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Herderbücherei

Dr. med. Wilhelm


Rudolphson
Wunschträume
der Seele
_eiden am unerfüllten Leben

Warum ist unser Leben so unerfüllt und fried


los? Auf diese Frage antwortet hier ein
erfahrener Psychotherapeut. An vielen Praxis
beispielen zeigt er, daß wir die Wunsch
träume unsererSeele verdrängen und nicht
mehr wagen, unser eigenes Leben zu leben.
Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist
zugleich der Weg zur Heilung. Dieser Praxis
bericht macht es leicht, ihn aufzuspüren und
zu gehen.

»menschlicherleben«
»menschlicher leben«
Thomas Sartory
Zusammenleben lernen
Gespräch mit Menschen, die ich traf
Band 540, 144 Seiten

Heilung durch Nähe


Seelisch Kranke brauchen uns
Herausgegeben von Barbara Bondy
Band 548, 144 Seiten

August Sahm
Humanisierung der Arbeitswelt
Verhaltenstraining statt Verordnung
Band 551, 128 Seiten
E. Frings-Kammerichs/H. A. Schüller
Die schwierige Generation
Jugendkrise - ein Zeichen der Hoffnung
Band 555, 208 Seiten
Sterben im Krankenhaus
Aufzeichnungen über einen Tod
Herausgegeben von Rudolf Kautzky
Band 561, 160 Seiten
Camilla Härlin
Der isolierte Mensch
Kontakte herstellen und gewinnen
Band 572, 144 Seiten
Erwin Anderegg
Die tausend Masken der Resignation
und das Antlitz der Hoffnung
Band 578, 128 Seiten
Karl Ledergerber
Keine Angst vor der Angst
Ihre Überwindung durch Einsicht und Vertrauen
Band 589, 176 Seiten
Gertrud Stetter
Die unvollständige Familie
Mut zur Selbsthilfe
Band 597, 144 Seiten
Walter Thimm
Mit Behinderten leben
Hilfe durch Kommunikation und Partnerschaft
Band 604, 128 Seiten

in der Herderbücherei
»menschlicher leben«
Klaus Thomas
Wa r u m w e i t e r l e b e n ?
Ein Arzt und Seelsorger über
Selbstmord und seine Verhütung
Band 610, 144 Seiten

Jürgen Jeziorowski
Kein Platz für Kinder
Wie wir ihnen einen freundlicheren
Lebensraum schaffen können
Band 620, 128 Seiten

Rainer Fabian
Bessere Lösungen finden
Kreativität ist unsere einzige Chance
Band 627, 224 Seiten

Ulrich Schmidt
Menschen lernen miteinander reden
Begegnungserfahrungen in der Gruppe
Band 636, 96 Seiten

Fritz Fischaleck
Faires Streiten in der Ehe
Partnerkonflikte besser lösen
Vo r w o r t v o n H e r b e r t M a n d e l
Band 644, 192 Seiten
^ Leo Dembicki
Der verlorene Spielraum
Lebensangst aus Lebensenge -
Schicksal des modernen Menschen
Band 672, 144 Seiten

Gertrude und Thomas Sartory


HeUung von innen
Gesund werden als geistiger Vorgang
Band 676, 128 Seiten

D r. m e d . R u d o l f A f f e m a n n
Der Mensch als Maß der Schule
Empfehlungen eines Psychotherapeuten
Band 702, ca. 208 Seiten

in der Herderbücherei
Herderbücherei
»menschlicher leben«

Band 692
über das Buch

Wohl jeder Mensch erträumt und wünscht sich für sein


Leben Glück und Zufriedenheit. Aber nur ganz wenige sind
Sonntagskinder, denen so ein Leben vergönnt ist. Warum?
Die wachsende Intellektualisierung unserer Existenz hat
dazu geführt, daß wir immer weniger Verständnis für un
seren seelischen Lebensanteil und die Befriedigung seiner
natürlichen Bedürfnisse haben. Das ist die Ursache dafür,
daß der Mensch leidet und insgeheim unglücklich ist. Die
Folge davon ist Unzufriedenheit mit sich selbst und mit den
Nebenmenschen.
Anhand vieler Beispiele aus einer großen psychotherapeu
tischen Praxis zeigt der Autor dieses Taschenbuchs, wie man
lernen kann, sich die Wunschträume der Seele zu erfüllen,
statt sie zu verdrängen, wie man fähig werden kann, sein
Leben zu erleben statt es zu erleiden.
Dr. med. Wilhelm Rudolphson

Wunschträume
der Seele
Leiden am unerfüllten Leben

Herderhücherei
Originalausgabe
e r s t m a l s v e r ö ff e n t l i c h t a l s H e r d e r - Ta s c h e n b u c h

Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany


© Verlag Herder Freibürg im Breisgau 1978
Herder Freiburg • Basel • Wien
Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1978
T5;RN '^-4^1-07697-6
„Der Seele Grenzen kannst Du nicht ausfinden,
auch jeglichen Weg abschreitend,
so tiefen Grund hat sie."

(Heraklit)
Inhalt

Vorwort .

Einleitung

E r s t e r Te i l

URSACHEN UND SYMPTOME


SEELISCHER ERKRANKUNG

Furcht und Angst


Die Situation der Angstkranken und ihrer Furchtzustände
Furcht vor dem Alleinsein
Einsamsein
Nervosität und Neurose
Furcht und Unsichersein
Unentschlossenheit

Unzufriedensein und Aggression


Mißtrauen
Ungewißsein
UrSache des Ungewißseins
Entwicklung des Ungewißseins
Liebelosigkeit und Ungewißsein
Verweichlichung und Ungewißsein
Fordernde Liebe und Ungewißsein
Fördernde Liebe
Unwertgefühl und Schuldbewußtsein
Wer bin ich?
Lebens- und Todesfurcht
Wann und warum entsteht Angst
Z w e i t e r Te i l

HEILUNG SEELISCHEN LEIDENS

Therapie der Neurosen 103


Kindheitsneurosen 108
Neurotische Eltern 11 4

Jugendneurosen 11 6
Erwachsenenneurose 123
Angstneurosen 127
Erfülltes Leben 154

1 0
Vo r w o r t

Der Mensch erstrebt sich nichts sehnlicher als das Erleben seines
Lebens. Der überwiegenden Mehrzahl aber widerfährt nur das
Erleiden ihrer Existenz. Die Menschen erhoffen sich nichts instän
diger, als ihr Dasein zufrieden und in Frieden mit ihren Mitmen
schen zu genießen. Die meisten aber existieren zeitlebens voller
Unzufriedensein in sich selbst und in Unfrieden mit den anderen.
Die Menschheit insgesamt kennt seit Beginn ihrer Geschichte, an
gefangen von Kain und Abel, nichts anderes als Raub, Mord und
Krieg.
Im gegenwärtigen Zeitalter der Lieblosigkeit und des Unfrie
dens im Menschen, zwischen den Menschen und unter den Völkern
dieser Erde sind die Fragen nach der Verwirklichung von Liebe
und erfülltem Leben noch immer ohne befriedigende Antwort ge
blieben. Dafür quält und peinigt eine sich unaufhaltsam ausbrei
tende Seuche von Unruhe und Angst den modernen Menschen in
einem stets bedrohlicher werdenden Ausmaß, so daß man seit
Jahrzehnten von der Epidemie einer „weltweiten Angstneurose"
spricht.
Alle Fortschritte der Technik und alle sich fast täglich mehren
den Kenntnisse und Erkenntnisse der Natur- und Geisteswissen
schaften haben zu keinem wirklichen und daher wirksamen Wissen
um den Menschen und um seine wahre menschliche Natur verhol-

fen, so daß der Ausspruch des Philosophen Max Scheler


(1874-1928) auch weiterhin gilt: „Wir sind in der ungefähr
10000jährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der
Mensch völlig und restlos „problematisch" geworden ist, in dem er
nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht
weiß."
Die in diesem Buch vorgetragenen und vertretenen Ansichten
über die wahre Natur des Menschen und sein Wesen wurden auf
grund von Einsichten eines Seelenarztes gewonnen, der aus dem
in der täglichen Erfahrung Beobachteten praktische und theore-

11
tische Folgerungen gezogen hat. Sie weichen von den üblichen
Denkweisen, ihren Lehren, Systemen und Dogmen wesentlich ab.
Es war daher notwendig, jede einzelne der aufgestellten Behaup
tungen anhand von Berichten aus der Praxis als richtig, weil den
Gegebenheiten der menschlichen Wirklichkeit entsprechend, zu
erweisen.
Die erzielte Einheitsschau des Menschen macht es dem Arzt
möglich, seine Aufgabe, entstandenes Unheil zu heilen, dadurch zu
erfüllen, daß er die am Leben Leidenden eine neue Art des Den
kens lehrt, die sie fähig macht, sich den Weg zu einem sinnerfüllten
Leben zu eröffnen und dadurch die Ursachen der Angst zu beseiti
gen.
Diese neue Denkweise sollte aber auch allen Erziehern bekannt
sein oder werden, die sich berufen fühlen, den ihrer Fürsorge
Anvertrauten nicht nur Kenntnisse, sondern darüber hinaus ein
Lebenswissen zu vermitteln, das sie vor menschlichem Leiden
weitgehend zu beschützen und zu bewahren imstande ist, d. h.,
Unheil erst gar nicht entstehen zu lassen.
Das Buch ist in einer allgemeinverständlichen Sprache geschrie
ben, die keinerlei Spezialkenntnisse voraussetzt. Die mehrdeuti
gen Begriffe des täglichen Sprachgebrauchs, die für das Verstehen
aller späteren Erörterungen und umfassenden Folgerungen aus
schlaggebend wichtig sind, werden zu Beginn jedes neuen Kapitels
klar und unzweideutig definiert.

1 9
Einleitung

Die undogmatische Art der seelischen Behandlung, die in diesem


Buch anhand von Beispielen aus der täglichen Praxis geschildert
wird, muß zu Beginn dem Verständnis des Lesers nahegebracht
werden.
Sie entstand bei dem jungen Land- und Familienarzt, als er sich
Rechenschaft gab, daß er mit seinen Universitätskenntnissen vie
len seiner Kranken nicht helfen konnte, gesund zu werden. In
Unkenntnis der Ursache der Leidensentstehung mußte er sich mit
einer symptomatischen Behandlung begnügen, die immer nur eine
mehr oder weniger schnell vorübergehende Linderung der
Beschwerden zu erzielen vermag.
In der körperlichen Medizin, d. h. bei Gleichgewichtsstörungen
im organischen Lebensbereich, ist eine systematische, zielgerich
tete Heilbehandlung nur möglich, wenn erstens ihre Ursache be
kannt ist und zweitens dem Arzt eine kausale und daher wirkungs
volle Therapie zur Verfügung steht, die mit der Beseitigung der
Leidensursache auch ihre Folgen, die Symptome, zum Verschwin
den bringt.
Beispiel: Der Arzt wird zu einem Patienten gerufen, der über
hohes Fieber, Kopfschmerzen usw. klagt.
Die körperliche Untersuchung und die Röntgenaufnahme ver
helfen zu einer eindeutigen Diagnose: die Ursache der vom Kran
ken geäußerten Symptome ist eine Lungenentzündung.
Ihre kausale und daher erfolgreiche Therapie besteht in der
Abtötung der Leidensursache, also der Pneumokokken, durch
Verabreichung von Penicillin.
In der seelischen Medizin, d. h. bei Gleichgewichtsstörungen im
nichtorganischen Lebensbereich, wird eine systematische, zielge
richtete Heilbehandlung ebenfalls nur möglich, wenn die Ursache
der Symptome, welche die Leidenden zum Seelenarzt führten, be
kannt ist und zweitens wenn eine kausale und damit wirkungsvolle
Therapie zur Verfügung steht.

n
Auf welche Weise entdeckt nun aber der Psychotherapeut die
Ursache der Symptome, wie Minderwertigkeitskomplex, Depres
sion, Angst usw., über welche die Leidenden klagen? Sind ihm
doch alle die chemischen und physikalischen Untersuchungsme
thoden der medizinischen Wissenschaft für die Erfüllung der ihm
gestellten Aufgabe ohne Nutzen!
Statt der Röntgenstrahlen, die einen Blick in das Körperinnere
ermöglichen, muß der Psychotherapeut ein menschliches Vermö
gen besitzen, das es ihm erlaubt, das Seeleninnere zu durchleuch
ten. Man nennt es Einfühlungsvermögen. Mit diesem Instrument
versucht er, sich beim Anhören der Leidenssymptome seiner je
weiligen Patienten an den Krankheitsherd heranzutasten.
Gelungen ist dieser Versuch aber erst, wenn er in der Analyse auf
den Grund der seelischen Beschwerden stößt. Die Diagnose,,Min
derwertigkeitskomplex", wie sie z.B. in der klassischen Psycho
therapie gestellt wird, besagt, für sich genommen, noch nichts über
die Leidensursache. Sie ist nur die Beschreibung eines Symptoms.
Die weiterführende Frage lautet: Woher kommt der Minderwer
tigkeitskomplex? Was ist in diesem individuellen Leben falsch ge
laufen, so daß sich ein solches Krankheitssymptom einstellen
konnte?
Ist dieser Punkt in der Seelenanalyse gefunden, dann ist eine
kausale Therapie möglich, in der Regel sogar ohne medikamentöse
Behandlung. Das ist jedenfalls die Erfahrung des Autors. Man
kann dem Leidenden helfen, von diesem Punkt aus sein Leben
„zurechtzurücken", d.h. Frieden zu schließen mit sich selbst und
mit seinen Nächsten. Die Therapie besteht also im Grunde darin,
dem Patienten zu helfen, die verdrängten Wunschträume seiner
Seele yerstehen zu lernen und nicht nur dem Hirn, sondern auch
dem Herzen in seinem Leben Raum zu geben. Die Heilerfolge, die
der Autor damit erzielt hat, ermutigen ihn, in dem vorhegenden
Taschenbuch sein Wissen weiterzugeben und an vielen Praxisbei
spielen zu erläutern. Dabei wendet er sich bewußt an den Laien,
nicht an den Fachmann; denn er ist davon überzeugt, daß das in
nere Gleichgewicht, das erfüllte Leben, in vielen Fällen ohne auf
wendige Behandlungsmethoden wiederzugewinnen und daß das
mitmenschliche Gleichgewicht, der Friede mit den Nächsten, nicht
anders zu festigen ist als durch mehr Verständnis für die seelischen
Beziehungen.
Folgendes Beispiel soll diese These verdeutlichen und belegen:
Es handelt sich um eine junge Frau. Sie war zwanzig Jahre alt,
als ich sie kennenlernte. Ihr mehr als doppelt so alter Freund

1 4
brachte sie zu mir: Er kenne sie seit vier Monaten. Zwei davon
habe sie bei ihm gewohnt. Sie verdiene sich als Fotografin ihren
Lebensunterhalt und studiere Bibliothekarin. Da sie weit
überdurchschnittlich intelligent sei, so habe sie weder auf der
Schule noch auf der Universität Studienschwierigkeiten ge
habt.
Sie befinde sich aber in einer verzweifelten Situation, die an
scheinend ausweglos sei. Denn verschiedene Psychiater hätten die
Diagnose auf ein manisch-depressives Irresein bei ihr gestellt. Sie
sei bereits zweimal in psychiatrischen Kliniken gewesen und mit
Elektroschocks behandelt worden. Das erste Mal habe man sie in
eine Anstalt bringen müssen, weil sie eine ihrer Schwestern über
fallen und mit einem großen Küchenmesser bedroht habe, ohne
daß irgendein feststellbarer Anlaß für diese Aggressionen vorgele
gen habe. Das zweite Mal habe man sie in eine Irrenanstalt einlie
fern müssen, weil sie einen Selbstmordversuch beging. Ihre
gewöhnliche Indifferenz ihrer Familie gegenüber arte sehr häufig
in ein offenes feindseliges Verhalten aus.
Neben verschiedenen heterosexuellen Erlebnissen habe sie auch
ein lesbisches Verhältnis gehabt und sei für ihre männliche Rolle
dabei bezahlt worden. Sie rauche sehr viel, trinke gelegentlich
große Mengen von Alkohol und nehme Drogen wie Marihuana
usw. zu sich. Aus intensivster erfolgreicher Tätigkeit falle sie plötz
lich in eine völlige Passivität ab.
Das junge Mädchen, das mich dann am nächsten Tag aufsuchte,
erzählt, daß sie ihre jüngere Schwester mitten in der Nacht aus ihr
selbst nicht bewußten Gründen angegriffen und blutig geschlagen
habe. Nur das Dazwischentreten der Eltern verhütete Schlimme
res. Der sie behandelnde Arzt habe gemeint, daß sie ihrem Vater
m i t i h r e m Ve r h a l t e n e i n e n S c h m e r z a n t u n w o l l t e .
Sie ist überzeugt, daß sie nicht die Tochter ihres Vaters sei. Denn
als sie fünf Jahre alt war, überließ man sie während der Abwesen
heit ihrer Eltern, die verreisten, einem Dienstmädchen, statt sie bei
den väterlichen Großeltern unterzubringen. Gelegentlich hörte sie
von ihrer Mutter, daß die Großmutter sie hasse, die noch kurz vor
ihrem Tod in Gegenwart des Kindes sagte, daß es nicht ihre Enke
lin sei.
Sie habe weder zur Mutter noch zum Vater irgendwelches Ver
trauen. Denn es bestehe keinerlei menschlicher Kontakt. Niemals
seien die Eltern zärtlich zu ihr, da sie ihnen ja völlig gleichgültig
sei. Natürlich sorgten sie materiell für ihre Tochter. Das sei ja aber
kein Ausdruck von Zuneigung, sondern nichts weiter als ihre

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Pflichterfüllung, nachdem sie nun einmal von ihnen in die Welt
gesetzt worden sei.
„Ich unterhalte mich niemals mit meinen Eltern", erzählt sie.
„Ich wage es seit Jahren nicht mehr, meiner Mutter irgend etwas
von mir zu berichten. Sie hat keinerlei Interesse für mich und daher
auch niemals Verständnis für meine Probleme gezeigt. Sie hat mir
früher immer nur nach jeder Beichte Schläge angedroht, wenn ich
so etwas noch einmal machen würde. Aber auch Mutter traut sich
seit langem nicht mehr, mir irgend etwas zu sagen, weil sie sich bei
meinen plötzlichen Stimmungsschwankungen vor meinen nicht
vorhersehbaren Reaktionen fürchtet. So gehen wir vorsichtshalber
einander aus dem Weg. Ich bin völlig einsam, fühle mich in jeder
Beziehung unsicher und gehemmt, und fürchte alle Menschen, weil
ich sie für meine Feinde halte."
Aus ihrer Kindheit berichtet sie, daß sie im Alter von fünf Jahren
von ihren beiden älteren Brüdern nackt ausgezogen worden sei, als
die Eltern nicht zu Hause waren. Sie legten sich dann abwechselnd
auf sie und drohten ihr hinterher furchtbare Schläge an, falls sie der
Mutter etwas von dem Geschehenen erzählen würde. „Seitdem
fürchtete ich mich sehr, mit meinen Brüdern allein im Hause zu
bleiben."
Die Eltern lebten auf dem Lande und gaben sie daher, als sie
sechs Jahre wurde, in ein Nonnenkloster. Dort fühlte sie sich in
der eisernen Zucht, die das Gegenteil ihres bisherigen Lebens in
voller Freiheit war, so schlecht, daß sie ausriß. Sie lebte dann mit
der Großmutter in der Großstadt, bis die Eltern drei Jahre später
auch dorthin umzogen.
Sie hatte niemals Schulfreundinnen, da sie sich niemandem an
zuschließen und aufzuschließen wagte. Weil sie sich sowieso für
schlecht hielt, beteiligte sie sich an vielen Streichen, um sich vor
sich selbst und den Mitschülerinnen zu bestätigen, besonders wenn
sie meinte, damit eine gute Tat zu tun. So nahm sie z. B. am Stehlen
und Verbrennen des Klassenbuches teil, um auf diese Weise den
Mitschülerinnen, die schlechte Noten hatten, das Schuljahr zu ret
ten. Infolgedessen hatte sie sehr schlechte Zeugnisse im Betragen
bei sehr guten Examina in den Unterrichtsfächern. Sie blieb auch
in der Schule ohne menschlichen Kontakt und litt auch dort an ih
rer Einsamkeit.
Sie erinnert sich, daß sie sich mit neun Jahren sehnlichst
wünschte, ein Mann zu sein, um nicht nur sich, sondern auch alle
ihre jüngeren Geschwister gegen die Quälereien und Tätlichkeiten
des ältesten Bruders verteidigen zu können. Die Zwanzigjährige
noch haßt diesen Bruder, der glücklicherweise schon nicht mehr in
der Familie, sondern in einer anderen Stadt lebte.
Im Alter von zehn Jahren bekam sie ihre erste Menstruation.
Mit fünfzehn Jahren hatte sie ihren ersten Sexualverkehr, und zwar
mit einem um drei Jahre älteren Jungen, mit dem sie vorher schon
zwei Jahre lang sehr befreundet gewesen war. Obwohl sie niemals
dabei zu einer geschlechtlichen Befriedigung kam, ja noch nicht
einmal angenehme Gefühle verspürte, setzte sie dieses Verhältnis
zwei Jahre lang fort. Sie wollte ihn sogar heiraten, um möglichst
schnell aus dem Elternhaus fortzukommen, wo sie sich zutiefst un
glücklich fühlte. Sie wurde aber von Gewissensbissen gequält.
Denn sie war sich völlig darüber klar, daß sie ihn nicht liebte und
daß sie ihn nur für ihre egoistischen Zwecke ausnützen wollte, was
er, der stets gut und liebevoll zu ihr gewesen war, nicht verdiente.
Sie mußte eine Lüge erfinden, um sich seiner zu entledigen.
So sagte sie ihm eines Tages: „Ich betrüge dich mit einem ande
ren."
Weil ihr dieser junge Mann weder sexuell noch menschlich zu
Wohlbefinden hatte verhelfen können, ließ sie sich dann zu einem
Verhältnis mit einer Lesbierin verführen. Die dreiundzwanzigjäh
rige Frau bot der Siebzehnjährigen nicht nur alle materiellen
Annehmlichkeiten einschließlich eines Autos, die ihr bisher gefehlt
hatten, sondern darüber hinaus alle Wärme ihrer fraulichen Zärt
lichkeit, die das junge Menschenkind bis dahin niemals erlebt
hatte. Aber auch in dieser gleichgeschlechtlichen Beziehung ver
mochte sie weder zu einer wirklichen körperlichen noch seelisch
menschlichen Hingabe zu gelangen.
Zu dieser Zeit hatte sie sich schon völlig unabhängig von zu
Hause gemacht: „Ich tat stets, was ich gerade wollte und mir
wünschte." - In der Schule war sie faul und blieb sitzen. Als die
Mutter sie dann in eine andere Schule geben wollte, sagte sie ihr
ohne Umschweife: „Misch dich nicht in meine Angelegenhei
ten!" - Sie kehrte nie mehr in die Schule zurück, lernte aber so flei
ßig, daß sie nach einem Jahr ohne Schwierigkeiten das Schlußex
amen ablegen konnte. Während dieser Zeitspanne war sie stets den
ganzen Tag unterwegs, kam aber im allgemeinen gegen acht Uhr
abends nach Hause und zog sich sofort nach dem Abendbrot auf
ihr Zimmer zurück.
Nachdem sie im Alter von achtzehn Jahren ihr Abitur gemacht
hatte, gab ihr der Vater das nötige Geld, um ein fotografisches
Atelier aufzumachen. Einige Zeit später freundete sie sich mit
einem vierzieiährigen Mann an, der ihr dann eines Tages erklärte.

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daß er in finanziellen Schwierigkeiten sei und daß sie ihm helfen
müsse. Sie verkaufte, was sie besaß, und gab ihm das erlöste Geld,
um dann feststellen zu müssen, daß er ihre Gutmütigkeit scham-
und skrupellos ausgenützt hatte. Sie trennten sich. Wieder fühlte
sie sich von aller Welt verlassen.
Sie schlief dann wahllos mit jedem Mann, der ihr den entspre
chenden Wunsch zu erkennen gab. In elf Monaten, erzählte sie,
waren es vierundzwanzig Männer. Auf die Frage, ob ihr sexuelles
Bedürfnis denn um diese Zeit so stark gewesen sei, erklärte sie, daß
sie noch niemals zu irgendwelcher sexuellen Befriedigung gekom
men sei. Der Sexualverkehr, ebenso wie der Alkohol und das
Rauschgift, diente ihr lediglich dazu, wenigstens vorübergehend
sich selbst und das entsetzliche Gefühl ihrer menschlichen Einsam
keit, Verlorenheit und Verlassenheit zu vergessen, die ihr zeitweise
schwere Depressionen und fürchterliche Angstzustände verur
sachten.
Mit dem Freunde, den sie jetzt habe, erlebe sie zum erstenmal
in ihrem zwanzigjährigen Dasein eine warmherzige menschliche
Beziehung. Als sie zwei Monate bei ihm gewohnt hatte, erfuhren
die Eltern, wo sie sich aufhielt, und baten sie, nach Hause zurück
zukommen: „Da hatte ich den Mut dazu."
Gegen Ende der ersten Behandlungsstunde sagte sie wie aus
tiefsten Gedanken heraus: „Meine Mutter ist immer glücklich,
wenn ich mich wohlfühle." - Der Arzt diktiert ihr sofort: „Mein
Satz, daß meine Mutter sich glücklich fühlt, wenn ich mich wohl
fühle, beweist eindeutig, daß sie mich liebt." - Der Ausdruck der
ungläubigen Verwunderung, der sich daraufhin auf ihrem Gesicht
einstellt, scheint dem Erwachen aus den Fantasien eines schreckli
chen Alptraumes zu gleichen und den Beginn der Rückkehr in die
Wirklichkeit des Lebens anzudeuten. Als sie dann sofort gefragt
wird, ob das Wort „lieben" ihr vielleicht zu überschwenglich vor
komme und sie es lieber durch „gernhaben" ersetzt sehen wolle,
strahlt sie den Arzt mit feucht werdenden Augen an und ruft mehr,
als daß sie es sagt: „Nein, nein: lieben, lieben."
Ohne größere Schwierigkeiten kann ihr dann auch gezeigt wer
den, daß sie als Folge ihrer Vorurteile nicht nur in bezug auf die
Liebe der Mutter, sondern auch auf die des Vaters die Wirklichkeit
völlig verzerrt gesehen hat. Obwohl nämlich die Familie in sehr be
scheidenen Verhältnissen lebte, hatte es der Vater ihr als einzigem
seiner Kinder ermöglicht, die Schule bis zum Ende zu besuchen,
und brachte dann auch sogar die Studiengelder für die Universität
auf. Die Größe des finanziellen Opfers und die deutliche Bevorzu-

1 8
gung dieser Tochter vor allen anderen Geschwistern war ein un
zweideutiger Beweis der väterlichen Liebe zu ihr.
Als sie nach einer Woche in die zweite Behandlungsstunde
kommt, hat sie inzwischen viel erlebt und noch mehr über sich und
ihre Situation nachgedacht. Sie habe noch am selben Tage der
Begegnung mit dem Arzt abends die Initiative ergriffen, um mit der
Mutter unter vier Augen zu sprechen. Durch das warmherzige
Zuhören der Mutter sei es zu einer offenen, freundschaftlich-ver
traulichen Aussprache voll gegenseitigen Verständnisses gekom
men, wie sie es sich immer gewünscht hatte, ohne doch jemals ihre
Verwirklichung erhofft zu haben. Sie sei mit der Mutter im Verlauf
der vergangenen Woche in wahrhaften gefühlsmäßigen Kontakt
und zu einer mitmenschlichen Kommunikation gelangt, die ihre
völlig verschüttete Empfindungswelt habe aufleben lassen.
U n d d a n n h a b e e i n e s A b e n d s d e r Va t e r e i n e n F r e u n d n a c h
Hause mitgebracht, dem er in ihrer Gegenwart sagte, daß sie be
sonders sympathisch und die intelligenteste von allen seinen Kin
dern sei. Als sie dann nach dem Fortgang des Freundes den Vater
der Heuchelei zieh, sei er fast beleidigt gewesen und habe sie ge
küßt, was vorher immer nur ausschließlich das Vorrecht der älte
sten Schwester gewesen sei. Seitdem unterhalte sie sich auch mit
ihm jeden Abend längere Zeit. Die Eltern seien ihr in keiner Weise
böse, sondern meinten es wirklich sehr gut mit ihr: „Bis vor einer
Woche habe ich mich ausgesprochen blöde benommen."
Nach ganz wenigen weiteren Behandlungsstunden konnte der
Arzt die Sorge um die Tochter beruhigt in die Hände der Eltern
legen.

I Q
E r s t e r Te i l

Ursachen und Symptome


seelischer Erkrankung

Furcht und Angst

Die Begriffe der Furcht und Angst werden sowohl im alltäglichen


Sprachgebrauch wie auch im Schrifttum nur allzuoft völlig gleich
wertig benutzt. Der Mehrzahl der Menschen bedeuten sie dasselbe.
Sie bezeichnen in Wirklichkeit aber etwas fundamental Andersar
tiges.
Furcht entsteht aufgrund von Erfahrung. Das Kind nähert sich
einem Hund zunächst ohne Furcht. Erst nachdem es sich das erste
Mal vor seinem Ansprung erschreckt hat oder gar gebissen worden
ist, wird es Zeichen von Furcht aufweisen, wenn es wieder in seine
Nähe kommt.
Im Ersten Weltkrieg bekam ein erst ganz kürzlich an die Front
abkommandierter Fähnrich den Befehl, mit einer Anzahl Solda
ten Stacheldraht an die vordersten Kampflinien zu bringen. Auf
einer senkrecht zu den Schützengräben verlaufenden Chaussee
ging er ohne alle Furcht, bis ihm eine Gewehrgranate des Feindes
den Kopf zerschmetterte. Seine Leute, die schon lange an der Front
standen, waren seitlich der Chaussee in Deckung vorgegangen.
Ihre Erfahrung belehrte sie über die ihnen drohende Gefahr. Sie
hatten Furcht und versuchten, sich nach Möglichkeit zu schützen.
Furcht ist also natürlicher, normaler Ausdruck des Wissens um
eine dem körperlichen Bestand des Individuums drohende Gefahr.
Sie ist ein Warnsignal. Ihre Ursache ist dem Bewußtsein unschwer
erkennbar. Daher ist der Mensch fast stets imstande, sie zu beseiti
gen.
Beispiel: Jemand geht des Nachts durch eine menschenleere
Straße. Plötzlich sieht er sich einem Mann gegenüber, der ihn mit
einem Revolver bedroht. Im Überfallenen entsteht angesichts der
Gefahr Furcht. Da er ihre Ursache kennt, ist er bei Vorhandensein
von genügender Geistesgegenwart, Mut, Entschlossenheit und
Kraft in der Lage, die der Situation entsprechenden Gegenmaß
nahmen zwecks Beseitigung der Gefahr zu ergreifen. Er kann den
Gegner entweder niederschlagen oder sich der Bedrohung durch

21
die Flucht entziehen. Damit ist die Gefahr beseitigt, und das
Gefühl der Furcht verschwindet.
In ausgesprochenem Gegensatz zur Furcht vermag das Bewußt
sein desjenigen Menschen, den die Angst überkommt, keinerlei
Bedrohung wahrzunehmen.
Als ich ein Kind war, wachte ich manchmal in der Nacht auf und
hatte Angst. Es war nicht Furcht. Denn es bestand keinerlei
Gefahr. Dann stand ich auf und legte mich ins Bett zu meinem
schlafenden jüngeren Bruder. Sofort verschwand das unheimlich
quälende Gefühl, und ich schlief innerhalb von wenigen Minuten
beruhigt wieder ein.
Die Angst ergreift den Menschen entweder ganz plötzlich oder
steigt langsam in ihm auf. Da ihre Ursache, d. h. die Motive ihres
Entstehens, dem Bewußtsein völlig verborgen sind, vermag er sie
nicht, wie es bei der Furchtsituation der Fall ist, zu beseitigen. Alles
Denken weist ihm keinen Ausweg. Seine Angst sitzt ihm im
Nacken. Er kann ihr nicht entfliehen. Sie wandert mit ihm.
Das Typische der Angst besteht darin, daß sie im Gegensatz zur
Furcht kein Objekt hat. Angst, dieses tiefsitzende, schwer lastende
und bedrohliche Gefühl, das sich bei dem an ihm Leidenden mit
allem, was seine Existenz und sein Schicksal ausmacht, aufs engste
verbindet, stellt ein inneres Geschehen voller Beklemmung und
U n f a ß b a r k e i t d a r.
Denkt man z.B. an das häufige Krankheitszeichen der soge
nannten Platzangst, so gibt es ja in der Tat keine mit dem gesunden
Menschenverstand in Einklang zu bringende Erklärung dafür, daß
ein erwachsenes Individuum nicht in der Lage sein sollte, einen
Platz zu überschreiten. Haben doch rechts und links neben ihm
Kinder, Greise und Krüppel keinerlei Schwierigkeiten, das zu tun,
was der Leidende ebenso gern tun möchte, aber nicht zu tun ver
mag.
Ich fürchte mich vor etwas Bestimmtem, vor einer mir bekann
ten, bereits bestehenden oder drohenden Gefahr. Es ängstigt mich
etwas Unbestimmtes. Die Furcht habe ich. Die Angst hat mich.
Die völlige Verschiedenheit zwischen gesunder Furcht und
krankhafter Angst wird an folgendem Ausspruch deutlich einsich
tig:
Eine fünfzigjährige verheiratete Frau sagt: „Wenn ich abends
allein in meiner Wohnung bin, dann habe ich nicht Furcht vor Ein
brechern. Denn ich fühle mich durchaus fähig, mich zu verteidigen.
Aber ich habe Furcht vor der Angst.''

22
Die Situation der Angstkranken und ihre Furchtzustände

Eine verheiratete, kinderlose Frau von sechsundvierzig Jahren be


richtet: „Ich lebe mit der dauernden Furcht, jeden Augenblick
verrückt zu werden. Alles in meinem Leben ist bestens geordnet.
Für irgendwelche Sorgen oder Beunruhigungen ist keinerlei Grund
vorhanden. Trotzdem quält mich, sobald ich allein bin, eine
schreckliche Unruhe, die sich dann plötzlich, ohne jedes erkenn
bare Motiv, in einen Zustand verwandelt, in dem ich vor Angst
nicht mehr weiß, wo ich bleiben soll. Ich schreie um Hilfe. Mein
Mann stürzt aus seinem Zimmer herzu, und langsam beruhige
ich mich dann in seiner Gegenwart wieder."
„Ich habe gegen alle Menschen Mißtrauen. Hinter mir ist eine
Macht, die mir Unheil bringt. Man kann mich nicht gernhaben. Ich
verbreite überall Traurigkeit. Ich passe nicht in die Gesellschaft
von andern Menschen. Die Vergangenheit war grauenvoll, die
Gegenwart ist ausgefüllt von Angst und Freudlosigkeit. Riesen
hafte Berge umschatten die Zukunft."
„Ich habe schon oft gedacht, meinem Leben ein Ende zu ma
chen. Es gibt einige Möglichkeiten, das zu tun. Man soll nicht sa
gen, das wäre Feigheit. Ich weiß es jetzt selbst: Es ist der größte
Mut, den ein Mensch aufbringt, und höchste Verzweiflung."

Furcht vor dem Alleinsein

Die Beobachtung der Angstneurotiker, daß ihre Angst sie beson


ders quält, wenn sie allein sind, scheint zunächst der Wirklichkeit
zu entsprechen. Ist es nun aber das Alleinsein, welches den die
Angst auslösenden Faktor darstellt? Einige Beispiele sollen hel
fen, die wahre Situation der Angstkranken deutlich zu machen:
Der Chef eines großen Büros wird mitten in seiner Berufsarbeit
von Angstzuständen überfallen, die ihm die Fortsetzung seiner
Besprechungen mit seinen Kunden oder Angestellten unmöglich
machen. Er läßt sich dann so schnell wie möglich nach Hause fah
ren. Dort wird er, wenn er ganz allein im Bett seines Schlafzimmers
liegt, angstfrei und wieder ruhig.
Den Direktor einer Fabrik überrascht die Angst, wenn er zum
Mittagessen mit seinen Mitarbeitern geht. Sie verläßt ihn erst wie
der, wenn er in seinem Arbeitszimmer allein ist.

23
In beiden Fällen scheint also, im Gegensatz zu der von den
Patienten im allgemeinen geäußerten Ansicht, das Zusammensein
mit andern Menschen angstauslösend, dagegen gerade das Allein
sein angstbefreiend zu wirken. Ein drittes Beispiel soll nun zeigen,
daß sowohl die Abwesenheit wie auch die Anwesenheit andrer
Menschen eine beängstigende Wirkung haben kann:
Ein Gutsbesitzer erlebt seinen ersten schweren Angstanfall, als
er in seinem Auto ganz allein unterwegs ist und weit und breit keine
lebende Seele sieht. Die Angst überkommt ihn so stark, daß er sei
nen Wagen einen Augenblick anhalten muß, um dann loszujagen,
bis er in der Ferne einen ihm ganz unbekannten Menschen auftau
chen sieht, dessen Näherkommen dann langsam seine Angst ab
flauen und ihn sich beruhigen läßt. Derselbe Mann aber, der durch
d a s b l o ß e Vo r h a n d e n s e i n e i n e s e i n z e l n e n m e n s c h l i c h e n W e
sens in seinem Blickfeld von seiner fürchterlichen Angst befreit
wurde, bekommt andererseits Angst, wenn er sich im Stadtzentrum
inmitten vieler Menschen bewegen muß. Auch das zufällige Tref
fen seines besten Freundes beruhigt ihn nicht etwa, sondern ver
mehrt eher noch seine Unruhe.
Diese Krankenberichte beweisen, daß man das Alleinsein der
Kranken nicht für die Entstehung ihrer Angstzustände verant
wortlich machen kann. Viele dieser Kranken werden sogar ganz
besonders von ihrer Angst geplagt, wenn sie sich inmitten von
Menschen auf der Straße oder in Gesellschaft befinden. Sie ver
meiden es daher, ihre Besorgungen und Einkäufe in den stark be
völkerten Stadtgegenden zu erledigen, und ziehen sich, soweit sie
es irgend können, von Gesellschaften zurück.

Einsamsein

Nur sehr wenigen dieser Angstkranken ist es bewußt, welcher Fak


tor in Wirklichkeit angstauslösend wirkt. Die überwiegende Mehr
zahl von ihnen muß geführt werden, damit sie aufgrund ihrer eige
nen Beobachtungen, wie z.B.: „Ich bin menschenscheu!", „Ich
fühle mich isoliert, verlassen!", zum Bewußtsein ihres menschli
chen Einsamseins gelangen kann.
Die Begriffe des Allein- und Einsamseins werden im allgemei
nen Sprachgebrauch ebenso häufig ohne jede klare Differenzie
rung gebraucht wie die der Furcht und Angst. Was unterscheidet
sie voneinander?

O A
Das Alleinsein des Individuums ist gleichbedeutend mit seinem
örtlichen Vereinzeltsein. Dem Kind, das den Angriffen seiner
Altersgenossen ausgesetzt ist, kommt zugleich mit der Erkenntnis
des den andern feindlich Gegenübergestelltseins die Tatsache sei
nes Alleinseins und damit seiner Schwäche und Schutzlosigkeit als
Furcht zum Bewußtsein. Es flüchtet sich zu den Eltern, in deren
Armen es sich gegen die Gefahr, die ihm drohte, geschützt fühlt.
Damit vergeht seine Furcht. Das Kind war allein, nicht einsam.
Im Gegensatz zum Alleinsein, das sich immer nur auf eine kör
perliche Situation bezieht, ist das Einsamsein identisch mit einem
seelischen Vereinzeltsein. Das Kind, das in der Dunkelheit der
Nacht aus dem Schlaf erwacht, ist nicht feindlich bedroht. Es kann
daher keine Furcht vor einer Gefahr haben. Es fühlt sich vielmehr
einsam und bekommt Angst. Es flüchtet sich, getrieben von seinem
menschlichen Verlassenheitsgefühl, in die Arme der Mutter. Im
körperlichen Anschmiegen an sie, eingehüllt in ihre menschlich
wärmende Liebe, verschwindet das Einsamkeitsgefühl und damit
die Angst.
Der Junggeselle, der in seinem möblierten Zimmer allein ist, lei
det nicht an einer Furcht, da ihn ja keinerlei Gefahr bedroht. Ihn
packt vielmehr die „Budenangst". Sie ist der ihm bewußt werdende
Ausdruck seines seelisch-menschlichen Einsamseins. Aus ihm
sucht er sich zu retten, indem er auf die Straße unter Menschen
geht, sich in ein Restaurant setzt usw. Denn er weiß, daß schon das
bloße Vorhandensein von Menschen um ihn das ihn quälende
Gefühl verschwinden läßt oder wenigstens vermindert.
Noch klarer wird der Unterschied zwischen „allein" und „ein
sam", wenn man an die große Anzahl von Ehepaaren denkt, die
niemals zu Hause „allein" sein können. Sie haben entweder
Besuch, oder sie machen Besuche. Fehlt ihnen die Gesellschaft
andrer Menschen, so duldet „es" sie ebensowenig wie den Jungge
sellen in ihren vier Wänden. Sie gehen aus, irgendwohin: ins Kino,
ins Cafe usw., nur um nicht mit sich „allein" zu sein. Aber sie sind
doch gar nicht „allein", wird man mit Recht sagen. Einer befindet
sich doch in der Gesellschaft des andern. Daher kann ihr Unbeha
gen nicht dem Alleinsein entstammen. Es ist vielmehr das trotz ih
res Zwei-samseins vorhandene menschliche Einsamsein, das ihnen
die sie peinigende Ruhelosigkeit verursacht.
Warum fühlen diese einsamen Menschen sich nun besser, wenn
sie ausgehen oder in Gesellschaft sind, wenn sie ihr Auto chauffie-
ren, Zerstreuungen suchen oder sich in Gesellschaft anderer Men
s c h e n b e fi n d e n ? D i e A n w e s e n h e i t v o n a n d e r e m o d e r a n d e r e n

25
l e n k t d e n E i n s a m e n v o n s i c h s e l b s t a b . D i e Ta t s a c h e s e i n e s
menschlichen Einsamseins, seines Mutter-Seelen-Alleinseins, d.h.
des Alleinseins seiner Seele, beherrscht infolgedessen nicht oder
zumindest nicht in so intensivem Maße sein Gefühl.
Unsere Zeit der Massenansammlungen der Menschen in den
großen Städten, die eine weitgehend mechanisierte Existenz des
Konformismus führen, ein Dasein, in dem die einseitige Herrschaft
des Verstandes die überwiegende Rolle spielt und für das Leben
der Seele nur allzuwenig Zeit und Raum bleiben, hat die paradoxe
Situation geschaffen, daß trotz der Seltenheit des Alleinseins das
bewußt-unbewußte Dauererlebnis des Einsamseins die Menschen
in einem niemals bisher erfahrenen Grade peinigt: „O, du kannst
einsam sein, daß Gott erbarm', und es dich mitten in dem Fliegen-
schwarm der Menschen jäh bedrückt wie Nacht und Grauen!'' Hier
zeichnet Wildgans mit wenigen Worten das Angsterlebnis des in
mitten der Menschenmasse Einsamen.
Stellen wir nun das Alleinsein dem Einsamsein gegenüber, so
ergibt sich, daß diese Begriffe ebensowenig Gemeinsames haben
wie Furcht und Angst: Der Mensch kann sich sehr einsam fühlen,
obwohl er in seiner täglichen Daseinsrealität niemals allein ist, und
' braucht sich nicht einsam zu fühlen, obwohl er allein ist. Denn den

jenigen, der sich einem anderen menschlich verbunden weiß, über


kommt niemals das Gefühl seelischer Einsamkeit, auch dann nicht,
wenn dieser Nächste abwesend ist.
Daher kann man sagen: Wenn der Mensch allein sein kann, ist
er nicht einsam. Wenn er einsam ist, kann er nicht allein sein. Es
gibt nur „den Einsamen", nicht aber „den Alleinen", weil das
Alleinsein wie die Furcht etwas Vorübergehendes ist, das Ein
samsein aber wie die Angst ein Dauerzustand. Ersteres kann vom
einzelnen durch einen Entschluß entsprechend seinem gerade vor
herrschenden Bedürfnis geändert werden. Daher hängt es in jedem
Augenblick ausschließlich von ihm ab, ob er mit andern zusammen
oder ob er allein ist. Das gesunde Individuum, das körperlich-gei
stig unabhängig von seinen Mitmenschen existiert, wird das eine
Mal den Wunsch verspüren, mit sich allein zu sein, um sich fern von
Menschen, allem zu widmen, an dem es interessiert ist, sei es Lek
türe, Musik oder sonstigen Liebhabereien, und ein anderes Mal
wird es vorziehen, sich im Zusammensein mit seinen Mitmenschen
zu unterhalten.
Die Beseitigung des Einsamseins im Gegensatz dazu ist weder
aufgrund eines vom Wunsch des Herzens diktierten noch eines
vom Wollen gewählten Beschlusses möglich. Denn derartige Ent-

le^
Scheidungen eröffnen noch keinen Weg, der zu einer Änderung des
Zustands des Einsamseins führen könnte, das sich ausschließlich
durch den Einfluß von im Innern des Menschen wirkenden, ge
fühlsbedingten Faktoren entwickelt hat.
In den im folgenden geschilderten zwei Fällen wurde eindeutig
der plötzlich eintretende Zustand der Einsamkeit oder die Dro
hung seines Eintritts der Faktor, der die Angst zum erstenmal im
Leben des betreffenden Menschen zu stärkstem Ausbruch brachte.
Ein junger Mann liebte seine Frau, obwohl sich zwischen den
beiden keine wirkliche menschliche Beziehung gebildet hatte.
Denn er besaß sonst niemanden auf der Welt, dem er sich zugehörig
fühlte. Nach etwa dreijähriger Ehe suchte er aufgrund von Ver
dächtigungen andrer Menschen, die ihn, den bis dahin völlig Ver
trauenden, zur Nachforschung veranlaßten, seine Frau in der
Wohnung eines andern Mannes. Als er sich dort gewaltsam Eintritt
verschafft hatte, fand er sie im Bett des Schlafzimmers. Abgesehen
von einer durchaus verständlichen Depression, verfiel er in einen
schweren Angstzustand.
Als er sich mehr als ein Jahr nach diesem Ereignis in eine zweite
Behandlung begab, weil er in der ersten keinerlei Hilfe gefunden
hatte, war sein Zustand angeblich wesentlich schlechter als der, in
dem er sich anfänglich nach dem Vorübergehen der akuten Schock
situation befunden hatte. Er lebte bei einem Verwandten, mit dem
ihn nichts menschlich verband, und hatte sich so gut wie völlig vom
Umgang mit Männern zurückgezogen. Ein Zusammenkommen
mit weiblichen Wesen war ihm ganz unmöglich, da ihn z. B. schon
in der kürzesten geschäftlichen Besprechung mit einer Frau, deren
weibliche Formen deutlich zu erkennen waren, eine ausgespro
chene Panik überkam.
Eine einige Monate dauernde Behandlung ließ ihn sich langsam
wieder andren Menschen annähern. Aber erst als er den Mut ge
funden hatte, sich von neuem einer Frau körperlich an- und
menschlich aufzuschließen, verschwanden mit seinem Einsamsein
auch seine Angstzustände.
Eine verheiratete Frau von etwa dreißig Jahren berichtet: „Ich
war in der Stadt gewesen und befand mich auf dem Weg nach
Hause. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß sich unter mir der Erd
boden hebe und senke, daß alles um mich her schwanke. Ich spürte
einen starken Schwindel und mußte mich an einer Mauerwand
festhalten, um nicht hinzufallen. Eine entsetzliche Angst überfiel
mich. Mit Mühe gelangte ich nach Hause. Seit dieser Zeit verfolgt
mich die Anest und läßt mich fast niemals in Ruhe. Ich glaube, daß

9 7
ich in jedem Augenblick verrückt werden kann. Ich traue mich fast
niemals mehr allein von zu Hause fort. Ich mag niemanden mehr
sehen und habe mich infolgedessen von fast all meinen Bekannten
zurückgezogen."
Die Ursache dieses schweren Angstanfalls konnte bereits in der
ersten Behandlungsstunde einwandfrei geklärt werden: Die Frau,
welche aus Gründen, die wesentlich mehr in ihr als im Ehepartner
lagen, in ihrem Mann nicht den Kameraden und menschlichen
Freund gefunden hatte, den sie sich beim Eingehen der Ehe er
hoffte, hatte sich als Mensch und Frau einem andern Manne voll
und ganz gegeben und war zum erstenmal in ihrem Leben durch
viele Monate restlos glücklich gewesen. Am Tage ihres Anfalls
kam sie von einem Rendezvous mit ihm, bei dem er ihr mitgeteilt;
hatte, daß sie sich nicht mehr sehen könnten.
Auf dem Nachhauseweg überkam sie unentrinnbar das Bewußt
sein ihres nunmehrigen erneuten völligen Einsamseins und ließ die
Angst mit allen geschilderten Begleitsymptomen zum Ausbruch
kommen. Ihr gesamtes Lebensgebäude war von einem Augenblick
zum andern ins Wanken geraten, ja zum Einsturz gekommen. Sie
wußte plötzlich nach dem ganz unerwarteten Verlust des Freundes
nicht mehr, woran sie noch glauben, wozu sie noch Vertrauen ha
ben, wo sie Halt und Stütze finden könnte. Daher schwankte alles
um sie her. Sie hatte völlig ihr seelisches Gleichgewicht verloren,
was im körperlichen Schwindelgefühl seinen Ausdruck fand.
Was liegt also vor, wenn der Patient über seine „Furcht vor dem
Alleinsein" klagt?
Das Alleinsein des individuellen Körpers mit sich selbst ist ein
normaler Zustand, der niemals zu einer Erkrankung zu führen ver
mag. Ist dagegen die individuelle Seele mit sich allein, so liegt ein
Einsamsein vor. Die Seele leidet, weil ihr der zu ihrer Befriedung
notwendige menschliche Kontakt fehlt. Die Not der Seele kann in
der Form verschiedenartigster Symptome in Erscheinung treten.
In der Gesellschaft kann der Mensch immer nur zu Geselligkeit
kommen. Seelische Gemeinschaft nur ist imstande, den Vereinzel
ten aus dem ihn beängstigenden Einsamsein zu menschlichem
Gemeinsamsein zu befreien. Ist dieses vorhanden, so werden Ein
samkeitsgefühle erst gar nicht entstehen. Diejenigen aber, die
schon existieren, werden verschwinden.
Man kann also sinngemäß richtig weder von einer Furcht noch
von einer Angst vor der Einsamkeit sprechen, sondern nur sagen:
„die Angst der Einsamkeit" oder auch „die Einsamkeitsangst",
wobei die Einsamkeit Ursache und die Angst Folge ist.

9 R
Nervosität und Neurose

Der Begriff der „Unruhe", der so häufig von den Philosophen des
Existentialismus verwendet wird, soll hier benutzt werden, um zu
einer klaren Unterscheidung zwischen dem Gesunden, dem Ner
vösen und dem Neurotischen zu gelangen.
Die Unruhe des gesunden Menschen ist der Ausdruck seiner na
türlichen Lebensenergie. Sie läßt schon beim Kleinkind den Bewe
gungsdrang entstehen und manifestiert sich später als Spieltrieb.
Nach seiner Befriedigung wird er von gesundem Appetit und ge
sundem Schlafbedürfnis abgelöst.
Beim gesunden Erwachsenen findet man einen unruhvollen
Tätigkeitsdrang, der während seines ganzen Daseins den Men
schen veranlaßt, sich nicht nur immer mehr Kenntnisse aneignen,
sondern auch immer mehr Mensch sein zu wollen. Aus der Harmo
nie des innerlichsten Gewißseins seines Selbst heraus, die in Gestalt
einer in sich ruhenden, weil seelisch ausgeglichenen Persönlichkeit
in Erscheinung tritt, traut sich ein solcher Mensch, voller Lebens
lust, Lebenskraft und Lebensmut das Leben anzupacken, wo und
wann es ihn anzieht, seine Neugierde reizt oder seine Anteilnahme
erweckt. Er fürchtet sich nicht vor ihm, sondern gibt sich ihm hin,
um es in all seinen Licht- und Schattenseiten kennenzulernen und
zu erforschen. Der schöpferische Zweifel, mit dem er alles, was er
erfährt und erlebt, beobachtet und durchdenkt, verhilft ihm zu
schöpferischer Tat. Sie läßt ihn in immer größere Freiheit hinein
wachsen und vermag sein Leben stetig auszuweiten.
Der untrügliche Beweis, daß es sich bei dieser Art der Unruhe
um einen Prozeß der Gesundheit handelt, wird dadurch erbracht,
daß in diesen Fällen die Menschen nach getaner Arbeit, befriedigt
von ihrem Werk und in Frieden mit sich selbst, gelassen und be
schaulich ihr Heim und ihre Freizeit genießen.
Beim zeitweilig Nervösen trifft man als Symptom der inneren
Unruhe und Gespanntheit, d. h. der Störung des seelischen Gleich
gewichts, eine ungewöhnliche Gereiztheit. Von einem solchen
Menschen sagt man: Es ärgert ihn die Fliege an der Wand! Dazu
kommen, weniger zutage tretend: Störungen des Schlafs und des
Appetits, Lustlosigkeit zu allem und Interesselosigkeit an allem,
Konzentrationsschwierigkeiten usw.
In diesen Fällen kennt das betreffende Individuum so gut wie
immer die Ursache, die es aus dem seelischen Gleichgewicht in
diese Unruhe hineingebracht hat. Auf eine entsprechende Frage
hört man z. B.: „Ich habe sehr große geschäftliche Sorgen", „Ich

9 Q
bin überarbeitet" usw. Da hier wie bei der Furcht, dem Betreffen
den das Warum seiner nervösen Gespanntheit bekannt ist, so kann
er in der Mehrzahl der Fälle die notwendigen Maßnahmen ergrei
fen, um durch eine Lösung der bestehenden Probleme seine
Unruhe zu beseitigen. Das eine Mal wird er alles zu tun versuchen,
um seine beruflich-ökonomischen Schwierigkeiten aus dem Wege
zu räumen, das andere Mal wird er auf Urlaub fahren. In beiden
Fällen wird dann die Nervosität und werden mit ihr die entspre
chenden Symptome verschwinden. Kann er aber die ihm bekannte
Ursache nicht beheben, z.B. bei Krankheiten seiner Angehörigen,
so wird er durch Einnehmen von Beruhigungs- bzw. Schlafmitteln
über die begrenzte Zeit der Unruhe hinwegzukommen trachten.
Der Neurotiker klagt sehr häufig über die gleichen Symptome
seiner inneren Unruhe wie der zeitweilig Nervöse. Diese Ähnlich
keit der Erscheinungen ist die Ursache dafür, daß der Laie diese
beiden Arten von seelischer Gleichgewichtsstörung ebenso selten
zu unterscheiden weiß wie Furcht und Angst.
Im Gegensatz zum Nervösen weiß der Neurotiker so gut wie
niemals, warum er „nervös" ist: „Ich habe keinerlei Grund, nervös
zu sein. Mein geschäftliches sowohl wie auch mein privates Leben
sind durchaus geordnet. Ich habe weder auf finanziellem noch auf
beruflichem, gesellschaftlichem oder familiärem Gebiet die ge
ringsten Sorgen."
Bei dieser Sachlage vermag der Mensch, in Unkenntnis der
Motive seines Leidens, nichts zu unternehmen, um seine Unruhe
zu beheben und sich von seiner seelischen Spannung, die ihn quält,
zu befreien. Da er infolge seiner Gleichgewichtsstörung den festen
Boden unter den Füßen verloren hat, ist er mit einem in ein Moor
Gefallenen zu vergleichen. All seine Anstrengungen und Bemü
hungen, sich zu retten, lassen ihn nur immer tiefer versinken. Er
bedarf eines Menschen, der auf stabilem Grund steht und ihm die
Hand hinstreckt, um ihm zu helfen, aus seiner schwankenden, labi
len Situation heraus wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Neurose ist also zum Unterschied von der Nervosität das Leiden
an einer chronischen Unruhe, deren Ursprung dem an ihr
Erkrankten unbekannt ist.
Furcht und Unsichersein

Die Furcht vor allem und allen, über die der Angstkranke klagt,
findet man bei allen Neurotikern in den verschiedensten Formen
und Ausmaßen. Sie ist das ihnen bewußt werdende Symptom ihres
Unsicherseins.
Es braucht hier nicht von dem natürlichen Unsichersein gespro
chen zu werden, das in jedem gesunden Menschen als Folge seiner
existentiellen Unsicherheit sein ganzes Leben lang besteht. Weiß
er doch von allen ihn stets bedrohenden Gefahren, mag es sich da
bei um die Möglichkeit des plötzlichen Eintretens von Naturkata
strophen, wie z.B. eines Erdbebens, oder um Unfälle, Krankheit
u n d To d h a n d e l n .
Das neurotische Unsichersein äußert sich bei Erwachsenen z. B.
darin, daß sie es nicht wagen, ein Auto zu lenken. Sie selbst dirigie
ren in vielen Fällen in einem ausgedehnten Betrieb eine große An
zahl von Angestellten und Arbeitern verantwortungsvoll und er
folgreich. Sie fühlen sich aber unfähig, etwas zu erlernen und aus
zuführen, was vielen ihrer ungelerntesten Untergebenen nicht die
geringste Schwierigkeit verursacht. Als plausible Begründung für
ihr Nichtwagen dient ihnen: „Ich bin zu nervös!'' - Dabei wissen
sie, daß viele nervöse Menschen sich beruhigen, wenn sie ihr Auto
chauffieren, weil sie sich bei dieser Tätigkeit von den akuten Pro
blemen ablenken, die ihnen ihre nervöse Unruhe und Spannung
verursachen.
Zu den Symptomen des heutzutage so ungeheuer verbreiteten
neurotischen Unsicherseins gehört das stete Sorgen von Menschen,
deren Lebenssituation auch nicht den geringsten einleuchtenden
Anlaß dafür bietet.
In diese Rubrik gehören auch alle die Menschen, die immer wie- f
der daran zweifeln, ob sie die einfachsten Handlungen richtig aus
geführt haben: sie verlassen ihre Wohnung und kehren schon nach j
wenigen Schritten wieder zurück, weil sie unsicher sind, ob sie die
Tür wirklich verschlossen haben. - Mit ihrem Auto geht es ihnen i
nicht anders: vielleicht könnten sie vergessen haben, eines der vier '
Fenster fest zuzumachen. - Sie ziehen immer wieder den von ihnen
geschriebenen Brief aus dem Umschlag, um sich zu vergewissern,
daß sie auch alles klar dargelegt und keinen Fehler begangen ha
ben. - Sie kontrollieren stets von neuem einen von ihnen ausgefer
tigten Scheck, da sie sich immer wieder unsicher fühlen, ob sie ihn
auch ordnungsgemäß ausgestellt haben. - Sie sagen: „Ich zweifle
immer, ob ich es richtig mache." - Besonders häufig aber äußert
-^1
sich das Unsichersein so vieler Menschen darin, daß sie sich stets
fragen, was die andern sagen.
Ein infolge großen Fleißes und überdurchschnittlicher Intelli
genz sehr wohlhabend gewordener Akademiker kaufte zum
Geburtstag seiner vierzehnjährigen Tochter eine einfache Arm
banduhr, deren Kosten für seine finanzielle Situation keinerlei
Bedeutung besaßen. Er fragte voller Unsichersein seinen Arzt, ob
er auch nicht vielleicht zu viel Geld ausgegeben habe, so daß ihn
seine Frau wegen dieser Ausgabe tadeln könne. Er war erstaunt
zu hören, daß sie sich im Gegenteil sicher freuen würde, weil er
nicht nur an den Geburtstag gedacht, sondern sogar etwas Schönes
gekauft habe.
Ein zwanzigjähriger Student, dessen ängstliche und ehrgeizige
Eltern ihrem Sohn jedes Tun und Lassen vorgeschrieben hatten,
wollte mit einem jungen Mädchen seines Gesellschaftskreises zum
ersten Mal einen Ausflug machen. Er berichtete, daß er von diesem
Tag sehr unbefriedigt gewesen sei, wußte aber nicht, warum, da
das Zusammensein durchaus harmonisch verlaufen war. Es stellte
sich dann heraus, daß er im letzten Augenblick seine Eltern um ihre
Begleitung gebeten hatte, so daß die jungen Leute während des
ganzen Tages nicht einen Augenblick allein gewesen waren. Auf
eine entsprechende Frage antwortete er: „Ich habe meines guten
Rufes wegen so gehandelt. Was hätten die Leute über mich gesagt,
wenn sie mich mit einem jungen Mädchen allein gesehen hätten?"
Die hier geschilderten Menschen wissen im allgemeinen, daß sie
scheu, schüchtern, furchtsam, ängstlich, übervorsichtig und in
mancher Hinsicht gehemmt sind. Das bedeutet jedoch in allen sol
chen Fällen nur eine gewisse Lebenserschwerung, bedingt aber
noch keine Lebenswidrigkeit.
Bei dem folgenden Fall dagegen, in dem hauptsächlich wegen
der Furcht vor den sexuellen Gefühlen eine Situation von Dauer
spannung und -unruhe entstanden war, ist bereits eine Lebensano
malie eingetreten:
Eine verheiratete Frau, Anfang der Fünfzig, die von einer stets
gefürchteten, dominierenden Stiefmutter großgezogen worden
war, sagt: „Ich bin zu leidenschaftlich und habe schon als junges
Mädchen Furcht gehabt, daß ,es' mal plötzlich mit mir durchgehen
könnte. Daher habe ich mir niemals meine Gefühle erlaubt und bin
jedem Mann aus dem Wege gegangen, der mir hätte gefallen kön
nen." Auch nach ihrer Heirat, die sie bei der ersten Gelegenheit
einging, um der unerträglichen Situation im Hause ihrer Stiefmut
ter zu entfliehen, blieb sie weiter nach Möglichkeit Bällen und

32
Festen fern. Sie hatte weitgehend alles gesellschaftliche Leben ge
mieden und kam praktisch nur mit Frauen und ihr völlig ungefähr
lichen, meist wesentlich älteren Männern zusammen.
Ihre Furcht vor dem Sexuellen, Symptom ihres neurotischen
Unsicherseins, die sie während ihrer Ehe niemals zu voller ge
schlechtlicher Befriedigung hatte kommen lassen, erstreckte sich
auch auf die Folgen des Verkehrs. Sie hatte Schwangerschaften
immer als eine Gefahr angesehen. Um sie zu vermeiden, wußte
sie stets etwas an ihrem Mann auszusetzen, was ihr dann als Vor
wand gedient hatte, um den Beischlaf auf ein Minimum zu redu
zieren.
Ihre Träume zeigten klar, wie sehr sie an diesem liebeleeren
Dasein litt und wie sie sich ihre Lebenswirklichkeit gewünscht
hätte. Nur im Schlaf gestattete sie sich die Erfüllungen und Befrie
digungen, die sie sich im Wachzustand versagte. So sah sie sich z. B.
immer wieder gut angezogen, froh und vergnügt in lustiger Gesell
schaft mit jungen Menschen scherzen und tanzen. In quälenden
Träumen dagegen wurde sie von Männern oder Stieren verfolgt,
sah sich in Abgründe stürzen und allen anderen Arten von Gefah
ren ausgesetzt. Aber stets erschien dann ihr Mann im Traum, um
sie aus den ihr drohenden Situationen zu retten.
Ihr Unbefriedigtsein und ihr Leiden am Leben äußerte sich seit
Beginn ihrer Ehe in verschiedensten körperlichen Beschwerden,
für die niemals eine organische Ursache gefunden werden konnte.
Sie litt an einem sehr hohen Blutdruck, dessentwegen sie von dem
sie seit Jahren behandelnden Internisten zum Psychotherapeuten
geschickt worden war. Ihr Unsichersein suchte sie vergebens durch
übertriebene Pflichterfüllung aller ihrer häuslichen Obliegenhei
ten (Perfektionismus) zu mindern.

Unentschlossenheit

Eine direkte Folge des neurotischen Unsicherseins ist die Schwie


rigkeit vieler Menschen, Entschlüsse zu fassen. Ein Beispiel wird
am besten klarmachen, wie sich der Sichere im Gegensatz zum
Unsicheren im täglichen Dasein verhält:
Einem Händler wird Ware zu einem so billigen Preis angeboten,
daß ihr Kauf äußerst vorteilhaft erscheint. Andererseits hat er noch
einen größeren Posten davon auf seinem Lager und verfügt nicht
über viel Kapital.

33
Der selbstsichere Kaufmann wird nach reiflicher und ruhiger
Überlegung des Für und Wider seinen Entschluß fassen: er wird
kaufen oder auf den Ankauf verzichten. Der unsichere Kaufmann
dagegen wird kürzere oder längere Zeit unruhig-nervös zwischen
seinem Wunsch und seiner Furcht zu kaufen hin und her schwan
ken. Hat er dann endlich einen Entschluß gefaßt und entsprechend
gehandelt, so ist das Problem zwar in der Realität gelöst, aber nicht
für ihn. Denn er wird sich im Falle des Kaufes weiter Sorgen ma
chen, ob der gefaßte Entschluß nun auch wirklich der richtige war,
und wird so lange von Zweifeln geplagt werden, bis er das Erwor
bene gut verkauft hat. Ist die Ware aber, weil er sie nicht erstehen
wollte oder zu keinem Entschluß kommen konnte, von einem an
dern Händler aufgekauft worden, so wird er sich Vorwürfe ma
chen, weil er sich das gute Geschäft entgehen ließ.
Im Falle des ersten Kaufmanns hat es sich um eine zeitweilige
Unsicherheit gehandelt, die mit dem Entschluß zum Kauf oder
Nichtkauf verschwunden war. Hier liegt eine normale Reaktion
vor, die jeder Mensch, vor die Notwendigkeit der Lösung eines
Problems gestellt, spürt. Im Falle des zweiten aber besteht ein
chronisches Unsichersein, welches durch keinerlei wie immer auch
geartetes Tun oder Lassen beeinflußbar ist. Für derartige Men
schen können die allereinfachsten Entschlüsse eine nicht zu bewäl

tigende Schwierigkeit darstellen. „Ich sehe immer Berge", sagen


sie.
Ein überdurchschnittlich intelligenter Medizinstudent im ersten
Semester meint: „Die beste Art, ein Problem zu lösen, besteht
darin, es nicht zu lösen!" Erst nach der Besprechung dieser zu
nächst unverständlichen Behauptung wurde dem jungen Mann be
wußt, daß er sich von dem Druck und der Bedrückung, die ihm un
gelöste Probleme bereiten, dadurch zu befreien suchte, daß er sie
aus dem Bewußtsein verbannte, und sich einredete, daß sie auf
diese Weise für ihn nicht mehr vorhanden seien.
Derjenige, der sich den eine Lösung heischenden Aufgaben
nicht zu stellen wagt, sondern vorzieht, ihnen auszuweichen, indem
er dringendst notwendige Entscheidungen von einem Tag auf den
andern verschiebt, gelangt damit zu einer stets vermehrten Anhäu
fung von Problemen in seinem Dasein. Ihr Vorhandensein beläßt
ihn in steter Unruhe und verursacht ihm das Gefühl des dauernden
Gespannt- und Gehetztseins, über das so viele Menschen heutzu
tage klagen.
Die Unentschlossenheit, die sich als fehlende Tatkraft äußert,
vermehrt dann immer weiter das Unsichersein und trägt dazu bei,
das Bewußtsein der eigenen Unfähigkeit zu verstärken. Daraus re
sultiert die Meinung, die bis zur festen Überzeugung ausarten
kann, daß man weder die nötige Intelligenz noch die Kraft des Wil
lens besitzt, um die Aufgaben des Lebens und der Existenz mei
stern zu können. So bildet sich in diesen Menschen mehr und mehr
ein Teufelskreis, dessen Fortbestand auf dem eingewurzelten Vor
urteil beruht, daß sie nicht in der Lage sind, die Probleme, die ihnen
ihr Dasein aufgibt, auch nur einigermaßen zufriedenstellend lösen
zu können.

Beispiel: Ein Fräulein von etwa dreißig Jahren wollte gern hei
raten. Niemals aber hatte sie sich den Entschluß zu einem „Ja" ab
ringen können, obwohl sich im Laufe von mehr als fünfzehn Jahren
eine ganze Anzahl von durchaus ihr angemessenen Freiern einge
funden hatte. Ihr machte z.B. der Einkauf eines einfachen
Taschentuches große Schwierigkeiten. Es war ihr passiert, daß sie
nach einem halbstündigen Aussuchen das Geschäft unverrrichte-
terdinge wieder verlassen hatte. Andererseits erstand die junge
Dame, die stets das Scheckbuch ihres Vaters zu ihrer freien Verfü
gung in der Tasche hatte, ohne zu zögern, auf Versteigerungen teu
erste Porzellane und Bilder, weil die Kaufangebote der
Mitbietenden ihr die Sicherheit gaben, daß die zur Auktion ste
henden Kunstwerke den von ihr zu zahlenden Preis wert
waren.

Eine kultivierte, vielseitig begabte und künstlerisch tätige, ver


heiratete Frau mittleren Alters mit Depressionen erzählt, daß sie
sich sehr elend fühle, sehr schlecht schlafe und sich dauernd Vor
würfe mache, weil sie eine schlechte Mutter und unfähige Hausfrau
sei. Sie habe sich z.B. vor mehr als zwei Monaten vorgenommen,
das der Familie notwendige neue Bettzeug selbst zu nähen. Sie
habe sich aber bis heute nicht dazu entschließen können, mit der
Arbeit zu beginnen, die, wie sie wisse, sie viele Stunden ange
strengtester Tätigkeit kosten werde. Sie fühle sich einfach dieser
zusätzlichen Aufgabe neben allen andern, die sie jeden Tag zu be
wältigen habe, nicht gewachsen. Gefragt, warum sie dann nicht
längst den Stoff an eine Näherin weggegeben habe, da ihre finan
zielle Situation ihr das ja ohne weiteres erlaube, antwortete sie, daß
sie dadurch ihre Depression noch verstärken würde, weil das ein
neuer Beweis ihrer Untüchtigkeit wäre.
Alle diese aus Unsichersein unentschlossenen Menschen fangen
an, ihre Anormalität zu erkennen, wenn sie feststellen müssen, daß
jedem eben noch gedachten, gefühlten und gesagten Ja oder Nein
unmittelbar hinterher ein Aber folgt, das sie hindert, zu irgendei-

35
ner Aktivität zu gelangen. Wenn sie aber Entschlüsse gefaßt haben,
so beginnen sie entweder erst gar nicht mit der Ausführung oder
verlieren bald in Erwartung von Mißerfolg und Niederlage die
Energie, den Mut oder die Lust, die notwendig sind, um das ge
wünschte Ziel zu erreichen.

Unziifriedensein und Aggression

Bei den bisherigen Beispielen fanden die Menschen in dem, was


man im allgemeinen Schüchternheit, Furchtsamkeit, Unentschlos-
senheit usw. nennt, eine ihr Tun oder, in der Mehrheit der Fälle,
ihr Lassen verständlich machende Erklärung für ihr Verhalten.
Trotzdem bleibt es ihnen natürlich unverständlich, warum sie sich
nicht ebenso ungezwungen, ungehemmt und sicher benehmen
können wie alle ihre Altersgenossen. War das Hauptcharakteristi-
kum der bisher beschriebenen Fälle ihre durch ihr Unsichersein
bedingte Neigung zu einer mehr oder weniger sichtbar in Erschei
nung tretenden Passivität, so zeichnen sich die jetzt zu schüdernden
durch eine aggressive Aktivität aus. Dem Täter selbst ist seine
Aggressionstendenz häufig völlig unverständlich. Sie kann ihm un
heimlich sein und ihn daher aufs schwerste beunruhigen.
Die Eltern von drei Kindern im Alter zwischen fünf und acht
Jahren geben zu, daß sie sehr nervös seien. Ihre Tochter von sieben
Jahren bringe die Mutter mit ihrer Aufsässigkeit, schlechten Laune
und ihrem unverschämten Benehmen in Verzweiflung, so daß man
das Kind häufig schlage. Die Mutter: „Ich bin sehr unsicher, habe
ausgesprochen wenig Charakter. Als ich vierzehn Jahre alt war,
betrug ich mich genauso frech und unverschämt meinen Eltern
gegenüber wie jetzt meine Tochter. Ich wollte gar nicht so sein.
Aber ich vermochte es einfach nicht, mich anders zu benehmen."
Auf Befragen berichtet sie, daß zwischen ihren Eltern und ihr nie
mals ein menschlicher Kontakt bestanden habe.
Der erste Satz eines zweiundzwanzigjährigen Studenten in der
ersten Behandlungsstunde lautete: „Mir fehlt Sicherheit!" Er
schildert anschließend seine aktuelle Situation folgendermaßen:
„Ich fühle mich immer unzufrieden und unbefriedigt. Ich leide an
Minderwertigkeitsgefühlen und sehe alles negativ. Probleme, die
ich in der Universität ohne Schwierigkeiten zu lösen vermag, er
scheinen mir zu Hause unlösbar. Ich fühle mich sicherer mit Men
schen, die ich nicht kenne. Ich habe mich immer für dumm gehal-
ten. Daher wage ich niemals, etwas spontan zu tun. Ich habe stets
Hemmungen und versuche immer, alles vorher genau durchzuden
ken. Meine Familie sagt, daß ich mich mit meiner Bedachtsamkeit
und Vorsicht wie ein alter Mann benehme. Dabei bin ich zynisch."
Wir haben in diesem Beispiel mehr oder weniger dieselbe Situation
vor uns, die wir aus den bisherigen Krankenberichten bereits ken
n e n .

Dann aber kommt der Student auf etwas ihm völlig Unverständ
liches zu sprechen: „Wenn ich mit meinen Eltern und Geschwi
stern - ich bin der Jüngste - bei Tisch sitze, passiert es mir ganz
plötzlich und spontan, daß ich eine Behauptung aufstelle, von der
ich selbst genau weiß, daß sie weder mit den Tatsachen noch mit
meinem eigenen Denken übereinstimmt. Ich verteidige sie dann
gegen die durchaus berechtigten und stichhaltigen Einwände mei
ner Angehörigen mit allen mir zu Gebote stehenden intellektuellen
Fähigkeiten so lange, bis sich meine Familie über diese unsinnige
Diskussion sehr aufregt. Dann verlasse ich das Zimmer und fühle
mich hochbefriedigt."
Diesem Bericht fügt er hinzu: „Ich liebe meine Eltern und weiß,
daß sie mich lieben. Ich will sie daher nicht ärgern und aufregen.
Aber im gegebenen Moment kann ich niemals der Versuchung wi
derstehen, es doch zu tun. Was ist mit mir? Ich verstehe mich selbst
und mein Tun nicht."
In diesem Fall hatten der den Durchschnitt weit überragende
Vater und mit ihm die anderen Familienangehörigen den Nach
kömmling, anstatt ihm Liebe und Verständnis entgegenzubringen,
stets fühlen lassen, daß sie ihn noch immer als ihnen geistig unter
legen ansahen. Daher findet man in diesem Beispiel ein vermehrtes
Unsichersein zu Hause im Umgang mit den Nächsten. Die Aufleh
nung des Sohnes gegen seine Familiensituation, in der er sich „un
zufrieden und unbefriedigt" fühlte, äußerte sich in der geschilder
ten aggressiven Form.
Ein neunzehnjähriger Student hatte eine Scheckunterschrift ge
fälscht. Warum er das getan habe, sei ihm völlig unverständlich. Er
' hatte in den Scheck eine Summe eingesetzt, die nur einen Bruchteil
dessen ausmachte, was er an dem betreffenden Tag an barem eige
nem Geld in der Tasche trug. Da er sogar für diesen Betrag keine
Verwendung gehabt hatte, so blieb es absolut unklar, warum er die
Tat, die ihn mit Zuchthausstrafe bedrohte, begangen hatte.
Das Eigenartige dieses Falles bestand außerdem darin, daß die
ser aus gutem Hause stammende, intelligente Junge, dessen Vater
ein überaus korrekter, sehr beschäftigter Anwalt war, nicht nur

n
keinerlei Gewissensbisse nach der Tat gespürt, sondern sich auch
keinerlei Gedanken über sein Verbrechen gemacht hatte.
Hier bestand eine Familiensituation, in der die völlig kalte und
harte Mutter, die sich auf ihre angebliche Fehlerlosigkeit viel zu
gute tat, sowohl ihren Mann wie auch ihren Sohn ihrem Willen ganz
und gar versklavt hatte. Das Fälschen des Schecks war, dem
Patienten ganz unbewußt, ein Racheakt gegen die Mutter, der sich
der Sohn direkt nicht zu widersetzen wagte.
Ein Jurastudent, Anfang der Zwanzig, chauffiert das Familien
auto. Neben ihm sitzt seine Mutter. Er überfährt ein rotes Ver
kehrslicht, wird von dem wachhabenden Polizeibeamten angehal
ten und beginnt eine ruhige, sachliche Unterhaltung mit ihm, in der
er das Geschehene so darzustellen versucht, daß keine Strafanzeige
gegen ihn erstattet wird. In dem Augenblick aber, in dem die Mut
ter in die Verhandlung eingreift, um dem Sohn in seinem Bemühen
zu helfen, überfällt diesen eine sinnlose Wut gegen sie und den
Schutzmann, welche sich in grob beleidigenden Worten gegen den
letzteren austobt.
In der auf dieses Erlebnis folgenden Behandlungsstunde ist der
Patient verängstigt und aufs tiefste über seine ihm selbst ganz un
verständliche Reaktion deprimiert: er habe Dinge gesagt und ge
tan, die er selbst gar nicht gewollt habe, die ihn, weil seinem wahren
Wesen völlig fremd, ausgesprochen erschreckt hätten. Sein Ver
halten sei nicht nur ganz ungerechtfertigt, sondern auch absolut
sinnlos gewesen. Nachträglich komme es ihm so vor, als ob der
Dämon eines zweiten Ich plötzlich das vernunftgemäß ruhig
besonnene Tun des normalen, gesunden Ich abgelöst und sich an
dessen Stelle gesetzt habe.
Der junge Mann hatte das Eingreifen seiner Mutter nicht, wie
es normal gewesen wäre, als freundschaftliche Hilfeleistung aufge
faßt, sondern als einen oft erlebten, erneuten Versuch, ihn, den
Erwachsenen, zu bevormunden, so als ob sie ihn noch immer als
unmündiges Kind betrachte, das, weil noch nicht vollwertig, von ihr
gegängelt werden müsse. Diese Gedanken, über deren Unge
rechtfertigtsein er sich sehr schnell hinterher klargeworden war,
hatten dann - in einer Art Kurzschluß - jede vernünftige Erwä
gung ausgeschaltet und zur schweren, völlig unbeherrschten Wut-
und Aggressionsreaktion geführt.
Das aggressive Handeln dieser Patienten ist der Ausdruck ihrer
feindseligen Unzufriedenheit mit sich selbst, die sich gegen die an
deren, von denen sie sich, statt geliebt, bevormundet oder sogar
unterdrückt fühlen, richtet.

^ 8
Mißtrauen

Vom neurotischen Unsichersein, das die Lösung von Existenzpro


blemen erschwert oder sogar unmöglich macht, muß man das neu
rotische Mißtrauen unterscheiden. Es ruft Schwierigkeiten im tag
täglichen Umgang mit den Mitmenschen hervor.
Das Vorhandensein von Mißtrauen wird häufig nicht spontan
erwähnt. Wenn man aber fragt: „Haben Sie einen Freund?", so
hört man in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als Antwort:
„Ja, viele Freunde!" Auf die Entgegnung: „Also haben Sie keinen
wirklichen!" pflegt der Leidende meistens einen Augenblick zu
stutzen, um dann die Richtigkeit des Einwandes anzuerkennen. -
Sagt er aber nach einigem Besinnen von vornherein: „Ich habe
keinen Freund!", so kann man sofort fragen: „Warum nicht?" Die
Antwort wird dann im allgemeinen bereits lauten: „Ich habe zu
n i e m a n d e m u n d z u n i c h t s Ve r t r a u e n ! "
Ein auch nur kurz fortgesetztes weiteres Eingehen auf dieses
Problem fördert fast immer sehr schnell zutage, daß dieses Miß
trauen sich nicht nur auf andere bezieht, sondern auch den Miß
trauischen mit einbegreift. Er zweifelt sowohl an seinen menschli
chen Qualitäten als auch an seinen körperlichen und intellektuel
len Fähigkeiten.
Mit dieser Feststellung wurde ein weiterer Schritt in die Tiefe
der Seele getan: Das neurotische Unsichersein ist die Folge oder,
wie man medizinisch sagen würde, das Symptom des Mißtrauens,
das die Menschen gegen sich selbst und gegen die anderen fühlen.
Ein ausgesprochen gut aussehender fünfundzwanzig] ähriger
Diplomingenieur, der aufgrund eines hervorragenden Staatsex
amens sofort in einer vielversprechenden Anfangsstellung zu ar
beiten angefangen hatte, wird immer von dem Gefühl gequält, daß
alles, was er sagt, Dummheiten sind. Er kann sich nur schwer auf
eine Unterhaltung konzentrieren. Er weiß sogar, warum er sehr
oft seine Gedanken nicht genügend zu koordinieren vermag: „An
statt an die Angelegenheit zu denken, über die ich sprechen will,
beunruhigt mich die Frage, welchen Eindruck ich mit meinen Wor
ten und Ausführungen auf den Zuhörer mache. Wenn ich mit
Frauen spreche, ist es noch viel schlimmer. Es ist mir, als ob mein
Kopf völlig leer wäre. Ich fühle mich benommen, verwirrt, einge
schüchtert, ja voller Furcht."
Ein fünfundzwanzigjähriger Architekt notiert seine Gefühle in
folgender Form: „Immer hat in mir das Gefühl der Minderwertig
keit gegenüber anderen Menschen bestanden. Wenn man z.B. in

3 9
meiner Gegenwart lacht, so denke ich stets, ohne dafür irgendwel
che Ursache zu haben, daß dieses Lachen die Reaktion auf ein ab
sonderliches Sprechen, Tun oder Benehmen von meiner Seite oder
auf irgend etwas an mir sei, das nicht in Ordnung ist. Diese meine
Empfindungen lassen mich immer in einer Art von Verteidigungs
stellung bleiben oder veranlassen mich, jede Aktivität zu vermei
den, um nicht irgendwelche Kommentare von selten der andern
hervorzurufen. Wenn ich z.B. etwas Neues angezogen habe,
trachte ich, es so einzurichten, daß niemand darauf aufmerksam
wird. Das geht so weit, daß es mich stört, ja mir ein ausgesproche
nes Unbehagen verursacht, wenn die andern merken, daß ich mir
die Haare habe schneiden lassen. Ich nehme an keiner Allgemein
veranstaltung teil, um nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der
Leute zu stehen. Der Gedanke, daß die Mitmenschen mehr seien
als ich, beunruhigt mich dauernd und verursacht mir Depressio
nen."
Der erste dieser beiden Akademiker lebte seit Jahren ein nor
males sexuelles Leben, der zweite hatte noch niemals Geschlechts
verkehr gehabt. Der erste hatte sehr wenige gesellschaftliche
Beziehungen, der zweite besaß einen intimen Bekanntenkreis, in
den er regelmäßig eingeladen wurde. Der erste war ein Atheist, der
zweite ein frommer Katholik. Trotz einer völlig verschiedenen
Existenz und Situation litten beide an sehr ähnlichen Symptomen.
Ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren erzählt: „Ich
mußte mit sechzehn Jahren meine Schulausbildung unterbrechen,
da mein Vater schwer krank wurde und ich verdienen mußte, um
die Familie zu erhalten. Weil die ganze Last auch heute noch auf
meinen Schultern ruht, habe ich niemals Zeit gehabt, mein eigenes
Leben zu leben. Ich bin immer von meiner Mutter sehr verwöhnt
worden. Sie hat mir immer alle Schwierigkeiten aus dem Weg ge
räumt. Das ist für mich sehr schädlich gewesen, da es mir niemals
erlaubt hat, mir selbst mein Eigenkönnen zu beweisen. Ich hatte
niemals eine Eigenpersönlichkeit."
„Ich bin sehr unzufrieden mit mir. Ich möchte gern studieren
und lernen. Aber ich fange alles immer nur mit Enthusiasmus an
und höre dann nach mehr oder weniger kurzer Zeit unter irgend
welchen Vorwänden wieder auf. Entweder rede ich mir ein, daß ich
etwas Besseres tun könnte, oder ich schiebe die Jahreszeit als Ent
schuldigung vor und beschließe z.B. erst im Sommer das Begon
nene fortzusetzen, was ich dann aber niemals tue. Mir wird es sehr
schwer, geistig zu arbeiten. Ich hätte schon viel mehr machen kön
nen und müssen, als ich getan habe."

40
„Ich habe sehr wenig im Leben erreicht. Zwar habe ich einen
höheren Posten in meiner Firma, weil ich fleißig bin und meine
Chefs mich leiden mögen, aber ich bin sehr unsicher und schüch
tern. Wenn ich meinen Untergebenen Befehle und Anordnungen
erteilen muß, werde ich rot."
„Ich habe noch niemals Geschlechtsverkehr gehabt, obwohl mir
die Gelegenheit dazu nicht gefehlt hat. Aber bei den Gedanken
daran werde ich nervös. Ich weiß nicht, warum?"

Ungewißsein

Wie kommt es zu diesem chronischen Unsichersein vor allem und


chronischen Mißtrauen gegen alle Zustände, die an der Basis jeder
Neurose gefunden werden? Es gilt also jetzt den Beweggrund zu
eruieren, der den ganzen Prozeß der seelischen Gleichgewichts
störung in Gang setzt.
Die Symptome des Unsicherseins und Mißtrauens sind Aus
druck eines Zustandes des Ungewißseins im Menschen.
Damit wird ein Begriff in die Untersuchung eingeführt, der min
destens ebensosehr der Klärung bedarf wie der der Angst, zumal
er in der täglichen Umgangssprache wesentlich weniger gebräuch
lich ist. Um das Wesen des Ungewißseins verständlich zu machen,
stellt man es am besten dem Unsichersein gegenüber. Bin Beispiel
aus der Praxis des täglichen Lebens wird dabei erheblich hilfreicher
sein als theoretische Auseinandersetzungen:
Ein Kind hat Verbotenes getan. Ihm drohen für sein Tun zwei
verschiedenartige Bestrafungen:
1. Die Gefahr der körperlichen Züchtigung oder des Entzugs
von Materiellem, an dem es interessiert ist, sei es von Süßigkeiten,
Spielzeug, Fahrrad, Radio oder anderem. Art und Ausmaß der
Strafe ist im Augenblick nach der Tat dem Täter noch nicht be
kannt. Es besteht infolgedessen eine Unsicherheit, die im Kind ein
Unsichersein in bezug auf das körperliche Leiden, welches ihm als
Folge der Übertretung eines Verbotes droht, erzeugt. Diese Art
des Unsicherseins nennt man deshalb schlechtes Gewissen, weil
das Wissen um das Schlechte im Täter unzweideutig klar im Be-
wußt-sein vorhanden ist. Symptom dieses schlechten Gewissens ist
die Furcht, die von der über ihr schwebenden Drohung weiß. Beide
Gefühle, schlechtes Gewissen (oder Unsichersein) und Furcht,
verschwinden nach der Bestrafung.

4 1
2. Die Möglichkeit einer seelisch-immateriellen Bestrafung, die
im Verlust der Liebe der Eltern oder wenigstens ihrer zeitweiligen
Minderung besteht. Diese Art der Buße würde seelisches Leiden
mit sich bringen. Das Kind befindet sich in diesem Falle nicht im
Zustande körperlichen Unsicherseins mit dem ihm entsprechen
den schlechten Gewissen, sondern in seelischem Ungewißsein.
Dieses verschwindet sofort, wenn nach dem Bekenntnis der Schuld
die Folgen für das Begangene nur in Form einer körperlichen
Bestrafung angedroht werden. Obwohl die Furcht vor ihrer Voll
streckung noch weiterbesteht, fühlt sich das Kind sofort erleichtert.
Das Druckgefühl der Schuld ist mit ihrer Vergebung vom Kind ge
nommen. Es fühlt sich der elterlichen Liebe wieder „gewiß".
Dieselbe Situation wie die geschilderte wird bereits in der Bibel
aus der allerersten Kindheit der Menschheit bei der Erzählung vom
Sündenfall berichtet. Man kann das Wort Adams: „Ich fürchtete
mich" (Gen. 3,10), in dem Sinne verstehen, daß der erste Mensch
nach seiner Übertretung des Gebotes Gottes, vom Baum der
Erkenntnis des Guten und Bösen nicht zu essen, an einem in ihm
bestehenden Unsichersein mit der es begleitenden Furcht vor kör
perlicher Bestrafung litt. Das Wissen um sein Nacktsein, mit dem
Adam das Entstehen seiner Furcht motiviert, ist in diesem Fall
symbolisch für die mit dem Auftauchen des Bewußtseins erstmalig
den Menschen überkommende Erkenntnis seines Alleinseins, ja
seines allem und allen Gegenübergestelltseins, mit körperlicher
Schutz- und Hilflosigkeit den ihm drohenden Gefahren gegenüber.
Was aber geschah tatsächlich laut dem Bericht der Bibel? Der
Vater verzieh seinen Kindern den Frevel nicht, sondern trieb sie
aus seinem Haus, dem Garten Eden, hinaus. Anstelle schnell ver
gessener körperlicher Bestrafung wählte Gott die viel härtere und
dauerndere des Liebesentzuges. So entstand im Menschen das ihn
seit dieser Z^it quälende und ihm sein Leben „unstet und flüchtig"
(Gen. 4,12) machende Ungewißsein. Die Erbsünde aber wird die
ses Geschehen genannt, weü es noch immer in jedem Geschlecht
weiterwirkt. Denn die Menschheit hat bis heute niemals wieder aus
e i n e r E x i s t e n z d e s Ve r l o r e n s e i n s - e i n e s I n - d e r - We l t - S e i n s m i t
den Gefühlen von Leere, Nichts und Angst, wie die Existentialisten
sagen - zu einem Leben der Liebe und damit der Geborgenheit zu
rückfinden können.
Am Beispiel der kindlichen Situation wurde aufgezeigt, daß
normalerweise sowohl das Unsichersein wie auch das Ungewißsein
etwas mehr oder weniger schnell Vorübergehendes sind. Ersteres
entsteht angesichts von Unsicherheit im Existentiellen, worunter

4 9
der Bereich des Körperlich-Intellektuellen sowohl im Beruflichen
wie auch im Gesellschaftlichen zu verstehen ist. Das Ungewißsein
tritt auf, wenn Störungen im mitmenschlichen Ein-vernehmen auf
grund von Beeinträchtigung oder gar Unterbrechung des Ein-füh-
lens und Ein-verständnisses zu Zwei-fein am anderen führen, die
eine zeitweilige Trennung der Gem-ein-schaft mit sich bringen.
Das Ungewißsein wird also nicht durch eine Gefahrensituation
hervorgerufen, sondern durch Liebes- und Freundschaftsentzug.
Ist keinerlei Grundmotiv erkennbar, dessentwegen der Mensch
sich ungewiß oder unsicher fühlt, so handelt es sich um ein im Men
schen vorhandenes chronisches Mißtrauen gegen sich selbst, das
sich völlig unabhängig von aktuellen Erlebnissen mit der Außen
welt auf allen Gebieten des menschlichen Daseins aufgrund aller
Arten von Anlässen in den allerverschiedensten Formen äußern
kann. Hier liegt dann im Gegensatz zu den normalen akuten Reak
tionsformen des seelisch gesunden Menschen ein krankhafter
Dauerzustand vor, der einem solchen Individuum alles Fühlen,
Denken und Tun problematisch macht, d.h. es dort Probleme se
hen und finden läßt, wo für den seelisch im Gleichgewicht Befindli
chen keine existieren.
Zur Veranschaulichung des Gesagten soll ein Beispiel dienen:
Ein junger Priester fühlt sich berufen, sein Leben Gott zu wei
hen. Er widmet sich mit all seiner Zeit und all seinen Kräften dem
Dienst an seinen armen oder kranken Mitmenschen. Er scheut
keine Mühe, keine Arbeit, keine Entbehrungen, um sich für das,
was er als seine Aufgabe erkannt hat, aufzuopfern. Eines Tages
aber gibt er sich Rechenschaft darüber, daß dieser Dienst als frei
williger Knecht Gottes für ihn kein Opfer darstellt, wie er es bis da
hin immer geglaubt hatte. Denn er fühlt sich wohl dabei. Es über
kommen ihn sogar Glücksgefühle, wenn es ihm bewußt wird, daß
er Gutes getan, daß er seinen Mitmenschen geholfen, Leid gelin
dert, Hoffnung erweckt, Glauben gestärkt hat.
Seitdem er sich aber bewußt geworden sei, so erzählt er, daß sein
Tun nicht nur seinen Mitmenschen, sondern auch ihm selbst gut
tue, quäle ihn dauernd sein Gewissen: ob all sein Werken und
Wirken, das er für uneigennützig gehalten hatte, nicht vielleicht in
einem ausgesprochenen Egoismus wurzele, daß er vielleicht gar ein
schlechter Mensch sei, der niemals die Absicht gehabt habe, sich
mit allem seinem Können, Wünschen und Wollen Gott zu weihen
und nötigenfalls zu opfern. Es nage ständig ein starker Zweifel an
ihm, daß es sich bei ihm gar nicht um eine Berufung handele, son
dern um einen Beruf, in dem er sich selbst auf leichte Art Selbstzu-

43
friedenheit dadurch verschaffen könne, daß er sich vermittels sei
nes Helfens seine Überlegenheit über seine Mitmenschen beweise.
Das sei dann aber ein untrügliches Zeichen von Hochmut, der eine
Todsünde sei.
Bei diesem jungen Priester besteht keinerlei Unsichersein ün
Beruf, keine Furcht vor der Lösung konkreter Probleme noch
Zweifel an seiner Fähigkeit, das, wozu er sich berufen fühlt, zum
Erfolg zu führen. Das ihm zum Bewußtsein kommende Mißtrauen
hat auch nichts mit seiner Beziehung zur äußeren Welt zu tun. Es
handelt sich vielmehr um einen Prozeß, einen Konflikt, der sich
ausschließlich in seinem Innern abspielt. Seine Zweifel beziehen
sich auf die Motive seines Handelns. Sein Ungewißsein hat ihm das
Mißtrauen gegen sich selbst verursacht und ihm damit seine
Zuversicht in die Reinheit seiner Absichten erschüttert. Daher ist
er in seinem bis dahin felsenfesten Glauben an sein Angelobtsein
an Gott wankend geworden.

Ursache des Ungewißseins

Woher kommt es, daß so viele Menschen an ihrem Ungewißsein


leiden, so daß sie lebenslang in mehr oder weniger starker seeli
scher Gleichgewichtsstörung existieren, und es andererseits ver
hältnismäßig nur sehr wenige gibt, die Meister der Lebenskunst
sind und daher ihre Erdentage in Seelenfrieden mit sich und den
Mitmenschen genießen können?
Einige Beispiele aus der Praxis sollen helfen, die Frage nach der
tiefsten Ursache des vielfältigen seelischen Leidens des heutigen
Menschen zu klären:
Beim Arzt erscheint ein Ehepaar, das seinen ältesten, zwölfjäh
rigen Sohn in Behandlung geben will. Er sei schwer nervös und un
erträglich im Umgang. Er schlage seine jüngeren Geschwister, so
bald die Eltern von zu Hause abwesend seien usw. Von ihren acht
Kindern litten sieben an mehr oder weniger ausgeprägten Sympto
men von Nervosität. Nur der Zweitälteste Sohn sei völlig gesund.
Der Arzt war zunächst interessiert, zu wissen, warum das zweite
Kind als einziges in der Familie nicht „nervös" war. Die Ursache
dafür war den Eltern durchaus bewußt. Dieser Junge hatte als ein
ziger von allen seinen Geschwistern eine Amme gehabt, die sich
seiner stets speziell angenommen, die ihn immer gegen die
Angriffe des älteren Bruders verteidigt und ihn während der ganzen

4 4
Jahre seines Lebens umsorgt und betreut hatte. Alle anderen Kin
der waren mehr oder weniger immer sich selbst überlassen geblie
ben. Denn die Mutter, die im Durchschnitt alle 18 Monate ein
neues Kind geboren hatte, war niemals imstande gewesen, sich
dem einzelnen wirklich, d. h. seinen kindlichen affektiven Notwen
digkeiten entsprechend, widmen zu können, zumal sie außerdem
ihr eigenes privates und gesellschaftliches Leben genießen wollte.
Die einfache Amme dagegen, für die das ihr speziell anvertraute
Menschenkind ihren ganzen Lebensinhalt bedeutete, vermochte
diesem Jungen alle seine seelischen Bedürfnisse zu befriedigen, so
daß er im Gegensatz zu allen seinen Geschwistern gesund geblie
ben war, d.h. an keinem seelischen Un-Frieden litt.
Eine Frau, Mutter von fünf Kindern, deren weiches Gesicht und
warme Augen dafür sprechen, daß sie voller Güte, Liebe und Zärt
lichkeit ist und nur für ihre Familie lebt, bringt ihren zehnjährigen
Sohn zur Behandlung.
Sie erzählt: „Der Junge war bis vor zwei Jahren, also bis zu sei
nem achten Lebensjahr, immer sehr vergnügt, von allen geliebt
und verwöhnt. Er war in der Schule fleißig, kam sehr gut vorwärts,
und seine Mitschüler und Lehrer hatten ihn gem. All das hat sich
in diesen letzten zwei Jahren völlig geändert. Er hat jetzt fast im
mer schlechte Laune, ist aufsässig, tut niemals das, was man ihm
sagt, sondern nur das, was er gerade will. Er gibt freche Antworten,
wenn man ihn mahnt oder rügt. Er ist in der Schule furchtbar faul
geworden, so daß er in diesem Jahr wohl nicht versetzt werden
wird. Er kümmert sich um nichts mehr, was ihn früher interessiert
hat. Das einzige, was ihm Spaß macht, ist, mit Hunden zu spielen,
zu denen er in einer auffallenden Art und Weise zärtlich ist. Oft
scheint das Kind gar nicht anwesend zu sein, als ob es in anderen
Regionen schwebe. Vielleicht macht es sich um irgend etwas
Gedanken, hat Probleme?"
„Der Junge hat keinerlei Verantwortungsgefühl. Mit seinem um
drei Jahre älteren Bruder schlägt und zankt er sich unausgesetzt.
Er lügt bei jeder Gelegenheit. Wenn mein Mann oder ich nach
Hause kommen, sind wir schon nervös in der Erwartung, was in
zwischen wieder passiert sein könnte und was der Junge Schlimmes
angestellt hat. Mein Mann behandelt ihn besonders schlecht,
nannte ihn z.B. Kretin!"
Die Frage galt natürlich der Ursache, aus der sich das bis» vor
zwei Jahren gesunde Kind, das einen besonders sympathischen,
herzgewinnenden Eindruck machte, als es mit seinen großen
Augen den Arzt vertrauensvoll, ehrlich anblickte, so verändert
hatte. Die Antwort der Mutter deckte sehr schnell auf, was gesche
hen war: Der Vater, der bis vor zwei Jahren jede freie Minute mit
seiner Familie verbracht und ein besonders herzliches Verhältnis
zu den Kindern gehabt hatte, war dem Heim immer mehr fernge
blieben, weil er ein Verhältnis mit einer anderen Frau angefangen
hatte. Er sah seine Kinder praktisch nur noch am Sonntagvormittag
und war zu Hause stets nervös und schlechter Laune. Seine Frau,
die sich natürlich über die Ursache dieser Wandlung in ihrem Mann
Rechenschaft gab, hatte ihren Frohsinn und damit ihre bis dahin
uneingeschränkte Hingabefähigkeit an ihre Kinder zum großen
Teil eingebüßt.
Der Arzt wird zu einer verheirateten, kinderlosen Frau von über
fünfzig Jahren gerufen, die seit etwa einem Jahr in immer zuneh
mendem Maße ,,nervös" geworden ist, nachdem sie ihr ganzes Le
ben lang stets völlig gesund war. Kaum hat sie, in Gegenwart ihres
Ehemannes, angefangen, etwas von sich und ihrem Leben zu be
richten, bricht sie in Tränen aus und kann sich nur langsam wieder
beruhigen.
Sie erzählt dann, daß sie vor drei Jahren aus dem Ausland ge
kommen sei und sich sehr bald enttäuscht fühlte, weil sie von ihrer
Familie nicht so herzlich aufgenommen wurde, wie sie es erwartet
hatte. Da ein Augenleiden sie hindert, sich wie früher mit Lesen
und Handarbeiten die Zeit zu vertreiben, und der Ehemann den
ganzen Tag über geschäftlich außerhalb zu tun hat, ist sie sich selbst
und ihren Gedanken überlassen, die am Schluß der ersten Behand
lungsstunde folgendermaßen zum Ausdruck kommen: „Ich bin
eine Xanthippe, eine Furie! Ich stoße andere Menschen ab. Denn
wenn das nicht der Fall wäre, wie haben sie sich so zu mir beneh
men können?"
Vermittels aneinandergereihter Aussprüche der Patientin soll
das Entstehen ihres jetzigen Zustandes dargestellt werden: „Mein
ganzes Leben lang war ich abhängig, zuerst von meinen Eltern und
dann von meinem Mann, der bis zum heutigen Tag immer sehr gut
zu mir gewesen ist. Ich habe niemals eine eigene Meinung gehabt
und habe meinen eigenen Willen immer unterdrückt. Meine
Unselbständigkeit hat mich niemals belastet. Da ich mich stets be
müht habe, anderen Freude zu machen und Gutes zu tun, bin ich
bis zu meinem Hierherkommen immer zufrieden gewesen. Ich
glaube, daß ich bescheiden bin. Aber vielleicht ist es auch an
spruchsvoll."
„Früher war mir so gut und warm, wenn ich mit Menschen ge
sprochen habe, und jetzt kann ich sie nicht ausstehen. Sie haben
mich enttäuscht. Keiner ist zu mir ins Krankenhaus gekommen.
Das hat mir Gift gegeben. Meine Gedanken haben mich aufgefres
sen: Woran liegt es, daß diese Menschen nicht mit mir zusammen
kommen wollen? Sind sie so besetzt, daß sie ihren Kreis geschlos
sen haben? Oder habe ich etwas an mir, das sie abstößt? Bin ich
die Schuldige? Bin ich nichts mehr wert? Ich habe kein Zutrauen
mehr zu mir und habe mein Vertrauen zu anderen völlig verloren."
„Erst habe ich mir hier gesagt: Die Menschen machen sich nichts
aus dir. Jetzt sage ich: Ich mache mir nichts aus den Menschen. Ich
bin dazu gekommen, weil ich glaube, daß ich mit den Menschen
nichts mehr anfangen kann. Sie interessieren mich nicht mehr. Ich
kann sie nicht leiden. Um nicht mehr zu versinken, habe ich mich
zurückgezogen, habe verzichtet. Aber das war nicht richtig. Das
war nur Fahnenflucht. Ich habe schlecht dabei abgeschnitten.
Denn Menschen gehören zum Leben. Wie soll ich mich da zurecht
finden? Was ist richtig? Was ist nicht richtig? Wenn ich selbst nicht
aufrichtig bin, warum sollen andere zu mir aufrichtig sein?"
„In meinen Träumen irre ich immer umher. Es ist furchtbar. Ich
weiß nicht, wer ich bin noch wie ich heiße. Wo bin ich? Was bin
ich? Was soll ich anfangen? Ich lebe doch in der Einbildung, daß
alle mich anschauen. Alle gehen fort! Wie könnt Ihr mich allein zu
rücklassen? Ich habe derart geweint, geschrien, gebetet: Nehmen
Sie mich doch mit! Lassen Sie mich doch nicht hier! Die beiden
Damen taten so, als ob sie sagen wollten: Zugrunde werden wir
dich nicht gehen lassen, aber mitnehmen wollen wir dich nicht! Ich
bin zerrissen, meine Strümpfe sind zerrissen, zerfetzt!"
„Ich habe zuviel Gefühl. Das ist mein Unglück. Vielleicht glaube
ich nur, daß ich froh bin, wenn ich kein Gefühl habe. Ich bin ja im
Grunde erschrocken. Ich wül die Menschen, aber ich kann nicht.
Ich darf kein Gefühl haben. Aber ohne Gefühl geht es ja auch
nicht. Ich kann mich für nichts erwärmen, mich für nichts ereifern,
mich an nichts freuen. Ich lebe wie ein Leichnam auf Urlaub. Ich
will alles mit einem Vorhang zudecken und mich nicht an frühere
glückliche Zeiten erinnern. Es ist doch besser ohne Gefühl!"
Diese drei Fälle beweisen, daß ein Fehlen oder auch schon ein
Mangel an Liebe für das Ingangkommen einer neurotischen Ent
wicklung im Individuum verantwortlich zu machen ist.
Dem ersten Fall, in dem diese Situation seit Lebensanfang be
stand, so daß man versucht sein könnte, bei der „Nervosität" dieses
Kindes eine konstitutive Anlage anzunehmen, wurde zwecks end
gültiger Beseitigung derartiger Hypothesen der zweite Fall hinzu
gefügt. Bei ihm ist der Zusammenhang zwischen Liebesentzug und

4 7
Beginn der Neurose einwandfrei klar. Der ebenso gelagerte dritte
Fall soll aufzeigen, daß auch noch der Erwachsene bei Liebesver-
sagung mit einer seelischen Gleichgewichtsstörung reagieren kann.
Wieso kommt es nun zu einer Erkrankung der Seele?
Wenn der körperliche Anteil des Menschen Mangel leidet, weil
ihm nicht die Nahrung zur Verfügung steht, die er zu seiner Erhal
tung braucht, so verursacht das Hungergefühl eine immer stärker
werdende Spannung, die es dem betroffenen Individuum unmög
lich macht, auch nur einen Augenblick stillzusitzen oder gar sich
entspannt und ruhig hinzulegen. Der Schreiber dieser Zeilen
spricht hier aus eigenen, nie vergessenen Erfahrungen während des
Ersten Weltkrieges. Der die Ruhelosigkeit verursachende Span-
nungszustand wird erst dann behoben werden, wenn durch Sätti
gung die Mangelsituation beseitigt worden ist. Das dann bewußt
werdende Gefühl der Befriedigung ist das Anzeichen der Wieder
herstellung des vorher gestört gewesenen körperlichen Gleichge
wichtes.
Ein ganz gleichartiger Vorgang spielt sich im Bereich der Seele
ab, wenn ihr nicht oder in nicht genügender Menge und Qualität
die ihr gemäße Nahrung zuteil wird. Ihr affektiver Hunger äußert
sich in Gefühlen seelischer Spannung, die einen solchen Menschen
trotz gleichzeitig vorhandener vollkommener Befriedigung seiner
körperlichen Bedürfnisse in immerwährender Unruhe und Unrast
existieren läßt. Nur die Stillung des seelischen Hungers ist im
stande, die seelische Gleichgewichtsstörung zu beseitigen und dem
Menschen seinen Seelenfrieden zu gewähren.
Der hier zur Verständlichmachung der seelischen Verhältnisse
angestellte Vergleich gilt nur für mehr oder weniger schnell vor
übergehende Mangelsituationen. Ist die NahrungsVersorgung aber
dauernd unzureichend, so sind die daraus entstehenden Folgen auf
körperlichem und seelischem Gebiet völlig verschieden. Im ersten
Fall verhungert der Mensch und kommt um. Im zweiten Fall bleibt
er am Leben, wenn er nicht an einem „gebrochenen Herzen" stirbt,
was ein durchaus vorkommendes Ereignis ist.
Wieso entsteht aus einer solchen Situation das Ungewißsein?

A R
Entwicklung des Ungewißseins

Die überwiegende Mehrzahl aller Eltern oder zumindest der Müt


ter besitzt, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, durchaus
normale und natürliche menschlich positive Gefühle zu ihren Kin
dern und ist daher an ihrem Wohl und Gedeihen unbedingt inter
essiert. Woher kommt dann aber die ungeheuer große Anzahl von
Jugendlichen und Erwachsenen, die an einem seelischen Unfrie
den leidet, der sich in ihrem Unzufriedensein mit sich selbst und
in einem aus ihm geborenen In-Unfrieden-Sein mit ihrer Umge
bung äußert?
Die Antwort lautet: Die Eltern sind aus folgenden Gründen nur
allzu häufig außerstande zu einem menschlichen Kontakt mit der
Seele ihres Kindes zu gelangen, der allein deren Bedürfnissen ge
recht zu werden vermag:
Ihre Einstellung zum Leben, der entsprechend sie ihr Dasein
verbringen, ist eine direkte Folge der rationalistisch-materialisti
schen Erziehung, die in immer vermehrtem Maße dem Verstand
und Besitz, dessen Hauptsymbol das Geld ist, einzigen Wert zu
mißt. Andererseits hat das von einer solchen Erziehung gelehrte
Denken alles Gefühlsmäßige immer mehr entwertet. Denn es geht
von dem Standpunkt aus, daß sowohl die körperlichen wie auch die
seelischen Empfindungen den kalt-logischen Intellekt nur von sei
nem Ziel, das Materielle in immer steigendem Maße zu beschaffen,
um die körperlichen Bedürfnisse immer vollkommener befriedigen
zu können und die soziale Stellung zu heben, ablenkt.
Eltern, die zu dieser Einstellung erzogen worden sind, müssen
glauben, daß sie ihren Kindern eine vollwertige Erziehung zuteil
werden lassen, wenn sie sie alles lehren und lernen lassen, was für
die Existenz nützlich ist. Sie müssen annehmen, daß sie ihre
Elternpflicht voll und ganz erfüllen, wenn sie um die Ertüchtigung
des Körpers und die Bildung des Geistes ihrer Kinder besorgt sind
und ihnen auf diesen Gebieten alle Fürsorge angedeihen lassen.
Sie tun, trotz des Vorhandenseins ihrer Liebe nichts oder zuwe
nig, um das seelische Gesundsein des jungen Menschen zu fördern
und ihm auf diese Weise zu helfen, sich im Erleben seines Lebens
immer mehr auszuweiten, zu wachsen und zu reifen. Ihre
Unkenntnis des seelischen Bereichs und ihre daher verständliche
Scheu vor allem Gefühlsmäßigen machen sie unfähig, der ihnen
anvertrauten Seele ihres Kindes das zu geben, was diese notwendig
braucht, um nicht krank zu werden.
Um ein seelisch gesundes Kind großzuziehen, genügt es nicht,

d Q
als Ausdruck menschlichen Interesses am Pflegebefohlenen,
Materielles dem Körper und Intellektuelles dem Geist zu bieten.
Der Erzieher muß vielmehr sich selbst, sein menschliches Ver
ständnis, seine menschliche Zuneigung darbringen. Er muß nicht
nur von dem geben, was er hat und was er kennt, sondern muß sich
mit allem geben, was er ist, d.h. mit allem, was er aus sich als be
wußt fühlender Mensch gemacht hat.
Zeigen die Eltern ihrem Kind keine menschlich warme persön
l i c h e A n t e i l n a h m e a n s e i n e m L e b e n u n d W o h l b e fi n d e n a l s
Mensch, weil sie aus anderweitiger Inanspruchnahme keine oder
nicht genügende Zeit für es finden, so kann es zu keiner mit
menschlichen Gemeinschaft kommen, die sich nur bei Vorhanden
sein affektiver Fürsorge zu bilden vermag. Eine solche Indifferenz
der Erzieher ist dann die Ursache dafür, daß sich das junge Men
schenwesen für unattraktiv, unsympathisch, also nicht liebenswert
halten muß. Es beginnt, an sich zu zweifeln.
Sind die Eltern darüber hinaus gar ungeduldig oder lassen, noch
schlimmer, ihre Nervosität und schlechte Laune an ihm aus, be
handeln es also schlecht, so fühlt es sich schlecht. Das Verhalten
der Erwachsenen ist also ausschlaggebend wichtig für das Wohl
fühlen des Kindes. Es ist entscheidend dafür, ob sich die kindliche
Seele normal entwickelt oder anomal wird.
Das, was dabei den Kindern zum Bewußtsein kommt, ist weder
das Mißtrauen gegen sich noch das Ungewißsein. Die Kinder füh
len sich aber unzufrieden und unglücklich, weil sie in Disharmonie
mit sich und ihrer Umgebung existieren. Den Älteren, etwa um das
zehnte Lebensjahr herum, kann es durchaus schon bewußt sein,
warum sie nicht lebensfrisch und -froh sind. Man hört dann schon
Aussprüche wie: „Die Eltern ernähren und kleiden mich, weil ich
ja nun einmal ihr Kind bin und sie daher dazu verpflichtet sind. Das
tun sie also, weil sie müssen, nicht aber weil sie mich liebhaben!"

Liebelosigkeit und Ungewißsein

Wenn die hier vertretene Theorie richtig ist, daß das Fehlen von
Liebe im Leben des Kindes ein Ungewißsein erzeugt, welches dann
alle die verschiedenartigsten neurotischen Symptome zeitigen
kann, so müßte das Erleben von Liebe das Ungewißsein und damit
die im Einzelfall vorhandenen objektiven Erscheinungen, wie
Unruhe usw., zumindest verringern.

50
Eine seit vielen Jahren verheiratete, kinderlose Frau, Mitte der
Dreißig, berichtet: „Ich hatte eine sehr schlimme Kindheit. Meine
Eltern lebten getrennt. Als meine Mutter sich wieder verheiratete,
verlor sie das wenige Interesse, das sie vorher noch für mich gehabt
hatte, völlig. Ich fühlte mich immer nur geduldet. Ich verheiratete
mich daher, als ich noch sehr jung war, fand aber auch in der Ehe
weder die Zärtlichkeit noch das Verständnis, die ich mir so sehr ge
wünscht hatte."

„Ich bin immer ein Pflichtmensch gewesen. Ich habe immer ver
sucht, alles, was ich tat, nach bestem Wissen und Können möglichst
perfekt zu erledigen. Ich bin aber immer gescheitert. Mein Mann
ist niemals mit mir zufrieden gewesen. Immer hat er etwas an mir
und meinem Tun auszusetzen gewußt. Und leider muß ich ihm
recht geben. Ich war niemals eine gute Hausfrau. Trotz all der
Mühe, die ich mir stets gab, habe ich alles schlecht gemacht. Immer
bin ich daher mit mir unzufrieden gewesen und habe stets ein
schlechtes Gewissen gehabt, weil ich meine Obliegenheiten entwe
der überhaupt nicht oder nur mangelhaft erfüllt habe."
„Die Tatsache, daß mein Mann mich trotz aller meiner schlech
ten Eigenschaften noch liebhat und gut zu mir ist, hat mich noch
verzweifelter gemacht. Denn wie kann man einen Menschen lie
ben, der noch nicht einmal in der Lage ist, alle diese einfachen Ver
richtungen, die Millionen von Frauen ohne jede Schwierigkeit be
wältigen, zu erfüllen. Ich habe mich immer für einen Menschen
gehalten, der zu nichts nütze ist. Und ich bin todunglücklich, ja
verzweifelt gewesen über mich selbst und über mein Schicksal!"
„Dann begann ich ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann,
in den ich mich so sehr verliebt hatte, daß ich der Versuchung nicht
widerstehen konnte, ihm anzugehören. Und damals, als ich zum
erstenmal in meinem Leben wirklich voll und ganz Ursache gehabt
hätte, ein schlechtes Gewissen zu haben und tatsächlich unglück
lich zu sein, weil ich entgegen meinem ganzen Charakter, der im
mer versucht hat, das Vollkommene zu erreichen, ausgesprochen
Schlechtes tat, ereignete sich das Entgegengesetzte! Ich hatte zum
erstenmal seit Beginn meiner Ehe keinerlei schlechtes Gewissen,
so daß ich immer wieder das Verbotene und Unmoralische tat, das
ich mir wünschte. Was mich aber noch viel mehr verblüffte, ja in
Bestürzung versetzte: mein ganzes Unglücklichsein, das sich doch
angesichts meiner außerehelichen Beziehungen hätte verstärken
müssen, war verschwunden. Ich fühlte mich sogar richtig glücklich,
wenn ich mit diesem Mann zusammen war."
Die Vorgeschichte einer Frau von vierzig Jahren enthüllt eine
sehr unglückliche Kindheit und Jugend. Mutter und Töchter waren
andauernd der üblen Laune eines Vaters ausgesetzt, der seine
Unzufriedenheit mit sich selbst und seinem fehlenden Erfolg im
Leben seine nächsten Angehörigen entgelten ließ. Tagtäglich wie
derholte er, daß er sich immer nur Söhne gewünscht habe, weil
Mädchen niemals zu etwas nütze seien, sondern nur Geld kosteten,
und daß er ein unglücklicher Mann deshalb sei, weil seine Frau ihm
nur Töchter geboren habe. Alle zitterten vor ihm, der von dem we
nigen Geld, das er verdiente, sich noch eine Geliebte hielt.
Als die Patientin sich im Alter von 19 Jahren verheiratete, um
der Hölle des Vaterhauses zu entkommen, mußte sie schon in der
Hochzeitsnacht feststellen, daß alle ihre Träume, nun endlich
Liebe und Glück zu finden, sich niemals verwirklichen würden. Ihr
schwer neurotischer Ehemann, der voll und ganz vom Willen seiner
dominierenden Mutter abhängig war, sagte ihr, daß er sie nur ge
heiratet habe, weil ihr Vater ihn dazu gezwungen habe und nicht
etwa weü er sie liebe. Unter Hinweis auf das Bibelwort: „Das Weib
sei Untertan dem Manne, der Gewalt über sie hat!", verlangte er
von ihr bedingungslose Unterordnung unter seinen Willen.
Da sie sich unter ihrer Ehe die Befreiung aus der Knechtschaft
des Elternhauses zu einem neuen, schönen Leben in freundschaft
lich-herzlicher Gemeinschaft vorgestellt hatte, so sträubte sich al
les in ihr dagegen, ihrem Ehemann das zu glauben, was er gesagt
hatte. Als sie, die sehr religiöse Frau, dann aber ein paar Tage nach
der Hochzeit diesen Satz wirklich in der Bibel fand, überzeugte sie
sich, daß er recht hatte und deshalb das Recht hatte, mit ihr nach
seinem Willen zu tun. Ihr Vater hatte ihr ja unausgesetzt wieder
holt, daß eine Frau keinen Wert habe. Sie fand jetzt nur die Bestä
tigung für das, was ihr seit ihrer Kindheit vorgehalten worden war:
sie war zu nichts anderem nütze, als bestenfalls den Wünschen ihres
Mannes zu Willen zu sein.
Bereits vierzehn Tage nach der Hochzeit begannen ihre ersten
schweren Angstanfälle. Sie traute sich nicht mehr auf die Straße,
sondern wagte es nur, nach Einbruch der Dunkelheit - und auch
dann nicht ohne Schleier - aus dem Hause zu gehen. Denn sie
meinte, daß alle Menschen ihr die Schande ansehen würden,
Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, der nach allen ihren tief in
sie eingewurzelten katholischen Vorstellungen nur erlaubt sei,
wenn sich Mann und Frau aufgrund warm-menschlicher Zunei
gung zum Zwecke der Kindererzeugung körperlich einen. Ohne
diese Vorbedingungen aber, die beide in ihrem Fall nicht zutrafen,
schien ihr jedes sexuelle Gefühl und jede sexuelle Betätigung etwas

5 9
Böses, das ihr ein schlechtes Gewissen verursachte. Als sie dann
in anderen Umständen war, verkroch sie sich noch mehr in ihre
Wohnung, da sie ja nun schon sichtbar die Zeichen ihres Bösetuns
und ihrer Schande mit sich herumtrug.
Auch nach der Geburt der Kinder änderte sich die Situation
zwischen den Eheleuten in keiner Weise. Der Mann fuhr fort, seine
Heirat als einen Freiheitsverlust aufzufassen, für den er sich immer
wieder durch Junggesellenabenteuer schadlos zu halten suchte. Er
war fast immer schlechter Laune, die er, ebenso wie früher der
Vater der Patientin, an ihr ausließ.
In dieser Zeit begann sie, wenn ihr Mann sie wieder einmal ohne
jede Erklärung mit ihren Kindern allein gelassen hatte, Gefühle zu
verspüren, die sie aufs allerstärkste beunruhigten und verwirrten.
Sie, die ihre Kinder glühend liebte, die nicht nur die bestmöglichste
Mutter sein wollte, sondern auch war, weil einzig die Fürsorge für
die Kleinen ihrem Leben Sinn und Inhalt gab, spürte sehr oft eine
Wut und einen Haß gegen sie in sich, wenn ihr Mann nicht anwe
sendwar. Sie fing an, zu befürchten, daß sie in einem unbewachten
und unbedachten Augenblick den eigenen Kindern etwas Böses
antun könnte. Sie traute sich nicht mehr, mit ihnen ohne die Anwe
senheit eines anderen Erwachsenen allein zu sein. Ihre aggressiven
Impulse bewiesen ihr unzweideutig, daß sie namenlos schlecht, daß
sie ein Unmensch sei. Ihr Bösesein wurde ihr immer mehr zur
Gewißheit.
In Wirklichkeit wagte sie es nicht, sich einzugestehen, daß ihr
Haß und ihre Feindschaft sich gegen ihren Mann richteten, wenn
er wieder einmal kaltherzig-rücksichtslos und ohne Interesse an ihr
seiner Wege gegangen war. Jede entsprechende Andeutung ihres
Arztes rief sofort den allerstärksten Widerstand von ihrer
Seite hervor, der bis zur Androhung des Verlassens der thera
peutischen Sitzung ging, falls das Thema nicht sofort verlassen
würde.
Die in dieser weit überdurchschnittlich intelligenten, künstle
risch ausgesprochen begabten Patientin durch ihre Erziehung un
verrückbar eingeprägte Überzeugung von der absoluten Überle
genheit des Mannes über die Frau zwang sie dazu, ihre durchaus
verständlichen, weil berechtigten Feind- und Haßgefühle gegen
ihren Gatten zu verdrängen. Sich ihre negativen Gefühle gegen ih
ren Mann zum Bewußtsein kommen zu lassen, hätte für sie eine
Verschlimmerung ihres schlechten Gewissens und damit eine Ver
mehrung ihrer Konflikte bedeutet. Sah sie doch sein Benehmen als
vollauf verständlich und berechtigt an, weil er alle Ursache hatte.

53
mit ihr unzufrieden zu sein, da sie als Folge ihres Ungewißseins sich
selbst ja auch für untüchtig, unfähig und unnütz hielt.
So mußte sie meinen, daß die ihr bewußt werdenden aggressi
ven Tendenzen sich gegen ihre geliebten Kinder richteten, was ihr
Anlaß zu allergrößtem Entsetzen über sich selbst gab. Hin und
wieder spürte sie auch den Drang, ihr ganz fremde Menschen, die
z.B. zufällig im Kino oder im Autobus neben ihr saßen, zu schla
gen. Auch das Auftauchen derartiger, durch nichts begründeter
feindlicher Impulse mußte ihr als ein Symptom eines beginnenden
Wahnsinns erscheinen.
Dann aber geschah etwas, was aus ihr, einem schwer kranken,
von seiner Angst gejagten und von seinem Schlechtsein überzeug
ten Menschen für Jahre eine zufriedene, ja glückliche Frau machte,
so daß sie ihr Leben in Frieden mit sich und den Ihren genießen
konnte.
Sie war mit einem Mann bekannt geworden, der sich in sie ver
liebte. Er hatte sich ihr dann mit unendlicher Zartheit, Güte und
einfühlendem Verständnis genähert und sich nach und nach diesen
einsamen, nach Liebe hungernden Menschen erobert. Er verlangte
niemals etwas von ihr, sondern zeigte ihr immer wieder, daß er sich
schon glücklich fühle, wenn sie für ihn Zeit habe und mit ihm
zusammen sein wollte.
Da sie sich sehr schnell darüber klargeworden war, daß es sich
bei ihm um einen warm fühlenden, weit überdurchschnittlich in
telligenten und kultivierten Mann handelte, so mußte seine Zunei
gung für sie ihr zum einwandfreien Beweis dafür werden, daß sie
doch - im Gegensatz zu allem, was sie infolge ihrer negativen
Erlebnisse in Kindheit, Jugend und Ehe ihr Leben lang in immer
steigendem Grade von sich geglaubt hatte - Wert, menschlichen
Wert, besitze. Die Tatsache seiner Liebe gab ihr das Gewißsein ih
rer selbst und ließ daher alle Symptome ihres Ungewißseins, vor
allem die Angst, das schlechte Gewissen und die feindlichen
Impulse gegen ihre Nächsten, die sie so sehr geplagt und gepeinigt
hatten, verschwinden.
Während langer und glücklicher Jahre berührten sie die unaus
gesetzten Klagen und Vorwürfe ihres neurotischen Mannes nicht
im geringsten. Sie erlebte tagtäglich glücklich ihr Leben als
Mensch, Frau und Mutter. Denn ihre Seele erhielt zum erstenmal
in ihrem Leben die Nahrung, die sie von jeher gebraucht hatte,
ohne ihrer bisher teilhaftig geworden zu sein.
Dann aber starb eines Tages, nachdem sie etwa fünf Jahre lang
gesund und zufrieden gelebt hatte, der einzige Mensch, an dem sie
ihr ganzes Leben lang gehangen hatte, ihre Mutter, innerhalb von
wenigen Tagen an einer nicht identifizierten Krankheit. Sie be
trachtete dieses Ereignis als ein Gottesurteil und eine Gottesstrafe
für ihr außereheliches Erleben und zog sich, voller Gewissensskru
pel von dem geliebten Mann zurück. Prompt begannen ihre Ängste
von neuem.

Die Lebensgeschichten dieser beiden Frauen beweisen, daß es


tatsächlich nichts anderes als das Vorhandensein oder Fehlen von
äffektiv-menschlicher Bindung an einen Mitmenschen ist, was über
seelische Gesundheit oder Krankheit entscheidet. Das „schlechte
Gewissen" dieser zwei Menschen, als sie sich keines Vergehens be
wußt waren, erschien als Folge ihres Ungewißseins. Ihr „gutes
Gewissen", als sie gegen die für sie maßgeblichen moralisch-reli
giösen Vorschriften handelten, war Ausdruck ihres menschlichen
Gewißseins.
Nach der Beendigung ihrer Liebesbeziehungen mußten beide
Frauen seelenärztliche Behandlung aufsuchen, weil ihre neuroti
schen Symptome sie nun - nach dem Erleben wirklichen Lebens -
in sehr verstärktem Maße marterten.

Verweichlichung und Ungewißsein

Eine Erziehung, in welcher der Sorge um das menschliche Wohl


des Heranwachsenden keine oder zu geringe Aufmerksamkeit ge
schenkt wird, kann man eine verhärtende Fürsorge nennen. Denn
sie schaltet das gefühlsmäßig Positive, wie Weichheit, Zärtlichkeit,
Herzlichkeit, weitestgehend aus dem Leben aus. Eine Erziehung
andererseits, welche das Kind dauernd und uneingeschränkt ver
wöhnt, kann man eine verweichlichende Fürsorge nennen. Auch
sie führt zum Ungewißsein des so Erzogenen.
Es geschieht das folgende: Der ängstlichen Besorgtheit der
Eltern erscheint alles, was sich außerhalb ihres Hauses ereignet, als
etwas ihrem Kind Feindliches und daher Gefahrdrohendes, dem es
ohne ihre Hilfe und ihren Schutz nicht gewachsen ist. Ihm werden
daher die Gefahren des Lebens übertrieben dargestellt. Es wird
ihm seine Schwäche immer wieder vor Augen geführt. Alles wird
ihm aus überschwenglicher Fürsorge abgenommen. Jede Schwie
rigkeit wird ihm aus dem Wege geräumt, jedes Problem ihm ohne
das geringste Zutun seinerseits gelöst. Niemals wird ihm eine Auf
gabe gestellt, an der es sich selbst beweisen könnte. Daher gibt die

SS
verweichlichende Fürsorge dem Erzogenen kaum jemals die Mög
lichkeit noch die Gelegenheit, seine Eigenkräfte zu üben oder zu
erproben und so aus seiner natürlichen Unsicherheit dem noch
Unbekannten gegenüber den normalen Weg zum Sich-seiner-Exi-
stenz-sicher-Sein vermittels eines persönlichen Kennenlernens
und einer individuellen Erfahrung des Lebens zu finden.
A u f d e m G e b i e t d e s A ff e k t i v e n l e r n t e i n s o l c h e s K i n d z w a r
seelisches Erleben im Elternhaus kennen. Da es sich aber nicht um
ein liebendes Mitleben der Erzieher mit ihrem Pflegebefohlenen
handelt, sondern vielmehr ein liebendes Mitleiden ob seiner
Schwäche vorliegt, so vermag diese Art der Zuneigung, die jeden
Wünsch des Kindes, kaum ausgesprochen, schon erfüllt, niemals
Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen zu erzeugen.
Hier ist es dann der Zweifel, das Mißtrauen am menschlichen
Eigenkönnen, das niemals im Zusammensein mit anderen erprobt
wurde und daher das Ungewißsein gebiert und wachsen läßt. Eine
durch eine solche Verziehung tief eingewurzelte negative Ein
stellung zu sich selbst und seinen menschlichen Fähigkeiten wird
immer die größten Hemmungen zu überwinden haben, um den
Mut zu einer Initiative aufzubringen, die zu einem eigenen, selb
ständigen Erleben außerhalb des Elternhauses nötig ist.
^ Obwohl diese Art der Fürsorge einer ausgesprochen großen, ja
\ übernormalen Liebe der Eltern zu ihrem Kinde zu entsprechen
scheint, handelt es sich in Wahrheit um eine neurotische Haltung.
Das Benehmen der Erzieher dem Kind gegenüber ist der Ausdruck
ihrer eigennützigen Eigenliebe, die stets voller Furcht vor der
Gefahr des möglichen Verlustes des Besitzes zittert.
Es ist eine Liebe, die ihre Befriedigung und ihren Stolz darin fin
det, dem Geliebten jede Mühe, jede Anstrengung abzunehmen
und jedes Problem für ihn zu lösen. Und es ist gleichzeitig die
Liebe, die sich in ihrer eigenen Tüchtigkeit, Kraft, Energie, Ent
schlußfreudigkeit und Zielstrebigkeit sonnt. Sie wird sich nicht klar
darüber, daß das Geliebte kein Objekt ist, das man pflegt und hegt,
um sich an ihm zu freuen, sondern ein lebendiges Subjekt, das wie
eine Pflanze in verweichlichender Treibhausluft erkrankt und da
hinsiechen muß, weil es sich auf diese Art nicht normal, ent
sprechend den eigenständigen Naturbedingungen seines Seins, zu
entwickeln vermag.
Fordernde Liebe und Ungewißsein

Noch tragischere Folgen hat es, wenn der unersättliche Ehrgeiz der
Selbstliebe der Eltern ihr Kind zu einem Wunderkind machen
möchte und daher als Dank für alle erwiesenen Guttaten von ihm
immer mehr verlangt, als es zu geben vermag.
Eine solche fordernde Liebe vergewaltigt nur allzuoft den jun
gen Menschen. Sie ist eine nehmen wollende Liebe, die gibt, um
zu erhalten. Es ist eine besitzen wollende Liebe, die nichts von
dem, was sie hat, hergeben will. Ein solcher Erzieher betrachtet,
meist ganz unbewußt, den jungen Menschen als sein Eigentum. Er
steht ihm wie einer Sache gegenüber, die ihm uneingeschränkt ge
hört und ihm daher stets zur Verfügung zu stehen hat.
Seine Einstellung, die nur allzu häufig auch dem Kind gegenüber
geäußert wird, ist etwa folgende: Ich opfere mich für dich und dein
Wohlergehen auf. Ich arbeite Tag und Nacht, nur um dir dein
Leben so angenehm und schön wie nur möglich zu gestalten. Dafür
bist du mir zu unendlichem Dank verpflichtet, der sich in unbe
grenztem Gehorsam und bedingungsloser Unterordnung unter
alle meine Befehle und Anordnungen auszudrücken hat. Wenn du
mir in allem zu Willen bist, so wird das ausschließlich zu deinem
Besten sein! Denn ich habe im Gegensatz zu dir bereits eine ausge
dehnte Lebenserfahrung, während du ein dummes, unerfahrenes
Kind bist, das alles falsch und schlecht macht und sich daher glück
lich schätzen kann und muß, einen solchen Führer und Fürsorger
zu besitzen.
Als Folge einer solchen Haltung des Erziehers zu seiner Auf
gabe wird jeder Eigenwille des Kindes im Keim erstickt, jeder
Widerstand sofort gebrochen, ja sogar jedes eigene Denken unter
sagt. Jedes Nein, jede Versagung und auch schon das geringste
nicht sofortige Bereitsein wird als eine Lieblosigkeit und Undank
barkeit angesehen und als Egoismus gebrandmarkt, für den das
Kind dann auf das heftigste getadelt bzw. bestraft wird.
Bei dieser Art des Vorgehens der Eltern kommt der Heran
wachsende zu der immer stärkeren Überzeugung von seinem
Schlechtsein. Das sich auf diese Weise bildende Gefühl des Unzu
reichend- und Ungenügendseins erzeugt unvermeidlich ein ständi
ges Anwachsen des kindlichen Ungewißseins und Unsicherseins.
Die Mutter eines elfjährigen Jungen berichtet: „Mein Sohn ist
seit mehr als drei Wochen schlaflos. Er hat Furcht vor den schriftli
chen Klassenarbeiten. Wir lieben unser einziges Kind sehr und
verwöhnen es, wo und wann wir können. Trotzdem sagte es neulich

S7
zu mir: ,Ich habe Furcht, daß der Papa mich ausschilt und schlägt,
wenn ich schlechte Zeugnisse bringe. Mein Mann hat sehr häufig
eine überhebliche, ironische, ja sogar manchmal harte Art, mit
dem Jungen zu sprechen.''
Die erste Unterhaltung mit dem Kind ergab, daß seine Eltern
ihm schon wiederholt gesagt hatten: „Wenn deine Noten sich nicht
bessern, werden wir dich in ein Internat schicken!" Während ein
solcher Satz für die Eltern nicht mehr bedeutete als die Androhung
einer von vielen Bestrafungsmöglichkeiten, war es für diesen Jun
gen die Ankündigung eines Liebesverlustes, der seine arme
kleine Seele dem Hungertod auszusetzen drohte. Den Eltern
wurde diese Beziehung zwischen ihrem Verhalten und der Reak
tion ihres Sohnes darauf in einer eingehenden Aussprache mit dem
Arzt geklärt.
Als am nächsten Tag der Vater anrief, um den Arzt zu fragen,
wie er sich verhalten solle, da das Kind wieder eine sehr schlechte
Note bekommen habe, wurde ihm geraten, seip Kind auf den
Schoß zu nehmen, mit ihm verständnisvoll-herzlich zu sprechen
und es so von seiner Furcht zu befreien, die Liebe der Eltern zu
verlieren. Der Vater verhielt sich entsprechend, und das intelli
gente Kind, das, ehrgeizig wie der Vater, sich nun ganz auf seine
Arbeit konzentrieren konnte, gehörte bald wieder zu den Ersten
in seiner Klasse.
Dreizehn Monate später wird der nun zwölfjährige Junge mit
einem Rückfall gebracht. Er sei seit einem Monat sehr nervös,
weine viel, leide wieder an Schlaflosigkeit, studiere unausgesetzt
und werde immer schlechter in der Schule. Zu Hause sei alles ner
vös: Vater und Mutter und Sohn! Das Kind antwortet auf eine ent
sprechende Frage des Arztes: „Ich fürchte, daß ich in der Klasse
immer weiter von den obersten Plätzen herunterkomme, und
zweitens, daß meine Eltern traurig sein werden, so ein schlechtes
Kind zu haben. Mein Vater wünscht sich einen fleißigen, erfolgrei
chen Sohn, und meine Mutter macht sich schon wegen meiner
schlechten Noten solche Sorgen, daß sie dauernd Kopfschmerzen
hat."
Es stellte sich schnell heraus, daß die ehrgeizigen Eltern wieder
angefangen hatten, ihren einzigen Sohn zu bedrohen. Der Vater
forderte unter ständig erneuter Berufung auf die Verpflichtung des
Jungen, den Eltern als Gegenleistung für ihre Liebe und Güte in
jeder Beziehung unbedingt und widerspruchslos gehorsam zu sein,
immer mehr Lerneifer und Zeitaufwendung für die Schularbeiten,
um dann stets mit den ausgesprochen guten Noten unzufrieden zu

SR
sein. Um ihre Verbesserung zu erreichen, wurde alles, was nicht
zum Studium gehörte, als unnütz und überflüssig erklärt, und
eventuelle Spielgefährten wurden als schlechte Gesellschaft be
zeichnet. Die Mutter ihrerseits sah, als Folge ihrer furchtvollen
Sorge um ihren Einzigen, jeden Sport und jedes Spiel als eine
Gefahr an, vor der sie ihren Sohn durch entsprechende Verbote
schützen wollte. Das Kind selbst sagt, daß es ein eintöniges Leben
führe, in dem von ihm nichts weiter als Zu-Hause-Sitzen und
Arbeiten verlangt würde, während seine Kameraden sich auf der
Straße träfen und spielten: „Ich kann mich nicht konzentrieren",
sagt es. „Ich denke an Radfahren, Fußball-Spielen und an alles,
was ich mir sonst wünsche und was ich nicht tun darf."
Die Unzufriedenheit des Jungen mit seinem Leben äußerte sich
der geliebten Mutter gegenüber - den Vater fürchtete er zu sehr -
in Widerspruchsgeist, Unbotmäßigkeiten und Versuchen, seinen
Willen, selbst wenn er sich im Unrecht wußte, durchzusetzen. Sein
Verhalten war ihm selbst sehr oft unverständlich und löste starke
Schuldgefühle aus, wenn er die Mutter zum Weinen gebracht hatte.
Sein Ungewißsein in bezug auf seine menschlichen Qualitäten
ließ ihn fest daran glauben, daß die Güte seiner Eltern ihm gegen
über ausschließlich von der Qualität seiner Schularbeiten abhinge.
Die dauernd über ihm schwebende Drohung, eines Tages aus dem
Hause fortgejagt zu werden, wenn sein Vater auch weiterhin mit
seinen Noten unzufrieden sein würde, ließ ihn Tag und Nacht nicht
zur Ruhe kommen. „Es geht mir immerzu im Kopf herum! "sagte er.
Nur selten ist in diesen Fällen, in welchen fordernde Liebe als
Ursache der Neuroseentstehung wirksam wurde, eine Umstellung
des Fordernden zu erzielen. Eine Behandlung, die erfolgreich sein
will, setzt aber natürlich eine Ausschaltung des leidenerregenden
Faktors voraus, was meist in diesem jugendlichen Alter unmöglich
7u erreichen ist.

Fördernde Liebe

Stellen wir nun der fordernden Liebe die fördernde, der eigennüt
zig nehmen wollenden die uneigennützig geben wollende Fürsorge
der Eltern gegenüber: Während das Resultat der ersteren Klein
mut, d.h. fehlender Mut zum Erleben der Gefühle, die das Leben
erst lebenswert machen, ist, läßt die letztere Großmut heranreifen,
d.h. bringt großen Mut zum Leben hervor.

SQ
Während die erstere den jungen Menschen nach ihrem Willen
und zu ihren Zwecken formen will, verlangt die letztere nichts!
Aus liebevollem Einfühlungsvermögen und daraus erwachsendem
Verständnis für die jeweiligen Notwendigkeiten und Bedürfnisse
des Kindes und Jugendlichen, das bei allen besprochenen Arten
der Erziehung fehlt, tut sie alles, um der in jedem Menschen von
Anfang an vorhandenen Lebensenergie alle Bedingungen zu
schaffen und alle Wege zu öffnen, die zu einem von den Eltern un
abhängigen Leben der Weite, des Wachsens, Blühens und Rei
fens in Freiheit und Freude führen.
Denn die fördernde Liebe freut sich mit dem Kind an dessen
normaler und gesunder Entwicklung und findet ihre Befriedigung
im Helfen zu seinem Glück. So erzeugt sie eine Atmosphäre, in der
die junge Pflanze weder in der Kälte der Lieblosigkeit erfriert noch
in der Hitze der Verzärtelung verkümmert. Sie mutet dem Kinde
auch nur das zu, was es gerade entsprechend seinem Alter und
seinen Fähigkeiten zu vollbringen vermag.
Sie schafft ihm die Wärme des Heims, in der sich der junge
Mensch geborgen fühlt und daher mit dem Bewußtsein seines
Eigenwertes heranwächst.
Die Lebenserfahrung also, der das Kind aufgrund der Art der
ihm zuteil werdenden menschlichen Fürsorge seiner Erzieher aus
gesetzt wird, ist entscheidend für die Entstehung oder das Fehlen
von Selbstwertgefühl, Gewißsein und damit Selbstbewußtsein und
Selbstvertrauen.

Unwertgefühl und Schuldbewußtsein

Das Ungewißsein wird als Unwertgefühl erlebt. Es beruht nicht wie


das Minderwertigkeitsgefühl auf einer Minderbewertung der eige
nen existentiellen Fähigkeiten im Vergleich mit denen der ande
ren, sondern auf einer Unterwertung, Unterschätzung der eige
nen m ens c hli c h e n Q u a l i t ä t e n .
Die Überzeugung von ihrem Unwert als Menschen ist im
Bewußtsein so überwertig herrschend, daß sie gegenüber dem lo
gischen Denken, das die Tatsachen der Realität als für die Beur
teilung maßgebend in Betracht zieht, die Oberhand behält. Auf
diese Weise kommt es zu der für den Neurotiker so typischen Ver
fälschung der Wirklichkeit.
Macht man einen solchen Menschen darauf aufmerksam, daß er

60
doch allgemein beliebt ist, daß sich eine Menge Menschen stets
freuen, mit ihm Zusammensein zu können, daß daher seine Einstel
lung, daß er als Mensch nichts tauge, nicht richtig sein kann, so hört
man immer wieder die Entgegnung: „Wenn ich es ruhig, kalt-lo
gisch überdenke, dann weiß ich, daß es nicht so ist, aber trotzdem
fühle ich es immer so!"
All ihr Handeln erscheint diesen Neurotikern ebenso schlecht zu
sein wie ihr Nichthandeln. Daher wird ihnen jede Aktivität und
jede Passivität zur Veranlassung, sich selbst zu kritisieren, anzu
klagen und zu verurteilen. Ordnen sie sich den Forderungen ihres
Gewissens unter als einer autoritären Macht, der sie Gehorsam
schulden und der sie sich nicht zu widersetzen wagen, so sind sie
unzufrieden mit sich, weil sie nicht Herr ihrer selbst sind. Gehor
chen sie dagegen den Forderungen ihrer natürlichen Wünsche und
Gefühle, so kommen sie sich erniedrigt, degradiert vor und miß
achten sich selbst, weil sie sich von ihren Trieben haben beherr
schen lassen.
Jedes Geschehen und jede Erfahrung wird ihnen zu etwas, was
ihnen wider-fährt. Es steigert ihr Unwertgefühl und läßt sie sich
selbst mehr und mehr als ohne menschliche Würde erachten. Weil
ihr Fühlen und Denken, das auf der Basis des Mißtrauens gegen
sich selbst erwächst, immer von einem negativen Vorurteil über
sich selbst ausgeht, werden diese Menschen unaufhaltsam in Rich
tung auf ein unnatürliches Dasein gestoßen.
Ihr Ungewißsein läßt sie nicht den Mut finden, irgendwelche
Schritte zu unternehmen, um zu einer menschlichen Bindung zu
gelangen. Als Folge davon fühlen sie sich aus jeglicher menschli
chen Gemeinschaft ausgeschlossen, ja ausgestoßen wie ein Ver
brecher und meinen, daß auch bei ihnen wie bei jenem irgendeine
Schuld vorliegen müsse, welche die Ursache für ihr Verworfensein
von den anderen darstelle. Sie sind sich keiner Schuld aus schuld
haftem Vergehen bewußt, fühlen sich aber trotzdem dauernd
schuldig.
Gequält von ihren Schuldgefühlen wegen ihrer Meinung nach
versäumter Pflicht oder getanem Unrecht, existieren sie, als Folge
ihres Mißtrauens an ihrem menschlichen Wert, in einem Dauer
zweifel an sich, der in Verzweiflung ausarten kann. Durch immer
vermehrte Pflichterfüllung, die sich dann oft als Perfektionismus
manifestiert, sucht eine große Anzahl dieser seelisch Gleichge
wichtsgestörten ihre Selbstanklagen zu beruhigen. Alle derartigen
Bemühungen aber, eine Minderung des Schuldbewußtseins zu er
zielen, sind zum Scheitern verurteilt. Sie können keinen Erfolg

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zeitigen, solange das Ungewißsein als die alle Symptome auslö
sende Ursache weiterbesteht.
Ein dreißigjähriger, unverheirateter Diplomkaufmann kommt
wegen Depressionen, Schlaf- und Appetitlosigkeit zur Behand
lung. Sein schlimmstes Leiden sei, daß er sich seit einiger Zeit nicht
mehr oder nur unter großen Anstrengungen auf seine verantwor
tungsvolle Arbeit konzentrieren könne. Er kehre sehr oft voll
schlechter Laune nach Hause zurück und sei dauernd mit sich und
seinem Leben unzufrieden.
Er trinke ab und zu Alkohol in mäßigen Mengen, fühle sich aber
hinterher stets moralisch und körperlich schlecht. Denn der Alko
holgenuß sei ihm ein Beweis seiner Unfähigkeit, sich zu beherr
schen, was er mit Willensschwäche identifiziert. Dann überkämen
ihn Gedanken seines Unwertes, und er fühle sich schuldig.
In dieser Stimmung findet er eine Menge von Gründen, um sich
selbst anzuklagen: „Lieh vernachlässige mich. Längst hätte ich
mir wieder eine Blutprobe wegen meines Diabetes nehmen lassen
müssen. - 2. Ich nütze meine Freizeit nicht genügend aus, z. B. lese
ich viel zuwenig.- 3.Ich befolge nicht die mir vorgeschriebene
Diät. - 4. Ich halte nicht meine Versprechungen, z. B. meine Mut
ter zu Einkäufen zu begleiten. Ich bin also unzuverlässig. - 5. Ich
treibe keinerlei Sport, was ich im Interesse meiner Gesundheit tun
müßte."
In einer späteren Phase der Behandlung knüpfte er, zum ersten
mal in seinem Leben, eine freundschaftliche Beziehung zu einem
jungen Mädchen an. Er wagte es aber nicht, irgendeine Initiative
zu einem körperlichen Kontakt zu ergreifen. Über seine Inaktivität
dachte er folgendes: „Ich kann mir nicht erklären, was das ist, was
in mir vorgeht. Ich bin aber in jedem Fall ein Idiot, ein ganz blöder
Kerl. Ich bin weder sexuell noch affektiv noch intellektuell etwas
wert."
Alle Selbstvorwürfe und Selbstverurteilungen entbehrten in der
Wirklichkeit der Berechtigung. Er war durchaus kein Schwächling,
sondern besaß in ausgesprochenem Maße Willen und Energie. Er
hatte zielbewußt studiert und sich dann, mit weit überdurch
schnittlichem Verantwortungs- und Pflichtbewußtsein, schon in
jungen Jahren einen hohen und gut bezahlten Posten in einem gro
ßen Unternehmen erobert, den er zur vollsten Zufriedenheit seiner
Vorgesetzten ausfüllte. Im Privatleben war er ein wirklich guter
Sohn, der nicht nur seine Mutter voll und ganz unterhielt, sondern
auch immer um sie besorgt war.
Wirkliche Ursache seiner ihn fast stets plagenden Selbstankla-
gen war sein Ungewißsein in bezug auf seinen menschlichen Wert,
das aufgrund der häuslichen Verhältnisse entstanden war: bei sei
nen Eltern hatte er weder jemals menschliches Verständnis gefun
den noch von ihnen eine Befriedigung seiner seelischen Notwen
digkeiten erfahren. Trotz des täglichen engen Zusammenseins mit
seiner Mutter spricht er mit ihr niemals über irgendwelche persön
lichen Probleme. Er hatte niemals in seinem Leben sexuelle Bezie
hungen gehabt, und sein gesellschaftlicher Verkehr beschränkte
sich auf einige seiner allernächsten Verwandten. Er ist ein ausge
sprochen einsamer Mensch, voller Mißtrauen, ja zeitweilig voller
feindseliger Gefühle gegen sich selbst und alle andern.
Dieser Patient ließ in seinem Bewußtsein seinen Ziel- und
Erfolgswillen sowie seine außergewöhnliche Zuverlässigkeit im
Beruf ebensowenig als Wirklichkeitstatsache gegenüber seinen
Selbstvorwürfen gelten wie seine tagtäglich bewiesene Vertrau
enswürdigkeit im Privatleben. Daher waren seine Schuldgefühle
zeitweise so stark, daß sie zu Selbsthaß mit Gedanken an Selbst
mord führten.

Wer bin ich?

Die Mehrzahl der Gefühle und Gedanken, über die bisher gespro
chen worden ist, dürfte dem Leser ohne Schwierigkeiten nachfühl
bar sein. Denn es gibt wohl niemanden, der sie nicht in seinem
eigenen Dasein zumindest vorübergehend in irgendeiner Form und
Stärke kennengelernt hätte. Aber die Frage, des „Wer bin ich?",
die an den Arzt gestellt wird, ist den Menschen in ihrer täglichen
Existenz wesentlich unvertraut und daher unverständlich. Sie müs
sen sich sagen, daß doch jedes Individuum ohne weiteres in der
Lage ist, sich über sein „Wer bin ich?" zu orientieren. Das Problem
des „Wer bin ich?" ist ein Symptom der Desintegration, des Auf
gehobenseins der Einheit der Person, des Vorhandenseins eines
Doppel-Ichs.
Was hört man vom Leidenden? Ein verheirateter Angstneuroti-
ker drückt die Gefühle, die ihn quälen, folgendermaßen aus:
„Wenn ich allein bin, dann fühle ich mich so, als ob ich mich selbst
nicht kennen würde!" - Ein anderer sagt: „Ich fühle mich ganz
sonderbar. Es ist mir so, als ob ich auf der Straße nicht deutlich se
hen kann. Alles ist wie verschwommen. Ich weiß nicht, wer ich bin.
Es ist mir so, als ob ich plötzlich jede Orientierungsmöglichkeit

63
verloren hätte und daher nicht weiß, wo ich bin." - Und ein drittes
Beispiel: Ein junger, hochintelligenter Rechtsanwalt, der wegen
schwerster Angstzustände in Behandlung gekommen war, äußert:
„Ich bin nicht ich!" Plötzlich fährt er dann fort, von sich selbst in
der dritten Person zu sprechen: „Er ist völlig verwirrt, gänzlich
durcheinander. Es bleibt ihm nur übrig, sich eine Kugel durch den
Kopf zu schießen. Für ihn gibt es keine Hilfe mehr!" Dann fügt er
hinzu: „Das wahre Ich ist die dritte Person". - Er unterscheidet
in sich drei Personen: l.den Neurotiker, der beobachtet wird;
2. denjenigen, der in ihm urteilt, und 3. den Gesunden, den er nicht
kennt.
Aus diesen Aussprüchen geht hervor, daß die Menschen, die die
Fragen des „Wer bin ich?" oder sogar auch die des „Wo bin ich?"
an ihren Seelenarzt richten, desorientiert sind, sowohl über sich
selbst als auch über ihr Verhältnis zu ihrer Umgebung.
Was ist den Menschen geschehen, die die Frage des „Wer bin
ich?" stellen? Durch welche Umstände sind sie in einen Zustand
geraten, der sie sich selbst entfremdet und ihnen ihre Existenz so
völlig unverständlich macht?
Die praktische Erfahrung, die man bei der Behandlung speziell
der Angstkranken gewinnt, zeigt hauptsächlich immer wieder drei
Wege, die von den seelisch Gleichgewichtsgestörten beschritten
werden, um der Folgen ihres Ungewißseins Herr zu werden und
sich nicht andauernd in spannungsvoller Lebensunruhe und
furchtvollem Existenzunsichersein zu fühlen, Wege, an deren Ende
aber nur allzu häufig statt des erhofften beruhigenden und Ent
spannung mit sich bringenden Sicherheitsgefühls das Gespenst
der Angst auf den Ankömmling lauert.
Es muß betont werden, daß die zu schildernden drei Entwick
lungen zur Angstneurose hin in der Wirklichkeit niemals so rein
getrennt in die Erscheinung treten, wie sie der Übersichtlichkeit
wegen hier dargestellt werden, sondern daß fast immer eine
Mischung dieser verschiedenen Verhaltensweisen stattfindet. Was
aufgezeigt werden soll, sind die im einzelnen Fall das Krankheits
bild ausschlaggebend formenden und damit ihm seinen Stempel
aufdrückenden Reaktionsformen des Patienten seiner jeweiligen
Lebenssituation gegenüber.
1. Das Denken der hier zunächst zu besprechenden Art von
Kranken ist etwa das folgende: Ich habe Furcht vor all meinen
Gefühlen, die mich zu einem körperlichen oder seelischen Kontakt
mit meinen Mitmenschen zu veranlassen suchen. Denn sie haben
mir immer nur Enttäuschung, Schmerz und Leid verursacht. Je

64
mehr ich mich von ihnen, die an all meinem Unglück die Schuld
tragen, befreien kann, desto ruhiger, friedlicher und glücklicher
werde ich mein Leben verbringen können.
Als Folge dieser Einstellung ziehen sich solche Personen mehr
und mehr vom Zusammensein mit ihren Mitmenschen zurück. Vor
allem wagen sie es nicht, mit den gegengeschlechtlichen Andern ir
gendeine Art der Beziehung aufzunehmen und einzugehen, da sie
hier die Möglichkeit des Aufkommens nicht nur affektiver, son
dern auch schon sexueller Gefühle abschreckt.
Im folgenden Beispiel sollen zunächst nur die für diese Art von
Leidenden typischen Ursachen ihres Zurückziehens vom gesell
schaftlichen Verkehr sowie eine schon weit vorgeschrittene Ver
drängung sexueller und affektiver Gefühle aufgezeigt werden:
Eine Frau, die sehr jung und noch völlig ohne sexuelle Erfah
rung aus Konvenienzgründen einen älteren, sehr dominierenden
und eifersüchtigen Mann geheiratet hatte, der sie von Anfang an
in einem „goldenen Käfig" eingesperrt hielt, wurde etwa zwei
Jahre nach der Heirat in dem Augenblick ohnmächtig, in dem sie
mit ihrem Gatten auf einen großen Ball gehen wollte. Sie hatte sich
sehr darauf gefreut, weil sie dort einen Mann zu treffen hoffte, in
den sie sich verliebt hatte. Sie war verzweifelt, daß ihre Schwäche,
für welche die Ärzte keine körperliche Ursache finden konnten, es
ihr unmöglich gemacht hatte, den Geliebten zu treffen. Als sich
dann später Beschwerden von Seiten des Herzens einstellten, weil
die Frau ja an einer Not des seelischen Herzens litt, das niemals
seine Notwendigkeiten in der Ehe wenden konnte, hatten die
Ärzte eine Herzmuskelschwäche als die Ursache der damaligen
Ohnmacht angenommen. Damit wurde die Aufmerksamkeit der
Patientin in starkem Maße auf ihr Herz gelenkt und die Produktion
von weiteren Symptomen in diesem Körperbereich angeregt, ja
suggeriert.
Ihre Beschwerden ermöglichten es ihr, sich mehr und mehr von
jeglichem gesellschaftlichen Verkehr zurückzuziehen. Sie wurden
dann - natürlich unbewußt - produziert, wenn die Möglichkeit
einer sexuellen Versuchung ihr das Fernbleiben von einem Fest
oder Bankett - auf Bälle ging der Mann schon seiner Eifersucht
wegen nicht - ratsam erscheinen ließ. Sie dienten ihr auch dazu, die
sexuellen Beziehungen mit ihrem Mann auf ein Minimum zu be
schränken.
Als sie sich dem vom Herzspezialisten zugezogenen Psycho
therapeuten als dem ersten Menschen in ihrem ganzen Leben zu
ihrem eigenen äußersten Erstaunen schon in der ersten Unterhal-

65
tung eröffnete und ihr dabei die Zusammenhänge zwischen ihren
unbefriedigten sexuellen Wünschen und ihren Krankheitssympto
men zum erstenmal aufzudämmern anfingen, litt sie schon seit Jah
ren an Anfällen von Herzschmerzen. Man hatte ihr dagegen, weil
man sie als Attacken von Angina pectoris ansah, Morphium gege
ben, an das sie sich bereits so gewöhnt hatte, daß sofort ein Anfall
produziert wurde, wenn man es ihr verweigern wollte. Das Herz
tat ihr weh, weil sie um ihre Gefühle und damit um ihr Leben be
trogen worden war. Das Morphium gab ihr wenigstens ein vor
übergehendes Vergessen ihres Herzleidens, ihres Herzeleides.
In den folgenden zwei Fällen waren die sexuellen Gefühle völlig
verdrängt. Im ersten Fall finden wir als Motiv der Verdrängung die
Furcht vor dem durch die Gefühle Leidenmüssen, im zweiten das
Vermeidenwollen eines durch das Schuldbewußtsein ausgelösten
Leidens. Im ersten Fall kann man eine besitzen wollende, im zwei
ten eine beherrschen wollende Erziehung durch die betreffenden
Väter feststellen.
Eine verheiratete, kinderlose Frau von über vierzig Jahren, die
von ihrem Internisten zur psychischen Behandlung überwiesen
worden war, sagt: „Die Gefühle sind es, die mir alles Unglück ge
bracht haben. Sie waren sehr stark in mir und haben mich so über
mannt, daß ich Freiwild war. Wachs in den Händen andrer. Des
halb will ich keine Gefühle mehr haben. Sie verlangen noch
manchmal Eingang bei mir. Das merke ich, aber dann wird die Tür
geschlossen!"
Die Patientin ist in einer schwer neurotischen Umgebung groß
geworden. Sie war ein Einzelkind und verbrachte alle ihre Ferien
mit ihren Eltern in Nervensanatorien. Der Vater, ein erfolgreicher
Fabrikbesitzer, war stark depressiv und sehr autoritativ dominie
rend. Die Patientin mußte z. B. noch als Erwachsene immer auf die
Minute pünktlich zu den Mahlzeiten zu Hause sein. Die Tochter
wurde in jeder Beziehung sehr verwöhnt. Ihr wurde jeder Wunsch
erfüllt und jedes Problem gelöst, aber mit der Verpflichtung, den
Eltern durch gutes, einwandfreies Benehmen deren Güte zurück
zuzahlen.
Sie hatte sich stets in ihrer weiblichen Rolle unsicher gefühlt,
weil sie als Kind und als junges Mädchen immer zu dick gewesen
war, um sich für attraktiv halten zu können. Dazu kam, daß ihr ein
starker Zweifel an sich selbst dadurch verursacht worden war, daß
der Vater mit ihren überdurchschnittlichen Leistungen als Schüle
rin niemals zufrieden gewesen war. Eines Tages z. B., nachdem die
damals zwölfjährige Tochter ein ihn nicht befriedigendes Zeugnis

66
bekommen hatte, kehrte er nach Hause zurück und sagte, daß er,
von der Fabrik kommend, einen großen Umweg gemacht habe, um
nicht auf der Straße (in einer Großstadt) Freunden zu begegnen,
vor denen er sich schämen müsse, weil sein einziges Kind so versagt
habe.
Die sehr unselbständige Mutter vermehrte noch das Unsicher
sein ihres Kindes, da dieses angesichts der bedingungslosen
Unterordnung der Ehefrau unter den Willen ihres Mannes, daran
zu zweifeln begann, daß ein Mitglied des weiblichen Geschlechts
überhaupt zu Selbständigkeit kommen könne. Diese verheiratete
Frau litt an einer Platzangst, die sie schon seit ihrem fünfzehnten
Lebensjahr in wechselnder Stärke quälte.
Zu der übertriebenen und überfordernden Fürsorge des Vaters
kam eine Erziehung, in der das Sexuelle immer als etwas Verbote
nes, weil Böses, Schmutziges und Gefährliches dargestellt worden
war. Daher hatte die Patientin den sexuellen Anteil ihres Lebens
immer nur mit starken Hemmungen zu leben gewagt.
Das intelligente und humorvolle junge Mädchen war in Gesell
schaft sehr beliebt, hatte gute Freunde, fühlte sich wohl und genoß
sein sorgenlos-unbeschwertes Leben. Einen intelligenten, ge
wandten, selbstsicheren und energischen Mann, in den sie sich ver
liebt hatte und der sie gern heiraten wollte, ließ sie plötzlich im
Stich, ohne sich jemals in ihrem Leben klar darüber zu werden,
warum sie so gehandelt hatte. Sie verheiratete sich kurz darauf mit
einem gut aussehenden andren, den sie sehr bald nach Eingehen
der Ehe völlig beherrschte und nach ihrem Willen dirigieren
konnte.
Nach etwa fünfzehn Ehejahren, in denen sich niemals eine af-
fektiv-freundschaftliche Beziehung zu ihrem Mann angebahnt
hatte, trat in ihren Umgang eine Frau, der es gelang, die mensch
lich-frauliche Schwäche der Patientin ihren eigenen egoistischen
Zwecken dienstbar zu machen. Systematisch eroberte sich diese
zuerst die Zuneigung, ja Liebe dieses völlig einsamen Menschen.
Dann entfernte sie durch Lügen, Intrigen und später sogar durch
einfaches Verbot alle Menschen aus dem Umkreis der Kranken,
die dieser bis dahin auch nur das geringste bedeutet hatten. Die
durch die Machenschaften der „Freundin" erzwungene Isolierung
wurde der Patientin dann als der unwiderlegbare Beweis dafür
dargestellt, daß sich alle bisherigen Bekannten deshalb von ihr zu
rückgezogen hätten, weil sie davon überzeugt wären, daß ihr alle
menschlichen und weiblichen Qualitäten fehlten. Die so bewirkte
und erzielte völlige Entwertung und Mißachtung ihrer selbst

67
machte die Kranke zum willenlosen Sklaven in den Händen eines
zweck- und zielbewußten, kalt egoistisch-sadistischen und skru
pellosen Menschen.
Während sie weiter beruflich erfolgreich tätig sein konnte, da sie
in diesem Existenzbereich - fern von allem Menschlich Gefühls
mäßigen - durchaus imstande geblieben war, ihre Unabhängigkeit
zu wahren, hatte sie diese im Privatleben völlig verloren. Sie tat wie
eine Maschine nur das, was ihr von der „Freundin" befohlen oder
ihr bestenfalls erlaubt wurde. Sie unterdrückte, ja verdrängte das
eigene Ich und seine Wünsche. Sie hörte auf, selbst zu denken und
zu fühlen. Aus Furcht vor der Bestrafung für jeden Ungehorsam
suchte sie stets den Willen der anderen vorher zu erraten, um sich
ihr in allem Tun und Lassen unterzuordnen.
Als schwerste Angstzustände mit Halluzinationen, Verfol
gungsideen, Brechen, Appetit- und Schlaflosigkeit auftraten,
wurde ein Psychiater zu Rate gezogen, der die Diagnose auf Ver
folgungswahnsinn bzw. Schizophrenie stellte und eine Elektro
schockbehandlung vorschlug. Sie war aber wegen des hohen
Blutdrucks der Patientin und ihrer Herzmuskelschwäche vom be
handelnden Internisten als zu gefährlich abgelehnt worden.
Daraufhin wandte man sich um Hilfe an einen Psychotherapeu
ten, dem die Diagnose des Vorliegens einer Geisteskrankheit in
dem Augenblick weitgehend zweifelhaft wurde, als er in der ersten
Unterhaltung mit der Kranken hörte, daß sie ihr ausgezeichnet ge
hendes Geschäft nach wie vor ganz allein, völlig selbständig und
selbstverantwortlich für Ein- und Verkauf erfolgreich tagtäglich
leitete.
Zu dieser Zeit hatte sich die Patientin bereits ganz und gar vom
Umgang mit andren Menschen zurückgezogen, lehnte jeden ge
sellschaftlichen Kontakt ab und war daher menschlich gänzlich
vereinsamt. Sie klagte über eine sie fast ununterbrochen plagende
Angst. Sie sähe häufig Männer aus den Ecken des Zimmers auf sich
zukommen oder von außen an die Fenster ihrer ebenerdigen Woh
nung klopfen und Einlaß begehren. Dann verspräche sie denen, die
sie bedrängen, überfallen und berauben wollten, ein Geschenk, um
sie loszuwerden. Sie könne sie genau schildern, jeden einzelnen mit
seiner Häßlichkeit. Wenn ihr so etwas geschehe, habe sie schwerste
Angstanfälle. Ihre Angstkrisen entstanden auch, wenn in ihrer
Gegenwart von Sexuellem gesprochen oder unanständige Witze
erzählt wurden, wenn sie jungverheiratete, hübsche Frauen sah
oder wenn sie einen Mann erblickte, der ihr gefiel. Sie ließ sich aber
niemals zum Bewußtsein kommen, daß alle diese Erlebnisse ihre

68
Sexualität anrührten, sondern meinte z.B. in bezug auf attraktive
Männer, daß sie plötzlich von einem entsetzlichen Angstanfall
überrascht worden sei, als ein Mann in ihren Gesichtskreis trat, der
einen Schlips trug, der ihr gefiel.
Eines Tages merkte sie, daß sie alles, was links von ihr vorging,
nicht sehen konnte. Zwei Augenärzte stellten eine weitestgehende
Einschränkung des Gesichtskreises nach links fest, ohne irgend
eine diese Tatsache erklärende Ursache finden zu können. Der
Gesichtskreis der Patientin war durch die Verdrängung alles Sexu
ellen, das sie als etwas Böses betrachtete, als etwas Un-rechtes,
nicht Rechtes, also des Linken, eingeschränkt worden. Damit diese
Deutung nicht als reine Phantasie erscheint, muß hinzugefügt wer
den, daß ein Mensch, der sich im Traum nach links gehen sieht,
wohl stets einen Weg einschlagen will, den er mit seinen morali
schen Anschauungen nicht billigt, der für ihn daher ein un-rechter
Weg ist.
Die Desintegration der Kranken, ihre Ich-Spaltung, hatte im
Bereich des Gesichtssinns ihren adäquaten Ausdruck gefunden.
Da sie die normalen, natürlichen Gefühle ihres Ichs als etwas
Schlechtes für sich ansah, weil sie sie leiden machten, und als etwas
Böses, weil sie ihr Schuldbewußtsein verursachten, befand sie sich
in einer Entzweiung mit sich selbst. Der Doppelaspekt ihres
Daseins, ihre zweifache „Ansicht" hatten sich im Symptom des
Doppeltsehens ausgedrückt, d.h., sie hatte einzelne Menschen,
Tiere, Gegenstände so gesehen, als ob sie doppelt, zweifach vor
handenwären. Ihre seelische Gleichgewichtsstörung hatte ihr den
selben Effekt verursacht wie dem Betrunkenen, der infolge von
Alkoholvergiftung an einer körperlichen Gleichgewichtsstörung
leidet.
Eine verheiratete Frau von vierzig Jahren, Mutter von drei
Kindern, sagt: „Ich habe den Wunsch und gleichzeitig die Furcht,
Gefühle zu haben, weil ich mich dann schuldig fühle. Ich möchte,
daß sie existieren, aber ich möchte nichts davon wissen!" - „Wenn
ich positive Gefühle zu jemandem habe, bekomme ich Schuldge
fühle. Um nicht von ihnen gequält zu werden, verdränge ich meine
Gefühle. Ich erwarte, ja verlange vom anderen, daß er Gefühle für
mich hat, obwohl ich die meinen unterdrücke. Dabei ist das Son
derbare, daß es mich sehr belästigt, wenn der andere seine Gefühle
zu mir zeigt."
Ein Traum zeigt noch deutlicher, was in dieser Patientin vor
geht: „Ich befand mich mit einem Mann allein in einem Zimmer.
Er war sehr gut zu mir und hatte mich anscheinend lieb. Er gab mir

AQ
sogar einen Kuß. Ich weiß nicht, ob ich darauf reagierte. In jedem
Fall überfiel mich eine furchtbare Angst, und ich stieß ihn zurück.
In diesem Augenblick kam mein Vater die Treppe herauf. Ich
schlug auf den Mann ein und tötete ihn. Vater verschwand, und
niemals konnte ich mehr mit ihm sprechen. Ich sah mich dann in
einem Zimmer liegen, völlig eingeschlossen. Mein Mann kam
nicht, um mich zu besuchen, und es belastete mich furchtbar, daß
ich ihm nicht erklären konnte, was mir passiert war." - Sie fügt
dann noch hinzu: „Ich blieb ganz allein!" - „In dem Augenblick,
in dem der Mann mir den Kuß gab, stieß ich ihn zurück, weil mich
ein entsetzlicher Schreck in bezug auf das, was ich fühlte, über
kam."
Die nicht mehr zum Bewußtsein zugelassenen erotischen
Gefühle äußerten sich in diesem Fall in einem ab und zu auftreten
den Drang, exhibitionistische Akte zu begehen, z.B. die Röcke
hochheben zu wollen. Die unvermeidliche Folge solcher bewußt
werdenden Impulse hatte dann darin bestanden, daß die Patientin,
die schon stets ein aufs Äußerste eingeschränktes gesellschaftliches
Leben geführt hatte, nun es auch immer weniger wagte, ihr Haus
zu verlassen, weil sie mit der dauernden Besorgnis lebte, in einem
gegebenen Augenblick der Versuchung, sich vor fremden Men
schen auf offener Straße zu entblößen, nicht widerstehen zu kön
n e n .

Um die Desintegration dieser Patientin vor Augen zu führen,


sollen hier ihre Aufzeichnungen mitgeteilt werden, die sie ihrem
Arzt nach einer Unterhaltung über Gefühle brachte. Sie zeigen
deutlich das dauernde Hin-und-her-gerissen-Sein dieser Men
schen: „Wenn ich Gefühle habe, fühle ich mich schuldig. Wenn ich
keine Gefühle habe, fühle ich eine entsetzliche Leere in mir. Wenn
ich Gefühle habe, habe ich Furcht. Wenn ich keine Gefühle habe,
fühle ich mich unfähig zu allem und jedem. Wenn ich Gefühle
habe, wage ich nicht aus meinem Hause zu gehen. Wenn ich keine
Gefühle habe, fühle ich mich furchtbar einsam. Wenn ich Gefühle
habe, plagt mich andauernd der Gedanke, daß ich mich verborgen
halten muß. Wenn ich keine Gefühle habe, bin ich wie tot. Es ge
schieht nichts in meinem Leben."
Sie fügt dann ihrer Niederschrift eine ganze Anzahl von Nach
teilen hinzu, die ihr bei Vorhandensein von Gefühlen zu schaffen
machen: „Wenn ich Gefühle habe, besitze ich keinerlei Willen. Es
schwebt dann irgendwie eine Art Drohung über mir. Ich habe das
Gefühl, vor irgend etwas fliehen zu müssen. Ich habe ein mich be
lastendes Geheimnis. Ich kann nicht allein sein, und ich kann

70
gleichzeitig nicht unter Menschen sein. Ich fühle mich schlecht, und
ich fühle mich, als ob ich schlecht wäre!"
Bei der Verdrängung der Gefühle, die mit dem Bewußtsein des
Ohne-Gefühle-Seins gepaart ist, muß es unvermeidlich zu einer
Desorientierung und Persönlichkeitsspaltung kommen. Denn die
ins Bewußtsein aus der Tiefe vorstoßenden Sensationen kann der
betreffende Mensch nicht als die seinen anerkennen. Er empfindet
sie als etwas seinem Ich Fremdes. Es resultiert daraus für ihn der
Eindruck einer Zwiespaltung seines Ichs, die ihm völlig uneinsich
tig und damit unverstehbar sein muß. Sie kommt ihm als etwas un
heimlich Chaotisches zum Bewußtsein. Er ist desorientiert in bezug
auf seine eigene Realität. Er ist „verrückt" von der Wirklichkeit,
die er, ohne daß er sich Rechenschaft davon geben kann, ver
fälscht.

„Ich kenne mich nicht", sagt eine intelligente Frau, Mutter er


wachsener Kinder, die ihre Gefühle verdrängt hatte. „Ich möchte
z.B. etwas unternehmen, und ein Etwas in mir hindert mich daran.
Mit dem Bewußtwerden des Wunsches überkommt mich die
Furcht, das zu tun, was ich will. So will ich und will gleichzeitig
nicht!"
Hier bietet sich die Gelegenheit, zu beweisen, daß die so oft ge
hörte Behauptung von der Willensschwäche der Neurotiker ein
absoluter Irrtum ist. Eine sehr große Anzahl dieser Menschen be
weist das Vorhandensein ihres sogar überdurchschnittlich ausge
prägten Willens in ihrem erfolgreichen beruflichen Dasein. Im
Privatleben aber, wo es sich um das Erleben der Gefühle handelt,
vermögen sie ihren durchaus vorhandenen Willen nicht einzuset
zen, weil sie entweder nicht wissen, was sie sich wünschen, oder
das Ja-Sagen zu ihren Gefühlen so sehr fürchten, daß sie zu
keinem Entschluß zu kommen vermögen, dessen Durchfüh
rung ja erst dem Willen Gelegenheit zur Betätigung geben
könnte.
Unsere beiden geschilderten Patienten hatten aber nicht nur aus
Ungewißsein und seinen Folgen, dem Unwertgefühl und Schuld
bewußtsein, ihre körperlichen und seelischen Gefühle verdrängt,
sondern darüber hinaus auf ihr gesamtes Eigenleben verzichtet. Sie
versuchten, ohne sich eigene Gefühle, Gedanken, Meinungen,
Wünsche oder eigenen Willen zu gestatten, ganz und gar das Leben
im Sinne und gemäß dem Willen eines Dus zu leben, dem sie sich
willenlos untergeordnet hatten. Damit war eine noch viel weitge
hendere Zweiteilung der Persönlichkeit entstanden, weil in diesen
Fällen die Gem-ein-schaft mit dem Ich völlig verloreneeeaneen

71
war, so daß sich das Individuum gänzlich verloren vorkommen
mußte, da es sich selbst verloren hatte.
Nachdem wir uns bewußtgemacht haben, daß die Gefühle der
Desintegration und Desorientierung, von denen diese Menschen
geplagt werden, die Folge ihrer m/i^rmenschlichen Situation sind,
erscheint ihre vorher unverständliche Frage an sich selbst und an
ihren Arzt: „Wer bin ich?" völlig berechtigt.
Den widerstreitenden Gefühlen und Gedanken über sich selbst
gesellten sich bei unseren beiden Patientinnen zy^ischenmtnsoh-
liche hinzu, die in ihrer Gegensätzlichkeit den Sensationen der
Desorientierung und Desintegration immer neue Nahrung gaben:
Die erste Patientin war schon in ihrer Jugend mit ihrem Vater,
den sie sehr liebte, gleichzeitig sehr unzufrieden gewesen, da er im
mer etwas an ihr zu tadeln fand und ihr immer seinen Willen aufzu
zwingen suchte. Ihre feindlichen Gefühle gegen seine Bevormun
dung hatten sich z.B. manifestiert, als sie im Alter von sechzehn
Jahren einmal drei Tage lang aus dem Elternhaus verschwunden
war. Sie hatte sich in einem Hotel einquartiert, nur um dem Vater
zu beweisen, daß auch sie ihren eigenen Willen habe. Ihre Hand
lungsweise war ihr damals genauso unverständlich gewesen wie
später, als sie ohne jeden offensichtlichen Grund den geliebten
Mann, mit dem sie schon verlobt war, von einem Tag auf den ande
ren aufgab. Die ihr unbewußte Triebfeder für ihr Handeln war ihre
Besorgnis gewesen, von diesem Mann ebenso unterjocht zu wer
d e n w i e s i e u n d i h r e M u t t e r v o m Va t e r.
Als sie dann verheiratet war, entlud sich ihre Unzufriedenheit
mit sich selbst, d.h. ihr innerer Unfrieden, in Beschimpfungen, ja
sogar in Schlägen gegen ihren Ehemann, der ihr niemals etwas
Böses getan hatte. Er sah in ihr, die wesentlich intelligenter war als
er, etwas Höheres und ordnete sich ihr willig unter. Da sie immer
eine plausible Erklärung für ihre Aggressionen gegen ihn fand, so
erschien ihr sellbst ihr Benehmen als etwas durchaus Verständli
ches und Berechtigtes. Andererseits - und hier wird wieder das
Zwiespältige in ihr offensichtlich - zitterte sie um diesen ihren
Mann, wenn er z.B. nicht rechtzeitig nach Hause kam. Als sie auf
diesen Widerspruch zu sprechen kam, sagte sie, daß sie ihn nun
einmal nicht leiden könne und nicht verstehe, warum sie sich trotz
dem um ihn sorge. Glaubte sie wahrzunehmen, daß er Interesse an
einem Geschlechtsverkehr haben könne, oder gefiel er ihr plötzlich
so, daß in ihr sexuelle Gefühle wach zu werden drohten, so erfand
sie schleunigst irgendeinen Vorwand, um einen Streit vom Zaune
brechen zu können, womit dann die „Gefahr" gebannt war.

1 1
Im zweiten Fall waren die Schuldgefühle der Patientin die Ursa
che für die Verdrängung ihrer Gefühle und die infolgedessen völlig
zwiespältige Haltung zu ihrer Umgebung. In der Kindheit hatte sie,
die im Gegensatz zur ersten ohne die Liebe ihres unzufriedenen,
immer zanksüchtigen Vaters aufwuchs, bereits eine ablehnende,
furchtvolle Einstellung vor allen Gefühlen zwischen Menschen be
kommen, da sie selbst nur negative vom Vater und zwischen den
Eltern erlebte.
Während ihres einige Jahre dauernden Aufenthaltes in einer
Klosterschule formte sich ebensowenig irgendwelche menschliche
Beziehung zwischen ihr und einer der Nonnen. Dagegen wurde
dort jedes natürliche Gefühl den Mädchen als Ausdruck ihres
Schlechtseins ausgelegt. Ja, selbst die Tatsache, einen Körper zu
haben, wurde ihnen bereits als etwas Böses dargestellt. Nacktheit
war daher auch schon Sünde. Die Kinder mußten sich ihren Körper
waschen, ohne ihr Hemd abzulegen, um so zu verhindern, daß sie
sich selbst oder andere sie unbekleidet sähen.
Als sie dann später merkte, daß ihr Vater, der aufs allerstrengste
die Moral seiner Töchter bewachte, ein außereheliches Verhältnis
hatte, wurden für sie alle Gefühle zum anderen Geschlecht mit
schlechtem Gewissen und Schuldgefühlen identisch, so daß sie sie
immer mehr aus ihrem Leben auszuschalten versuchte.
Da sie es weder dem schroffen Vater noch den Nonnen, noch
später dem Ehemann recht machen konnte, so fühlte sie sich fast
immer schuldig, ohne daß sie ein Versehen oder gar Vergehen ih
rerseits entdecken konnte. Sie kam zu der Überzeugung, daß sie
eben schon so verworfen und schlecht sein müsse, daß sie bereits
gar nicht mehr zu unterscheiden wisse, was böse und gut, recht und
unrecht sei.
Sie wünschte sich, zu lieben und geliebt zu werden. Ihre Unwert-
und Schuldgefühle aber ließen sie zu keinem menschlichen Kon
takt gelangen, ja ihre Furcht vor den Gefühlen hatte sie schon fast
völlig andern Menschen entfremdet. Wenn diese sich dann nicht so
um sie kümmerten, wie sie es sich wünschte, wurden Haßgefühle
in ihr wach.
Auch hier also, bei den zwischenmenschlichen Beziehungen,
scheinen zwei ganz verschiedene Arten des Ichs, ein liebendes und
ein hassendes, in einer einzigen Person nebeneinander oder, richti
ger gesagt, gegeneinander zu bestehen. Im Leidenden existiert da
her ein Dauerempfinden, daß ein völlig Fremdes, Unbekanntes,
Unheimliches und deshalb Gefahrdrohendes in ihm wirkt, das in
jedem Augenblick die Herrschaft über sein wahres Ich an sich rei-

7 ^
ßen könnte, so daß es dann feindliche Akte zu tun imstande wäre,
die seinem wahren Wünschen und Wollen, den Gefühlen und dem
Denken seiner bewußten Persönlichkeit diametral entgegengesetzt
sind. Da der Leidende natürlich nicht in der Lage ist, sich dieses
unheimliche Doppelverhältnis zu seiner Umwelt zu erklären, in
dem er sich über seine Ursachen Rechenschaft gibt, so ist das
Resultat dieser seiner Situation die an sich selbst und den Arzt ge
stellte Frage: „Wo bin ich?"
Um von dem entsetzlichen Verwirrtsein, in dem diese tief un
glücklichen, an ihrer Existenz aufs schwerste leidenden Menschen
ihr Dasein verbringen, eine Vorstellung zu geben, sollen noch drei
Äußerungen derartiger Patienten angeführt werden:
„Ist man nur in sich selbst? Oder ist man in Beziehung zu den
anderen? Ich bin nicht! Ich bin nur in Beziehung! Aber wenn ich
nur in Beziehung zu anderen bin, wer bin ich, was bin ich, wie bin
ich und wann bin ich? Doch nur entsprechend, wer, wie und wann
der andere ist. Und wenn ein solcher andere nicht vorhanden ist,
wo sind wir denn dann, wohin gelangen wir, was tun wir mit uns?
Ich selbst kann nicht sein. Ich gehöre mir nicht selbst. Ich bin in
einem anderen, und nur er erlaubt mir zu sein, was er ist."
„In mir ist eine völlige Leere. Ich fühle eine Sensation, die nicht
Angst und nicht Schmerz ist. Es scheint das Ende der Angst zu sein
und dabei nicht der Anfang des Schmerzes. Es ist das Gefühl des
Nichts. Es ist nicht Ruhe und nicht Unruhe. Es ist das Nichts. Oh,
ich würde tausendmal die Angst diesem Gefühl des Nichtseins vor
ziehen! Entweder leidet man, oder man ist glücklich. Aber nicht
dieses Nichtsein, das noch nicht einmal Verzweiflung ist! Es ist we
der das Ende eines Gefühles noch der Anfang eines anderen. Es
ist gerade die Indifferenz! Aber es kann auch nicht Indifferenz sein,
weil es ja nicht ist. Und Nichtsein ist nichts sein. Aber wenn es viel
leicht das Nichtssein wäre, dann würde es doch etwas sein. O Gott,
schüttele mein Sein, damit etwas in ihm entstehe oder sterbe und
es ihm so möglich werde, etwas zu sein, entweder Schmerz oder
Verzweiflung, weil wir dann sind!"
„Was erwarte ich eigentlich im Leben? Was erhoffe ich? Warum
bin ich? Warum leide ich an dieser entsetzlichen Angst? Warum
bin ich immerfort auf der Suche? Und was suche ich eigentlich?
Und das Morgen wird dem Heute gleichen! Doktor, ich kann nicht
mehr..."
Das Charakteristikum der bisher besprochenen Fälle bestand
darin, daß sich der infolge seines menschlichen Ungewißseins see
lisch Gleichgewichtsgestörte vom Zusammensein mit seinen Mit-

74
menschen zurückzieht. Er sucht auf diese Weise zu erreichen, daß
das Entstehen von Gefühlen, die er wie eine Gefahr fürchtet, weil
sie ihm nach seiner Überzeugung nichts als Schmerzen und Leiden
verursachen, möglichst ganz vermieden wird. Die jetzt zu bespre
chende Art von Menschen weist die entgegengesetzte Tendenz auf.
Sie trachten stets, in Gesellschaft zusein. Denn wenn sie mit sich
allein sind, so überfällt sie ein Gefühl der Hilf- und Schutzlosigkeit,
das aus der Tatsache ihrer menschlichen Einsamkeit erwächst und
sie mit Unruhe und Unbehagen erfüllt. Sie brauchen also die Mit
menschen. Sie haben nicht nötig, vor ihnen zu fliehen wie die der
ersten Kategorie, weil sie keine Furcht vor den sexuellen Gefühlen
haben, die im Zusammensein mit den anderen wach werden könn
ten. Die Mehrzahl von ihnen genießt durchaus wie jeder gesunde
Mensch ihr Geschlechtsleben, wann immer sich die Möglichkeit
dazu bietet. Ja sie suchen die Gelegenheiten dazu.
Ein neunundzwanzigjähriger Kaufmann, der sein sexuelles
Leben voll ausgekostet hatte und gesellschaftlich so beliebt war,
daß er in seinem großen landsmannschaftlichen Klub alle Feste und
Bälle arrangierte, fühlt sich unruhig, nervös. Er ist unzufrieden mit
sich und seinem Leben, so daß er sich im letzten Jahr wiederholt
sinnlos betrunken hatte. Das Zusammenleben mit seiner Mutter,
seine achtungs- und liebevolle Beziehung zu ihr hatten trotz
schwerster Gewissensbisse nach jedem derartigen Exzeß die
Rückfälle nicht verhindern können. Er liebte ein junges Mädchen,
wurde von ihm wiedergeliebt und möchte es daher gern heiraten.
Er kann sich aber nicht zur Ehe entschließen, weil er folgenderma
ßen denkt: „Ich weiß nicht, ob ich in der Ehe treu bleiben kann.
Wenn es mir nicht möglich ist, wird die Ehe an meiner Untreue
scheitern. Wenn ich aber treu bin und bleibe, weil meine Frau mich
dominiert, so werde ich immer schlechter Laune sein, und die Ehe
wird deshalb ein Mißerfolg werden."
Dieses Beispiel soll zunächst aufzeigen, daß das Erleben des se
xuellen Lebensanteiles nicht genügt, um einen heilenden oder auch
nur bessernden Einfluß auf die leidvolle Lebenssituation mit ihrem
Unsichersein, Unentschlossensein und ihrer Unruhe auszuüben.
Darüber hinaus finden wir hier in diesem noch ganz unkompliziert
gelagerten Fall ein zweifelndes Fühlen und Denken, weil es nur den
Willen zur Lust des Ichs und den Willen zur Macht des Dus in
Betracht zieht, nicht aber den gemeinsamen Wunsch des Selbsts
zweier Menschen zu affektiv-seelischem Erleben des Lebens. Eine
solche Art des Fühlens und Denkens führt dann zu Folgen, die die
nächsten Fälle vor Augen führen sollen:

75
Ein verheirateter Kaufmann mittleren Alters in guter finanziel
ler und sozialer Position kommt wegen starker Angstzustände in
Behandlung, die erstmals im Alter von dreizehn Jahren bei ihm
auftraten und ihm seit einer Reihe von Wochen seine Büroarbeit
weitgehend unmöglich machen.
„Ich war immer während meines ganzen Lebens sehr zurückhal
tend, weil niemand mich versteht. Ich habe niemals weder meinem
Vater noch meiner Mutter etwas von mir erzählt. Die Eltern hatten
auch niemals Interesse für uns und unsere Angelegenheiten. Im
Gegenteil, wir schienen sie zu belästigen. Daher wagte niemand
von uns, offen und ehrlich zu sein. Ich habe es mir bis heute zur
Gewohnheit gemacht, mit niemandem über private Dinge zu spre
chen. Ich glaube auch nicht, daß mir geholfen werden kann, da ich
zu niemandem Vertrauen habe. Ich bin mein ganzes Leben lang
von dem Standpunkt ausgegangen, minderwertig zu sein. Ich lebe
dauernd in Furcht, einen Streit mit meinem Bürochef oder mit
meiner Frau zu bekommen."
Etwa fünf Wochen nach Beginn der Behandlung erzählte er fol
genden Traum: „Ich gehe in die Kirche, um zu beten, und setze
mich auf eine Bank, auf der nur noch eine alte Frau sitzt. Nach kur
zer Zeit fängt sie an, mich zu stoßen. Ich rücke zur Seite. Sie hört
aber nicht auf, sondern fährt fort, mich immer mehr gegen das
Bankende zu drängen."
Auf die Frage, warum er sich nicht gewehrt habe, meint er: „Das
^ng doch nicht!" Das Uberraschende war, daß er sein Verhalten
im Traum als durchaus den Umständen angemessen empfand. Um
Klarheit zu schaffen, soll er sagen, wie er sich benehmen würde,
wenn ihm dasselbe am Tage auf einer Bank im Park geschähe.
Ohne zu zögern, antwortet er: „Ich würde auch beiseite rücken!"
Dieser Mann lebte sowohl sein sexuelles wie auch sein gesell
schaftliches Leben in einer völlig normalen Form. Er liebte den ge
selligen Verkehr und war mit vielen Menschen durchaus befreun
det, weil er stets hilfsbereit zu ihrer Verfügung stand.
Gefühlsmäßig aber hatte er keinerlei Beziehung weder zu ihnen
noch zu seiner Frau. Da er niemals Zärtlichkeit und Zuneigung er
lebt hatte, so galt ihm alles, was mit Gefühlen zusammenhing, als
weibische Sentimentalität, über die er sich lustig zu machen suchte.
Selbst seinen Kindern, um die er sich aufs äußerste sorgte, sobald
sie krank waren, erwies er in gesunden Tagen keinerlei Herzlich
keiten. So war er menschlich völlig einsam.
Dieser Patient wußte in seinem erfolgreichen beruflichen
Dasein seinen Willen durchaus ein- und durchzusetzen. Anderer-

76
seits sah er es als ganz natürlich an, daß er in seinem privaten Leben
zu unsicher, zu furchtsam, ja zu feige war, um sich gegenüber einer
alten Frau zu behaupten. Er vermied es also ängstlich, die Motive
seines Tuns und Lassens auf ihre Berechtigung hin zu untersuchen,
um nicht sein schon an sich sehr geringes Selbstbewußtsein und
Selbstvertrauen noch mehr zu verringern und damit seine Selbst
achtung gänzlich zu verlieren. Bei diesem schwer kranken Mann
wird besonders deutlich, warum die Mehrzahl der Menschen so
überaus interessiert ist, sich niemals die Zeit zu nehmen, um über
sich selbst nachzusinnen und so zu Selbsterkenntnis zu gelangen.
Hier liegt auch der eigentliche und wahre Grund dafür, daß wir so
unendlich viel über die Groß- und Kleinwelt außerhalb des Men
schen kennen, aber so unendlich wenig über unser Selbst, d. h. über
unser eigentliches und wahres Innenleben wissen.
Eine etwa vierzigjährige, seit vielen Jahren verheiratete Frau
mit zwei schon fast erwachsenen Kindern berichtet: „Ich leide an
Angst und an Spannungs- bzw. Schmerzzuständen an den ver
schiedensten Körperteilen, habe oft Herzklopfen und kann nicht
schlafen. Ich vermag nicht zu irgend jemandem zärtlich zu sein.
Denn Lieben bedeutet für mich Leiden."
„Ich bin viel in meinem Leben herumgestoßen worden, da
meine Eltern getrennt lebten. Als ich fünf Jahre alt war, ver
schwand mein Vater auf Nimmerwiedersehen. Nach der Wieder
verheiratung meiner Mutter wurde ich, da sie anscheinend keiner
lei Interesse mehr an mir hatte, zu einer Tante geschickt, wo ich
einige Jahre lebte, bis sich der Onkel an mir zu vergehen suchte.
Damals war ich zwölf Jahre alt. Die Tante beschuldigte mich dann,
dem Onkel Veranlassung zu seinem Verhalten gegeben zu haben,
und drohte mir schwerste Strafen an, wenn ich etwas von dem
Geschehenen anderen Leuten erzählen würde. Daraufhin kam ich
zu anderen Verwandten, wo mich die mir etwa gleichaltrige Toch
ter des Hauses wie einen Eindringling immer schlecht behandelte.
Da fing ich an, sehr scheu und furchtsam zu werden. Ich schloß
mich mehr und mehr von den Menschen ab und verschloß mich vor
ihnen.
Als dann auch mein Mann, den ich mit siebzehn Jahren heira
tete, mir niemals, auch nicht vor, während oder nach dem
Geschlechtsverkehr, Zärtlichkeiten bezeigte, aber mich oft tadelte
und kaum jemals mit mir zufrieden war, kam ich zu der Überzeu
gung, daß ich unfähig bin, irgend etwas gut zu machen."
„Alles, was ich fühle, denke, sage und tue, ist schlecht. Ich bin
w e d e r a l s G a t t i n n o c h a l s M u t t e r, n o c h a l s H a u s f r a u e t w a s w e r t .

7 7
Niemand braucht mich. Ich bin völlig unnütz, ein Ballast! Ich bin
allen Menschen antipathisch und eine komplette Egoistin. Ich
fühle mich gänzlich leer, ein Nichts. Ich habe immer Schuldgefühle
wegen meiner Eitelkeit, meines Stolzes und meines Ehrgeizes.
Wenn ich ein kalter Mensch wäre, würde ich keinerlei Probleme
haben, würde ich nicht leiden."
„Seit meinem dreißigsten Lebensjahr bin ich das Opfer furcht
barer Angstzustände. Ich traue weder mir noch den anderen. Ich
bin sehr oft völlig verzweifelt und leide an schweren Depressionen,
so daß ich Zeiten habe, wo ich unausgesetzt weine. Zwei Behand
lungen und eine Elektroschocktherapie haben mir nicht geholfen."
Diese Patientin sah ihre Existenz in einem ihre Wirklichkeit völ
lig verfälschenden, negativen Sinne. Sie führte ein gänzlich norma
les, sie befriedigendes sexuelles Leben mit einem Mann, der sie
liebte und ihrer Qualitäten wegen schätzte, wenn ihm auch sein
eigenes neurotisches Unsichersein nicht gestattete, die fraglos vor
handene Überlegenheit seiner Frau anzuerkennen, er sich
vielmehr bemühte, Mängel an ihr zu entdecken, um sich ihr gegen
über nicht zu klein zu fühlen. Diese Frau führte ein reges gesell
schaftliches Leben. Sie suchte die Gesellschaft anderer Menschen,
wo sie wegen ihrer den Durchschnitt überragenden Schönheit,
Intelligenz und ihres Charmes von den Frauen und natürlich noch
mehr von den Männern gern gesehen wurde. Dort fühlte sie sich
wegen der allgemeinen Wertschätzung, die sie genoß, wohl.
Da sie aber wegen ihres Ungewißseins vom Vorurteil ihres
menschlichen Unwertes ausging, so vermochte sie trotz aller offen
sichtlichen Erfolge im Verkehr mit ihren Mitmenschen nicht den
Weg aus ihrer Einsamkeit heraus zu finden. Sie stand vielmehr auf
dem Standpunkt, daß sie eine so gute Schauspielerin sei, daß sie
die anderen über ihre Schlechtigkeit - „Ich bin nichts wert, ich
tauge zu nichts, ich bin völlig unnütz", hörte der Arzt immer wie
der von ihr - zu täuschen vermöge. Sie äußerte zeitweise darüber
sogar Schuldgefühle.
Diese Art von Leidenden fürchten nicht wie die vorher geschil
derten ihre sexuellen Gefühle. Sie fürchten aber das Urteil bzw. die
Verurteilung ihrer Mitmenschen. Die Gefahr existiert also nicht in
ihnen, sondern ihnen gegenüber. Die sie beherrschende und für ihr
Tun und Lassen ausschlaggebende Vorstellung ist die ihrer
menschlichen Unwürdigkeit.
Da sie wegen ihrer negativen Einstellung zu sich selbst, die wie
der die Folge ihres Ungewißseins ist, daran zweifeln, daß sie ver
mittels ihres persönlichen Eigenwertes, d. h. dem, was sie mensch-

7 8
lieh zu bieten haben, ihre Mitmenschen für sich zu gewinnen in der
Lage sind, so müssen sie andere Verhaltensweisen finden, vermöge
deren sie wenigstens einen gesellschaftlichen Kontakt herzustellen
imstande sind.
Ihre Hilfsbereitschaft ist eines der Mittel, mit welchen sie die von
ihnen gewünschte Annäherung an die anderen in die Wege zu lei
ten und zu unterhalten versuchen. Sie finden daher immer Zeit und
werden niemals müde, jedem, dessen Bekanntschaft ihnen loh
nend erscheint, und sei es auch der Fremdeste und Fernste, beruf
lich und privat zu helfen und ihm mit Rat und Tat zur Seite zu ste
hen. So gewinnen sie sich unausgesetzt neue Bekanntschaften.
Eine andere Art sich beliebt, „geliebt" zu machen, besteht für
diese Klasse von Menschen darin, gute Gesellschafter zu sein. Sie
trachten danach, sich bei jeder gesellschaftlichen Zusammenkunft
von ihrer allerbesten Seite zu zeigen. Sie versuchen, Witz und
Humor zu haben. Sie sind stets gern gesehen und werden daher
überall eingeladen, weil sie immer etwas zu geben und zu bieten
haben, was zur Unterhaltung beiträgt. Ja sie geben sich bei solchen
Gelegenheiten völlig aus, um sich als Mittelpunkt zu fühlen, um
den sich alles dreht. Es scheint ihnen nicht schwer zu werden und
das ihrem wahren Wesen Natürlichste zu sein. Es sieht so aus, als
ob sie aus der Fülle ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten leichthin
einiges von dem vielen, was sie zu bieten haben, ausschütteten. Nur
der ärztliche Beichtvater aber hört: „Nachher bin ich jedesmal völ
lig erschöpft!"
Das, was also dem Gesunden Entspannung und Unterhaltung
gewährt, die er nach der Mühe und Konzentration seiner Berufsar
beit dringendst benötigt, ist für diese Menschen fortgesetzte
Anstrengung und Nervenanspannung. Trotzdem ist die gesell
schaftliche Atmosphäre für sie das Lebenselixier, in dem sie sich
einzig wohlfühlen, weil sie infolge der Anerkennung, die sie hier
finden, sich und ihre Unruhe in allen ihren verschiedenen Graden
und Formen vergessen. Sie wärmen sich in der Sonne der allgemei
nen Aufmerksamkeit, die ihrem Unwertgefühl, ihrer Selbstäch
tung den Anschein von Achtung oder zumindest Beachtung be
deutet.
Ein solcher Mensch erreicht mit seiner Hilfsbereitschaft einer
seits und der Inszenierung des Verhaltens eines Gesellschaftslöwen
andererseits seine Zwecke in doppelter Hinsicht. Erstens ist er in
folge seines Einsatzes für die anderen so gut wie niemals mit sich
allein, und zweitens beweist ihm die Tatsache seines Helfenkön-
nens, daß er mehr vermag und damit stärker ist als die anderen, die

79
seiner Hilfe bedürfen und sie daher suchen bzw. annehmen. Diese
scheinen schwächer als er zu sein, weil sie sich ja nicht selbst zu hel
fen wissen. Daher gibt das Samaritertum diesen Menschen Selbst
bestätigung und das Gefühl einer Überlegenheit, welches ihr
Ungewißsein wenigstens vorübergehend zu mindern imstande ist.
Gleichzeitig aber und hauptsächlich leben diese Neurotiker mit der
immer wieder enttäuschten, aber trotzdem niemals sterbenden
Hoffnung, sich durch ihr Bemühen um mehr oder weniger fremde
Menschen und flüchtige Bekanntschaften deren Sympathie,
Zuneigung und Liebe zu erwerben, so daß sie sich dann geschätzt,
geschützt, behütet und damit sicherer und ruhiger fühlen könnten.
Wieso kommt es nun, daß trotz des Erlebens befriedigender se
xueller und gesellschaftlicher Beziehungen keine Heilung, ja noch
nicht einmal eine Besserung im Gesundheitszustand dieser Men
schen eintritt, sondern im Gegenteil trotz aller ihrer Bemühungen
in dem soeben geschilderten Sinne langsam eine zunehmende Ver
schlimmerung der Symptome Platz greift?
Der Gesunde sucht aus dem Motiv der wirklichen Zuneigung
seiner wahren Natur heraus demjenigen menschlichen Wesen na
hezukommen, das ihm gefällt und dem er gefällt. Die Neurotiker
dagegen sind aufgrund ihrer Voreingenommenheit gegen sich
selbst in bezug auf ihre menschlichen Qualitäten von vornherein
davon überzeugt, daß ein solches Vorgehen ihrerseits rettungslos
zum Scheitern verurteilt ist. Leben sie doch mit dem fest in ihnen
verwurzelten Glauben, daß jeder Versuch, durch Einsatz ihres
wahren Seins zu einem menschlich-affektiven Kontakt mit einem
Du gelangen zu wollen, nicht nur die Wahrscheinlichkeit, sondern
sogar die Sicherheit eines Nichtangenommen- bzw. Zurückgesto
ßenwerdens mit sich bringen müsse. Denn jeder Einblick, den sie
den Mitmenschen in ihr Inneres gewinnen lassen, würde diesen un
weigerlich dieselbe Mißachtung vor ihnen einflößen, die sie vor
sich selbst empfinden. Sie wagen daher niemals, sich so zu geben,
wie sie in Wirklichkeit sind, d.h., sich entsprechend ihren wahren
Gefühlen zu benehmen. So sind sie zwar fähig, sexuell zu leben,
aber unfähig, menschlich zu lieben.
Andererseits dürfen sie es ebensowenig einem anderen erlau
ben, sie zu lieben. Denn auch hier besteht die Gefahr, daß bei jeder
wirklich menschlichen Annäherung ihr Unwert entdeckt werden
könnte. Sie müssen daher die Menschen, deren Zuneigung sie sich
eben noch so sehr zu erobern gesucht haben, in demselben Augen
blick fliehen, in dem sie merken, daß der andere auf ihr Werben
zu reagieren bereit ist und ihnen den Affekt zuteil werden lassen

« 0
möchte, um dessen Erreichung sie sich immer wieder von neuem
ihr ganzes Leben lang vergebens bemühen. Sie sind so gezwungen,
auf jedes warmherzige Entgegenkommen der Nächsten mit
Ablehnung und Rückzug zu reagieren.
Ihr Mißtrauen gegen sich selbst macht es ihnen also nicht nur
unmöglich, sich menschlich vertrauend einem Du aktiv zu geben,
sondern sie müssen auch jedem von ihnen so sehr ersehnten, inti
meren menschlichen Kontakt, der von einem Du aus zu ihnen hin
erstrebt wird, striktest aus dem Wege gehen. Aus Furcht vor der
nach ihrer Meinung sicheren Niederlage wagen sie niemals, weder
wirklich zu lieben noch sich wirklich lieben zu lassen.
Bei dieser Einstellung kommen solche Menschen nur allzu
schnell in eine Situation, in der sie an sich selbst „irre" werden.
Denn sie sind verwirrt über das Widersprüchliche in ihnen selbst,
das sie gleichzeitig zu anderen Menschen hin- und von ihnen fort
treibt. Dazu kommt, daß sie, die gewinnend freundlich zu sein ver
mögen, genau wissen, daß ihrer äußerlich zur Schau getragenen
und, wenn nötig, auch betätigten Interessiertheit am anderen kei
nerlei affektives Gefühl für den Mitmenschen zugrunde liegt,
sondern daß sie nur aus egoistischen Zweckmäßigkeitsgründen
handeln.

Das, was sie im alltäglichen Leben von sich sehen lassen, ist le
diglich eine Fassade, welche Gefühle vorzutäuschen sucht, die in
Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Alle diese Menschen wis
sen, daß sie nur eine Rolle spielen wie ein Schauspieler, daß sie eine
Maske tragen, hinter der sie ihr wahres Sein und Wesen ängstlich
vor der Mitwelt zu verstecken trachten. Es ist ihnen durchaus be
wußt, daß ihre Verhaltensweise unecht und unehrlich ist. Ausge
hend von der Überzeugung ihres Unwertes, betrachten sie alle ihre
Eroberungen im gesellschaftlichen Bereich nur als Ergebnis ihrer
Fähigkeit, die anderen Menschen über ihr wahres Sein völlig im
unklaren zu lassen. Sie erscheinen sich selbst wie Hochstapler, die
es fertigbekommen, die anderen zu hintergehen und zu betrügen
und sich so die von ihnen gewünschten Vorteile zu verschaffen. Sie
kommen sich mit all ihrer Unaufrichtigkeit immer unmoralischer
vor, mißachten sich immer mehr und beschuldigen sich selbst,
einen schlechten egoistischen Charakter zu haben.
Sie sind der Ansicht, daß sie nur deshalb gesellschaftlich lie
benswürdig sind, weil sie menschlich nicht liebenswürdig sind.
Sie müssen sich also mit der Erzielung einer gesellschaftlichen
Allgemeinbeziehung oder mit einem nur geschlechtlichen Ver
hältnis zum Mitmenschen begnügen. Denn das Resultat eines ie-

« 1
den irgendwie gearteten Bemühens, darüber hinaus zu einer
menschlich-affektiven Beziehung mit einem Du zu gelangen,
würde ihrer Meinung nach lediglich darin bestehen, auch den so
zialen bzw. sexuellen Kontakt wieder zu zerstören, den sie unter
großen Anstrengungen hergestellt haben.
Das unvermeidliche Ergebnis all der Betriebsamkeit, die ihre
Tage und einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Nächte füllt,
ist danach das folgende: Wegen der hohen Mauern, die diese Men
schen infolge ihres Ungewißseins um sich getürmt haben, um nie
manden in ihr Inneres sehen zu lassen, in dem ihr wahres Sein mit
all seiner Schwäche, seiner Feigheit, seiner Unmoral, seiner
Schuld, kurz all seinem Unwert verborgen ist, bleiben sie trotz aller
vorhandenen gesellschaftlichen und sexuellen Beziehungen mit
der Umwelt menschlich ebenso einsam und voller Mißtrauen gegen
sich selbst und die anderen wie diejenigen Patienten, die sich von
all diesem Kontakt zurückgezogen haben.
Ein anderes Charakteristikum dieser Art von Menschen soll
durch ein weiteres Beispiel deutlich gemacht werden:
Eine Frau von annähernd vierzig Jahren, die ihr sexuelles Leben
durchaus befriedigend genoß, hatte aufgrund von sehr schmerz
vollen und enttäuschenden Kindheits- und Jugenderlebnissen ihre
menschlichen Gefühle nicht nur allen anderen Mitmenschen, son
dern auch ihrer nächsten Familie gegenüber völlig verdrängt. Sie
war fest davon überzeugt, keinerlei Interesse für ihre besonders
sympathischen, intelligenten und hübschen Kinder zu besitzen.
Daher kümmerte sie sich ihrer Meinung nach so gut wie gar nicht
um sie, was ihr stärkste Schuldgefühle verursachte: „Ich bin ein
Monstrum, ein Scheusal in Menschengestalt", sagte sie von sich,
nachdem sie von ihrer völligen Gefühllosigkeit ihren Kindern
gegenüber gesprochen hatte.
Aber als sie eines Tages, kurze Zeit nach Beginn der Behand
lung, von ihrer bereits einige Monate im Ausland befindlichen un
verheirateten Tochter ganz überraschend angerufen wurde, brach
sie in ein fassungsloses Weinen aus, als sie deren Stimme durch das
Telefon hörte. Es war ihr später völlig unverständlich und uner
klärlich, daß sie nicht ein Wort zu sprechen vermocht hatte, den
Hörer infolgedessen an ihren Mann hatte geben müssen und wäh
rend der ganzen Dauer der Verbindung außerstande war, sich zu
beruhigen.
Diese Art von Menschen, die sich um völlig Fremde unausge
setzt in der liebenswürdigsten und sogar in aufopfernder Weise be
mühen, vernachlässigen häufig ihre eigenen Nächsten. Für sie, von

R 9
denen sie geliebt werden und die sie wiederlieben, haben sie so gut
wie niemals Zeit. Sie sind immer anderweitig stärkstens beschäf
tigt, um sowenig wie möglich mit ihnen Zusammensein zu müssen.
Sie fliehen vor den Menschen, bei denen sie ohne jede Schwierig
keit jederzeit die Befriedigung ihrer menschlichen Gefühle, die sie
überall außerhalb des Heimes vergeblich suchen, finden könnten.
Die Motive dieses zunächst völlig unverständlichen Benehmens,
das das Gewünschte, ja Ersehnte nicht dort sucht, wo es vorhanden
ist, nämlich daheim, sondern dort, wo es niemals zu finden sein
wird, nämlich in der Fremde, sind dem Patienten meist unschwer
zum Bewußtsein zu bringen, wenn sie nicht sogar von vornherein
bereits bewußt sind:
Sie halten sich von den Ihren so fern wie möglich und flüchten
aus dem Hause, sooft und soviel sie nur können, weil sie sich im
intimen tagtäglichen Zusammensein mit ihrer Familie besonders
schlecht fühlen. Dort, meinen sie nämlich, hat man ihnen ihre
Maske längst vom Gesicht gerissen. Dort durchschaut man sie in
aller ihrer Erbärmlichkeit, Nichtigkeit und verlogenen Wirklich
keit. Denn vor den nächsten Angehörigen läßt sich ja nicht ver
heimlichen, was sie den Fremden gegenüber mit Erfolg zu verber
gen wissen: ihre Unfähigkeit, ihre Unzuverlässigkeit, ihre
Unwürdigkeit.
Mit diesem seinem Vorurteil gegen sich selbst, das praktisch im
mer im Gegensatz zur objektiven Wirklichkeit seines durchaus
verantwortungsbewußt geführten Daseins steht, versperrt der am
Leben Leidende auch den Seinen jede Möglichkeit eines Zugangs
zu ihm. Denn alle Versuche einer Affektäußerung von ihrer Seite,
jeder Ansatz zu einer Zärtlichkeit, zu einem Guttunwollen sieht er
entweder als ein Handeln aus Verpflichtung oder bestenfalls als
Ausdruck eines Mitleids an, gegen dessen Annahme sich sein Stolz
sträubt, so daß er sich ihm so schnell wie möglich durch die Flucht
zu entziehen sucht.
Wie alles bei diesen Menschen vom Vorurteil des negativen
Werturteils des Ungewißseins gesehen wird, soll noch ein weiteres
Beispiel erhärten: Zeigt der Ehegatte des Leidenden sein Interesse
an ihm, indem er sich darnach erkundigt, was der andere im Lauf
des Tages zu tun beabsichtige oder während des Tages getan hat,
so wird eine solche Frage als eine Kontrolle empfunden. Auf sie
wird entweder mit Schroffheit reagiert, die dann den schon vor
handenen Abgrund zwischen den Eheleuten noch weiter vertieft,
oder sie wird als Ausdruck des Mißtrauens aufgefaßt, das ja nach
der Ansicht des Leidenden über sich selbst durchaus berechtigt ist.

83
In diesem Fall verstärkt dann das menschliche Interesse des Fra
genden noch das Ungewißsein des seelisch Gleichgewichtsgestör
ten. Wird dagegen vom Angehörigen nicht nach dem vorliegenden
oder absolvierten Tagesprogramm gefragt, so handelt es sich für
den Kranken um eine Interesselosigkeit, die ihm nur bestätigt, was
er weiß, daß nämlich sein Sein für die anderen nicht anziehend,
sondern abstoßend ist.
Für den verheirateten Mann kommt zu den bis jetzt dargestell
ten Motiven, aus denen diese Menschen die eigene Familie fliehen
und fremde Gesellschaft vorziehen, noch etwas anderes hinzu:
Als Ehemann und Vater sollten sie eigentlich dazu dasein, um
den Ihren, ihrer Frau und ihren Kindern, die ihrer Hilfe und Stütze
bedürfen, in allen Lebenslagen zu helfen. Da aber ihr Mißtrauen
in ihre eigenen Fähigkeiten sie sich selbst immer als schütz- und
hilfsbedürftig fühlen läßt, so denken sie unaufhörlich, daß sie im
Gegensatz zu wirklichen Männern unfähig seien, wahre Beschützer
ihrer Familie sein zu können. So ziehen sie sich aus der Gesellschaft
der Ihren auch aus dem Grunde zurück, weil deren Gegenwart sie
dauernd daran gemahnt, daß sie keine vollwertigen Männer sind.
Ihr Zuhausesein verursacht ihnen also nicht nur ein Leiden ihres
Unwertes wegen, sondern sie müssen sich dort auch stets Vorwürfe
wegen ihrer männlichen Schwäche machen. Sie haben Schuldge
fühle, weü sie den mit dem Eingehen der Ehe übernommenen Ver
pflichtungen nicht nachzukommen imstande sind.
Als Folge aller dieser Gedanken und Gefühle, d. h. ihrer negati
ven Einstellung zu sich selbst, kommen diese Art von Menschen
sich inmitten der Ihren wie Angeklagte, ja bereits wie Verurteilte
vor. Ein solcher Mann fühlt sich aus dem Kreis der Seinen ausge
schlossen, wenn nicht sogar ausgestoßen und daher bei ihnen am
verlassensten, einsamsten und unglücklichsten. Nur fern von ih
nen, dünkt es ihm, wird er die Erlösung von seinem Dauerunbeha
gen und seiner Dauerunruhe finden können, dort nämlich, wo man
ihn nicht so genau mit all seiner Niedrigkeit kennt, so daß er den
äußeren Schein aufrecht zu erhalten in der Lage ist und als ein eini
germaßen vollwertiger Mann zu erscheinen vermag.
Der unwiderstehliche Drang in diesen neurotischen Männern,
sich wenigstens vorübergehend von Unwertgefühl und Einsam
keitsqual befreit zu fühlen, veranlaßt sie dann, ihre Zuflucht zu
Menschen zu nehmen, denen sie in jeder Beziehung, sei es beruf
lich, ökonomisch, intellektuell, sozial und kulturell ausgesprochen
überlegen sind. In der Gesellschaft käuflicher Frauen verschwindet
das sie marternde Einsamkeitsbewußtsein. Hier fühlen sie sich

84
gleichwertig oder sogar überragend und daher besser, sicherer und
ruhiger.
„Im Bordell fühle ich mich mit meinem Geld als Herrscher",
sagt ein etwa vierzigjähriger verheirateter Akademiker, und ein
anderes Mal, nachdem er einen Bekannten im Gefängnis hatte
aufsuchen müssen, meinte er: „Im Gefängnis und im Bordell sind
wir alle schuldig und deshalb alle gleich!"
Diese Aussprüche stammen von einem Mann, der an einer sehr
schweren Angstneurose litt. Er war ein äußerst tatkräftiger, flei
ßiger, geistig interessierter, kultivierter Mensch, der sich ganz aus
eigenen Kräften eine weit überdurchschnittliche ökonomisch-so
ziale Position erobert hatte, der mit einer besonders schönen, sym
pathischen Frau verheiratet war, mehrere Kinder hatte, an denen
er hing, und der in seinem großen Bekanntenkreis allgemein be
liebt und geachtet war.
Er stammte aus einer Familie, in der der Vater autokratisch-
despotisch geherrscht und in der sich die schwache Mutter ihrem
dominierenden Mann völlig untergeordnet hatte. Keiner von bei
den Eltern hatte sich jemals affektiv um die Kinder gekümmert.
Man hatte ihnen eine Erzieherin engagiert, welche die Erlaubnis
bekommen hatte, die Kleinen zu schlagen, wann immer sie es für
angebracht hielt, und sie hatte von diesem Recht ausgiebig Ge
brauch gemacht, indem sie alles, was ihre Pflegebefohlenen taten,
für schlecht bzw. unzureichend erklärte, um so möglichst häufig
ihrem Sadismus die Zügel schießen lassen zu können.
Nach dem frühen Tod des Vaters lebte der damals Dreizehnjäh
rige mit seiner Mutter, die stets voller Sorge in bezug auf die
Gegenwart sowohl wie die Zukunft war und immer Anlaß fand,
sich über alles zu beklagen. Um der ihm sehr fehlenden Zärtlich
keit und Anerkennung der Mutter teilhaftig zu werden, bemühte
sich der Sohn, der Beste in seiner Klasse zu werden. Als er mit sei
nen weit überdurchschnittlichen Fähigkeiten sein Ziel erreicht
hatte, nahm die Mutter keinerlei Notiz davon, sondern fuhr fort,
ihn wegen jeder Kleinigkeit zu tadeln und herabzusetzen. War dem
Kind nicht bewußt gewesen, warum es sich ein Jahr lang in der
Schule so angestrengt hatte -die Zusammenhänge mußten dem
Vierzigjährigen erst in der Analyse bewußt gemacht werden-, so
verlor es aus ihm ebenfalls unbekannten Gründen nun plötzlich
wieder jede Lust, seine Schularbeiten zu machen. Erst das
Schlechtwerden der Noten ließ die Mutter aufmerksam werden
und diente ihr sofort wieder dazu, ihrem Sohn ihre negative Mei
nung über ihn auszudrücken, ihn zu rügen und abfällig zu beurtei-

85
len. Die Mutter setzte also fort, was Vater und Erzieherin begon
nen hatten. Ganz unvermeidlich mußte sich das Ungewißsein und
Unsichersein des Kindes immer mehr steigern.
Obwohl er dann auf der Universität wie schon während der
Schulzeit keinerlei Schwierigkeiten hatte, seine Studien zu vollen
den, fehlte ihm jedes Vertrauen in sich in bezug auf seine menschli
chen Qualitäten und Fähigkeiten. Er war von seinem Unwert
überzeugt und mißachtete sich. Er fühlte sich entsetzlich einsam
und wurde schon als junger Student von seinen ersten Angstanfäl
len heimgesucht.
Auch nachdem er sich verheiratet hatte, änderte sich an dieser
Situation nichts. Er beschuldigte seine Frau, ihm nicht die Liebe,
Wärme und den Affekt gegeben zu haben, die er, nach einer liebe
losen Kindheit und Jugend, in der Ehe zu finden gehofft hatte. Er
gab sich nicht Rechenschaft darüber, daß es ausschließlich sein
Verhalten gewesen war, das es seiner Frau unmöglich gemacht
hatte, sich ihm zu nähern: in seiner Besorgnis, daß im intimen ehe
lichen Beisammensein sein Unwert schnell von ihr erkannt werden
würde, hatte er sie bereits in den allerersten Tagen nach der Ehe
schließung veranlaßt, mit ihm zu allen möglichen, ihr völlig gleich
gültigen Menschen zu gehen. Sein unausgesetzter Wunsch, mit sei
nen Freunden zusammenzusein, hatte ihr eine sehr tiefgehende
Enttäuschung verursacht. Sie, die aus einer Familie stammte, in der
stets eine Atmosphäre menschlich warmer Zuneigung, gegenseiti
gen Vertrauens und freundschaftlicher Offenheit herrschte, hatte
sich in der Hoffnung gewiegt, mit ihm ein ebensolches Heim voller
Liebe und Zärtlichkeit formen zu können. Sein eigenartiges
Benehmen, das gleich nach der Hochzeit begann und in Gegensatz
zu seinem Verhalten als Bräutigam stand, mußte sie denken ma
chen, daß er sie nicht liebte, da er immer wieder die Gesellschaft
seiner Freunde dem Zusammensein mit ihr vorzog. Niemals gelang
es der jungen Frau, ihrem Mann menschlich nahezukommen, ob
wohl sie es sich immer weiter ersehnte und aufgrund ihrer liebevol
len Erziehung alle Voraussetzungen ihr eigen nannte, um das er
wünschte Ziel erreichen zu können.
Ihr Mann sah in ihr vom Augenblick des Beginns der Ehe an
nichts anderes als die Stellvertreterin, die Nachfolgerin seiner
Mutter. Er betrachtete sich weiter als das böse Kind, das dauernd
beaufsichtigt und beobachtet werden müsse, da es sonst immerzu
Schlechtes tue, wofür es dann zurechtgewiesen, getadelt und be
straft werden müsse. Seine Frau war für ihn daher in erster Linie
die Aufpasserin, deren einkerkernder Bewachung er sich zu ent-
ziehen versuchte, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot, weil
ihre bloße Gegenwart ihm schon Vorwurf, Anklage und Verurtei
lung dünkte.
Er begann zu trinken, weil er sich und sein Unglück dann ver
gessen konnte, weil er sich dann sicherer und nicht so einsam ,
fühlte. Niemals hat mir ein Trinker gesagt, daß der Alkohol für ihn
ein Genußmittel sei, sondern stets und immer wieder hört man nur,
daß er als Betäubungsmittel gegen das furchtbare Leiden am
Leben diene. Aus denselben Gründen suchte er auch die Bordelle ,
auf, wo es in der Mehrzahl der Fälle gar nicht zu einem
Geschlechtsverkehr kam, da er nur aus seiner Einsamkeitsangst
heraus die Gesellschaft dieser Mädchen suchte. Dort aber fühlte
er sich entsetzlich heruntergekommen und traute sich hinterher oft
die ganze Nacht und den kommenden Tag nicht, in sein Heim und
zu seiner Familie zurückzukehren. Er schämte sich vor seiner Frau
und noch mehr von den fragenden und ihn verurteilenden Augen
s e i n e r K i n d e r.
Immer wieder nahm er sich vor, nicht mit in jeder Beziehung tief
unter ihm stehenden Menschen zusammenzukommen, weil er nun
schon aus häufig wiederholter Erfahrung wußte, daß er noch viele
Tage hinterher an einem sehr schlechten Gewissen leiden werde
und daß ihn seine Selbstvorwürfe und Schuldgefühle wieder schwer
belasten würden. Die Einsamkeitsangst aber war dann immer wie
der stärker als alle Einwände seiner Vernunft. Er konnte ihrem
Drängen einfach nicht widerstehen und endete immer wieder, von
ihr getrieben, dort, wo seine Verachtung seiner selbst und damit
sein Ungewißsein sich mehren mußten.
Versuchen wir, die Situation dieser Art von Menschen zusam
menzufassen, so ergibt sich das folgende Bild ihrer „Individuali
tät": Ihr existentielles Verhalten, nämlich das der Annäherung an
die Mitmenschen zur Formung von menschlichen Beziehungen,
scheint dem zu entsprechen, was jeder Gesunde tut, der durch
Aufnahme und Unterhaltung gesellschaftlichen Kontaktes sich die
notwendige Voraussetzung schafft, um zur Befriedigung seiner
Gefühle in Gemeinsamkeit mit einem Du und damit zu einem nor
malen sozialen, sexuellen und affektiven Leben zu gelangen.
Statt dessen hat sich ein Teufelskreis gebildet, der das Bewußt
sein der Einsamkeit und das Empfinden des Unwertes immer mehr
steigert. Da so geartete Menschen ihn weder aus eigener Kraft
noch mit Hilfe ihrer Angehörigen und Freunde zu durchbrechen
vermögen, wie das letzte Beispiel klar aufgezeigt hat, so sind alle
ihre Anstrengungen, durch Liebenswürdigkeit und Hilfsbereit-

87
Schaft zu zwischenmenschlichen Beziehungen zu gelangen und so
den Ausweg aus ihm zu finden, zum Scheitern verurteilt. Denn ihre
Einstellung zu sich selbst und ihrem Leben beruht auf tief einge
wurzelten Vorstellungen über sich selbst und daraus erwachsenen
Vorurteilen, die ein Zustandekommen von Mitmenschlichkeit un
möglich machen. Da diese unglücklichen Menschen ihre Wirklich
keit immer verfälscht sehen, sind sie mit allem ihrem Werken und
Wirken nicht imstande, ihre wahre Wirklichkeit zu bewirklichen.
Während das eine Ich dieser Personen, die in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle ein normales sexuelles Leben führen, voller
Unsichersein und Furcht vor der Meinung der andren über sie ist,
vermag ihr anderes Ich auf der gesellschaftlichen Bühne mit voll
kommener Sicherheit aufzutreten. Während das eine Ich sich z. B.
zitternd vor Angst, begleitet von Ehefrau und Chauffeur, zum Psy
chotherapeuten begibt, vermag das andere Ich kurze Zeit vorher
oder nachher auf der Rednertribüne eines Parlaments oder im Sit
zungssaal einer großen Aktiengesellschaft ohne jede Schwierigkeit
vor vielen Menschen ruhig und klar seine Gedanken darzulegen.
Während das eine Ich sich glühend wünscht, denen, die es liebt, und
von denen es hofft, geliebt zu sein, Gutes zu erweisen und den Men
schen, die ihm gleichgültig, ja nur allzuoft antipathisch sind, fern
zubleiben, tut das andere Ich genau das Entgegengesetzte: es ver
nachlässigt die Nächsten und überschüttet diejenigen, über die es
sich ärgert, weil es sich von ihnen ausgenützt fühlt, mit Guttaten.
Und obwohl es sich immer wieder vornimmt, das nächste Mal ein
Nein zu sagen, vermag es nicht diesen Entschluß im gegebenen
Augenblick zu realisieren, weil es einerseits die dadurch entste
hende Disharmonie mit dem anderen fürchtet, und weil es anderer
seits trotz aller schon gemachten enttäuschenden und deprimie
renden Erfahrungen immer wieder von neuem hofft, im anderen
einen Freund zu gewinnen, der ihm zu einem Bollwerk gegen seine
Einsamkeitsangst werden könnte.
Während das eine Ich sich tagtäglich müht, verantwortungsvoll
seine Pflicht und Schuldigkeit zu erfüllen, ja diese Menschen sehr
oft Perfektionisten sind, d. h. stets danach streben, alles so vollen
det zu machen, daß nicht nur die anderen, sondern vor allem sie
selbst voll und ganz mit sich zufrieden sein könnten, handelt das
andere Ich in einer für das erste Ich nicht annehmbaren und nicht
verständlichen, unverantwortlichen und unmoralischen Art und
Weise. Während sie gute Menschen sein wollen, benehmen sie sich
nur allzu häufig so, als ob sie böse wären. Während sie einerseits
völlig ruhig und klar zu denken vermögen, daß sie niemals bewußt

88
und gewollt etwas Schlechtes, Verdammenswürdiges, Sündhaftes
getan haben, können sie sich gleichzeitig mit ihrem Gefühl schuldig
bekennen. Während ihr eines Ich nichts sehnlicher wünscht, als zu
lieben und geliebt zu werden, tut das andere Ich alles, damit es
nicht zur Befriedigung dieses Wunsches kommen kann. Die abso
lut unbegreifliche und deshalb unheimliche Kraft eines zweiten
Ichs zwingt auch das erste in seinen Bann, so daß daraus das ausge
sprochene Gegenteil von dem resultiert, was natürlich und den
Wünschen des Individuums wesensgemäß wäre. Diese Menschen
sagen dann: „Es war wieder einmal stärker als ich!"
Man findet also in diesen Personen ein Doppelfühlen und Dop
peldenken, das einen nimmer endenden Konflikt und Zwist mit
einer immer stärkeren Anhäufung von ungelösten Problemen nach
sich zieht. Auch hier hat sich wieder eine Zweiteilung, eine Zwie-
spaltung gebildet und als Folge davon eine Zwietracht und ein
Dauerzweifel, das aber heißt eine Auflösung der Einheitlichkeit
der Persönlichkeit. Eine solche Situation ist mit einer immer weiter
fortschreitenden Desorientierung verbunden, welche die Frage des
Kranken hervorruft: „Doktor, wer bin ich? Doktor, wo bin ich?"
Die jetzt zu besprechende Menschenkategorie zieht sich nicht
von den Mitmenschen zurück, wie es die Neurotiker des ersten
Falles tun. Sie nähert sich auch nicht wie die des zweiten ihnen an,
sondern sie trachtet danach, vermittels der Dominierung der ande
ren ihr Lebensungewißsein zu überwinden. Durch Einsetzung ihres
Willens zur Macht versucht sie, sich ihr Stärkersein, ihr Mehrsein
als die anderen zu beweisen. Hier haben wir im Gegensatz zu den
beiden ersten Fällen, in denen sich das Individuum defensiv gegen
seine Lebensfurcht zu schützen suchte, sei es, daß es sich vor der
drohenden Gefahr zurückzog oder gegen sie Verteidigungsmauern
aufrichtete, die autoritären Personen vor uns, die durch Aggression
ihre Sicherheit zu erzielen bemüht sind.
Es handelt sich hier vorzugsweise um Menschen, die seit frühe
ster Jugend oder sogar schon von Kindheit an auf sich allein gestellt
waren. Sie müssen es daher, wollen sie nicht völlig verkommen,
bereits sehr frühzeitig lernen, sich gegen die egoistischen Über
griffe ihrer Mitmenschen zur Wehr zu setzen. Sie sind gezwungen,
sich ihre eigene Meinung zu bilden, zu kämpfen und sich im Wett
bewerb gegen die anderen zu behaupten. Sie machen sich schon in
sehr jungen Jahren selbständig und kommen zu beachtlichen
Erfolgen auf materiellem Gebiet, die ihnen immer mehr das
Gefühl vermitteln, daß sie sich im beruflichen Bereich auf sich ver
lassen können. Sie sind daher in bezug auf die objektive Realität,

« Q
d.h. auf die Anforderungen des täglichen Lebens, vollkommen
adaptiert. Sie sind meist weit überdurchschnittlich tüchtig.
Diese Art von Menschen dirigiert ihre gesamte Umgebung, sei
es im beruflichen oder im privaten Bezirk, und die in ihren Macht
bereich Geratenden ordnen sich diesen „Kraftnaturen", willig
oder unwillig, unter und lassen sich von ihnen beherrschen. Sie ha
ben im Gegensatz zu der Mehrzahl der erwachsenen Menschen den
Mut, Verantwortung auf sich zu nehmen und sie zu tragen. Denn
sie haben sich aufgrund ihrer Erfahrung überzeugt, daß ihr zielbe
wußtes Denken, Planen und Tun fast immer zum Gelingen führt.
So verfügen sie über alle Sicherheiten, die man sich zu schaffen
vermag, und besitzen alles, was ein Mensch sich wünschen kann.
Sie haben Frau und Kind und leben ihr sexuelles und gesellschaftli
ches Leben. Ihre Berufs- sowohl wie auch ihre Privatexistenz ma
chen einen völlig geordneten und normalen Eindruck. Sie selbst
erscheinen vollkommen gesund und halten sich auch dafür.
Aber die Aktivität dieser egozentrischen, nur auf den eigenen
Vorteil und die eigene Befriedigung bedachten Individuen, für
welche der Mitmensch lediglich Mittel zum Zweck der Sättigung
ihres unersättlichen, weil stets ungesättigten Ehrgeizes, ihres
Immer-mehr-erreichen-Wollens oder ihrer maßlosen Habgier be
deutet, ist eine stets gegen den Nächsten gerichtete. Darüber hin
aus wird ihr Fühlen, Denken, Wollen und Handeln ausschlagge
bend von einem zutiefst in ihnen verwurzelten Mißtrauen gegen
alle und alles bestimmt.
Diese Autokraten gehen in ihrem Tun und Lassen von der Vor
stellung der Schlechtigkeit der anderen aus - sie sehen den Splitter
im Auge des Nächsten und werden nicht gewahr des Balkens im
eigenen-, die nur so lange liebenswürdig, zuvorkommend und
freundlich sind, wie es ihnen für ihre egoistischen Zwecke nützlich
erscheint, um dann, sobald sie den ihnen günstigen Augenblick für
gekommen erachten, ihr wahres Gesicht zu zeigen und den bisher
Hofierten mitleid- und skrupellos Schaden und Verderben zuzufü
gen.
Da die Menschen mit einer solchen Einstellung gegenüber ihren
Mitmenschen in der steten Furcht vor der ihnen durch ihre
„Freunde" und Feinde drohenden Gefahr existieren, so müssen sie
dauernd auf der Hut sein, damit sie auf einen Angriff, der sie in
jedem Moment treffen kann, sofort die wirksamste Verteidigung
zu ihrer Verfügung haben, um den Gegner erfolgreich zurück
schlagen zu können. Die unvermeidliche Folge einer solchen
Situation ist eine nervöse Dauerspannung, die diese Person nie-

90
mals zu Ruhe und Frieden, ja noch nicht einmal zu einer wirklichen
Entspannung, sei es auch nur in der Nacht, gelangen läßt. Sie leiden
praktisch alle an Schlaflosigkeit.
Mehr noch als die Angriffe ihrer Mitmenschen, gegen die sie es
gelernt haben, sich erfolgreich zu verteidigen, fürchten sie ihre
eigenen Emotionen. Sie sind von der ihnen als eine schwere
Bedrohung erscheinenden Vorstellung beherrscht, daß sie durch
ein Zulassen ihrer sexuellen oder affektiven Gefühle in ihr Leben
schwach werden könnten und dadurch in die Botmäßigkeit des
Geliebten oder auch nur Begehrten fallen und ihm Untertan, hörig
werden würden. Sie meinen, auf diese Weise ihres eigenen Willens,
ja ihrer gesamten Freiheit verlustig zu gehen. Es steht vor ihnen
wie ein Schreckgespenst die Einbildung, daß es ihnen dann un
möglich sein werde, sich mit ihrem Wünschen, Wollen und Begeh
ren die eigenen Notwendigkeiten und Bedürfnisse zu befriedigen.
Dieser Art der Begründung für die Vermeidung jeder gefühlsmä
ßigen Bindung an ein Du begegnet man natürlich überwiegend bei
Männern, die, ganz gleich, ob sie noch ledig oder bereits verheira
tet sind, in der Ehe eine Form der Sklaverei sehen, einen Verlust
ihrer Unabhängigkeit und Freiheit.
Daher beherrschen sie ihre Affekte und oft auch ihre sexuellen
Impulse, weil sie diese ihre Lebensgefühle als Fallen betrachten,
die sie ihrer Tüchtigkeit, ihres Zielbewußtseins und Zweckstrebens
berauben und sie so verführen könnten, ihrem Lebensvorsatz, „es
zu etwas zu bringen", untreu zu werden. Wenn sie es nicht in ver
einfachender Abwehr vorziehen, menschliche Gefühle als eine ab
surde Lächerlichkeit anzusprechen, die bestenfalls weibisch ist,
aber dem wirklichen Manne nicht ansteht, so rechtfertigen sie das
Nicht- aufkommen-Lassen derartiger Regungen damit, daß jede
„sentimentale" Blöße, die sie sich geben würden, von Seiten ihrer
Mitmenschen als ein In-die-Erscheinung-Treten von Schwäche
gedeutet werden würde, was eine Herabminderung der Hochach
tung und Wertschätzung mit sich bringen könnte, deren sie sich
dank ihrer Tüchtigkeit erfreuten.
Das Besondere dieser Art von Personen besteht nun darin, daß
sie nicht wie die vorher geschilderten an sich selbst zweifeln oder
sich sogar mißachten und sich im Vergleich mit den anderen unfä
hig und unwürdig vorkommen. Genau im Gegenteil scheinen sie
volles Vertrauen zu sich zu besitzen und sich ihren Mitmenschen
weit überlegen zu fühlen, weil sie vom eigenen Können und dem
eigenen Wert durchdrungen sind. Dagegen werden die anderen
von ihnen für unfähig und vertrauensunwürdig gehalten. Bei die-

Q1
sen Menschen könnte man sehr wohl meinen, daß sie an keinerlei
Ungewißsein leiden.
Aber trotz des selbstsicheren Auftretens in ihrem nach außen
gewandten Dasein, in dem weder sexuelle Abwegigkeiten noch ein
Unsichersein festzustellen ist, wird das Bestehen einer seelischen
Gleichgewichtsstörung in ihnen an ihrer Ruhelosigkeit erkennbar.
Der Einsatz des Willens zur Macht nämlich, der in ihrer Existenz
den vorherrschenden Charakterzug darstellt und durch den der
Eindruck des Vorhandenseins von Selbstbewußtsein und Stärke
hervorgehoben wird, kann bestenfalls zu immer wiederkehrender
vorübergehender Befriedigung führen, niemals jedoch zu innerer
Ruhe und Ausgeglichenheit, zu Zufriedenheit und Frieden, die erst
identisch mit seelischem Gleichgewicht und damit Gesundheit
sind.
Beispiel: Ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann von fünfzig Jah
ren war das älteste Kind seiner Eltern und wurde in allerärmstem
Milieu groß. Da der Vater sich kaum jemals um die Ernährung der
Familie kümmerte, so lastete sehr früh alle Sorge um die Erhaltung
der Nächsten auf seinen Schultern. Die herz- und mitleidlose
Behandlung, der die Familie im allgemeinen ausgesetzt war und die
diesem Kind im besonderen, das mit neun Jahren bereits anfangen
mußte, Geld zu verdienen, immer wieder von den Mitmenschen
widerfuhr, ließ es schon in sehr jungen Jahren zu der Erkenntnis
gelangen, daß 1. nur derjenige in dieser Welt etwas gilt, der Geld
besitzt, daß 2. alle Menschen seine potentiellen Feinde seien, so
daß ihm von jedem einzelnen ohne Ausnahme in jedem Augen
blick Böses zugefügt werden könnte, daß 3. es infolgedessen gegen
alle von stärkstem, dauerndem Mißtrauen erfüllt sein müßte und
nur sich selbst vertrauen könne und daß 4. alles, was mit Sexualität
und affektiver Liebe, also mit irgendwelchen positiven Gefühlen
zum Nächsten, zusammenhängt, Schwäche sei, die man sich im
schweren Existenzkampf nicht erlauben dürfe.
Er klagt über Darmlo'ämpfe, die erstmalig auftraten, nachdem
er mit fünfundzwanzig Jahren seinen ersten Geschlechtsverkehr
gehabt hatte. Nach der Geburt seines Kindes, die fast mit dem
Tode seines Vaters zusammentraf, hatte er seinen ersten Nerven
zusammenbruch, der von schweren Angstzuständen und Arbeits
unfähigkeit begleitet war. Als er erzählt, daß er seit zwei Jahren
eine Freundin habe, mit der er zum erstenmal in seinem Leben zu
einem ihn befriedigenden Sexualverkehr komme, sagt er: „Natür
lich stehe ich mit meiner Freundin in einem anderen ,Verhängnis'
als zu meiner Frau. Dieses sein Versprechen beweist, daß sein

Q 9
„Verhältnis" trotz des ausgesprochen positiven Charakters des
Erlebnisses gleichzeitig eine stark negative Bedeutung für ihn be
sitzt.
Es stellt sich schnell heraus, daß er nicht nur zu niemandem Ver
trauen hat, sondern daß er, darüber hinaus, Haß und Feindschaft
gegen alle Menschen fühlt. Jeder Widerspruch der anderen, jede
Schwierigkeit, die sie ihm bereiten, jeder Versuch, seinem domi
nierenden Willen Widerstand entgegenzusetzen, verursachen bei
ihm zwei Reaktionen: 1. einen Wut- und Haßausbruch gegen den
jenigen, der nicht bedingungs- und meinungslos alles tut, was er
verlangt, und 2. gleichzeitig schwere Darmkrämpfe. Er ist so emp
findlich gegen jede Kritik, daß er bereits seine Schmerzanfälle im
Leib bekommt, wenn seine Freundin ihm nur von seiner Eigenliebe
spricht. Jeder Sexualverkehr verursacht ihm Schuldgefühle dem
betreffenden weiblichen Wesen gegenüber. Er fühlt sich daher
verpflichtet, sich immer wieder und immer weiter um solche
Frauen zu kümmern und ihnen zu helfen, selbst wenn er seit Jahren
in keinerlei sonstigen Beziehungen mehr zu ihnen steht. Dabei wü
tet er dann gegen sich selbst, weil er genau weiß, daß er infolge sei
ner Unfähigkeit, nein zu sagen, sobald es sich um Gefühlsmäßiges
handelt, aufs stärkste ausgenützt wird und sich ausnützen läßt.
Seine dauernden Haßergüsse gegen seine längst verstorbene
Mutter muteten bei dem ausgesprochen frommen Mann immer
wieder als etwas Anormales, Krankhaftes an, zumal da er niemals
etwas vorbringen konnte, was sie gerechtfertigt und verständlich
gemacht hätte. Eines Tages aber folgte ihnen ein Tränenstrom, als
ihm plötzlich einfiel, was er völlig vergessen (lies: verdrängt!) hatte,
nämlich daß er als Kind immer nur allzugern ins Bett der Mutter
gekrochen war. Denn die wenigen Minuten in der Wärme ihrer
Liebe waren das einzige gewesen, was seine düstere Kindheit etwas
erhellt hatte.
In einer der folgenden Sitzungen erzählt er, daß er plötzlich
-zum erstenmal seit Jahren- in der Nacht den Wunsch gespürt
habe, zu seiner Frau zu gehen, um sich zu ihr ins Bett zu legen, wie
er es vor so vielen Jahren bei seiner Mutter getan habe. „Gott sei
Dank", sagte er, „habe ich die Kraft gehabt, diese meine Schwäche
zu bekämpfen." Aber trotzdem kommt ein paar Minuten später
zum erstenmal aus ihm heraus, was er wirklich fühlt: „Die einzige,
bei der ich Ruhe und Frieden finden kann, ist meine Frau!"
Ungeachtet dieser Einsicht beweisen die immer weiterbeste
henden Krämpfe das Fortbestehen seines Widerstandes gegen seine
Gefühle. Er existiert in dauernder nervöser Spannung gegen eine

93
Frau, die seine rechte Hand im Geschäft ist. Er wechselt zwischen
Angriff und Verteidigung einer anderen Frau gegenüber, die seine
Freundin ist. Und er kämpft sogar weiter gegen die eigene Frau,
was u. a. daraus ersichtlich wird, daß er sich, ganz unprovoziert von
seinem Arzt, immer wieder gegen die Annahme verteidigt, daß
sein Wunsch, zu ihr ins Bett zu gehen, etwas mit sexuellen Gefüh
len zu tun gehabt habe. Er betont stets von neuem: „Ich lasse mich
nicht unterkriegen, nicht von Krämpfen, nicht von den Frauen,
nicht von der Sexualität noch von anderen Gefühlen." Sein ganzes
Verhalten und seine Reaktionen zeigen deutlich seine sehr starken
Befürchtungen, daß sein bewußter Wille doch gegenüber den be
herrschten bzw. den weitgehendst verdrängten affektiven Gefüh
len unterliegen könnte.
Dieser Mann, der sehr genau wußte, was er wollte, sobald und
solange es sich um geschäftliche Angelegenheiten handelte, tat im
Bereich seiner privaten Existenz vieles, was seiner gesamten
Lebenseinstellung absolut widersprach. Er gab sich klar Rechen
schaft darüber, daß seine Beziehungen zu seinen Nächsten ausge
sprochen widerspruchsvoll waren. Gleichzeitig litt er unter seinem
menschlichen Einsamsein.
Die Desorientierung dieser Art von Menschen hat ihre Ursache
in ihrer ihnen immer unverständlicher werdenden Lebenssitua
tion: obwohl sie sich unzweideutig bewußt sind, daß sie voll und
ganz mit sich zufrieden sein könnten und müßten, weil sie Leistun
gen vollbracht haben und Erfolge aufzuweisen vermögen, die sich
sehen lassen können, und obwohl sie sich alle Wünsche zu erfüllen
vermögen, fühlen sie sich nicht nur unerfüllt und unzufrieden, son
dern klagen über eine sich immer mehr verstärkende Sensation von
innerer Leere, die als chronischer Zustand von Unruhe, Gehetzt-
und Getriebenheit sowie als Gefühl steten Unbefriedigtseins be
wußt wird.
Trotz aller äußeren Erfolge im Materiellen und/oder Intellektu
ellen gelangen diese sogenannten tüchtigen Menschen niemals zu
Seelenruhe und Seelenfrieden. Denn sie wollen unersättlich immer
mehr, als sie haben, obwohl sie bereits überreichlich besitzen. Sie
brauchen nämlich immer wieder von neuem eine Selbstbestätigung
zur Beruhigung ihres Ungewißseins, die sie sich dadurch - aber im
mer nur vorübergehend - gewinnen, daß sie überall, zu jeder Zeit
und an jedem Ort, in der Lage sind, die Konkurrenz aus dem Feld
zu schlagen und sich so zu beweisen, daß sie intelligenter, fähiger,
daß sie mehr sind als alle anderen.
Auch diese Menschen, wie die vorher besprochenen Typen,

94
führen ein Dasein, das sie nicht zu einem natürlichen menschlichen
Leben kommen läßt. Der Unfrieden zwischen dem Wollen ihres
Denkens und den natürlichen Wünschen ihres Fühlens erzeugt
eine Dauerspannung, die sich bei jeder sich bietenden Gelegenheit
in Aggressionen gegen die andern entlädt. Während sie eben noch
dem Mitmenschen Gutes getan haben, weil er z.B. ihrem Macht
willen durch Unterordnung zur Befriedigung verhelfen hat, kön
nen sie bereits im nächsten Moment demselben Nächsten mit
stärksten Haßgefühlen nicht nur Böses wünschen, sondern auch
aufgrund ihrer brutalen Kraftnatur, die diese Menschen wesentlich
von den anderen unterscheidet. Böses tun. Man nennt sie auch jäh
zornig oder zumindest unbeherrscht. Die Tatsache ihrer seelischen
Gleichgewichtsstörung kommt klarer zum Ausdruck, wenn man sie
„unausgeglichen" nennt.
Es ist so, als ob ein zweites Ich in ihnen bestünde, das dem
Wunsch und Willen des ersten unentwegt mit Erfolg Opposition
m a c h t . A u c h h i e r f ü h r t d a s N i c h t - l e b e n - W o l l e n b z w. N i c h t - l e -
ben-Können der Gefühle zu der Frage an sich selbst und ihren
Arzt: „Wer bin ich?"
Zusammenfassung: Auf der Basis des Ungewißseins vermag der
Mensch nicht zu der ihm für seine Gesundheit und sein Wohlerge
hen notwendigen Befriedigung der Bedürfnisse seiner Gemüts
seele zu gelangen. Das normale und natürliche Erleben seines
Lebens ist ihm unmöglich. Als die hauptsächlichen drei von immer
zahlreicher werdenden Menschen beschrittenen Abwege wurden
festgestellt:
1. Das Zurückziehen von den Mitmenschen, begleitet von einer
mehr oder weniger ausgesprochenen Verdrängung der sexuellen
und der affektiven Gefühle (Horney's „away").
2. Die Tendenz zum Mitmenschen hin (Horney's „towards"),
die aber, weil sie niemals zum „mit" führt, auch niemals zum Erle
ben der affektiven Gefühle und dadurch zu einer den menschlichen
Lebensanteil zufriedenstellenden Beziehung kommen läßt.
3. Das gegen den Mitmenschen Gerichtetsein (Horneys
„against"). Auch diese Art der Wesenshaltung verhindert von
vornherein die Möglichkeit des Zustandekommens eines positiven
menschlichen Kontaktes mit dem Du.
Diese drei verschiedenen, Leiden verursachenden Existenzfor
men bilden sich, weil das Denken der Menschen im Zeitalter der
Lieblosigkeit im ersten Fall von ihrer Unfähigkeit zu lieben, im
zweiten von ihrer Unwürdigkeit, geliebt zu werden, und im dritten
von der Unnützlichkeit des Liebens überzeugt ist.

95
L e b e n s - u n d To d e s f u r c h t

Das, was allen seelischen Gleichgewichtsstörungen als Gemeinsa


mes zugrunde liegt, ist das menschliche Ungewißsein der Erkrank
ten. Es ist durch eine autoritäre, verweichlichende oder mangelnde
menschliche Fürsorge ihrer Erzieher für sie in ihnen entstan
den.
Als Folge des Ungewißseins findet man bei allen Neurotikern
eine Furcht vor den Gefühlen .Diese Gefühlsfurchi ist ein Krank-
heitszeichen, ein Symptom von Anomalität, da sie die normale
Befriedigung der Gefühle zumindest stört und hemmt, wenn nicht
gar, in den schweren Neurosefällen, verhindert.
Da es nun ausschließlich die Gefühle sind, welche die lebendige
Materie von der toten unterscheiden, so ist die Furcht vor den
Gefühlen gleichbedeutend mit einer mehr oder weniger bewußten
Furcht vor dem natürlichen gefühlsmäßigen Erleben des Lebens.
Das Leben mit seinen Gefühlen wird also vom Neurotiker wie eine
Gefahr angesehen, vor der er sich schützen, gegen die er sich ver
teidigen muß.
Welche Symptome im Vordergrund des einzelnen Krankheits
bildes stehen, d. h., ob die Lebensfurcht sich nur auf den affektiven
Bezirk oder auch auf das sexuelle Gebiet erstreckt, dürfte weitge
hend von der Art der Erziehung, die dem Aufwachsenden zuteil
geworden ist, abhängen. Die Sensation der Minderwertigkeit, wel
che Furchtgefühle im gesellschaftlich-beruflichen Umgang auslöst,
ist schon wieder eine Folge der Störungen im seelisch-körperlichen
Bereich.
Aber auch das Geschlecht des Kranken spielt bei der Art der
Entwicklung der chronischen seelischen Gleichgewichtsstörung,
Neurose genannt, eine wesentliche Rolle: Die herrschenden Vor
urteile sehen die wahre Männlichkeit in einer starken Sexualität,
welche gleich Manneskraft gesetzt wird. Die wahre Frau dagegen
wird als mit starker Affektivität, die mit dem Vorhandensein von
Mütterlichkeit identifiziert wird, ausgestattet gedacht. Aufgrund
dieser Einstellung wird der „sentimentale" Mann herabsetzend für
weibisch erklärt, die „sinnliche" Frau aber als mannstoll mißbilligt.
Der Neurotiker, welcher in Ermangelung von Selbstgewißsein und
Selbstbewußtsein nicht von seinen individuellen Gewissen geleitet,
sondern von einem autoritären Gewissen beherrscht ist, wird die
Tendenz haben, das zu unterdrücken bzw. zu verdrängen, was ihm
Furcht- oder sogar Schuldgefühle verursacht, weil es von der öf
fentlichen Meinung als das für sein Geschlecht Unpassende be-
trachtet und deshalb verurteilt wird. Aus diesem Grunde hat die
Frau mehr die Tendenz, ihre sexuellen Gefühle zu unterdrücken,
der Mann aber die affektiven. Was in allen Fällen von seelisch
chronischer Gleichgewichtsstörung nicht gelebt wird - „Ich habe
während meines ganzen Lebens immer versucht, kalt zu sein", hört
man in dieser oder ähnlicher Form oft von den Leidenden -, ist das
Affektive mit einem altersentsprechenden andersgeschlechtlichen
P a r t n e r.
Daher kommen zur Kenntnis all dieser vielen Menschen zwar,
völlig unverfälscht, alle die objektiven Realitäten seiner Existenz,
von deren Vorhandensein ihn seine körperlichen Sinne überzeu
gen, und werden von der Intelligenz seines Verstandes kalt-logisch
und sachgemäß, entsprechend dem egoistischen Interesse des
Individuums, bearbeitet, nicht aber die subjektiven Wirklichkeiten
seines Lebens, die allein die Wärme des Gefühls zu vermitteln im
stande ist.
Es ist also nicht so, daß die Fähigkeit zu einem affektiven Leben
in dieser Unzahl von Menschen fehlt oder in ungenügendem Maße
vorhanden ist. Vielmehr wagen sie es aus Lebensfurcht nicht, die
ihren normalen und natürlichen Wünschen gemäße Initiative zu
ergreifen, um die in ihnen wach werdenden affektiven Gefühle zu
befriedigen. Ihr Mißtrauen gegen sich selbst hindert sie daran. Sie
sind mit einem Menschen zu vergleichen, der „liebend gern" auf
die andere Seite eines schmalen, aber brückenlosen Baches gelan
gen möchte, aber nicht den Mut besitzt hinüberzuspringen, weil das
Fehlen von Vertrauen zu seinen Fähigkeiten ihn von vornherein
mit der Furcht des Mißlingens seines Vorhabens erfüllt.
Alle die verschiedenen schon bewußt seienden oder in der
Behandlung bewußt werdenden Daseinsschwierigkeiten der Lei
denden - ihr Unsichersein, Unentschlossensein, Mißtrauen, Un
wertgefühl und Schuldbewußtsein, ebenso ihre sexuellen Pro
bleme und ihre Aggressionen-, die man auch als existentielle
(Rollo May) Konflikte zusammenfassen kann, werden aufgrund
der hier geschilderten Ein- und Eins-Sicht zu Symptomen. Ihre
Ursache ist menschliches Ungewißsein, ihre Folge ist Lebens
furcht.
Es überrascht immer wieder, daß diese Menschen, die sich nur
allzuoft den Tod wünschen, weil ihr Dasein von einem fast unun
terbrochenen Erleiden erfüllt ist, häufig von einer sie dauernd
quälenden Furcht vor dem Tod geplagt werden. Daher geschieht
es, daß man in ganz kurzer Aufeinanderfolge von ein und demsel
ben Leidenden hören kann, wie sehr er sich den Tod als einen

Q7
Erlöser und Befreier ersehnt und wie er gleichzeitig sein Kommen
entsetzlich fürchtet: „Man wartet auf die Katastrophe."
Eine Todesfurcht kann in jedem Menschen in jedem Augen
blickbewußt werden. Denn sie ist ja eine im Interesse der Lebens
erhaltung notwendige, also ganz normale Reaktion gegenüber
einer dem Leben drohenden Gefahr. Sie ist ein Warnungssignal,
das aufmerksam machen und den Einsatz der gesamten Lebens
energie in allen ihren Formen aufrufen soll, um das Leben zu ret-
ten. Akute Lebensgefahr erzeugt akute Todesfurcht.
Zu gleicher Zeit aber ist der Tod nicht irgendeine der vielen
Gefahren, denen das Individuum immer wieder vorübergehend auf
seinem Lebensweg ausgesetzt ist, sondern er stellt die dem Men
schen während seines ganzen Daseins ständig drohende, also sozu
sagen chronische Gefahr dar. Der einzelne weiß von ihrem Vor
handensein und sucht ihr mit allen Mitteln, die der Menschengeist
geschaffen hat, so gut wie möglich zu begegnen und so lange wie
möglich zu entgehen.
Wie der gesunde Mensch keine Lebensfurcht fühlt, so ist er auch
mehr oder weniger frei von Todesfurcht, weil der Raum seines
Bewußtseins von seinem Lebenswunsch und Lebenswillen so aus
gefüllt ist, daß nur selten der Gedanke an den Tod dort Platz findet.
Geschieht es aber, so muß es deshalb noch keinerlei Furchtgefühle
auslösen. Viel eher dürfte der seelisch ausgeglichene Mensch nur
ein Bedauern empfinden, daß es eines Tages mit ihm zu Ende ge
hen wird. Er ist aber seinem Schicksal dankbar, das ihm soviel
Schönes beschert hat, und sieht seinem Tod, wenn ihn gelegentlich
der Gedanke daran überkommt, gefaßt entgegen. Obwohl der
Gesunde von der ihm drohenden Gefahr des Sterbenmüssens weiß,
leidet er normalerweise nicht an einer Todesfurcht.
Die Todes- wie auch die Lebensfurcht, deren Vorhandensein bei
allen Seelenleiden in den verschiedensten Graden festzustellen ist,
müssen als etwas Anormales, Unnaturliches betrachtet werden.
Denn sie verursachen den von ihnen gequälten Menschen Leiden.
Ihre Todesfurcht, die durchaus bewußt ist, hat ihre Ursache in der
Lebensfurcht, deren Folge sie also ist. Der seelisch Gleichge
wichtsgestörte ist deshalb voller Todesfurcht, weil er fürchtet, daß
ihn der Tod ereilen könnte, bevor er noch, aus Lebensfurcht, seine
T. e h e n s c r e fi i h l e . e r l e b t h a t .

Q 8
Wann und warum entsteht Angst?

Während Adler und Jung, meines Wissens, nichts Wesentliches


über das Phänomen der Angst veröffentlicht haben, versuchten
Freud und Horney sich mit dem Problem der Entstehung der Angst
in der Angstneurose auseinanderzusetzen. Der Umstand, daß sie
Furcht und Angst nicht klar unterschieden, dürfte viel dazu beige
tragen haben, daß diese Denker nicht zu einem befriedigenden
Resultat gelangen konnten.
Zunächst ist schon das, was Freud „Real-Angst" genannt hat,
völlig identisch mit der „Furcht" vor einer bekannten Gefahr.
Wenn Horney den Begriff der Angst damit zu definieren sucht, daß
sie sagt: „Furcht ist eine Reaktion, die in einem angemessenen
Verhältnis zu der Gefahr, der man sich gegenüberbefindet, steht,
während Angst eine unangemessene Reaktion auf die Gefahrsi
tuation ist", so handelt es sich auch hier nicht um Angst, sondern
lediglich um einen stärkeren Grad von Furcht, den man vielleicht
mit Schrecken, Entsetzen oder Panik bezeichnen könnte. Denn die
Gefahr ist in dem Beispiel, das sie zum Beweis ihrer Behauptung
gibt, bekannt, was bei der Angst niemals der Fall ist (s.Rudolphson,
A Critique of Horney's Theory of Anxiety, in: American Journal
of Psychoanalysis, Vol. XXI, No. 1, 1961).
Für Freud ist die „manifeste Angst" (Horney) die Angst, die
„sich bei der Verdrängung aus der Libidobesetzung der Triebre
gungen bildet. Aber andererseits ist die Angst der Phobien eine
Ich-Angst, entsteht im Ich, geht nicht aus der Verdrängung hervor,
sondern ruft sie hervor. - Die Reduktion der beiden Ursprünge der
Angst auf einen einzigen läßt sich nicht leicht durchsetzen" (Hem
mung, Symptom und Angst, Internationaler Psychoanalytischer
Verlag, Wien, S. 42). Mein Denken über die Angst begann vor vie
len Jahren gerade deshalb, weil ich immer wieder Menschen mit
Angstneurosen behandeln mußte, die keinerlei Verdrängung die
ser Triebregungen aufwiesen.
Obwohl nun beide Psychologen sich völlig klar darüber sind, daß
„das Rätsel der Angstneurose die augenscheinliche Abwesenheit
einer die Angst hervorrufenden Gefahr ist", stehen Freud sowohl
wie Horney auf dem Standpunkt, daß „Angst, im Gegensatz zur
Furcht, durch ein Gefühl der HilBosigkeit gegenüber der Gefahr
charakterisiert ist" (Horney, New Ways in Psychoanalysis, Norton,
New York 1939, S. 195). Die Hypothese, die Angst als eine Reak
tion auf die Bedrohung durch eine unbekannte Gefahr zu betrach
ten, ist fraglos aus der weitgehenden Ähnlichkeit ihrer Symptome

QO
mit denen der Furcht entstanden. Die Tatsache, daß man über die
Art dieser Gefahr zu keiner Klärung kommen konnte, aber auch
keine andere Erklärung fand, ließ das Angstproblem sowohl dia
gnostisch wie auch therapeutisch ungelöst.
Für uns ist die Angst weder „die Furcht des ,Ichs', von den na
türlichen Forderungen des ,Es' überwältigt zu werden" (Freud),
noch „eine Reaktion auf die Bedrohung eines lebenswichtigen
Wertes" (Horney), also weder die Gegenwirkung auf eine spezi
fische noch die auf eine unspezifische Gefahr. Daher ist ihr Auftre
ten und Vorhandensein unabhängig von äußeren oder inneren,
auftauchenden und wieder verschwindenden Ursachen, gegen die
laut Freud und Horney ihr Erscheinen eine Verteidigung darstellen
soll.
Was ist die Angst aber dann?
Der als Folge seines menschlichen Gewißseins von Lebensmut
beseelte Mensch wagt seine Gefühle der Zuneigung, der Herzlich
keit und der Liebe zu befriedigen. Er findet daher ohne Schwierig
keiten den Weg zu einem Erleben der Lebensfülle und Lebens
weite.
Die aufgrund des Ungewißseins entstandene Lebensfurcht da
gegen bringt unabwendbar eine unaufhaltsam fortschreitende
Verringerung aller Erlebensmöglichkeiten und als Folge davon
eine sich immer intensiver bemerkbar machende Lebensein
schränkung mit sich. Denn die durch die Art des Denkens über sich
selbst erzeugte Furcht vor den affektiven Gefühlen schließt ihn
vom wärmenden Erleben aus und in die Kälte der Beziehungslo-
sigkeit ein, in der das Dasein unausweichlich zum Absterben ver
urteilt ist.
Die stetige Verkleinerung des mitmenschlich-gefühlsbetonten
Bewußtseinsbereiches, die den Gesichtskreis immer mehr verengt
u n d d e r e n Vo r h a n d e n s e i n h i n u n d w i e d e r a l s G e s i c h t s f e l d e i n
schränkung zum Ausdruck kommt, führt zu einer Existenz, in der
die Gefühle der Einsamkeit, Verlassenheit und Verlorenheit, der
Inhalts- und Sinnlosigkeit des Daseins den Raum des Bewußtseins
immer mehr ausfüllen und beherrschen. Sie müssen unvermeidlich
eine Lawine von Gefühlen der Trostlosigkeit und Verzweiflung
heraufbeschwören. Denn alles Denken eröffnet keinen Ausweg,
und alles Tun erscheint zweck- und aussichtslos.
Der Leidende, der wegen seines Mißtrauens gegen sich selbst an
allem, was er fühlt, denkt, sagt und tut, zweifelt, empfindet seinen
Zustand deutlich als ein Eingekerkertsein. Ob er diese Sensation,
für die ihm jede mit dem Verstand zu erfassende Erklärung fehlt.

100
dann als ein Eingeschlossensein in eine Schale, aus der er nicht her
auszukommen wagt, fühlt oder ob er bereits am anderen Extrem
angelangt ist und sich schon nicht mehr traut, die vier Wände seines
schützenden Hauses zu verlassen, beruht lediglich auf dem Unter
schied des Ausmaßes des lebensverengenden Prozesses in ihm.
Seine negativen Gedanken und Gefühle über sein Sein entlassen
ihn jedenfalls niemals aus dem Gefängnis, in das er sich in Selbst-
verfangenheit wie die Spinne in ihr Netz eingesponnen hat.
Diese Art des Daseins, die mit der von den Philosophen des Exi
stentialismus geschilderten Existenz der Leere, des Nichts und der
Angst identisch ist, drückt sich gelegentlich durch Träume aus:
Ein Fräulein, Mitte der Dreißig, dessen Probleme stets vom
Vater gelöst worden waren, ohne daß sich jemals eine wirkliche
Vertrauensbeziehung zwischen beiden gebildet hatte -„Mein
Vater ist immer ganz unpersönlich"-, und die daher voller Miß
trauen gegen die eigenen, niemals erprobten Fähigkeiten auch nie
mals ihre sexuellen oder affektiven Gefühle zu leben gewagt hatte,
träumt: „Ich bin mit meinem Vater auf einer Reise in Sevilla. Ich
betrete mit ihm einen kleinen Bierausschank, in dessen Mitte ein
Sarg steht. Als der Wirt sich uns nähert, antwortet er mir auf meine
Frage, daß in dem Sarg seine Tochter liege, die vor einer ganzen
Reihe von Jahren gestorben sei. Er hebt dann den Sargdeckel in
die Höhe. Als ich das darinliegende Mädchen betrachte, öffnet es
die Augen! - Hinterher bin ich am Ufer des Meeres. Dort sah ich
irgendein Etwas liegen. Das Meer hatte ein junges Mädchen auf
die Felsen gespült, das Selbstmord begangen hatte. Sie war leben
dig, wollte aber nicht, daß man sie rettete."
Die Patientin deutete den Traum sofort und ohne jede Hem
mung: „Das junge Mädchen bin ich! Denn ich bin ein lebendiger
Kadaver, weil ich mich niemals getraut habe, das wahre Leben
meiner Gefühle zu erleben."
Der Angstneurotiker existiert bei lebendigem Leibe als ein see
lisch Toter. Er schwebt weder in Lebens- noch in Todesgefahr. Er
ähnelt vielmehr allem Toten, also dem Unbelebten, dessen Cha
rakteristikum darin besteht, daß in seinem Dasein die Gefühle feh
len.
Der Mensch, der nicht den Mut besitzt, sich seinen Lebensge
fühlen hinzugeben, hat sich niemals sein menschliches Leben in
Lebens weite gewinnen können, sondern hat es in der von ihm ge
schaffenen Lebensenge verloren. Er hat niemals das Unbegrenzte
des Seelischen kennengelernt, dem die stete Begrenztheit des Kör
perlichen gegenübersteht. Damit aber ist er seines eigentlichen

101
Seins, seines menschlichen Selbst, das aber heißt der Menschlich
keit seines Mensch-Seins, verlustig gegangen.
Der latente Zustand dieser Lebens-Enge (spanisch: angosto) ist
das, was die Lebens-Angst (spanisch: angustia) erzeugt. Sie hat also
nicht das geringste mit der Furcht vor einer unbekannten Gefahr
zu tun, wie bis heute immer wieder behauptet und geschrieben wird
(s. Aspekte der Angst, Thieme, 1965), oder „gehört unvermeidlich
zu unserem Leben" (Grundformen der Angst, Reinhardt, 1975,
S. 7). Das jeweilige Ausmaß der Enge bestimmt die Intensität der
als ihr Symptom manifest werdenden Angst. Mit ihr existieren alle
Menschen, die infolge ihres Ungewißseins, das den Ausdruck ihres
Dauerzweifels an ihrem Wert als Menschen darstellt, nicht wagen,
die Leere ihrer Seele mit dem ihr zu ihrem Erleben notwendigen
affektiven Fühlen zu füllen und damit ihr menschliches Sein mit
Sinn zu erfüllen.
Die hier vorgetragenen Einsichten und Anschauungen stellen
die Folgerungen aus den Erfahrungen dar, die bei der Behand
lung von seelisch Kranken im Laufe vieler Jahre der Praxis ge
wonnen wurden. Ihre Richtigkeit soll nun anhand der durch sie
erzielten Erfolge der Therapie bewiesen werden.

1 0 7
Z w e i t e r Te i l

Heilung seelischen Leidens

Therapie der Neurosen

Den bis jetzt auf dem Gebiet der seelischen Gleichgewichtsstörun


gen herrschenden Zustand hat Ibor Lopez, der Verfasser eines
großangelegten Werkes „Die Lebensangst", folgendermaßen ge
sehen: „Im Verlauf der Psychoanalyse kommt ein Augenblick, in
dem, ohne daß man weiß, warum (sin saber, por que), es so scheint,
als ob das Seelische plötzlich eine Wiederaufbauarbeit leistete, die
alle neurotischen Symptome, die im Kranken vorhanden waren,
aufsaugt" (La agonia del psicoanälisis, Espana-Calpe, Buenos
Aires 1951, S. 151). Warum die Behandlungen der Neurosen so
unbefriedigend sind und warum sie so lange dauern, sagt Melitta
Schmiedeberg: „Der Psychoanalyse fehlt eine ätiologische Theorie
der Neurosen, und ohne sie ist keine wissenschaftliche Behandlung
möglich" (Values and Goals in Psychotherapy, in: Bulletin of the
Philadelphia Association for Psychoanalysis, VIII/1958, p. 233).
Die Unkenntnis der Ursache der Neurosen im allgemeinen und
der Angstneurosen im besonderen hat es bisher unmöglich ge
macht, diese sich in der westlichen Menschheit immer mehr aus
breitende Seuche kausal und damit erfolgreich bekämpfen zu kön
n e n .

Führt man die seelischen Gleichgewichtsstörungen auf Verer


bung, Konstitution, Disposition, Veranlagung usw. zurück, so ge
winnt man damit nichts für die Erkenntnis ihres Ursprungs. Man
hat lediglich einem Unbekannten einen Namen gegeben. Derartige
Behauptungen sind nämlich weder zu beweisen noch zu widerle
gen. Außerdem aber verschließen sie jeden Weg zu einer wirksa
men Behandlung. Ihre Anerkennung würde ja doch gleichbedeu
tend mit der Einsicht sein, daß kein Mensch solchen schon im Keim
zum Leiden verurteilten Menschen zu ihrer Gesundung verhelfen
kann.
Die Bemühungen der Psychotherapeuten können in der Mehr
zahl der Fälle bis heute nur gerade eine „Adaptation" oder ein
„Adjustment", also eine Anpassung an oder eine Ausrichtung auf

10'^
die individuelle Umgebungssituation, erzielen, nicht aber eine
Aufnahme oder Wiederaufnahme in das Erleben des Lebens.
„Durch lange Übung", berichtet ein Zwanzigjähriger in der ersten
Behandlungsstunde, „habe ich mich gewöhnt, vieles tun zu kön
nen, was mir vorher wegen meiner Angst nicht möglich war. Dann
aber ist eines Tages plötzlich wieder, infolge meiner Veranlagung,
wie mir mein behandelnder Arzt sagte, eine Angstkrise ausgebro
chen, und aller Fortschritt, der in der langdauernden Analyse
durch ,Übung' erzielt worden war, ist wieder fort gewesen."
Statt für Symptome Deutungen zu geben, die je nach der Schu
lung des Psychotherapeuten festgelegt sind, z.B. Ödipuskomplex,
muß der Seelenarzt für alles, was er von dem sich ihm vertrauens
voll öffnenden Patienten hört, sieht und erfühlt, so offen sein und
bleiben, daß er sich niemals auf eine bestimmte Einstellung dem
einzelnen Patienten gegenüber festlegt. Nicht durch Erklärungen,
sondern nur durch das Klären des Warum wird er jeder während
der Behandlung auftauchenden veränderten Situation diagnostisch
und therapeutisch gerecht werden können:
Eine verheiratete Frau Mitte der dreißiger Jahre, Mutter meh
rerer Kinder, war wegen einer schweren Depression erfolgreich
behandelt worden. Sie kam in den folgenden Jahren ein- bis zwei
mal jährlich zu ihrem Arzt. Jedesmal handelte es sich um Ehe
schwierigkeiten, die stets in ein bis drei Stunden dadurch völlig
behoben wurden, daß der Frau die der Wirklichkeit entsprechende
Einstellung zu ihrem Mann wiedergegeben wurde. Da beide Men
schen liebevoll aneinanderhingen, war die notwendige Umstellung
jedesmal unschwer zu erzielen.
Etwa fünf Jahre nach der ersten Behandlung - der Arzt hatte die
Patientin seit mehr als zehn Monaten nicht gesehen - erzählte sie,
daß sie seit einem Kinobesuch, wo ein Film von Krebskranken ge
zeigt worden war, schrecklich an der Furcht leide, krebskrank wer
den zu können. Außerdem sei ihre gefühlsmäßige Beziehung zu ih
rem Mann wieder sehr negativ. Bei Beginn der dritten Stunde
fühlte sie sich noch ebenso schlecht wie in der ersten, obwohl sie
aufgrund der beiden ersten Unterhaltungen jetzt wieder eine
durchaus positive Einstellung zu ihrem guten und liebenswerten
Mann habe.
Auf die Frage des Arztes nach einem Traum, der vielleicht das
Warum der Krebsfurcht klären könne, erzählt sie: „Ich bin auf
einem großen Fest. Auch der Papst ist anwesend. Aber es wird ihm
sehr wenig Beachtung geschenkt. Es machte mir den Eindruck, als
ob er von allen verlassen wäre. Da beschloß ich, ihm die ihm ge-

104
bührende Aufmerksamkeit und Achtung zu erweisen. Ich wollte
mich ihm nähern, um ihm seinen Ring zu küssen. Aber er hatte kei
nen an seiner Hand. Ich wagte nicht, zu ihm zu gehen. Ich fühlte
mich zu unwürdig dazu!"
Die verdrängte Ursache ihrer in diesem Traum zum Ausdruck
kommenden Schuldgefühle wird ihr erst auf die entsprechende
Frage des Arztes hin wieder bewußt: sie war mit einer Verspätung
von zwei Tagen unwohl geworden. Während dieser Zeit hatte die
sehr fromme Katholikin an die Möglichkeit einer Abtreibung, die
eine Todsünde darstelle, gedacht. Obwohl sie inzwischen gebeich
tet habe und ihr für ihre Gedankensünde Absolution erteilt worden

sei, fühle sie sich weiter schuldig und fürchte, daß Gott sie mit einer
Krebserkrankung bestrafen werde. Nach dem Bewußtwerden der
Zusammenhänge und einer Aussprache mit dem Arzt darüber
fühlte sie sich sofort besser.
Die Ärzte haben die infektiösen Erkrankungen erst erfolgreich
angreifen können, nachdem ihnen die wissenschaftliche Forschung
geholfen hatte, ihre Ursache, d.h. ihre Erreger, zu entdecken.
Ebenso gibt dem Psychotherapeuten auch erst die Kenntnis der
Ätiologie, d.h. der Ursache der Neurosen inklusive der Angstzu
stände, die im ersten Teil dieses Buches klargestellt wurde, die
Möglichkeit, die diagnostischen Analysen so auszuwerten, daß sie
zu therapeutischen Synthesen führen können, d.h. zu einer die
tiefsten Motive der seelischen Gleichgewichtsstörung kausal an
greifenden und damit systematisch-zielbewußt bekämpfenden
Behandlung.
Nur ein Seelenarzt, der sich berufen fühlt, dem also sein Beruf
Berufung ist, vermag mit seinem menschlichen Einfühlen auf den
Ruf um Hilfe seitens des an seinem lebendigen Fühlen Leidenden
verantwortlich zu antworten. Nur unter solchen Voraussetzungen
wird das Kennen durch Kenntnisse, die im allgemeinen totes,
äußeres Wissen sind, zu einem lebendigen, inneren Wissen und da
mit zu einem Können, das Kunst ist. Es beruht auf Erkenntnissen,
die niemals durch den objektiv beobachtenden und urteilenden
Verstand gewonnen werden können, sondern immer nur durch
Einsichten des Verständnisses in erlebtes Leben.
Das Verständnis des Arztes, das also nichts mit dem kalten Den
ken des Verstandes zu tun hat, sondern sich auf dem warmen Füh
len des Gemütes gründet, ist die Folge von Einsichten, die mit Hilfe
des Einfühlungsvermögens erzielt werden, das also dem Röntgen-
apparat im körperlichen Bereich entspricht. Es ermöglicht ihm,
mit jedem seiner Patienten, seien sie alt oder jung. Mann oder

105
Frau, Akademiker oder Kaufmann, unverheiratet oder verheira
tet, in dessen Sprache über Gott und Welt, Leben und Tod, Glück
und Unglück, Leiden und Freuden, Religion und Philosophie vor
urteilsfrei und mitfühlend sprechen zu können.
Der Arzt, der seinen Mitmenschen zu ihrem Seelenheil verhel
fen möchte, weiß, daß alle Befriedigungen des libidinös-sexuellen
Lebensanteiles, alle Erfolge im Beruflich-Materiellen, aller Auf
stieg im Sozial-Gesellschaftlichen und auch alle Hingabe an das
Transzendental-Jenseitige im Religiösen die Seele, die „ihren Sinn
verloren hat", wie Jung vom Neurotiker sagt, nicht aus ihrem
Unheil zu erlösen vermögen. Nur derjenige wird sein Seelenheil
und damit den Sinn seiner Seele zu finden imstande sein, der das
Diesseitig-Transzendentale, das nichts mit körperlichem Sinnen
begehren oder mit geistigen Wollensstrebungen zu tun hat, zu erle
ben wagt.
Der Ausdruck „Umnachtung", der im allgemeinen nur für
Geisteskranke benutzt wird, gilt mit ebensoviel Berechtigung für
die Situation der seelisch Gleichgewichtsgestörten, deren Furcht
vor ihren menschlichen Gefühlen sie in die Einsamkeit und Enge
einer beziehungslosen Existenz eingeschlossen und damit von dem
Tag mit seiner Sonne, seinem Licht und seiner Wärme ausge
schlossen hat. Sie sind wie Menschen, die sich mutterseelenallein
in der Finsternis eines großen Waldes verirrt haben und nun mit
immer stärker werdender Unsicherheit in bezug auf Ziel, Richtung
und Weg und mit stets wachsender Verzweiflung in der Dunkelheit
im Kreise herumirren. Um den Teufelskreis, in dem sie wie in
einem engen-Kerker eingesperrt sind, zu durchbrechen und zu öff
nen, bedürfen sie dringendst eines Führers, der sie mittels eines
ziel- und wegweisenden Denkens aus der Irrung und Verwirrung
der Gefühle befreit, sie in Kontakt mit der Wirklichkeit des Lebens
-etwas völlig anderes als die Realität der Existenz - setzt, den sie
verloren oder niemals besessen haben, und sie damit aus der un
heimlich quälenden Desorientierung ihres Seins ins helle Licht des
Tages zurückleitet.
Diesen Prozeß der langsamen Erhellung des individuellen
Lebens kann man bisweilen deutlich aus den Träumen des Patien
ten ablesen. Sie spielen sich zu Beginn der Behandlung in der völli
gen Dunkelheit eines Tunnels oder einer nächtlichen engen Gasse
ab. Später sieht sich dann der Patient z.B. im tiefen Schatten zwi
schen zwei dicht nebeneinanderliegenden, hohen Mauern einher
gehen, in die nur von ganz weit oben spärliches Tageslicht einfällt.
In demselben Grade, in dem dann der Leidende, geführt von sei-
nem Arzt, den ihn vom Leid der Beziehungslosigkeit lösenden und
erlösenden Weg in die Offenheit, Weite, Fülle und Freiheit des
Lebens mit seinem Erleben der Gefühle zu beschreiten wagt, er
scheinen die Bilder der Träume, bei ständiger Helligkeitsvermeh
rung, zuerst in der Dämmerung oder im Halbdunkel eines Zim
mers und danach im erleuchteten Raum, bis der Genesende
schließlich die Gestaltungen seines Unbewußten im hellen Son
nenlicht schaut.
Ein Mann von mehr als dreißig Jahren, der als Folge der
Behandlung zum erstenmal in seinem Leben den Mut gefunden
hatte, sich menschlich anzuschließen, sagte nach dem Erlebnis des
ersten Kusses: „Mir war so, als ob sich in einem völlig finsteren und
kalten Zimmer plötzlich ein Fenster weit geöffnet habe und strah
lendste und wärmendste Sonne eingedrungen sei. Ich fühlte mich
zum erstenmal in meinem Leben wahrhaft glücklich."
Vermittels einer Umerziehung, in der das anerzogene Verstan
desdenken über das Außen des Materiell-Dinglich-Sachlichen er
gänzt wird durch ein Verständnis-Sinnen über das Innen des
Immateriell-Gefühlsmäßigen, kommt der Mensch zur Besinnung
auf sein Selbst. Nur aufgrund der Selbstbesinnung kann er zu einer
neuen Gesinnung gelangen, die Selbstbewußtsein und Gewißsein
mit sich bringt. Denn das um das Selbst und dessen lebendige
Bedürfnisse erweiterte Bewußtsein des Ichs läßt ihn wissen, was
ihm fehlt und was ihm daher nottut, d. h., was ihm als Mensch not
wendig ist, um seine Not zu wenden.
Die Aufgabe des Psychotherapeuten besteht darin, den Kran
ken wieder oder zum erstenmal in seinem Leben in positiv mensch
liche Beziehung zu seinem Nächsten oder, wenn das direkt unmög
lich ist, zunächst in menschlichen Kontakt zu sich, dem Arzt, zu
setzen. Damit ist dann der erste Schritt aus dem Mißtrauen und der
dadurch verursachten menschlichen Einsamkeit heraus getan. Nur
in der freundschaftlich-affektiven Gemeinschaft mit einem Du
vermag der Mensch zu Vertrauen zu gelangen und so die Notwen
digkeiten und Bedürfnisse seiner Seele zu befriedigen. Die Besee
lung des entseelten Daseins, in dem die Ent-zwei-ung des Ichs mit
dem Selbst als Ver-zweif-lung zum Ausdruck kommt, wird durch
Zweisamkeit erzielt, welche die Einsamkeit zum Verschwinden
bringt. Im Zu - zweit - Sein gelangt das Individuum wieder zum
Einssein, zur Einigkeit mit sich selbst, wodurch es aus seiner qual
vollen Desintegration und der aus ihr entstandenen Desorientie
rung erlöst wird.
Das Grundproblem des Seelen-Heilkundigen, dessen Berufung

107
im Gegensatz zu der des Priesters, des Seelenheil-Kundigen, darin
besteht, die Seele schon in dieser Welt aus ihrem Unheil zu ihrem
Heil zu führen, heißt: Wie lehre ich in einer Welt des Kampfes, der
Konflikte, des Wettbewerbs, des Ehrgeizes, des Neides, des Hasses
und des Mißtrauens, kurz des krassesten materiell-intellektuellen
Gegeneinander ein Miteinander, das immer nur auf der Basis
menschlichen Vertrauens wachsen und gedeihen kann? Wie lehre
ich die Kunst des Liebens, die identisch mit der Kunst des Lebens
ist? Wie gebe ich dem Gemüt den Mut, zu erleben, was Herz und
Seele sich wünschen?

Kindheitsneurosen

Das Vorgehen des Seelenarztes ist in der überwiegenden Mehrzahl


der Fälle dann verhältnismäßig einfach, wenn der seelisch
Erkrankte noch ein junges menschliches Wesen ist, das mit seinen
Eltern lebt. Die Tatsache allein, daß diese sich an den Arzt um
Hilfe wenden, beweist ihr menschliches Interesse an ihrem Kinde,
ihre Besorgnis um sein Wohlergehen, kurz ihre Liebe,
1 Das Verhältnis zwischen Erzieher und Erzogenem muß unter
Ausnutzung aller im gegebenen individuellen Falle vorhandenen
Möglichkeiten so umgeformt werden, daß es lebenspositiv gestal
tend wird und wirkt. Der Erfolg wird bei diesen im allerersten
Beginn befindlichen seelischen Gleichgewichtsstörungen meist
schnell dadurch erzielt, daß man den Eltern oder dem Elternteil,
\/ier- die stärkere affektive Beziehung zum Erkrankten besitzt
meist wird es die Mutter sein -, aufzeigt, daß sie, von Vorein
genommenheiten, Vorurteilen und Mißverständnissen des Ver
standes ausgehend, ihr Kind, sein Benehmen und seine Reaktionen
völlig irrtümlich und unzutreffend gesehen und beurteilt haben.
Durch Vermittlung von Verständnis für die Ursache des kindlichen
Tuns wird sich dann aus dem Neben-, Unter- oder gar Gegenein
ander wieder ein Miteinander bilden. Dadurch, daß sich die
menschliche Gemeinschaft erneut herstellt, wird die Disharmonie
im Kinde beseitigt.
Die folgenden Beispiele sollen das Gesagte veranschaulichen:
Eine junge kultivierte Mutter wendet sich an den Psychothera
peuten, um ihn wegen ihres vierjährigen Sohnes zu konsultieren.
Das Kind hatte sich drei Jahre lang völlig normal entwickelt und
der Mutter keinerlei Erziehungsschwierigkeiten verursacht. Vor

108
einem Jahr entließ man die Amme, die das Kind während seiner
ersten drei Lebensjahre mütterlich betreut hatte. Fast anschlie
ßend daran machte die Mutter eine sehr schwere Entbindung mit
längerem Krankenlager durch, so daß sie etwa zwei Monate lang
nicht zu Hause war. Das Kind begann nach dem Fortgang seiner
Amme sehr schlecht zu essen. In der Abwesenheit der Mutter
schlug der nervöse Vater das Kind, wenn es zuwenig oder zu lang
sam aß. Seitdem, sagt die Mutter, esse es so gut wie gar nichts, und
wenn man es mit Gewalt zum Essen zwinge, breche es alles wieder
aus. Es habe schon sehr abgenommen. Alle Maßnahmen des das
Kind seit seiner Geburt betreuenden Kinderarztes hätten die
Situation nicht gebessert. Sie sei im Gegenteil immer schlimmer
geworden.
Die negative Einstellung der Eltern zum Sohn ging aus folgen
den Äußerungen der Mutter klar hervor: „Das Kind gehorcht
nicht. Es ist ausgesprochen eigensinnig. Wenn es sich vornimmt,
nicht zu essen, dann ist es auf keine Art dazu zu bringen. Es ist sehr
launisch. Es hat immer seinen eigenen Willen, den es gegen die
Eltern durchsetzen will. Mit seiner Intelligenz und Schlauheit, die
es in reichstem Maße besitzt, sucht es all das zu bekommen, was
es sich wünscht. Auch der Kinderarzt ist derselben Meinung und
hat es direkt ausgesprochen, daß der Junge richtig gehässig ist. Der
eindeutige Beweis für seinen schlechten Willen und seine Absicht,
die Eltern zu ärgern, ist jetzt gerade eben unwiderleglich erbracht
worden: er hat vierzehn Tage lang, als er bei meiner älteren Schwe
ster zu Besuch war, ausgesprochen gut gegessen. Kaum aber war
er nach Hause zurückgekehrt, da haben dieselben Schwierigkeiten
wieder angefangen. Er tut also ohne Frage alles nur, um uns, die
Eltern, zu belästigen und um zu erreichen, daß wir alle uns dauernd
um ihn kümmern müssen."
„Jedes Essen ist eine Tortur für uns alle. Mein Mann und ich set
zen uns schon voller Nervosität an den Tisch, weil wir niemals wis
sen, welche Schwierigkeiten wir wieder mit dem Kinde haben wer
den, bis es wenigstens das Allernotwendigste heruntergeschluckt
hat. Der Kinderarzt hat uns gesagt, daß ein weiteres Absinken des
Gewichtes die Gefahr einer tuberkulösen Erkrankung mit sich
bringen könnte. Mein Mann ist noch nervöser als ich, verliert daher
noch leichter und schneller die Geduld, und es ist leider schon wie
derholt vorgekommen, daß er das verstockte Kind voller Wut über
soviel Starrköpfigkeit geschlagen hat."
Der intelligenten Mutter wurde gezeigt, daß die liebevolle Für
sorge der Amme eine normale Entwicklung des ganz gesunden

l O Q
Jungen bewirkt hatte, daß er aber jetzt, infolge der ausgesprochen
gestörten affektiven Beziehung zu den Eltern an einer nervösen
Spannung leide, die ihm in Gegenwart der Eltern den Appetit ver
schlage und den Magen zuschnüre, wenn er am Tisch mit ihnen äße.
Da die Tante immer sehr gütig zu ihm sei und an ihrem Tisch kei
nerlei Nervosität herrsche, so hatten dort keinerlei Essensschwie
rigkeiten bestanden. Es handle sich also keineswegs um einen
schlechten Willen des Kindes oder gar um eine Bosheit seinerseits,
wie die Eltern augenscheinlich angenommen hätten.
Der Mutter konnte ohne Schwierigkeiten bewiesen werden, daß
ihr Kind nicht besser und nicht schlechter sei als jedes andere, daß
aber ihre Voreingenommenheit gegen es eine positive Einstellung
zu ihm unmöglich gemacht und damit die Beziehung immer negati
ver gestaltet habe. Die Beseitigung des Vorurteiles und sein Ersatz
durch ein Verständnis für die affektiven Bedürfnisse des Kleinen
riefen eine Gefühlswandlung hervor, die sich als geduldiges, herz
liches Eingehen der Mutter auf ihr Kind äußerte, so daß dessen
Furcht vor einem immer wieder erneuten Ausbruch der Eltern mit
Geschrei, Geschimpfe oder gar Schlägen schnell zum Verschwin
den kam. Die Essensprobleme verloren sich schnell, und der Junge
entwickelte sich von da an völlig normal.
Behandlungsdauer: 2 Stunden!
Eine äußerst verstörte und über den schlechten Charakter ihres
siebenjährigen Mädchens erschreckte Mutter berichtet: „Vor ein
paar Tagen habe ich entdeckt, daß meine Tochter eine Diebin ist!
Sie spielte mit Geldscheinen, die sie nur gestohlen haben konnte.
Bei der gründlichen Untersuchung, die ich sofort vornahm, stellte
es sich zu meinem Entsetzen heraus, daß sie das Geld aus der
Handtasche einer meiner Freundinnen entwendet hatte, als diese
zu einem kurzen Besuch in meinem Hause war. Das Kind hatte
inzwischen bereits einen großen Teil der gestohlenen Summe für
den Kauf von Süßigkeiten ausgegeben."
„Ich habe daraufhin sofort auch eine Durchsuchung des Kinder
zimmers vorgenommen und fand in einem Schrank Plastikgefäße
versteckt, die sie sich angeeignet hatte, als ich vor kurzem in ihrer
Begleitung Einkäufe in einem Geschäft machte. Natürlich hat sie
alles Gestohlene sofort zurückbringen und sich entschuldigen
müssen."
Die Einstellung der Mutter zum Kind war die folgende: „Da sie
die einzige Tochter und das Jüngste der Familie ist, so wird sie ent
setzlich verhätschelt und verwöhnt. Sie ist sehr egoistisch. Sie ist
langsam, streitsüchtig und widersetzt sich allem, was ihr nicht ge-

1 1 0
fällt. Mit den Dienstmädchen steht sie schlecht, strengt sich in
nichts an und hat kein Interesse an der Schule. Sie macht auch sonst
vieles was mir nicht gefällt, z. B. bittet sie fast täglich den Vater um
Geld."
Es stellt sich heraus, daß die in einem großen Haushalt sehr be
schäftigte Frau, die sich außerdem noch um die Angelegenheiten
ihres herzkranken, nervös-aufbrausenden Mannes kümmern)
mußte, niemals die Zeit gefunden hatte, um sich ihrem Töchter
chen wirklich zu widmen, das sich daher - trotz allen Verwöhnt
seins - menschlich verlassen fühlte. Es war durchaus verständlich,
daß das Kind seinen nicht gestillten affektiven Hunger durch
Materielles zu befriedigen versucht hatte, ein Vorgehen, das beim
Erwachsenen sein Äquivalent im immer stärkeren Erraffen von
Geld und Gut besitzt.
Der Mutter wurde aufgetragen, den nächsten Tag, der zufällig
ein Feiertag war, dazu zu benutzen, um sich einmal ernstlich und
herzlich mit ihrem Kind zu beschäftigen und dabei eine freund- j
schaftlich-vertrauliche Atmosphäre zu schaffen, in der sie ver
ständnisvoll mit ihm über das Vorgefallene sich aussprechen
könnte.
Zwei Tage nach der ersten Unterhaltung berichtete dann die
Mutter über das, was sie mit dem Kind inzwischen erörtert hatte.
Der behandelnde Arzt ersah aus ihrer Erzählung, daß es der Mut
ter gleich bei ihrem ersten Versuch, sich ihrem Kind menschlich zu
nähern, gelungen war, eine affektive Reaktion der liebeshungrigen
Kleinen auszulösen. Er konnte ihr daher sagen, daß aller Voraus
sicht nach in Zukunft ein Eingreifen seinerseits wohl kaum noch
vonnöten sein dürfte, da die Mutter es bereits verstanden habe, sich
zur Freundin ihres Töchterchens zu machen. Es wurde ihr nur noch
nahegelegt, nicht von dem Standpunkt auszugehen, daß sie nun die
Verpflichtung habe, das Kind dauernd zu korrigieren. Sie müsse
ihm vielmehr in wechselnder Form immer wieder vor Augen füh
ren, daß es sich durch antisoziales Benehmen nur selbst schade. Die
Aufgabe der Mutter aber bestehe darin, aus Liebe zum Kind und
im Interesse seiner gesunden Entwicklung es die Kunst zu lehren,
Konflikte mit seinen Mitmenschen tunlichst zu vermeiden, um so
zu einem befriedigenden, ja zufriedenen Leben zu gelangen.
Das Kind hat keinen Rückfall gehabt. Behandlungsdauer; 2
Stunden.
Für das exzessive Lügen -das dritte Hauptproblem dieser
Lebensperiode- soll hier kein Extrabeispiel gegeben werden.
D e n n e s i s t o h n e w e i t e r e s v e r s t ä n d l i c h , d a ß d a s Vo r h a n d e n s e i n
dieses Symptoms darauf zurückzuführen ist, daß statt einer liebe
vollen Beziehung eine furchtvolle zwischen Eltern und Kind be
steht, die diesem das Sagen der Wahrheit gefährlich und daher un
tunlich erscheinen läßt.
Ein Junge von fünf Jahren erkrankt an einer mit hohem Fieber
und starken Schmerzen einhergehenden Darminfektion. Seine
Mutter kümmert sich während seiner Krankheit Tag und Nacht um
ihr Kind. Vier Wochen nach seiner Genesung fängt es an, alle paar
Tage über Schmerzen im Leib zu klagen. Als dann die Beschwer
den auch manchmal nachts auftreten und erst besser werden, wenn
die Mutter den Jungen zu sich ins Bett genommen hat, suchen die
Eltern einen Kinderarzt auf, der den Verdacht auf Blinddarment
zündung äußert und den Patienten zur Beobachtung in ein Kran
kenhaus einweist. Dort verbleibt er vierzehn Tage, ohne daß er
während dieser ganzen Zeit irgendwelche Beschwerden äußert.
Alle Untersuchungen ergeben ein normales Resultat.
Kaum ist er wieder zu Hause, so beginnen seine Schmerzen von
neuem. Der um seine Meinung befragte Psychotherapeut rät der
Mutter, dem Kind beim nächsten Anfall zu sagen, daß man es bei
nochmaligem Auftreten von Schmerzen sofort und ohne jedes
weitere Zuwarten für drei Monate ins Krankenhaus schicken
werde, daß aber dieses Mal keiner der Eltern es während der gan
zen Zeit besuchen werde. Nachdem die Mutter entsprechend ge
handelt hatte, blieb der Junge, der heute schon Student ist, völlig
beschwerdefrei.
Behandlungsdauer: 1 Stunde.
Eltern berichten, daß ihr zwölfjähriger Sohn, der sich bisher völ
lig normal entwickelt und die Schule ohne jede Schwierigkeiten
besucht hatte, seit vier Monaten einen neuen Mathematiklehrer
habe, den er fürchte und bei dem er stets schlechte Noten be
komme. Der Vater, der jetzt begonnen habe, mit ihm die Schular
beiten zu machen, was früher niemals nötig gewesen sei, werde
ärgerlich, wenn der Sohn offensichtlich deshalb nicht versteht, weil
er überhaupt nicht daran denke, sich zu konzentrieren. Hinterher
zankten dann die Eltern untereinander, weil die Mutter dem Vater
wegen seiner Ungeduld Vorwürfe mache. Der Junge sei jetzt aus
gesprochen verkrampft, eigensinnig und trotzig geworden, so daß
die gute Beziehung, die beide Eltern bis jetzt zu ihm gehabt hätten,
bereits in der Auflösung begriffen sei.
In der folgenden Aussprache mit dem Jungen stellt sich heraus,
daß dieser Lehrer mit allen seinen Schülern schlecht steht, da ihm
offensichtlich völlig die Fähigkeit mangelt, eine positive Beziehung

11 2
zu seinen Zöglingen herzustellen. Die Kinder ärgern ihn, wo und
wie sie nur können.
Der Junge, der sich schnell öffnet, berichtet: „Während ich mei
nen früheren Mathematiklehrer liebte, habe ich auf diesen, der uns
alle schlecht behandelt, eine Wut, so daß ich alle Lust am Lernen
verloren habe. Wenn Vater oder mein Privatlehrer mir Unterricht
geben, sehe ich immer das Gesicht des verhaßten Lehrers vor mir
und habe keinerlei Lust, mich zu konzentrieren. Dann werden der
Vater oder der Lehrer ungeduldig, und das Resultat bleibt völlig
negativ. Ich komme mir wie ein Strohwisch vor, der zu nichts
taugt.''
Es wird dem Jungen gesagt, daß er, statt infolge seiner Wut
schlecht in Mathematik zu sein und sich dadurch selbst zu schaden,
Mitleid mit dem Lehrer haben solle, da dieser angesichts seines
Unvermögens, ein guter Lehrer zu sein, sicherlich sehr schwer
leide. Mit einem solchen Verständnis für die Situation würde er am
schnellsten wieder mit sich und seinen Eltern völlig in Ordnung
kommen.
Vier Wochen später rief die Mutter an, um zu sagen, daß sich
inzwischen alles normalisiert habe. Ihr herzensguter, mit Liebe
sehr verwöhnter Sohn habe ihr sehr schnell nach der Unterredung
mit dem Arzt mitgeteilt, daß seine Wut durch die neue Einstellung
zum Lehrer völlig verschwunden sei. Er habe sich daraufhin wieder
konzentrieren können, das Verhältnis zum Lehrer habe sich er
staunlich gebessert, und seine Noten seien dementsprechend
gut.
Behandlungsdauer: 2 Stunden.
Diese ganz einfach gelagerten Fälle zeigen klar auf, daß das
menschliche Verständnis des Erziehers für die Art und Ursache des
Zustandekommens jeder einzelnen und bei der Vielfältigkeit des
Lebens stets einzigartigen Situation ausschlaggebend wichtig für
die Findung der individuellen Therapie ist. Theodor Reik hat also
uneingeschränkt recht, wenn er sagt: „Je länger ich Analysen ma
che, um so tiefer wird mein Mißtrauen gegen jeden Versuch ihrer
Mechanisierung und Systematisierung" (Der überraschte Psycho
loge, S. 95).

m
Neurotische Eltern

Der folgende Fall, in dem es sich um ein ganz junges Kind handelt,
soll aufzeigen, daß schon in diesem Alter seelische Gleichge
wichtsstörungen der Eltern ein Problemkind entstehen lassen
können. In diesen Fällen müssen beide Eltern oder ein Elternteil
behandelt werden, weil nur durch Beseitigung oder wenigstens
Minderung ihrer Neurose die beginnende seelische Gleichge
wichtsstörung des Kindes zum Verschwinden gebracht werden
kann:
Eine Mutter, Anfang der Dreißig, erbittet die Hilfe und den Rat
des Arztes für ihren fünfjährigen Sohn. Ihre Nervosität ist in ihren
unruhig flackernden Augen zu erkennen. Sie äußert sich auch in
ihren ununterbrochenen Beinbewegungen, im Spiel ihrer Hände
und in ihrem immerwährenden Hin- und Herrutschen auf dem be
quemen Sessel.
„Doktor", sagt sie, „das, was in meinem Falle geschieht, ist et
was so Außergewöhnliches, daß Sie es sicher noch niemals behan
delt haben. Ich bin überzeugt, daß es oft Eltern gibt, die ihre Kinder
völlig beherrschen. So ist es auch mir mit meinem Vater gegangen.
Aber meine jetzige Situation liegt genau umgekehrt. Mein fünf
jähriger Junge beherrscht mich, und ich weiß nicht, was ich tun
kann und muß, um diesen Zustand zu ändern. Solange ich nicht zu
Hause bin, benimmt er sich mit dem Dienstmädchen durchaus nor
mal. Sobald ich aber nach Hause komme, fängt er an, mich unaus
gesetzt zu quälen. Immer will er etwas anderes. Er hat keinerlei
Respekt vor mir. Man kann ihn nur schelten, schlagen oder ein
sperren. Fast jede Nacht muß ich aufstehen, weil er mich ruft und
immer irgend etwas will. Ich weiß mir keinen Rat mehr, so nervös
bin ich schon geworden."
Gefragt, ob sie die Gründe für das Verhalten ihres Kindes wisse,
sagt sie: „Unser Kinderarzt behauptet, daß das Kind von Geburt
an nervös gewesen sei! Es handele sich also um etwas Konstitutio
nelles, das man nicht ändern könne." Als der Arzt unterstellt, daß
diese ganze Entwicklung vielleicht dadurch zustande gekommen
sei, weil das Kind wisse, daß entsprechend lang fortgesetztes Bit
ten, Belästigen und Quängeln von seiner Seite der Mutter so auf
die Nerven gehe, daß sie schließlich jedes Nein in ein Ja verwandle
und das Kind auf diese Weise immer seinen Willen durchsetze,
antwortet sie sofort: so sei es in der Tat!
In diesem Falle mußte die Mutter in Behandlung genommen
werden. Sie stand trotz langjähriger Ehe noch immer völlig im

114
Bann und unter dem Kommando ihres affektvollen, aber unbe
dingt dominierenden, schwer neurotischen Vaters, der auf jedes
Nein seiner einzigen Tochter mit einem Herzanfall oder mit einer
so lange dauernden schlechten Laune reagierte, bis sie zähneknir
schend um Verzeihung bat und tat, was er wollte. Sie liebte ihren
Vater und haßte ihn gleichzeitig, weil er ihr noch immer nicht ihre
Selbständigkeit und das Recht zugestand, ihr eigenes Leben auf
ihre eigene Weise zu leben. Sie gehörte noch immer ihm und war
mit sich aufs höchste unzufrieden - in Unfrieden mit sich selbst-,
weil sie sich stets von neuem dem Wunsch, Gebot und Willen des
Vaters unterordnete. Ihre Wut gegen den Vater und gegen sich
selbst wegen ihrer Schwäche reagierte sie dann nicht gegen den
Vater ab, den sie nicht nur respektierte, sondern auch fürchtete,
dafür aber gegen Ehemann und Kind. Diese beiden, die nicht den
gewünschten und benötigten Affekt von Frau und Mutter erhiel
ten, waren ebenfalls ständig unzufrieden, nervös und daher
schlechter Laune.
Der Arzt mußte dieser Frau Verständnis für sich selbst und für
ihr Benehmen, das ihr ganz unverständlich war, vermitteln. Sie
suchte und fand z.B. stets Anlaß zu Zank und Streit beim Nach-
hausekommen ihres Mannes, ganz gleich, ob dieser etwas sprach
Odersich ausschwieg, obwohl sie sich immer wieder von neuem auf
einen friedlich-harmonischen Abend mit ihm freute. In demselben
Maße, in dem die Patientin zur Einsicht kam, daß sie sich stets be
müht hatte,, ihren Mann negativ zu sehen, um sich nicht in ihn zu
verlieben, da ihr das entsprechend ihren Erlebnissen mit dem
Vater die Gefahr des Verfallens in eine zweite Sklaverei mit sich
zu bringen schien, besserte sich die Beziehung zu den Ihren. Ihr zu
nehmendes seelisches Gleichgewicht erlaubte ihr mehr und mehr,
ihrem Mann und ihrem Kind den Affekt zu geben, den diese bisher
entbehrt hatten. Sie war erstaunt, wie beide, ohne etwas von dem
Wechsel in ihr und seinen Ursachen zu wissen, auf das wachsende
Zugehörigkeitsgefühl der Frau zu ihnen positiv reagierten. Lang
sam verschwanden die Spannungen, die während der ganzen Ehe
dauer existiert hatten, und machten einer Atmosphäre von Heim
und Wärme Platz, in der sich alle drei wohlzufühlen anfingen.
Die Schilderung dieses einen Falles soll genügen. Denn hier
handelt es sich ja stets um eine Erwachsenenneurose, die für die
Seelenstörung des Kindes ursächlich verantwortlich ist. Diese eine
Krankengeschichte kann schon als Beweis dafür dienen, daß das
„Trauma" (Freud) des Kindes durch die Erwachsenenneurose sei
ner Eltern oder eines Elternteiles (hier der Mutter) verursacht

11 5
wird. Man kann diese Art von „Ansteckung" oder „Vererbung"
manchmal durch ganze Generationen nachweisen. Für keine an
dere Krankheit gilt so sehr wie für die Neurose das Bibelwort: „Die
Sünden der Väter werden heimgesucht bei den Kindern bis ins
dritte und vierte Glied!" Die Sünde aber, die allein wirklich als
Sünde angesprochen werden kann, besteht in dem Fehlen eines
Verständnisses, das sowohl der Seele des Täters wie auch der des
Getanen gut tut. Nur diese Art des Gut-Tuns aber verdient den
Namen Güte! Denn sie entspringt aus einer starken und daher
kraft- und machtvollen Liebe!

Jugendneurosen

Es sollen nun Fälle des Pubertätsalters geschildert werden, dessen


spezielle Problematik nicht nur in der erwachenden Sexualität und
den dadurch heraufbeschworenen Konflikten besteht, sondern
auch in der Notwendigkeit, selbständig menschlichen Kontakt mit
anderen aufnehmen zu müssen. Während bisher die Gegebenhei
ten des Elternhauses keinerlei eigenständige Initiative erforderten,
befindet sich der junge Mensch nun - ganz auf sich allein gestellt,
weil ihm niemand bei der Bewältigung dieser Aufgaben helfen
kann -, vor einer Situation, der er sich bei vorhandenem Ungewiß
sein nicht gewachsen fühlt. Dann überkommt ihn angesichts der
Schwierigkeiten, der Unkenntnis ihrer Überwindung und der
Möglichkeit einer Niederlage die Furcht und als Folge davon die
Neigung, sich vor diesen in seinem Leben neuen Problemen zu
rückzuziehen, statt sie zu lösen.
Eine Mutter berichtet, daß ihre jetzt sechzehnjährige Tochter
seit jüngster Kindheit an Angst leide, die zur Zeit so starke Formen
angenommen habe, daß sie sich immer unter ihrer Bettdecke ver
krieche. Vor einem Jahr begann sie auf Bälle zu gehen und gefiel
überall sehr gut. Jetzt aber habe sie sich seit einigen Monaten fast
völlig von allem gesellschaftlichen Verkehr zurückgezogen. Sie
spreche sich weder zu Vater noch Mutter aus, da keinerlei Ver
trauensverhältnis bestehe.
Das junge Mädchen erzählt dann: „Die Eltern geben immer
meinen Geschwistern recht, die auch immer gegen mich sind. Ich
ärgere mich sehr leicht. Mich hat niemand lieb. Obwohl ich auf al
len Tanzereien immer aufgefordert werde, habe ich jedesmal
Furcht, daß ich Mauerblümchen spielen werde. Ich will auch gar
1 1 ^
nicht denken, daß jemand mich lieben könnte, damit ich dann nicht
hinterher an meiner schweren Enttäuschung leiden muß."
Es stellt sich schnell heraus, warum sie solch starkes Mißtrauen
gegen sich selbst hat: „Die Mutter sagt mir immer: Du kannst
überhaupt nichts, du bist zu nichts zu gebrauchen, du machst alles
falsch, du bist ein ausgesprochener Egoist. Mutter hat mich über
zeugt", sagt das Kind, „daß ich in keiner Beziehung etwas wert bin.
Die Mutter mochte mich schon seit meiner jüngsten Kindheit nicht
leiden. Sie beschimpfte mich immer, hatte stets etwas an mir aus
zusetzen und hat mir, wie ich mich deutlich erinnere, oft gesagt, daß
sie mich nicht mag. Die Mutter schürt direkt meine Unsicherheit
und Furcht."
Es konnte der Patientin unschwer bewiesen werden, daß sie mit
ihren Vorurteilen die Wirklichkeit verfälscht habe. Denn ihre Vor
stellungen von der Einstellung der Eltern ihr gegenüber entsprä
chen in keiner Form der gegenwärtigen Wirklichkeit. Sie wisse ge
nau, daß die Eltern ihr mindestens ebensoviel schenkten wie den
Geschwistern, daß sie aber außerdem, im Gegensatz zu ihnen,
überallhin mitgenommen werde. Sie könne das Vorhandensein der
Liebe und Fürsorge der Eltern schon daran erkennen, daß sie jetzt
zum Arzt gebracht worden sei, um schnell ein froher, gesunder
junger Mensch zu werden.
Nach der sechsten Behandlungsstunde konnte die Mutter dann
berichten, daß das Kind völlig verändert sei: sie helfe jetzt plötzlich
freiwillig im Haus, sei um die Mutter und erzähle von sich, was vor
her niemals der Fall gewesen sei. Sie habe auch der Großmutter
gesagt, daß der Arzt sie von der Liebe der Eltern, an die sie niemals
geglaubt hatte, überzeugt habe. Nachdem ausführlich mit den sehr
unausgeglichenen Eltern über eine Änderung ihres Benehmens zu ^
ihrer Tochter gesprochen worden war, verschwanden alle Verhal
tensstörungen und all ihre Hemmungen im Zusammensein mit ih- ;
ren Altersgenossen beiderlei Geschlechtes schnell.
Eine Mutter wendet sich wegen ihrer sechzehnjährigen Tochter,
die Bettnässerin ist, an den Arzt. Bis zur Geburt des zweiten Kin
des, d. h. bis zum Alter von zwei Jahren, zeigte sie keinerlei Anzei
chen von Nervosität. Dann fing sie an schlecht zu essen, unfreund
lich und ablehnend zu sein. Sie sei seit dieser Zeit immer furchtsam
und schweigsam gewesen, habe wenig Kontakt mit Altersgenos
sinnen gehabt, habe ein zurückgezogenes Leben geführt und war
stets eine schlechte Schülerin. Sie habe Interesse an klassischer
Musik und am Stricken und Häkeln. Seit zwei Jahren sei sie mit
einem Jungen befreundet. .

11 7
Vor zwei Jahren habe ihr Mann einen Herzinfarkt gehabt, wo
nach sich sein Charakter völlig verändert habe. Sie alle lebten jetzt
im Hause in richtiger Furcht vor den unbeherrscht jähzornigen
Ausbrüchen des Familienoberhauptes. Das vorher gute Familien
leben existiere nicht mehr. Auch zwischen den drei ältesten Töch
tern herrsche dauernd Zank und Krach.
Die Tochter erzählt: „Jede Sorge, jede Aufregung am Tage ver
ursacht mir in der Nacht das Einnässen. Ich liebe die Einsamkeit.
Meine Familie belästigt mich, weil sie sich in meine Privatangele
genheit mit meinem Freund einmischt. Besonders schlimm beneh
men sich in dieser Beziehung meine beiden jüngeren Schwestern.
Sie versuchen bei jeder Gelegenheit, mich zu beherrschen, und ich
bin zu ängstlich, um mich ihnen widersetzen zu können. Ich rege
mich aber innerlich jedesmal furchtbar auf. Ich bin absolut sicher,
daß sie es nur tun, um mich zu belästigen und mich zu kränken."
Der Zuhörer merkt deutlich an der Art ihres Berichtes, an ihren
Gesten, ihrem Ton und an der Beobachtung, daß sie während des
Erzählens feuchte Augen bekommt, daß ihre Lage sie bis ins
Innerste aufrührt.
Es wird dem jungen Mädchen gezeigt, daß sie zu dem Benehmen
ihrer je um ein Jahr jüngeren Schwestern eine nicht der Wirklich
keit entsprechende Einstellung habe. Sie, die Ältere, habe ja kei
nerlei Anlaß dazu gegeben, daß die Kleineren ein Interesse daran
hätten, sich ihr gegenüber schlecht aufzuführen. Es sei sicherlich
so, daß die beiden bewundernd zu ihrer Schwester aufsähen, die
schon einen Freund habe, während sie sich das erst nur wünschten.
Alle ihre Fragen hätten nichts mit einem Einmischen in fremde
Angelegenheiten zu tun, sondern seien bloße Neugierde, um etwas
von diesem ihnen noch ganz unbekannten Lebensbezirk zu erfah
r e n .

In der zweiten Stunde erzählt sie bereits, daß die Fragen der
Schwestern sie nicht mehr aufgeregt hätten, daß sie ihnen zum er
stenmal ruhig Antwort gegeben habe und daß plötzlich kein Streit
mehr in diesen Tagen zwischen ihnen gewesen sei. Sie berichtet,
daß sie infolge eines Traumes eingenäßt habe: „Ich befand mich
auf einem Hügel. Ich konnte nicht hinuntergehen, weil viele
Schlangen im Wege waren. Ich wachte mit Schrecken auf und hatte
eingenäßt." Sie macht sich also aus Furcht vor ihren sexuellen
Wünschen naß.
In der nächsten Stunde meint sie, daß es mit ihrer Nervosität
nicht besser geworden sei, da sie in den verflossenen fünf Tagen
sowohl mit ihrem Vater wie auch mit Mutter und Freund andau-

118
ernd Diskussionen gehabt habe. Es wird ihr klargemacht, daß es
ihr Unsichersein und ihr Stolz seien, die die Streitereien heraufbe-
schwörten, da sie laut ihrem eigenen Bericht immer von neuem
alles mögliche verteidige, was sie selbst als unberechtigt an
sehe.
Zwei Tage später erzählt die Mutter, daß die Unruhe und
Gereiztheit der Tochter sich sehr vermindert habe. Sie sei so ruhig
und friedlich gewesen wie schon seit sehr langer Zeit nicht.
Die Patientin berichtet, daß sich ihr Freund seit ein paar Tagen
in seinem Benehmen zu ihr ebenso geändert habe wie ihre Schwe
stern. Sie hat aber bereits genug Einsicht, um zu erkennen, daß sie
selbst ganz anders geworden sei. Der junge Mann sehe die Ursache
für diese ihre Wandlung darin, daß sie nicht mehr alles übertreibe
und vergrößere. Die eine Schwester habe sich gestern sogar wegen
eines Problems um Rat an sie gewandt. Die feindliche Beziehung
sei also jetzt zu einer freundschaftlich-vertrauensvollen geworden.
Sie sei jetzt ausgesprochen glücklich, weil sich nun auch schon die
zweite Schwester ganz anders zu ihr benehme: „Beide wollen mich
nicht mehr beherrschen."
In der Schule habe sie sich freiwillig zu einer Arbeit gemeldet,
was früher niemals der Fall gewesen sei. Sie habe Wut und Stolz
verloren. Selbst die Eltern hätten sich geändert. Sie fühle sich jetzt
von allen verstanden. Alle Nervosität sei fort, da der Arzt ihr ihren
Minderwertigkeitskomplex fortgebracht habe. Sie habe jetzt im
Gegensatz zu früher mehr Vertrauen zur Mutter als zum Freund.
Die Mutter bestätigte, daß ihre Tochter sich völlig geändert
habe. Sie sei die beste Freundin ihrer beiden Schwestern geworden,
mit denen sie sich vorher unausgesetzt gezankt habe. Auch ihr
Mann habe sich jetzt, wo Friede im Hause herrsche, beruhigt und
nehme wieder positiv am Familienleben teil.
In der darauffolgenden Woche näßte sie sich noch zweimal ein.
Es handelte sich jedesmal um denselben Traum, der das Bettnäs
sen zur Folge hatte: „Ich bin auf einem Hügel. Aus dem Gestrüpp
schießt plötzlich eine Schlange hervor und will mich beißen. Ich
schreie ,Hilfe! Hilfe!' und erwache mit schrecklichem Angstge
fühl!"
Nachdem das Leiden des jungen Mädchens an ihrer affektiven
Beziehungslosigkeit zur Mutter und zu den Schwestern behoben
war, hatte sich die Häufigkeit des Bettnässens bereits stark ver
mindert, weil ja ihre Furcht vor ihren nächsten Mitmenschen in
Fortfall gekommen war. Einige Unterhaltungen über die sexuelle
Bedeutung ihrer Träume und die Bewußtmachung der sie verursa-
i i g
chenden entsprechenden Gefühle in ihr, der frommen Katholikin,
für die das Sexuelle noch einen starken Tabucharakter hatte,
brachten auch den Rest der Symptome, derentwegen sie in
Behandlung gekommen war, zum Verschwinden.
Wir kommen nun zu den Fällen, in denen eine mehr oder weni
ger positive Beziehung zwischen Eltern und Kind bis zu dem
Augenblick bestanden hat, wo sexuelle Probleme, über die der
Heranwachsende - aus mangelndem Vertrauensverhältnis - nicht
zu sprechen wagt, eine Entfremdung und damit Vereinsamung
hervorrufen, als deren Folge dann ein Ungewißsein und damit auch
ein Unsichersein in der Lebenspraxis entstehen kann. Die Arbeit
mit diesen jungen Menschen geht meist gut vorwärts, da bei der
kurzen Dauer ihrer Schwierigkeiten noch kein eingewurzeltes
Mißtrauen vorhanden ist, das ihnen den Mund verschließt. In der
Mehrzahl der Fälle öffnen sie sich schnell. Der Arzt bekommt in
ganz kurzer Zeit einen klaren Einblick in die individuelle Situation
und kann die notwendigen Schritte tun, um das Problem zu klären,
zu lösen, damit die Beruhigung zu erzielen und das seelische
Gleichgewicht wiederherzustellen.
Ein sechzehnjähriges junges Mädchen, hübsch, sympathisch und
intelligent, kommt wegen starker „Nervosität" in Behandlung. Sie
wird von einem Gynäkologen geschickt, den sie wegen des Aus
bleibens ihrer Menstruation aufgesucht hatte. Die sie begleitende
Mutter erzählt, daß Eltern und Tochter sehr unglücklich seien, weil
das Kind, das bis vor eineinhalb Jahren in einem netten Kreis jun
ger Menschen sich sehr wohl gefühlt hatte, jetzt völlig menschen
scheu geworden sei, so daß sie ungern, ja oft nur gezwungen auf
Feste und Bälle gehe. Obwohl verschiedene junge Leute gern mit
ihr zusammenkommen wollten, lehne sie mehr und mehr das Tref
fen mit ihnen ab und ziehe es vor, zu Hause zu bleiben, wo sie dann
weine, weil sie sich unglücklich fühle. Obwohl sie immer zum Tan
zen aufgefordert werde, fürchte sie vor jedem Ball, daß dort nie
mand mit ihr tanzen werde. Diese Gedanken hätten ihr dann die
im Laufe der letzten Jahre immer stärker und stärker gewordene
Abneigung, sich mit Jugend zu treffen, verursacht. Der innere
Widerstand gegen alle Veranstaltungen sei immer größer gewor
den.
Sie selbst sagt: „Ich tanze immer. Daher muß ich glauben, daß
ich einen guten Eindruck mache. Aber ich denke immer, daß die
anderen von mir schlecht sprechen, weil ich mich nicht richtig zu
benehmen weiß, weil ich mich nicht unterhalten kann, weil ich un
sympathisch bin." Ihr Unsichersein drückt sich unmißverständlich

1 2 0
in der Art ihrer Bewegungen, in der Form ihres Sitzens und in der
Schüchternheit ihrer Stimme aus.
Bei der nun einsetzenden Suche nach der Entstehungsursache
ihres Leidens erzählt sie zunächst das folgende: „Gehe ich allein
auf ein Fest, so fühle ich mich so unsicher, daß ich dort dauernd
unruhig und nervös bin. Ich beobachte mich unaufhörlich, um kei
nen Fauxpas zu begehen. Als Folge davon habe ich ungeheure
Hemmungen bei jeder Unterhaltung und kann mich niemals unge
zwungen und frei bewegen. Ich bin daher auf allen gesellschaftli
chen Veranstaltungen verkrampft. Gehe ich aber nicht allein,
sondern mit meinem um drei Jahre älteren Bruder, so ist es noch
viel schlimmer. Dann fühle ich nämlich richtige Furcht, weil er sehr
streng mit mir ist, alles, was ich sage und tue, bemängelt und über
jede Phase meines Verhaltens auf dem Ball zu Hause den Eltern
berichtet."
Als sie zum Schluß der Stunde danach gefragt wird, was vor
Beginn ihrer Veränderung passiert sei, erzählt sie, daß damals ein
Junge versucht habe, ihre Hand zu fassen und sie zu küssen. Damit
habe sie das Vertrauen zu ihm verloren. In der zweiten Behand
lungsstunde sagt sie dann, daß sie der Mutter, mit der sie sehr be
freundet ist, bis heute nicht erzählt habe, was der Junge getan habe
oder mit ihr tun wollte. Sie habe also Heimlichkeiten vor der Mut
ter, sie habe ihr nicht die Wahrheit gesagt. Das bedrücke sie und
verursache ihr dauernd ein schlechtes Gewissen. Dem Arzt könne
sie aber alles erzählen und würde es das nächste Mal tun.
3. Stunde: Während sie zu Beginn der Unterhaltung noch glaubt
oder wenigstens vorgibt, damals aus Nachlässigkeit oder Vergeß
lichkeit der Mutter nichts von dem Verhalten des Jungen ihr
gegenüber erzählt zu haben, sagt sie dann bald: „Ich hatte Angst,
mich schlecht benommen zu haben!" Sie hatte sich auch später nie
mals getraut, der Mutter etwas von dem Geschehenen zu berich
ten, weil sie sich noch einige Zeit mit dem Jungen getroffen hatte,
und gibt zu, daß sie selbst große Lust hatte, des Jungen Hand zu
fassen und sich küssen zu lassen.
Die hier entstandene Situation bedarf vielleicht der Erklärung,
daß dieses junge Mädchen einer Gesellschaftsschicht angehörte,
die nach streng katholischen Grundsätzen erzogen war. Sie läßt
sich durchaus mit den in Wien um die Jahrhundertwende von Freud
angetroffenen Zuständen vergleichen, als der sexuelle Anteil des
menschlichen Lebens noch weitgehend totgeschwiegen wurde,
weil er nicht als etwas Natürliches, sondern als etwas Unmorali
sches betrachtet wurde

121
Da nun aber das schlechte Gewissen des jungen Mädchens ihrer
Mutter gegenüber noch kein Verständnis für die Ursache ihrer
Entfernung von ihren Altersgenossen eröffnete, so mußte dem
wahren Grund ihrer Verhaltensänderung weiter nachgeforscht
werden. Eine entsprechende Frage zeitigte sofort das gewünschte
Ergebnis: ein anderer Junge hatte ihr erzählt, daß ihr Freund ihm
von seinen Erlebnissen mit ihr berichtet und gemeint habe, daß
man sie mit ein bißchen Ausdauer schon dahin bekommen würde,
sich küssen zu lassen usw. - Als sie dann hörte, daß auch ein Cou
sin, der sich ihr hatte nähern wollen, „schlecht" von ihr gesprochen
habe, fing sie an zu leiden. Denn sie begann zu glauben, daß sie
schlecht sein müsse, wenn die Jungen darüber sprächen, daß man
ihr „Schlechtes" zutrauen könne: „Damals begann es! Zu Anfang
fühlte ich mich schlecht, wenn ich einen von den Jungen traf, die
das von mir wußten. Später dachte ich immer von jedem, den ich
auf der Straße oder auf Festen traf, daß er von mir Schlechtes wisse
oder denke."
Es benötigte nur weniger weiterer Unterhaltungen, um sie, die
sich schon durch die Aussprache erleichtert und durch das wohl
wollende Verständnis des Arztes angesichts ihrer „Verfehlungen"
beruhigt fühlte, überzeugen zu können, daß an allem Geschehe
nen, ja selbst von ihr Gefühltem und Gedachtem nichts Böses sei,
sondern daß es sich sowohl bei ihr als auch bei den Jungen um das
Allernatürlichste handele. Die Tatsache, daß sie allgemein beliebt
sei und alle sich immer freuten, mit ihr Zusammensein zu können,
sei der beste Beweis für das völlig Irrige ihrer Annahmen.
Sie nahm danach schnell wieder ihr normales Leben auf und
verheiratete sich drei Jahre später, ohne jemals wieder die Hilfe ih
res Arztes zu benötigen.
Während es sich in den früher berichteten Fällen um Situationen
gehandelt hat, bei denen das Motiv der seelischen Gleichgewichts
störung weitgehend bekannt war, so daß nach Klärung des Sach
verhaltes und des Zusammenhanges zwischen Ursache und Wir
kung, also nach der Diagnosenstellung, das entsprechende
therapeutische Vorgehen zur Wiederherstellung des seelischen
Gleichgewichtes gegeben war, haben wir es in dem soeben geschil
derten Fall mit dem Beginn eines Ungewißseins zu tun, dessen
Ursache dem Bewußtsein der Patientin bereits zu entschwinden im
Begriffe stand. Bei dieser Leidenden, die bis zu ihrem fünfzehnten
Lebensjahr dank der menschlichen Beziehung ihrer Mutter zu ihr
-der Vater war sehr dominierend und ohne jedes menschliche
Verständnis- keinerlei Anzeichen einer seelischen Gleichge-

122
Wichtsstörung aufgewiesen hatte, kann man schon alle Symptome
einer Neurose feststellen: 1. ein Zurückziehen von ihrer Mutter
und ihren Altersgenossen; 2. ein starkes Mißtrauen gegen sich
selbst und ihren Wert als Mensch; 3. ein Doppeldenken: einerseits
sagte ihr die Logik des Verstandes, der sein Material aus den
Tatsachen der Wirklichkeit entnimmt, daß sie allgemein beliebt
sei, so daß gar kein Grund zu Unsichersein, Scheu, Schüchternheit
und Furchtsamkeit vorliege; andererseits hatte ihr ein negatives
Ve r s t a n d e s d e n k e n ü b e r d i e i n i h r e r w a c h e n d e n w e i b l i c h e n
Gefühle eine Entwertung ihrer selbst mit Zweifeln an sich verur
sacht; 4. findet man eine Desorientierung in bezug auf ihr Dasein:
Obwohl sie mit dem Verstand wußte, daß sie nichts Schlechtes ge
tan hatte, half ihr das nichts gegen ihre sie immer wieder überkom
menden Schuldgefühle. - Als Resultat der so geschaffenen Situa
tion war ihr, die gerade im Begriff gewesen war, zu einem den
Notwendigkeiten ihres Alters entsprechendem natürlichen Leben
zu gelangen, der Weg dorthin versperrt. Statt es in Gemeinsamkeit
mit den Altersgenossen zu erleben, wie es das Recht und das natür
liche Bedürfnis der Jugend ist, hatte sie bereits angefangen, es sich
zu versagen. Statt es in normaler und gesunder Weise auszuweiten,
hatte sie schon begonnen, es in anormaler und krankhafter Art
einzuengen.

Erwachsenenneurose

Die Schilderung des folgenden Falles soll die Konfliktsentstehung


und folgende seelische Gleichgewichtsstörung im Leben einer
Frau, die niemals irgendwelche sexuellen Probleme gekannt hatte,
aufzeigen:
Ehefrau eines Rechtsanwaltes, fünfunddreißig Jahre alt, Mutter
eines Kindes, die niemals ernstlich krank gewesen war und ebenso
wenig an Kopfschmerzen gelitten hatte. Nach einer Mandelent
zündung mit hohem Fieber und starken Kopfschmerzen ist sie am
vierten Tag nach Beginn der Erkrankung fieberfrei, leidet aber
noch an allgemeiner Mattigkeit und an Kopfschmerzen. Während
die Schwäche in der ersten Woche nach dem Fieberabfall langsam
völlig verschwindet, bleiben die starken Kopfschmerzen bestehen,
so daß die Patientin sich an einen Internisten um Rat wendet. Eine
gründliche Untersuchung ergibt außer einer ganz leichten Blut
druckerhöhung nichts Krankhaftes. Da sich im Laufe der nächsten

1 2 3
Woche trotz Anwendung verschiedener Kopfschmerzmittel nichts
an den Beschwerden ändert, findet eine erneute Untersuchung
statt, die aber wieder ein völlig negatives Ergebnis zeitigt. In
Ermangelung eines sonstigen Befundes entschließt sich der Inter
nist, die Blutdruckerhöhung für die Kopfschmerzen verantwortlich
zumachen. Die Kranke wird auf eine fleisch- und salzlose Diät ge
setzt, die sie vier Wochen lang streng durchführt, ohne daß sich ihre
Beschwerden dadurch auch nur im geringsten mindern. In den fol
genden Wochen wird vom Arzt wiederholt der Verdacht auf eine
Herzaffektion geäußert, bis die Aufnahme eines Elektrokardio
gramms die Haltlosigkeit dieser Annahme beweist.
Die Patientin hatte dann nacheinander einen Hals-Nasen-
Ohren-Arzt, einen Frauen- und Lungenspezialisten, auch einen
Zahnarzt aufgesucht, die aber ebensowenig wie der Internist eine
Ursache für die die Kranke sehr belästigenden Kopfschmerzen
ausfindig machen konnten und sie daher auch nicht zu beseitigen
vermochten.
Als die Leidende einen Psychotherapeuten aufsuchte, waren in
zwischen mehr als neun Wochen seit Beginn der Erkrankung ver
gangen. Sie litt auch weiterhin tag-täglich an den ihr vor dem
Beginn der Mandelentzündung völlig unbekannten Kopfschmer
z e n .

Die Frage des Arztes an die Kranke drängte sich von selbst auf:
„Sagen Sie mir: Worüber machen Sie sich Kopfschmerzen?" Wäh
rend der Therapeut nun mehr als eine Stunde auch nicht ein einzi
ges Wort äußerte, gelang es der Kranken ganz langsam im Selbst
gespräch, sich über die Ursache ihres Leidens klarzuwerden.
Zunächst erklärte sie, daß sie keinerlei Grund habe, sich über ir
gend etwas Kopfschmerzen zu machen, da sie ein sehr gutes Fami
lienleben führe, ihr Ehemann sie liebhabe, sehr gut zu ihr sei und
keine finanziellen Sorgen sie belasten. Nach einer kleinen Pause
begann sie von allem möglichen häuslich-familiären Ärger zu be
richten, über den sie jedoch selbst dann meinte, daß er wohl kaum
die Ursache für ihre Kopfschmerzen abgeben könne.
Dann aber kamen, nach einer langen Pause in ihrem Selbstge
spräch, andere Tatsachen zum Vorschein, die sie in keinerlei Ver
bindung mit ihrem körperlichen Leiden gebracht hatte: in ihr
Leben war vor einiger Zeit ein Mann getreten, der sich in sie ver
liebt hatte, der ihr gut gefiel, der sie unbedingt heiraten wollte und
sie daher dauernd drängte, sich scheiden zu lassen. Da einerseits
die fortgesetzte Werbung dieses Mannes sie nicht kalt gelassen
hatte, sie sich aber andererseits über die überragenden Qualitäten

124
ihres Mannes im Vergleich zu denen des anderen durchaus klar
war, so befand sie sich seit Monaten in einem sie seelisch schwer
belastenden Konflikt. Nach eingehender Darlegung aller Ein
zelheiten ihrer Situation meinte sie am Schluß ihrer Ausfüh
rungen: „Ich könnte mir vorstellen, daß ich mir darüber Kopf
schmerzen mache! Denn ich weiß nicht, wie ich mich verhalten
soll!"
Da sie bis zu dieser Stunde mit dem Psychotherapeuten niemals
davon gehört hatte, daß eine seelische Gleichgewichtsstörung auch
körperliche Gleichgewichtsstörungen, wie in ihrem Fall die Kopf
schmerzen, hervorrufen kann, auch kein einziger der konsultierten
Spezialärzte daran gedacht hatte, sie auf diese Möglichkeit auf
merksam zu machen, viel weniger noch ihr nachzuforschen, so
wurde ihr erst jetzt der Zusammenhang zwischen ihren physischen
Beschwerden und ihrem psychischen Problem kar.
Bei Beginn der zweiten Sitzung, eine Woche später, berichtete
sie, daß die Kopfschmerzen, die sie fast zehn Wochen ununterbro
chen gequält hatten, bereits vierundzwanzig Stunden nach der er
sten Sitzung verschwunden gewesen waren. Es wurde ihr nun ge
zeigt, daß ihr Konflikt im Grunde darauf zurückzuführen sei, daß
sie sich einerseits als Frau zum Freunde und andererseits als
Mensch zu ihrem Ehemann hingezogen fühle. Sie, die sich von ih
rem Mann geliebt wußte, was ihr Gewißsein und Geborgenheits
gefühl gegeben hatte, würde dieses Wichtigste für ein zufrieden
glückliches Leben höchstwahrscheinlich aufs Spiel setzen, wenn sie
aus Neuheits- und Sexualreiz ihren Mann, zu dem sie volles Ver
trauen hatte, verlassen und sich mit dem anderen, zu dem sie als
Mensch keinerlei Vertrauen besaß, verheiraten würde. Es wurde
ihr weiter gesagt, daß die nach der Mandelentzündung immer wei
terbestehende Kopfschmerzen ihr vor sich selbst und vor dem sie
bedrängenden Liebhaber als Vorwand gedient hätten, um den
endgültigen, ihr schwer werdenden Entschluß immer wieder bis
nach ihrer Gesundung vertagen zu können. Es war in diesem Fall
leicht, der intelligenten Patientin klarzumachen, was in ihrem
Interesse lag, was sie sich in Wirklichkeit wünschte und daher
wollte und wohin sie gehörte. Damit war der Konflikt beseitigt und
mit ihm die Kopfschmerzen.
Eineinhalb Jahre später trat sie an den Tisch des in einem Kaf
feehaus sitzenden Arztes heran und erzählte ihm, daß sie inzwi
schen nochmals eine Reihe von Tagen Kopfschmerzen gehabt
hätte. Sie hatte bereits beschlossen, ihn aufzusuchen. Als sie sich
dann überlegte, was sie ihm mitteilen könnte, entdeckte sie, wor-

125
über sie sich dieses Mal Kopfschmerzen machte. Sie löste das Pro
blem, womit die Ursache der Schmerzen beseitigt war.
Ein fünfzigjähriger Mann hatte seit mehr als zwanzig Jahren in
seltener Harmonie mit seiner Frau und seinen Kindern gelebt.
Neben vorbildlicher Pflichterfüllung in seinem Offiziersberuf wid
mete er jede Minute seiner Freizeit ausschließlich dem Zusam
mensein mit und der Fürsorge um seine Familie. Als er dann eines
Tages seinen Abschied bekommen hatte, ließ er sich gegen den Rat
seiner Frau, die ihn wesentlich besser kannte als er sich selbst, in
Geschäfte ein, die ihm, der alles andere als ein Kaufmann war,
nichts als Verluste einbrachten. Aus Scham, daß er so dumm gewe
sen war, Dinge zu tun, die ihm absolut nicht lagen, hatte er zum
erstenmal in seinem langen Eheleben Geheimnisse vor seiner Frau,
ja hatte mit Ausreden und Lügen die seiner menschlichen Eigen
liebe und seinem männlichen Stolz unangenehme Wahrheit ver
tuscht.
Hatten schon die mißlungenen Geschäfte ein Mißtrauen und ein
Unsichersein in bezug auf die eigenen Fähigkeiten in ihm hervor
gerufen, so verursachte ihm die Entfremdung von seiner Frau
Gefühle der Einsamkeit und Verlassenheit. Er suchte den Arzt auf,
weil er zum erstenmal in seinem Leben Angstzustände hatte. Auf
Veranlassung des Therapeuten überwand der Patient seine Scham
vor seiner Frau, sprach sich mit ihr aus und fand durch ihr mütter
lich-liebevolles Verständnis ohne jede Schwierigkeit zur Gemein
schaft mit ihr zurück, in der alle seine Krankheitssymptome sofort
z u m Ve r s c h w i n d e n k a m e n .
Diese Krankengeschichten sollen als Beispiele dafür dienen, daß
sich seelische Gleichgewichtsstörungen aus ganz verschiedenen
Ursachen und in ganz verschiedenen Formen zu bilden vermögen.
Sie sollen aufweisen, daß neurotische Symptome auch in solchen
Erwachsenen entstehen können, die bis dahin infolge eines affekt
erfüllten Elternhauses oder Ehelebens keinerlei menschliches
Ungewißsein kennengelernt haben. Es wurden Fälle ausgewählt,
die wegen ihres kurzdauernden Bestehens unkompliziert waren
und deren Schilderung deshalb in bezug auf Symptome, Ursache
und Therapie in knapper Form unschwer möglich war. Sie zeigen
mit aller wünschenswerten Deutlichkeit auf, daß die entstandene
oder auch nur drohende Beziehungslosigkeit den neurotischen
I Prozeß in Gang setzt und die wiederhergestellte Kommunikation
1 ihn ausheilt.

126
Angstneurosen

Die Angstneurose unterscheidet sich von allen anderen Neurosen


dadurch, daß das im Vordergrund des Geschehens und Erleidens
stehende Symptom die Angst ist. Ihre Stärke ist, wie wir feststell
ten, dem im Menschen vorhandenen Grad seiner Lebensenge pro
portional. Die Lebensenge wieder ist die Folge einer Beziehungs-
losigkeit, die in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle seit jüngster
Kindheit bestanden hat. Sie hat den Charakter und damit die
Wesenshaltung des Menschen ausschlaggebend geprägt. Daher
gehört die Angstneurose zu den Charakterneurosen. Sie ist ihre
schwerste und daher quälendste Form.
„Es war drei Tage nach der Geburt meines Töchterchens", er
zählt die vierunddreißigjährige Patientin in der ersten Behand
lungsstunde. „Ich lag abends um 22.00 Uhr allein in meinem Zim
mer in der Klinik. Man hatte mir gerade eine Penizillininjektion
gegeben, um jeder Möglichkeit einer Komplikation des Wochen
bettverlaufes nach dem Kaiserschnitt vorzubeugen. Plötzlich über
fiel mich eine tödliche Angst. Rasendes Herzklopfen setzte ein,
ihm folgte ein furchtbarer Schweißausbruch. Ich glaubte sterben zu
müssen. Ich schrie um Hilfe. Langsam gingen die Symptome vor
über. Obwohl ich nach diesem Erlebnis jede weitere Injektion
strikt ablehnte, wiederholten sich die Angstanfälle an jedem ein
zelnen der zwölf Abende, die ich noch in der Klinik lag."
„Seit dieser Zeit - inzwischen sind drei Jahre vergangen - lebe
ich in der ständigen Angst, daß jeden Augenblick wieder ein Herz
anfall auftreten und meinem Leben ein Ende setzen könnte. Auch
habe ich eine panische Furcht vor Injektionen. Obwohl eine ganze
Anzahl von Herzärzten mir aufgrund der jedesmal wiederholten
Elektrokardiogramme fest und durchaus glaubhaft versichert ha
ben, daß mein Herz völlig gesund ist, kann ich meine Ängste nicht
loswerden. Rein verstandesmäßig weiß ich, daß ich körperlich völ
lig gesund bin. Aber dieses Wissen nützt mir nichts, wenn mich
meine Angstanfälle überkommen. Ich bin bereits durch zwei psy
chotherapeutische Behandlungen gegangen. Der erste Arzt bezog
alles auf mein sexuelles Leben, der zweite auf meine Beziehung zu
meiner Mutter. In beiden Behandlungen haben sich meine Angst
zustände um nichts gebessert."
„Ich fühle mich allein. Denn meine Ehe ist ausgesprochen
schlecht, da mein Mann sehr dominierend ist und alles tut, was er
will. Ich habe zu niemandem Vertrauen und fühle mich daher völlig
schutzlos und verlassen. Ich war mein ganzes Leben lang immer

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sehr nervös. Jetzt erregt mich aber jede, selbst die kleinste Ver
pflichtung, weil ich mich ihr nicht gewachsen fühle. Wenn ich auf
der Straße inmitten vieler Menschen bin oder wenn ich chauffiere,
überall denke ich immer, daß mir in jedem Augenblick etwas pas
sieren, daß ich allein und hilflos plötzlich mitten auf der Straße
sterben könnte. Wenn ich mich in Gesellschaft, im Kino oder im
Theater befinde, habe ich die Angst, daß die Menschen merken
könnten, daß etwas mit mir nicht in Ordnung sei. Denn ich glaube,
daß ich jeden Augenblick verrückt werden kann. Ich will nieman
den sehen. Ich habe sehr, sehr oft Todesvorstellungen. Ich fühle
mich stets abseits der Menschen, als ob ich nicht völlig hier in dieser
Welt wäre. Es ist mir so, als ob ich eine doppelte Persönlichkeit
hätte. Doktor, helfen Sie mir! Ich kann so nicht weiterleben!"
Vorgeschichte: Der Vater starb, als die Patientin noch klein war.
Die Mutter fuhr mit den Kindern ins Ausland, wo sie sich nach kur
zer Zeit wieder verheiratete. Unsere Kranke hat mit dieser Frau,
die ihr gegenüber immer sehr dominierend und streng war, niemals
irgendwelche affektive Beziehung gehabt. Auch der Stiefvater
blieb ihr stets völlig fremd. „Ich fürchtete mich immer vor meiner
Mutter, die, solange ich denken kann, sehr nervös war und in stän
diger Furcht vor Krankheiten lebte. Sie zog immer meine ältere
Schwester, die die Schönheit in der Familie war, mir vor. Sie haßte
mich, beschimpfte und beleidigte mich bei jeder Gelegenheit. Sie
sagte z.B. eines Tages plötzlich bei Tisch in Gegenwart meines
Bräutigams und dem meiner älteren Schwester ohne jede äußere
Veranlassung in sehr aggressivem Ton: ,Ich war als junges Mäd
chen viel besser als du!', woraufhin ich furchtbar zu weinen anfing
und vom Tisch flüchtete. Ob es sich bei ihr um eine Eifersucht ge
handelt hat, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß mir ein
Freund meiner Mutter einmal sagte, wie schön ich sei, und hinzu
fügte, daß ich der Mutter nichts davon sagen sollte, da sie sich är
gern würde."
Noch in der Verlobungszeit durfte die Patientin niemals allein
mit ihrem Bräutigam ausgehen, der auch nur zweimal in der Woche
zum Essen kommen durfte. Letzteres änderte sich erst, als sich die
ältere Schwester auch verlobte. Ihr Bräutigam machte ihr stets
Vorwürfe, daß sie sich so sehr von der Mutter beherrschen und sich
alles von ihr gefallen lasse. Oft stritten sie darüber, und wenn er
dann wütend wegging, weil sie wieder nicht gewagt hatte, mit ihm
allein auszugehen, so wußte sie nicht, ob er wiederkommen werde.
„Damals weinte ich jeden Tag und hatte jeden Tag mit ihm und
der Mutter Streit!"

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Gleich nachdem sie mit fünfzehn Jahren in ihr Geburtsland zu
rückgekehrt war, lernte sie ihren späteren Mann kennen und ver
heiratete sich im Alter von siebzehn Jahren mit ihm, ohne jemals
irgendein anderes Erlebnis gehabt zu haben. War dieser um fünf
Jahre ältere, sehr tatkräftige, energische und intelligente Mann
schon in den zwei Jahren der Bekanntschaft vor der Heirat sehr
dominierend gewesen, so beherrschte er seine schwache, unsichere
Frau von Beginn der Ehe an bedingungslos. Sie erlebte ihre erste
Enttäuschung mit ihm, als er ihr, noch als Bräutigam, sagte, daß
er eine ganze Weile unentschlossen gewesen sei, ob er sich mit ihr
verheiraten solle. Sie ist überzeugt, daß er es nicht aus Liebe getan
hat, sondern aus Konvenienzgründen und weil er in ihr eine Frau
sah, die bereit war, mit ihm nach seinem Willen zu leben.
„Unsere Ehe war von allem Anfang an denkbar schlecht. Ich
fühlte ein starkes Bedürfnis nach Zärtlichkeit, die ich im Eltern
haus immer entbehrt hatte. Vor Eingehen der Ehe hatte ich sexu
elle Wünsche und regte mich auf, wenn mich mein Bräutigam um
faßte, küßte und berührte. Nach der Heirat dagegen hatte ich kaum
mehr solche Gefühle. Der Gedanke, Mutter zu werden, hatte mir
immer sehr gut gefallen. Obwohl ich auch immer wie meine Mutter
von Furcht vor Krankheit und Tod geplagt war und bin, wünschte
ich mir ein Kind und hatte zu Anfang keine Furcht vor den Folgen
einer Schwangerschaft."
„Als sich dann aber keinerlei Gefühlsbeziehung zwischen mei
nem Mann und mir bildete, fing ich an, eine enorme Einsamkeit
zu spüren. Denn niemals tat er irgend etwas, was mir bewiesen
hätte, daß er mir gut war. Ich begann genau dieselbe Furcht vor ihm
zu haben wie vor meiner Mutter. Ich unterwarf mich langsam al
lem, was er sagte und wollte. Infolge des Fehlens sexueller Wün
sche mit ihm und des völligen Mangels an Zärtlichkeit habe ich nie
mals etwas vom Geschlechtsverkehr gehabt. Mein Mann hat mich
von Anfang der Ehe an mit jeder Frau, die ihm irgendwie erreich
bar war, betrogen. Schon zu Beginn hatten wir Streitigkeiten, weil
er mit allen meinen Freundinnen etwas anzufangen versuchte, wo
bei er sich durch meine Gegenwart in keiner Weise stören ließ."
„Um mich nicht so verlassen zu fühlen, brauche ich jemanden,
mit dem ich mich nicht nur aussprechen kann - da habe ich sogar
eine Freundin -, sondern einen Menschen, den ich liebhabe und
der gut zu mir ist. Nachdem ich niemals in meinem Leben in dieser
Hinsicht jemanden gehabt hatte, fand ich auch nach meiner Heirat
niemals, was ich mir so sehr wünschte. Ich fühlte mich betrogen,
verraten. Ich kam mir wie ein Möbel vor, das dann und wann, wenn

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es dem anderen gerade paßt, gebraucht wird, um danach bis zur
nächsten Benutzung völlig vergessen zu werden. Nicht als Mensch
interessierte ich meinen Mann, sondern nur als ein Mittel, das ihm
einen Sohn gebären konnte, den er sich so sehr wünschte. Für ihn
ist es völlig unwichtig und uninteressant, was ich fühle, denke und
wünsche. Ich bin für ihn nur eine Zuchtstute, ein Instrument, um
Kinder in die Welt zu setzen. Es ist ihm auch völlig gleichgültig, daß
mir dabei etwas passieren könnte."
Die junge Frau blieb in der Ehe genauso menschlich einsam, wie
sie es als junges Mädchen gewesen war. Ihr Unwertgefühl war stär
ker als je zuvor. Denn „ich habe ihn enttäuscht!" sagte sie sich.
Die erste Aufgabe bestand in diesem Fall darin, aufzuklären,
warum bei dieser Kranken die schwere Angstneurose erst so spät
ausgebrochen war, obwohl sie schon seit vielen Jahren in immer
derselben unglücklichen Ehesituation lebte.
' Nach einer langen kinderlosen Ehe hatte sie sich auf das Drän
gen ihres Mannes hin bereit gefunden, sich einer Spezialbehand
lung und Operation zu unterziehen, um schwanger zu werden.
Obwohl sie schon keinerlei Interesse mehr besaß, diesem Mann ein
Kind zu gebären, und voller Befürchtungen in bezug auf Schwan
gerschaft und Entbindung war, hatte sie es trotz aller schon durch
lebten Enttäuschungen in der Hoffnung getan, sich dadurch doch
noch seine Zuneigung gewinnen zu können. Die Irrigkeit ihrer
Erwartungen begann ihr schon während der Schwangerschaft auf
zudämmern, da er sich in diesen Monaten noch weniger um sie ge
kümmert hatte als vorher. Auf ihre allerdringendste Bitte hatte er
sich während ihres Aufenthaltes in der Gebärklinik dort auch ein
logiert. Er hatte ihr dann nicht verhehlt, wie enttäuscht er war, daß
sie ein Mädchen statt des ersehnten Sohnes geboren hatte. In der
zweiten Nacht nach der Entbindung hatte er sie bereits in der Kli
nik allein gelassen, um an irgendeinem Fest teilzunehmen.
Der starke Angstanfall, der bald nach seinem Fortgang eintrat,
war Ausdruck der Lebenssituation, in der sie sich befand. Unmiß
verständlich und unbarmherzig wurde ihr bewußt, daß alle die
Opfer, die sie gebracht hatte, ihr nichts genutzt hatten. Es überkam
sie unvermeidlich die verzweiflungsvolle Erkenntnis, die sie sich
bisher nicht hatte eingestehen wollen, daß sie niemals mehr in ih
rem Leben aus ihrer Einsamkeit zu Zweisamkeit kommen, daß sie
niemals Zärtlichkeit, Liebe und Gutsein kennenlernen werde. Sie
wußte in diesem Augenblick, daß sie ihr Dasein in der Ehe mit die
sem Mann weiter in völliger Herzensleere werde verbringen
müssen. Das Gefühl der Angst quälte sie angesichts der Lebens-

n o
enge, in der ihr bis ans Ende ihrer Tage zu existieren bestimmt
w a r .

Der Psychotherapeut mußte sich in zwei Gesprächen mit dem


Ehemann davon überzeugen, daß dieser wirklich, wie es seine Frau
richtig gefühlt hatte, keinerlei persönliches Interesse an ihr besaß.
Erwünschte sich nichts anderes, als sich von ihr scheiden zu lassen.
Damit war der nächstliegende Weg des therapeutischen Vorgehens
nicht gangbar, nämlich Mann und Frau durch Einstellungsände
rung zueinander in menschliche Beziehung zu setzen und auf diese
Weise die Lebensenge der Patientin mit ihrer Angst zu beseitigen.
Die Kranke hatte vom Tag des Beginns der Behandlung bis zu
ihrem Abschluß, ja bis zum Schreiben dieser Zeilen mehr als zehn
Jahre später niemals wieder einen wirklichen Angstanfall. Wie war
das erreicht worden? Durch systematische Ermutigung zur Auf
nahme einer neuen menschlichen Beziehung, deren Verwirkli
chung ihrem Leben endlich einmal Wirklichkeit geben und sie da
mit aus der Enge befreien konnte.
In der dritten Behandlungsstunde erzählt die Patientin, daß sie
seit sechs Jahren Interesse an einem anderen Mann habe. Er ge
höre zu ihrem Gesellschaftskreis und hofiere sie in der letzten Zeit
so sehr, daß ihr Mann ihr schon seinetwegen Szenen gemacht habe.
In diesen Tagen habe sie sich zum erstenmal mit ihm allein getrof
fen, was sie nur gewagt habe, weil ihr Mann verreist sei. Sie wolle
es nicht wieder tun. Denn sie zittere bei dem Gedanken, daß er es
nach seiner Rückkehr erfahren könne.
In der vierten Stunde sagt sie gleich zu Anfang: „Ich bin immer
sehr furchtsam gewesen. Ich weiß selbst nicht, woher ich jetzt den
Mut genommen habe, von mir aus diesen Mann anzurufen!" -
„Während ich dann mit ihm im Auto zusammen war, hatte ich
während der ganzen Zeit Furcht, daß uns irgendein Bekannter zu
fällig sehen und erkennen könne. Ich dachte auch mal an die Mög
lichkeit, jetzt ohnmächtig zu werden oder zu sterben. Aber diese
Gedanken, die mich sonst so quälen und mir Angst einjagen, waren
irgendwie weit fort und belästigten mich gar nicht. Ich fühlte mich
glücklich und zufrieden. Als ich dann zu Hause in meinem Bett lag,
dauerte dieser Gemütszustand immer noch weiter an." Dann fügte
sie aber sofort hinzu: „Das muß das letzte Mal gewesen sein. Ich
darf mich nicht wieder mit ihm treffen. Denn sonst verliebe ich
mich in ihn."
In der fünften Stunde berichtet sie, daß sie sich wesentlich ruhi
ger fühle, als das in der ganzen letzten Zeit der Fall gewesen sei.
In den folgenden Stunden erzählt sie dann von ihrem vorehelichen

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und ehelichen Leben viele Einzelheiten. Sie schildert ihre Allge
meinsituation folgendermaßen: „Ich habe zu niemandem Ver
trauen. Ich bin äußerst unsicher. Ich fühle mich stets schutzlos und
verlassen. Das ist nur besser, wenn mein Mann anwesend ist, der
immer genau weiß, was er will, und alle auftauchenden Probleme
zu lösen imstande ist."
Ihre Träume zeigen deutlich ihre Gefühle auf: „Ich bin auf
einem Fest bei einer Freundin. Zuerst ist mein Mann an meiner
Seite. Dann ist er verschwunden, und ich bin ganz allein. Ich weiß
nicht, mit wem ich wohl Zusammensein kann. Ich wage es nicht,
mich irgend jemandem zu nähern."
In der zwölften Stunde meint sie, tief deprimiert: „Was ist nur
mit mir los, daß ich auf keine Art und Weise zu Zärtlichkeit kom
men kann?" Und etwas später, in derselben Stunde, obwohl sie ge
rade erzählt hatte, daß ihr Freund ihr nach der Entbindung Blumen
in die Klinik geschickt hatte, sagt sie: „Niemals werde ich Liebe
und Zärtlichkeit in meinem Leben finden!"
In der nächsten Stunde ist sie voller Zweifel, was sie tun soll: Ihr
Freund bedrängt sie telefonisch und bei jedem zufälligen oder ge
sellschaftlichen Zusammenkommen, sich mit ihm wieder einmal
allein zu treffen. Sie weiß nicht, ob sie die Kraft haben wird, auf
die Dauer seinen Bitten zu widerstehen, da sie sich ja das Allein
sein mit ihm wünscht. Gleichzeitig meint sie: „Das muß aufhören.
Denn es hat keinerlei Sinn und Verstand!"
In demselben Maße, in dem sie sich davon überzeugte, daß sie
zum erstenmal in ihrem Leben wirklich um ihrer selbst willen ge
liebt werde, fühlte sie sich immer besser, ruhiger und zufriedener.
Die Aufgabe des Arztes bestand während dieser Zeit hauptsäch
lich darin, ihr zu ihrem außer- oder sogar widerehelichen Tun Mut
zu machen. Da sie voller gesellschaftlicher („Was werden die Leute
sagen?"), moralischer und religiöser Vorurteile und Skrupel war,
so mußte an die Stelle ihres ausgesprochen einseitig entwickelten
autoritären Gewissens ein individuelles Gewissen gesetzt werden.
Das aber ist stets nur möglich auf der Basis eines individuellen
Gewißseins, zu dem eben die Liebe dieses Mannes ihr verhalf.
Nach sechsmonatiger Behandlung - die Eheleute hatten sich in
zwischen getrennt - fühlte sich die Patientin so gut, daß sie glaubte,
des Arztes nicht mehr zu bedürfen. Er sah sie vier Monate später
kurz wieder. Sie hatte deswegen Probleme, weil sie nicht in Über
einstimmung mit den Vorschriften ihrer Kirche lebte. Sie kam spä
ter noch hin und wieder, wenn Schwierigkeiten mit ihrem Freund
auftraten, so daß sie den Arzt, der der einzige Mensch in ihrem

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Leben war, zu dem sie volles Vertrauen besaß, um seine Meinung
über ihr Verhalten fragen wollte.
Da Freud bis zu seinem Tode die Ansicht vertrat, daß die Angst
als Folge der Verdrängung der Libido auftritt, soll hier noch betont
werden, daß unsere Patientin niemals ihre sexuellen Gefühle ver
drängt hatte. Sie waren ihr als sexuelle Wünsche immer bewußt.
Sie hatte sie aber ihrem Mann gegenüber aus Furcht vor Schwan
gerschaft und ihrem Freund gegenüber aus Furcht vor ihrem Mann
beherrscht.
Ein völlig anderes Bild zeigt der folgende Fall:
Eine junge Frau von vierundzwanzig Jahren sagt als erstes, in
Gegenwart ihres Gatten, daß sie seit dem Beginn der Ehe vor fünf
Jahren bis heute immer wie im Honigmond gelebt hätten. Vor
sechs Monaten wurde ihr erstes Kind geboren. Fünf Monate vor
her fing sie an, an Angstzuständen zu leiden. Damals habe sie an
genommen, daß alle die Gefühle, die sie quälten, und ihre damit
einhergehende Scheu vor jeder Verantwortung und Verpflichtung
in engem Zusammenhang mit ihrem Zustand stünden, und habe
gehofft, daß alles nach der Entbindung verschwinden oder sich zum
mindesten danach langsam bessern werde. Statt dessen sei es seit
der Geburt immer schlimmer und unerträglicher geworden.
Weder die Frau noch der Mann können dem Arzt irgendeine
Erklärung für das Entstehen der Erkrankung geben, zumal da sie
nach wie vor in allerherzlichster Eintracht miteinander lebten und
sich sehr liebhätten, so daß der Ehemann jede Minute seiner Frei
zeit mit Frau und Kind verbringe.
Auf die Frage des Arztes, ob vielleicht fünf Monate vor der Ent
bindung irgend etwas passiert sei, bekommt er prompt die Ant
wort, daß der Ehemann damals plötzlich dringendst geschäftlich
für eine Woche hatte ins Ausland fahren müssen. Es sei das erste
Mal in all den Jahren seit ihrem Kennenlernen gewesen, daß er sie
allein gelassen hätte. In dieser Woche sei in ihr die Furcht entstan
den, daß sie wegen ihrer Schwangerschaft, d.h. wegen der körper
lichen Entstellung oder wegen des Kindes, seine Liebe verlieren
könnte.
Sie mache sich auch Sorgen wegen der Religion des Kindes. Es
sei aus hygienischen Gründen beschnitten worden. Ihr Mann sei
Jude, sie war früher Katholikin. Wenn sie mit ihrem Kind spiele,
überkomme sie die Angst. Obwohl sie wisse, daß sie ihren Mann
liebe und von ihm geliebt werde, fühle sie sich desorientiert und
unzufrieden.
In der zweiten Stunde, in der dann der Arzt mit seiner Patientin

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allein ist, wird sofort klar, daß sie an einem tief eingewurzelten
Ungewißsein leidet. Sie sagt: „Ich tauge nichts. Ich habe immer das
Gefühl, alles schlecht zu machen!" - Obwohl sie auf die Frage, ob
sie etwas von Schuldgefühlen wisse, antwortet, daß sie noch nie
mals darauf geachtet habe, weiß sie doch sofort ganz bewußt:
„Wenn irgend etwas nicht so gegangen ist, wie es gehen sollte, su
che ich die Schuld daran immer bei mir." Und nun beginnt sie, sich
selbst anzuklagen: „Ich habe einen sehr schlechten, diabolischen
Charakter! Ich bin völlig egoistisch, immer heftig und jähzornig.
Meine Wutanfälle sind in der letzten Zeit immer schlimmer gewor
den, und ich kann mich nicht beherrschen, obwohl ich es schon
meines Mannes wegen, der sehr unter meinen Ausbrüchen leidet,
gern tun möchte. Ich werde über alles ärgerlich, über jede Kleinig
keit, ja sogar schon über irgendein Wort. Wenn dann mein Mann,
der immer ruhig und gütig ist, gelassen bleibt und mich beschwich
tigen will, richtet sich meine Wut gegen ihn. Wegen meines Cha
rakters fühle ich mich niemals der Liebe meines Mannes gewiß. Ich
lebe jetzt mit der ständigen Furcht, ihn zu verlieren."
In der dritten Stunde berichtet sie, daß sie mehrere Brüder und
eine ältere Schwester habe. Während sie mit den Brüdern niemals
in guten Beziehungen gestanden habe, sei sie mit der Schwester
befreundet, obwohl sie immer auf sie, die hübschere, eifersüchtig
gewesen sei. Diese Schwester wird dann als egozentrisch und an
spruchsvoll geschildert. Sie sei bis heute unverheiratet geblieben,
obwohl sie oft Heiratsanträge bekommen habe.
Dann kommt die Patientin wieder auf sich selbst zu sprechen:
sie fühle sich stets unsicher, habe einen Minderwertigkeitskomplex
und leide sehr an diesen ihr selbst unverständlichen Wutausbrü
chen, die in gar keinem Verhältnis zum Anlaß stünden. Jetzt könne
sie es einfach nicht aushalten, wenn sie allein sei. Da sie wegen des
Säuglings immerfort beschäftigt sei, komme sie nicht zum Lesen.
Sie denke, daß sie infolgedessen jeden Kontakt mit Menschen ver
lieren werde: „Denn wenn ich nicht lese, kann ich die anderen mit
nichts unterhalten, die nur deshalb mit mir zusammenkommen.
Ich fühle mich sicher in bezug auf meine affektiven Gefühle zu
meinem Mann, aber unsicher als Frau und auf intellektuellem
Gebiet."
In der vierten Stunde wurde dann begonnen, den Ursachen der
Entstehung ihres Ungewißseins, ihres Mißtrauens gegen sich selbst
und ihren menschlichen Wert und ihres „diabolischen Charak
ters", dessen Auswirkungen für das Leiden dieser Frau und die
Disharmonie dieser Ehe verantwortlich waren, nachzuforschen.

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Auf eine entsprechende Frage antwortet sie: „Mein Vater hatte zu
niemandem Vertrauen. Statt die Fürsorge um uns Kinder der Mut
ter zu überlassen, kümmerte er sich andauernd um uns, weil er so
gar zu seiner Frau nicht das genügende Vertrauen besaß." Als der
Arzt unterstellt: „Infolgedessen haben auch Sie kein Vertrauen,
weder in sich noch in andere'', ist sie damit sofort einverstanden und
erzählt dann spontan folgendes: „Vater erzog uns sehr katholisch.
Mit zwölf Jahren hörte ich zufällig ein Telefongespräch meines
Vaters mit einer Tochter, die er nur aus einer anderen Ehe haben
konnte. Daß er schon einmal, bevor er die Ehe mit meiner Mutter
einging, verheiratet gewesen war, hatte er uns niemals erzählt. Ich
versuchte, dieses Erlebnis zu vergessen, und tatsächlich hatte ich
es bis heute völlig vergessen. Denn da Vater augenscheinlich das
Entgegengesetzte von dem, was er uns immer predigte, getan hatte,
so war er ein Heuchler." Als frommer Katholik hätte der Vater sich
nicht ein zweites Mal verheiraten können und dürfen. Die Patientin
wurde mit der Kenntnis des Sachverhaltes, daß sie aus der zweiten
Ehe ihres Vaters stammte, im Sinne der Vorschriften der katholi
schen Kirche ein uneheliches Kind. Dieser Tatbestand zusammen
mit der Liebe, Achtung, ja Bewunderung, die sie für den Vater
fühlte und die sie nicht verlieren wollte, hatte sie dazu veranlaßt,
das Gehörte zu verdrängen.
Als der Arzt dann am Ende der Stunde alles das von der Kran
ken Erzählte in dem Satz zusammenfaßt: „Damals fing ich an,
Mißtrauen gegen meinen Vater zu haben!", sagt sie ganz aufgeregt:
„Jetzt weiß ich auch endlich, warum ich niemals Vertrauen zu
Männern habe. Ich war immer mit allen jungen Männern, die sich
mir näherten, sadistisch. Ich wünschte mir stets, daß sie sich in mich
verlieben sollten, und dann ließ ich sie leiden. So geschah es mir
auch mit meinem Mann. Ich konnte mich selbst nicht verstehen,
aber da war etwas in mir, das stärker war als ich selbst!"
In der nächsten Stunde (drei Tage später) berichtet sie, daß es
ihr zwei Tage lang gut gegangen sei, daß sie nicht nur bei der
Beschäftigung mit dem Kind keinerlei Angstzustände bekommen,
sondern mütterlich-herzliche Gefühle dabei verspürt habe, so daß
sie sich ausgesprochen wohl, innerlich ruhig und zufrieden fühlte.
Auch im Zusammensein mit ihrem Mann habe eine vollkommene
Harmonie geherrscht. Gestern morgen sei sie dann aber wieder mit
sehr schlechter Laune aufgewacht. Als das Dienstmädchen dem
Kind die Milchflasche brachte, die wohl verstopft war, so daß der
Säugling nicht trinken konnte, wurde sie furchtbar wütend auf die
Angestellte und kündigte ihr. Anschließend sagte sie zu ihrem

n s
Mann: „Das einzige, was ich mir wünsche, ist, dich und das Kind
loszuwerden!" Sie wäre über ihre eigenen Worte, die ganz und gar
im Gegensatz zu allem ihrem Fühlen und Denken stünden, maßlos
erschrocken gewesen. Sie erklärt diesen Ausbruch damit, daß sie
übersichselbst völlig verzweifelt gewesen sei, da sie Schuldgefühle
gehabt habe, weil sie die Milch und die Flasche nicht selbst fertig
gemacht habe, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit sei. Sie habe
auch sofort ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihr Kind auch nur
ganz vorübergehend diesem ihrem sehr gewissenhaften und zuver
lässigen Dienstmädchen überlasse.
Dann erzählt sie, daß ihr Vater auch, seit sie denken könne, im
mer sehr leicht und schnell wütend, heftig und ausfallend werde,
was dem Respekt, den sie ursprünglich für ihn fühlte, stets mehr
Abbruch getan habe. Sie habe das immerwährende Geschimpfe
und Geschreie ihres Vaters nicht mehr ertragen können und habe
deswegen von zu Hause fortwollen. Es habe immer eine große
Zärtlichkeit zwischen den Eltern bestanden, und trotzdem habe
sich der Vater gerade der Mutter gegenüber, die mit ihrem wahr
haft friedlichen Charakter niemals Ursache für die Zornanfälle des
Vaters gegeben habe, stets am wenigsten beherrscht. Und jetzt sei
sie diejenige, die sich so schlecht benehme wie ihr Vater gegen die
Mutter. Denn in ihrer Ehe sei es ihr Mann, der ihr auch niemals
Anlaß für ihren Jähzorn gebe. Sie würde eher auf ihr Kind verzich
ten als auf ihren Mann. Sie fügt zum Schluß der Stunde hinzu, daß
sie kaum jemals sexuelle Wünsche habe und auch sehr selten zu se
xueller Befriedigung komme.
Als sie nach fünf Tagen in die sechste Stunde kommt, erklärt sie,
daß sie sich schon so viel besser fühle, daß sie den Arzt nicht mehr
brauche. Sie erzählt dann, daß sie am letzten Sonntag mit Mann
und Kind bei ihren Eltern zu Mittag gegessen habe. Da ihr Mann
den Wunsch geäußert hatte, hinterher mit ihr spazierenzufahren,
so habe sie ihm diesen Gefallen tun wollen, zumal da sie immer lie
ber mit ihm allein sei. Sie sei dann aber im Auto sehr schlechter
Laune gewesen, ohne zu wissen, warum, da sie sich ja dieses
Zusammensein selbst gewünscht hiabe. Bei der Forschung nach
dem „Warum?" kommtsie selbst sehr schnell auf die Ursache ihrer
Mißstimmung: sie habe sich verpflichtet gefühlt, bei ihrem Vater
zu bleiben. Es ist ihr daraufhin leicht klarzumachen, daß sie sich
ihrem Vater gegenüber schuldig fühlte, daher in Unfrieden, unzu
frieden mit sich war und ihren Mann dafür verantwortlich machte,
da sie ja ohne ihn beim Vater geblieben wäre.
Nun erst, nachdem sie zu Einsicht und Verständnis über den en-
gen Zusammenhang zwischen allen ihren Eheschwierigkeiten und
ihrer Beziehung zum Vater gekommen ist, erkennt sie, daß der
Vater, dessen Einstellungen und Vorurteile sie übernommen hat,
derjenige ist, welcher einzig und allein als Hindernis zwischen ihrem
und ihres Mannes Ehefrieden und Eheglück steht. Und nun wird
wie bei einer endlich hochgezogenen Schleuse flutartig alles Ver
drängte ins Bewußtsein zugelassen: „Der Vater schrie immer mit
uns allen. Er beschimpfte uns bei jeder Gelegenheit: Egoisten!
Idioten! Vor fünf Jahren hörte ich, wie er unsere gute Mutter an
schrie: ,Es war mein Fehler, mich mit dir zu verheiraten. Ich habe
mich dazu verpflichtet gefühlt, um deine Ehre zu retten!' - Ich
fand, daß der Vater sich sehr schlecht, ungerecht und unanständig
gegen Mutter benahm. Ich verspürte einen wahren Ekel gegen ihn.
Die Mutter hatte sich ihm offensichtlich vor der Ehe aus Liebe hin
gegeben. Sie war damals noch sehr jung. Vater hatte schon viel
Erfahrung. Die Liebe entschuldigt alles. Ich hatte vorher meine
Eltern immer für ein perfektes Ehepaar gehalten."
Sie wird sich nun auch darüber klar, warum sie in allen ihren
vorehelichen Beziehungen niemals etwas vom Sexuellen wissen
wollte, sondern stets versucht hatte, jedes Verhältnis „rein plato
nisch" zu gestalten: „Ich hatte stets Furcht, ja Abneigung gegen al
les Sexuelle."
Die wahren Gründe ihrer negativen Einstellung zum
Geschlechtlichen kamen erst in der siebten Behandlungsstunde zur
Sprache. Da das hier von der Patientin erzählte Erlebnis mit ihren
Eltern kurz vor ihrer Verheiratung stattgefunden hatte, muß man
annehmen, daß es nicht, wie sie glaubte, das viele Geschrei und
Geschimpfe des Vaters, welches sie ja schon viele Jahre lang ohne
Reaktion ertragen hatte, gewesen war, das sie aus dem Hause trieb,
sondern daß das Idealbild des Vaters durch diese letzte Erfahrung
und Enttäuschung mit ihm so zerstört war, daß sie nun die Kraft
und den Mut fand, gegen den Willen des Vaters ihren Entschluß
zur Ehe mit dem geliebten Mann endgültig zu fassen und durchzu
führen.
Sie kommt erst vierundzwanzig Tage später wieder. Sie habe
sich mehr als eine Woche lang nach der letzten Besprechung gut
gefühlt. Dann sei die Angst von neuem gekommen: „Ich denke im
mer, daß dem Kind etwas passieren wird. Ich bin stets in Sorge. Ich
habe sogar Furcht vor dem Leben. Ich forme mir meine eigene
Welt voller Verzweiflung und schwarzer Gedanken. Ich fürchte,
das Dienstmädchen wechseln zu müssen, weil es untüchtig ist, weil
ich kein Vertrauen habe. Ich fürchte, daß das Kind krank werden

1-^7
könnte. Ich werde mich nicht von ihm losmachen (desligar) kön
nen!" Gefragt, weshalb sie das wolle, weiß sie es selbst nicht. Sie
sagt dann aber sofort: „Das Kind weint aus lauter Launenhaftig
keit, und ich bin angebunden. Das Kind hat mich durch sein Dasein
von meinem Mann getrennt (desligar). Immer kreisen meine Sor
gen und Befürchtungen darum, daß mein Mann mich nicht mehr
lieben könnte. Wenn ich kein tüchtiges Mädchen habe, wird mein
Mann kein Interesse mehr daran haben, nach Hause zu kommen.
Das Kind ist die Ursache dafür, daß ich meinen Mann verliere.
Durch sein Vorhandensein habe ich meine Freiheit verloren, die
Möglichkeit, das tun zu können, was ich möchte. Ich habe keinerlei
Vertrauen zu mir, daß ich fähig bin, mir meinen Mann und seine
Liebe zu erhalten und mit dem Leben, so wie es ist, fertig zu wer
den: Eine Mutter muß sich für ihre Kinder aufopfern. Wir müssen
mit Verantwortlichkeit leben. Ich würde es vorziehen, keinerlei
Verantwortung und Verpflichtung zu haben. Ich kann nicht mein
Privatleben mit meinem Mann leben, weil das Kind mich völlig ab
sorbiert. Ich fühle mich feige, wertlos wie Dreck. Ich bin nicht im
stande, irgendwelche Verantwortung auf mich zu nehmen."
Als der Arzt sie fragt, ob es ihr vielleicht helfen würde, wenn der
Ehemann sie wieder wie vor der Schwangerschaft ins Geschäft
mitnehmen würde, entgegnet sie, daß sie sich dort nur gut fühle,
solange sie keinerlei verantwortliche Beschäftigung habe. Aber sie
könne jetzt sowieso nicht im Geschäft arbeiten, da ihr Mann glück
lich sei, wenn sie sich zu Hause um das Kind kümmere.
Achte Stunde: Inzwischen ist es ihr besser gegangen. Heute
morgen aber hatte sie wieder Angst. Sie kommt dann auf ihre
Beziehungen zu ihrem Mann zu sprechen: „Niemals habe ich zu
ihm gesagt: Ich bin glücklich mit dir! Es ist zwar absurd, daß ich
nicht ehrlich bin. Aber ich wagte es niemals. Denn ich fühle mich
ihm gegenüber sehr unterlegen. Im Vergleich zu ihm bin ich nichts
wert. Ich darf ihm in keinem Fall zeigen, daß ich ihn furchtbar lieb
habe. Ich habe mich immer geschämt, ihm meine wahren Gefühle
auszudrücken. Dasselbe ist mir auch mit meinen Eltern und
Geschwistern passiert. Vater war niemals zärtlich zu uns. Er
schämte sich jeder Gefühlswallung. Er betrachtet sie als Beweis
von Schwäche. Ich habe ihn stets idealisiert und habe versucht, es
ihm gleichzutun." Zum erstenmal in der Behandlung weint sie.
Es wird ihr nun auseinandergesetzt, daß nur in der Liebe die
Menschen gleich, weil alle in gleicher Weise bedürftig sind, daß es
daher nur hier keine Über- noch Unterlegenheit gibt, daß ihr Mann
ihre Menschlichkeit ebenso brauche wie sie die seine, daß nur das
Erleben der Gefühle \rakhchesj^b^^ alles andere aber
keinerlefWerTd^enigegenüber besitze. Denn letzteres sei immer
nur Existenz, die weitestgehend Erleiden statt Erleben, Leiden
statt Freuden mit sich bringe usw. - Sie ist merklich gerührt und
sagt, daß sie noch niemals so gedacht habe.
In der neunten Stunde berichtet sie, daß sie sowohl gestern als
auch heute morgen wieder Angst gehabt habe. Das Kind sei krank.
Sie meint, daß Gefühle zu haben Leiden bedeutet. Ihre Mutter
habe sich voll und ganz zu ihrer Liebe bekannt und sich dem ge
liebten Mann seelisch und körperlich hingegeben. Dafür müsse sie
jetzt ihr ganzes Leben lang leiden. Vater mache ihr ihre Liebe zum
Vorwurf, weil er sie deshalb habe heiraten müssen, und behandle
sie schlecht.
Es wird nun versucht, ihr am Beispiel ihrer älteren, unverheira
teten Schwester klarzumachen, daß diese ihr ganzes Leben lang bis
an ihr Lebensende leiden wird, weil sie ebenfalls aufgrund falschen
Denkens Gefühlehaben mit Leidenmüssen identifiziert. Wenn sie
den Mut gehabt hätte zu lieben, würde für sie wenigstens die Mög
lichkeit bestanden haben, ihre Gefühle zu befriedigen, und sie wäre
zum mindesten für eine gewisse Zeit zu Freude- und Glückserleben
gekommen.
Plötzlich sagt die Patientin, anscheinend ohne jeden Zusam
menhang mit dem soeben Besprochenen: „Jetzt weiß ich auch,
warum ich ein Kindermädchen genommen habe: Ich wollte mein
Kind nicht liebgewinnen aus Furcht, es zu lieben und dann zu lei
den und ihm Leiden zu verursachen. Mein Kind würde sich sonst
zu sehr an mich gewöhnen, und ich werde nicht entsprechend rea
gieren können. Denn ich bin unfähig, wahrhaft zu lieben. Ich habe
wegen dieser Furcht, zu leiden und leiden zu machen, meine
Gefühle zum Kind zu unterdrücken versucht. Es ist eine sonder
bare Idee, daß die Kinder leiden, wenn die Eltern zu sehr mit ihnen
verbunden sind."
Als sie daraufhin gefragt wird, warum sie so denke, gibt sie nicht
die vom Arzt erwartete Antwort, daß das ihre eigene Erfahrung
mit ihren Eltern sei, sondern: „Ich habe Schuldgefühle, weil ich
mich gegen die Liebe stelle, also sündige. Ich gebe meinem Kind
nicht das einzige, was das Kind am meisten nötig hat und was ihm
einzig und allein die Mutter geben kann."
Zehnte Stunde: Sie fühle sich viel besser und mit ihr auch ihr
Ehemann. Sie habe sogar jetzt keinerlei Wut mehr gegen ihre
Schwiegermutter, von der sie häufig besucht werde, weil die Ältere
die Jüngere gern hat. Aber sie gehe der Patientin auf die Nerven,

139
weil sie ihre Söhne zu sehr liebe und daher dauernd an ihrem
Wohlergehen interessiert sei. Heute weiß sie nun auch, warum sie
Gefühle und Leiden als unvermeidlich zusammengehörig betrach
tet hat: „Ich bin zu dieser Ansicht gekommen, weil Mutter litt und
Vater vielleicht noch mehr. Denn er liebte uns und versuchte, uns
nicht zu lieben. So habe ich es jedenfalls immer empfunden! Vater
war stets temperamentvoll und leidenschaftlich. Er war der
Ansicht, daß alle Gefühle, auch die „übertriebenen" zu Töchtern
und Ehefrau, sündhaft wären. Vater war gegen die Spiele zwischen
uns Geschwistern, weil die älteren Brüder den jüngeren Schwe
stern häßliche Sachen beibringen könnten. Für ihn war alles bösar
tig. Daher bin ich auch gegen alles mißtrauisch."
„Vater wiederholte uns immer wieder, daß alle Männer Teufel
wären, und predigte uns stets, daß wir uns nicht durch Gefühle täu
schen lassen sollten. Nach und nach prägte er uns tief ein, daß alle
gefühlsmäßigen Beziehungen zwischen den Menschen sündhaft
seien. Das Ideal sei völlige Gleichgültigkeit, ja Kälte. Man müsse
seine Gefühle immer unter Kontrolle behalten und sie jederzeit
beherrschen können. Sie seien immer unheilbringend (nefasto).
Vor meiner Eheschließung kam Vater alle Tage zwei Stunden zu
mir und sagte: ,Verheirate dich nicht! Du hast nur sexuelle Gefühle
und Wünsche!' - Vater hat sich dem Yoga gewidmet. Er meint, daß
man von einem gewissen Alter an nur Verbindung mit Gott suchen
müsse. Man müsse sich von allen irdischen Dingen loslösen und
sich jeder sexuellen Betätigung enthalten. Denn jegliche derartige
Beziehung sei nichts anderes als Schwäche."
Von dieser Stunde an hatte die Patientin keinerlei Angstanfälle
mehr. Sie fühlte sich gut. Sie kam nur noch zweimal und berichtete
in der zweiten Stunde, daß sie mit der älteren Schwester über die
Liebe gesprochen habe, um sie auch für ein normales und glückli
ches Leben zu gewinnen. Neun Monate später ergab eine Erkundi
gung beim Ehemann, daß diese kleine Familie nun glücklich mit
einander lebte.
Die beiden hier besprochenen Kranken wünschten sich die Liebe
in ihrem Leben. Die erste hatte sie niemals finden können, die
zweite wehrte sich gegen die gefundene aus Furcht vor ihr. Beide
existierten daher in einer Lebens-Enge, welche die Angst erzeugte.
Im ersten Fal^mußte dem Gemüt der Patientin, die sich in ihrem
"WerFais Mensch ungewiß fühlte, Mut gemacht werden, die sich ihr
bietende Liebe anzunehmen und zu erwidern. Im^ zweiten Fall
mußten die Vorurteile in bezug auf die Folgen dSr Gefühlsbefrie
digung beseitigt werden, um den Weg aus der Enge in die Weite

140
und Freiheit des Erlebens des Lebens zu eröffnen und damit diese
Frau von dem Leiden der Angst zu heilen.
In den beiden nun folgenden Fällen handelt es sich um beruflich
und ökonomisch sehr erfolgreiche Männer, die ebenfalls von Angst
gequält wurden, weil sie in Lebens-Enge existierten. Sie waren
schwer krank. Denn sie litten sehr. Aber sie wußten im Gegensatz
zu den geschilderten Frauen gar nicht, was das war, was ihnen
„fehlte". Es mußte ihnen erst während der Behandlung bewußt
gemacht werden. Die Liebe mußte sie gelehrt werden.
Ein Gutsbesitzer Ende der Dreißig kommt wegen quälendster
Angstzustände in Behandlung. Er erzählt: „Als ich fünfzehn Jahre
alt war, starb mein Vater. Da meine Mutter immer sehr unselb
ständig gewesen war, fiel die Last der gesamten Verantwortung für
die ganze Familie auf mich, den Ältesten. Ich fühlte mich völlig un
fähig für diese Aufgabe. Denn abgesehen davon, daß ich noch viel
zu jung dafür war, hatte man uns auch keinerlei Selbständigkeit ge
lehrt. Man hatte uns niemals irgendeine eigene Initiative überlas
sen: mein Vater war stets sehr dominierend gewesen. Sein Inter
esse an seinen Kindern hatte sich einzig und allein darauf
beschränkt, uns täglich gegen Abend etwa eine halbe Stunde eine
Geschichte zu erzählen, der wir mucksmäuschenstill zuzuhören
hatten. Er duldete keinerlei persönliche Willensäußerung."
„Wir fürchteten den Vater sehr. Aber das Gefühl der Erleichte
rung nach seinem Tod blieb bei mir aus, weil nun die Unsicherheit
in bezug auf unsere finanzielle Situation auf mir lastete. Denn es
stellte sich heraus, daß mein Vater, vor dem ich immer einen unge
heuren Respekt gehabt hatte, weil er als ein intelligenter, autoritä
rer Mann größten Erfolg im Leben gehabt zu haben schien, nichts
wie Schulden hinterlassen hatte. Wir waren bankrott, und alles,
was wir besaßen, mußte verkauft werden, um die von meinem
Vater eingegangenen Verpflichtungen zu decken. Alles, was ich für
felsenfest und unverrückbar gehalten hatte, war wie ein Karten
haus zusammengestürzt. Ich begann an allem, was ich geglaubt
hatte, zu zweifeln. Denn nicht nur daß mein Vater mir eine schwere
Enttäuschung bereitet hatte, auch die reichen Verwandten, an de
ren unwandelbare Freundschaft und Zuneigung ich fest geglaubt
hatte, zogen sich von uns wegen unserer Armut zurück. So konnte
i c h z u n i e m a n d e m m e h r Ve r t r a u e n h a b e n . "
„Ich kam dann von meinem fünfzehnten bis achtzehnten
Lebensjahr in ein Internat, wo ich ihich völlig einsam und verlassen
fühlte. Wenn ich sonntags ins Haus meiner Großmutter kam, wo
wir alle Unterschlupf gefunden hatten, herrschte auch dort nur eine

141
Atmosphäre der Unpersönlichkeit und Kälte. Kaum daß meine
Mutter sich danach erkundigte, wie es mir in der Woche ergangen
sei. Niemandem bedeutete ich etwas. Denn niemand war zu mir
gut. Damals bildete sich in mir die Überzeugung, die ich auch heute
noch habe, daß es keine wirkliche Freundschaft unter Menschen
gibt, daß einer nur so lange freundlich zum anderen ist, wie er etwas
will oder noch hofft, es von ihm zu bekommen."
„Nachdem ich schon vier Jahre lang stark an Schwitzen der
Hände gelitten hatte, das mich bis heute sehr belästigt, bekam ich
mit zwanzig Jahren meinen ersten Angstanfall, als ich mich bei
einem Schneider im Spiegel sah. Später geschah mir auch dasselbe,
wenn ich in einem Friseursalon längere Zeit vor einem Spiegel sit
zen mußte. Langsam wurden die Angstanfälle immer schwerer.
Wenn ich z.B. in einem Zug saß, hatte ich das Gefühl, in der Enge
des Waggons hilflos eingeschlossen zu sein. Bs überfiel mich dann
angesichts der Mitreisenden, die ruhig dasaßen oder sich unter
hielten, eine entsetzliche Angst, in jedem Augenblick die ersten
Zeichen von Verrücktsein bei mir auftreten zu sehen."
„Ich kann mich nicht erinnern, ob durch meine Ehe, die ich mit
fünfundzwanzig Jahren einging, eine vorübergehende Besserung in
m e i n e m B e fi n d e n e r r e i c h t w o r d e n i s t . "
Heute verursacht mir jede Verpflichtung, jeder Entschluß
Angstzustände. Ich brauche daher fünf Tage, um das zu erledigen,
was andere Menschen in einem Tage ohne Schwierigkeit bewälti
gen. Ich habe z. B. schwerste Hemmungen zu überwinden, bevor
ich mich traue, einem Bankbeamten mein Anliegen um Gewäh
rung einer Anleihe vorzutragen. Ich komme mir einerseits wie ein
armer kleiner Bittsteller vor, andererseits habe ich schon vorher
eine Wut auf diesen mir noch unbekannten Mann, weil ich denke,
daß er mir mein Gesuch abschlagen könnte. Überhaupt verursacht
mir alles, was nach einer Beschränkung meiner Freiheit, nach
einem der Autorität Gehorchenmüssen aussieht, sofort schlimmste
Zornausbrüche. Da ich sie selbst als völlig ungerechtfertigt im Ver
gleich zum Anlaß erkenne, so überfällt mich bei diesen Gelegen
heiten auch immer die Furcht, verrückt werden zu können. Denn
ich kann mich selbst nicht verstehen, weil ich doch sonst stets allzu
besonnen, allzu überlegt, ja gehemmt bin und im allgemeinen je
dem Streit aus dem Wege gehe und daher sogar schon jede Diskus
sion vermeide. Und da ist nun plötzlich etwas unheimlich Fremdes
in mir, das mich treibt, mich wie ein Verrückter zu benehmen, und
das es mir unmöglich macht, mich in einem gegebenen Augenblick
zu beherrschen."

142
Bald nach Beginn der Behandlung passierte es ihm, daß er das
rote Licht einer Verkehrsampel überfuhr. Als ein Polizist ihn
stoppt, um ihm ein Strafmandat auszuhändigen, tobt er gegen ihn
los, obwohl er sich absolut darüber klar ist, daß er unrecht getan
hat und daß der Vertreter der Ordnung nur seine Pflicht tut. Er be
schimpft ihn in ungehemmtester Weise und bewirkt damit natürlich
nur eine Verschärfung der Strafe. Trotz allem, was ihm sein Ver
stand bei solchen Gelegenheiten sagt, fühlt er sich ungerecht be
handelt, leidet hinterher noch lange Zeit an einer ihn quälenden
Wut wegen dieser Ungerechtigkeit und brütet Rache gegen die
ganze Welt, so daß er dann alle Menschen, vor allem aber die Ver
treter der Autorität, für seine Feinde hält, die ihm übel wollen und
ihn daher immer schlecht behandeln.
„Ich bin fast immer unzufrieden mit mir", sagt er, „mit meinem
Leben, mit meiner Tätigkeit. Ich bin fast stets schlechter Laune, die
ich oft gegen meine nächste Umgebung in sehr aggressiver Form
abreagiere. Schon mit zwölf Jahren habe ich meine Geschwister
mit einem Revolver bedroht und bin dann als Strafe dafür von mei
nem Vater mit einer Reitpeitsche fürchterlich geschlagen worden.
Ich verspüre manchmal aber auch eine so starke Wut gegen mich
selbst, daß ich den Drang fühle, mich umzubringen. Dann denke
ich plötzlich, daß ich mein Auto über eine Brücke in den Fluß steu
ern möchte. Bei solchen Gedanken überfällt mich eine schreck
liche Angst."
„In den letzten vier Jahren ist alles viel schlimmer geworden. Ich
habe keinerlei Vertrauen mehr, weder zu mir noch zu anderen. Ich
bin daher sehr verschlossen und fühle mich oft einsam und verlas
sen. Zwei lange Behandlungen haben mir nichts genützt. Ob ich auf
der Straße allein gehe oder in und außer dem Hause in Gesellschaft
bin, ändert nichts an meiner Angst, die mich unausgesetzt quält.
Am sichersten fühle ich mich noch in meinem Auto. Daher kann
ich auch, wenn überhaupt, nur Besorgungen machen, geschäftliche
Besprechungen, Besuche bei Banken im Zentrum der Stadt usw.
nur erledigen, wenn ich meinen Wagen innerhalb desselben Häu
serblocks parken kann, in dem ich tätig sein muß."
Seine Hauptunsicherheit, um die tagtäglich all sein Denken
kreist, stellt seine finanzielle Situation dar. Denn nicht nur sein
Vater, sondern auch sein Großvater, zu dem er wie zu einem Gott
aufgesehen hatte, war bei seinem Tod bankrott. Der Patient lebt
mit der dauernden Besorgnis, daß man in ihm einen Betrüger sehen
könnte, der Schulden macht, ohne sie bezahlen zu können. Viele
Male am Tag sieht er in sein Taschenbuch, in dem er die Ablauffri-
sten der von ihm ausgestellten Wechsel notiert hat, um sich immer
wieder zu vergewissern, daß alles in Ordnung ist. Als eines Tages
ein Wechsel von ihm infolge eines Irrtums der Bank reklamiert
worden war, meinte er vor lauter Schande sterben zu müssen. Er
fühlte seine Ehre beschmutzt.
Dieser beruflich sehr erfolgreiche Mann war fest davon über
zeugt, daß er allen Menschen seiner Gesellschaftsschicht unterle
gen sei. Er nahm den Standpunkt ein, daß jeder Idiot den Beruf
eines Landwirtes mit vollem Gelingen ausüben könnte, da dazu
keinerlei besondere Kenntnisse noch irgendwelche Intelligenz
vonnöten sei. Seinen Gutsnachbarn gegenüber fühlte er sich unsi
cher, weil sie reicher waren als er, obwohl er wußte, daß sie ihren
großen Besitz ererbt hatten, also keinerlei Eigenverdienst daran
besaßen, während er sich alles selbst erarbeitet hatte.
Besonders aber fühlte er sich ungewiß seiner Frau gegenüber.
Daher sprach er zu ihr niemals von sich und seinen persönlichen
Sorgen und Ängsten. Auch vom Geschäftlichen berichtete er ihr
nur, wenn sie es dringendst verlangte. So konnte sie an seinem
Leben in keiner Weise teilnehmen. Im Grunde genommen fühlte
er sich ihrer Liebe unwert. Er gab als Grund seines Schweigens ihr
gegenüber an, daß er sie nicht noch mit seinen Schwierigkeiten be
lasten wolle. Es wurde ihm dann aber bewußt, daß er Furcht davor
hatte, daß sie sich aufgrund seiner Berichte von seiner beruflichen
Unfähigkeit überzeugen könnte, so daß sie ihn dann noch weniger
achten würde.
Er stellte sie viel höher als sich selbst. Er konnte nicht glauben,
daß sie, um die sich wegen ihrer vielen geistigen und künstlerischen
Interessen und Fähigkeiten, die ihm völlig mangelten, bei jedem
gesellschaftlichen Ereignis stets der Kreis der kultivierten Anwe
sendenversammelte, ihn, den unkultivierten Bauern, lieben könne.
Mit dieser Einstellung zu seiner Frau und mit dieser Voreingenom
menheit gegen sich selbst war er in all den Jahren seiner Ehe immer
schweigsamer geworden, so daß sich die beiden menschlich immer
mehr entfremdet hatten, ja schon gar nichts mehr voneinander, von
ihrem Fühlen und Denken, wußten.
Die Tatsache, daß in diesem Fall der andere Ehepartner eben
falls an einer Neurose litt, komplizierte die Behandlung. Auch die
Frau mußte sich einer Analyse unterziehen, um die für die Heilung
des Ehemannes von seiner Angst notwendige menschliche Kom
munikation zwischen den Eheleuten herstellen zu können. Ihre
Kindheit und Jugend in ihrem Elternhaus waren nicht dazu ange
tan gewesen, ihr Selbstgewißsein und damit Selbstbewußtsein und

144
Selbstvertrauen zu geben. Sie, die aus ärmlichen Verhältnissen
stammte, gab sich Rechenschaft von den überdurchschnittlichen
Erfolgen ihres Mannes auf beruflichem Gebiet, von seinem
Pflichtbewußtsein, Verantwortungsgefühl, Arbeitseifer und seiner
Korrektheit in geschäftlicher Beziehung. Sie sah zu ihm auf, da er
ihr mit allen diesen Eigenschaften das Idealbild eines Mannes zu
sein schien, in den man als Frau völliges Vertrauen haben konnte.
Seine schlechte Laune und Unzufriedenheit zu Hause konnten
nur in ihrer Untüchtigkeit als Mutter und Hausfrau ihre Ursache
haben. Sie wurde im Laufe der Jahre immer mehr in ihrer
Annahme bestärkt, weil er nur allzuoft an allem ihrem Tun herum
mäkelte. Sein Schweigen im Heim aber, das in ausgesprochenem
Gegensatz zu seiner Lebhaftigkeit, Unterhaltungsgabe und Ver
gnügtheit bei gesellschaftlichen Zusammenkünften stand -sie
wußte nicht, daß er vorher immer Alkohol zu sich nahm, um in gu
ter Laune zu sein und seine Hemmungen zu verlieren -, war ihr der
unzweideutige Beweis, daß er sich mit ihr langweile, daß sie ihm
nichts bedeute, daß sie im Vergleich mit ihm nichts wert sei. So war
es nicht erstaunlich, daß diese Frau mit ihren Vorurteilen gegen
sich selbst ebenfalls keinen Weg zu ihrem Ehepartner hatte finden
können.
Der Arzt bestellte dann die Eheleute zusammen zu sich, erzählte
ihnen, wie jeder negativ von sich und positiv vom anderen denke,
und schlug so die erste Brücke über den Abgrund, der sich zwi
schen diesen beiden Menschen, die sich im Grunde ihres Herzens
liebten und nach einander sehnten, gebildet hatte.
Als der Patient vier Wochen nach Beginn der Behandlung auf
den Rat seines Arztes mit seiner Frau zusammen in das Zentrum
der Stadt fährt, um seine Besorgungen zu erledigen, ist er erstaunt,
daß er sich in ihrer Gesellschaft dort wohl fühlt und ihm alles leicht
von der Hand geht. Er hatte niemals daran gedacht, sie um ihre
Begleitung zu bitten, da er gefürchtet hatte, daß sie sich dann
Rechenschaft von seiner Schwäche geben und er damit noch mehr
in ihrer Achtung sinken werde.
Sechs Wochen nach Beginn der Behandlung klagt der Patient
schon nicht mehr über Angst oder Wutausbrüche. Er ist ruhig und
zufrieden, wenn seine Frau mit ihm ist. Er kann sich jetzt schon we
sentlich weiter vom Auto entfernen, ohne aufs stärkste beunruhigt
zu sein. Ein Besuch beim Zahnarzt, bei dem er sonst immer beson
ders starke Angstzustände gehabt hatte, sei ohne jede Schwierig
keit vorübergegangen.
Drei Wochen später vermag er bereits ohne seine Frau zum

l a s
Zahnarzt zu gehen und seine Besorgungen im Stadtzentrum allein
zu machen.
Die psychotherapeutische Arbeit konnte sich nun mehr und
mehr auf die Erzielung des gegenseitigen Verständnisses zwischen
den Ehegatten konzentrieren. Hier mußten nur, im Gegensatz zum
vorhergehenden Fall, beide lernen, daß einer den anderen gegen
seitig notwendig brauche. Beide mußten verstehen, daß keiner von
ihnen dem anderen weder unter- noch überlegen sei, sondern daß
sie beide nur in einem Miteinander Leiden vermeiden, Freuden
gewinnen und so zu Gesundheit gelangen und sie sich erhalten
könnten.
Im Gegensatz zu dem soeben besprochenen Patienten, der in
folge verhärtender Erziehung zum Angstneurotiker geworden war,
wurde der jetzt zu schildernde infolge verweichlichender Fürsorge
krank:
Ein Akademiker erzählt: „Ich bin vierzig Jahre alt und lebe aus
gesprochen glücklich mit meiner Frau und meinen Kindern. Ich
führe ein völlig normales und befriedigendes Geschlechtsleben und
habe überreichlichen sozialen Kontakt, den ich mir gestatten kann,
weil meine finanzielle Situation überdurchschnittlich gut ist. Ich
bin ein gläubiger Katholik. Ich habe viele Freunde, die mir stets zur
Verfügung stehen, wenn ich sie brauche. Vor allem sind meine
Brüder und Schwestern, die mich sehr lieben, stets bereit, mir zu
helfen. Aber trotz dieses völlig geordneten Lebens, in dem keiner
lei Ursache für irgendwelche Beunruhigungen vorhanden ist, leide
ich seit vielen Jahren entsetzlich unter schwersten Angstzuständen,
deren Auftreten mich dauernd glauben macht, daß ich in jedem
Augenblick verrückt werden könnte. Ich bin bereits durch eine
Behandlung von mehr als sechs Jahren gegangen, aber meine
Angst hat eher zu- als abgenommen."
„Ich bin das jüngste Kind meiner Eltern und wurde als ein
Nachkömmling von ihnen sowohl wie auch von meinen damals
schon erwachsenen Schwestern immer ängstlich behütet und be
schützt. Man erlaubte mir niemals, im Meer zu baden, da ich er
trinken könne. Auch sonst war mir jede körperliche Betätigung
untersagt. Man ließ mich niemals allein zur Schule gehen, obwohl
wir in einem kleinen Ort lebten. Man verbot mir sogar, allein auf
der Straße zu gehen: es könnten Zigeuner kommen und mich weg
schleppen."
„Als ich vierzehn Jahre alt war, starben meine beiden Eltern
kurz nacheinander. Ich erinnere mich noch sehr genau, daß ich mir
damals Vorwürfe machte und mich für sehr schlecht hielt, weil ich

1 4 6
keinerlei Trauer über ihren Tod verspürte. Ausgesprochen vor
herrschend dagegen war in mir ein Glücksgefühl über die nun end
lich anbrechende Freiheit. Denn in meinem Elternhaus galt das
Gebot unbedingter Unterwerfung unter die Anordnungen und
Befehle des Vaters. Mein ganzes Leben dort kann ich in der Form
zusammenfassen: Unmöglichmachung jeder eigenen Persönlich
keitsformung durch Nicht-aufkommen-Lassen irgendeines Eigen
willens! Es wurde uns Kindern z.B. gesagt: Nicht einmal deine
Haut gehört dir!"
„Im elterlichen Hause hatte ich stets das Gefühl, daß man zu mir
keinerlei Vertrauen haben könne. Denn während meiner ganzen
K i n d h e i t h a t t e d o r t n i e m a n d Ve r t r a u e n z u m i r. E s b e s t a n d u m
mich herum etwas wie ein Ring von Menschen, die voller Miß
trauen in meine Fähigkeit, mich selbst gegen irgendwelche Gefah
ren verteidigen zu können, immer zu meinem Schutz bereitstan
den. Während meines ganzen späteren Lebens habe ich dann
immer Möglichkeiten gesucht und gefunden, um diese Situation
fortbestehen zu lassen, weil ich bis heute glaube, daß ich mich nicht
auf mich allein verlassen kann."
„Bald nach dem Tod meiner Eltern begannen meine ersten
Beschwerden. Ich fühlte mich sehr einsam. Es war mir, als ob ich
mir selbst plötzlich fremd würde. Diese Gefühle hatte ich in beson
derer Stärke, wenn ich in einen Spiegel sah. Dann fragte ich mich:
,Wer bin ich?' Und ich antwortete mir: ,Ich bin ein Nichts!' Als ich
dann Student war, überfielen mich diese sonderbar erschrecken
den und beängstigenden Reaktionen schon fast dauernd."
„Dazu kamen andere widerstreitendste Impulse, die mich mir
immer unverständlicher machten: einerseits war ich sehr ängstlich,
andererseits fühlte ich den Wunsch zu Gewalttätigkeiten und
spürte oft den Drang, irgend jemanden oder auch mich selbst um
zubringen. Ich kam mir dann manchmal wie ein tobsüchtiger Gei
steskranker vor. Diese Empfindungen verschwanden während der
letzten Zeit meines Studiums, kehrten dann aber mit außerge
wöhnlicher Heftigkeit zur Zeit meines Staatsexamens wieder".
„Nach meiner Heirat änderte sich an alledem nichts. Im Gegen
teil, es wurde eher noch schlimmer. Denn da ich immer ein sehr
geringes Vertrauen zu mir hatte, so fühlte ich mich der Verantwor
tung, jetzt eine Familie zu haben und für sie sorgen zu müssen, in
keiner Weise gewachsen. Ich denke nur allzuoft, daß niemand mich
beschützt. Andererseits weiß ich, daß ich eigentlich verpflichtet
wäre, meine Frau zu beschützen, wozu ich mich aber völlig außer
stande fühle. Denn ich suche ia selber ständig die Freundschaft von

1 4 7
anderen Menschen, um bei ihnen Schutz zu finden. Um ihre Ver
ehrung zu gewinnen und mir damit ihre Hilfsbereitschaft zu si
chern, habe ich schon als Schüler danach getrachtet, den Eindruck
eines Wunderkindes zu machen. Es war stets mein Ziel, ein außer
gewöhnlicher, perfekter Mensch zu werden. Mir hat es immer ein
besonderes Vergnügen bereitet, andere in Erstaunen zu versetzen.
Dabei habe ich stets fest an meine speziellen Fähigkeiten auf intel
lektuellem Gebiet geglaubt, hatte aber gleichzeitig immer ein sehr
starkes Mißtrauen in bezug auf meine menschlichen Qualitäten.
Daher habe ich mich jederzeit einer wirklichen affektiven Bindung
gegenüber hermetisch verschlossen."
Als er etwa drei Wochen nach Beginn der Behandlung plötzlich
während der Stunde in ein Weinen ausbricht, das den ganzen Mann
minutenlang erschüttert, sagte er, nachdem er sich wieder einiger
maßen beruhigt hat: „Doktor, mir fällt jetzt etwas ein, woran ich
niemals mehr gedacht habe: als meine Amme mich verließ, habe
ich zum letztenmal geweint. Damals war ich drei Jahre alt. Seitdem
ist mir das bis heute niemals wieder passiert. Ich habe überhaupt
niemals Gefühle für andere Menschen gehabt."
Der Hinweis auf dieses Geständnis diente dem Arzt während
der ganzen folgenden Behandlung immer wieder als Basis, um dem
Patienten den intimen Zusammenhang zwischen allen seinen
k r a n k h a f t e n S e n s a t i o n e n e i n e r s e i t s u n d s e i n e r G e f ü h l s - b z w.
Beziehungslosigkeit andererseits verständlich zu machen:
„Ich komme mir oft so vor, als ob ich mich vermittels äußerer
Dinge oder Bekanntschaften, die in nichts mit mir wirklich verbun
den sind, betäuben will. Es ist mir so, als ob überall außen Lichter
angesteckt sind, und innen in mir ist alles dunkel. Alles ist ausge
löscht."

„Ich gebe mir durchaus Rechenschaft darüber, daß sich mein


Benehmen anderen Menschen gegenüber wenn auch nicht in vol
lem Widerspruch, so doch niemals in Übereinstimmung mit meiner
wirklichen Persönlichkeit, ihren Wünschen und ihren Notwendig
keiten befindet. Denn ich habe immer versucht, als ein anderer zu
erscheinen als der, der ich wirklich bin. Zum Beispiel trachte ich
stets danach, den Eindruck eines Menschen zu erwecken, der sich
voll und ganz in der Gewalt hat, der sich durchaus unter allen
Umständen zu kontrollieren weiß. Ich tue das, weil ich das sein
möchte, was man ein gutes Kind nennt. Dabei bin ich in Wirklich
keit sehr impulsiv. Aber niemals habe ich es gewagt, meine wahre
Persönlichkeit und ihre Gefühle auszudrücken, und natürlich erst
recht nicht, ihr entsprechend zu leben. Ich zeige den Menschen im-

1 4 S
mer nur meine Außenseite, die nichts von all dem verrät, was sich
wirklich in meinem Innern abspielt. So bleibe ich immer einsam
und verlassen. Alles ist unvernünftig und irrational. Ich fühle mich
oft unverantwortlich für das, was ich in einem gegebenen Moment
tun könnte. Dann überkommt mich eine wilde Verzweiflung. Ich
möchte anfangen zu schreien und empfinde das als den beginnen
den Ausbruch des Wahnsinns."
„Am ehesten fühle ich mich noch geborgen und einigermaßen
sicher, wenn ich in der Gesellschaft meiner verheirateten Brüder
bin, von denen immer einer in meinem Hause schlafen muß. Denn
meine Dauerangst ist in den Nächten noch schlimmer als am Tage,
weil die Einsamkeit größer ist. Alle schlafen dann, und alle Dämo
nen sind losgelassen. Vor dem Schlafengehen sehe ich immer wie
der nach, ob alle Türen wirklich verschlossen sind, ob ich meine
letzte Zigarette ausgelöscht habe und ob sonst alle Vorkehrungen
zur Sicherung des Hauses getroffen worden sind."
„Ich müßte mir eigentlich mit allen den Vorsichtsmaßnahmen,
die ich in meinen täglichen Lebensablauf eingebaut habe, einiger
maßen gesichert vorkommen. In Wirklichkeit aber fühle ich mich
angesichts aller der verschiedensten quälenden Empfindungen, die
mich trotzdem überkommen und irritieren, ohnmächtig impotent,
mut- und hoffnungslos. Ich habe eine panische Angst, daß ich mich
plötzlich in einem Anfall von Wahnsinn nicht mehr kontrollieren
und dann Dinge begehen könnte, die niemals wiedergutzumachen
sind. Daher brauche ich immer, um mich einigermaßen beruhigt zu
fühlen, in meiner Nähe einen Menschen, der körperlich stärker als
ich ist. Denn nur ein solcher könnte mich durch eine Ohrfeige wie
der zur Besinnung und Vernunft bringen oder mich nötigenfalls mit
Gewalt davon abhalten. Anormales zu tun, wenn mich meine Angst
verrückt machen sollte. Aus diesem Grunde gibt mir auch die
Gegenwart meines Chauffeurs ein größeres Sicherheitsgefühl als
diejenige meiner Frau."
„Die Religion spielt eine große Rolle in meinem Leben. Sie be
deutet für mich eine höchst wichtige Zuflucht, wenn mich Angst
und Verzweiflung überkommen. Ich gehe jeden Morgen zur
Beichte. Aber auch das hilft mir immer nur vorübergehend. Dabei
fällt mir plötzlich ein, daß ich vor dem Ausbruch meiner schweren
Angstkrisen oft religiöse Zweifel fühle. Ich gehe auch alle Tage zur
Kommunion."
„Meine augenblickliche Situation ist so, daß ich mir immer ein
sam und hilflos verlassen vorkomme. Ich fühle, daß mein Leben
l e e r u n d o h n e S i n n i s t . I c h h a b e k e i n e r l e i Ve r t r a u e n i n m e i n e

1 4 g
Gefühle. Ich hoffe immer Hilfe bei anderen zu finden. Ich bin un
entwegt auf der Suche nach Schutz gegen meine Wut, die mich
überfällt, weil ich es bis heute nicht zu Unabhängigkeit von den an
deren gebracht habe, da ich sie als Schutz brauche. Andererseits
bin ich wütend gegen sie, wenn sie mir nicht sofort in dem Augen
blick bedingungslos zur Verfügung stehen, wenn ich sie nötig habe.
Dieselbe Reaktion von Feindseligkeit fühle ich gegen sie, wenn sie
mir nicht sogleich das beschaffen, was ich haben möchte, oder auch
wenn mir jemand etwas nehmen will. Ich werde sehr böse, wenn
ich bei Tisch nicht zuerst und das Beste bekomme, aber auch wenn
mir jemand nur widerspricht. Gleichzeitig wage ich niemals, einem
Menschen zu sagen, wenn ich mich über ihn geärgert habe. Dann
habe ich wieder eine Wut gegen mich selbst, weil ich zu feige bin,
um ehrlich sein zu können."
Dieser Patient litt so entsetzlich an seinem Zustand, daß er in
den ersten Wochen der Behandlung manchmal dreimal am Tage
den Arzt aufsuchen mußte. Er kam immer in Begleitung seiner
Frau und seines Chauffeurs. Sein Psychotherapeut aber mußte auf
die Straße hinuntergehen, um ihn vom Auto, in dessen Ecke ge
drückt und gekauert, weil gequält von seiner Angst er saß, nur über
die wenigen Meter des Bürgersteiges bis ins Haus zu geleiten. Ohne
diesen Schutz getraute er sich nicht, die Geborgenheit seines
Wagens zu verlassen.
Es ist völlig unmöglich, die Einzelheiten dieser schwierigen
Behandlung zu schildern, die allerdings dadurch wesentlich er
leichtert wurde, daß der Patient in ganz ungewöhnlicher Art mitar
beitete. Nicht nur daß er keine Hemmungen kannte, alle seine
Gedanken und Gefühle zu äußern, so daß der Arzt niemals seine
Zeit und Kraft damit vergeuden mußte. Widerstände zu überwin
den, sondern er dachte alles durch, was in jeder Stunde erörtert
worden war, und faßte es dann am Beginn der nächsten kurz zu
sammen, wobei er gleichzeitig um weitere Klärung des ihm noch
unverständlich oder dunkel Gebliebenen bat. Gezeigt werden
soll und muß aber, wie das Ungewißsein des Kranken langsam ab
gebaut werden konnte und nach und nach einem immer stärker
werdenden Gewißsein Platz machte.
Zwei Begebenheiten sollen seine Einstellung zu seiner Frau er
kennen lassen. Ein paar Wochen nach Beginn der Behandlung er
zählte er: „Ich bekam heute vormittag zu Hause plötzlich Angst
und Wut. Alle waren ausgegangen. Keiner kümmerte sich um
mich, obwohl mir das doch durchaus zusteht. Ich komme mir in
solchen Situationen immer wie ein kleines Kind vor, das umsorgt

1 5 0
sein will. Oft fange ich dann sogar an zu schreien, wozu ich immer
Lust habe, wenn ich mich von meinen Mitmenschen vernachlässigt
fühle. Wenn ich bei solchen Gelegenheiten mein Spiegelbild be
trachte, so verursacht mir der Anblick meiner selbst einen starken
Angstzustand. Denn mein Benehmen ist für einen Erwachsenen
vollkommen anormal. Ich könnte mir dagegen vorstellen, daß ich
mich mit Zufriedenheit ansehen würde, wenn ich noch ein Kind
wäre."

„Gestern abend fühlte ich mich nicht gut. Ich wollte infolgedes
sen nicht zu einem Abendessen gehen, obwohl es mir absolut klar
war, daß ich die unausweichliche Verpflichtung hatte, der Einla
dung Folge zu leisten. Als mir dann auf meine Frage, ob ich nicht
zu Hause bleiben könnte, meine Frau auch sagte, daß ich nicht ab
sagen dürfte, fühlte ich mich nicht etwa überzeugt, sondern hatte
sofort und dann auch noch später am Tisch meiner Gastgeber eine
Wut gegen sie, weil sie mich gezwungen hatte, dorthin zu gehen,
anstatt Mitleid mit mir zu haben, mich zu Hause zu behalten und
sich um mich zu kümmern, wie es früher immer meine Schwestern
in ähnlichen Fällen getan hatten."
Die psychotherapeutische Arbeit bestand darin, dem Patienten
nachzuweisen, daß das, was er seine Hilfs- und Schutzbedürftigkeit
nannte, im Grunde genommen ein Suchen nach der Liebe von Seiten
anderer Menschen gewesen sei. Es mußte ihm bewußtgemacht
werden, daß er Affekt und Zuneigung, die ihm von seinen nächsten
Angehörigen in reichstem Maße entgegengebracht worden waren,
deshalb niemals habe finden können, weil er sie 1. stets nur bei
Fremden gesucht habe und 2. seine „Gefühllosigkeit" jedes
Zustandekommen einer wirklichen mitmenschlichen Beziehung
vereitelt habe.
Erst nachdem er verstanden hatte, daß der einzige Mensch, der
sich danach sehnte, seine affektiven Bedürfnisse zu befriedigen,
seine Frau war und daß sie ebenfalls der einzige Mensch sei, der
sie, ganz im Gegensatz zu seiner bisherigen Einstellung, auch be
friedigen könne, begann er Verständnis für sich und das Ziel der
Behandlung zu gewinnen. All seine Vorurteile in bezug auf seine
Unmännlichkeit, seine Schwäche und die Nichterfüllung seiner
Verpflichtungen als Ehemann und Vater wurden ebenso syste
matisch zum Verschwinden gebracht wie diejenigen, die sich dar
auf bezogen, daß die Frau im allgemeinen und die seine im beson
deren nicht fähig sei, für den Mann Hilfe, Schutz, Stütze und
Freund zu sein.
Fünf Wochen nach Beginn der Behandlung wird zum erstenmal

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erkennbar, daß er sich seiner Gefühle seiner Frau gegenüber in
zwischen bewußt geworden ist und den Mut besitzt, sie sich zu ge
statten. Als er, schon nach Beendigung der Stunde, den Scheck
ausschreibt, sagt er plötzlich, ohne seinen Arzt anzusehen: „Meine
Frau ist die beste!" - „Ja", wird ihm geantwortet, „und daher ge
hören Ihre positiven Gefühle zu ihr! Dort nur können Sie sie ganz
leben: im Heim mit Frau und Kindern!" Sein in der Tiefe seines
Herzens Angerührtsein kommt daraufhin in dem zweiten Anfall
von Weinen während der Behandlung zu unmißverständlichem
Ausdruck.
Einen starken Eindruck machte auf den Patienten das folgende
Erlebnis, das ihm viel Stoff zum Nachdenken gab und die entschei
dende Wendung in seiner Wesenshaltung zu seiner Frau einleitete,
die zu seiner Gesundung führte. Es fand statt, als er sich infolge
seines Selbstverständnisses und seiner positiveren Beziehung zu
seiner Frau und seinen Kindern schon nicht mehr so einsam, unfä
hig und unwürdig fühlte und ihn daher seine Angstzustände schon
wesentlich weniger und seltener folterten. Er klagte eines Tages
darüber, daß er am Abend vorher sich im ehelichen Schlafzimmer,
in dem seine Frau schon fest schlief, ins Bett gelegt habe und sehr
lange, von seiner Angst gequält, nicht habe schlafen können. Der
Arzt riet ihm, das nächste Mal, wenn er sich wieder schlecht fühle,
nur seine Hand auf die seiner Frau zu legen, ohne sie zu wecken.
„Wie kann mir das helfen?" sagte er völlig ungläubig. - Ein paar
Tage später erzählte er, noch voller Erstaunen, daß seine Angst auf
diese Weise im Umsehen verschwunden gewesen sei, so daß er
sofort habe einschlafen können.
Nach einer Behandlung von elf Monaten geschieht ihm folgen
des: Bei einer Meinungsverschiedenheit mit seiner Frau über einen
Hauskauf fühlte er zuerst, wie immer seit dem Eingehen seiner
Ehe, eine Wut gegen sie, weil sie ihre eigene, der seinen entgegen
gesetzte Ansicht geäußert hatte. Dabei muß gesagt werden, daß
diese lebenskluge, liebevolle Frau stets im Recht war, wenn sie es
in wichtigen Fällen nach reiflicher Überlegung für notwendig hielt,
ihre eigene Meinung der ihres oft impulsiven Mannes entgegenzu
stellen. Anstatt nun wie sonst immer bisher sich über den Wider
stand seiner Frau zu ärgern und in Unfrieden mit ihr aus dem Zim
mer zu laufen, gab er sich zum erstenmal in seinem ehelichen
Leben Rechenschaft darüber, daß er für sie etwas bedeute, daß sie
ihn liebe, daß sie sich auch einsam fühle, daß sie Hilfe brauche und
daß er ihr während der ganzen bisher verflossenen Zeit ihrer Ehe
durch sein Benehmen immer von neuem unausgesetzt Leiden ver-

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ursacht habe, auf die sie mit immer wieder unerschöpflicher
Geduld und Güte reagiert hatte. Was bisher in Unterhaltungen mit
seinem Arzt lediglich eine Angelegenheit seines Intellektes, d. h.
theoretische Erkenntnis, gewesen war, trat ihm nun bei dieser Ge
legenheit erstmals in seinem Leben als lebendig erlebte praktische
Erfahrung ins Gefühl.
Der Patient drückte das so aus: „Bis jetzt war meine Frau für
mich so etwas wie eine Sache, die mir diente, um mir mein Leben
zu erleichtern oder es mir bequem zu machen. Ich konnte sie be
nutzen, wann ich es mir wünschte und wozu ich es wollte. Ich hatte
niemals das Gefühl, sie zu lieben. Gestern abend dachte ich zum
erstenmal: Es müßte schön sein, zusammen durchs Leben zu ge
hen, nicht nur nebeneinander zu existieren, sondern auch innerlich
in einer affektiven Bindung vereinigt zu sein. Zum erstenmal in
meinem Leben überkam mich in diesem Augenblick eine zärtliche
Wallung zu ihr, und ich fühlte in meiner Seele den Wunsch, diesen
sich öffnenden Weg weiterzuverfolgen, um zu einer menschlich
gefühlsmäßigen Beziehung mit ihr zu gelangen. Als ich sie immer
noch deprimiert sah, überlegte ich zum erstenmal während unserer
langen Ehe, wie ich ihr helfen könne, und als ich dann ans Telefon
gegangen war, um ihre Mutter zu uns einzuladen, fühlte sie sich
b e s s e r. "

„Doktor", sagte er dann, „Sie haben mir gleich zu Anfang der


Behandlung versprochen: ,Ich werde Sie die Kunst lehren, Ihr
Leben zu erleben!' In der Tat: Ich habe es nicht gelebt. Ich habe
meine Frau trotz unserer langen Ehe gar nicht gekannt. Sie ist wie
meine Sklavin gewesen. Ihr Wert als Mensch geht mir erst jetzt auf.
Es ist mir bei dem gestrigen Erlebnis wie Schuppen von den Augen
gefallen. Während ich sonst immer Schutz und Hilfe und Affekt
außerhalb des Hauses gesucht habe, ist es mir gestern zum ersten
mal ganz klargeworden, daß ich mich zu Hause zufriedener fühle
als irgendwo sonst. Ich habe ein herrlich friedliches Wochenende
verbracht, habe mich den ganzen Tag schön ausgeruht, und alle die
anderen, ohne die ich nicht glaubte existieren zu können, haben
mir in keiner Weise gefehlt."
In den folgenden Behandlungsstunden kam der Patient immer
wieder auf diese ihm völlig neue Erfahrung zurück: „Als ihr Mann
habe ich mich in der Rangordnung immer weit über meiner Frau
gefühlt. Sie schuldete mir Gehorsam. Sie war dazu verpflichtet, mir
Untertan zu sein. Ich sah sie immer tief unter mir, niemals als
Gefährtin, niemals als möglichen Lebensfreund I Mit meiner Ein
stellung zu ihr habe ich ihre menschliche Persönlichkeit für mich
vernichtet und mich damit jeder Möglichkeit beraubt, in affektiven
Kontakt mit ihr kommen zu können. Niemals habe ich ihr mensch
liches Gefühl für mich ausgenützt. Denn ich fühlte mich immer
beschämt vor ihr und suchte immer die Rettung bei anderen, denen
ich viel mehr Aufmerksamkeit widmete als meiner Frau. Ich be
ginne zu ahnen, daß sie die einzige und ausschließliche Gesellschaft
für mich sein muß, wenn ich gesund werden will. Ich habe mich und
mein Leben schon völlig geändert: Früher habe ich von sieben
Tagen der Woche fünf außerhalb des Hauses gegessen. Jetzt will
ich immer mit ihr essen. Ich treffe mich neuerdings im Gegensatz
zu früher, als ich fast niemals zu Hause war, sehr wenig mit anderen
Menschen. In diesem Augenblick, wo mir das alles erst dadurch
ganz klar wird, daß ich ausspreche, was in der letzten Zeit in mir
vorgegangen ist und was sich in meinem Leben geändert hat, er
kenne ich nicht nur, sondern fühle die großen Fortschritte, die ich
gemacht habe."
Die beiden letztgeschilderten Männer sind seit mehr als zehn
Jahren gänzlich angstfrei. Bei ihnen war weder eine Verdrängung
ihrer Libido noch ihrer Aggressionen festzustellen, die nach Freud
bzw. Horney ursächlich für die Entstehung von Angst verantwort
lich sein soll.

Erfülltes Leben

Die Aufgabe dieses Buches bestand darin, den Beweggründen des


Zwiespaltes des Menschen in sich nachzuspüren, die Motive seines
inneren Unfriedens zu entdecken, der ihn auch mit den Menschen
seiner Umwelt ent-zweit, Ursache des Kriegszustandes in der
Menschheit ist und dem Erleiden des Lebens gleichkommt.
Was konnte festgestellt werden?
Das urteilende, beschuldigende, verurteilende Denken des Ver-
standes-Geistes ist der Beweggrund für das Entstehen der inneren
Konflikte im ungewissen und daher unsicheren, mißtrauischen
Menschen. Diese Art des Denkens führte laut der Bibel zum Bru
dermord Kains an Abel. Lao-tse sagte: „Verstand ist Vernichtung
des Lebens."
Das einfühlende, entschuldigende, mitempfindende Sinnen des
Verständnisses, des Verstehens des Herzens, wie es im Hebrä
ischen heißt, vermittelt dem Menschen das Wissen um seine wahre
seelische Natur und deren Bedürfnisse. Sie müssen befriedigt wer-

1 S 4
den, will er aus seiner zwie-trächtigen und daher immer „proble
matischen" Existenz zur Ein-tracht eines fried- und freudvollen
Daseins gelangen, das dem Erleben des Lebens gleichkommt.
Dieses Wissen des Verständnis-Geistes setzt die Vernunft, den
guten Sinn, wie es im Französischen heißt, instand, anstelle der
Gewalt des unvernünftigen, weil unmenschlichen Macht-Willens,
der das Menschliche des Menschen, sein Seelisches, vergewaltigt,
den vernünftigen, weil mitmenschlichen Friedens-Willen walten zu
lassen. - Denn nur mit dem Verstand kann man Kriege begründen,
mit der Vernunft dagegen nicht.
Eine Sinnesänderung von der Un-Geistigkeit zur Geistigkeit,
wie sie in diesem Buch anhand der allerverschiedensten Leidens
berichte geschildert wird, ist vonnöten, wenn der Mensch aus dem
Un-Glück und Un-Heil seiner sinnentleerten Existenz mit ihrem
bestfälligem Gut-Gehen zum Glück und Heil eines innermenschlich
und zwischenmenschlich sinnerfüllten Lebens mit seinem Gut-
Fühlen gelangen will. Aus Egoismus wird er dann bereit sein, den
rechten und richtigen Weg zu suchen und zu beschreiten, auf dem
allein er das finden kann, was er sich wünscht und was er daher in
Wirklichkeit will, weil es seiner wahrhaften menschlichen Natur
Gerechtigkeit widerfahren läßt.
Es überschreitet den Rahmen dieses Buches, darzustellen, wie
die Erziehung gestaltet werden muß, um die Gesinnung des „neuen
gewissen Geistes" (Ps 51,12) in der Alltäglichkeit des menschli
chen Lebens so wirksam werden zu lassen, daß an die Stelle der
Angst, der Leere und des Nichts der gegenwärtigen leidvollen Exi
stenz des Menschen mehr und mehr freudvolles Erleben treten
wird.
Wer liest die Herderbücherei?

Die Taschenbuchredaktion läßt diese Frage alle drei Jahre durch


das Institut für Demoskopie in Allensbach klären. Der tradi
tionelle und und stets willkommene Leserbrief-Kontakt reicht
nicht mehr aus, um sich eine genaue Vorstellung vom Publikum
zu machen; denn inzwischen kennen und verfolgen 6 Millionen
Leser und Leserinnen unser Taschenbuchprogramm.
Diese Zahl wächst weiter. Vor allem unter jungen Leuten und
unter Frauen fand die Herderbücherei in den letzten Jahren ver
mehrten Zuspruch. Darin spiegelt sich das Engagement der
Redaktion für die großen mitmenschlichen Probleme unserer
Zeit. Das Angebot an Lebenshilfe-Literatur ist in den letzten
Jahren entscheidend ausgebaut worden. Bekannte Psychothera
peuten konnten dafür gewonnen werden, z. B. Viktor F. Frankl,
Paul Tournier, Joachim Bodamer, Klaus Thomas. Erziehungs
und Eheberater berichten aus ihrer Praxis. Die Nachfrage nach
solchen Taschenbüchern ist groß. So erreichte die bekannte
Uelzener Psychagogin Christa Meves in der Herderbücherei
bis jetzt weit über eine Million Bände.
Um die Rolle der Frau geht es in der neuen Taschenbuch
serie „besonders für Leserinnen". Dem feministischen Kriegs
geschrei und der weichen Welle weiblicher Selbstbekenntnisse
soll hier eine vernünftige Lebensorientierung entgegengestellt
werden. Schon bei der Ankündigung hat dieses Konzept großes
Aufsehen erregt.
Eine besonders interessierte Lesergruppe unseres Taschen
buchverlages sind Lehrer aller Schulstufen und Schularten, Stu
denten der Pädagogik und Lehramtskandidaten. Sie finden in
der Herderbücherei eine eigene Fachserie, die jetzt auf hundert
Titel zugeht, eine Fachbibliothek, die sich in den Fragen des
Schulalltags stellt. Hier und nicht in den ideologischen Graben
kämpfen der Bildungsdebatten entscheidet sich das Schicksal
u n s e r e r K i n d e r.
Die Frage nach der konfessionellen Zusammensetzung unseres
Publikums ist aufschlußreich: 57% sind katholisch, 37% pro
testantisch, 6% konfessionslos. Die Herderbücherei hat von
ihrer Gründung an einen konsequent ökumenischen Kurs ver
folgt. Heute findet der Leser neben bekannten katholischen
Theologen wie Karl Rahner, Rudolf Schnackenburg und Ladis
laus Boros prominente evangelische Theologen wie Frere Roger,
Helmut Thielicke und Peter Meinhold unter den Autoren.
Inzwischen öffnet sich der Blick für eine größere Ökumene,
die Gemeinschaft aller Menschen guten Willens. Die großen
Weltreligionen sind ein bevorzugtes Thema der Herderbücherei
geworden. In der von Gertrude und Thomas Sartory heraus
gegebenen Edition „Texte zum Nachdenken" ist der Versuch
erfolgreich unternommen worden, dem modernen Menschen
wieder eine Beziehung zu geben zu verschütteten Weisheits
quellen der Menschheit.
So sammelt die Herderbücherei vor allem Leser, die geistig
flexibel sind und bereit sind, umzudenken. Das tut auf allen
Gebieten des modernen Lebens not. Entscheidende Impulse
dazu gibt das von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegebene
Taschenbuchmagazin INITIATIVE, das den Begriff „Tendenz
wende" geprägt und mit Inhalt gefüllt hat. Man kann es übrigens
wie eine Zweimonatszeitschrift abonnieren.
Trotz dieser anspruchsvollen Aufgabenstellung geht dem
Herderbücherei-Programm der verbitterte Ernst moderner
Weltverbesserer völlig ab. Ein ganzes Arsenal heiterer Beiträge
sorgt dafür, daß das Lachen nicht außer Kurs kommt. Jeder
vierte verkaufte Herderbücherei-Band gehört zu dieser Sparte.
Man trifft daher unter unseren Lesern mit Vorzug auf Mitbürger,
die die Herausforderung der Zeit erkannt, darüber aber den
Humor nicht verloren haben.
Lebenshilfe

Frank Cheavens
Schach der Depression
Band 649, 144 Seiten

Viktor E. Frankl
Das Leiden am sinnlosen Leben
Psychotherapie für heute
Band 615, 128 Seiten

Ursula von Mangoldt


Lebensmut gewinnen
Band 602, 128 Seiten

Christa Meves
Antworten Sie gleich!
Lebenshilfe in Briefen
Band 635, 128 Seiten

P a u l To u r n i e r
Durchbruch zur Persönlichkeit
Band 621, 224 Seiten

in der Herderbücherei
Lebenshilfe

Viktor E. Frankl
Psychotherapie für den Laien
Band 387, 192 Seiten

Johanna Herzog-Dürck
Lebenskrise und Selbstfindung
Das Erlebnis der Heilung im
psychotherapeutischen Prozeß
Band 662, 176 Seiten

Anneliese Harf
Yoga-Praxis
Durch Leiberfahrung zur Meditation
Band 639, 240 Seiten

Reinhold Ruthe
Streß muß sein!
Band 617, 128 Seiten

\ f Dr. med. Rüdiger Rogoll


1/ Nimm dich, wie du bist
K Band 593, 144 Seiten

in der Herderbücherei
Wilhelm Rudolphson, 1897 In Naugard (Pommern) geboren.
1 9 1 6 b i s 1 9 1 8 F r o n t k ä m p f e r i m E r s t e n We l t k r i e g . S t u d i u m
d e r M e d i z i n a n d e r U n i v e r s i t ä t B e r l i n . D r. m e d . Vo n 1 9 2 3 - 3 6

praktischer Landarzt. 1936 Auswanderung nach Palästina.


Seit 1940 dort und von 1947 an in Santiago (Chile) und
Buenos Aires als Psychotherapeut tätig. Lebt seit 1972 in
Haifa (Israel).
Ve r ö ff e n t l i c h u n g e n
in amerikanischen und deutschen Zeitschriften.

Herderbücherei ISBN 3-451-07692-6 [590]

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