittelbar auf die zentralen Begriffe der reinholdschen Morallehre angewendet.
So werden der Reihe nach der »gewöhnliche Begriff einer freien Selbstbestimmung«
(SW VI, 539), der Begriff von Seelenvermögen (vgl. SW VI, 540 f.) und die als »indi-
viduelle Freiheit« bestimmte Willkür (SW VI, 551) zurückgewiesen. An letzterer
Stelle greift Schelling übrigens nicht auf die Argumente, die er auch früher bereits
gegen diesen Begriff geltend gemacht hatte, zurück, sondern führt stattdessen einen
anderen Argumenttyp an: »[S]elbst die bloße Erfahrung« könnte bereits »lehren«,
dass »diese Willkür keine Freiheit sey«. Eine genauere Reflexion der Erfahrung würde
nämlich lehren, dass diejenigen, die meinen, bloß nach eigenem Belieben zu handeln,
in Wahrheit »gerade am meisten durch Affektionen der Lust, des Hasses, der Leiden-
schaft überhaupt zum Handeln getrieben« werden. Die Kritik richtet sich hier dem-
nach nicht direkt gegen den Begriff der Selbstbestimmung, sondern behauptet viel-
mehr, dass ein solches Gefühl, sich selbst zu bestimmen und nach eigenem Belieben
zu handeln, nur eine Täuschung sei, hinter welcher sich ein Bestimmtwerden durch
bestimmte Affektionen verbirgt. Was hier für Freiheit ausgegeben wird, ist nach
Schelling nur eine Gestalt der Selbstsucht, eine Form der »Tendenz absolut in sich
selbst zu seyn«. Siehe dazu Stolzenberg 2004; Schmidt 2012.
256
Der Begriff des Bösen
160Das Böse wird in Philosophie und Religion insgesamt neun Mal an sieben Stellen
erwähnt: an fünf Stellen im zweiten Abschnitt (vgl. Schelling 1804, 33, 34, 43, 47, 48 /
SW VI, 37, 38, 43, 46, 47) und nur an zwei Stellen im dritten Abschnitt, dazu in
weniger bedeutenden Zusammenhängen (vgl. Schelling 1804, 61, 67 / SW VI, 55, 59).
257
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
164
Schelling 1804, 33 / SW VI, 37.
258
Der Begriff des Bösen
165 Schelling 1804, 33 / SW VI, 37. Damit scheint Schelling übrigens bereits den Ein-
wand Friedrich Schlegels antizipiert zu haben (vgl. Schelling 1809a, 424 f., 501 f. /
SW VII, 354, 409).
166 Schelling 1804, 30, 34 / SW VI, 35, 38; vgl. Schelling 1804, 48 / SW VI, 47.
167
Schelling 1804, 34 / SW VI, 38.
168 Schelling 1804, 42 / SW VI, 43.
169
Schelling 1804, 43 / SW VI, 43. Vgl. dazu SW VII, 468: »Wer mit den Mysterien
259
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Das fichtesche Prinzip lässt sich demnach als ein Korrektiv gegen an-
dere Ansätze verwenden, die sich nur mit dem guten Prinzip beschäf-
tigen und dadurch weder zu einer wahren Erkenntnis des Guten noch
zur Selbsterkenntnis gelangen, solange ihnen die Erkenntnis des bö-
sen Prinzips, die Fichte bereitstellt, fremd bleibt. (4.) Immer noch im
zweiten Abschnitt findet sich die Bemerkung, dass das »Producirte«
ein »Mittelwesen« ist, »welches an der Natur der Einheit und der
Zweyheit, des guten und des bösen Princips, gleicherweise Theil
nimmt«. 170 Die endliche Seele (als das ›Producirende‹) kann danach
nichts anders als solches hervorbringen, das an beiden Prinzipien teil-
hat. In welchem Verhältnis beide Prinzipien zueinander stehen oder
stehen können, sagt Schelling nicht. Die endlichen Dinge sind jeden-
falls nicht schlechthin Nichts, sondern vielmehr ein Konkretes oder
Zusammengewachsenes, ein Gemischtes, das sich nur aus einem Zu-
sammengehen zweier Prinzipien erklären lässt. (5.) Nachdem Schel-
ling an einer bereits zitierten Stelle darauf aufmerksam gemacht
hatte, dass alle Systeme, die zwischen Gott und Schöpfung eine Ste-
tigkeit annehmen, statt ihr Verhältnis als einen Abfall zu denken,
Gott zwangsläufig zum ›Urheber des Bösen‹ machen, behauptet er
jetzt, dass dies seinen Grund darin hat, dass sie »Gott selbst zum
Urheber der Privation, der Beschränkungen und des daraus resulti-
renden Uebels« machen. 171 Die Fragestellung der Theodizee als die
»Aufgabe einer Rechtfertigung und gleichsam Vertheidigung Gottes
wegen der Verhängung oder Zulassung« der Endlichkeit und des mo-
ralischen Bösen beruht auf dieser irrtümlichen Annahme, durch wel-
che man die »Privationen des Uebels und des moralischen Bösen nicht
erklären konnte«. 172 Abermals betont Schelling dadurch den engen
Zusammenhang zwischen der Erklärung der Endlichkeit und der des
Bösen. Schellings Absicht scheint danach nicht so sehr darin zu be-
stehen, eine andere, leistungsfähigere Lösung der Theodizee-Frage
anzubieten, sondern vielmehr die ganze Fragestellung, wegen der Vo-
raussetzungen, auf welchen sie beruht, als inadäquat zurückzuwei-
sen. Dann verfügte Schelling, gerade indem er es vermag, die End-
des Bösen nur einigermaßen bekannt ist (denn man muß es mit dem Herzen igno-
riren, aber nicht mit dem Kopf)«.
170 Schelling 1804, 47 / SW VI, 46.
172
Schelling 1804, 48 f. / SW VI, 47. Vgl. Schelling 1804, 71 / SW VI, 62: die »nach
Fichte unbegreiflichen Schranken«. Gerade in diesem Punkt behandelt Schelling Leib-
niz und Fichte ganz parallel (vgl. SW VI, 115, 122 f.).
260
Der Begriff des Bösen
261
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
treten lässt, gegen welche Konzeption der Ethik sich Schelling ins-
besondere richtet: Als ein roter Faden zieht sich durch die Be-
handlung der ideellen Reihe, besonders der zweiten Potenz (der des
Handelns), die Auseinandersetzung mit solchen Theorien, die die
menschliche Freiheit als Willkürfreiheit denken, da es ohne dieselbe
nicht möglich sei, dem Unterschied zwischen Gut und Böse gerecht
zu werden. Eine genauere Erörterung der Frage nach dem Bösen ist
allein schon deshalb berechtigt, da man besonders die Aussparung
derselben oder auch das Unvermögen, sie auf eine angemessene Art
zu entwickeln, des Öfteren als ein bereits hinreichendes Indiz für den
unzulänglichen Charakter von Philosophie und Religion und damit
für die Notwendigkeit eines Neuansatzes gesehen hat, wie man ihn
in der Freiheitsschrift hat erkennen wollen. 177
Man hat gemeint, in den Würzburger Vorlesungen eine ›Nega-
tionstheorie‹ des Bösen zu entdecken, und zwar im Sinne einer Radi-
kalisierung einer Privationstheorie, da dem Bösen als Privation noch
zu viel Realität zuerkannt wäre. 178 Wenn diese Bezeichnung auch vor
allem durch polemische Motive eingegeben sein mag, so nötigt sie
doch zu einer genaueren Bestimmung des Begriffs der Negation, mit
welchem Schelling in diesen Vorlesungen immer wieder operiert. Er
führt den Begriff im Zusammenhang einer Kritik jeglicher Privati-
onstheorie ein. Die Kritik richtet sich gegen eine mit dem alltäglichen
Bewusstsein gleichursprüngliche Annahme, die jedoch in einigen
philosophischen Theorien ohne eingehende Prüfung übernommen
wird. Eine solche möchte Schelling durchführen, um festzustellen,
ob jene Annahme mit Recht in eine philosophische Theorie auf-
genommen werden kann. Sie bezieht sich nicht auf die Frage, ob es
überhaupt Phänomene wie die Privation oder das Böse gibt, sondern
bloß auf die ontologische Dignität, die man diesen zuzuerkennen be-
177
So meint Robert F. Brown daraus, dass Schelling die Frage nach dem Bösen in
Philosophie und Religion nicht deutlich und ausführlich berührt hat und das Böse
mit der Endlichkeit schlechthin gleichsetzt, schließen zu dürfen, dass Schelling es des-
halb als Privation gedacht hat. Gerade in diesem Punkt, so meint er, »our two treatises
are very far apart«. Er behauptet »a quite dramatic advance« zwischen beiden Schrif-
ten. Dabei operiert er allerdings mit einem Gegensatz zwischen einem Privations-
begriff des Bösen und einem positiven Begriff des Bösen, wonach das Böse selbst eine
positive Realität hätte (Brown 1996, 121, 123). Auch nach Oliver Florig sei es Schel-
ling »1804 nicht gelungen, das Böse angemessen zu fassen«. Dabei scheint auch er den
Abfall oder die Endlichkeit mit dem Bösen schlechthin gleichzusetzen (Florig 2010a,
43).
178
So z. B. Hermanni 2002, 144–146.
262
Der Begriff des Bösen
rechtigt ist. Aus Schellings Analyse wird sich ergeben, dass gerade
das alltägliche Bewusstsein das Böse unwillkürlich für eine Privation
hält. Wenn Schelling denn auch schreibt: »Wir setzen eine Privation
in dem Ding nur, inwiefern wir urtheilen, daß etwas, das ihm fehlt, zu
seiner Natur gehöre, ihm zukomme. Aber wir urtheilen dieß bloß,
indem wir das Ding mit andern Dingen oder mit einem allgemeinen
Begriff vergleichen« (SW VI, 543 (§ 305 Anm.); Herv. v. Verf.), dann
bezieht das ›wir‹ in diesen Sätzen wie in dem ganzen Absatz sich nicht
auf Schelling selbst als Subjekt, sondern auf das allgemeine Bewusst-
sein. Dieses will Schelling an dieser Stelle charakterisieren und auf
ontologische Annahmen aufmerksam machen, die in solchen sponta-
nen Urteilen impliziert sind. Die Stelle hat somit lediglich eine vor-
bereitende Funktion: Das Phänomen, das es zu erklären gilt, soll zu-
nächst einmal in den Blick gebracht werden, da bereits das alltägliche
Bewusstsein es verschleiert und nicht in seinem eigentlichen Charak-
ter zur Erscheinung kommen lässt. Die Zurückweisung der Deutung,
mit welcher es im alltäglichen Bewusstsein verwachsen zu sein
scheint, ist noch keiner Leugnung des Phänomens gleichzusetzen.
Nur indem man jener ›natürlichen‹ Deutung zustimmt und sie für
keiner Kritik bedürftig hält, kann man aus der Bestimmung der End-
lichkeit und des Bösen als Nicht-Realität unmittelbar darauf schlie-
ßen, dass es Schellings Absicht sei, die Phänomene selbst zu leugnen.
Deshalb fängt Schelling hier mit dem an, womit eine jede philosophi-
sche Theorie anzufangen hat, nämlich mit einer Prüfung der alltäg-
lichen Meinung und mit einer Trennung von ›Phänomen‹ und ›Mei-
nung‹, und zwar so, dass er zeigt, wie ›selbst der gemeine Verstand‹
bereits zu der Einsicht geführt werden kann, dass das, was es für eine
Privation hält, im Grunde nur eine Negation ist. Dazu macht Schel-
ling auf solche »Beispiele« aufmerksam, an welchen sich zeigt, dass
der »gemeine Verstand« in einigen Fällen selbst jener Annahme, dass
das Fehlen einer Eigenschaft notwendig eine Privation sei, gar nicht
zustimmt (SW VI, 543). Diese Beispiele sind ein Indiz dafür, dass der
gemeine Verstand in diesem Punkt mit sich selbst uneinig ist.
Der geläufige Begriff der Privation beruht auf die Annahme, dass
die Eigenschaft, die einem Ding fehlt oder der es beraubt ist, »zu
seiner Natur gehöre« (SW VI, 543). Schelling orientiert sich weiter-
hin an diesem Begriff. Zugleich zeigt er auf, wie der Begriff einen
Widerspruch impliziert. Dazu greift er auf seine Unterscheidung
von zweierlei Typen von Eigenschaften zurück. Eigenschaften, die
einem Ding aufgrund seiner Natur zukommen, können ihm nicht
263
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
264
Der Begriff des Bösen
179 Wenn Martin Heidegger gegen die Privationstheorie das Zeugnis des »Erblinde-
te[n], der das Augenlicht verloren hat« anruft, der »heftig bestreiten [wird], daß Blind-
heit nichts Seiendes und nichts Bedrängendes und Lastendes sei«, dann ist dies nicht
besonders überzeugend. Fragwürdig ist, ob dieses Zeugnis von einer höheren philoso-
phischen Bedeutung ist als das des »Straßenbahnschaffner[s]«, den er anschließend
zitiert, der meint: »Das Nichts ist eben nichts« (Heidegger 1988, 177). Die Privations-
theorie zielt nicht darauf ab, die Privation als eine Illusion zu entlarven, sondern sie
fragt nach der ontologischen Bedeutung des Nichts. Es soll demnach gezeigt werden,
wie Phänomenen wie dem Irrtum, dem Bösen usw. zwar keine ontologische Realität
zukommt, dass sie dennoch auf ontischer Ebene den Schein von Realität annehmen.
180 Es scheint mir denn auch verfehlt, zu behaupten, dass die »Reduktion der Priva-
tion auf eine bloße Negation […] eine Elimination des Malum« bedeutet, in dem
Sinne, dass »es in der Wirklichkeit Übles und Böses« gar nicht gibt, sondern dass dies
»nur eine menschliche Fiktion« sei (Hermanni 2002, 144).
265
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
266
Der Begriff des Bösen
181Vgl. Schelling 1809a, 400 / SW VII, 337: Nur der, der »den Verstand rein und
unverdunkelt von Bosheit« erhält, vermag auch das Böse zu erkennen.
267
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
268
Der Begriff des Bösen
lität ausdrückt« (SW VI, 544 f.; Herv. v. Verf.), so hat er es dort doch
noch nicht zur Entfaltung gebracht, da er lediglich hervorhob, dass
unerachtet solcher gradueller Differenzen jede Handlung irgend-
etwas Positives einschließe.
Im folgenden Textstück, das von einer extremen Dichte ist, unter-
scheiden wir zur größeren Deutlichkeit sechs Teilargumente.
(1.) Schelling fasst zunächst das Ergebnis des Bisherigen zusammen:
»In jeder Handlung drückt sich, absolut betrachtet, eine Perfektion
aus, absolut betrachtet ist daher nichts unvollkommen, sondern nur
in Vergleichung« (SW VI, 546). Sowohl in der guten als in der bösen
Handlung ist etwas Positives, sodass der sittliche Wert einer Hand-
lung nicht auf dieses Positive zurückgeführt werden kann. Nur im
Vergleich zeigt sich die eine Handlung als unvollkommener als die
andere. Fraglich ist noch, inwiefern diese Vergleichung berechtigt ist.
(2.) Wir haben oben auf zwei Vergleichsweisen aufmerksam gemacht:
Man kann Dinge vergleichen, die zu einer und derselben Potenz ge-
hören, oder man kann auch Dinge vergleichen, die zu verschiedenen
Potenzen gehören. Das zweite Argument bezieht sich auf letzteren
Fall: Gott schafft »die Dinge nicht in Vergleichung miteinander, son-
dern jedes für sich als eine besondere Welt« (SW VI, 546). Der Aus-
druck ›als eine besondere Welt‹ bezieht sich offenkundig auf die Po-
tenzen. Unbeschadet der differenten Realitätsgrade drückt das
Absolute sich seiner Struktur nach in jeder Potenz ganz aus, sodass
keiner in Bezug auf das Absolute etwas fehlt: »[V]or Gott [ist] nichts
unvollkommen« (SW VI, 546). (3.) Dies wird durch die dritte These
noch deutlicher, wenn Schelling bemerkt, dass »der relativ geringere
Grad der Vollkommenheit, den z. B. der Stein relativ auf die Pflanze
[…] ausdrückt, […] in Ansehung des Steins […] gerade seine Voll-
kommenheit« ist (SW VI, 546 f.). Weil (wegen 2.) alle Potenzen in
Bezug auf Gott gleich absolut sind, so ist die Potenz, wozu ein Ding
gehört, für dieses ›seine Vollkommenheit‹ selbst: Dadurch, dass ihm
nicht solche Eigenschaften zukommen, die Dingen, die zu anderen
Potenzen gehören, zukommen, fehlt jenem Ding nichts, wie dem
Dreieck dadurch nichts fehlt, dass es nicht auch die Eigenschaften
eines Kreises hat. Die Potenz stellt für jedes zu ihr gehörige Ding ein
Optimum dar, das es mehr oder weniger ausdrücken kann. So drückt
z. B. der Stein zwar relativ auf oder in Vergleichung zur Pflanze einen
geringeren Grad der Realität aus, aber dieser Grad der Realität ist »in
Ansehung des Steins« seine Vollkommenheit (SW VI, 547). Diese
Grade werden hier also nicht auf Gott bezogen. Merkwürdig ist aller-
269
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
270
Der Begriff des Bösen
184 Vgl. auch Schelling 1809a, 459 f. / SW VII, 379, wo die erste Epoche der Geschich-
te als eine solche bestimmt wird, »in welcher der Grund zeigte, was er für sich ver-
möchte«, und wo dies so erläutert wird, dass die zu dieser Epoche gehörende Men-
schengattung handelt, ohne zu wissen, was sie tut: »Damals kam den Menschen
Verstand und Weisheit allein aus der Tiefe; die Macht erdentquollner Orakel leitete
und bildete ihr Leben«. In einer Verschärfung nimmt dies die Gestalt eines Handelns
an, das auf »falsche Magie sammt Beschwörungen und theurgischen Formeln« zu-
rückgreift. Es ist dies zugleich eine Zeit, da der Mensch ohne eigentliches Bewusstsein
über Gut und Böse ist (vgl. Schelling 1803a, 175 f. / SW V, 290). Vgl. auch solche
»Zustände, durch welche der Mensch den Thieren ähnlicher wird«, insofern in dem,
was er tut, nicht aber in ihm selbst Vernunft ist (SW VI, 468 (§ 238); vgl. SW VI,
462 f., wo Schelling auf den Somnambulismus und die »Gabe der Prophezeiung« ver-
weist).
185 Man könnte geneigt sein, darin einen Unterschied mit den Würzburger Vorlesun-
gen zu sehen, dass Schelling in der Freiheitsschrift behauptet, dass verhindert werden
271
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
muss, dass der Mensch in den bösen Handlungen »selbst nur leidend« gedacht wird
(Schelling 1809a, 449 / SW VII, 372), während er in Vorlesungen zu behaupten
scheint, dass die böse Handlung »kein Handeln, sondern ein Leiden« ist (SW VI, 551).
Diese Behauptung bezieht sich indessen ausschließlich auf das Gute oder Positive, das
auch in der bösen Handlung ist: Relativ auf dieses verhält der Böse sich leidend, da es
sich ohne sein Wissen und ohne seine Absicht aus seinem Handeln ergibt; relativ auf
dasjenige, was in seiner Handlung böse ist, gilt dieser passive Charakter jedoch nicht.
Die böse Handlung ist also keine solche, die einem nur widerfährt.
186 Für die Bedeutung dieser Schrift für Schellings Naturphilosophie vgl. Rang 2000,
194–198. Hermanni 1994, 130, sieht zwar den Ursprung des schellingschen Begriffs
des Bösen als einer positiven Verkehrtheit aus dem kantischen Begriff der Realoppo-
sition, lässt aber gerade das Moment des Realitätsunterschiedes beider fallen.
187
Im zweiten Abschnitt seiner Schrift führt Kant selbst eine Vielzahl an Beispielen
solcher Anwendungen an, auch auf dem Feld der Ethik (NG, AA 2, 179–188, bes. 182–
184).
272
Der Begriff des Bösen
188 Vgl. Wolff 1981, 67 f.: »Das Negativsein ist demnach keine Eigenschaft von Grö-
ßen; in Wirklichkeit ist es ein bestimmtes Verhältnis und zwar ein Verhältnis der
Entgegensetzung zwischen Gliedern eines Paares, die für sich genommen nicht nega-
tiv, sondern positiv sind. Nur im Verhältnis zum anderen kann man jeweils eins der
beiden positiven Glieder ›negativ‹ nennen«; »Negativität [ist] keine innere Beschaf-
fenheit von Gegenständen, sondern das Bestehen einer Relation«.
273
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
kate bzw. dieser Unterscheidung. Zwar ist es so, dass wir Handlungen
durchgängig danach unterscheiden, wenigstens daraufhin befragen,
ob sie gut oder böse sind. Damit ist noch nicht gesagt, dass diese Be-
wertung auch einen Grund in der Sache selbst oder Realität hat. Das
Böse ist nicht an sich böse, sondern nur in Beziehung auf das Gute
oder im Gegensatz zum Guten. Deshalb war Schelling auch so viel
daran gelegen, zu zeigen, dass sowohl die (böse) Handlung an sich
betrachtet, in der Abstraktion vom handelnden Subjekt, als auch die
(bösen) Absichten und Triebfedern der Handlung etwas Positives
sind, dass aber ihre böse Qualität nicht in diesem Positiven liegt, wo-
durch sie sich nicht von guten Handlungen bzw. Absichten unter-
scheiden, sondern ihnen von anderswoher zuwächst.
Eine negative Größe ist einer anderen nicht kontradiktorisch ent-
gegengesetzt. Zwischen einer Größe und ihrer negativen Größe be-
steht kein logischer Gegensatz, sondern ein ›positiver Gegensatz‹ oder
eine ›Real-Opposition‹. Die negative Größe hebt die andere nicht auf,
sondern lediglich deren Folgen: »Demnach müssen in jeder Realent-
gegensetzung die Prädikate alle beyde positiv seyn, doch so, daß in der
Verknüpfung sich die Folgen in demselben Subjekte gegenseitig auf-
heben« (NG, AA 2, 176). Die Prädikate, die uns hier besonders inte-
ressieren, sind Handlungen, die man einem Subjekt zuschreibt. Diese
Prädikate sind im Fall guter sowohl als böser Handlungen positiv. Das
Böse zeigt sich nicht so sehr an einem Mangel oder Ausbleiben be-
stimmter Handlungen, sondern besonders da, wo es wirklich zu
Handlungen kommt. Aus diesem Grund ist es auch möglich, von
einem Vermögen zum Guten und zum Bösen zu sprechen, insofern
das Vermögen zum Bösen bloß die Folgen des Vermögens zum Guten
aufhebt, nämlich die Handlungen, die sonst aus demselben folgen
würden, und nicht dieses Vermögen selbst, so wie das Vermögen
zum Guten bloß die Folgen des Vermögens zum Bösen aufhebt. Aus
diesem Grund auch müssen beide Vermögen in einem und demselben
Subjekt vorkommen (vgl. NG, AA 2, 176). Das Vermögen zum Guten
hebt zwar die bösen Handlungen auf, nicht aber das Vermögen zum
Bösen selbst in dieser Person, sondern überführt es lediglich in einen
Zustand der Latenz, der es daran hindert, sich zu aktualisieren.
Kant spricht auch von der »Negative[n]« (NG, AA 2, 177). 189 Die
Negative einer Sache ist die Umkehrung derselben, insofern sie die
189So kann »ein Ding die Negative (Sache) von dem andern« sein, also etwas, »was in
einer Realentgegensetzung mit dem andern steht« (NG, AA 2, 175). Hier dürfte auch
274
Der Begriff des Bösen
die Wurzel von Schellings Rede von einer Umkehrung oder Verkehrtheit zu suchen
sein.
190 Der Ausdruck wurde der Optik entlehnt: So ist das Bild auf der Retina die Um-
kehrung des wirklichen Gegenstands; von daher auch ein Negativ, wie in der Photo-
graphie.
191 So Wolff 1981, 64. – Gerade den Hauptpunkt seiner Leibniz-Kritik: die Privation
sei nur Negation, hat Schelling demnach von Kant übernommen, genauso wie einige
seiner Beispiele (vgl. z. B. NG, AA 2, 173, 184 f. mit Schelling 1809a, 445 f. / SW VII,
369 f.). Zu beachten ist, dass diese Kritik mit dem Begriff der Realopposition zusam-
menhängt.
275
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Verneinung aber, in so ferne sie nicht aus dieser Art von Repugnanz
entspringt, soll hier ein Mangel (defectus, absentia) heissen« (NG,
AA 2, 177 f.). Auf das Beispiel Schellings angewendet, kann man fra-
gen, wie das Nicht-rund-Sein des Quadrats zu beurteilen ist (vgl.
SW VI, 544). Auf keinen Fall handelt es sich um eine Privation, weil
das Fehlen dieser Eigenschaft nicht auf eine reale Entgegensetzung
zurückzuführen ist. Eigentlich handelt es sich also um einen bloßen
Mangel, der zudem nichts Positives über das Ding aussagt. Wir haben
hier nur eine negative Beschreibung einer positiven Eigenschaft, und
zwar einer solchen, die unmittelbar aus dem Wesen des Dings folgt.
Aus dem Wesen des Quadrats folgt unmittelbar die Eigenschaft des
Quadratisch-Seins, die unmittelbar das Rund-Sein ausschließt. Als
ein weiteres Beispiel führt Schelling die Blindheit an: Auch diese
drückt nur das Fehlen einer Eigenschaft aus, die sich unmittelbar aus
dem Zustand dieses Menschen ergibt. Die Aufhebung der Folgen von
etwas nennt Kant auch seine Herabsetzung auf einem geringeren
Grad (vgl. NG, AA 2, 180). Die Negative resultiert stets in eine Ver-
minderung des Realitätsgrades. Nur insofern zeigt sie sich als eine
wahrhaft entgegengesetzte Kraft. Auch diesen Gedanken nimmt
Schelling auf, wenn er behauptet, dass zwischen dem Bösen und dem
Guten eine graduelle Differenz der Realität nach besteht. 192
Zunächst dürfte es so erscheinen, als ob Schelling in den Philoso-
phischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Frey-
heit sich kritisch auf einen solchen Begriff des Bösen bezieht. In sei-
nen einleitenden Überlegungen hebt er hervor, dass jedes System sich
mit der Schwierigkeit konfrontiert sieht, die Freiheit als »ein Ver-
192 Es scheint mir demzufolge keine entscheidende Differenz zu sein, ob »diese Ord-
nungsverkehrung gradualistisch als Beraubung von Ordnung oder konträr als Ver-
such zur Konstituierung einer Gegenordnung gedeutet wird« (Hermanni 1994, 129).
Beide Deutungen gehen, jedenfalls für Schelling, zusammen: Die zwei möglichen
Vollzugsmodi des Willens sind konträre Möglichkeiten; sie sind sich nicht kontradik-
torisch entgegengesetzt und die eine ist nicht die bloße Negation der anderen. Sie
können aber nichtsdestoweniger nicht zugleich in einem Subjekt realisiert werden:
Das Subjekt hat zwar die Möglichkeit, beide zu realisieren, nicht aber gleichzeitig.
Außerdem hat der eine Vollzugsmodus einen niedrigeren Realitätsgrad als der andere.
Dies wird mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit in den Würzburger Vorlesun-
gen herausgearbeitet, bleibt auch in der Freiheitsschrift weiterhin in Kraft. Sonst wäre
nicht zu erklären, wie Schelling behaupten kann, zwar einen positiven Begriff des
Bösen zu entwickeln, wonach das Böse nicht als bloße Negation oder Beraubung des
Guten, sondern als eine konträre Möglichkeit gelten soll, zugleich aber daran festhält,
dass dem Bösen keine eigentliche Realität oder Wesentlichkeit zukommt.
276
Der Begriff des Bösen
mögen des Guten und des Bösen« zu denken. 193 »Am auffallendsten«
tritt dieses Problem in solchen Systemen zu Tage, die sich auf einen
»Begriff der Immanenz« stützen. 194 Diese Bemerkung enthält jedoch
keine Absage an den Begriff der Immanenz, da Schelling zum einen
im Vorhergehenden diesen Begriff gegen mögliche Einwände zu si-
chern gesucht hatte, zum anderen nur darauf hinweist, dass die
Schwierigkeit hier nur sehr auffällig wird, d. h. in anderen Systeme
vielmehr verdeckt bleibt, obwohl sie genauso durch jene Schwierig-
keit getroffen werden. 195 Die Schwierigkeit tritt hier nun deshalb so
klar hervor, da jener Begriff folgende Alternative unausweichlich
macht: Entweder wird die Realität des Bösen behauptet oder nicht.
Im ersten Fall muss Gott unvermeidlich zum Urheber des Bösen ge-
macht werden, »oder es muss auf irgend eine Weise die Realität des
Bösen geläugnet werden, womit aber zugleich der reale Begriff von
Freyheit verschwindet«. 196 Aus der Folge wird klar, dass Schelling für
diese zweite Möglichkeit optiert. 197 Während es ihm im Fall einer Be-
hauptung der Realität des Bösen unmöglich scheint, zu vermeiden,
Gott für das Böse verantwortlich zu machen, so scheint es ihm nicht
schlechthin unvermeidlich, dass mit der Leugnung der Realität des
Bösen auch ›der reale Begriff von Freyheit verschwindet‹, da dies
nur ›auf irgend eine Weise‹ zu geschehen habe. Es kommt somit da-
rauf an, auf welche Weise die Realität des Bösen ›geleugnet‹ wird.
Wenn es unter Annahme der Immanenz eine Chance geben soll, das
Böse zu erklären, dann ›muss auf irgend eine Weise die Realität des
Bösen geläugnet werden‹. Man kann dieser Schwierigkeit dadurch zu
entgehen suchen, dass man die Annahme der Immanenz aufgibt oder
korrigiert. Solche Korrekturversuche erlauben es indessen nicht, der
grundsätzlichen Alternative auszuweichen, die im Falle der Imma-
nenzsysteme nur ›am auffallendsten‹ zu Tage trat. Auch hier er-
193
Schelling 1809a, 422 / SW VII, 352.
194 Schelling 1809a, 422 / SW VII, 353.
195
Wenn Schelling später bemerkt, das »[z]uerst […] der Begriff der Immanenz völlig
zu beseitigen [ist]«, dann schränkt er diese entschiedene Absage doch sogleich inso-
fern wieder ein, als nur die Immanenz, »inwiefern etwa dadurch ein todtes Begriffen-
seyn der Dinge in Gott ausgedrückt werden soll«, davon betroffen ist. Diesen Begriff
der Immanenz hatte er aber bereits vorher »völlig beseitig[t]« (Schelling 1809a, 431 /
SW VII, 358; vgl. Schelling 1809a, 405 f., 409–415, bes. 412 / SW VII, 340 f., 343–347,
bes. 345).
196
Schelling 1809a, 423 / SW VII, 353.
197 Schelling hebt wiederholt hervor, dass das Böse »nichts Wesenhaftes« sei (Schel-
277
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
scheint »Gott unläugbar als Miturheber des Bösen«. 198 Um diese Fol-
ge zu umgehen, »muss« auch hier »auf die eine oder die andere Art
die Realität des Bösen geläugnet werden«. 199 Gleich anschließend
skizziert Schelling, wie die Realität des Bösen geleugnet werden kann,
ohne dass das Böse und damit der reale Begriff der Freiheit dadurch
verschwinden. Durch die Annahme, dass im Bösen etwas Positives
sei, dieses Positive von Gott komme, dieses Positive im Bösen aber
nicht selbst das Böse, sondern gut ist, »verschwindet das Böse nicht,
ob es gleich auch nicht erklärt wird«. 200 Damit ist die Aufgabe be-
zeichnet, die Herkunft der »Basis«, »das, worin dieses Seyende ist«,
zu erklären. Diese Frage nach der Herkunft dieser ›Basis‹ wird Schel-
ling in der Folge mittels der Unterscheidung von Grund von Existenz
und Existierendem sowie der Behauptung der Zertrennlichkeit der
Prinzipien im Menschen zu lösen versuchen. Nachdem er diese Auf-
gabe formuliert hat, sucht er noch die Behauptung, wonach das Posi-
tive im Bösen gut ist, d. h. die Leugnung der Realität des Bösen, gegen
mögliche Missverständnisse zu wahren. Die Leugnung der Realität
des Bösen bedeutet nicht, dass »im Bösen überall nichts Positives sey«
oder dass »es gar nicht […] existire«. 201 Schelling hält sich hier somit
an die Ergebnisse, die er bereits in den Würzburger Vorlesungen
mitgeteilt hatte: In allem Handeln, sowohl in guten als in bösen
Handlungen, ist ein Positives. Aber die böse Handlung ist nicht durch
dieses Positive böse. Den Unterschied zwischen guten und bösen
Handlungen bringt er dort mit den differenten Realitätsgraden der
Handlungen in Verbindung. Auf diese Lösung scheint Schelling sich
nun in der Freiheitsschrift kritisch zu beziehen, wenn er die Behaup-
tung, dass »im Bösen überall nichts Positives sey« oder dass »es gar
nicht […] existire«, dadurch erläutert, dass »alle Handlungen mehr
oder weniger positiv, und der Unterschied derselben ein blosses Plus
und Minus der Vollkommenheit sey, wodurch kein Gegensatz be-
gründet wird, und also das Böse gänzlich verschwindet«. 202 Und er
fügt noch hinzu:
Dann wäre die Kraft, die im Bösen sich zeigt, zwar vergleichungsweise
unvollkommner, als die, welche im Guten; an sich aber, oder ausser der
278
Der Begriff des Bösen
279
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
digt«. 207 Zwar kündigt das Böse sich dem Gefühl als ›etwas sehr Reel-
les‹ an, dieses Gefühl darf dennoch nicht dazu verführen, dem Bösen
auch wirklich Realität zuzuschreiben, statt in ihm ein bloßes ›Un-
wesen‹ oder ›Scheinbild‹ zu sehen. Außerdem würden wir durch die
Annahme der Realität des Bösen jenes Gefühl selbst unangemessen
interpretieren – und eine solche sachgerechte Interpretation des Ge-
fühls hat die Freiheitsschrift sich u. a. zum Ziel gesetzt. 208 Damit hat
die Aufgabe sich bereits erheblich kompliziert: Zwar muss das Böse so
erklärt werden, dass deutlich wird, weshalb es an sich keine Realität
hat und ihm nur ein Schein von Realität zukommt, zugleich muss
aber ebenso erklärt werden, weshalb es sich dem Gefühl dennoch als
›etwas sehr Reelles ankündigt‹. 209 Gelingt es jedoch, auch letztere
Aufgabe zu lösen, dann hat man, außer den systematischen Schwie-
rigkeiten, die man an solchen Erklärungsversuchen, die die Realität
des Bösen voraussetzen, nachweisen kann, ein zusätzliches Argument
darin, dass man gezeigt hat, woher diese Voraussetzung selbst ihren
Ursprung hat. So kann man dem Gefühl Recht widerfahren lassen,
indem man zeigt, woher es kommt und worauf es deutet, ohne dazu
genötigt zu sein, das Selbstverständnis zu akzeptieren, das dieses Ge-
fühl zunächst und zumeist begleitet. Zur Lösung dieser Aufgabe
führt Schelling nun eben den Begriff eines positiven Gegensatzes ein,
d. h. er greift hier, genauso wie in den Würzburger Vorlesungen, auf
den kantischen Begriff der Realopposition zurück.
Wenn es in der Freiheitsschrift heißt:
Es entspringt diese Erklärungsart überhaupt aus dem unlebendigen Be-
griff des Positiven, nach welchem ihm nur die Beraubung entgegenste-
hen kann. Allein es giebt noch einen mittleren Begriff, der einen reellen
Gegensatz desselben bildet, und von dem Begriff des bloss Verneinten
weit absteht[,]
dann fasst Schelling damit den Kerngedanken der kantischen Schrift
über die negative Größe zusammen. 210 Es gibt einen unlebendigen
207 Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.; vgl. Schelling 1809a, 460 /
SW VII, 379. Vgl. Buchheim 1997, 132 zu dieser Stelle: »›Meteorisch‹ bedeutet
›schwebend‹ ; ohne eigene Fundamente: das Böse kann sich nur durch den Mißbrauch
fremder Kräfte ein Fundament für seine parasitäre Wirklichkeit verschaffen«.
208 Vgl. Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336.
209 Dieses Gefühl ist, insofern es das Böse betrifft, ein solches der Abscheu (vgl. Schel-
ling 1809a, 456 / SW VII, 376) und des Schreckens und des Horrors (vgl. Schelling
1809a, 476 / SW VII, 391).
210
Schelling 1809a, 447 / SW VII, 370.
280
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit
281
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ebenfalls eine Identität von Freiheit und Notwendigkeit behaupten, erlaubt die Deu-
tung dieser Identität Schelling, zu zeigen, wie er sie jedenfalls nicht verstanden haben
möchte (vgl. Schelling 1802e, 75–112 / SW V, 78–105).
214 Schelling 1804, 56 / SW VI, 52.
215
Vgl. Schelling 1804, 36 f. / SW VI, 39.
282
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit
hang der Geschichte als besonders dringlich, und nicht, wie durch die Art, wie die
heutige Debatte über menschliche Freiheit meistens geführt wird, nahegelegt, im Zu-
sammenhang der Natur (vgl. AA I,9,1, 292–303).
219 Eine aufmerksamere Selbstbeobachtung kann allerdings bereits zur Einsicht in
den scheinhaften Charakter der Willkürfreiheit gelangen (vgl. SW VI, 551 (§ 307)).
283
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ihr Gewicht und ihre Dringlichkeit zu verlieren, sobald man die Ver-
wicklung der Freiheit als Willkür mit der Notwendigkeit auf irgend-
eine Weise herunterspielt. Eine Freiheit, die sich durch eine solche
Notwendigkeit nicht mehr beunruhigen lässt, wird dadurch zur blo-
ßen Beliebigkeit, die darum nicht weniger eine Notwendigkeit voll-
zieht, von der sie nichts zu wissen vorzieht. Dass jene Überzeugung
sich als täuschend oder wenigstens überzogen erweist, braucht aller-
dings noch nicht zu besagen, dass die Notwendigkeit, die sich auf jene
Weise durchsetzt, auch ohne jene Überzeugung sich durchsetzen
könnte. Nur insofern die Individuen von der Freiheit ihres Handelns
überzeugt sind, kann jene Notwendigkeit selbst sich überhaupt
durchsetzen. In diesem Sinne kann somit immer noch von einer Iden-
tität von Freiheit und Notwendigkeit gesprochen werden, da die Not-
wendigkeit die Freiheit keineswegs direkt aufhebt oder überflüssig
macht. Jene ›Illusion‹ ist somit ein Phänomen eigenen Rechts.
Zum anderen stellt sich jedoch die Frage, ob und wie »die Seele
[…] sich der endlichen Nothwendigkeit entziehe[n]« kann, ob und
wie sie eine Distanz gewinnen kann zu den Kontexten, in welchen
sie sich findet. 220 Wenn die endliche Notwendigkeit mit der Freiheit
als Willkür gleichursprünglich ist, dann bedeutet die Frage zugleich,
wie die Seele in den Genuss einer anderen Freiheit als derjenigen der
Willkür gelangen kann. Um diese Frage zu beantworten, erläutert
Schelling das Verhältnis der endlichen zur absoluten Notwendigkeit.
Diejenige Seele, die »in der Identität mit dem Unendlichen« ist, »er-
hebt sich« dadurch über diejenige »Nothwendigkeit, die der Freyheit
entgegenstrebt«, und zwar zu derjenigen Notwendigkeit, »welche die
absolute Freyheit selbst ist«. 221 Die Zusammengehörigkeit von Frei-
heit als Willkür und endlicher Notwendigkeit lässt sich somit nur auf
eine Identität von absoluter Freiheit und absoluter Notwendigkeit hin
überschreiten. Diese ›Identität mit dem Unendlichen‹, die zugleich
Erhebung über die endliche zur absoluten Notwendigkeit ist, voll-
zieht sich in erster Linie im Wissen. Dieses Wissen oder diese Er-
kenntnis bezeichnet Schelling hier auch als Religion.
Der von Schelling in der ersten Hälfte des dritten Abschnitts skiz-
zierte Gedankengang gipfelt befremdlicherweise in einer Bestim-
mung der Religion. Diese wird zudem überraschenderweise als eine
Form der Erkenntnis bestimmt. Schelling schreibt: »Religion, als Er-
284
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit
222 Schelling 1804, 57 / SW VI, 53. Innerhalb des 11. Absatzes, der dieser Bestim-
mung gewidmet ist, kommt das Substantiv ›Erkenntniss‹ einmal, das Verb ›erkennen‹
viermal vor. Diese Bestimmung der Religion richtet sich gegen Eschenmayers Be-
hauptung, dass »sich die Philosophie in der Religion [endigt]« (Eschenmayer 1803,
104 (§ 98)). In den Würzburger Vorlesungen tritt die Bezugnahme noch klarer hervor,
da Schelling seine Bestimmung der Religion dort von solchen Bestimmungen absetzt,
die er mit für Eschenmayer typischen Ausdrücken charakterisiert (vgl. SW VI, 558
(§ 310)). Dort wird auch die Bedeutung der Erkenntnis oder der Idee Gottes als Achse
oder Wendepunkt noch deutlicher als in Philosophie und Religion (vgl. SW VI, 561–
565 (§ 312 f.)). Die Betonung der Bedeutung der Erkenntnis fehlt übrigens auch in den
Philosophischen Untersuchungen nicht: »Wir haben gesehen, wie durch falsche Ein-
bildung und nach dem Nichtseyenden sich richtende Erkenntniss der Geist des Men-
schen dem Geist der Lüge und Falschheit sich öffnet, und bald von ihm fascinirt der
anfänglichen Freyheit verlustig wird. Hieraus folgt, dass im Gegentheil das wahre
Gute nur durch eine göttliche Magie bewirkt werden könne, nämlich durch die un-
mittelbare Gegenwart des Seyenden im Bewusstseyn und der Erkenntniss. Ein will-
kührliches Gutes ist so unmöglich als ein willkührliches Böses. Die wahre Freyheit ist
im Einklang mit einer heiligen Nothwendigkeit, dergleichen wir in der wesentlichen
Erkenntniss empfinden, da Geist und Herz, nur durch ihr eignes Gesetz gebunden,
freywillig bejahen, was nothwendig ist« (Schelling 1809a, 476 f. / SW VII, 391 f.;
Herv. v. Verf.). Unter »Religiosität« versteht Schelling »nicht, was ein krankhaftes
Zeitalter so nennt, müssiges Brüten, andächtelndes Ahnden, oder Fühlen-wollen des
Göttlichen. Denn Gott ist in uns die klare Erkenntniss oder das geistige Licht selber, in
welchem erst alles andre klar wird, weit entfernt, dass es selbst unklar seyn sollte; und
in wem diese Erkenntniss ist, den lässt sie wahrlich nicht müssig seyn oder feyern«
(Schelling 1809a,: 477 f. / SW VII, 392; Herv. v. Verf.).
223
Schelling 1804, 57 / SW VI, 52.
285
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ren meinte, doch nur Werkzeug der Notwendigkeit ist, die durch sie
hindurch wirkt. 224 Die Seele oder der Wille für sich betrachtet ist auf
ein einziges Ziel ausgerichtet, nämlich die Identität des Individuums
mit sich selbst hervorzubringen (vgl. SW VI, 562 (§ 313)). Alle Ziele,
die es sich setzt, erweisen sich letztlich nur als Mittel zur Erreichung
jenes einen Ziels. Das in diesem Sinne ›höchste Ziel‹ kann sie indessen
nur indirekt intendieren. Es ist nie das direkte Ziel des Willens, son-
dern alles Wollen ist als solches auf dieses Ziel ausgerichtet. 225 Auch
noch als irrender Wille bleibt der Wille auf jenes Ziel ausgerichtet. Es
steht demnach gar nicht zu seiner Disposition, sich dieses Ziel zu
setzen oder nicht. Aus diesem Grund ist übrigens auch die »Dishar-
monie« nicht als eine »Privation« oder als ein Fehlen der Harmonie,
sondern als »die falsche Einheit derselben« zu denken. 226 Jedenfalls ist
die Welt so eingerichtet, dass sie das Erreichen jenes Ziels der Identi-
tät zwar nicht schlechthin verhindert, wohl aber, dass es auf bestimm-
te Wege zu erreichen sei. So schließt das Vorherrschen des Eigenwil-
len die Seligkeit oder Identität schlechthin aus. 227 Der so strukturierte
Wille verfehlt notwendigerweise sein eigentliches oder höchstes Ziel,
die Identität mit sich selbst, und resultiert demnach notwendigerwei-
se in einem falschen Leben. Gerade darin, dass ein derart strukturier-
ter Wille daran scheitert, sein eigentliches Ziel zu erreichen, zeigt sich
noch eine Spur der Identität auch in der abgebildeten Welt. Die Ein-
sicht in den notwendigen Charakter dieses Scheiterns ist die Erfah-
rung der Identität als Schicksal. Die Erfahrung der Identität als
Schicksal setzt somit den Gegensatz von Notwendigkeit und Freiheit
voraus (vgl. SW V, 688). Insofern beide im Einklang sind und alle
äußeren Umstände sozusagen zusammenlaufen, um die Absichten
der Freiheit zum glücklichen Erfolg zu führen, erscheint die Notwen-
digkeit nicht als Schicksal, sondern eher als Glück, Gunst, als glück-
Zeitkonzeption impliziert: Insofern der Wille auf jene Identität ausgerichtet ist, ist
diese dadurch als etwas Vergangenes und als etwas Zukünftiges gesetzt. Die Gegen-
wart ist dadurch als ein Abfall oder ein Verlust einer ursprünglichen Identität gesetzt,
die nur durch eigene Leistung wiedererlangt werden kann.
226 Schelling 1809a, 448 / SW VII, 371.
227
Schelling scheint sich auch hier der platonischen Lehre anzuschließen, die Wolf-
gang Wieland als einer solchen des irrenden Willens analysiert hat (vgl. Wieland
1982, 263–280).
286
Schellings Begriff der Tugend: Identität von Freiheit und Notwendigkeit
licher Zufall, insofern sie dasjenige, was die Freiheit aus eigener Kraft
nicht zu leisten fähig ist, hinzubringt, da der Erfolg ihrer Unterneh-
mungen immer auch von äußeren Umständen abhängt, die sie nicht
in ihrer Gewalt hat. Als Schicksal wird die Notwendigkeit dort erfah-
ren, wo sie der Freiheit entgegengesetzt ist und sie durchkreuzt. Sie
wird demnach als eine Art Zwang empfunden. Die Erfahrung des
Schicksals geht insofern bereits darüber hinaus, als darin zugleich
der Gegensatz und die Identität empfunden wird. Diese Verwicklung
zu erkennen heißt, dass die Seele zugleich zu einer Erkenntnis ihrer
selbst (als endlich) und des Absoluten (als Schicksal) gelangt. Insofern
die Seele Werkzeug des Absoluten ist, hat sie zum Absoluten nur ein
indirektes Verhältnis, nämlich als zum Grund ihrer Existenz: Die
»absolute Identität« ist »unabhängig von allem Handeln, […] als das
Wesen oder An-sich alles Handelns«. 228 Im Handeln selbst bekundet
sich die Identität und gibt sich zugleich als von allem Handeln un-
abhängig zu erkennen.
(2.) Die Identität von Freiheit und Notwendigkeit zu erkennen ist
der »erste Grund der Sittlichkeit«. 229 Die beiden Weisen, wie jene
Identität erkannt werden kann, stehen nämlich in einem bestimmten
Verhältnis, sodass die Erkenntnis der ersten Weise Grundlage und
Voraussetzung der Erkenntnis der zweiten ist. Von der Erkenntnis
jener Identität als Schicksal ist es nur ein Schritt, jene Identität auch
als Vorsehung zu erfahren. Die Erkenntnis jener Identität als Vor-
sehung vollzieht sich als die Einsicht, dass der Wille nur aufgrund
seiner widersprüchlichen Verfassung daran scheitert, sein ›höchstes
Ziel‹ zu erreichen, oder als die Einsicht, dass in der Einrichtung auch
der ideellen Welt Weisheit oder Vernunft waltet. Auch insofern sie
als Vorsehung erkannt wird, ist die Identität von Freiheit und Not-
wendigkeit in dieser Gestalt vom Handeln unabhängig. Dort, wo
Schelling seine Konzeption der Tugend näher präzisiert, wird klar,
dass die Vorsehung in der Identität oder Entsprechung von Sittlich-
keit und Glückseligkeit besteht. Der Begriff einer ›Vorsehung‹ ver-
langt, wie wir noch sehen werden, zu seiner Vervollständigung, dass
nicht nur der Einzelne, sondern die ganze Gattung in derselben ein-
bezogen ist.
Mit dieser Bestimmung der Religion verknüpft Schelling im fol-
genden Absatz die Folgerung, dass in keinem der beiden Fälle Gott als
287
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
eine »Foderung« oder Postulat der Moral gedacht wird. 230 Nachdem
er sich bislang sittlicher Begriffe bedient hatte, hebt Schelling jetzt
hervor, dass Religion die eigentliche Grundlage derselben ist. Den
beiden Formen der Sittlichkeit entsprechen zwei Gestalten von Reli-
gion. Beachtet man die doppelte Weise, wie Gott erkannt werden
kann, nämlich als Schicksal oder als Vorsehung, dann dürfte es auch
weniger verwundern, wenn Schelling ein wenig später bemerkt, dass
nur der, der Gott, »auf welche Weise es sey«, und das heißt hier:
gleichgültig, ob er ihn auf die erste Weise, als Schicksal, oder auf die
zweite Weise, als Vorsehung, »erkennt«, »erst wahrhaft sittlich«
ist. 231 Der Unterschied der Erkenntnisweise und demnach zwischen
Schicksal und Vorsehung ist für die Sittlichkeit somit zunächst indif-
ferent. Derjenige, der Gott so oder so erkennt, ist wahrhaft sittlich,
erstens, »weil das Wesen Gottes und das der Sittlichkeit Ein Wesen
ist«, und, zweitens, »weil dieses [dieses Wesen als gleiches Wesen
Gottes und der Sittlichkeit, R. S.] in seinen Handlungen ausdrücken
eben so viel ist als das Wesen Gottes ausdrücken«. 232
Bislang hat Schelling gezeigt, wie die Freiheit und die Tugend sich
mittels der grundlegenden Unterscheidung des Grundes der Möglich-
keit und der Wirklichkeit des Abfalls in sein System integrieren las-
sen: Ob die einzelne Seele den Abfall rückgängig macht und die in
ihrer Natur vorbehaltene Wesenserfüllung auch realisiert, kann nur
ihr selbst zugeschrieben werden. Dadurch erhält die doppelte Mög-
lichkeit auch eine sittliche Bedeutung. Die Verwirklichung des eige-
nen Wesenspotentials geschieht demnach aus Freiheit. Diese Mög-
lichkeit tendiert somit nicht aus sich selbst zu ihrer Verwirklichung.
An diesem Punkt von Philosophie und Religion gibt Schelling diesem
Gedanken eine überraschende neue Wendung: Wenn der Grund der
Wirklichkeit des Abfalls bzw. der Wiederherstellung der Absolutheit
nicht ausschließlich in der einzelnen Seele läge, sondern im Absolu-
230 In seinem System wird also nicht »die Religion aus der Moral« abgeleitet, wie bei
Eschenmayer 1803, 35 (§ 45), 43 (§ 51): Die Religion ist »Grund der Sittlichkeit« und
nicht umgekehrt (Schelling 1804, 57 / SW VI, 53).
231 Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.
232
Schelling 1804, 58 / SW VI, 53.
288
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
233 Schelling 1804, 65 / SW VI, 57 f.; Herv. v. Verf. Vgl.: »daß der erste Ursprung der
Religion überhaupt, so wie jeder andern Erkenntniß und Cultur allein aus dem Unter-
richt höherer Naturen begreiflich ist, alle Religion also in ihrem ersten Daseyn schon
Ueberlieferung war« (Schelling 1803a, 167 / SW V, 286).
234
»Es wäre hier nicht der Ort, mit allen Gründen, deren diese Behauptung fähig ist,
zu beweisen, daß alle Wissenschaft und Kunst des gegenwärtigen Menschen-
geschlechts eine überlieferte ist. Es ist undenkbar, daß der Mensch, wie er jetzt er-
scheint, durch sich selbst sich vom Instinct zum Bewußtseyn, von der Thierheit zur
Vernünftigkeit erhoben habe. Es mußte also dem gegenwärtigen Menschengeschlecht
ein anderes vorgegangen seyn, welches die alte Sage unter dem Bilde der Götter und
ersten Wohlthäter des menschlichen Geschlechts verewigt hat. Die Hypothese eines
Urvolks erklärt bloß etwa die Spuren einer hohen Kultur in der Vorwelt, von der wir
die schon entstellten Reste nach der ersten Trennung der Völker finden, und etwa die
Uebereinstimmung in den Sagen der ältesten Völker […]: aber sie erklärt keinen ers-
ten Anfang und schiebt, wie jede empirische Hypothese, die Erklärung nur weiter
zurück« (Schelling 1803a, 31 f. / SW V, 224 f.; Herv. v. Verf.). Ferner Schelling 1803a,
289
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
168 / SW V, 287, wonach der Naturzustand nicht als ein »Zustand der Barbarey«
gedacht werden kann, sondern die Barbarei selbst sich nur als ein Zustand nach dem
Untergang einer Kultur denken lässt. Ferner Schelling 1809a, 510 / SW VII, 415:
»Wir hegen die grösste Achtung für den Tiefsinn historischer Nachforschungen,
und glauben gezeigt zu haben, dass die fast allgemeine Meynung, als habe der
Mensch erst allmälig von der Dumpfheit des thierischen Instinkts zur Vernunft sich
aufgerichtet, nicht die unsrige sey«. Die Stellen, wo Schelling dies in der Freiheits-
schrift gezeigt hat, können nur die sein, wo er mittels des Begriffs der ›Zertrennlich-
keit der Prinzipien‹ den Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier nachgewiesen
hat (vgl. Schelling 1809a, 450 / SW VII, 372) sowie die, die vom Wesensunterschied
zwischen Vergangenheit und Gegenwart handeln (vgl. Schelling 1809a, 459–461 /
SW VII, 379 f.).
235 Schelling 1804, 65 / SW VI, 58.
238
Beachte: »weist auf«, »anzunehmen« (Schelling 1804, 65 / SW VI, 58), »über-
zeugt uns alles« (Schelling 1804, 66 / SW VI, 59), »gern vorstellen« (Schelling 1804,
67 / SW VI, 59).
290
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
mit allen Mitteln der Kultur und der Wissenschaft ausgestattet sein.
Nur dann würde es sich auch als Erzieher der gegenwärtigen Men-
schengattung eignen. Für diese Hypothese führt Schelling Belege aus
mythischen Erzählungen und Sagen an. 239 So haben »die Sagen aller
Völker in dem Mythos des goldnen Zeitalters« jenen »Zustand be-
wusstloser Glückseligkeit« »erhalten«. 240 Allerdings können nur sol-
che Mythen und Sagen als Belege für jene Hypothese gelten, wofür
sich bei allen Völkern Parallelen auffinden lassen. 241
Damit ist eine grundsätzliche Diskontinuität zwischen Vergan-
genheit und Gegenwart behauptet. Dieser entspricht eine eigene
Erkenntnisart. Während die Verfassung der gegenwärtigen Men-
schengattung sich durch Erfahrung erschließt, sind wir für eine Vor-
stellung der vergangenen Menschheit auf Hypothesen angewiesen.
Der Mensch der Vergangenheit ist der Mensch im Naturzustand. 242
Dieser entspricht, so wie er wirklich ist, ganz seiner idealen Verfas-
sung oder dem, was er seiner Natur nach sein könnte. Das Eigen-
tümliche dieses Naturzustandes besteht darin, dass dieser nicht dem
Kulturzustand entgegengesetzt ist, der, nach der entgegengesetzten
Hypothese, erst am Ende eines Prozesses eintreten könnte, sondern
dass der Naturzustand, so wie ihn Schelling konzipiert, durch und
durch Kulturzustand ist: Der Mensch ist in diesem Zustand von Na-
tur aus mit Kunst, Wissenschaft und Religion ausgestattet, ohne dass
er dazu eine besondere Leistung zu erbringen braucht. Dort ist »die
Möglichkeit der Vernunft« zugleich auch »die Wirklichkeit« der-
selben: Dieser Mensch bedarf keiner Erziehung oder Überlieferung,
sondern er ist »der Vernunft unmittelbar durch sich selbst theil-
haftig«. 243 Vor allem ist er alles, was er ist, ohne Bewusstsein, »in
239 Schelling 1804, 64 f. / SW VI, 57: Nachdem über diesen »Gegenstand« bislang
»nur die Religion Unterricht ertheilte«, so wird jetzt die »Philosophie« »in jenen
gränzenlos dunkeln Raum das Licht der Wahrheit zu verbreiten« suchen, »den My-
thologie und Religion für die Einbildungskraft mit Dichtungen angefüllt haben«
(Herv. v. Verf.). Sie tut dies dadurch, dass sie eine konsistente Hypothese aufstellt,
die nicht nur imstande ist, die Verfassung der gegenwärtigen Menschengattung, son-
dern auch den Grund solcher mythologischen Dichtungen einsichtig zu machen.
240 Schelling 1804, 67 / SW VI, 59; Herv. v. Verf.
241 Vgl.: »allerwärts und nach den Ueberlieferungen der ersten und ältesten Völker«
testens seit Hobbes, Spinoza und Rousseau ein zentrales Theoriestück jeglicher poli-
tischer Philosophie bildet.
243
Schelling 1804, 66 / SW VI, 58.
291
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
244
Schelling 1804, 66 f. / SW VI, 58 f.
245 Schelling knüpft damit an die in der damaligen Geschichtswissenschaft virulent
diskutierte Frage nach den Ursachen des Untergangs Roms an. Zur Erklärung dieses
Phänomens wurden Katastrophentheorien entwickelt, die eine »teilweise oder voll-
ständige Veränderung der Erde und der auf ihr angesiedelten menschlichen Kultur
durch geologische bzw. kosmologische Ereignisse«, wie beispielsweise eine Verände-
rung des Klimas durch Verschiebung der Erdachse, erwogen (Petri 1990, 30 f.). Vgl.
auch Schelling 1803c, 161–174 / SW IV, 497–508.
246 Diesem Kulturzustand scheint aber die Schrift zu fehlen bzw. er scheint ihrer gar
nicht zu bedürfen. Jedenfalls gibt es aus jener Epoche keine schriftliche Zeugnisse; nur
Sagen berichten davon, die erst in einer späteren Epoche schriftlich fixiert wurden.
247
Schelling 1804, 65 f. / SW VI, 58.
292
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
248 Die Aufgabe ist also analog zur Aufgabe, die »universelle Wirksamkeit« des Bösen
oder das Böse »als ein unverkennbar allgemeines […] Prinzip« zu erweisen (Schelling
1809a, 451 / SW VII, 373; Herv. v. Verf.).
249 Schelling 1804, 63 / SW VI, 56.
250
Vgl. Heidegger 1988, 260: »Für uns Spätergekommene haben diese Entwürfe der
Weltgeschichte etwas Befremdliches, so daß wir uns bezüglich ihrer eigentlichen Ab-
sicht nicht sogleich zurechtfinden und leicht in Mißdeutungen verfallen«. Was be-
sonders an einem rechten Verständnis dieser ›Entwürfe‹ hindert, ist, wie aus dem
Zusammenhang hervorgeht, das Vorherrschen eines positivistischen, historistischen
oder hegelschen Vorbegriffs von Geschichte. Heideggers Beobachtung wird indirekt
dadurch belegt, dass z. B. Christian Brouwer in einem ausführlichen Kommentar zur
Freiheitsschrift die Konstruktion der Perioden der Geschichte weitgehend übergeht
und lediglich eine eschatologische Deutung der dritten Periode durchführt (Brouwer
2011, 272–295). Auch in Höffe/Pieper 1995 wird diese Stelle übergangen.
293
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
251 Eine noch frühere Konstruktion der Geschichte findet sich in Antiquissimi de
Prima Malorum Humanorum Origine Philosophematis Genes. III. explicandi Tenta-
men Criticum et Philosophicum (vgl. AA I,1, 93–99). Dazu Jacobs 1993, 187–210.
252 Vgl. Marquet 2012, 25: »[S]i le premier moment de l’Histoire est celui du destin, si
294
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
253
Schelling 1803a, 175 / SW V, 290.
295
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
296
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
Periode dort deshalb als die der Natur bezeichnete, weil sie die Periode
der mechanischen Naturgesetzmäßigkeit ist. In der Charakterisie-
rung sowohl der ersten als auch der zweiten Periode tritt eine be-
fremdliche grammatikalische Unklarheit auf, indem es bezüglich der
ersten Periode heißt, dass die »ewige Nothwendigkeit […] sich, in der
Zeit der Identität mit ihr, als Natur [offenbart]«, ohne dass unmittel-
bar klar ist, worauf sich dieses ›ihr‹ bezieht. 258 Es kann sich eigentlich
nur auf die ›ewige Nothwendigkeit‹ beziehen, nur bleibt dann un-
deutlich, wer oder was sich in der Identität mit ihr befindet. Die
Schwierigkeit ließe sich so lösen, dass in diesem Satz der Mensch aus-
geklammert, aber dennoch stillschweigend mit begriffen ist, so, dass
die ›ewige Nothwendigkeit‹ in der Zeit, da der Mensch sich mit ihr in
Identität befindet, sich diesem Menschen als Natur offenbart. Ge-
meint ist also die Zeit, in der der Mensch noch bloß als Naturwesen
ist. 259 Ähnlich heißt es zur Charakterisierung der zweiten Periode,
dass die ewige Notwendigkeit sich »[m]it dem Abfall von ihr […] sich
als Schicksal [offenbart], indem sie in den wirklichen Widerstreit mit
der Freyheit tritt«. 260 Gerade der Abfall von ihr lässt eine neue Di-
mension der ›ewigen Nothwendigkeit‹ in Erscheinung treten. Damit
scheint gesagt, dass auch in der ersten Periode Freiheit sein muss.
Die zweite Periode bezeichnet Schelling in den Vorlesungen als die
des Schicksals, mit einer Bezeichnung also, die er im System der ers-
ten Periode vorbehalten hatte. Zudem charakterisiert er sie auf ähn-
liche Weise, indem er sagt, dass dies »das Ende der alten Welt« war,
»deren Geschichte eben deswegen im Ganzen genommen als die tra-
gische Periode betrachtet werden kann«. 261 Es muss verwundern, dass
Schelling die ›alte Welt‹ jetzt plötzlich als die ›tragische Periode‹ be-
zeichnet. Eher würde man meinen, dass vielmehr die zweite Periode
die tragische ist, da die Notwendigkeit sich erst hier als Schicksal
zeigt. In der Charakterisierung der ersten Periode war auch nichts,
was ihre Kennzeichnung als eine tragische zu rechtfertigen scheint.
Es ist auch kaum wahrscheinlich, dass die erste Periode nachträglich
erst vom Standpunkt der zweiten Periode aus als tragisch empfunden
wird, da jene gerade dann erst recht als das goldene Zeitalter erschei-
nen müsste, nämlich als eine Zeit, da das Bewusstsein der ›Sünde‹
297
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
noch fehlte, als eine Zeit der bewusstlosen Hingabe an die Natur. Die
Charakterisierung der dritten Periode, die der Vorsehung, ist genauso
befremdlich. Sie wird als eine »freywillige Unterwerfung« bezeich-
net, »in der die Freyheit als besiegt und siegend zugleich aus dem
Kampf hervorgeht«. 262 Mit genau solchen Ausdrücken hatte Schel-
ling in den Philosophischen Briefen aber eben das Wesen des Tragi-
schen charakterisiert (vgl. AA I,3, 107). 263 Jedenfalls wird die dritte
Periode, den früheren und späteren Darstellungen entsprechend, als
die der »bewußte[n] Versöhnung« charakterisiert. 264 Während das
Christentum im System nicht erwähnt wurde, heißt es jetzt, dass es
»in der Geschichte jene Periode der Vorsehung ein[leitet]«. 265 Das
Christentum ist demnach nicht die dritte Periode selbst, sondern lei-
tet sie bloß ein oder vollzieht nur den Übergang von der zweiten zur
dritten Periode. Es ist somit nicht selbst die Versöhnung. Vielmehr
behauptet Schelling von ihm, dass es für den Abfall oder für das »Ab-
brechen des Menschen von der Natur« verantwortlich ist, indem es
die »Hingabe« an die Natur mit dem Bewusstsein der Sünde ver-
knüpft und sie als sündhaft zu empfinden lehrt. 266 Nur das Bewusst-
sein der Sündhaftigkeit kann erst überhaupt ein Verlangen nach Ver-
söhnung entstehen lassen. Präziser formuliert: Jenes Bewusstsein
und dieses Verlangen sind ein und dasselbe. Deshalb bemerkt Schel-
ling, dass das »Bewußtseyn darüber […] die Unschuld auf[hebt] und
[…] daher auch unmittelbar die Versöhnung« fordert. 267 Während er
somit das Christentum zunächst in unmittelbarer Verbindung mit
der dritten Periode der Vorsehung und der Versöhnung bringt, da
zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass es vielmehr mit der zweiten
Periode, der des Abfalls, in Verbindung zu bringen ist. Insofern die
zweite Periode die dritte einleitet und nur der Übergang zu ihr ist, ist
auch das Christentum ›nur‹ Übergang. In dieser Konstruktion werden
›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹, aber auch ›Gegenwart‹ und ›Vergangen-
heit‹ näher aneinander herangerückt. Dies dürfte darauf hinweisen,
265
Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf.
266 Schelling 1803a, 176 / SW V, 290.
267
Schelling 1803a, 176 / SW V, 290; Herv. v. Verf.
298
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
dass keine der Perioden für sich gesetzt werden kann, sondern dass es
einen notwendigen Zusammenhang zwischen denselben sowie in
ihrer Aufeinanderfolge gibt: Erst durch die Gegenwart ist auch die
Vergangenheit wirklich gesetzt, während erstere nicht gesetzt werden
kann, ohne zugleich die Öffnung auf eine Zukunft hin zu setzen. Aus
diesem Grund sind gerade die Anspielungen auf die ›reale‹ Geschichte
irreführend, da es Schelling hier überhaupt nicht um eine Konstruk-
tion der ›wirklichen‹ Geschichte zu tun ist, sondern vielmehr um eine
solche der Geschichtlichkeit oder der Dimensionalität der Geschichte.
Eine weitere und die bei weitem ausführlichste Darstellung der
Periodizität der Geschichte findet sich schließlich in den Philosophi-
schen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freyheit.
Wenn es auch hier nicht an Anklänge an die früheren Darstellungen
fehlt, so unterscheidet sie sich dennoch erheblich von denselben.
Dessen ungeachtet fordert Schelling den Leser in einer Fußnote aus-
drücklich dazu auf, »mit diesem ganzen Abschnitt des Verfassers
Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. VIIIte
Vorles. über die historische Konstruktion des Christenthums« zu ver-
gleichen. 268 Der Leser, der die Stelle nachschlägt, findet sich dort, wie
erwähnt, wieder auf das System des transscendentalen Idealismus
verwiesen. Schelling stellt somit ausdrücklich und absichtlich eine
Verbindung zwischen diesen drei Darstellungen her und lenkt die
Aufmerksamkeit des Lesers dadurch selbst auf die Abweichungen
zwischen denselben. Zwar ist die Darstellung im Vergleich zu den
früheren ausführlicher und bedeutend komplizierter, zugleich ist sie
aber auch verschwommener und weniger klar gegliedert. So ist die
Dreiteiligkeit hier nicht so deutlich durchgehalten wie früher. Auch
scheint die erste Periode eine feinere Gliederung aufzuweisen.
Bevor wir auf die Konstruktion selbst eingehen können, ist es nö-
tig, kurz den Zusammenhang anzudeuten, in welchem sie hier vor-
kommt. An den drei Orten, wo Schelling eine solche Konstruktion
durchführt, kommt sie nämlich in einem unterschiedlichen Zusam-
menhang und mit einer unterschiedlichen Absicht vor. Bei der Kon-
struktion in den Untersuchungen steht, wie in Philosophie und Reli-
gion, die Frage nach der Gattung im Hintergrund. Nachdem Schelling
das Böse als ein allgemeines Prinzip in Bezug auf den Einzelnen nach-
gewiesen hat, stellt er sich die Frage, ob es auch in Bezug auf die
268
Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380.
299
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
273
Wie auch vorher in den Untersuchungen in Bezug auf die Natur: »Der Anblick der
ganzen Natur überzeugt uns von dieser geschehenen Erregung« (Schelling 1809a,
455 / SW VII, 376; Herv. v. Verf.). Nebenbei sei bemerkt, dass die erklärtermaßen
für die gesamte Schrift tragende Unterscheidung von Grund von Existenz und Exis-
tierendem gerade an dieser Stelle zum Tragen kommt, indem die Geschichtskonstruk-
tion damit anfängt, wie Gott, insofern er bloß Grund ist, sich offenbart und damit
beschließt, wie »Gott als Geist, d. h. als actu wirklich sich offenbart« (Schelling 1809a,
458 f., 461 / SW VII, 378, 380). Vgl. dazu Schelling 1804, 57 f., 63 f. / SW VI, 53, 57,
zur Offenbarung des Absoluten als Schicksal und als Vorsehung.
274
Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379; Herv. v. Verf.
300
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
279
Schelling 1809a, 459 / SW VII, 379.
301
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
280
Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379.
281 Vgl. Schelling 1809a, 460, 461 / SW VII, 379, 380. Obwohl weder der Teufel noch
Christus an dieser Stelle wie auch sonst kaum in der Freiheitsschrift namentlich er-
wähnt werden, so scheinen sie gerade hier gemeint. So heißt es: »Daher erst mit der
entschiedenen Hervortretung des Guten auch das Böse ganz entschieden und als die-
ses hervortritt« (Schelling 1809a, 460 / SW VII, 379 f.). Das Gute ist der Gute, da es
nur »in persönlicher, menschlicher Gestalt« erscheinen kann, wie auch »das Böse«,
insofern es »als dieses hervortritt«, nur als der Böse erscheinen kann, weshalb es als
ein »persönliche[s] und geistige[s] Böses« bezeichnet wird (Schelling 1809a, 460 /
SW VII, 380). Durch die Verwendung des Dativs bleibt unentscheidbar, ob ›das‹ oder
›der‹ Böse gemeint ist. Die Qualifizierung als ›persönlich‹ enthält indes einen Wink.
Die Gestalt des Teufels ist hiernach als das Ergebnis einer Transformationslogik zu
denken, an dessen Anfang die Götter stehen. – Auf die soeben zitierte Stelle spielt
Schelling an, wenn er an späterer Stelle den »umgekehrte[n] Gott« erwähnt als »jenes
durch die Offenbarung Gottes zur Aktualisirung erregte Wesen, das nie aus der Po-
tenz zum Aktus gelangen kann, das zwar nie ist, aber immer seyn will«. Von diesem
Wesen bemerkt er zudem, dass es »mit Recht nicht nur als ein Feind aller Kreatur […]
und vorzüglich des Menschen, sondern auch als Verführer desselben vorgestellt« wird
(Schelling 1809a, 474 f. / SW VII, 390).
302
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
285 So auch in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst: »Dieß war das Gefühl der
Welt in jener Periode der tiefsten Umwandlung, als das Schicksal an allem Schönen
und Herrlichen des Alterthums seine letzte Tücke übte. Da verloren die alten Götter
ihre Kraft, die Orakel schwiegen, die Feste verstummten und ein bodenloser Abgrund
voll wilder Vermischung aller Elemente der gewesenen Welt schien sich vor dem
menschlichen Geschlecht zu öffnen. Ueber diesem finstern Abgrund erschien als das
einzige Zeichen des Friedens und des Gleichgewichts der Kräfte das Kreuz, gleichsam
der Regenbogen einer zweiten Sündfluth, wie es ein spanischer Dichter nennt, – zu
einer Zeit, wo keine Wahl übrig blieb, an dieses Zeichen zu glauben« (SW V, 429).
Und kurz vorher: »Ein solches Gefühl [sc. der Heimatlosigkeit und der Verlassenheit
von Gott, R. S.] war über die Welt verbreitet, als das Christenthum entstand. Grie-
chenlands Schönheit war dahin. Rom, welches alle Herrlichkeit der Welt auf sich
gehäuft hatte, erlag unter seiner eignen Größe; die vollste Befriedigung durch alles
Objektive führte von selbst den Ueberdruß und die Hinneigung zum Ideellen herbei.
Ehe noch das Christenthum seine Macht nach Rom erstreckt hatte, schon unter den
ersten Kaisern, war diese sittenlose Stadt mit orientalischem Aberglauben erfüllt,
Sterndeuter und Magier selbst die Rathgeber des Staatsoberhaupts, die Orakel der
Götter hatten ihr Ansehen verloren, noch eh’ sie gänzlich verstummten. Das all-
gemeine Gefühl, daß eine neue Welt kommen müßte, da die alte nicht weiter fort-
schreiten konnte, lag gleich einer schwülen Luft, die eine große Bewegung der Natur
voraus verkündet, auf der ganzen damaligen Welt, und eine allgemeine Ahndung
303
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
Damit ist die Gegenwart oder die »jetzige Zeit« als eine Zeit des »fort-
dauernde[n] Streit[s] des Guten und des Bösen« bestimmt, eben da-
mit aber auch als eine Zeit des Übergangs, die auf eine Zukunft als
»Ende der jetzigen Zeit« und damit des für sie charakteristischen
Streits hin geöffnet ist. 286 Nachdem die Konstruktion der Vergangen-
heit gezeigt hat, wie das Böse kein ›anfängliches Prinzip‹ ist, so bleibt
an dieser Stelle noch übrig, durch die Konstruktion der Zukunft den
Nachweis zu erbringen, dass das Böse ebenso wenig ein letztes Prin-
zip sei. Diese Aufgabe nimmt Schelling sich erst an einer späteren
Stelle der Untersuchungen vor. 287
Die Geschichtskonstruktion ist an dieser Stelle dazu gedacht, die
›Wirklichkeit‹ des Bösen zu belegen, und zwar »seine universelle
Wirksamkeit, oder wie es als ein unverkennbar allgemeines, mit dem
Guten überall im Kampf liegendes Prinzip aus der Schöpfung habe
hervorbrechen können«. 288 Aufgrund dieser Geschichtskonstruktion
kann Schelling schließen, dass es »daher ein allgemeines […] Böses
[gibt], das zwar nie zur Verwirklichung kommt, aber beständig dahin
strebt«. 289 Die Geschichtskonstruktion dient demnach dazu, erstens,
die ›universelle Wirksamkeit‹ des Bösen zu belegen. Dadurch wird
zugleich der Begriff einer »Angst des Lebens« begründet und sowohl
in der Natur als in der Geschichte nachgewiesen. 290 Zweitens will
Schelling dadurch die ›parsische‹ oder manichäische Hypothese zwei-
er gleichursprünglicher Prinzipien zurückweisen, da die Konstruk-
tion zeigt, dass das allerdings allgemeine Böse dennoch kein ›anfäng-
liches‹ Böses ist. 291 Stattdessen nimmt die Materie die Qualität des
schien alle Gedanken nach dem Orient hinzuziehen, als ob dorther der Retter kom-
men würde« (SW V, 427 f.). Damit bezieht Schelling sich auf die Debatte über die
Ursachen des Untergangs Roms, eine Debatte, die besonders mit den Namen Eduard
Gibbon, Montesquieu und Rousseau verbunden ist (vgl. Petri 1990, 26–30). Schelling
verweist an anderer Stelle auf Gibbon (vgl. Schelling 1803a, 225 / SW V, 312). Werke
von Montesquieu sowie die (fast vollständigen) Œuvres complètes Rousseaus be-
fanden sich in Schellings Bibliothek (vgl. Müller-Bergen 2007, 135, 249).
286
Schelling 1809a, 461 / SW VII, 380. Vgl.: »Es ist, als ob Christus als das in die
Endlichkeit gekommene und sie in seiner menschlichen Gestalt Gott opfernde Unend-
liche den Schluß der alten Zeit machte; er ist bloß da, um die Grenze zu machen« (SW
V, 432).
287 Vgl. Schelling 1809a, 493–496 / SW VII, 403–406.
289 Schelling 1809a, 461 f./ SW VII, 380 f.; Herv. v. Verf.
290
Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381.
291 Es scheint, dass ein allgemeines Böses nur durch einen »allgemeine[n] Grund der
Solicitation«, dieser aber nur durch ein »böse[s] Grundwesen« erklärt werden kann.
304
Die Konstruktionen der Perioden der Geschichte
Bösen erst nachträglich an: Das Böse ist eine Qualität der Materie
oder des Grundes, die erst nachträglich ›erweckt‹ oder ›erregt‹ wird.
Schließlich soll die Konstruktion auch belegen, dass das Böse ›nie zur
Verwirklichung kommt‹, obwohl es ›beständig dahin strebt‹. Sie zeigt
nämlich, wie das Böse nur »durch das Für-sich-wirken des Grundes
endlich zum allgemeinen Prinzip entwickelt worden« ist und damit
nur ein Erregtes, nicht ein Ursprüngliches ist. 292 Dies ist Schellings
Alternative zur Erklärung der Sollizitation durch ein ursprünglich
böses Wesen.
Im Unterschied zu den früheren Durchführungen scheint die
Konstruktion der Geschichte in den Philosophischen Untersuchun-
gen mit der Charakterisierung der zweiten Periode abgeschlossen.
Trotz einiger Andeutungen bleibt die dritte Periode oder die Zukunft
hier jedenfalls weitgehend ausgeblendet. 293 In jeder Konstruktion
werden zwar drei Perioden oder Zeitalter konstruiert, die Geschichte
selbst hat jedoch nach Schellings Erklärung nur zwei »Hauptpar-
tien«. 294 Die erste Periode wurde aber, wie wir gesehen haben, in kei-
ner der drei Fassungen ohne einen Hinweis auf eine dieser noch vo-
Dabei verweist er auch auf »jene Auslegung der Platonischen Materie«, wonach diese
»ein ursprünglich Gott widerstrebendes und darum an sich böses Wesen ist« (Schel-
ling 1809a, 452 / SW VII, 374). Vgl. Schelling 1804, 32 f. / SW VI, 36 f.
292 Schelling 1809a, 462 / SW VII, 381.
293 Sie wird erst viel später ausdrücklich thematisiert: »Nach allem diesem bleibt
immer die Frage übrig: endet das Böse und wie? Hat überhaupt die Schöpfung eine
Endabsicht und wenn diess ist, warum wird diese nicht unmittelbar erreicht, warum
ist das Vollkommne nicht gleich von Anfang?« (Schelling 1809a, 493 / SW VII, 403).
Der Zusammenhang mit der Frage nach Tod und Unsterblichkeit sowie die Anklänge
an den vierten Abschnitt von Philosophie und Religion auf den folgenden Seiten sind
unübersehbar. So heißt es z. B.: »Gott giebt die Ideen, die in ihm ohne selbständiges
Leben waren, dahin in die Selbstheit und das Nichtseyende, damit, indem sie aus
diesem in’s Leben gerufen werden, sie als unabhängig existirende wieder in ihm sey-
en« (Schelling 1809a, 494 f. / SW VII, 404; Herv. v. Verf.). Schelling fügt dem Satz
eine Fußnote hinzu, die den Leser auf folgende Stelle in Philosophie und Religion
verweist: »Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem An-
geschauten die Selbstheit verleiht, giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und
opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben waren,
ins Leben gerufen, ebendadurch aber fähig werden, als unabhängig existirende wieder
in der Absolutheit zu seyn« (Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf.). So wie
Schelling hier anschließend die »Indifferenz« näher als »Liebe« bestimmt (Schelling
1804, 73 f. / SW VI, 63), so schließen sich auch an den aus den Philosophischen Unter-
suchungen zitierten Satz Überlegungen zum Verhältnis von Indifferenz und Liebe an
(Schelling 1809a, 498–501 / SW VII, 407–409).
294
Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.
305
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
306
Die Unsterblichkeit der Seele
297 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57. Vgl.: »Dieselben Perioden der Schöpfung, die in
diesem [im Reich der Natur, R. S.] sind, sind auch in jenem [im Reich der Geschichte,
R. S.]; und eines ist des anderen Gleichniss und Erklärung« (Schelling 1809a, 457 /
SW VII, 377 f.). Danach fängt die Konstruktion der Perioden der Vergangenheit und
der Gegenwart an.
298 Vgl. Eschenmayer 1803, 59–61 (§§ 67–68).
299
In den Würzburger Vorlesungen tritt der systematische Ort der Frage sowohl nach
dem Bösen als auch nach der Unsterblichkeit etwas deutlicher hervor. Wir können
jedenfalls vermuten, dass letztere Frage auch bereits im Gespräch, dessen Umarbei-
tung Philosophie und Religion ist, eine zentrale Rolle spielte. Sie dürfte mit zu den
Gegenständen gehören, die »in den Mysterien gelehrt werden müsse[n]« (Schelling
1802a, 36 / SW IV, 234; vgl. Schelling 1802a, 33 f., 132, 190 f. / SW IV, 233, 283, 312).
Die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele steht auch im Hintergrund von Schel-
lings Auslegung des Demeter-Mythos im Aufsatz Ueber das Verhältniß der Natur-
philosophie (vgl. Schelling 1802f, 24 f. / SW V, 123 f.), die dort parallel an einer Aus-
legung des platonischen Mythos im Phaidon durchgeführt wird und die Schelling
1804 wieder aufnimmt (vgl. Schelling 1804, 36, 69, 71 / SW VI, 39, 60, 62). Gerade
diese Stelle zog Carl Ludwig Michelet als Beleg dafür heran, dass die Kerngedanken
307
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
von Philosophie und Religion nicht erst 1804 entwickelt wurden (vgl. Michelet 1839,
34 f.).
300 Schelling 1809a, 494 / SW VII, 404.
301 Wohl deshalb fühlen mehrere Kommentatoren sich dazu genötigt, ihr Interesse
eigens zu rechtfertigen, vgl. Beckers 1865, 15; Grau 1997, 592, 609 f.; Schalow 1997,
244 f. Wilhelm Diltheys Rezension eines Separatdrucks der Clara ist insofern höchst
aufschlussreich, als sie zu zeigen vermag, woher dieser Rechtfertigungsdruck stammt.
So bemerkt er: »Dieser Dialog über die jenseitige Welt in ihrem Zusammenhang mit
der Natur spricht wie aus fernen Zeiten zu uns herüber«. Das Befremdliche ist dabei
nicht erst in den in diesem Dialog diskutierten Thesen zu suchen, sondern betrifft
bereits die Themenwahl selbst. Mit dieser weiß die »praktische Richtung unserer
Zeit« und »die resolute Lebensfreudigkeit derselben« nichts mehr anzufangen. Vor
dem Hintergrund der für selbstverständlich gehaltenen historischen Erledigung des
Christentums bzw. der Religion lässt sich das Interesse eines Philosophen für solche
»halb-poetischen, halb-religiösen, kaum aber philosophischen« Themen nur noch aus
dessen religiöser oder konfessioneller Voreingenommenheit oder aus überholten mo-
dischen Vorlieben erklären. Thema und Form lassen sich somit hinlänglich aus Schel-
308
Die Unsterblichkeit der Seele
lings Verbindungen zur »schwärmerische[n] Schule« der Romantik erklären, die sich,
wie hinlänglich bekannt, in »phantastische[n] Stimmungen« bewegte. Solche Vor-
meinungen machen nicht nur eine Prüfung des Wahrheitsanspruchs, den Schelling
vielleicht mit einigen der von ihm aufgestellten Behauptungen verbunden haben
dürfte, obsolet, sondern sie sind zudem dafür verantwortlich, dass man sich der Be-
mühung um eine hermeneutische Durchdringung des Textes für enthoben hält, damit
aber auch die Mittel aus der Hand gegeben hat, mögliche Differenzen zu den ver-
meintlich ›romantischen‹ Autoren überhaupt noch in den Blick zu bekommen. Damit
erübrigt es sich, auf Schellings These einzugehen, dass solche Themen nicht über die
Religion in die Philosophie gelangt sind, sondern vielmehr umgekehrt. Der Dialog
empfiehlt sich damit nur noch dem ästhetischen Genuss: »Was aber den Leser an
diesem Dialog fesseln wird, ist die Form« oder die »Poesie« und »Kunst«, die Dilthey
in demselben zu entdecken meint (Dilthey 1862, 407–409).
302 Schelling 1804, 7 / SW VI, 20; vgl. Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f.
303
»Wie dagegen die erhabnen Lehren, welche jene [die Religion, R. S.] aus dem
gemeinschaftlichen Eigenthum der Philosophie sich einseitig angemasst hatte, mit
der Beziehung auf ihr Urbild auch ihre Bedeutung verloren und, auf einen ganz an-
dern Boden versetzt, als dem sie entsprossen waren, ihre Natur völlig umwandelten«
(Schelling 1804, 2 / SW VI, 16 f.; Herv. v. Verf.).
304 Obwohl die Absicht des Abschnitts darin besteht, die »Endabsicht der Geschichte«
aufzudecken und dadurch nachzuweisen, wie Gott »eben so in Bezug auf die Gattung
das gleiche Wesen der Freyheit und der Nothwendigkeit« ist (Schelling 1804, 63 /
SW VI, 56; Herv. v. Verf.), so fokussiert Schelling zunächst doch wieder ausschließlich
die einzelne Seele (vgl. Schelling 1804, 68–72 / SW VI, 60–62).
309
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
305 So war Schelling auch im zweiten Abschnitt vorgegangen, wo er das dort Erörterte
auf drei Thesen zurückbringt, für welche er Belegstellen aus früheren Schriften an-
führt (Schelling 1804, 52 f. / SW VI, 49 f.; vgl. Schelling 1804, 19 / SW VI, 28).
306 Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
307 An dieser Stelle scheint Schelling nun in der Tat nur die menschliche Seele zu
meinen. Jedenfalls trifft dasjenige, was er hier von der Seele behauptet, nur auf Men-
schen zu.
308
Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
310
Die Unsterblichkeit der Seele
(SW VI, 502 (§ 273)). Die »Verwicklung der Seele mit dem Leib« ist
es, »welche eigentlich Individualität heisst«. 309 Der »Begriff des Indi-
viduums« besteht darin, dass »ein und dasselbe Ding als ein und das-
selbe, das eine und das andere sey«, d. h. sich auf zweierlei Weise, als
leiblich und seelisch manifestiert (SW VI, 502 (§ 273)). Der Seele
kommt Individualität nur insofern zu, als sie sich auf einem Leib
bezieht, dessen »unmittelbare[r] Begriff« sie ist (SW VI, 531 (§ 292
Erl.)). Alles, was im Leib vorgeht, findet eine Entsprechung im Idea-
len oder in der Seele. Die Seele ist das Erkennende oder Subjekt, des-
sen Objekt der Leib ist. Dieses Subjekt-Objekt kann demnach auch als
Leib-Seele bezeichnet werden. Dieses Subjekt-Objekt ist jedoch selbst
wieder Objekt eines Subjekts höherer Stufe, das Schelling als die See-
le, »sofern sie das Princip des Verstandes ist«, 310 oder auch als »Prin-
cip des Bewußtseyns« bezeichnet (SW VI, 509). In dieser zweiten
Verwendungsweise von ›Seele‹ wird somit insbesondere auf das der
Seele innewohnende reflexive Moment gezielt. Schelling bezeichnet
sie öfters auch als ›Begriff der Seele‹, nämlich der Seele ihrer ersten
Dimension nach. Insofern die Seele in diesem zweiten Sinne den
Leib-Seele-Komplex als ihr Objekt hat, ist auch sie selbst mittelbar
endlich und hat eine Beziehung auf die Zeit. Schließlich unterscheidet
er noch das Wesen oder die Idee der Seele. Von jeder Seele gibt es eine
Idee in Gott. Insofern »das ihm entsprechende Endliche« auch wirk-
lich existiert, ist jene Idee in ihm »das Princip der ewigen Erkennt-
nisse«. 311 Diese dritte Dimension ermöglicht es der Seele, nicht bloß
über sich selbst reflektieren zu können, sondern zudem auch zeit-
unabhängige Gesetze zu denken, Ideen zu bilden und eine Erkenntnis
Gottes zu haben, wenn auch nicht jede Seele diese Möglichkeit aktua-
lisiert (vgl. SW VI, 561 (§ 312)). Die ersten beiden Dimensionen der
Seele nennt Schelling auch zusammenfassend die »bloß erscheinende
Seele«. 312 Die wirklich existierende Seele ist somit eine Mannigfaltig-
keit, an welcher drei Dimensionen zu unterscheiden sind. Diese Man-
nigfaltigkeit darf demnach nicht einfach mit der ›Seele, welche sich
unmittelbar auf den Leib bezieht‹, gleichgesetzt werden. Wenn auch
aus dem Wesen der Seele nicht notwendig folgt, dass damit auch das
ihm entsprechende Endliche existiert, kann umgekehrt die wirklich
311
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
existierende Seele nicht existieren, ohne dass das Wesen der Seele
existiert (vgl. SW VI, 536).
Wenn Schelling an diese Unterscheidung erinnert, dann geschieht
dies zunächst, um auf die mehrfache Verwendungsweisen von ›Seele‹
aufmerksam zu machen und damit klar wird, was es ist, wovon die
Unsterblichkeit prädiziert wird. Er wendet die Unterscheidung ins-
besondere gegen den Gegensatz von Leib und Seele, mit welchem
Eschenmayer durchgängig operiert. Die Unterscheidung lässt es nicht
zu, Leib und Seele als Potenzen zu bezeichnen, wie Eschenmayer dies
tut. Wenn Eschenmayer die Potenz des Endlichen als Leib bzw. Sinn-
lichkeit bestimmt, dann versteht er darunter das rein Endliche, nicht
das von Schelling so genannte »unendlich Endliche«. 313 Da nur Prä-
sentationsweisen des Absoluten füglich als Potenzen zu bezeichnen
sind, so sind diese eo ipso unendlich. Danach verbietet es sich gerade-
zu, das rein Endliche zu einer Potenz zu erklären. Außerdem impli-
ziert Eschenmayers Bezeichnung des Leibes als einer Potenz eine
Kontinuität oder Stetigkeit zwischen Endlichem und Unendlichem,
die gegen das Konstruktionsgesetz der Potenzen verstößt. 314 Wenn
es gelegentlich so aussieht, als ob Schelling selbst mit diesem Gegen-
satz von Leib und Seele operiert, so kann es sich dabei nur um eine
etwas lässige Ausdrucksweise handeln, da gerade das Hauptargu-
ment, auf welches er seinen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele
stützt, einem solchen Gegensatz zuwiderläuft. 315 Bei der lässigen Ver-
wendung von ›Leib‹ und ›Seele‹ ist erstere nur ein verkürzter Aus-
druck für das Ganze der Leib-Seele, während letztere das Wesen der
Seele meint. Das ›Wesen der Seele‹ ist jedoch zugleich Wesen des
Leibes. Dies ergibt sich unmittelbar aus der Lehre des Parallelismus
oder der Identität von Idealem und Realem. So heißt es: »Jeder Weise
des Affirmirtseyns im realen All entspricht eine gleiche Weise des
Affirmirens im idealen All« (SW VI, 204 (§ 46)). Dies gilt auch umge-
kehrt: Es kann nichts im idealen All, also auch keine Seele geben,
ohne eine Entsprechung im realen All oder in einem Leib. Wie dem
zeitlichen und endlichen Leib eine zeitliche und endliche Seele kor-
dass die Seele »als unmittelbarer Begriff des Leibes« endlich und zeitlich ist, da »die
Existenz des Leibes […] eine zeitliche, eine vergängliche« ist, wo er dann aber ande-
rerseits eine Ewigkeit des Wesens der Seele behauptet, weil dieses der »im Absoluten
auf ewige Weise ausgedrückte Begriff des Leibes« ist (SW VI, 535 f. (§ 299)).
312
Die Unsterblichkeit der Seele
respondiert, so muss auch dem (ewigen) Wesen der Seele ein (ebenso
ewiges) Wesen des Leibes entsprechen. 316 Nur vom Wesen der Seele,
das zugleich Wesen des Leibes ist, kann die Ewigkeit und damit die
Unsterblichkeit prädiziert werden. 317 Schelling erinnert Eschenmayer
an diese Unterscheidung und deren Folgen, da dieser Ewigkeit und
Unsterblichkeit der Seele unterschieden und letztere von der Seele
in ihrer Individualität ausgesagt hatte. 318
Eschenmayer versteht nämlich unter der Unsterblichkeit der Seele
eine individuelle Fortdauer der Seele: Erstens ist es das Individuum,
das fortdauert, und zweitens wird der Zustand nach dem Tode bzw.
das Verhältnis zwischen dem gegenwärtigen und dem zukünftigen
Zustand als ein Fortdauern gedacht. Es ist schwer zu sehen, wodurch
dieser Begriff der Unsterblichkeit sich merklich vom geläufigen ›dog-
matischen‹ Begriff der Unsterblichkeit unterscheiden würde. Diesen
Begriff übereignet er gänzlich einer ›von aller Spekulation befreyten
Theologie‹ und verzichtet damit auf jeglichen Versuch, ihn noch ra-
tional zu rechtfertigen. Er behält den aus der Überlieferung stam-
menden Begriff als Gegenstand eines Fürwahrhaltens oder als eine
zwar theoretische Annahme bei, ohne aber für ihn Vernunftgründe
anzuführen. Wenn sich inzwischen auch das kritische Vorzeichen ge-
ändert haben mag, so scheint diese Position insofern auf einen Kon-
316 »Im Absoluten ist also auch der Begriff des menschlichen Leibes nicht auf eine
bloß vorübergehende, sondern auf eine ewige Weise enthalten als nothwendige Folge
der Idee« (SW VI, 534 (§ 298)). »Ist nun die Seele der Idee oder dem Wesen nach ewig,
so ist auch der Begriff des Leibes ewig und auf eine ewige Weise enthalten im Abso-
luten« (SW VI, 535 (§ 298)). »Dieser ewige Begriff des Leibes oder die Idee der
menschlichen Existenz ist dasjenige von der Seele, was selbst ewig ist« (SW VI, 535
(§ 299)).
317 »Das wahre Wesen der Dinge […] ist weder Seele noch Leib, sondern das Identi-
sche beider« (SW VI, 217 (§ 65 Zus.)); »der Leib [ist] nur in der unvollkommenen
Erkenntniß Leib und von der Seele verschieden, in dem An-sich aber dasselbe mit
ihr« (SW VI, 213 (§ 61)).
318
»Es ist daher Miskennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit
über die Ewigkeit der Seele und ihr Seyn in der Idee zu setzen und wie uns scheint,
klarer Misverstand, die Seele im Tode die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl in-
dividuell fortdauern lassen« (Schelling 1804, 69 / SW VI, 61). Dass Eschenmayer ›die
Unsterblichkkeit über die Ewigkeit der Seele‹ gesetzt hat, schließt Schelling daraus,
dass er die Unsterblichkeit als von einer »höhern Dignität, als diese der Ideen« be-
zeichnet (Eschenmayer 1803, 59 (§ 67)). Dass Eschenmayer den Tod als ein ›Abstrei-
fen‹ der Sinnlichkeit versteht, geht ohne weiteres aus Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68),
hervor. Wie er die Unsterblichkeit als eine individuelle Fortdauer bestimmt, scheint
mir allerdings nicht ganz klar aus dieser Stelle hervorzugehen.
313
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
sens rechnen zu können, als die Philosophie selbst sich von dem Be-
griff verabschiedet zu haben scheint. 319
Für Eschenmayer ist die Unsterblichkeit der Seele Gegenstand des
Glaubens, nicht des Wissens:
[D]as Leben ist nur der mittlere Exponent von Tod und Unsterblichkeit.
Diese beyden sind die Gränzen, welche keiner Konstruktion und keiner
Demonstration mehr fähig, nur durch die unmittelbare Sprache Gottes
an unser Herz, durch das Licht, das nur in die Seele scheint, d. h. durch
Offenbarung vorhanden seyn können. Der erste Willensakt und der
erste Erkenntnissakt setzt beyde schon voraus, und sie sind mithin die
unveränderlichen Postulate, welche die Nichtphilosophie der Philoso-
phie darbietet. 320
Weder Tod noch Unsterblichkeit sind einer Konstruktion fähig und
können somit nicht als notwendig erwiesen, sondern nur geglaubt
werden. Eschenmayer spricht diesbezüglich auch von einem »Postu-
lat«. 321 Darunter scheint er nicht so sehr die »Foderung«, eine Idee
»praktisch zu realisiren«, zu verstehen, als in der Tat nur eine »Fo-
derung, zum Behuf des moralischen Fortschritts, (also in praktischer
Absicht)« etwas »theoretisch […] anzunehmen« (AA I,3, 104). 322 Die
Überzeugung von der Unsterblichkeit ist nur praktisch zu rechtfer-
tigen, nämlich als eine für sittliches Handeln erforderliche Annahme.
Theoretische Gründe lassen sich weder für noch gegen diese Annah-
me vorbringen. 323 Zugleich verweist Eschenmayer auf einige paradig-
matische Erfahrungen, wie zum Beispiel das Altern, das uns die Ver-
gänglichkeit des Leibes sozusagen am eigenen Leibe erfahren lässt
und ein Vorgefühl des Zustandes vermittelt, der uns nach dem Tod
erwartet. 324 Die Rede von einem Vorgefühl ist dabei völlig angemes-
gen von Gott man anhängt, da diese niemals auf das Handeln Einfluss nehmen könn-
ten (vgl. Eschenmayer 1803, 39–41 (§ 49)). Die Moral kann durch theoretische Ein-
sichten nicht tangiert werden. Eschenmayer bezeichnet diese Postulate jedoch nicht
nur als Postulate des sittlichen Handelns, sondern ebenso der Philosophie: Die Phi-
losophie als Gewissenhaftigkeit stützt sich ihrerseits auf diese Postulate, die sie nicht
mehr zu rechtfertigen vermag, vgl. Eschenmayer 1803, 35 (§ 44), 54 f. (§ 60).
324
Vgl. Eschenmayer 1803, 60 (§ 68): Das Altern ist »ein allmähliges Abstreifen der
314
Die Unsterblichkeit der Seele
Sinnlichkeit, ein Einziehen der Neigungen und Leidenschaften, ein Absterben für den
Genuss, ein rastendes Zaudern im Handeln, ein Unbekümmertseyn um alles, was
spekulativ heisst, hingegen ein durch Erfahrung und vielseitige Reflexion erworbenes
Gefühl für alles, was wahr, schön und gut ist« und der Tod »eine Metamorphose,
wobey die Puppe der Sinnlichkeit abfällt, damit der Geist sich mit freyern Schwingen
zum Urquell des Lichts erhebe«.
325
Eschenmayer 1803, 60 f. (§ 68).
326 Eschenmayer 1803, 61 (§ 68).
327
Schelling 1804, 45 / SW VI, 44.
315
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
331
Schelling 1804, 71 f. / SW VI, 62.
332 »Die Endlichkeit ist an sich selbst die Strafe, die nicht durch ein freyes, sondern
316
Die Unsterblichkeit der Seele
Daraus, dass die Seele auf zweierlei Art mit dem Leib ›verwickelt‹
sein kann, leitet Schelling zweierlei ab. Erstens ist die Seele in dem
Maße notwendig unsterblich, als sie sich von der Bindung an den Leib
befreit, d. h. philosophiert. Zweitens sind alle, denen eine solche Be-
freiung nicht gelingt, »am meisten im wahren Sinne sterblich«. 333
Jenen beiden Modi entsprechen nämlich zwei unterschiedliche Ge-
fühle, in welchen sich der Tod oder die Sterblichkeit bekundet: die
Todesfurcht oder die ›Liebe des Todes‹. Dem Zustand, in welchem
die Selbstheit das Herrschende ist, entspringt notwendig eine Furcht
vor dem Tod, teils weil er mit dem Wunsch, ihn unbegrenzt fortzu-
setzen, einhergeht, teils weil er ›dem Nichts ähnlich‹ ist. 334 Den
»wahrhaft philosophirenden« hingegen entsteht eine »Liebe des
Todes«, indem sie durch ihn erst in ihr wahres Wesen eingehen wer-
den oder genauer, von dem geschieden werden, was auch an ihnen
noch endlich ist. 335 An dieser Stelle hebt Schelling nochmals hervor,
wie diese Ansicht mit der Annahme oder Nicht-Annahme der Reali-
tät der Endlichkeit zusammenhängt. Unter der Annahme der Realität
der Endlichkeit ist eine solche Konzeption der Unsterblichkeit nicht
zu behaupten. 336 Auch dann kommt man jedoch nicht umhin, zwei
entgegengesetzte Zustände nach dem Tod anzunehmen. Das Spezi-
fische liegt somit nicht nur in der Behauptung entgegengesetzter Zu-
stände, sondern auch in ihrer Zuordnung zu einem Verhalten, einem
Streben oder einer Verfassung des gegenwärtigen Willens. Beide Ge-
fühle stehen nämlich nicht gleichgültig nebeneinander, sondern sind
unterschiedlich gewertet.
Schelling hatte darauf hingewiesen, dass der Begriff der Unsterb-
lichkeit, den Eschenmayer behauptet, sich auf einen Gegensatz von
Leib und Seele stützt, den dieser mit dem Dogmatismus teilt. Da-
gegen führt er die Unterscheidung dreier Dimensionen der Seele an.
Zudem hatte er gezeigt, wie Eschenmayer nicht in der Lage ist, zwei
Verhältnisse zum Tod zu unterscheiden. Außerdem hatte dieser sich
scheidet Schelling die »Liebe zum Tod« am schärfsten von einer »Sehnsucht nach dem
Tod«, also von einem Herbeiwünschen des Todes (F. W. J. Schelling an E. F. Georgii,
14. April 1811, Plitt II, 249).
336
Am Gefühl der Todesfurcht zeigt sich übrigens besonders eindrucksvoll, wie das
Endliche, trotz seiner Nicht-Realität, »dem Gefühl sich als etwas sehr Reelles ankün-
digt« (Schelling 1809a, 441 / SW VII, 366; Herv. v. Verf.).
317
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
337 Schelling 1809a, 399 / SW VII, 336. Vgl. »So unfasslich diese Idee der gemeinen
Denkweise vorkommen mag, so ist doch in jedem Menschen ein, mit derselben über-
einstimmendes, Gefühl, als sey er, was er ist, von aller Ewigkeit schon gewesen, und
keineswegs in der Zeit erst geworden« (Schelling 1809a, 468 f. / SW VII, 386; Herv. v.
Verf.). Dieses Gefühl gibt sich bereits in solchen wenig aufsehenerregenden Äußerun-
gen kund wie dem zur Entschuldigung angeführten ›So bin ich nun einmal‹. Vgl.
damit Spinozas Bemerkungen: »sentimus, experimurque, nos aeternos esse«, und:
»Si ad hominum communem opinionem attendamus, videbimus eos suae mentis ae-
ternitatis esse quidem conscios, sed ipsos eandem cum duratione confundere eamque
imaginationi seu memoriae tribuere, quam post mortem remanere credunt« (Spinoza
1677, Bd. II, 296, 301 f. (Ethica, V 23 sc., V 34 sc.)). Während in der ersten Stelle von
einem Gefühl der Ewigkeit die Rede ist, das nur diejenigen empfinden, die der dritten
Erkenntnisart fähig sind, so wird in der zweiten Stelle auf ein Gefühl der Ewigkeit
hingewiesen, das alle empfinden, wenn sie es auch nicht alle seiner Bedeutung nach
richtig verstehen.
338 Vgl. Zeltner 1931, 62. Für zwei Versuche einer solcher Durchführung, vgl. Wie-
318
Die Unsterblichkeit der Seele
342
Vgl. die Verwendung von Ausdrücke wie ›schon jetzt‹ oder ›hier schon‹, die im
319
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
nach dem Tode, dass die Seele in ihre eigentliche Existenz eingeht,
sondern diese kann bereits in der Gegenwart zum Tragen kommen.
Deshalb wird der Tod von Schelling nicht als ein zukünftiges und
noch ausstehendes Ereignis bestimmt, sondern als ein solches, das
bereits in die Gegenwart hineinwirkt. Der Tod wird von ihm be-
stimmt als eine »Reinigung« oder als eine Befreiung von der Sinn-
lichkeit. 343 Die Selbstheit wird nicht aufgehoben, sondern verwandelt.
Zwar kann die Seele sich im gegenwärtigen Leben nie ganz von der
Sinnlichkeit lösen, aber sie kann danach streben, sich so viel wie mög-
lich davon zu lösen. Deshalb die Verwendung des Komparativs und
des Superlativs. 344 Damit führt Schelling die Analysen des dritten
Abschnitts fort, wo er die Identität von Sittlichkeit und Glückseligkeit
beschrieben hatte. Während dort das Verhältnis von Gegenwart und
Vergangenheit im Fokus stand, da wird derselbe Zustand jetzt hin-
sichtlich des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft expliziert.
vierten Abschnitt viermal und SW VI, 566 (§ 315), auf engstem Raum fünfmal vor-
kommen.
343 Schelling 1804, 71 / SW VI, 62.
344 So ist z. B. die Rede von solchen, welche »den Dämon in sich am meisten befreyt
haben« und von solchen, die »von Materie trunken gleichsam am meisten, in ihrem
Sinne, fortdauern« (Schelling 1804, 70 / SW VI, 61; Herv. v. Verf.). Ferner noch vom
»negirteste[n] Zustand«, von »viel wenigere[n] Zwischenstufen« usw. (Schelling
1804, 71 / SW VI, 62).
345
Schelling 1804, 63 / SW VI, 56.
320
Gott als Liebe
321
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
348
Vgl. Schelling 1804, 40 / SW VI, 42.
349 Vgl. Beckers 1865, 78.
350
So Beckers 1865, 77.
322
Gott als Liebe
von der wirklich existierenden Seele wieder in Gott ein, als von ihr
dem Wesen untergeordnet und dadurch zu einem Ausdruck oder
›Werkzeug‹ des Absoluten gemacht worden ist. Das Verhältnis der
drei ›Dimensionen‹ in der jeweils existierenden Seele ist entscheidend
dafür, wie viel von ihr ewig oder unsterblich ist. Deshalb kann Schel-
ling sagen, dass, je mehr man hier die Seele von ihrer Beziehung zum
Leib reinigt und sie stattdessen zum Organ des Absoluten umgestal-
tet, desto mehr auch unsterblich ist. 351 Schelling definiert den Tod als
die Reinigung vom Leib bzw. von allen Verhältnissen, in welche die
Seele im gegenwärtigen Leben verwickelt ist. Wieviel nach dieser
Reinigung oder Substraktion übrigbleibt, ist jedoch abhängig davon,
wie man gelebt hat. An der platonischen Lehre hebt Schellings ins-
besondere den Gedanken hervor, dass die ethisch qualifizierte Diffe-
renz über den Tod hinaus Bestand hat. 352 Deshalb kann er auch die
Endabsicht der Geschichte als eine »Versöhnung des Abfalls« be-
stimmen. 353
Die Unsterblichkeit der Seele betrifft somit die Folgen des Verhält-
nisses von individueller Seele und Wesen der Seele. Die erste, aus
dem Abfall erfolgende Selbstheit ist eine bloß notwendige, die »aus
der unmittelbaren Wirkung Gottes herfliess[t]« und die »Gott, kraft
der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Angeschauten […]
verleiht«. 354 Der Abfall in diesem Sinne verknüpft Gegenwart und
Vergangenheit und bindet jene an diese als an ihren Grund. Die zwei-
te, in der Zeit erworbene Selbstheit hingegen ist eine selbstgegebene:
Nur diese geht auch in die Zukunft ein. Der Einzelne hat insofern
eine gewisse Distanz zur ersten Selbstheit, indem es ihm frei steht,
sie zum Herrschenden oder zum Unterliegenden zu machen. Dadurch
kann die erste Selbstheit eine Anreicherung erfahren und einen neu-
en Wert erhalten, den sie in Gott nicht hatte oder haben konnte und
der ihr nur dadurch zuwachsen kann, dass die Idee der Endlichkeit
anheimgegeben wird. 355
Von hier aus »mag auch dieser [Abfall, R. S.] in jener Beziehung
von einer mehr positiven Seite angesehen werden«. 356 Erst jetzt ist es
355
Für den Unterschied zwischen »Ewigkeit des Geistes a parte ante« und »Ewigkeit a
parte post«, vgl. Beckers 1865, 107.
356
Schelling 1804, 73 / SW VI, 63.
323
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
357
Vgl. Schelling 1804, 20 / SW VI, 29.
358 Schelling 1804, 64 / SW VI, 57.
359 Vgl. Schelling 1804, 43 f. / SW VI, 44.
360 Dies bezeichnet Schelling später als den »Willen des Grundes«, der »kein bewuss-
ter oder mit Reflexion verbundner Wille« ist, »obgleich auch kein völlig bewusst-
loser«. Dieser Wille ist insofern blind, als er nicht weiß, was er will, und zwar in einem
doppelten Sinn: Er wird nicht durch eine Absicht geleitet und er sieht nicht voraus,
was aus ihm erfolgen wird (Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395).
361 Schelling 1804, 55 / SW VI, 51 f.
362
Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf.
324
Gott als Liebe
zur Offenbarung Gottes wäre, dass die Ideen unmittelbar durch den
Abfall notwendig wieder in der Absolutheit wären.
Damit ist nicht nur der Begriff des Abfalls vervollständigt, son-
dern auch der Begriff des Absoluten erhält auf dieser zweiten Szene,
innerhalb der ideellen Reihe, einen neuen Wert, der ihn vervollstän-
digt. Erst innerhalb der ideellen Reihe zeigt sich eine Dimension des
Absoluten, die innerhalb der reellen Reihe oder nach der Logik des
reellen Prinzips nicht hervorzutreten vermochte. Insofern die End-
absicht, die sich in der Geschichte entdecken lässt, Gott zugeschrieben
werden kann und insofern er somit mit dem Universum insgesamt
eine Absicht verfolgt, ist er selbst als ein Wille zu denken. 363
Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur [und d. h.
insofern er bloß Grund von Realität ist, R. S.], dem Angeschauten die
Selbstheit verleiht [und er kann nicht anders, wenn dasjenige, worin er
sich selbst anschauen soll (das Angeschaute), gleich absolut sein muss
wie er selbst, R. S.], giebt er es selbst dahin in die Endlichkeit, und opfert
es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebnes Leben
waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, als unabhän-
gig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn, welches durch die
vollkommne Sittlichkeit geschieht. 364
Der Abfall erhält dadurch einen sinnhaften Charakter, dass er end-
liche Wesen dazu befähigt, sich ein eigenes Leben zu geben, sich Ei-
genschaften zuwachsen zu lassen, die ihnen nicht bereits aufgrund
363
Wenn dies in Philosophie und Religion auch nicht expressis verbis formuliert
wird, so ist nicht zu sehen, welchen Sinn es hat, von einer Absicht zu sprechen, wenn
diese nicht aus einem Willen erwächst. Dieser Wille wird in den Philosophischen
Untersuchungen, im Unterschied zum »Willen des Grundes«, als ein »Wille der Lie-
be« bestimmt. Dieser ist kein blinder, sondern ein »freyer und bewusster Wille«.
Dieser Wille ist zum einen durch eine Absicht geleitet, zum anderen ist er mit einem
Wissen darüber verbunden, was aus seiner Tat erfolgen wird. Ohne letztere Bestim-
mung wäre dieser Wille zwar nicht völlig blind, indem er ja durch eine Absicht gelei-
tet wird, aber immer noch insofern blind, als er nicht wirklich weiß, was er will bzw.
welche Folgen sich aus seinem Willen ergeben werden, so dass Gott durch diese Fol-
gen unangenehm überrascht sein könnte (vgl. Schelling 1809a, 482 / SW VII, 395).
Das häufige Vorkommen von ›damit‹, ›daher‹ und ›um‹ markiert stets eine Absicht,
die Gott mit der »Schöpfung« verfolgt (vgl. Schelling 1809a, 487–492 / SW VII, 399–
403).
364 Schelling 1804, 73 / SW VI, 63; Herv. v. Verf. Vgl.: »Die Ideen, die Geister muss-
ten von ihrem Centro abfallen, sich in der Natur, der allgemeinen Sphäre des Abfalls,
in die Besonderheit einführen, damit sie nachher, als besondere, in die Indifferenz
zurückkehren und, ihr versöhnt, in ihr seyn könnten, ohne sie zu stören« (Schelling
1804, 64 / SW VI, 57; Herv. v. Verf.).
325
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
ihrer idealen Verfassung, aber ebenso wenig bloß von den Verhält-
nissen, in welchen sie sich finden, zukommen, sondern die ihnen
selbst zuzuschreiben sind. Erst dadurch ist ihnen die Möglichkeit er-
öffnet, ›als unabhängig existirende wieder in der Absolutheit zu seyn‹
oder aber diese Möglichkeit zu verfehlen. Diese ist nur durch die voll-
kommene Sittlichkeit realisierbar, wenn auch niemals der ganze
Mensch, so wie er in der Zeit oder als endliches Wesen ist, in jene
Absolutheit wieder eingeht, sondern nur der Teil von ihm, der jener
vollkommenen Sittlichkeit entspricht. 365 Die Identität mit Gott ist so-
mit keine Aufhebung der Selbstheit oder ein Verschwinden des Indi-
viduums in Gott, sondern die Selbstheit, oder besser, der Teil der
Selbstheit, der Ausdruck des Wesens der Seele geworden ist, bleibt
darin erhalten. Gott, so wie er hier erscheint, fungiert demnach als
ein Auswahl- oder Ausleseprinzip, das nur dasjenige durchlässt, was
Realität hat, insofern es der Idee entspricht, das andere aber zurück-
stößt.
Gott offenbart sich zwar auch in der Natur, aber nur insofern er
Grund ist. Diese eine Seite der ›Offenbarung‹ Gottes wird aber ins-
gesamt Grundlage für die Offenbarung Gottes, insofern er auch actu
existiert oder sich durch die Tat manifestiert, was nur in der Ge-
schichte oder auf geschichtliche Weise stattfinden kann. Deshalb wird
die Endabsicht der Geschichte des Universums oder der Natur nur in
der Endabsicht der Geschichte des Geisterreichs offenbar. 366 Deshalb
kann Schelling schreiben: »Mit dieser Ansicht vollendet sich erst das
Bild jener Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das
Gegenbild«, erst hier zeigt sich die Indifferenz als eine »Liebe Gottes
zu sich selbst«. 367 Die ursprüngliche Indifferenz erhält an dieser Stelle
die Qualität der Neidlosigkeit. Vom Neid war vorher nur ein einziges
Mal die Rede, indem Schelling eine Stelle aus dem Timaios (29e) an-
führte: »Der Ordner des Alls, drückt sich der Timäus in seiner bild-
lichen Sprache aus, war gut: dem Guten aber entsteht niemals, wegen
irgend etwas noch irgendwann, Neid: dessen frey wollte er, dass Alles
so viel möglich ihm ähnlich sey«. 368 Die Neidlosigkeit zeigt sich ins-
365 »Jede Seele ist mit dem Theil ihrer Individualität ewig [d. h. unsterblich, R. S.], der
in Gott ist« (SW VI, 565 f. (§ 315)).
366 Vgl. Schelling 1804, 68 / SW VI, 60.
368
Schelling 1804, 36 / SW VI, 39. Vgl.: »Das Absolute aber ist nothwendig affekti-
onslos. Es ist nichts in Gott, wozu er sich neigen oder bewegen könnte, sondern er ist
das ewig gleich ruhige Centrum« (SW VI, 160 (§ 15)).
326
Gott als Liebe
369
Vgl. Schelling 1804, 28 / SW VI, 34.
370 Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174 (§§ 162 f.).
371
Schelling 1804, 74a / SW VI, 63.
327
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
implizierten Fragen zu den mit der Frage nach dem Wesen der
menschlichen Freiheit zusammenhängenden Gegenständen gehören.
So wird auch in der Freiheitsschrift nach der »Endabsicht« der
›Schöpfung‹ und damit des »gesammten Weltphänomens« gefragt. 372
Auch dort kann die Frage nur dadurch beantwortet werden, dass sich
eine Endabsicht in der Geschichte entdecken lässt. Bevor wir auf die
hier von Schelling formulierte Antwort eingehen können, müssen
wir die Stelle kurz in ihren Zusammenhang zurückstellen, da dieser
nicht leicht zu durchschauen ist. Nachdem Schelling nämlich die
Frage nach der Möglichkeit 373 und der Wirklichkeit 374 des Bösen bzw.
nach der »Entstehung des Gegensatzes von Gut und Bös« behandelt
hat, kommt er auf die »höchste Frage dieser ganzen Untersuchung«
zu sprechen. 375 An dieser Stelle der Untersuchungen vollzieht sich
ein auffälliger Wechsel der Tonart: Nachdem Schelling bislang eine
Deduktion aus den Prinzipien mit Erläuterungen und kritischen An-
wendungen abgewechselt und beide klar unterschieden hatte, 376
nimmt die Darstellung jetzt plötzlich eine dialektische Gestalt an,
indem er sich von einem imaginierten Gegner mögliche Einwände
zuspielen lässt 377 und zeigt, wie die Ergebnisse der vorherigen Deduk-
tion vollkommen ausreichend sind, um diese Einwände zurückzuwei-
sen bzw. ihnen zu entgegnen. 378 Schelling kann die Konstruktion
372 Vgl. Schelling 1809a, 493, 494, 495 / SW VII, 403, 404, 405.
373 Vgl. Schelling 1809a, 438–450 / SW VII, 364–373.
374
Vgl. Schelling 1809a, 451–480 / SW VII, 373–394.
375 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.
376 Vgl. dazu Schelling 1809a, 438–441 / SW VII, 364–366 mit Schelling 1809a, 441–
450 / 366–373 und Schelling 1809a, 451–455 / SW VII, 373–376 mit Schelling 1809a,
455–480 / 376–394.
377 Dieser Teil ist durch Fragen strukturiert: »Die vorläufige Frage wegen der Freyheit
Gottes in der Selbstoffenbarung« (Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »und darin
liegt auch allein die Antwort auf die Frage,« (Schelling 1809a, 487 / 399); »Die Frage
aber, warum Gott« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott den Willen des
Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Eine andre
Gegenrede«, »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schelling 1809a,
493 / 403); »Schon lange hörten wir die Frage« (Schelling 1809a, 496 f. / 406). – Ge-
rade in diesem Teil entsteht der »Gang« der Erörterung noch am meisten »gesprächs-
weise«, indem Schelling erwägt, welche Einwände man gegen seine Ansicht vorbrin-
gen könnte und sogleich zeigt, welche Mittel im Bisherigen bereitliegen, um solche
Zweifel zu zerstreuen (Schelling 1809a, 503 / SW VII, 410). Zu dieser »dialoghaften
Gliederung« vgl. Ehrhardt 1995, 221.
378 »Die vorläufige Frage […] scheint zwar durch das Vorhergehende entschieden«
(Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394); »Dass die Selbstoffenbarung in Gott […], haben
328
Gott als Liebe
wir bereits erklärt« (Schelling 1809a, 492 / 402); »Warum nun Gott […], haben wir
ebenfalls schon gezeigt« (Schelling 1809a, 492 / 403); »Es giebt darauf keine Antwort,
als die schon gegebene« (Schelling 1809a, 493 / 403); »Die erste Periode der Schöp-
fung ist, wie früher gezeigt worden …« (Schelling 1809a, 394 / 404).
379
Bereits die Überschrift des zweiten Abschnitts von Philosophie und Religion un-
terscheidet zwischen der Frage nach der »Abkunft der endlichen Dinge aus dem Ab-
soluten« und der Frage nach »ihr[em] Verhältniss zu ihm« (Schelling 1804, 18 /
SW VI, 28). Diese Unterscheidung kehrt am Ende wieder, wo zwischen dem »Ur-
sprung des Universum aus ihm [Gott, R. S.]« und »sein[em] Verhältniß zu diesem«
unterschieden wird (Schelling 1804, 74a / SW VI, 63 f.).
380 Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.
381
Schelling 1809a, 480 / SW VII, 394.
382 Schelling 1809a, 481 / SW VII, 394.
383
Schelling 1809a, 483 / SW VII, 396.
329
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
sehen. 384 In der Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis Gottes
zur ›Schöpfung‹ unterscheidet Schelling somit zweierlei: zum einen
die »Freyheit Gottes in der Selbstoffenbarung« oder die »Freyheit in
der Schöpfung«, zum anderen die Vorsehung. 385 Nur beide zusam-
men, Freiheit und Vorsehung, machen einen vollständigen Begriff
der ›Schöpfung‹ als eine Tat aus. Daran schließt Schelling nun wieder
eine Erläuterung oder kritische Anwendung des Gesagten an. 386 Die
ganze bisherige Erörterung sollte nur auf eine zweite Frage vorberei-
ten, »um deren willen diess vorausgeschickt worden«, nämlich die
Frage »wegen der Möglichkeit des Bösen in Bezug auf Gott«. 387 Aber-
mals wiederholt Schelling nur solches, das früher bereits bewiesen
wurde. Insbesondere hebt er erneut die Nicht-Realität des Bösen in
der gegenwärtigen Weltverfassung hervor, indem er daran erinnert,
dass es nur im Gegensatz Realität hat. Aber auch die Beantwortung
dieser Frage und der damit zusammenhängenden 388 dient nur der
Vorbereitung der Erörterung der eigentlichen, gleich anfangs in Aus-
sicht gestellten »höchste[n] Frage dieser ganzen Untersuchung«,
nämlich nach der Endabsicht der ›Schöpfung‹. 389 Alle diese vorberei-
tenden Fragen kreisen um die eine Frage nach dem Bösen und ins-
besondere nach der Gegenwart, in welcher das Böse eine unverkenn-
387
Schelling 1809a, 481 / SW VII, 399.
388 Schelling 1809a, 492, 493 / SW VII, 402, 403. Die mit der Frage nach dem Bezug
zwischen der Möglichkeit des Bösen und der Güte Gottes zusammenhängenden Fra-
gen sind die, weshalb es überhaupt einen Grund in Gott gibt (Schelling 1809a, 487 /
SW VII, 399), ob Gott als Grund Urheber des Bösen sei (Schelling 1809a, 488 /
SW VII. 399), ob »Gott selbst […] das Böse gewollt [habe]« (Schelling 1809a, 491 /
SW VII, 402 f.), »warum Gott […] nicht vorgezogen habe, sich überhaupt nicht zu
offenbaren« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 402), warum »Gott den Willen des
Grundes nicht wehre oder ihn aufhebe« (Schelling 1809a, 492 / SW VII, 403), ob Gott
dem Sünder nicht »die Kraft gebe, das Böse zu vollbringen« (Schelling 1809a, 493 /
SW VII, 403).
389 Deshalb heißt es auch: »Nach allem diesem bleibt immer die Frage übrig« (Schel-
ling 1809a, 493 / SW VII, 403), wobei ›alles dieses‹ sich auf die seit Schelling 1809a,
480 / SW VII, 394 erörterten Fragen bezieht. Obwohl Schelling alle Fragen, die als
Einwände gegen sein System gerichtet werden könnten, bislang erfolgreich hat be-
antworten können, so wäre die Frage nach dem Verhältnis Gottes zur ›Schöpfung‹
doch nicht vollständig und befriedigend beantwortet, wenn nicht auch diese letzte
Frage, nämlich ob die Schöpfung auch eine Endabsicht habe, beantwortet werden
kann.
330
Gott als Liebe
bare und unbestrittene Realität zu haben scheint. Die nach der Beant-
wortung der vorbereitenden Fragen noch unbeantwortet gebliebene
Frage bezieht sich jedoch auf die Zukunft.
Eigentlich sind dabei drei Fragen zu beantworten. 390 Erstens die
Frage, ob »das Böse [endet]« oder nicht, oder ob »überhaupt die
Schöpfung eine Endabsicht« habe oder nicht. 391 Gesetzt, dass das Böse
endet, so ist, zweitens, zu fragen, wie es denn endet oder welche die
Endabsicht der ›Schöpfung‹ ist. Und gesetzt, dass die ›Schöpfung‹ eine
Endabsicht habe, so bleibt, drittens, immer noch die Frage zu beant-
worten, »warum diese […] nicht unmittelbar erreicht [wird]«. 392 Die
›höchste Frage‹ kann als die Frage zusammengefasst werden, warum
überhaupt Geschichte ist und warum diese in den drei Dimensionen
oder Perioden der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinan-
dergezogen ist. Es scheint, dass die genannten drei Fragen auch in
dieser Reihenfolge beantwortet werden müssen, da die Beantwortung
der zweiten und dritten Frage voraussetzt, dass über die erste ent-
schieden ist. Dennoch beantwortet Schelling die dritte Frage zuerst,
und zwar, weil er sich damit begnügen kann, auf »die schon gegebe-
ne« Antwort zu verweisen. 393 Diese war dort gegeben worden, wo
Schelling die Konstruktion der Perioden der Geschichte durchgeführt
hatte. Das Ziel der ›Schöpfung‹ wird deshalb nicht unmittelbar er-
reicht, weil der »Wille des Grundes […] in seiner Freyheit bleiben
[muss], bis dass alles erfüllt, alles wirklich geworden sey« oder, an-
ders gesagt, damit das Gute sich ganz aktualisieren kann. 394 Damit
sind jedoch zugleich auch die erste und die zweite Frage beantwortet:
»Denn diess ist die Endabsicht der Schöpfung, dass, was nicht für sich
seyn könnte«, nämlich die Ideen, insofern diese in Gott »ohne selbst-
ständiges Leben waren«, »für sich sey«. 395 Aus dieser Endabsicht der
Schöpfung lässt sich auch eine positivere Ansicht der Geburt oder des
Abfalls gewinnen, der sich als notwendig erweist, um jene Absicht
überhaupt verfolgen zu können. Damit hat auch der Tod sich zugleich
als notwendig erwiesen, da nur so das Böse enden kann. Damit ist die
Stelle in den Philosophischen Untersuchungen bezeichnet, wo die
Unsterblichkeitslehre hingehört. Sie ist in dem systematischen Zu-
331
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
399
Schelling 1809a, 496 f. / SW VII, 406.
332
Gott als Liebe
gen. 400 Die positive oder ›ganz bestimmte‹ Erklärung bezieht sich
dann erneut auf den Charakter des Absoluten als Indifferenz und
Liebe. 401
In Philosophie und Religion hatte Schelling bemerkt, dass »der
Ursprung des Universum aus ihm [sc. Gott, R. S.] und sein Verhält-
niss zu diesem« sich noch am angemessensten durch das »Bild der
Liebe Gottes zu sich selbst« darstellen ließen. 402 Als Beleg für die Be-
hauptung führt er lediglich eine Stelle Spinozas an. 403 Die Rede von
einer Liebe Gottes zu sich selbst gilt Schelling indessen nur als ein
›bildlicher Ausdruck‹ eines Sachverhalts. Der gemeinte Sachverhalt
ist jener »Zustand der Seele, in welchem sie das wirklich ist, was sie
der Idee nach ist«, in welchem sie demnach mit ihrer eigenen Natur,
insbesondere mit der Vernunft, völlig in Übereinstimmung ist:
Ist also das ganze Wesen der Seele das, was es an sich oder der Idee nach
ist, auch wirklich, nämlich die absolute Affirmation der Idee Gottes,
nichts außer dem, so können aus ihr auch keine Handlungen folgen, als
400 Schelling 1809a, 499 / SW VII, 407; vgl. Schelling 1809a, 497–499 / SW VII, 406–
407. Die »dialektische Erörterung« knüpft offensichtlich an Philosophie und Religion
an: Die Bemerkung, dass »die beyden Prinzipien« (Reales und Ideales, Objektives und
Subjektives) »von dem Ungrund niemals als Gegensätze prädicirt werden [können]«
(Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407), ist mit der »erste[n] Form des Setzens der Ab-
solutheit« zu vergleichen, wonach diese nur »durch ein Weder – Noch« ausgedrückt
werden kann (Schelling 1804, 11 / SW VI, 23). »Aber es hindert nichts, dass sie nicht
als Nichtgegensätze, d. h. in der Disjunktion und jedes für sich von ihm prädicirt
werden« (Schelling 1809a, 498 / SW VII, 407). Prädikate ›zugleich‹ oder aber ›glei-
cherweise‹ von etwas (in diesem Fall vom Ungrund) auszusagen, ist für Schelling also
nicht dasselbe. Vgl. für diese wichtige Unterscheidung Schelling 1809a, 499 / SW VII,
408 und beachte Schelling 1804, 13 / SW VI, 24.
401 Dazu Brouwer 2011, 268 f.
403 Spinoza 1677, Bd. II, 302 (Ethica, V 35). Gerade in der Lehre Spinozas von dem
amor intellectualis Dei, die engstens mit dessen Lehre von der Unsterblichkeit zu-
sammenhängt, dürften die »letzten Anklänge alter, ächter Philosophie« sein, die nach
Schellings Behauptung »durch Spinoza vernommen« wurden (Schelling 1804, 3 /
SW VI, 17). Als solche wurde dort nämlich auch auf die »Ethik« als »die Anweisung
zu einem seligen Leben« verwiesen, »wie sie gleichfalls in dem Umkreiss heiliger
Lehren vorkommt«, wovon es später – mit Hinweis auf Platons Phaidon wie auf die
»Eleusinischen Geheimnisse[…]« – heißt, dass »ihre practische Lehre […] darinn
bestand, dass die Seele, das gefallene Göttliche im Menschen, so viel möglich von der
Beziehung und Gemeinschaft des Leibes abgezogen und gereiniget werden müsse, um
so, indem sie dem Sinnenleben absterbe, das absolute [Leben, R. S.] wieder zu gewin-
nen und der Anschauung des Urbildes wieder theilhaftig zu werden« (Schelling 1804,
36 / SW VI, 39).
333
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
die Mysterien gelten Schelling als eine Form der ganz ›im Wesen der Sittlichkeit
gegründeten‹ Religion innerhalb der Antike.
407 Den 162. Aphorismus (Schelling 1805b, 52 / SW VII, 174) zitiert Schelling ferner
in Schelling 1806b, XLIX / SW II, 376, den 163. in SW VI, 407 (§ 211) und SW VII,
453. Beachte allerdings den Gebrauch, den er von dem Paulus-Wort macht in Schel-
ling 1806a, 12, 160 / SW VII, 28, 122.
408 Schelling 1809a, 495 / SW VII, 404. Gerade in diesem Zusammenhang zitiert
Schelling übrigens am meisten und auffälligsten die Bibel und versucht dadurch, den
Leser davon zu überzeugen, dass die hier entwickelte Lehre mit der Schrift völlig in
Einklang ist. Die zitierten Stellen entstammen fast ausnahmslos den Briefen Paulus’
334
Gott als Liebe
* * *
Kehren wir noch einmal zu der Frage zurück, die erst hier ihre voll-
ständige Auflösung gefunden hat. Die Frage lautete: »[W]as der
Grund sey alles Uebels?« 409 Erstens gilt es zu bemerken, dass das Übel
oder die Endlichkeit noch nicht selbst das Böse ist, die Frage nach dem
Bösen aber erst auf der Grundlage einer angemessenen Lösung der
Frage nach der Endlichkeit zu beantworten ist. Da Eschenmayer die
Frage nicht in diese Richtung zugespitzt hatte, so unterlässt Schelling
es, ausführlich darauf einzugehen, während er zugleich einige Hin-
weise gibt, welche Folgerungen aus der dargelegten Lehre bezüglich
jener Frage zu ziehen sind. So wächst der Endlichkeit bzw. dem Abfall
erst in der höchsten Potenz die Qualität des Bösen bzw. der ›Sünde‹
zu. In diesem Sinne kann den Menschen die Schuld für den Abfall
auch der Natur zugeschrieben werden. Zweitens bemerkt Schelling,
dass erst im Gebiet der praktischen Philosophie die ›vollständige Auf-
lösung‹ der Frage nach dem Grund des Übels gegeben werden kann.
Der vollständige Begriff des Abfalls ist erst dann erreicht, wenn man
in ihm eine Absicht erkennt. Innerhalb der Naturphilosophie oder der
reellen Reihe kann er nie anders denn als ein Schicksal erscheinen.
Drittens erfordert der Grund des Übels nicht so sehr eine Erklärung,
sondern vielmehr ein vernünftig nachvollziehbares Motiv (so wie die
Gründe, die jemand für sein Handeln angibt). So liegt der Grund im
›Charakter‹ Gottes, der sich erst und nur hier als Liebe offenbart. Als
solches offenbart er sich indessen ausschließlich dem Philosophen:
Dieser hat insofern eine unmittelbare Erfahrung von Gott als Liebe,
als er in Einklang mit seiner eigenen Natur lebt, d. h. insofern er phi-
losophiert und darin einen Einklang von Notwendigkeit und Freiheit
entdeckt. Erst in diesem Zusammenhang erweist sich die absolute
Identität als Liebe. Die Philosophie ist somit imstande, diesen Cha-
rakter Gottes ohne Rückgriff auf irgendwelche Offenbarung, ledig-
lich auf eigener Kraft, zu entdecken. Sie ist daher »in ewigem Bunde«
und dem Johannes-Evangelium. Von Paulus hatte Schelling früher bemerkt, dass in
dessen »Geiste […] das Christenthum etwas anderes geworden, als es in dem des
ersten Stifters war« (Schelling 1803a, 198 / SW V, 300), und zwar indem er es mit
der Philosophie oder der Spekulation verbindet (vgl. SW V, 426 f.). Schellings Um-
gang mit der Bibel (die Auswahl der von ihm zitierten Stellen sowie deren Deutung)
würde eine eigene Untersuchung verdienen. Zur Methode der Bibel-Auslegung: Ja-
cobs 1993; Danz 2012; Rüttenauer 2015.
409
Schelling 1804, 18 / SW VI, 28.
335
4. Kapitel. Tugend und Geschichte
mit der Religion. 410 Viertens muss es aber auch den Nicht-Philoso-
phen möglich sein, Gott als Liebe zu verstehen, da ja das Verhältnis
Gottes zum Universum »in allen denjenigen Religionsformen […],
deren Geist im Wesen der Sittlichkeit gegründet ist«, als ein solches
der Liebe »dargestellt worden« ist – und kaum anzunehmen ist, dass
die Stifter dieser Religionen allesamt Philosophen waren. 411 Damit
stellt sich die Frage, wie es zu erklären ist, dass auch Nicht-Philoso-
phen zur Entdeckung dieses Grundcharakters Gottes gelangt sind.
Die Antwort muss damit zusammenhängen, dass jene Einsicht sich
nur in solchen Religionen findet, ›deren Geist im Wesen der Sittlich-
keit gegründet ist‹. Darin ist impliziert, dass es auch Nicht-Philoso-
phen möglich sein muss, die wahre Sittlichkeit – oder wenigstens ein
Analogon derselben – zu entdecken, die sich dadurch auszeichnet,
dass in ihr Notwendigkeit und Freiheit identisch sind. Auch sie sind
somit erst da wahrhaft frei, wo sie mit einem Ganzen in Einklang
sind. Dieser Problemzusammenhang bildet den Rahmen der nächst-
folgenden Überlegungen.
336
5. Kapitel. Politik und Religion
Nach einem noch immer kolportierten Urteil gilt Schelling als »kein
politischer Denker« 1 oder sogar als »der ›unpolitischste‹« »[u]nter
den Denkern des klassischen deutschen Idealismus«. 2 Vielleicht wol-
len solche Urteile nicht mehr behaupten, als dass Schelling die poli-
tischen Dingen nur selten zum Gegenstand einer ausdrücklichen
Erörterung gemacht hat und sich stattdessen auf metaphysische Spe-
kulationen über die Idee des Absoluten, auf naturphilosophische
Konstruktionen oder auf Analysen zum Thema Religion beschränkt.
Allerdings würden sie dann implizieren, dass solche Spekulationen
und Konstruktionen nicht zum Aufgabenbereich der Politischen Phi-
losophie gehören. Wenigstens Schellings Zeitgenossen scheinen et-
was davon gespürt zu haben, dass die betont ›unpolitischen‹ Spekula-
tionen für die geläufigen Ansichten von Moral, Religion und Politik
von weitreichenden Konsequenzen waren. Jedenfalls scheinen die an-
geführten Urteile auf eine Gleichsetzung von Politischer Philosophie
und politischer Theorie zu beruhen. Da es fraglich ist, inwiefern
Schelling eine solche Gleichsetzung unterschreiben würde, haben
wir den einzigen Text, in welchem er sich ausschließlich politischen
Themen widmet, näher zu untersuchen, um zu sehen, ob nicht in
Schellings Analyse des Politischen ein Argument für das festgestellte
Fehlen einer politischen Theorie im engeren Sinne zu finden ist. Nur
dann dürften wir in der Lage sein, den unvermittelten und über-
raschenden Hinweis auf den Staat im »Anhang« von Philosophie
und Religion angemessen zu interpretieren.
Wenn nicht bereits das Zitat aus dem Zweiten Platon-Brief in der
Präambel zum zweiten Abschnitt den Leser auf den politischen Cha-
rakter von Schellings Philosophie aufmerksam hat machen können,
1
Dieses Urteil stellt Jürgen Habermas an den Anfang seines Aufsatzes (Habermas
1963, 108).
2
So Cesa 1986, 226.
337
5. Kapitel. Politik und Religion
trales Thema das Verhältnis von Philosophie und Religion ist, auf die Einleitung und
den Anhang.
6
Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.
338
5. Kapitel. Politik und Religion
7
Anders aber Windischmann, der in seiner Reaktion nur auf diesen einen Punkt
eingeht (s. u.).
8
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.
339
5. Kapitel. Politik und Religion
Die Neue Deduction des Naturrechts von 1796 ist die einzige Schrift
Schellings, die ausschließlich einer politischen Thematik gewidmet
ist. In späteren Schriften belässt er es bei vereinzelten beiläufigen
Bemerkungen und Andeutungen. Es sieht so aus, als ob ein vorüber-
gehendes Interesse an politischen Fragen anderen Interessen gewi-
chen ist. Wie sich zeigen wird, kommt Schelling gerade deshalb nur
noch selten auf politische Fragen zu sprechen, weil er unverrückbar
am wesentlichen Ergebnis jener frühen Schrift festhält und keinen
Grund sah, es eingreifend zu revidieren. Außerdem wird gerade auf-
grund jenes Ergebnisses das Problem der Religion virulent. Die Fest-
stellung, wonach Schelling sich vom Politischen ›abgewandt‹ und da-
für der Religion ›zugewandt‹ hätte, verfehlt somit das eigentliche
Problem, das Schelling beschäftigt: Die angebliche ›Wende‹ zur Reli-
gion erwächst vielmehr aus seiner Staatskritik, da das Problem der
Politik, wie die Naturrechts-Deduktion zeigt, sich nicht mit poli-
tischen Mitteln, sondern, wenn überhaupt, nur durch die Religion
lösen ließe. Trifft dies zu, dann dürfte die Neue Deduction des Natur-
rechts sich als ein Schlüsseltext für das Verständnis der schellings-
chen Philosophie erweisen. 9
9 Die Schrift erschien im – von Niethammer, später gemeinsam mit Fichte heraus-
gegebenen – Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, der ers-
te Teil (§§ 1–84) im Juli 1796, der zweite Teil (§§ 85–Nachschrift) erst im August 1797.
Die verzwickte editorische Geschichte dürfte mit dafür verantwortlich sein, dass die
Schrift nur wenig Nachhall gefunden hat. Außerdem veröffentlichten Kant und Fich-
te in der Zeit zwischen den beiden Lieferungen ihre eigenen Rechtslehren. Verfasst
wurde die Schrift wahrscheinlich zwischen dem 22. Januar und dem 23. März 1796.
Vgl. AA I,3, 115–135 (Ed. Bericht); Hofmann 1999, 10–24, 34–36. Die Schrift hat in
der Schelling-Forschung bislang nur wenig Interesse gefunden. Bis auf weiteres bleibt
Hollerbach 1957 unüberholt, allein schon wegen der Quellenstudien und des feinen
Gespürs, das ihn auch dort noch juristische und politische Bezüge auffinden lässt, wo
man sie zunächst nicht suchen würde. Eine Verortung der Naturrechts-Deduktion in
den damaligen Naturrechtdebatten sowie eine Rekonstruktion ihres Verhältnisses zu
den kantischen und fichteschen Rechtslehren, die den von Schelling in der Nach-
340
Eine neue Deduktion des Naturrechts
schrift versprochenen Kommentar nachholen würde, steht bislang noch aus (vgl. AA
I,3, 175). Einen Anfang macht Schröder 2012.
10 So bereits K. F. A. Schelling (Plitt I, 65 f.). Ferner: AA I,3, 127 f. (Ed. Bericht). In
Vom Ich findet sich übrigens bereits eine Skizze eines »System[s] des Naturrechts«
(AA I,2, 164 f.). Vgl. damit die Bemerkungen in der »Vorrede« (AA I,2, 79 f.).
11 Nur wenn man dies nicht beachtet, kann man in solchen Sätzen »eine Aufforde-
rung an das Ich zum Aufruhr« sehen, wie es z. B. Hermann Klenner tut, und in dieser
Schrift eine anarchistische Tendenz gewahren, vgl. Klenner 1991, 71; Habermas 1963,
111; Sandkühler 1968, 21. Hollerbach mahnt denn auch zu Recht zur »Vorsicht«, hier
»einen anarchischen Grundzug sehen zu wollen« (Hollerbach 1957, 115).
12
Diese Gliederung ist nicht vollständig. Schelling verweist nämlich am Ende der
Deduktion auf das »Gebiet einer neuen Wissenschaft«, die wohl auch noch zur prak-
tischen Philosophie gehört (AA I,3, 174 (§ 163)).
341
5. Kapitel. Politik und Religion
jeweiligen Aufgabe ist Thema des ersten Abschnitts. 13 Die Sätze aus
Vom Ich und den Philosophischen Briefen kommen hier demnach
nicht lediglich als Lehnsätze oder als Prämissen vor, aus welchen das
Folgende abgeleitet wird. Vielmehr versucht Schelling hier erst den
Gesichtspunkt zu gewinnen, der es erlaubt, das Problem des Natur-
rechts und der politischen Ordnung sichtbar zu machen. Danach ist
der Titel der Schrift zunächst so zu verstehen, dass das Naturrecht im
Sinne der Rechtswissenschaft aus den Prinzipien des Systems dedu-
ziert werden soll. 14 Es soll gezeigt werden, wie diese Wissenschaft sich
insofern notwendig aus den Prinzipien ergibt, als diese auf ein Pro-
blem führen, das Gegenstand einer besonderen Wissenschaft ist. Dies
geschieht im ersten Abschnitt der Schrift, wo die Rechtswissenschaft
als von der Ethik und der Moral unterschieden konstruiert wird.
Gegenstand dessen, was Schelling Moral nennt, ist die Selbst-
bestimmung, d. h. so zu handeln, wie es der eigenen Natur entspricht.
Nur so lässt sich dem Absoluten durch ein endliches Ich Realität ver-
schaffen. Die Moral geht insofern von der Endlichkeit des Ich aus. 15
Das Streben des endlichen Ich geht dahin, alles Endliche der Er-
reichung jenes Ziels, der Übereinstimmung mit dem Absoluten, un-
terzuordnen. Dies gilt als höchstes Streben des Menschen. Diesem
13 Dieser Abschnitt umfaßt 75 der insgesamt 163 Paragraphen. Es wäre daher über-
eilt, darin nicht mehr als nur eine Einleitung zu sehen.
14 Vgl. den Titel des ersten Abschnitts der Schrift: »1. Deduction der Rechtswissen-
schaft überhaupt, und ihres obersten Grundsatzes« (AA I,3, 139). Vgl. auch AA I,2,
164 f.: »Auf dem Begriff der praktischen Möglichkeit (Angemessenheit zur Synthesis
überhaupt) beruht der Begriff des Rechts überhaupt, und das ganze System des Na-
turrechts; auf dem Begriff praktischer Wirklichkeit aber der Begriff von Pflicht, und
das ganze System der Ethik«. Recht und Pflicht haben nur Sinn in Bezug auf das
endliche Ich. »Deßwegen auch insbesondere das höchste Ziel, worauf alle Staatsver-
fassungen, (die auf den Begriff von Pflicht und Recht gegründet sind), hinwirken
müssen, nur jene Identificirung der Rechte und Pflichte jedes einzelnen Individuums
seyn kann«. »Diese Idee lag auch der Platonischen Republik zu Grunde; denn auch in
dieser sollte alles praktisch-mögliche wirklich, alles praktisch-wirkliche möglich seyn;
ebendeßwegen sollte in ihr aller Zwang aufhören, weil Zwang nur gegen ein Wesen
eintritt, das sich der praktischen Möglichkeit verlustig macht. Aufhebung der prakti-
schen Möglichkeit aber in einem Subject ist Zwang, denn praktische Möglichkeit ist
nur durch Freiheit denkbar«.
15 Für das absolute Ich gibt es weder Moral noch Gebot (vgl. AA I,2, 129). Nachdem
Schelling gezeigt hat, dass der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen undenkbar
ist, soll die praktische Philosophie das Prinzip des absoluten Ich dadurch bestätigen,
dass sie zeigt, wie umgekehrt ein Übergang vom Endlichen zum Unendlichen denkbar
ist (vgl. AA I,3, 82 f.).
342
Eine neue Deduktion des Naturrechts
343
5. Kapitel. Politik und Religion
18
Vgl. »seine Freiheit überhaupt« (AA I,3, 144 (§ 27)).
344
Eine neue Deduktion des Naturrechts
19 Die Bedeutung dieses Satzes erhellt daraus, dass Schelling im ersten Abschnitt
immer wieder auf ihm rekurriert (vgl. z. B. AA I,3, 146 (§§ 38, 39), 147 (§ 41), 148
(§ 47)).
20 Vgl. Rivelaygue 1983, 16 f.: »L’éthique au contraire exige l’accord des libertés en
général en tant qu’elles n’ont pas pour contenu la détermination par la raison«, d. h.
die Willen, die ausschließlich nach der Realisierung des Unbedingten streben, sind
von sich aus oder ipso facto identisch oder miteinander in Übereinstimmung.
345
5. Kapitel. Politik und Religion
21 Die Ethik »fodert« »Allgemeinheit des Willens der Materie nach« (AA I,3, 150
(§ 52)).
346
Eine neue Deduktion des Naturrechts
22
Aufgrund einer »Analyse des obersten Grundsatzes«, wie er im ersten Abschnitt
durchgeführt wurde, soll eine »Deduction der ursprünglichen Rechte« oder eben der
Naturrechte durchgeführt werden (AA I,3, 155).
347
5. Kapitel. Politik und Religion
ralischen Freiheit« oder das Recht auf sowohl gesetzmäßige als auch
gesetzwidrige Handlungen oder auch das Recht auf alle Handlungen,
die möglich sind und zu denen ich fähig bin (AA I,3, 170 (§ 140)). Die
Einschränkung meiner Rechte auf einen bestimmten Ausschnitt von
Handlungen und damit die Unterscheidung zwischen gesetzmäßigen
und gesetzwidrigen Handlungen lässt sich durch das Prinzip des Na-
turrechts nicht rechtfertigen. Dieses beinhaltet nämlich, dass ich auf
alles das Recht habe, was mit der Form des individuellen Willens in
Übereinstimmung ist. Die einzigen Handlungen, zu denen ich nicht
berechtigt bin, sind solche Handlungen, durch welche ich meine Frei-
heit oder die Form des individuellen Willens aufheben würde. Zwei-
tens das »Recht der formalen Gleichheit« (AA I,3, 170 (§ 140)): Wenn
aus dem Rechtszustand folgen würde, dass ich nicht das Recht habe,
mein eigenes Recht oder meine Individualität sowohl der Form als
auch der Materie nach gegen alle anderen Individuen durchzusetzen,
dann wäre damit der Rechtszustand selbst aufgehoben. Dadurch wäre
nämlich eine Ungleichheit in dem Rechtszustand selbst eingeschrie-
ben. Schließlich das »NaturRecht im engern Sinn« oder das »Recht
auf die ErscheinungsWelt, auf Sachen, auf Objecte überhaupt«, also
auf Eigentum (AA I,3, 170 (§ 140)). Diese ›ursprünglichen Rechte‹
sind bloß formal und erhalten keine positive, inhaltliche Ausfüllung.
Eine solche ist auch mittels des Naturrechts überhaupt nicht zu leis-
ten. Dann kann es aber auch niemals zur Legitimierung irgendeines
positiven Rechts eingesetzt werden. Dies dürfte eine der wesentlichen
Ergebnisse der Naturrechts-Deduktion sein.
Mit dem Ende des zweiten Abschnitts hat Schelling die Deduktion
der ›Urrechte‹ vollendet. Dass er damit einen einzigen Gedankengang
zu Ende geführt hat, hebt Schelling dadurch besonders hervor, dass er
die Ergebnisse der bisherigen Deduktion zusammenfasst und durch
zweimal drei Asterisken vom Vorherigen und Folgenden eigens ab-
grenzt (vgl. AA I,3, 169 f. (§ 140)). Der formale Charakter der ›Ur-
rechte‹ bildet die Grundlage für die jetzt folgende Kritik am Natur-
recht. Damit erhält der Titel der Abhandlung einen dritten Sinn: Das
Naturrecht wird sich als ein Zwangsrecht enthüllen, als ein solches,
das die Willen als Dinge behandelt. Dadurch erweist die Deduktion
des Naturrechts sich als eine Destruktion des Naturrechts. 23 Der Ge-
23
Vgl. Zeltner 1954, 174 f. So auch Alexander Hollerbach, dessen Hauptthese lautet,
dass »Schelling mit seinem Naturrechtsbegriff das Naturrecht als Recht geradezu ad
absurdum geführt« hat (Hollerbach 1957, 114 f.).
348
Eine neue Deduktion des Naturrechts
349
5. Kapitel. Politik und Religion
24
So Zeltner 1954, 174 f.; Hollerbach 1957, 115; Hofmann 1999, 84.
25 Jedem der drei Abschnitte entspricht somit ein eigener Sinn von Naturrecht. Es ist
wohl nicht zufällig, dass Schelling das Wort ›Naturrecht‹ erst im letzten Abschnitt
verwendet (vgl. AA I,3, 174 (§§ 161, 162, 163)). Dort, wo es sich gerade angeboten
hätte, den Ausdruck zu verwenden, scheint Schelling ihn geradezu zu vermeiden und
verwendet stattdessen Ausdrücke wie »ursprüngliche Rechte« (AA I,3, 155 (§ 77) u.
Titel des 2. Abschnitts), »Rechtsphilosophie« (AA I,3, 153 (§ 68), 158 (§ 88), 159
(§§ 91, 93, 95)), »Rechtswissenschaft« (AA I,3, 154 (§ 72)), »Rechtslehre« (AA I,3,
154 f. (§§ 73, 75)). Sonst kommt er nur noch in § 140 vor (vgl. AA I,3, 169 f.), gerade
auf der Schwelle zum letzten Abschnitt, und in der Nachschrift. In § 97 ist noch von
»NaturRechtsLehrer« die Rede (AA I,3, 160). Darin zeigt sich die kritische Richtung
der Abhandlung, die auch durch das ›neue‹ im Titel angezeigt wird.
350
Eine neue Deduktion des Naturrechts
26 Nur weil sie dieses Moment der Selbstzerstörung der Naturrechtslehre übersehen
hat, kann Gertrud Jäger zu ihrer Einschätzung gelangen, Schelling sei hier völlig mit
Fichte in Übereinstimmung. Dadurch sieht sie sich zugleich gezwungen, eine »Um-
wandlung« in den politischen Ansichten Schellings um 1803 (angeblich dokumentiert
in den Vorlesungen über die Methode des academischen Studium) anzunehmen, die
von einer Selbstkritik im Gestalt einer Fichte-Kritik begleitet wäre (vgl. Jäger 1939,
40).
27
Schröder 2012, 55 f.
351
5. Kapitel. Politik und Religion
28
Dazu Schröder 2012, 58 f.; Rivelaygue 1983, 21.
352
Eine neue Deduktion des Naturrechts
den. Die ›Lösung‹ ist offenkundig aporetisch, da das Mittel (das Ge-
setz, der Zwang) dem Zweck (der Sicherung der Freiheit aller) wider-
spricht. Die Freiheit aller kann nur dadurch gesichert werden, dass
alle gezwungen oder am Missbrauch ihrer Freiheit gehindert werden,
d. h. indem man sie eines Teils ihrer Rechte beraubt. 29
Damit richtet Schelling sich auch gegen alle Versuche, die Ent-
stehung einer staatlichen bzw. rechtlichen Ordnung auf einen Vertrag
zurückzuführen. 30 Gegen solche Theorien führt er folgendes an:
29
Diesen aporetischen Charakter scheint Jürgen Habermas nicht zu bemerken, we-
nigstens zu verharmlosen, wenn er meint, dass diese Ordnung nach den »Grund-
sätzen der praktischen Vernunft« stattfindet und von der »Staatsgewalt« lediglich
›sanktioniert‹ wird. Während Schelling bemerkt, dass dieser Zustand sich aus der
Not und aus dem Zufall ergibt (vgl. AA I,9,1, 281, 283, 284, 286), meint Habermas,
dass die Rechtsordnung von sich aus bereits den Grundsätzen der praktischen Ver-
nunft konform ist. Ferner spricht er von dem »Vorzug des staatlich institutionalisier-
ten rechtlichen Zwangs«, dass »er nämlich Legalität der Handlungen wie durch einen
Mechanismus der Natur verbürgt«. Hier scheint er Schelling nach der klassischen
Naturrechtslehre umzudeuten, wonach das Naturrecht in der Tat dazu dienen soll,
die Staatsordnung zu legitimieren. Damit hat er die ›originelle Leistung‹ Schellings,
die Aufdeckung der Aporie des Naturrechts, wieder verdeckt. Übrigens gelingt es
ihm, bei Schelling »[d]rei Deduktionen des Staates« nachzuweisen, ohne dabei die
Naturrechts-Deduktion zu berücksichtigen oder auch nur zu erwähnen. Während
die (erste) Deduktion des Staates im System des transscendentalen Idealismus (1800)
eine legitimierende Funktion habe, meint er in der »zweiten« Deduktion in den Stutt-
garter Privatvorlesungen (1810) eine anarchistische Tendenz festzustellen. Wenn er
dazu in einer Fußnote bemerkt, dass diese Tendenz sich bereits 1796 im Systempro-
gramm findet, dann wird die Rede von einer »Entwicklung« und von drei einander
widersprechenden Deduktionen hinfällig (Habermas 1963, 108 f., 110, 113). – Auch
Markus Gabriel scheint Schelling wieder in die Bahn der klassischen Naturrechts-
theorien zu lenken. Wenn er schreibt: »Außerdem setzt die Existenz des Vertrags-
rechts den Staat als Rechtsgaranten voraus. Im Naturzustand können daher keine
Verträge geschlossen werden, da es keine Instanz gibt, die die Institution des Vertrags
aufrechterhält«, dann wird dadurch die kritische Pointe weggebrochen, wonach jene
Instanz den Vertrag nur insofern aufrechtzuerhalten vermag, als sie fähig ist, ihn
aufzuzwingen. Ohne Zwang ist der Vertrag kraftlos und löst sich sogleich wieder auf
(Gabriel 2006, 322).
30 Dies ist häufiger bemerkt worden: Cesa 1986, 228 f.; Cesa 1989, 189; Hofmann
1999, 83 f.; Hollerbach 1957, 127; Jäger 1939, 45; Rivelaygue 1983, 31 f.; Sandkühler
2011, 218; Schraven 1998, 197. Schelling belässt es bei einzelnen Hinweisen: vgl. AA
I,3, 157 Anm. D; AA I,9,1, 283. – Die Zurückweisung der Vertragstheorien findet sich
am Anfang des zweiten Abschnitts, und zwar in einer Anmerkung zu § 85, der die
zweite Lieferung der Deduktion eröffnete. Insofern der Zwangscharakter des Rechts
sich unmittelbar aus diese Zurückweisung der Vertragstheorien ergibt, tritt der Ge-
danke des Zwangsrechts nicht so unmittelbar und unvorbereitet auf, als es zunächst
erscheint.
353
5. Kapitel. Politik und Religion
Erstens müsste ein solcher Vertrag die Materie des Willens festlegen.
Damit würde der Inhalt des Willens den Willenscharakter selbst auf-
heben. Ein Wille behält aber immerzu die Möglichkeit, sich zu revo-
zieren und sich für einen anderen Inhalt zu entscheiden. Der Ver-
tragsbegriff führt, zweitens, zu einem regressus in infinitum: Der
Vertrag müsste jedes Mal wieder bekräftigt werden, da er aus sich
selbst keine bindende, weil keine dauerhafte Kraft hat. Es sei denn,
man setzt, drittens, bereits Moralität bei den Vertragspartnern vo-
raus. In diesem Fall erklärt der Begriff allerdings nichts, da er voraus-
setzt, was er erklären soll. Und auch dann, wenn man, viertens, auf
den Eigennutz der Vertragspartner setzt, gilt, dass freie Wesen »sich
nur so lange zwingen lassen, als sie ihren Vortheil dabey finden« (AA
I,9,1, 283). Sobald sie aus dem Vertrag keinen Vorteil mehr ziehen
oder selbst nur der Meinung sind, dass er für sie nicht länger vor-
teilhaft ist, ist der Vertrag de facto aufgelöst. Diese Versuche haben
gemeinsam, dass sie den Zwangscharakter der staatlichen Ordnung
verdecken. Hinter dem moralischen Zwang verbirgt sich ein physi-
scher oder psychologischer Zwang, d. h. Gewalt, Androhung von Ge-
walt oder Gewalt durch Überzeugung (vgl. AA I,3, 171 (§ 148)).
Die Deduktion des Naturrechts erweist sich am Ende als ihre De-
struktion. Das Problem, zu dessen Lösung das Naturrecht gedacht
war, lässt sich mit seiner Hilfe nicht lösen, sondern nötigt dazu, zu
einer anderen Wissenschaft überzugehen. Schelling legt hier die
Aporie im Kern der Politik und des Rechts frei. Das Problem, das die
Politik zu lösen hat, kann sie nur so lösen, dass sie auf externe Res-
sourcen zurückgreift, die sie weder selbst hervorzubringen noch auch
nur zu kontrollieren vermag. Welche diese Wissenschaft sei, lässt
Schelling an dieser Stelle indessen offen. Ihre Aufgabe ist allerdings
bereits aus der Naturrechts-Deduktion zu ersehen. Es gilt, zwischen
individuellen Willen eine solche Übereinstimmung hervorzubringen,
dass diese nicht auf Zwang beruht und nicht als Zwang empfunden
wird. Die Aufgabe besteht somit darin, zu untersuchen, wie ein Wille,
ohne Rekurs auf die Moral oder auf die Pflichtethik, dennoch im Sin-
ne des Ganzen zu handeln vermag.
354
Eine neue Deduktion des Naturrechts
355
5. Kapitel. Politik und Religion
Eine solche Bearbeitung des Naturrechts, die von der Rolle des öffent-
lichen Lebens abstrahiert, hatte Schelling selbst mit der Naturrechts-
Deduktion vorgelegt – allerdings mit der Absicht, den aporetischen
Charakter des Naturrechts aufzudecken und damit die Notwendigkeit
eines Übergangs zu einer anderen Wissenschaft zu erweisen. 33 Diese
Absicht unterscheidet Schellings Bearbeitung in seinem eigenen Ur-
teil von der fichteschen. Deshalb mündet diese in einer bloß mecha-
nischen Ansicht des Staates. Der konkrete Zweck, wonach der Staat
eingerichtet wird, ob zur »allgemeine[n] Glückseligkeit«, zur »Befrie-
digung der socialen Triebe der menschlichen Natur« oder zum »Zu-
sammenleben freyer Wesen unter den Bedingungen der möglichsten
Freyheit«, vermag den maschinellen Charakter desselben nicht zu
berühren. 34 Auch hier hält Schelling daran fest, dass das Naturrecht
letztlich Zwangsrecht ist. Dieses Ergebnis seiner früheren Deduktion
sieht er durch die fichtesche Bearbeitung des Naturrechts nur noch
bestätigt. Allerdings tritt deutlicher als früher hervor, worin die
Grenze des Naturrechts zu suchen ist, nämlich in ihrem Unver-
mögen, der Bedeutung des öffentlichen Lebens Rechnung zu tragen.
Darin dürfte auch das Motiv für Schellings frühere Destruktion des
Naturrechts zu suchen sein.
Alle bisher eruierten Elemente finden sich knapp und prägnant
zusammenführt in einem Fragment wieder, das Schelling im Frühjahr
1807 mit der Absicht schrieb, es in einem damals bereits geplanten
Band seiner Vermischten Schriften zu veröffentlichen. 35 Das Frag-
ment bezeugt, dass das Theoriestück des Naturrechts als Zwangsrecht
von Schelling nicht vergessen wurde, sondern dass es für ihn weiter-
hin seine Gültigkeit behielt. Die sich auf das Naturrecht beziehende
Stelle sei deshalb in ihrer vollen Länge angeführt:
Was zuvörderst das allgemeine Verhältniß der Menschen zueinander
betrifft, so war der Ausgangs- und Unterstützungspunkt der sämmt-
33
Damit liefert die Naturrechts-Deduktion auch die Begründung einer Behauptung
aus dem Ältesten Systemprogramm, nämlich dass der maschinelle Staat keine Idee
der praktischen Vernunft ist (vgl. Systemprogramm, TWA 1, 234). Dazu: Rivelaygue
1983, 13.
34 Schelling 1803a, 235 / SW V, 316.
35 Das Fragment wurde von K. F. A. Schelling unter dem Titel Ueber das Wesen der
deutschen Wissenschaft zum ersten Mal veröffentlicht. In einem Brief vom 16. Juni
1807 an Jacobi, in welchem er diesem einige Auszüge mitteilt, bezeichnet Schelling es
allerdings als Über das Wesen deutscher Philosophie (vgl. F. W. J. Schelling an F. H.
Jacobi, 16. Juni 1807, Fuhrmans, Briefe III, 440).
356
Eine neue Deduktion des Naturrechts
lichen Theorien die absolute Personalität des Einzelnen [1]. Nicht damit
ein dem All ähnliches Ganzes entstünde, nur um eines Ganzen willen,
sondern damit der Einzelne für sich, abgeschlossen und gesondert beste-
hen könnte, gab es Recht und Gesetze. Der Charakter, unter dem der
Einzelne betrachtet wurde, war (dem höchsten, den mechanische Physik
kennt, ähnlich) moralische Undurchdringlichkeit, absolutes Vermögen
für sich zu seyn und seine Sphäre mit Ausschließung aller andern zu
erfüllen. Auf diese unsinnigste Anmaßung absoluter Egoität wurde eine
den Alten in diesem Sinn völlig unbekannte Wissenschaft gegründet,
ein sogenanntes Naturrecht, das allen zu allem ein gleiches Recht
gibt [2] und keine innerlich bindenden Pflichten, sondern nur äußeren
Zwang, keine positive Handlungen, sondern nur Unterlassungen und
nur Einschränkungen kennt [3], die sich jeder an seinem ursprünglichen
Recht bloß in der Absicht gefallen läßt, um den ihm übrig bleibenden
Rest desselben desto sicherer in selbstgenügsamer Abgeschlossenheit
genießen zu können. Aus dieser trüben Quelle schnödester Selbstsucht
und Feindseligkeit aller gegen alle entstand sodann der Staat durch
menschliche Uebereinkunft und gegenseitigen Vertrag [4]. Wenn ein-
mal in der Menschheit kein nothwendiges Princip von göttlicher Einset-
zung ist, wodurch viele zur Einheit verschmolzen, und hinwiederum die
Einheit in Vielheit sich verwirklicht, wenn das Höchste, um dessenwil-
len alles andere da ist und geschieht, die Personalität des Einzelnen ist:
so ist es unmöglich, für das Ganze wahrhaft zu wollen, und das Gesetz
der Sittenlehre, im Sinn und Geist des Ganzen zu handeln, anders als im
negativen Sinn zu verstehen und zu erfüllen, nämlich in dem: nichts zu
thun, das dem Willen des Ganzen, wenn es als solches einen haben
könnte, widerstritte [5]. Alle Tugenden sind dann entweder bloß vernei-
nender Art, oder können ebenfalls nur von dieser Seite erscheinen; der
ganze Werth des Menschen besteht in der Einschränkung, die er sich in
Ansehung anderer auferlegt, nicht in dem, was er für andere vollbringt;
Tugenden, die sich nur im Zustand eines öffentlichen und gemeinsamen
Lebens entwickeln und äußern können, gibt es nicht, sondern bloß Tu-
genden des Privatlebens [5.1]. Auch der Staat glaubt solcher Tugenden
entbehren zu können, sowie jeder innerlich bindenden Kraft. Gesinnun-
gen gehen ihn nichts an, denn Handlungen, die seiner Existenz zuwider,
glaubt er mit Gewalt hindern, deren er bedarf, erzwingen zu können.
Vollkommene Mechanisirung aller Talente, aller Geschichte und Ein-
richtungen ist hier das höchste Ziel [5.2]. Alles soll nothwendig seyn
im Staat, nicht wie in einem göttlichen Werk alles nothwendig ist, son-
dern wie in einer Maschine durch Zwang, durch äußeren Antrieb [6].
Zwar es muß sich in der Anwendung finden, daß der Staat durch alle
diese Mittel nie ein Ganzes wird, ja daß jene blinde Nothwendigkeit
nicht einmal erreicht wird, aber immer wird der Grund nur in der Un-
vollkommenheit des Mechanismus gesucht; neue Räder werden einge-
fügt, die zu ihrer Regulirung wieder anderer bedürfen, u. s. f. ins Unend-
357
5. Kapitel. Politik und Religion
liche; ewig gleich fern aber bleibt das mechanische Perpetuum mobile,
das bloß organischer Kunst der Natur und der Menschen vorbehalten ist
zu erfinden. In einem so gewordenen Staat hat alles nur Werth, soweit
es mit Sicherheit erwartet und berechnet werden kann: alles Dämo-
nische aber, das vom Himmel kommt und nicht berechnet werden kann,
ist von keiner Bedeutung [7]. (SW VIII, 10–12)
358
Eine neue Deduktion des Naturrechts
nen damit auch Handlungen gemeint sein. Danach hätten alle das
gleiche Recht auf alle möglichen Handlungen und damit ein ›Recht
der moralischen Freiheit‹. (3.) Daraus ergibt sich der bloß negative
Charakter des Staates: Dieser kann nur den Missbrauch der Freiheit
verhindern, nicht aber zu positiven Handlungen motivieren.
(4.) Auch die Kritik an den Vertragstheorien wird rekapituliert.
(5.) Ferner wird ersichtlich, was die andere Wissenschaft zu leisten
habe: Diese hat zu zeigen, wie ›innerlich bindende Pflichten‹, ›positive
Handlungen‹ und ›Tugenden‹ möglich sind, deren bestimmendes
Merkmal darin besteht, ›für das Ganze wahrhaft zu wollen‹ und eine
›innerlich bindende Kraft des Staates‹ zu entwickeln. Die andere Wis-
senschaft zielt somit darauf ab, den Staat als Organismus mit einem
inneren Zweck zu denken. Dieser ist nur die Kehrseite des Staates als
Mechanismus. In seinen späteren Erklärungen tritt nur deutlicher die
›positive‹ Seite von Schellings Begriff des Politischen hervor, der sich
in der Naturrechts-Deduktion nur von seiner ›negativen‹, kritischen
oder destruktiven Seite gezeigt hatte. (5.1.) Nach dem Naturrecht gibt
es nur ›Tugenden des Privatlebens‹. Damit verbindet Schelling eine
anthropologische Beobachtung: Zum einen lassen solche Privat-
tugenden den Menschen unbefriedigt, da es etwas im Menschen gibt,
das nach mehr als bloß privaten Tugenden verlangt. Zum anderen
verkümmern die Tugenden, wenn sie sich lediglich in der Privat-
sphäre zeigen können und keine öffentliche Resonanz haben. 36 (5.2.)
Dem schließt sich ein politisches Argument an. Zwar ist es nicht un-
möglich, den Staat so einzurichten, dass die Tugenden sich nur noch
in der Privatsphäre entfalten können, wie gerade der moderne Staat
belegt. Eine solche Einrichtung ist allerdings dem Gedeihen des Staa-
tes selbst abträglich, da sie zum einen bei den Regierten jeden positi-
ven, innerlichen Antrieb, etwas für das Gemeinwohl zu tun, erstickt
und zum anderen bei den Regierenden eine ›bürgerliche Moral‹ un-
terstützt, die für die Ausübung eines Amtes nicht förderlich ist und
ihnen kein angemessenes Verständnis der Bedeutung ihrer Aufgaben
erlaubt (vgl. SW VIII, 12). 37 Die Erfahrung selbst zeigt, wie eine me-
chanische Einrichtung des Staates keine wirkliche Einheit hervor-
359
5. Kapitel. Politik und Religion
38 Wenn es auch seit Längerem bon ton ist, in Schellings Kritik am mechanischen
Staat einzustimmen, so ist dabei doch nicht zu übersehen, dass eine »Rechts-Verfas-
sung in dem Verhältniß, als sie der Natur sich annähert« – und d. h., wie dem Vor-
hergehenden zu entnehmen ist, als sie »wie eine Maschine, die auf gewisse Fälle zum
voraus eingerichtet ist, und von selbst, d. h. völlig blindlings, wirkt, sobald diese Fälle
gegeben sind« –, »ehrwürdiger wird«, während »der Anblick einer Verfassung, in
welcher nicht das Gesetz, sondern der Wille des Richters, und ein Despotismus
herrscht, der das Recht, als eine Vorsehung, die in das Innere sieht« – wozu nur Gott,
nie aber ein Mensch fähig ist –, »unter beständigen Eingriffen in den Naturgang des
Rechts ausübt, der unwürdigste und empörendste [ist], den es für ein von der Heilig-
keit des Rechts durchdrungenes Gefühl geben kann« (AA I,9,1, 282 f.).
39 So auch noch in den Stuttgarter Privatvorlesungen: Der Staat ist eine »physische
Einheit«, »eine Einheit, die nur durch physische Mittel wirken kann« (SW VII, 461).
Vicki Müller-Lüneschloß bemerkt zu Recht, dass »der Staat ›einen Widerspruch in
sich selbst‹ hat, welcher darauf beruht, dass er eine Einheit ist, ›die nur durch physi-
sche Mittel wirken kann‹, und sich dabei doch auf geistige und freie Wesen beziehen
soll« (Müller-Lüneschloß 2012, 245 f.). Diese Grundeinsicht hatte Schelling aber be-
reits mit der Neuen Deduction gewonnen. Gerade jener Widerspruch verweist auf
eine »neue Wissenschaft«, die nach einem »organische[n] Ganze[n]« sucht (SW VII,
462). Der Widerspruch ist Ausdruck eines »auf der Menschheit ruhenden Fluchs«
(SW VII, 461). – Es ist nicht leicht zu sehen, inwiefern die Ansicht, wonach der Staat
»nicht mehr als der beweiskräftige Ausdruck einer verkehrten Welt« ist (1810), und
diejenige, wonach er »als heilsame Gewalt gegen die Verkehrung selbst« erscheint
(wie nach 1850), inkompatibel wären, wie Habermas meint. Eben dass es einer solchen
»heilsame Gewalt gegen die Verkehrung« bedarf, kann als ein Beleg der Verkehrung
dienen. Gäbe es diese nicht, dann bräuchte es auch den Staat nicht. Dass hier zudem
einer »unvermittelte[n] Identifikation der in den existierenden Staaten ausgeübten
Autorität« mit einer Sittenordnung das Wort geredet wird, vermag ich ebenfalls nicht
zu sehen. Höchstens wäre die staatliche Ordnung insofern immer vorzuziehen, als die
Alternative der Zustand der Anarchie oder des Aufruhrs wäre, d. h. ein teilweiser
Durchbruch des Naturzustandes, wo jeder jeden zwingt. Das von Habermas angeführ-
te Zitat belegt nur, dass der Mensch (weil gefallen) nun einmal nicht anders leben
kann als in einer staatlichen Ordnung; damit ist aber die bestehende Staatsordnung
noch keineswegs als die bestmögliche oder als sittlichste legitimiert (Habermas 1963,
112).
40
Schelling 1803a, 109 / SW V, 260.
360
Eine neue Deduktion des Naturrechts
41
Dieter Jähnig ist einer der Wenigen, der eine grundsätzliche Kontinuität der poli-
tischen Lehre Schellings behauptet, vgl. Jähnig 1966, 244 f., 246, 248, 256 f.
42
Schelling 1803a, 234 f. / SW V, 316; Herv. v. Verf.
361
5. Kapitel. Politik und Religion
362
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
45 Der ideale Staat ist ein solcher, in welchem der Mechanismus oder der Zwang ver-
schwindet. Damit ist gesagt, dass es keinen faktisch existierenden Staat gibt, der nicht
– mehr oder weniger – mechanisch ist: Jeder existierende Staat wäre höchstens ein
Versuch, diesen mechanischen Charakter zum Verschwinden zu bringen und zu einer
organischen Einheit zu gelangen.
46
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65. Diese Unterscheidung hat vielfach Missverständ-
nisse veranlasst. So hat man darin eine »Apologie der Ungleichheit« gesehen, vgl.
Sandkühler 1968, 137; Gilson 1988, 37. Markus Gabriel meint sogar, dass Schelling
»damit die Sklaverei ontologisch [rechtfertigt], ein peinlicher Fehltritt, der eines er-
klärten Denkers der Freiheit kaum würdig ist« (Gabriel 2006, 330). Claudio Cesa hin-
gegen bemerkt zu Recht, dass Schelling »selbstverständlich nicht in allem Ernst eine
Wiedereinführung der Sklaverei oder des Leibeigentums befürworten [könnte]«; er
bringt den »Stand der Unfreien« mit der »Sklaverei des Privatlebens« und der Gebun-
denheit am »eigennützigen Trieb« in Verbindung (Cesa 1981, 311).
47
Schelling 1804, 73b / SW VI, 65.
363
5. Kapitel. Politik und Religion
der Philosoph nicht ohne Erkenntnis der sinnlichen Dingen und der
Ideen ist. Entscheidend ist allerdings, welche Erkenntnisart die höchs-
te und damit die anderen bestimmende Stelle einnimmt.
Neben diesen zwei ›Klassen von Wesen‹ gibt es jedoch noch eine
dritte Klasse von Wesen, die im Staat keinen Ort zu haben scheint. Es
gibt nämlich eine »höchste und oberste Ordnung«, die aber, insofern
der Staat in zwei »Klassen von Wesen zerfällt«, »noch unerfüllt durch
beyde« bleibt. 48 Es ist dies die Klasse der Philosophen, die dadurch
eine Sonderstellung erhält. Die beiden Klassen der Freien und
Nicht-Freien stehen in Beziehung zueinander: Die Ideen und damit
auch die Freien als ihre Repräsentanten »bekommen dadurch, dass die
Dinge ihre Werkzeuge oder Organe sind, selbst eine Beziehung auf
die Erscheinung und treten in sie, als Seelen, ein«. 49 Der Staat zerfällt
als zweite Natur in zwei Klassen. Diese zwei Klassen gehören also zur
Natur. So wie nun Gott zur Natur »ewig nur ein indirectes Verhält-
niss« hat und »über alle Realität erhaben [bleibt]«, so haben auch
weder die Freien noch die Nicht-Freien ein direktes Verhältnis zu
Gott. 50 Die Freien erhalten erst durch die dritte Klasse von Wesen
selbst ein Verhältnis zu jener höheren Ordnung. Die dritte Klasse
hingegen bezieht sich direkt auf Gott. Nur die Philosophen repräsen-
tieren Gott. Dadurch können sie aber zur zweiten Natur und damit zu
den Freien wie zu den Nicht-Freien nur ein indirektes Verhältnis ha-
ben. Damit bringt Schelling an dieser Stelle gerade jene Unterschei-
dung wieder zum Tragen, die er in der Naturrechts-Deduktion be-
gründet hatte. 51
Wie wir gesehen haben, nötigte der Nachweis des Naturrechts als
eines Zwangsrechts zu einem Übergang zu einer anderen Wissen-
schaft, deren Aufgabe darin besteht, zu zeigen, wie die individuellen
Willen sich in eine stabile gemeinschaftliche Ordnung einbinden las-
sen. Obwohl Schelling es in der Neuen Deduction offen lässt, welche
Wissenschaft er meint, so ist aus ihr deutlich zu ersehen, welche Auf-
gabe sie zu lösen hat. Ferner ist aus ihr zu ersehen, dass an der Sinn-
lichkeit angeknüpft werden muss, wenn eine solche stabile Ordnung
51 Die zentrale Rolle der Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien geht auch aus
einer von Johann Peter Pauls angefertigte Nachschrift einer Vorlesung hervor, die
Schelling im Sommersemester 1804 in Würzburg gehalten hat, vgl. Scheerlinck
2016a.
364
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
»das positive Gegenstück zum Staat«. Dieses »Gegenstück« ist jedes Mal gemeint,
wenn Schelling vom ›Volk‹ oder vom ›Staat als Organismus‹ spricht.
55 Nach Markus Hofmann laufen die bislang vorgeschlagenen Deutungen der ›neuen
365
5. Kapitel. Politik und Religion
von Hollerbach 1957 vertreten wurde, hinfällig. Obwohl Dieter Jähnig die Unhaltbar-
keit dieser Periodisierung bereits überzeugend nachgewiesen hat (vgl. Jähnig 1966,
256 f.), trifft man sie weiterhin immer wieder an, so z. B. bei Sandkühler 1968; Sand-
kühler 2011. Zum Grund der Mythologie in der Natur vgl. Hühn 1994.
56 Vgl. Jähnig 1966, 256 f.: »Solange das Ideal menschlicher Gemeinschaft als eines
›Organismus‹, in dem jedes Individuum freiwillig das Prinzip des Ganzen will, nicht
(nicht mehr oder noch nicht wieder) wirklich ist, ist eine mechanisch-rechtliche Ord-
nung unvermeidlich, um, den Mißbrauch der Freiheit einschränkend, deren Selbst-
zerstörung zu verhüten. Diese Ordnung ist also, aus demselben Grund, um dessent-
willen sie besteht, vorläufig«. Vgl. auch Rivelaygue 1983, 13 f.
366
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
und öffentliche Seite habe, so gebt ihr diese in der Mythologie, der
Poësie und der Kunst einer Nation«. 57
Zunächst ist der sinnliche Charakter der Mythologie hervorzuhe-
ben. Durch denselben ist sie allen zugänglich und verständlich und
vermag auf eine Einheit aller hinzuwirken. Es sei an dieser Stelle auf
eine Figur hingewiesen, die durchaus als eine ›Urszene‹ 58 des schel-
lingschen Denkens der Geschichte anzusehen ist. Sie stellt die Ge-
stalt, die Rolle und die Aufgabe eines Gegenstücks oder einer Prä-
figuration des Philosophen bildlich dar. Sie findet sich in einer von
Schellings frühesten Schriften, in dem Aufsatz Ueber Mythen, his-
torische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt. Bevor er dort zu
einer Taxonomie der Mythen übergeht, vergegenwärtigt Schelling
kurz und anschaulich das, was man heute vielleicht den ›Sitz im Le-
ben‹ der Mythen nennen würde: Die Mythen werden nämlich er-
zählt, und zwar von einem Stammvater oder denkenden Weisen (vgl.
AA I,1, 197 f., 225 f.). Dieser erklärt die Natur, die Götter, die Bräuche.
Wenn diese Erzählungen uns von der inhaltlichen Seite kaum noch
etwas zu sagen haben, so kommen sie doch einem menschlichen Be-
dürfnis entgegen, das der Nachweis ihrer Falschheit oder ihres feh-
lenden informativen Charakters keineswegs zunichte macht. Diese
Erzählungen haben nämlich eine gemeinschaftsstiftende Funktion,
indem sie eine kollektive Identität hervorbringen:
Was konnte auch ungebildete Menschen eher zu einer Gesellschaft ver-
binden, als die Tradition, die Sagen von den gemeinschaftlichen Vätern
und ihren Thaten, an denen jeder gleiches Interesse nahm? was eher, als
die gemeinschaftlichen Beispiele des Heldenmuths, der Tapferkeit und
der Tugend der Vorväter, was eher, als dieselben Sitten, Gebräuche und
Gesetze, die sie alle als Verlassenschaft der Väter heilig beobachteten?
(AA I,1, 218)
»So wirkten Lehre, Ermahnung und Beispiel der Väter nationale Tu-
gend der Völker; denn auch Tugend ist unter ungebildeten Stämmen
nur das, was durch lange Beobachtung, durch Herkommen, durch alte
Ueberlieferung geheiligt ist« (AA I,1, 240). »Die historischen Sagen
eines jeden Volks werden mitunter immer zur belehrenden, bilden-
den Tradition« (AA I,1, 218). Solche Sagen sind ein Erziehungsmittel,
um »in ungebildete[n] Menschenhorden Harmonie und Einheit« her-
vorzubringen und sie dadurch in einer volksmäßigen, organischen
367
5. Kapitel. Politik und Religion
menstimmung, wenn die Macht der Bindung zugleich der Grund ihrer Freiheit ist;
und das heisst: wenn die Macht der Zusammenstimmung nichts Fremdes, sondern das
Eigene ist. Dieses Verhältnis ist nach Schellings Meinung das eigentümliche und un-
ersetzbare Geheimnis der ›Mythologie‹ […]. In der Mythologie sieht Schelling das
Auszeichnende einer Vermittlung zwischen ›Individuum‹ und ›Geschlecht‹, in der
das Eine selbst zur Sache des Anderen wird. Die Mythologie macht das Ganze zur
Sache des Einzelnen, sie stellt aber zugleich auch den Einzelnen in einen grösseren
(d. h. reicheren, sinnvolleren) Raum, als es der Kreis seiner blosses Individualität sein
würde. Freiheit heisst hier nicht nur: uneingeschränkt, unbedrückt von aussen zu
sein, sondern zugleich auch: von der Last und der Enge der Ichgebundenheit frei zu
sein«. – Das Gesagte dürfte deutlicher werden, wenn man es mit der entgegengesetz-
ten Position vergleicht, wie z. B. der von Elias Canetti, der diese Freiheit »von der Last
und der Enge der Ichgebundenheit« nur in der Masse für möglich hält (vgl. Canetti
1960, 13 f.). Canetti sieht nur Individuen oder Massen; ihm fehlt der Mittelbegriff
eines Volkes oder Gemeinschaft.
368
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
62 Das Fehlen von Mythen in der Neuzeit bzw. die zerstörende Wirkung, die die
modernen Staatslehren auf ein mögliches Gedeihen derselben ausüben, bildet ein
Grundthema Schellings. So z. B. Schelling 1803a, 6, 32 f., 200 f., 207 f., 225–231,
322 f. / SW V, 212, 225, 301, 304, 311–315, 352; SW V, 434, 641 f., 643 f., 714–717,
734–736; Schelling 1804, 73b–80 / SW VI, 65–70; SW VI, 572 f., 576; Schelling
1805b, 5 f. / SW VII, 142; Schelling 1809a, 383–386 / SW VII, 326–328; Schelling
1807a, 464 / SW VII, 507–510; SW VIII, 5, 11 f.; Schelling 1812, 118 f. / SW VIII,
85; SW VIII, 342. Beachte auch die Betonung der Bedeutung von Festen und öffent-
lichen Feiern: AA I,1, 199 f.; Schelling 1803a, 32 f., 183 f., 322 f. / SW V, 225, 294, 352;
SW V, 421, 425, 429, 435, 641, 684; Schelling 1809a, 343 / SW VII, 291; Schelling
1812, 115 / SW VIII, 83; SW IX, 11 f., 15 f. – Zu bemerken ist noch, dass auch die
Mysterien in erster Linie Feste sind. Dazu Kerényi 1998, 144–146.
63 Vgl. Jähnig 1969, 194.
64
Sziborsky 1987, 40.
369
5. Kapitel. Politik und Religion
[i. e. das Volk, R. S.] sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden
und das Volk vernünftig […]. Dann herrscht ewige Einheit unter uns«, d. h. unter den
Philosophen und dem Volk (Systemprogramm, TWA 1, 236). Dieses Verhältnis wird
hier von dem Verhältnis zwischen dem Volk und den Priestern unterschieden, das
durch Furcht gekennzeichnet ist.
370
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
68
Schelling 1804, 74b / SW VI, 65. Hier kommt Schelling demnach auf die Frage
nach den ›äusseren Formen, unter welchen Religion existirt‹, zu sprechen. Zu beach-
ten ist, dass hier zunächst nur danach gefragt wird, unter welcher Form oder Gestalt
die philosophische Religion existiert und welche Stelle ihr damit innerhalb des Staats
zukommt. Die Frage, unter welcher Form die Volksreligion im Staat existiert, wird
nur am Rande berührt.
69 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.
70
Ersteres wird im Anhang herausgestellt (vgl. Schelling 1804, 74b, 80 / SW VI, 65 f.,
70); letzteres war in der Einleitung betont worden (vgl. Schelling 1804, 1 f., 7 / SW VI,
16 f., 20).
371
5. Kapitel. Politik und Religion
71
Anders in den Vorlesungen zur Philosophie der Kunst, wenn er sie dort aufgrund
der Absicht derselben auch nur sehr skizzenhaft behandelt (vgl. SW V, 421 f.).
72
Dies hat K. J. H. Windischmann in seinem Brief vom 30. Juni 1804 sehr richtig
bemerkt, wenn er sich auch über die Tendenz von Schellings Aussagen täuscht
(K. J. H. Windischmann an F. W. J. Schelling, 30. Juni 1804, Fuhrmans, Briefe III, 90).
73 Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.
75 Karl Kerényi drückt dies prägnant aus, indem er von der »Paradoxie der öffent-
78
Schelling 1804, 74b / SW VI, 66.
372
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
79 Vgl. dazu Kerényi 1962, 38: »Die griechische Sprache selbst macht einen Unter-
schied zwischen dem unaussprechlichen Geheimnis: dem arrheton, und dem, was
unter dem Gebot des Schweigens geheimgehalten wurde: dem aporrheton. Der Kreis
der Zugelassenen, sogar derjenigen, die zum wahren Geheimnis, dem Arrheton, zu-
gelassen wurden, konnte ursprünglich die ganze Gemeinschaft, den Stamm oder die
Gemeinde umfassen. Das Arrheton hatte den Grund seiner Unaussprechlichkeit in
sich«. Und Kerényi 1998, 147: »Das Geheimgehaltene im griechischen Kult war si-
cherlich allen, die im Umkreis des betreffenden Kultortes wohnten, bekannt, es war
aber ein Nicht-Auszusprechendes. Ja, es besaß diesen Charakter – den Charakter des
Arreton (ἄρρητον) – unabhängig von der Willkür der Kultteilnehmer. Denn es war
zutiefst […] eben unaussprechlich: ein echtes Geheimnis. Erst nachher machen aus-
drückliche Verbote das Arreton zu Aporreton (ἀπόρρητον)«.
80 Kerényi 1998, 143–151.
81 Vgl. Kerényi 1998, 145: Durch Mysterien wird auch »ein von der Gottheit bewirk-
tes oder erlittenes Geschehen« bezeichnet, »eine rituelle Handlung«, die aber an
Menschen vorgenommen wird.
82 Für das Folgende stütze ich mich auf die Ausführungen über Riten in Vergote 1983,
279–304.
373
5. Kapitel. Politik und Religion
etwas von dem ersehen lässt, was den Teilnehmern an den Mysterien
widerfährt. Man könnte es auch so formulieren, dass in den Myste-
rien der allgemeine Charakter der Dinge, wie er sich in Mythen arti-
kuliert, nun an einem partikulären Fall exemplifiziert angeschaut
wird, insofern der Teilnehmer dasjenige, was der Mythos im Modus
des Erzählens mitteilt, nun am eigenen Leibe erfährt. 83 Gerade durch
die ›Inszenierung‹ oder durch seine Darstellung erhält der Mythos
eine Beziehung auf den Einzelnen. Dieser vermag dadurch im My-
thos den Ausdruck einer allgemeinen Struktur zu erkennen und zu-
gleich sich selbst als ›Fall‹ derselben zu erfahren. Insofern entfaltet
sich erst in den Mysterien das eigentlich symbolische Potential des
Mythos, indem der Teilnehmer diesen jetzt auf sich bezieht und in-
dem ihm dabei aufgeht, wie der Mythos seine eigene Existenz zu
deuten und in ihrem sinnvollen Charakter aufscheinen zu lassen ver-
mag. Damit kommt erst hier die für das Symbol charakteristische
Identität von Allgemeinem und Besonderem zum Zuge. 84 In dieser
Hinsicht bedeuten die Mysterien zugleich eine Befreiung vom oder
wenigstens eine Distanznahme zum mythischen Bewusstsein. Man
sieht leicht, dass Schelling in diesem Mythos eben eine »Anweisung
zu einem seligen Leben« entdeckt. 85 Die Mysterien haben als ein
Ganzes von symbolischen Handlungen eine Dimension, die nicht in
der Mitteilung bestimmter Inhalte aufgeht, und zwar durch die un-
mittelbare Beziehung, die ein Mythos in ihnen auf den Einzelnen
erhält. Von hier aus dürfte auch ein neues Licht auf die Komposition
von Schellings Schrift fallen: Die Mysterien werden, wie gesagt, be-
reits im Haupttext erwähnt. Es wird gezeigt, welcher Mythos in den
Mysterien dargestellt wird, und es wird versucht, in diesem Mythos
einen vernünftigen Inhalt aufzudecken. Die Hauptaufgabe der Schrift
wäre somit erfüllt, wenn es gelänge, zu zeigen, wie diejenigen Inhalte,
die sehr lange nur der Religion zugeteilt wurden, sich für die Phi-
losophie vindizieren lassen. Dies zeigt Schelling im Hauptteil der
Schrift für die Idee Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit. Den
83 Die Unterscheidung der Religion nach ihrer ›dogmatischen‹ Seite (den artikulier-
baren, mitteilbaren Inhalten) und ihrer performativen Dimension (dem Ritus) findet
sich auch in Whitehead 1927, 5 f., 10–13, 112.
84 »Die griechische Mythologie war nicht als solche Religion […]. Religion wurde sie
erst in dem Verhältniß, welches sich der Mensch nun selbst zu den Göttern (dem
Unendlichen) gab in religiösen Handlungen« (SW V, 454).
85
Schelling 1804, 3 / SW VI, 17.
374
Die Unterscheidung von Freien und Nicht-Freien
90
Schelling 1804, 79 / SW VI, 69.
375
5. Kapitel. Politik und Religion
91 Die Religion ist nach den Würzburger Vorlesungen die zweite Potenz der ideellen
Reihe, die außerdem noch das Wissen und die Kunst einbegreift (vgl. SW VI, 537–
569). Anfangs wird die zweite Potenz allerdings als die des Handelns bezeichnet (so
auch Schelling 1803c, 47 / SW IV, 421), in der Folge aber als die der Religion (vgl.
SW VI, 573, 575).
92
Schelling 1804, 39 f., 41, 57 / SW VI, 41, 42, 52.
93 Vgl. Schelling 1804, 37, 55 f. / SW VI, 40, 51 f.
94
Schelling 1803a, 19 / SW V, 223.
376
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft
377
5. Kapitel. Politik und Religion
ses Ziel nur dadurch erreicht werden, dass diese wissenschaftlich aus-
gebildet werden.
Die von Schelling für die Beantwortung dieser Problematik ge-
wählte Vorgehensweise verdient besondere Beachtung. Er fängt damit
an, zu fragen, ob die Philosophie für Staat und Religion schädlich ist
oder nicht. Zur Beantwortung dieser Frage führt er zwei Argumente
an, die die Nützlichkeit der Philosophie für den Staat dadurch dartun,
dass der Staat für sein Gedeihen auf die Wissenschaften angewiesen
ist. Die Behauptung scheint demnach dahin zu gehen, dass die Gelehr-
ten selbst für ein adäquates Verständnis ihres Tuns auf die Philosophie
angewiesen sind. Die Wissenschaft wird erst dann für den Staat
schädlich, wenn sie popularisiert wird oder wenn sie sich durch ein
Nützlichkeitsdenken vereinnahmen lässt. Eine solche popularisierte
Wissenschaft aber ist nicht mehr im eigentlichen Sinne Wissenschaft.
Erst der Philosoph ist imstande, das eigentliche Ziel der Akademien,
die Hervorbringung von Wissenschaft, die Orientierung an der
Wahrheit, zu verstehen und die diesem Ziel entsprechende und för-
derliche Organisationsform zu entwerfen. Die paradoxe Lösung lau-
tet, dass die Wissenschaften nur dann heilsame öffentliche Wirkun-
gen entfalten, wenn diese nicht direkt angestrebt werden und ihnen
erlaubt wird, sich ausschließlich nach ihren immanenten Anforde-
rungen zu entfalten. 97 Der Philosoph tritt hier somit als Gesetzgeber
auf, der einen Entwurf zu einer ihren immanenten Zielen entspre-
chende Organisationsform der Wissenschaft vorlegt. Die Philosophie
ist allerdings bereits insofern gewinnbringend, als sie die Gelehrten
zu einem angemessenen Verständnis ihres Tuns hinleitet.
Schelling widmet dieser Frage eine eigene Erörterung. 98 Er gibt
97 Ganz analog heißt es in Philosophie und Religion, dass die Religion »auf die Oef-
fentlichkeit Verzicht« leiste (Schelling 1804, 74b / SW VI, 65), und vom Staat wird
erwartet, dass er seinerseits darauf verzichtet, auf sie Einfluss zu nehmen (Schelling
1804, 78 f. / SW VI, 69). In allen diesen Fällen wird nach den »äusseren Formen«
gefragt, »unter welchen« Wissenschaft, Religion, Kunst »existir[en]« (Schelling 1804,
73b / SW VI, 65) oder nach den institutionellen Bedingungen, die ihrem Wesen ent-
sprechen. Auch bei der Verfassung der Münchner Akademie der Bildenden Künste
verfährt Schelling ganz analog, da diese so eingerichtet werden soll, dass »dem Schü-
ler ›die Freiheit‹« gelassen wird, »›sein besonders Talent, und die Eigenheiten seiner
Ansicht der Gegenstände, so wie die Art, sie nachzuahmen‹ […] entfalten und zeigen
zu können« (Sziborsky 2006, 431). Es ist daher leicht irreführend, wenn Sziborsky
sich in ihren sonst so hellsichtigen Analysen zu der Bemerkung verleiten lässt, dass
»die Kunst in den Dienst des Staates gestellt wird« (Sziborsky 1987, 52).
98
Vgl. Schelling 1803a, 103–118 / SW V, 257–265.
378
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft
102
Schelling 1803a, 105 / SW V, 258.
103 Schelling 1803a, 106 / SW V, 258. Schelling fügt hinzu: »einige wenige Individuen
früherer Zeiten ausgenommen, (denen man aber gewiß keinen Einfluß auf die politi-
schen Begebenheiten der späteren zuschreiben wird)« (Schelling 1803a, 105 f. / SW V,
258). Möglich, dass Schelling dabei an Rousseau denkt, da er in der Fragestellung
sowohl an dieser Stelle wie auch in den ganzen Vorlesungen immer wieder an dessen
ersten Discours anknüpft. Von den sogenannten philosophes behauptet Schelling,
dass diese »den Namen der Philosophen usurpirt haben« (Schelling 1803a, 106 /
SW V 259). Rousseaus Kritik an les philosophes ist bekannt. Den Grund der franzö-
sischen Revolution sucht Schelling somit im Fehlen von Philosophen: Dadurch war
dem gemeinen Verstand – der desto gefährlicher ist, je mehr er sich für gebildet hält –
die Möglichkeit gegeben, sich des Staates zu bemächtigen (vgl. Jäger 1939, 60).
379
5. Kapitel. Politik und Religion
104 Schelling 1803a, 107 / SW V, 259; vgl. auch Schelling 1809b, 105, 115 / SW VII,
521, 533 f.
105 Schelling 1803a, 108 / SW V, 259.
106
Schelling 1803a, 110 / SW V, 261.
380
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft
nach der Größe, die im Grunde keine andere ist als die nach den Be-
dingungen, unter welchen Persönlichkeit gedeiht, ist ein beständiges
Thema dieser Vorlesungen. 107 Sie artikuliert sich als die Frage nach
dem sittlichen oder bildenden Einfluss der Wissenschaft: 108
Die Bildung zum vernunftmäßigen Denken, worunter ich freylich keine
bloß oberflächliche Angewöhnung, sondern eine in das Wesen des Men-
schen selbst übergehende Bildung, die allein auch die ächtwissenschaft-
liche ist, verstehe, ist auch die einzige zum vernunftmäßigen Han-
deln […]. 109
Die »Academieen« sollen »zugleich allgemeine Bildungsanstalten«
sein. 110 Damit sie auch eine sittliche Wirkung haben und einen Bei-
trag zur Bildung der Persönlichkeit liefern können, müssen sie auf
eine bestimmte Art eingerichtet sein. Schelling macht hier eine
grundlegende Unterscheidung zwischen Staat und Akademie als zwei
wesentlich verschiedenen Verfassungen oder Formen des sozialen Le-
bens; in beiden herrscht ein anderes Ethos oder eine eigene Form des
πολιτεύειν. Für die Wissenschaft wäre es verhängnisvoll, wenn man
die Form des sozialen Lebens des Staates auf die Akademien übertra-
gen und diese nach dem Modell des Staates einrichten würde, oder
wenn man auch nur zulassen würde, dass der Staat auf die Akademien
Einfluss nehme:
Der Staat hat zur Erreichung seiner Absichten Trennungen nöthig, nicht
die in der Ungleichheit der Stände bestehende, sondern die weit mehr
innerliche, durch das Isoliren und Entgegensetzen des einzelnen Talents,
die Unterdrückung so vieler Individualitäten, die Richtung der Kräfte
nach so ganz verschiedenen Seiten, um sie zu desto tauglicheren Instru-
menten für ihn selbst zu machen. 111
Ein ›wissenschaftlicher Verein‹ muss sein eigentliches Ziel, nämlich
Wissenschaft, verfehlen, wenn er nach dem Muster des Staates einge-
richtet wird. Er bedarf zur Erreichung seines Zwecks einer anderen
Verfassung: »In einem wissenschaftlichen Verein haben alle Mitglie-
107 Vgl. Schelling 1803a, 132 f. / SW V, 271 f.; Schelling 1809b, 98 f. / SW VII, 513.
108 Karl Albert hat völlig zu Recht die Hauptabsicht dieser Vorlesungen darin gese-
hen, »den Bildungssinn des wissenschaftlichen Studiums«, d. h. die Bedeutung der
Wissenschaft für die Bildung der Persönlichkeit ans Licht zu heben (Albert 1984, 63;
vgl. auch Albert 1984, 65, 68).
109
Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237.
110 Schelling 1803a, 51 / SW V, 235.
111
Schelling 1803a, 53 / SW V, 236.
381
5. Kapitel. Politik und Religion
der der Natur der Sache nach Einen Zweck: es soll auf Academieen
nichts gelten, als die Wissenschaft, und kein anderer Unterschied
seyn, als welchen das Talent und die Bildung macht«. 112 Damit soll
nicht gesagt sein, dass es in diesem sozialen Gebilde keine Unter-
schiede gibt. Nur soll es bloß natürliche Unterschiede sanktionieren.
Künstlich hervorgebrachte Unterschiede, wie sie für die Aufrecht-
erhaltung der staatlichen Ordnung erforderlich sind, damit alle einem
äußeren Zweck untergeordnet werden können, sollen in einer Aka-
demie keine Gültigkeit haben. Deshalb heißt es auch: »Das Reich der
Wissenschaften ist keine Demokratie, noch weniger Ochlokratie, son-
dern Aristrokratie im edelsten Sinne. Die Besten sollen herrschen«. 113
Die Wissenschaft verlangt nach solchen Institutionen, deren einzige
Aufgabe darin besteht, Wissen zu überliefern, es zu lehren und mit-
zuteilen, und dazu zu erziehen, an dieser Aufgabe teilzunehmen, da
sie »Sache der Gattung« ist. 114 Dieses Ziel (Wissenschaft) kann dem-
nach nicht durch Einzelne erreicht werden, sondern bedarf eigener
sozialer Gebilde, die ausschließlich auf dieses Ziel ausgerichtet sind. 115
112
Schelling 1803a, 53 / SW V, 236.
113 Schelling 1803a, 55 / SW V, 237; Herv. v. Verf. Die Verwendung von ›sollen‹ in
diesem Satz dürfte darauf hinweisen, dass Schelling an dieser Stelle eine Konstruk-
tion von Pflichten durchführt. Damit wäre hier ein Beispiel der Moral als »spekulati-
ve[r] Wissenschaft« gegeben, die »so wenig als Philosophie ohne Construction gedacht
werden« kann: »Die Construction dieser sittlichen Organisation ist eine ganz gleiche
Aufgabe mit der der Construction der Natur, und ruht auf spekulativen Ideen«. Wenn
Schelling auch bemerkt, dass »eine Sittenlehre in diesem Sinne noch nicht existirt«, so
hat er doch an der oben behandelten Stelle sowie an mehreren anderen in diesen Vor-
lesungen Beispiele einer solchen gegeben (Schelling 1803a, 146 f. / SW V, 276).
114 Schelling 1803a, 31 / SW V, 224.
115 Vgl. Schelling 1803a, 46–58 / SW V, 233–238; Schelling 1804, 64–68 / SW VI,
57–59. – In diesen Vorlesungen beschränkt Schelling sich auf den beispielhaften Fall
der Erziehung zum Wissenschaftler oder Gelehrten. Erziehung ist jedoch allgemein
Bildung des Charakters oder der Persönlichkeit, die in der Übereinstimmung von
Wissen und Handeln zum Ausdruck kommt. Nun ist es weder möglich noch wün-
schenswert, dass jeder zum Gelehrten erzogen wird. Auch Nicht-Gelehrte müssen
indessen zur Persönlichkeit erzogen werden können. Diese Frage rückt Schelling in
der Niethammer-Rezension in den Vordergrund. Wenn Rie Shibuya auch das Ver-
dienst zukommt, wieder auf diese Schrift aufmerksam gemacht zu haben, so geht sie
m. E. zu weit, wenn sie in dem Begriff der Persönlichkeit die entscheidende Neuerung
derselben zu finden meint (vgl. Shibuya 2003; Shibuya 2005, 143–155). Der Gedanke
einer Einheit von Wissenschaft und Bildung, d. h. von Vernunft und Persönlichkeit,
ist nicht lediglich in den Vorlesungen zum akademischen Studium bereits präsent,
sondern er bildet die Grundlage dessen, was Schelling dort insbesondere über die
Bestimmung des Gelehrten behauptet, auch dann, wenn der Ausdruck ›Persönlich-
382
Die Anwendung des Modells der Mysterien auf die Wissenschaft
keit‹ sich dort nicht findet (vgl. Schelling 1803a, 56 f. / SW V, 237 f.). So auch Albert
1984, 63, 68; Sziborsky 1987, 37. Das Ziel der von Schelling vorgeschlagenen Reform
besteht nämlich gerade darin, die Akademien so einzurichten, dass sie nicht mehr, wie
bisher, bloße Gelehrte, sondern Wissenschaftler, die zugleich Persönlichkeiten sind,
hervorbringen. Das gegenwärtige und das entworfene zukünftige Erziehungssystem
unterscheiden sich durch den Typus Mensch, den sie hervorbringen. Rie Shibuya
bemerkt zwar zu Recht, dass die Umwandlung von Niethammers Humanitätsbegriff
in den Begriff der Persönlichkeit »den Leitfaden der Rezension [bildet]« und die Aus-
einandersetzung mit Fichte weiterführt, dessen Gegensatz von Ich und Nicht-Ich kei-
nen zureichenden Begriff von Persönlichkeit gestattet (vgl. Schelling 1806a, 144 f. /
SW VII, 112 f.; Schelling 1809b, 101 f. / SW VII, 517; Schelling 1809a, 448, 471 f. /
SW VII, 371, 388 f.). Das ihre Auslegung leitende Interpretament der ›Selbstbildung‹
blendet indessen weitgehend die Bedeutung der Erziehung für die Bildung von Per-
sönlichkeit und damit den politischen Zusammenhang von Fragen der Erziehung aus.
Schließlich ist fraglich, ob mit dem Persönlichkeitsbegriff nicht mehr gemeint sei, als
dass der Mensch »ein Gebilde aus unzähligen Facetten, eine Aufeinanderfolge seiner
individuellen Entwicklungsstufen« ist (Shibuya 2005, 19, 118 f., 145, 148, 150, 152 f.).
Vgl. dazu: Schelling 1809b, 99 / SW VII, 514.
116 Schelling 1803a, 227, 232 / SW V, 313, 315.
117 Bei der Erläuterung des § 325 verweist er ausdrücklich auf die realen Potenzen der
Schwere, des Lichts und des Organismus sowie auf den Weltbau als die Objektivie-
rung des Potenzlosen, das »alle jene Potenzen trägt und in sich begreift« (SW VI, 575;
vgl. SW VI, 471–492).
383
5. Kapitel. Politik und Religion
gehört. Genau so stellt sich nach der Konstruktion der idealen Poten-
zen die Frage nach dem Potenzlosen, das jene umfasst und die Poten-
zen »in ihrer Einheit« und d. h. als ›Teile‹ eines Ganzen, das gleich-
zeitig in diesen Teilen präsent ist, »objektiv werden« lässt (SW VI,
575 (§ 325)). Zwar ist aufgrund des Konstruktionsprinzips allein
schon klar, dass die Potenzen, eben als diese, auch das Ganze in sich
zum Ausdruck bringen und demnach keine bloßen ›Teile‹ eines Gan-
zen sind, da dieses selbst nicht wäre, was es ist, ohne diese ›Teile‹.
Damit ist indessen noch nicht gezeigt, ob, inwiefern und unter wel-
chen Bedingungen die Einheit selbst der Potenzen eine objektive Ge-
stalt gewinnt – oder ob sie vielmehr nur von demjenigen, der die
Konstruktion vornimmt, eingesehen werden kann. Als Darstellung
der (ideellen) Potenzen in ihrer Einheit denkt Schelling den Staat.
Ein Organismus ist dieser nur insofern, als er die Potenzen der ideel-
len Reihe enthält. Wenn nur die Potenzen der ideellen Reihe dazu
beitragen, dass der Staat als ein Organismus sich entfaltet, dann ist
der Staat der eigentliche Gegenstand der ganzen Konstruktion der
ideellen Reihe (vgl. SW VI, 495–576), wenn dies auch erst ganz am
Schluss expliziert wird (vgl. SW VI, 575 f.).
Wissenschaft, Religion und Kunst sind nämlich die »Form des öf-
fentlichen Lebens«. 118 In diesen Potenzen ist eine »harmonische Zu-
sammenstimmung« der Individuen möglich. 119 Man könnte sagen,
dass die Potenz der Wissenschaft einen Bereich bezeichnet, in dem
eine »praktisch-politische Kommunikation über die Endzwecke und
das normative Menschenbild der betreffenden Gesellschaft« statt-
findet, wo »Geltungsansprüche auf intersubjektiver Ebene der allge-
meinen Überprüfung unter Bedingungen nicht behinderter Argu-
mentation auch zugänglich gemacht werden« und wo »idealisierte
Gesprächssituationen ohne von außen eingeführte Gewalt« stattfin-
den können. 120 Hieraus erklärt sich, weshalb Schelling den Topos der
Gelehrtenrepublik wieder aufnehmen kann. Diese kennt nur ein ›Ge-
setz‹, nämlich dass bei der Überprüfung von Aussagen durchgängig
besonders mit der Mythologie in Verbindung bringen lässt, da auch diese in diesem
Bereich der Überprüfung unterworfen wird. Ferner übersieht er, dass nach Schelling
eine solche Gesprächssituation nur in einem abgeschirmten Bereich stattfinden kann
und es einer besonderen Qualifizierung bedarf, um an ihr teilnehmen zu dürfen. Eben
darauf zielt die Rede von ›Mysterien‹.
384
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
Bei einem Denker, der erklärt, dass »nur Ideen […] dem Handeln
Nachdruck und sittliche Bedeutung« geben und dass »alles sittliche
Handeln […] nur als Ausdruck von Ideen« ist, hat man Anlass zu
fragen, ob er damit nur eine theoretische Behauptung aufgestellt hat,
die lediglich darauf zu prüfen wäre, ob sie ihren Gegenstand trifft,
oder ob diese Erklärung uns auch über Schellings Handeln Aufschluss
zu geben vermag. 122 Es ist somit zu untersuchen, ob Schellings Phi-
losophie nur insofern politisch ist, als sie die politischen Dingen, we-
nigstens gelegentlich, zu ihrem Gegenstand macht, oder ob sie Schel-
ling nicht auch als Leitfaden dient, um in die politische Realität
121
Vgl. Schelling 1806a, 41 f., 157 / SW VII, 47, 120 f.; Schelling 1812, 19 f., 31 f.,
120 f. / SW VIII, 31, 36, 86.
122
Schelling 1803a, 147 f., 107 / SW V, 277, 259.
385
5. Kapitel. Politik und Religion
einzugreifen. 123 Man hat die Bezeichnung Schellings als eines ›un-
politischen Denkers‹ dadurch bestätigt gesehen, dass er auch in seinen
Briefen sich nur selten zu den politischen Ereignissen der Zeit, ins-
besondere den Napoleonischen Kriegen geäußert hat. 124 Über die Fi-
xierung auf große Ereignisse hat man übersehen, dass der Briefwech-
sel dieser Zeit immer wieder um politische Themen kreist und
zugleich ein deutliches Zeugnis von Schellings politischen Bemühun-
gen ablegt. Diese waren in erster Linie darauf gerichtet, dazu bei-
zutragen, die für die Philosophie und für die Wissenschaft unter den
gegebenen Umständen möglichst förderlichsten Bedingungen herbei-
zuführen. Es ist denn auch kaum zufällig, dass Schelling vor allem im
Bereich der Universität politisch handelte. 125 In der Tat schien die
Lage in Würzburg, wohin Schelling im Oktober 1803 übergesiedelt
war, für solche Bemühungen zunächst nicht ungünstig. 126 Seine Be-
rufung dorthin hing damit zusammen, dass die Universität der Be-
fugnis des Bischofs von Würzburg entzogen worden war. Dies ge-
123 Dazu Hofmann 1999, 42, 89 f.; Schraven 1998, 190. Auch Wilhelm G. Jacobs
scheint zwei Bedeutungen von politischer Philosophie zu unterscheiden, zum einen,
insofern sie »zu ihrem Gegenstand die Politik hat«, zum anderen, insofern ihre »In-
tention politisch ist« (Jacobs 1981, 289.) Allerdings dürfte es noch einen Unterschied
machen, ob ›die Politik‹ lediglich als ein Gebiet unter anderen Gebieten zu denken ist,
das, wie diese auch, zum Gegenstand der Philosophie gemacht werden kann, oder ob
die Frage nach den politischen Dingen an die Frage nach dem richtigen Leben gebun-
den bleibt. Beschränkt man den politischen Charakter einer Philosophie auf die ›poli-
tische Intention‹, dann scheint allerdings die Frage berechtigt, »was an dieser so ver-
standenen politischen Philosophie eigentlich philosophisch [ist]?«: »Die politischen
Intentionen, die Schelling mit seiner Philosophie verfolgt, scheinen [dann] selbst kei-
ne philosophische Qualität zu haben«. Dann klaffen eine »politische Funktionalisie-
rung der Philosophie« und eine für sich betrachtet apolitische Philosophie erneut aus-
einander (Wild 1981, 315).
124 Dies trifft allerdings nur bedingt zu. Vgl. Schellings Bezugnahmen auf politische
Ereignisse und die Briefe Carolines, aus welchen zudem hervorgeht, dass Schelling
sich wenigstens im Gespräch dazu äußerte, vgl. Jäger 1939, 13–39, insbes. 22–24.
Auch die Tagebücher von 1809 belegen ein deutliches Interesse an solchen Ereignissen
(vgl. Tagebücher 1809–1813, 6, 8, 12, 13, 16, 17, 19 u. ö.). Dazu Knatz 1993.
125 Diese Tätigkeit führte er auch in München weiter, am deutlichsten wohl dadurch,
dass er die Verfassung der Akademie der Bildenden Künste konzipierte. Dazu Szibor-
sky 2006; Jacobs 2002. Die Verfassung ist abgedruckt in Pareyson 1977, 311–327.
Siehe ferner SW VII 553–568. Siehe auch Rall 1953/54.
126 Einen knappen Überblick über Schellings Aufenthalt in Würzburg bieten Plitt II,
386
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
schah im Rahmen der vom König, von den Ministern (bes. Mont-
gelas) und den Beamten beschlossenen und vorangetriebenen Säku-
larisation. Hier wurde die Aufklärung zum politischen Programm. 127
Damit schien sich für die Wissenschaft zunächst eine günstige Ge-
legenheit darzubieten, sich an diesem Ort nur nach den eigenen Ge-
setzlichkeiten und Anforderungen zu entfalten. In dieser Absicht ver-
suchte Schelling denn auch, geeignete Wissenschaftler, besonders
Mediziner, an die Universität berufen zu lassen. 128 Alsbald zeigte sich
allerdings, dass Unterricht und Forschung, nachdem sie der religiösen
Aufsicht entzogen waren, jetzt der staatlichen Kontrolle unterstellt
zu werden drohten. Diese Gefahr scheint Schelling auch deutlich
gesehen zu haben. Allmählich hatte sich eine Lage gebildet, in wel-
cher unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen versuchten, sich des
Staats für die Durchsetzung ihrer Weltanschauung zu bedienen. 129
Schelling versucht mehrmals, die Regierung auf diese Gefahr auf-
merksam zu machen: Die Wissenschaft kann nur dann für den Staat
heilsam sein, wenn dieser darauf verzichtet, über sie Kontrolle aus-
zuüben. Schelling wittert die Gefahr, »dass die Geistlichkeit das Ver-
127 Über Montgelas vgl. Junkelmann 1985, 49 f.: »Sein Ideal war der nach rationalen
Gesichtspunkten straff durchorganisierte, zentralistisch geleitete Verwaltungsstaat,
der den Untertanen ihre passiven Bürgerrechte und ihre wirtschaftliche Entfaltungs-
möglichkeit garantierte, sie aber daran hinderte, durch unerwünschte politische Eigen-
initiative oder gar Opposition Unruhe zu stiften. Das war nichts anderes als aufgeklär-
ter Despotismus in vollendeter Form«. Die Motive sucht er teils in den aufklärerischen
Auffassungen der Staatsmänner, teils in der Aussicht, Gelder in die Staatskasse flie-
ßen zu lassen. Zur Säkularisation vgl. Junkemann, 181–187. Für eine umfassende
Darstellung von Montgelas’ Rolle in der Säkularisation vgl. jetzt Weis 2005, 149–229.
128 Vgl. den Überblick über Schellings Würzburger Zeit in Fuhrmans, Briefe I, 287 f.
129 Vgl. Schellings Brief an K. J. H. Windischmann vom 24. Oktober 1804, mit wel-
chem er diesem die Veröffentlichung eines Pamphlets mit dem Titel Darstellung der
Secte, welche in Bayern der Philosophie entgegen arbeitet ankündigt, worauf er dann
– wohl aus politischer Vorsicht – letztlich verzichtete (F. W. J. Schelling an K. J. H.
Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans, Briefe III, 131). Wenig später sah
Schelling sich doch zu öffentlichen Reaktionen genötigt. Siehe die Erklärung von
Ende März 1805 An das Publicum (Pareyson 1977, 218–225), die anonym veröffent-
lichten Nachrichten über das Studiumwesen in Franken und die Proceduren zur Ein-
führung desselben (Pareyson 1977, 251–253) und Über die neuesten obscurantischen
Verfügungen der Regierung in Würzburg (Pareyson 1977, 274–279), schließlich die
Auseinandersetzung, die sich um den Schulplan für die bayerischen Gymnasien ent-
spann: Fuhrmans, Briefe I, 299; F. W. J. Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September
1804, Fuhrmans, Briefe III, 118–123, 155 f.; F. K. v. Thürheim an F. W. J. Schelling,
7. November 1804, Fuhrmans, Briefe, 134 f. Der Schulplan ist abgedruckt in Plitt II,
32 f. Vgl. auch Schelling 1805b, 81 f. / SW VII, 193 f.
387
5. Kapitel. Politik und Religion
130
Pareyson 1977, 279.
131 Die Gefahr der Ochlokratie, die besonders dann drängend wird, wenn die bisheri-
gen Legitimationssysteme zusammenbrechen, bildet das Movens von Schellings poli-
tischem Denken, vgl. Hofmann 1999, 97, 123; vgl. Frank 1982, 176, 180 mit Frank
1982, 171, 174 f. Wenn Martin Schraven behauptet, dass Schelling »durch alle Wand-
lungen der Gesamtkonzeption seiner Philosophie hindurch […] stets für eine freie
Entfaltung des Individuums [optiert] und gegen eine Politik, die die Entwicklungs-
möglichkeiten des Individuums von Seiten des Staates einzuschränken versucht«,
dann schreibt er Schelling das grundlegende Dogma einer bürgerlichen Gesellschaft
zu und verfehlt damit den entscheidenden Punkt von Schellings Staatskritik. Nach der
Naturrechts-Deduktion ist nämlich alles Recht Zwangsrecht: Es gibt somit kein
Recht, das die »Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums« nicht einschränken
würde. Damit macht er Schelling zu einem Befürworter des Privatrechts, das dieser
gerade unter Kritik gestellt hatte (Schraven 1998, 190; vgl. Schelling 1803a, 227 f. /
SW V, 313; SW VI, 572 f.; SW VIII, 11 f.).
132 Pareyson 1977, 221 f.; Herv. v. Verf. Ferner: »Jeder beschränkte, auf gemachte For-
men eingeengte Kopf wird zum Verfolger, wenn er scheinbar Fug und Macht dazu
hat« (Pareyson 1977, 223; Herv. v. Verf.). Vgl. F. W. J. Schelling an G. W. F. Hegel,
21. Juli 1795, AA III,1, 27.
388
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
sie von der Überzeugung getragen, dass ein solcher Zustand der ge-
genseitigen Nicht-Einmischung auch für den Staat am vorteilhaftes-
ten wäre. Nach der Aufklärung können und müssen die Ergebnisse
der Wissenschaft allgemein zugänglich gemacht und verbreitet wer-
den. Nach Schelling widerstreitet es jedoch geradezu der Natur so-
wohl der Wissenschaft als auch der Philosophie, dass sie jedem
verständlich gemacht werden könnten. Dafür stellen sie an den Ein-
zelnen zu hohe Anforderungen, als dass es möglich oder auch nur
wünschenswert wäre, dass jeder sich daran beteiligen würde. Diese
Ergebnisse können durch solche, die diesen Anforderungen nicht ge-
wachsen sind, nur so verstanden werden, als wären sie bloße Meinun-
gen. Daraus ergibt sich ein Zustand des Streits zwischen Meinungen
und, indem man versucht, die eigene Meinung mit politischen Mit-
teln durchzusetzen, ein Zustand der allgemeinen Verfolgung. Diesen
Zusammenhang zwischen Aufklärung und »Verfolgungssucht« hebt
Schelling besonders hervor. 133 Dadurch ist die Aufklärung bzw. die
allgemeine Verbreitung der Ergebnisse der Wissenschaft nicht nur
für die Wissenschaft selbst, sondern auch für die Gesellschaft gefähr-
lich, indem dadurch der Volksglaube, das bindende Element jeder Ge-
sellschaft untergraben und zerstört wird. Gegen solches religiöses
Brauchtum, wie beispielsweise Heiligenverehrung, Wallfahrten, kurz
gegen die Volksreligion, hatte die Säkularisation sich insbesondere
gerichtet, da solche Praktiken nach einem aufklärerischen Vorurteil
sämtlich als Aberglauben zu rubrizieren waren. 134 Durch diese Zer-
389
5. Kapitel. Politik und Religion
135 Schelling 1804, 75 / SW VI, 66. Es handelt sich um die einzige Erwähnung des
Christentums in einer Schrift über Philosophie und Religion.
136 Dazu van Dülmen 1989, 125 f.
137 Vgl. Marquet 1984, 16, 19 f.; Grau 1997, 597. – Es ist durchaus bezeichnend, dass
der katholische Geistliche wie ein Protestant spricht. Er findet sein Gegenstück in der
protestantischen Frau, die als eine Katholikin handelt (vgl. SW IX, 102–104). Beide
sind somit zerrissen und keiner von beiden ist es gelungen, beide Ausgestaltungen der
christlichen Religion zu einer harmonischen Einheit zu bringen.
390
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
138 Zu vergleichen mit einem Erlass der kurpfalzbayerischen Regierung vom 18. März
1802: Der Klerus hat »sich als eigentliche Volkslehrer und Erzieher zu betrachten,
deren Händen die religiöse und sittliche Bildung einer ganzen Nation größtentheils
anvertraut ist«, statt sich in erster Linie um den »eigentlichen Opfer- und Altar-
Dienst oder die Beobachtung äußerlicher Gebräuche« zu kümmern. Eingriffe in die
Feier der großen Feste, in das Schmücken der Gräber usw. werden dadurch motiviert,
dass das alles bloße »Vehikel zur religiösen Belehrung« sind, denen die Einwohner, da
sie »seit geraumer Zeit so weit in der religiösen Aufklärung fortgeschritten«, nicht
mehr bedürfen (zit. in Schwab 1869, 336 f., 339).
139 »Sonst war der religiöse Glaube, der verschwunden ist, ihr inneres Band; zurück-
gehen lässt sich nicht, nachdem einmal die Bahn freyer Erkenntniss betreten ist«
(Schelling 1809b, 108 / SW VII, 525): Durch die Spaltung der Konfessionen ist die
Religion als ›inneres Band‹, d. h. in ihrer sozialen Funktion, verschwunden und statt-
dessen vielmehr zu einem Faktor der Entzweiung geworden. Damit stellt sich nun der
Philosophie die Aufgabe, zu untersuchen, wie das Verschwundene sich ersetzen ließe.
Die Konfessionsspaltung ist somit zugleich eine Chance für die Philosophie.
391
5. Kapitel. Politik und Religion
arzt des Kurfürsten und hatte schon länger zwischen Schelling und dem Kurfürsten
vermittelt. Nach Fuhrmans »hat [es] wohl auch Briefe Schellings an den Kurfürsten
gegeben […], die wir leider nicht kennen« (Fuhrmans, Briefe II, 47). Zu Dalberg, vgl.
Hammermayer 1980, 154–156; Schwaiger 1980, 129, 133.
144 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 24. Oktober 1804, Fuhrmans,
Briefe III, 131: »Man ist in B. [Bayern, R. S.] in nicht geringer Verlegenheit wegen
meiner; doch will ich nicht dafür stehen, daß wenn jene Schrift [das oben genannte
Pamphlet Darstellung der Secte …, R. S.] erscheint, man nicht unklug genug ist, mich
des Landes zu verweisen. Ich verlange es nicht besser und will mich nur nicht so im
Dunkeln, heimtückisch wegdrängen lassen. Ich wünschte auf den Fall, bei Ihrem Kur-
fürsten ein Asyl zu finden« (sc. in Regensburg).
145 Dalberg verfolgte eine gemäßigtere Form der Aufklärungspolitik, vgl. Schwaiger
1980, 133.
146 Eine erste direkte Anrede fand sich bereits im dritten Abschnitt (vgl. Schelling
392
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
147
Schelling 1804, 74b, 76 / SW VI, 65, 67.
148Zu dieser Feindseligkeit der Volksreligiosität gegenüber, vgl. van Dülmen 1989,
204–214.
393
5. Kapitel. Politik und Religion
vor, für die Begünstigung einer solchen nicht gerade auf solche Mittel
zurückzugreifen, die sie vielmehr zerstören würden. Der zweite Auf-
ruf setzt den Willen einer öffentlichen Religion weiterhin voraus,
weitet die Zielrichtung indessen aus. Jetzt soll nicht mehr eine par-
tielle, weil historisch gewachsene und den Umständen und der Be-
schaffenheit eines besonderen Volks angemessene und somit bloß na-
tionale, sondern eine universelle Mythologie gesucht werden. 149
Zwischen beiden Aufrufen gibt es demnach eine Stufung. Der zweite
Aufruf dehnt den Anspruch des ersten aus, indem eine universelle
Mythologie keinem Volk exklusiv gehört, sondern auf eine Einswer-
dung der ganzen Menschheit hinwirken soll. Eine solche nun kann
nur in der ›symbolischen Ansicht der Natur‹ gefunden werden.
Zum anderen sind besonders im »Anhang« Spuren politischer
Vorsicht feststellbar. Schellings politisches Unternehmen war, wie
wir gesehen haben, nicht ganz ungefährlich. Aus diesem Grund ver-
sucht er seine Lehre so zu verschleiern, dass nur aufmerksame Leser
sie so verstehen, wie sie gemeint ist, andere hingegen dazu verleitet
werden, sie als mit den herrschenden Meinungen in Übereinstim-
mung zu verstehen. Wie Schelling weiß, sind die meisten seiner
(gebildeten) Leser für die Ziele der Aufklärung gewonnen. Während
sie die Volksreligion als teils abergläubisch, teils nutzlos betrachten
und ihr deshalb entgegenarbeiten wollen, so sehen sie die Religion
dennoch als eine Stütze des Staates, schätzen diese bloß nach ihrer
politischen Nützlichkeit ab und wollen sie demnach auf Moralität
einschränken oder ihr jedenfalls nur eine moralische Bedeutung be-
lassen, die sie staatstauglich machen soll. 150 Vorsicht musste Schelling
394
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
395
5. Kapitel. Politik und Religion
liche Kritik derselben intendiert. Wie man Schellings Begriff der Sitt-
lichkeit auch interpretieren mag, kein Zweifel kann darüber bestehen,
dass sie sich mit der geläufigen Ansicht auf keine Weise vereinigen
lasse. Auch der Begriff der Religion ist in der Schlusserklärung ganz
unbestimmt gelassen, obwohl doch die ganze Schrift darauf abzielte,
diesen Begriff näher zu bestimmen. Durch diese Unbestimmtheit
scheint Schelling die grundsätzliche Unterscheidung zwischen der
Religion, wie sie in den Mysterien gelehrt wird, und der Religion als
Volksglaube oder Mythologie wieder einzuziehen. Zwar erklärt er,
dass die Religion durch die besondere Veranstaltung der Mysterien
›ganz von rein sittlicher Wirkung‹ sein werde, über die Art dieser
Wirkung und ihre Folgen für die öffentliche Religion spricht er sich
nicht aus. Und wenn die Philosophie auch ›mit der Religion in ewi-
gem Bunde‹ ist, so ändert dies doch nichts daran, dass sie mit der
Mythologie als der anderen Gestalt der Religion dennoch »im gera-
desten und auffallendsten Gegensatz« sein kann. 152 Selbst wenn die
philosophische Religion nicht mit der Politik in Konkurrenz tritt, so
bleibt doch offen, ob dies auch für die Volksreligion gilt.
Schließlich hat auch Windischmann, mit dem Schelling zu dieser
Zeit in einem regen Briefwechsel stand, im »Anhang« eine politische
Tendenz entdeckt, wenn er sich auch über ihren Charakter täuscht. So
schreibt er nach Erhalt der Schrift, dass er von der »Unstatthaftigkeit
einer esoterischen u. exoterischen Behandlung der Religion in der
neuen Welt«, wie er sie in Philosophie und Religion befürwortet
sieht, »ganz überzeugt« ist:
[D]ie neue Zeit hat eine höhere Tendenz, die man durch Freimaurer-
mysterien und Ordensceremonien nicht zu hemmen suchen soll, auch
hiedurch nicht aufhalten wird: die Hierarchie hat auch lange genug ge-
dauert, als daß man sie unter neuen Formen wieder einführen sollte. So
reines Vergnügen mir Ihre Schrift sonst gewährt hat, so auffallend war
mir bei weiterem Nachdenken der Anhang, den ich jedoch immer mehr
als eine Beschreibung der Dinge wie sie sind und sich von selbst ver-
bergen und offenbaren, ansehe, als wie sie sein sollten. 153
396
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
Es lag also für einen ›leichtsinnigen‹ Leser wie Windischmann, 154 der
mit dem Illuminatismus bestens vertraut war, 155 nahe, die Unter-
scheidung von Freien und Nicht-Freien und die Rede von den Myste-
rien mit solchen Geheimbünden in Verbindung zu bringen. Zwar war
der – 1776 gegründete – Geheimbund der Illuminaten 1785 bereits
wieder aufgehoben und verboten worden, 156 dessen politische Ideen
lebten jedoch weiter, wie auch viele der früheren Mitglieder nachher
hohe politische Ämter bekleideten. 157 Aus der Bemerkung Windisch-
manns geht hervor, dass ihm besonders der Gedanke der Hierarchie
zuwider ist, dass er die noch bestehende Ungleichheit nur für vorläu-
fig erachten kann und dass er alles auf eine Beseitigung derselben
hinwirken sieht. Die von Schelling gemeinte natürliche Ungleichheit
deutet Windischmann zu gesellschaftlichen oder konventionellen
betreffen die politischen Konsequenzen, die sich nach seiner Meinung aus dem im
Anhang Gesagten ergeben.
154 Vgl. F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe
III, 98.
155 Sowohl sein Onkel von Colborn als auch der Freiherr von Dalberg waren früher
Mitglied des Geheimbundes der Illuminaten gewesen (vgl. van Dülmen 1975, 61, 68,
73, 441, 445).
156 Vgl. van Dülmen 1975, 13; Hammermayer 1980, 146–150. – Freimaurer und Illu-
minaten bezeugten übrigens ein besonderes Interesse für die Eleusinischen und ande-
re Mysterien und versuchten, ihre Organisation nach diesem Vorbild zu gestalten.
Dazu van Dülmen 1975, 35, 37, 116, 119, 120–123; Hammermayer 1980, 147 f. So
z. B. auch Reinhold, vgl. dazu Roehr 2004.
157
Vgl. van Dülmen 1975, 96: »Der Montgelas-Staat bildete im Prinzip die Erfüllung
der aufgeklärten politischen Wünsche ehemalig engagierter Illuminaten«. Die per-
sonelle und ideologische Kontinuität betont auch Hammermayer 1980, 149. – Auf
die Frage, ob »die früheren Illuminaten eine entscheidende Rolle für die Säkularisa-
tion [spielten]«, gibt Eberhard Weis folgende Antwort: 1. Unter den Mitarbeitern
Montgelas’ »befanden sich sowohl ehemalige Illuminaten als Nichtilluminaten, aller-
dings alles entschiedene Aufklärer. Dieses war das einigende Band, nicht das ehemali-
ge Illuminatentum«; 2. Allerdings suggerierten Gegner dieser aufklärerischen Politik
aus politisch-taktischen Gründen eine Nähe zum Illuminatentum – um »Montgelas
um so mehr suspekt erscheinen [zu] lassen«. Die aufklärerische Voreingenommenheit
scheint dennoch überwogen zu haben, indem Weis nachweist, wie Montgelas und
seine Mitarbeiter, trotz eindeutiger Befunde, dass die Klosteraufhebung kaum dazu
beitragen würde, die Lücke in der Staatskasse zu schließen, dennoch an ihrem Plan
festhielten, ja sogar verhinderten, dass diesbezügliche Akten zum Kurfürsten gelang-
ten. Außerdem kam noch ein genuin politisches Moment hinzu, nämlich die Unter-
grabung der Ständeverfassung: »die Herstellung der Gleichheit vor dem Gesetz, des
gleichen Zuganges aller Bürger zu öffentlichen Ämtern, der Gleichberechtigung der
christlichen Konfessionen« (Weis 2005, 154, 157, 159, 160–162, 166, 183–191, 217–
225).
397
5. Kapitel. Politik und Religion
158 Darin folgt ihm Hans-Jörg Sandkühler, der darin eine ›metaphysische Begründung
des Politischen‹ und zwar als eine »spekulative Apologie der Konterrevolution« und
eine »Apologie der Ungleichheit« sieht (Sandkühler 1968, 136 f.).
159
F. W. J. Schelling an K. J. H. Windischmann, 14. Juli 1804, Fuhrmans, Briefe III,
98.
160 Vgl. auch den Brief an K. J. H. Windischmann vom 16. September 1804, in wel-
162
In einem Brief an den Grafen von Thürheim vom 26. September 1804 (F. W. J.
Schelling an F. K. v. Thürheim, 26. September 1804, Fuhrmans, Briefe III, 122). –
Richard van Dülmen hat die »strukturelle Verwandtschaft beider Ordenssysteme«
überzeugend nachgewiesen und im Illuminaten-Bund »ein Spiegelbild des Jesuiten-
ordens« erkannt, wenn dieser ursprünglich auch »gegen die Allmacht der Jesuiten
entstanden« war. Dies war auch den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. So lau-
tet ein zeitgenössisches Zitat: »der ehemalige Jesuitismus hatte den Aberglauben zur
Triebfeder und der gegenwärtige Illuminatismus den Unglauben, im Ganzen aber war
dort wie hier universelle Beherrschung der gesammten Menschheit durch den Orden
der Zweck« (van Dülmen 1975, 98, 127–129). Ferner: van Dülmen 1989, 141–171.
398
Exkurs zur Politischen Philosophie als politischem Handeln
darauf hinaus, eine Regierung in der Regierung zu bilden. 163 Auf die-
sem Hintergrund dürften auch die Verdächtigungen einsichtiger wer-
den, nach denen Schelling katholisch gewesen sei und eine Art von
Katholizismus propagiert habe. Damit soll nichts weiter besagt sein,
als dass seine Lehre darauf abzielt, die angestrebten Reformen rück-
gängig zu machen bzw. zu untergraben. 164 Schelling musste somit den
Verdacht zu beseitigen suchen, als würde er einen so verstandenen
›Katholizismus‹ unterstützen und einer Verflechtung von Bildung,
Kirche und Staat das Wort reden. Zugleich musste er auch vermeiden,
den Eindruck des Atheismus aufkommen zu lassen, da dieser, sobald
die Religion zu einer staatstragenden Moral umgedeutet wird, den
Staat zu untergraben scheinen muss.
Wenn auch eine auf den ersten Blick so unpolitische Schrift wie
Philosophie und Religion nicht ohne Bezüge auf die damalige Ge-
schehnisse in Bayern ist, so diente dieser Nachweis doch nicht der
Absicht, sie zu einem politischen Pamphlet zu erklären. Wenn ihm
die Lage ein unmittelbares Eingreifen zu erfordern schien, hat Schel-
ling, wie wir gesehen haben, solche Pamphlete auch wirklich verfasst.
In Philosophie und Religion hingegen werden die Beziehungen zu
zeitlichen und örtlichen Umständen, von einigen vagen Andeutun-
gen abgesehen, vielmehr ausgeblendet. Nur mittels Heranziehung
des Briefwechsels, zeitgenössischer Dokumente und jener pamphlet-
artiger Schriften lassen sie sich einigermaßen erschließen, sind aber
aus der Schrift selbst nicht unmittelbar ersichtlich. Schelling hatte
auch im »Vorbericht« ausdrücklich erklärt, sich mit dieser Schrift
nicht in erster Linie an die Zeitgenossen als die ›Werkzeuge der Zeit‹
zu richten. Nur mittels Akkommodation an die zeitgenössischen
Meinungen kann man überhaupt auf eine unmittelbare Wirkung
auf die eigene Zeit hoffen. Stattdessen richtet die Schrift sich in erster
Linie an die potentiellen Philosophen, deren Vormeinungen Schelling
insofern berücksichtigt, als sie jene daran hindern könnten, den Zu-
gang zur schellingschen Lehre zu finden. Die gewichtigste Vormei-
nung betrifft jedoch das Verhältnis von Philosophie und Religion.
163 Der Geheimbund war darauf abgesehen ein »Sittenregiment« zu bilden, das die
bestehenden Regierungen regieren soll, ohne sie aufzulösen. Weishaupt, Gründer des
Bundes erklärte: »Man muß um die Mächtigen der Erde her eine Legion von Männern
versammeln, die unermüdet sind, alles zu dem großen Plan, zum Besten der Mensch-
heit zu leiten und das ganze Land umzustimmen; dann bedarf es keiner äußern Ge-
walt« (van Dülmen 1975, 115).
164
Vgl. Fuhrmans, Briefe I, 289–300; Tilliette 1999, 117 f.
399
5. Kapitel. Politik und Religion
165 Stattdessen scheint der Anhang wieder am Bruno anzuknüpfen (vgl. Schelling
1802a, 33–35 / SW IV, 233 f.). Auch die Fußnote, die auf Friedrich Schlegel verweist,
stellt wieder die Beziehung zur Frage nach dem Verhältnis zwischen Mysterien und
Mythologie, zwischen Philosophen und Dichtern her, wie sie bereits im Bruno in
deutlicher Anspielung auf Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie berührt wurde
(vgl. Schelling 1804, 76 / SW VI, 67). Es ist dies die einzige Fußnote, die, wenn wir
von Eschenmayer absehen, auf einen zeitgenössischen Autor verweist. Schlägt man
die Stelle in Schlegels Geschichte der Poesie der Griechen und Römer nach (vgl.
Schlegel 1798, 6–9), dann findet sich dort eine Übersetzung von Lukrez, De Natura
rerum, II 598–642. Beachte dazu: Lukrez, De Natura rerum, II 643–650 und I 57–62.
Von den sechs Fußnoten, die auf andere Autoren als Eschenmayer und Schelling
selbst verweisen, verweist somit nur eine einzige auf einen modernen Autor, von
dem es allerdings heißt, dass er als einziger noch die »letzten Anklänge alter, ächter
Philosophie […] vernommen« hat (Schelling 1804, 3 / SW VI, 17).
166
Schelling 1804, 7 / SW VI, 20.
167 Eschenmayer 1803, II (Vorbericht); vgl. Eschenmayer 1803, 53 (§ 45), 38 (§ 48), 43
400
Religion und Glaube
401
5. Kapitel. Politik und Religion
171 Schelling 1804, 5 / SW VI, 18, vgl. Schelling 1802f, 5–14 / SW V, 109–115. Dazu
Volkmann-Schluck 1960, 279 f.: »Diese Forderung enthüllt sich Schelling als der
Grundirrtum der Neuzeit. Und in diesem Zusammenhang wird für den Deutschen
Idealismus eine Auseinandersetzung mit dem Christentum unumgänglich«; »Das
Christentum hat, so erklärt Schelling, die ganze Kultur der späteren Welt allgebietend
bestimmt. Deshalb muß eine Philosophie, welche den Zentralpunkt der ganzen mo-
dernen Kultur als einen Grundirrtum erkennt, notwendigerweise in eine Auseinan-
dersetzung mit dem Christentum kommen«; »Die Grundbedingung für die schran-
kenlose Herrschaft des Verstandes über diese Welt liegt nicht in einer groben
Leugnung des Daseins Gottes, sondern darin, das Göttliche in einem absoluten Jen-
seits und sich dadurch gegen es gesichert zu halten«; Die »äußerste Irreligiosität«
»richtet sich in der Welt ein, indem sie durch Entfernung des Göttlichen aus der Welt
diesem zugleich den höchsten Tribut der Frömmigkeit zu zahlen glaubt. Denn kann
der Mensch Gott höher ehren als dadurch, daß er ihn von allem Weltlichen absolut
scheidet? Schelling hat hier einen Sachverhalt entdeckt, dessen Bedeutsamkeit wir
nicht hoch genug veranschlagen können: die verborgene Gottlosigkeit der modernen
Welt. Sie besteht nicht in einer Leugnung des Daseins Gottes, sondern verträgt sich
mit dem Anschein der höchsten Frömmigkeit, in den sie sich verbirgt […]. Die Forde-
rung, das Absolute außer sich zu haben, hat darin ihr Motiv, daß sie sich unter dem
Anschein der höchsten Frömmigkeit der Irreligiosität am meisten empfiehlt«.
172 Schelling 1809a, IX / SW VII, 333 f.
173 Deshalb hat Schelling gerade diesen Punkt »etwas härter nehmen müssen«
402
Religion und Glaube
174 Bereits der Kontrast des Titels der Schrift Philosophie und Religion zum hegel-
schen Titel Glauben und Wissen macht darauf aufmerksam, dass das Verhältnis bei-
der nicht so sehr mittels einer Differenzierung von zwei Zugangsweisen geschehen
wird, sondern dass stattdessen die erschlossene Inhalte (die ›Gegenstände‹) im Fokus
stehen werden.
175
Eschenmayer 1803, 37 (§ 47).
176 Eschenmayer 1803, 37 f. (§ 47).
177
Eschenmayer 1803, 33 (§ 42); Herv. v. Verf.; vgl. Eschenmayer 1803, 32 (§ 41).
403
5. Kapitel. Politik und Religion
181 Vgl. GuW, TWA 2, 383: »Indem er im gemeinen Bewußtseyn unbewußt vorhan-
den ist, vermag der Glaube, und das, was aus dem Glauben kommt, rein zu seyn, denn
die Subjectivität und Endlichkeit liegt völlig jenseits, ohne Berührung und Beziehung
darauf; so bleibt aber der in die Philosophie eingeführte Glaube nicht; denn hier hat er
eine Rücksicht und Bedeutung des Negirens, und in diesem Negiren berührt und
dadurch erhält er die Subjectivität«.
182 Eschenmayer 1803, 35 f. (§ 45), 37 (§ 47), 42 (§ 51); vgl. Eschenmayer 1803, 33
(§ 42), 44 f. (§ 53).
404
Religion und Glaube
Gott nur den Philosophen die Erkenntnis Gottes zugänglich ist, die
Nicht-Philosophen von ihr ausgeschlossen blieben. Es ist gerade diese
Kluft zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, die durch die
Religion überbrückt werden soll. Während Begriffe und Ideen »nicht
mehr allgemeinfasslich« und »schwer verständlich« sind, wird,
»[g]erade dadurch, dass in der Religion weder Begriffe noch Ideen
gültig sind«, diese »wieder ein allgemeiner Antheil der Menschen,
und die Gleichheit, welche auf der Stufe der Spekulation verloren
gehen müsste, stellt die Religion für die gesammte Menschheit wie-
der her«. 183 Im Glauben macht sich Gott auf eine solche Weise kennt-
lich, dass der Umweg über die Spekulation sich erübrigt. Nur so stün-
de die Religion allen offen: »Der Glaube ist in allen Menschen und die
Offenbarung für alle Menschen gleich, und der Philosoph kann sich
keines bessern rühmen, als der Laye«. 184 »Das Selige in uns ist das
allgemeine Gut, das unabhängig von Verdienst und Fähigkeiten, un-
abhängig von aller Spekulation und von allen Gütern der Erde, der
Laye wie der Philosoph auf gleiche Weise in sich aufbewahrt«. 185 Das
Ergebnis seiner Schrift fasst Eschenmayer so zusammen,
dass ich den Gott, welchen wir mit dem Volke anbeten, nicht für einen
Götzen unseres Verstandes, auch nicht für ein Ideal der Vernunft oder
für eine Ausgeburt der Spekulation überhaupt halte, […] welchem sich
der Philosoph in Gedanken mehr annähern könnte als das Volk«. 186
Der Begriff von Gott, wozu der Philosoph gelangt und auf welchen
Eschenmayer durch die Erwähnung des ›Ideals der Vernunft‹ deutlich
genug anspielt, kann ihm höchstens als ein Symbol gelten. Sobald
dieser Begriff mit dem Anspruch auf Erkenntnis verbunden wird, gilt
er ihm als ›Götze‹. Nur solange man ihn als bloßes Symbol oder blo-
ßen Versuch, das Unerkennbare zu artikulieren, gelten lässt, kann
man ihn als den Vorstellungen, die die Nicht-Philosophen sich von
Gott bilden, gleichberechtigt ansehen. Damit wird der Wahrheits-
anspruch jeglicher Rede von ›Gott‹ aus moralischen Erwägungen auf-
gegeben. Das Wort ›Gott‹ ist nur noch eine Chiffre, gut genug, um
eine bestimmte Art von Erfahrungen zu kommunizieren oder zu er-
zeugen. 187 Es ist somit nicht bloße Polemik, wenn Schelling den Glau-
405
5. Kapitel. Politik und Religion
Chiffern der Transzendenz nur das Moment der Transzendenz von Bedeutung. Darin
findet sich der Kern seiner Kritik an Schelling, der nur deshalb von der Existenzerhel-
lung in eine ›Gnosis‹ verfallen sei, weil er das Moment der Transzendenz dadurch
verdeckt habe, dass es ihm nur auf eine Erschließung oder begriffliche Durchdringung
dessen, was sich in dieser Erfahrung zeigt (ihren Gehalt), ankomme. – Der Theologe,
so Eschenmayer, »muss es immer als einen Missgriff ansehen, die Religion mit der
Moral zu vermischen, die Offenbarung mit Ideen zu bereichern, und den höchsten
Punkt der Spekulation als Maasstab anzunehmen, die Chiffern der Gottheit zu en-
träthseln« (Eschenmayer 1803, 43 (§ 51); Herv. v. Verf.).
188 Nachdem Schelling im Vorbericht Eschenmayers Vorhaben als ein Versuch, »die
Philosophie aufs neue mit dem Glauben« zu »ergänzen«, charakterisiert hatte (Schel-
ling 1804, III f. / SW VI, 13), findet die zweite Erwähnung von ›Glauben‹ sich in der
Zusammensetzung ›Volksglaube‹ (Schelling 1804, 1 / 16), den Schelling ausdrücklich
von Religion im eigentlichen Sinn unterscheidet. Der Ausdruck kommt nur an dieser
einen Stelle von Philosophie und Religion vor und scheint dort besonders deshalb
eingeführt zu sein, um die Assoziation mit Eschenmayer herzustellen. Er wird zu-
nächst durch ›Volksreligion‹ (Schelling 1804, 35 / 39), schließlich durch ›Mythologie‹
ersetzt (Schelling 1804, 74b–76 / 65–67).
189 Ein ähnliches Argument auch in Whitehead 1927, 53 f., 56, 71; Kauttlis 1994, 10.
190 Zudem ebnet Eschenmayer den Unterschied zwischen natürlicher und ziviler Un-
gleichheit dadurch ein, dass er den Unterschied zwischen »Philosoph und Laye« in
einer Reihe mit dem Unterschied zwischen »Mächtige[n]« und »Schwachen«, »Rei-
che[n]« und »Armen« stellt (Eschenmayer 1803, 36 (§ 45)). Übrigens operiert er
406
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
Wie bereits bemerkt, unterlässt Schelling es, auf die These einzu-
gehen, die Eschenmayer durch seine ganze Schrift zu untermauern
suchte, nämlich die Bestimmung der Nichtphilosophie als einer ›von
aller Spekulation befreyten Theologie‹. Da der einzige, jedenfalls der
erste Gegenstand, der von sich aus ›der Speculation entrückt‹ ist, nach
Eschenmayer Gott ist, ist jene Gleichsetzung auch ganz folgerichtig:
Die Nichtphilosophie ist nur als Theologie möglich. Da aber auch
umgekehrt die Theologie nur als Nichtphilosophie möglich ist, hat
diese Bestimmung weitreichende Folgen für das Verfahren der Theo-
logie und für die ihr zulässige Art des Sprechens, da durch sie zu-
gleich der Wahrheitsanspruch theologischer Aussagen aufgegeben
ist. Eschenmayers Verständnis der nichtphilosophischen Theologie
kommt am Klarsten und Folgerichtigsten in folgenden zwei Sätzen
zum Ausdruck: »Die geringste Spekulation verderbt seine Reinheit
[sc. des Glaubens, R. S.]«, und: »Sobald aber jene [die Theologie,
R. S.] sich aufs Beweisgeben einläßt und der Spekulation das Beweis-
fodern zugesteht, so ist sie verloren«. 191 Das einzig angemessene
Sprechen von Gott kann ihn nur als unerkennbar behaupten und
mit dieser Erklärung der Unerkennbarkeit Gottes ist es zugleich be-
reits erschöpft. Eschenmayer scheint somit eine Art negativer Theo-
logie anzuvisieren. Negativ kann die von Eschenmayer angepeilte
Theologie insofern genannt werden, als sie sich zur Philosophie da-
durch ein negatives Verhältnis gibt, dass sie ihre einzige Aufgabe in
Bezug auf dieselbe darin sieht, ihren Anspruch auf eine Erkenntnis
Gottes zurückzuweisen. Sie ist aber außerdem auch insofern negativ,
als sie sich selbst zu ihrem eigenen Gegenstand nur negativ verhält,
da sie sich darin erschöpft, dessen Unerkennbarkeit zu behaupten. Die
theologische Rede kann somit höchstens eine symbolische sein. Auch
dort, wo sie sich dazu genötigt sieht, »aus der Sprache unserer Er-
kenntnisse« Ausdrücke zu entlehnen und auf Gott zu übertragen,
handelt es sich dabei doch nur um eine »bildliche Darstellung«, die
keinen Erkenntnisanspruch erhebt. 192 Eschenmayer selbst führt als
Beispiel die Dreieinigkeit an. Mit derselben trägt »die philosophische
immer mit nur zwei Kategorien, während Schelling außer den Freien und Nicht-Frei-
en noch eine dritte Klasse unterscheidet, die über diesem Gegensatz steht.
191 Eschenmayer 1803, 41 (§ 50), 44 (§ 52).
192
Eschenmayer 1803, 36 (§ 46).
407
5. Kapitel. Politik und Religion
196 Schelling 1805b, 18 / SW VII, 150 f. Jenen Versuch scheint Schelling in den Vor-
408
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
198 Auch der sich an der Veröffentlichung von Philosophie und Religion anschließen-
de Briefwechsel beschränkt sich ausschließlich auf eine wiederholte Erörterung der
Idee des Absoluten und der intellektuellen Anschauung (vgl. F. W. J. Schelling an
C. A. Eschenmayer, 22. Dezember 1804, Fuhrmans, Briefe III, 157 f.; F. W. J. Schelling
an C. A. Eschenmayer, 30. Juli 1805, Fuhrmans, Briefe III, 222–224).
199
Die achte und neunte Vorlesung gehören zudem zu einem Geflecht von mehreren
fast gleichzeitig verfassten Texten, die sich alle mit den religionsphilosophischen Fol-
gen der Naturphilosophie befassen. Zu nennen sind Ueber das Verhältniß der Natur-
philosophie zur Philosophie überhaupt, 1802 im Kritischen Journal der Philosophie
erschienen (vgl. Schelling 1802f, 14–20 / SW V, 116–120), der Zusatz zur Einleitung
der 1803 erschienenen zweiten Auflage der Ideen zu einer Philosophie der Natur (vgl.
Schelling 1803b, 86–88 / SW II, 72 f.), die im Winter 1802–1803 zum ersten Mal
gehaltenen und 1804 und 1805 in Würzburg wiederholten Vorlesungen über die Phi-
losophie der Kunst (vgl. SW V, 418–451). Wir werden in der Folge gelegentlich auf
diese Texte zurückgreifen.
409
5. Kapitel. Politik und Religion
bei der Behandlung der Frage nach dem Verhältnis von Philosophie
und Religion bzw. Theologie sowie nach »ihre[r] institutionelle[n]
Entsprechung, d[er] Theologische[n] Fakultät«, »bewußt jede offene
Konfrontation vor seinen Hörern« zu vermeiden. 200 Zwar hebt er
durchgehend die Rolle der Philosophie als Zentralwissenschaft her-
vor, womit bereits »die Vorrangstellung der Philosophie auch gegen-
über Religion und Theologie hinreichend zum Ausdruck gebracht«
wäre, aber »bei der direkten Behandlung der Frage nach dem Verhält-
nis der Philosophie zur Religion« verhält er sich »defensiv und erklärt
lediglich, beide könnten einander nicht ersetzen«. 201 Auch wenn er
der Theologie die Stelle der ersten Wissenschaft einräumt, kann dies
nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vorrangstellung der Philoso-
phie dadurch unangetastet bleibt. Diese Unklarheit pflegt Schelling
insbesondere in den Vorlesungen, die sich unmittelbar mit dem
Christentum und der Religion befassen. Dies hindert nicht daran,
dass sich in denselben einige äußerst kühne Behauptungen finden,
die genau überdacht sein wollen, bevor man sich Schelling als Ge-
währsmann für die Grundlegung einer christlichen Philosophie aus-
erwählt.
Die Aufgabe der achten und neunten Vorlesung besteht darin, die
Bedingungen zu formulieren, unter welchen die Theologie als Wis-
senschaft möglich ist. Dies ist nach Schellings Behauptung nur auf
der Grundlage seines eigenen Systems möglich. Bereits damit ist ge-
sagt, dass dasjenige, was bislang Theologie genannt wird, nicht als
Wissenschaft gelten kann. Schelling will an dieser Stelle weder die
bestehende Theologie nachträglich begründen noch auch Hinweise
dazu geben, wie sie sich zu einer Wissenschaft reformieren ließe,
sondern stattdessen den Begriff einer spekulativen oder philosophi-
schen Theologie und damit etwas grundsätzlich Neues entwickeln.
Die Theologie muss auf die Philosophie und nicht, wie bislang, auf
den Glauben oder auf eine Offenbarung gegründet werden. Deshalb
wird dieser Begründungsversuch der Theologie von einer im Ton
äußerst scharfen Polemik mit den (zeitgenössischen) Theologen be-
gleitet. 202 Diesen fehlt ein adäquates Verständnis ihrer Wissenschaft.
410
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
rer[n]« (Schelling 1803a, 191 / SW V, 297), von »alle[n] Dogmen der Theologie«
(Schelling 1803a, 192 / SW V, 297; Herv. v. Verf.). Erst ab Schelling 1803a, 198 /
SW V, 300 werden die Auswirkungen der »neueren Aufklärerey« auf die Theologie
ausdrücklich berücksichtigt.
203
Schelling 1803a, 189 / SW V, 296.
204 Schelling 1803a, 191 / SW V, 297; Herv. v. Verf.
205
Schelling 1803a, 189 f. / SW V, 296 f.
411
5. Kapitel. Politik und Religion
412
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
der Theologie als Einzelwissenschaft. Sie kann allerdings erst auf der
Grundlage der spekulativen Konstruktion erfolgen, so wie diese von
der Philosophie bzw. der philosophischen Theologie geleistet wird.
Die Verwischung der grundlegenden Differenz zwischen spekulativer
und historischer Konstruktion und, damit zusammenhängend, zwi-
schen der philosophischen und der christlichen Ansicht der Geschich-
te hat innerhalb dieser beiden Vorlesungen systematischen Charak-
ter. Sie verschleiert die eigentliche Richtung der Argumentation. So
behauptet Schelling zunächst, dass die Theologie sich durch eine be-
sondere »historische Beziehung« auszeichnet, die er darauf zurück-
führt, dass »in dem Christenthum das Universum überhaupt als
Geschichte, als moralisches Reich, angeschaut wird, und dass diese
allgemeine Anschauung den Grundkarakter desselben ausmacht«. 208
Aufgrund dieser Erklärung liegt es nahe, die »höhere Ansicht der
Geschichte«, jedes Mal wenn von ihr in der Folge die Rede ist, mit
der christlichen Anschauung der Geschichte gleichzusetzen. 209 Die
Konstruktion der ›höheren Ansicht der Geschichte‹ ist jedoch Auf-
gabe der Philosophie. Zu dieser Verwechslung trägt nicht unerheblich
bei, dass Schelling im Rahmen der philosophischen Konstruktion der
Geschichte immer wieder auf Ausdrücke wie z. B. Vorsehung oder
Sündenfall zurückgreift, die auf eine christliche Ansicht zu deuten
scheinen.
Sowohl die höhere, philosophische Ansicht der Geschichte als
auch die im Christentum implizierte Anschauung der Geschichte set-
zen die philosophische Konstruktion möglicher Gestalten von Religi-
on voraus. Nach derselben sind zwei Dimensionen, Gestalten oder
Potenzen von Religion zu unterscheiden. Diese zwei Potenzen be-
zeichnet Schelling jedoch nicht immer einheitlich. Bald bezeichnet
er sie als Heidentum und Christentum, bald als Mythologie und
Mysterien, bald als die exoterische und esoterische Seite der Religion.
Man kann sagen, dass die erstgenannte Potenz eher auf die soziale
Funktion der Religion abhebt und an ihr dasjenige hervorhebt, wo-
durch eine Gemeinschaft zusammengehalten und wodurch aus einer
Menschenmenge erst eine Gemeinschaft oder ein ›Volk‹ wird. Die
jeweils letztgenannte Potenz streicht hingegen die subjektive Bedeut-
samkeit der Religion hervor, wonach diese den Einzelnen zu verwan-
413
5. Kapitel. Politik und Religion
210
Eine entsprechende Unterscheidung findet sich auch in Whitehead 1927, 5–7, 37.
211 Schelling 1802f, 18 / SW V, 119.
212
Schelling 1804, 75 / SW VI, 66.
414
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
213 Schelling 1803a, 193, 196 / SW V, 298, 299. Diese Einsicht gehört selbst zur »wah-
re[n] Vernunftreligion« (Schelling 1803a, 196 / SW V, 299).
214 Innerhalb dieser Typologie wäre das Judentum dem Heidentum, die indische und
217
Schelling 1803a, 179 / SW V, 292.
415
5. Kapitel. Politik und Religion
416
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
417
5. Kapitel. Politik und Religion
dung glaubten. 225 Die Menschwerdung Gottes ist somit weder ein
einmaliges noch auch ein historisches Ereignis. 226
Besonders im Zusammenhang der Idee der Dreieinigkeit findet
sich bei Schelling ein kaum durchschaubares Zusammenspiel unter-
418
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
wäre, diese ›eine Thatsache als Faktum leugnen zu wollen‹. Da aufgrund von (2.) be-
zweifelt werden kann, ob Schelling die Auferstehung als eine unwiderleglich bewie-
sene historische Tatsache annimmt, so dürfte das historisch Wahnsinnige jener Erklä-
rung darin liegen, dass man sich dadurch des Mittels begibt, ›die ganze Geschichte des
Christenthums‹ zu verstehen, da die Verbreitung und Wirkung, die es entfaltet hat,
durch diese ›Eine Begebenheit gemacht‹ wurde. 6) Zu beachten ist schließlich, dass die
Auferstehung Christi als ein ›vielleicht beispielloses Ereigniß‹ apostrophiert wird.
Damit meldet Schelling Zweifel sowohl an der Einmaligkeit als an der Erstmaligkeit
dieses Ereignisses an. – Die Auferstehung Christi wird in Philosophie und Religion
kein einziges Mal erwähnt. Dafür wird Auferstehung einmal im Zusammenhang der
Mysterien erwähnt: Die Absicht der »pracktische[n] Lehre« derselben »geht auf Be-
freyung der Seele von dem Leib als ihrer negativen Seite«. Diese praktische Absicht
liest Schelling daran ab, dass »der Eingang in die alten Mysterien als eine Dahingabe
und Opferung des Lebens, als ein leiblicher Tod und eine Auferstehung der Seele
beschrieben wurde« (Schelling 1804, 77 f. / SW VI, 68; vgl. Schelling 1804, 71 f. /
SW VI, 62).
227 Schelling 1803a, 192 / SW V, 297 f.
228 Vgl. Allwohn 1927, 40: »In diesen und anderen Ausführungen Schellings über
419
5. Kapitel. Politik und Religion
229
Schelling 1803a, 171 f. / SW V, 288.
230 So z. B. Schelling 1804, 2 / SW, VI, 16 f.
231
Vgl. Schelling 1805b, 85 f. / SW VII, 196.
420
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
kaum von Philosophie und Religion behaupten. 232 Der Leser, dem der
Inhalt der ganzen Schrift noch gegenwärtig ist, dürfte sich weder
durch solche allgemeinen Versicherungen beruhigen lassen noch die
genannte Intention als selbstverständlich hinnehmen. So war bereits
durch die Kritik an der Unterscheidung von Gott und Absolutem im
ersten Abschnitt die Rede von einem Gott, der sich offenbart und der
aufgrund seiner Unerkennbarkeit nur geglaubt werden kann, grund-
sätzlich problematisiert. Ferner hat Schelling die Lehre einer creatio
ex nihilo keineswegs philosophisch zu rechtfertigen gesucht, sondern
sie unmissverständlich als den »roheste[n] Versuch«, sich das Ver-
hältnis von Gott und den endlichen Wesen einsichtig zu machen, zu-
rückgewiesen und als eine Vorstellung, die lediglich der »Volksreli-
gion« angehört, apostrophiert. 233 Außerdem haben wir zu zeigen
versucht, dass es wenigstens nicht unproblematisch ist, die Lehre
vom Abfall als eine Sündenfallslehre zu interpretieren, und dass auch
die Interpreten, die Schelling eine solche Intention zuschreiben, nicht
umhin können, Widersprüche in der Durchführung festzustellen, die
einem auch nur ein wenig in der Theologie versierten Autor schwer-
lich entgangen sein könnten. Schließlich wurde im dritten Abschnitt
eine Sittenlehre angedeutet, die jeden Versuch, die Sittlichkeit als
eine »Unterwerfung unter das Gesetz« zu denken, resolut zurück-
weist und stattdessen die wahre Sittlichkeit nur in der Verwirk-
lichung der eigenen Natur sucht (SW VI, 565). 234 Daran schloss sich
eine Lehre an, wonach wir der Unsterblichkeit »hier schon« gewiss
sein können. 235 Damit hat Schelling das anfangs formulierte Pro-
gramm, diejenige Fragen, wofür bislang nur die Religion sich zustän-
dig erklärte, wieder der Philosophie zu »vindiciren«, durchgeführt. 236
Dieses Programm scheint kaum der Intention entsprungen, sich an
einer philosophischen Rechtfertigung der christlichen Lehre zu ver-
suchen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der ›brennende‹ Charak-
ter dieser Schrift gerade in dieser Intention zu suchen ist, die Schel-
ling allerdings durch absichtliche Unklarheit der Mehrzahl seiner
Leser zu entziehen sucht. 237
421
5. Kapitel. Politik und Religion
422
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
hebt Schelling an der Kirche, die er für ein Analogon der Mysterien
hält, insbesondere die hierarchische Organisationsform hervor, wäh-
rend er zugleich betont, wie sie zugleich alle aufnehmen soll (vgl.
SW V, 435). In Philosophie und Religion heißt es, dass das Christen-
tum insbesondere seine symbolischen Handlungen und Gebräuche
sämtlich den Mysterien entlehnt habe. 242 Diese Handlungen finden
ihre Einheit in der Kirche oder in einer kirchlichen Organisation. Da
auch die Mysterien eine gestufte oder hierarchische Einrichtung sind,
hat es somit einen guten Grund, dass auch eine kirchliche Organisa-
tion hierarchisch aufgebaut ist: Die Kirche »bildete sich nothwendig
zur Hierarchie, deren Urbild in der Ideenwelt lag« (SW V, 434; Herv.
v. Verf.). 243 In diesem Zusammenhang blendet Schelling die christ-
liche Theologie und Dogmatik und alles Spekulative völlig aus und
beschränkt seine Überlegungen ganz auf die Form der kirchlichen
Institution. Jedenfalls ist die Kirche damit als eine in ihrem Prinzip
widersprüchliche Einrichtung gedacht, insofern sie dasjenige öffent-
lich zu machen sucht, »was seiner Natur nach nicht öffentlich und
real seyn konnte« oder eine natürliche Ungleichheit in einer konven-
tionellen abzubilden sucht. 244
Alle Bestimmungen des Christentums lassen sich auf die Umkeh-
rung des ursprünglichen und für das Heidentum charakteristischen
Verhältnisses von Mysterien und Mythologie als seines Prinzips zu-
rückführen. Durch diese Umkehrung treten die beiden Potenzen aller
Religion, die sich im Heidentum in einem Verhältnis der Indifferenz
zueinander befinden, in ein gegenseitiges Spannungsverhältnis. Die-
se Spannung zwischen der subjektiven Bedeutsamkeit und der sozia-
len Funktion der Religion ist für das Christentum charakteristisch
und innerhalb desselben unauflösbar. Es ist deshalb nicht lediglich
durch ihren Ort innerhalb von Vorlesungen über die Philosophie der
Kunst motiviert, wenn die Frage nach der Möglichkeit einer christ-
lichen Mythologie Schelling derart beschäftigt, sondern sie ent-
springt dem Grundproblem des Christentums, trotz des Vorherr-
schens der subjektiven Bedeutsamkeit zugleich eine soziale oder
423
5. Kapitel. Politik und Religion
245 Vgl. Schelling 1802f, 16 f. / SW V, 118; Schelling 1803a, 183 f., 200 f. / SW V, 294,
301; SW V, 440, 447. – Die mythologische und damit historische Beziehung des
Christentums ist durch den Protestantismus zerstört worden. In diesem zieht das
Christentum seine letzte Konsequenz, indem alle endlichen Formen zerstört werden:
»Aber wie alles Endliche im Christenthum in das Unendliche verschwimmt, so mußte
auch die Katholische Kirche sich selbst aus sich selbst ihren Zerstörer den Protestan-
tismus gebähren, mit deßen Daseyn sie als Katholische aufgehoben ist. Im Protestan-
tismus erlischt das Christenthum selbst, indem es in ihm seinen historischen Charac-
ter verliert« (nach Henry Crabb Robinsons Nachschrift der Philosophie der Kunst,
wiedergegeben in Behler 1976, 178). Vgl. Behler 1993, 292–295.
246
Zur Bedeutung solcher ›symbolischer Praktiken‹, vgl. Whistler 2013, 216–221.
424
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
zwischen Gott und Menschen, eignen sich, weil keine historische Ge-
stalten, nicht zum Stoff einer Mythologie. Die Suche nach einem
möglichen christlichen mythologischen Stoff gelangt erst dort an ihr
Ziel, wo das Wunder erwähnt wird (vgl. SW V, 429 f.): »Das Wunder-
bare in der historischen Beziehung ist nun der einzige mythologische
Stoff des Christenthums« (SW V, 439). Nur das Wunder erfüllt die
Anforderung, ›mitten in der Zeit über alle Zeit‹ zu sein und dadurch
einen Einschlag des Unendlichen in der Zeit darzustellen. Aus diesem
Grund hat man das Leben Christi so zu erzählen versucht, dass es ein
Wunder darstellt. Auch die Heiligen oder Propheten bieten als his-
torische Figuren einen solchen Stoff dar, da sie ihren historischen
Kontext zugleich überragen und eine von diesem unabhängige Be-
deutung haben (vgl. SW V, 436). Sie können somit als die großen
Gestalten angesehen werden, die die Einheit des Endlichen und Un-
endlichen darstellen, insofern diese in ihnen realisiert ist. Die christ-
liche Ansicht der Geschichte enthält demnach das Leben Christi, die
Heiligenlegenden sowie eine Kosmologie, »eine mythologische Erklä-
rung der concreten Welt, der Mischung des unendlichen und end-
lichen Princips in den sinnlichen Dingen« (SW V, 437). Der Abfall
Lucifers ist »eine wirklich mythologische Ansicht der Geschichte der
Welt« (SW V, 437). 247
Als Mysterien bezeichnet Schelling jedoch nicht lediglich eine be-
stimmte Institution, sondern auch und vor allem die Lehren, die dort
gelehrt werden. Diese scheinen dort, wo von den ›spätern Zeiten‹, da
die Mysterien ›öffentlich gemacht wurden‹, die Rede ist, auch in ers-
ter Linie gemeint. Sie umfassen die Lehre vom Absoluten, von der
ewigen Geburt der Dinge, eine praktische Lehre und die Lehre von
der Unsterblichkeit. 248 Durch die Einrichtung der Mysterien waren
sie vom Volksglauben strengstens getrennt und erst durch eine all-
mähliche, stufenweise Einweihung erlernbar. Durch die Aufhebung
der stufenweisen Einweihung vermischen jene Lehren sich mit Vor-
stellungen aus dem Volksglauben, wodurch sie »ihre Natur völlig
247 An dieser Stelle wird der Abfall als ein Mythologem oder als Sündenfall betrach-
tet. An anderer Stelle gibt Schelling jedoch zu verstehen, dass diese Erklärung nichts
erklärt: »Nun scheint die Solicitation zum Bösen selbst nur von einem bösen Grund-
wesen herkommen zu können«, und: »Wir können aber auch nicht etwa einen ge-
schaffenen Geist voraussetzen, der, selbst abgefallen, den Menschen zum Abfall soli-
zitirte, denn eben wie zuerst das Böse in einer Kreatur entsprungen, ist hier die Frage«
(Schelling 1809a, 452, 453 / SW VII, 374, 375).
248
Schelling 1804, 3 / SW VI, 17.
425
5. Kapitel. Politik und Religion
426
Die Aufgabe einer philosophischen Theologie
427
Nachwort
»Philosophie und Religion« hat uns als Leitfaden bei der Darstellung
von Schellings Politischer Philosophie gedient. Da im Laufe dieser
Darstellung dennoch nur selten ausdrücklich von Politischer Philoso-
phie die Rede zu sein schien, dürfte es nicht überflüssig sein, am Ende
dieser Arbeit noch einmal auf diesen Begriff zurückzukommen, damit
dem Leser vielleicht im Rückblick deutlicher wird, inwiefern dieser
den eigentlichen Gegenstand dieser Untersuchung ausmacht. An die
Ergebnisse des fünften Kapitels anknüpfend können wir sagen, dass
Schellings Überlegungen zu den politischen Dingen auf das Argu-
ment hinausliefen, dass eine politische Theorie sich insofern erübrigt,
als der Staat als Zwangsinstitution keiner philosophischen Rechtfer-
tigung fähig ist. Die philosophische Behandlung des Politischen
nimmt zwangsläufig die Gestalt einer Kritik des empirischen Staates
an. Das politische Problem ließe sich dann nicht mit politischen Mit-
teln, sondern nur durch die Religion lösen. Wenn der Zusammen-
bruch der Naturrechtslehre auch in die Idee einer Neuen Mythologie
mündete, der Schelling die Aufgabe zuwies, ein hierarchisch geord-
netes Ganzes so zu begründen, dass die natürliche Ungleichheit zwi-
schen Freien und Nicht-Freien ihre angemessene Entsprechung in
einer politischen Ordnung findet, so ist doch leicht festzustellen, dass
die Durchführung einer solchen Neuen Mythologie bei Schelling
ebenso fehlt wie die einer politischen Theorie. Was wie ein Versäum-
nis und damit wie ein weiteres Indiz eines Scheiterns aussieht, dürfte
durch die Einsicht getragen sein, dass Mythologie als naturwüchsiges
Erzeugnis des menschlichen Bewusstseins sich nicht ›machen‹ lässt
und das Programm einer Neuen Mythologie somit nach dem Ein-
bruch der Offenbarungsreligion oder nachdem die Mysterien öffent-
lich gemacht wurden, undurchführbar ist. Dann würde der Begriff
einer Neuen Mythologie nicht so sehr ein politisches Programm be-
zeichnen, an dessen Ausführung Schelling gescheitert wäre, sondern
eher schon auf eine Aporie deuten, die dem Politischen innewohnt
429
Nachwort
430
Nachwort
1
Vgl. Schelling 1809a, 428 / SW VII, 357.
431
Nachwort
den, weshalb Schelling betont, dass der höchste sittliche Zustand über
dem Gesetz steht, ihn dementsprechend als ›Liebe‹ und damit die
›Persönlichkeit‹ als das Höchste, deshalb jedoch auch Außer-Gewöhn-
lichste bestimmt, das nicht mit Individualität zu verwechseln ist.
Wir haben gesehen, wie Schelling mit Philosophie und Religion
und mit den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der
menschlichen Freyheit eine doppelte Darstellung des ideellen Teils
der Philosophie vorlegt. Keiner der beiden ist vollständig, sondern
jede derselben blendet entscheidende Theoriestücke aus oder erkennt
ihnen nur eine marginale Rolle zu, sodass beide Darstellungen zu-
sammengelesen werden müssen, um Schellings eigentliche Intention
zu entdecken, die unzugänglich bleibt, solange man zwischen beiden
Schriften einen Gegensatz annimmt. Wie dem auch sei, Schelling
macht in beiden Fällen unmissverständlich klar, dass die eigentliche
Absicht beider Darstellungen in einer Verteidigung der Philosophie
gegen ihre radikalste Alternative besteht, nämlich gegen eine solche,
die die Philosophie schlechthin wertlos machen würde. Diese Absicht
geht klar genug aus der Einleitung von Philosophie und Religion her-
vor. Schelling wiederholt sie auf den ersten Seiten der Freiheits-
schrift, indem er das Interesse der Auseinandersetzung mit dem Pan-
theismus darin sieht, dass die Alternative die Philosophie dann
wertlos machen würde, wenn die Gleichsetzung von Philosophie und
System Gültigkeit hätte. Die zweideutige Verwendungsweise von
Ausdrücken, die jener Alternative entnommen sind, wie die Dunkel-
heit der Darstellung sollen dazu beitragen, den Rechtfertigungsdruck
auf beide Seiten zu erhöhen. Man kann nicht sagen, dass die Philoso-
phischen Untersuchungen in dieser Hinsicht besonders erfolgreich
gewesen sind, da man diese Frage bislang kaum wahrgenommen zu
haben scheint. Dies scheint darauf zurückzuführen, dass die Aus-
einandersetzung mit Schelling in einem historischen Augenblick
stattfindet, da die historische Erledigung des Christentums un-
umkehrbar scheint und es somit dem Belieben des Lesers überlassen
scheint, die ›religiösen‹ Assoziationsfelder seiner Begrifflichkeit aus-
zublenden oder aber bei ihm eine Bestätigung für die eigene christ-
liche ›Weltanschauung‹ zu suchen. Die Beschäftigung mit Schelling
scheint mehr durch ein Verlangen nach Klarheit über die eigene
Weltanschauung als durch die Einsicht in die Notwendigkeit einer
rationalen Rechtfertigung der Philosophie als Lebensweise bewegt
zu sein. Im ersteren Fall allerdings kommt dem rationalen Argument
höchstens sekundäre Bedeutung zu, als Unterstützung eines Glau-
432
Nachwort
bens, der selbst nicht in Frage gestellt wird, da er nur einer Klärung,
nicht aber einer Begründung fähig wäre. Gerade eine solche Haltung
ist es aber, die Schelling unter Druck setzen möchte, damit sich viel-
leicht ein Übergang von der Nicht- oder Unphilosophie zur Philo-
sophie vollziehe.
Wie dem auch sei, wenn Schelling seinen Ausgangspunkt von
einer in der Natur des Menschen gründenden Idee des Absoluten
nimmt, dann ist damit nicht behauptet, dass der Philosoph über ein
absolutes Wissen verfügte, das ihn von allen Nicht-Philosophen un-
terscheidet, sondern dass im natürlichen Bewusstsein eine Annahme
enthalten ist, die, konsequent durchdacht, allerdings zur Annahme
der Möglichkeit eines absoluten Wissens führt. Die vage oder nicht-
entwickelte Idee des Absoluten ist indessen der Berührungspunkt
zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen. Dieselbe lässt nur
zwei Möglichkeiten offen: entweder die Annahme der Möglichkeit
eines absoluten Wissens oder den radikalen Skeptizismus. Die erste
Möglichkeit ist dialektisch durch den Nachweis zu bewähren, dass die
zweite sich nicht zu einer konsistenten philosophischen Position aus-
bauen lässt und, falls sie konsequent sein will, nur zum Glauben über-
gehen kann. Deshalb führt ein Weg von Schellings Lehre von der Idee
des Absoluten als philosophischer Theologie zur Auseinandersetzung
mit der Religion als nicht-philosophischer Entfaltung jener Idee und
zum Versuch darüber, inwiefern die Religion als Mythologie und als
Offenbarungsreligion eine konsistente Ausgestaltung gestattet. Um-
gekehrt muss aber auch der Weg, von der ›Politik‹ zur Mythologie
über deren Transformation in eine Offenbarungsreligion, letztlich
wieder in die Aufgabe einer philosophischen Theologie münden.
433
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435
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436
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c) Fichte:
d) Hegel:
437
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Namensregister
Grau, A. 308, 390 Kant, I. 3, 26, 32 f., 45, 60, 72, 89–91,
Guattari, F. 46, 49 100, 105, 112, 119 f., 136, 141, 176,
Gueroult, M. 159 189, 206 f., 214, 221, 223, 258, 272–
276, 280 f., 340, 361, 390
Habermas, J. 9, 38 f., 84, 100, 235, Kauttlis, I. 102, 404, 406
337, 341, 353, 360, 362 Kerényi, K. 369, 372 f.
Hammermayer, L. 392, 397 f. Kierkegaard, S. 5, 167
Hartkopf, W. 2, 196 Klenner, H. 341
Harward, J. 141 Knatz, L. 386
Hay, K. 91 Koller, H. 28
Hegel, G. W. F. 1, 38, 72, 79, 96, Korsch, D. 18, 107, 125, 144
104 f., 293, 362, 388, 403 Kunz, H. 49
Heidegger, M. 166, 211, 265, 293
Hermanni, F. 254–256, 262, 265, 272, Leibniz, G. W. 15, 45, 46, 226, 258,
276 260, 275
Heuer, F. 28 Leinkauf, T. 206–208
Hinske, N. 60 Lessing, G. E. 45, 58, 60
Hobbes, T. 291 Lévy, P. 119
Höffe, O. 293
Hösle, V. 29 f., 37 f. Marks, R. 2 f.
Hofmann, M. 340, 343, 350, 353, 365, Marquet, J.-F. 47, 52, 121, 294, 390
386, 388 Meier, H. 54, 77, 362
Hogrebe, W. 149, 301 Menninghaus, W. 28
Hollerbach, A. 340 f., 348, 350, 353, Michelet, C. L. 35, 307 f.
362, 366, 370 Mokrosch, R. 168, 255
Holz, H. 147, 151, 168 Montesquieu, C. S. 303
Homer 36, 296 Montgelas, M. J. von 387, 397
Horatius Flaccus, Q. 35, 74 Mülder-Bach, I. 28
Horn, F. 306 Müller-Bergen, A.-L. 77, 304
Hühn, L. 207, 366 Müller-Lüneschloß, V. 360
450
Namensregister
Reinhold, K. L. 9, 23, 46, 48, 59, 66, Sziborsky, L. 365, 369, 378, 383, 386
118 f., 206, 216, 256, 397
Rivelaygue, J. 343, 345, 352 f., 356, Tennemann, W. G. 141
366 Theunissen, M. 167, 174, 188
Roehr, S. 397 Thürheim, F. K. Graf v. 387, 398
Rousseau, J.-J. 35, 54, 77, 291, 304, Tiedemann, D. 141
379 Tilliette, X. 2, 5, 8, 16, 18, 44, 52, 113,
Rückert, J. 138, 216, 232, 282 145, 166, 169, 182, 185, 386, 399
Rüttenauer, A. 335 Todorov, T. 43
Tomberg, M. 44
Sandkühler, H.-J. 166, 341, 353, 363,
366, 398 Unger, F. 19
Schalow, F. 308
Schelling, K. F. A. 341, 356 Vergauwen, G. 169
Schlegel, A. W. 35, 50 Vergilius Maro, P. 74
Schlegel, F. 36, 44 f., 56, 143, 161, Vergote, A. 373
258 f., 332, 400 Vetö, M. 71, 217
Schleiermacher, F. D. E. 408, 418 Volkmann-Schluck, K.-H. 402, 416
Schlosser, J. G. 141
Schmidt, A. 256 Wagner, J. J. 5 f., 235
Schönwitz, U. 394 Walch, J. G. 183
Schopenhauer, A. 207 Weis, E. 387, 397
Schraven, M. 353, 386, 388 Weiß, C. 216, 232, 282
Schröder, W. M. 341, 351 f. Whistler, D. 42 f., 134, 424
Schuffenhauer, H. 410 Whitehead, A. N. 374, 401, 406, 414
Schuffenhauer, W. 410 Wieland, W. 22, 25, 31, 34, 90, 130,
Schuffenhauer, D. 410 136, 178, 206, 286, 318
Schurr, A. 153 Wild, C. 386
Schwab, J. B. 386, 389, 391 Widerporsten, H. 49
Schwaiger, G. 389, 392 Windischmann, K. J. H. 13, 19, 141,
Shibuya, R. 209, 382 f. 169, 181, 243, 339, 372, 387, 391 f.,
Shikaya, T. 176, 188 396–398
Siep, L. 314 Wolff, M. 273, 275
Sokrates 319 Wuttke, W. 2, 88
Souilhé, J. 141
Spinoza, B. 13, 36, 45, 53, 108, 121, Xenophon 11
155, 159, 247, 291, 318, 333 f.
Stahl, E. L. 28 van Zantwijk, T. 118, 318
Steinhart, K. 141 Zeltner, H. 318, 348, 350
Stolzenberg, J. 33, 256 Ziche, P. 35
Strauss, L. 362
451
Sachregister
Abfall 5, 139 f., 144, 160, 161, 165– Erziehung 25, 66–71, 74, 238, 289–
172, 176–186, 192, 195, 199, 202– 292, 321, 367, 375, 382
204, 209, 212–214, 248 f., 251–257,
259–261, 288, 293, 297 f., 320–325, Figuren, konzeptuelle 36, 39, 44, 46,
327, 331, 335, 376, 420 f., 425 48 f., 51, 53, 66
Absolutheit, derivierte 157, 167, Freiheit 6 f., 55, 62, 83, 101, 137,
174 157 f., 163, 174, 177 f., 187, 189,
Ahnung 73, 97, 98, 101, 104, 132, 194, 204–208, 211–214, 217, 219,
136, 243, 285, 404, 408 222, 226, 228, 238, 241, 249, 250–
Anschauung, intellektuelle 12, 32 f., 253, 255 f., 262, 276, 278, 282–288,
79–81, 92–101, 111, 114, 116 f., 293, 296 f., 318, 324, 330, 335 f.,
121, 124–128, 131 f., 147 f., 231 f., 341, 352 f., 359, 365 f., 368
375
Gefühl 136, 204, 208, 243, 280, 314 f.,
Böses 6, 15, 60, 143, 148, 158, 161 f., 317–319, 403 f., 406
166–168, 189, 198, 203, 205, 210– Gegend 46–49, 51 f., 54
214, 226, 237, 242, 247, 252–255, Geschichte 75, 214, 218–221, 261,
257–281, 285, 293, 299 f., 302–308, 271, 283, 292–300, 303, 306 f., 320,
324, 328–332, 335, 425, 431 322 f., 325 f., 331, 366 f., 411–413,
420, 426
Darstellung 2 f., 9, 11, 15 f., 18–20, Glaube 3–5, 9 f., 56, 73, 80 f., 83, 85–
22 f., 27–29, 31–33, 37, 41–44, 51, 88, 91, 95 f., 98, 101–104, 109, 117,
55, 61, 67, 77, 80, 120–123, 125, 132–134, 136, 138, 167, 221, 223 f.,
127 f., 141, 156– 159, 169 f., 173, 227, 230–233, 235 f., 239–243, 247,
175–177, 179, 181, 184, 190–194, 314 f., 338, 389, 396, 400–406, 410,
197, 202, 208, 213, 215, 217, 220, 425 f., 430, 433
252, 254, 264, 282, 321, 328, 369, Gott 80, 83 f., 90, 94, 99–105, 108 f.,
374, 407, 419, 431 f. 117 f., 131, 133 f., 136–138, 157 f.,
162, 167, 177, 179, 188, 203, 209 f.,
Emanation, Entfernung 160–162, 219, 223, 230, 235–237, 240 f.,
165, 182 f., 198, 203 253 f., 259 f., 268–270, 277 f., 285,
Endlichkeit 15, 139 f., 143 f., 160–162, 287 f., 293, 300–305, 320, 322–336,
172, 177, 185–187, 192, 197, 202, 364, 374, 401, 403, 405, 407, 417,
205, 212, 226, 251–253, 258–260, 421, 426, 430
262 f., 265, 317, 321, 323, 335, Größe, negative 214, 258, 272–274,
342 f. 280
453
Sachregister
Grund 71, 148, 155 f., 197, 248, 251, Politische Philosophie 4, 8–10, 61, 77,
278, 300 f., 305, 324 f., 328, 330–332 337, 340, 361 f., 385 f., 429 f.
Identität 92–94, 96, 112, 114, 116, Seele 75, 89, 94–96, 140, 177, 188–
119, 128–131, 136, 146, 152–154, 191, 193, 198–201, 240, 242, 247,
164, 190, 192, 198, 225–231, 244, 249 f., 254, 282–287, 310–317, 320,
282, 284, 286 f., 293, 296 f., 320, 322 f.
326, 335, 343 f., 363 Sehnsucht 135 f., 241
Identitätsphilosophie 5 f., 8 f. Symbol 12, 37, 38, 41–45, 51, 54–57,
62, 65 f., 74 f., 133 f., 137, 232, 369,
Mysterien 12, 39, 52 f., 67–76, 245, 373 f., 405–408, 419 f., 424
307, 334, 338 f., 369–376, 384, 390,
395–397, 400, 413 f., 416, 419, Theologie 84–86, 102, 133 f., 166–
422 f., 425 f., 429 168, 313, 339, 400, 404, 407–411,
Mythologie 39, 365–370, 372, 393 f., 413, 420, 426 f., 433
396, 400, 413 f., 416, 423–425, Tugend 83, 101, 137, 212, 215, 220–
429 f., 433 224, 233 f., 236–241, 244 f., 255,
261, 271, 275, 288, 359, 402, 431
Naturphilosophie 8–10, 22, 49, 52 f.,
60 f., 171, 190 f., 195, 202, 205, 213, Unsterblichkeit 7, 83, 101, 137, 189,
215–217, 237, 252, 257, 310, 324, 214, 219, 222, 305, 307–309, 312–
335, 337, 340, 358, 383, 385, 402, 320, 322 f., 326, 331, 333, 374, 421,
409, 431 425
Nichtphilosophie 81, 83–86, 102, 103,
137, 222–224, 228, 231, 400, 406 f. Vergangenheit 204, 207, 221 f., 261,
290 f., 293, 298 f., 304, 306 f., 316,
Offenbarung 133–136, 157, 166 f., 320 f., 323, 329, 331, 415
231, 241, 324–326, 328–330, 335,
405, 410–412, 415–417, 420 f., Wille 89, 140, 174, 176 f., 188–191,
426 f., 429, 433 193, 198, 224–230, 252 f., 255 f.,
276, 286 f., 324 f., 331, 343–350,
Persönlichkeit 6, 148, 168, 188 f., 203, 352, 354, 362, 364 f., 377
207–209, 211 f., 252, 360, 381–383,
432 Zukunft 221 f., 286, 293, 298 f., 304–
306, 313, 316, 320–323, 331
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