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RUSSISCHE

VOLKSMÄRCHEN
Herausgegeben von

Prof. Dr. Erna Pomeranzewa

Akademie-Verlag Berlin
1966
Volksmärchen
Eine internationale Reihe

Herausgegeben von

Prof. Dr. Julian Krzyzanowski, Warschau


Prof. Dr. Gyula Ortutay, Budapest, und
Prof. Dr. Wolfgang Steinitz, Berlin

Aus dem Russischen übersetzt von


Günter Dalitz
Fachredaktion
Dr. Gisela Burde-Schneidewind

4. Auflage, 22. – 31. Tausend


Erschienen im Akademie-Verlag GmbH
108 Berlin, Leipziger Straße 3 – 4
Copyright 1964 by Akademie-Verlag GmbH
Lizenznummer: 202 – 100/267/66
Gesamtherstellung: IV/2/14 – VEB Werkdruck,
445 Gräfenhainichen 2673
Bestellnummer: 2121/1 ES 8 B, 14 G
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Dieses eBook ist nicht für den


Verkauf bestimmt.
Tiermärchen ..................................................9
1 Fuchs und Wolf .........................................9
2 Wie die Füchsin die Wehmutter gemacht
hat ..................................................... 16
3 Wie die Füchsin das Klageweib gemacht
hat ..................................................... 18
4 Fuchs und Kranich ................................... 21
5 Kater und Füchsin ................................... 23
6 Fuchs, Hase und Hahn ............................. 28
7 Bauer, Bär und Fuchs .............................. 31
8 Undank ist der Welt Lohn ......................... 34
9 Der dumme Wolf ..................................... 37
10 Kranich und Reiher ................................ 43
11 Der Hahn und die Bohne......................... 45
12 Die Ziege ............................................. 48
13 Wie das Schwein zu Tanze ging ............... 52
14 Das Schlößchen..................................... 56
15 Die Ziege Naseweis................................ 58
16 Das Schweinchen .................................. 65
17 Der Pfannkuchen ................................... 69

Zaubermärchen ............................................ 73
18 Der Kater mit dem Goldschwanz .............. 73
19 Das Schneekind .................................... 81
20 Die habgierige Alte ................................ 85
21 Das bucklige Pferdchen .......................... 89
22 Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch ......... 103
23 Iwan-Wassersohn und Michail-
Wassersohn....................................... 119
24 Der Unterfähnrich................................ 138
25 Wanjuschka ........................................ 161
26 Wanjuschka der Dummkopf .................. 176
27 Jemelja der Dummkopf ........................ 192
28 Die Feder von Finist dem edlen Falken.... 213
29 Die schöne Wassilissa .......................... 224
30 Maria Morewna.................................... 238
31 Iwan Zarewitsch und Blauäuglein, die
Heldenjungfrau .................................. 253
32 Iwan Zarewitsch und die schöne Maria
mit dem schwarzen Zopf ..................... 270
33 Andrej der Jäger.................................. 298
34 Als sich Mücke und Fliege bekriegten...... 340
35 Die Froschzarin ................................... 378
36 Die Tochter des Zaren .......................... 385
37 Die Schafe im Meer.............................. 394
38 Der weise Iwan ................................... 405
39 Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn....... 417
40 Das goldene Ei .................................... 432
41 Von Nikita dem Herumtreiber ................ 454
42 Die Zarin ohne Arme............................ 469
43 Fürst Pjotrs treue Gemahlin .................. 475
44 Schwesterchen Aljonuschka und
Brüderchen Iwanuschka ...................... 488
45 Junker Frost ....................................... 494
46 Iwaschko und die Hexe ........................ 502
47 Die wilden Schwäne ............................. 509
48 Daumengroß....................................... 512
49 Der Soldat und der Teufel ..................... 519
50 Der Hexenmeister ............................... 521
51 Der Soldat im Jenseits.......................... 526
52 Der Schmied und der Teufel.................. 536
53 Vom Hammerschmied und dem Teufel.... 540
54 Die Sorge ........................................... 545

Heldenmärchen – Historische Märchen –


Abenteuermärchen ..................................... 553
55 Nikita der Gerber................................. 553
56 Die Mär von Ilja Muromez..................... 556
57 Jeruslan Lasarewitsch .......................... 594
58 Erzählung von Bowa dem Königssohn,
dem ruhmreichen und starken Recken... 634
59 Wie eine Löwin einen Zarensohn aufzog.. 676
60 Die zwei Kaufleute ............................... 692
61 Des Zaren Handwerksmeister................ 718
62 Der Töpfer.......................................... 727
63 Peter der Große und der Soldat ............. 732

Satirische Alltagsmärchen ............................ 744


64 Das Hühnchen Tataruschka................... 744
65 Das besprochene Wasser ...................... 747
66 Der Topf............................................. 751
67 Das zanksüchtige Weib......................... 757
68 Das geschwätzige Weib ........................ 758
69 Lutonjuschka ...................................... 761
70 Mikola Duplenski ................................. 764
71 Die Alte.............................................. 768
72 Das kluge Mädchen.............................. 776
73 Das vergnügte Kloster.......................... 781
74 Kirik .................................................. 788
75 Wie ein Pope seine Knechte plagte ......... 791
76 Der alte Ossip und die drei Popen .......... 797
77 Des Ziegenbocks Begräbnis .................. 819
78 Der gutmütige Pope ............................. 823
79 Der Bauer und der Pope ....................... 825
80 Der lüsterne Pope................................ 829
81 Der musikalische Pope ......................... 833
82 Der listige Bauer ................................. 835
83 Der Herr und der Zimmermann ............. 841
84 Der Herr als Schmied ........................... 844
85 Der Herr und der Bauer ........................ 847
86 Die böse Herrin ................................... 850
87 Wie ein Bauer Gänse teilte.................... 853
88 Von der Not ........................................ 859
89 Die Herrin und die Kücken .................... 862
90 Der Herr und der Hund......................... 867
91 Das Urteil des Schemjaka ..................... 873
92 Ein Lügenmärchen ............................... 876
93 Ein Neckmärchen (Parodie) ................... 877

ANHANG.................................................... 878
Nachwort ................................................ 878
Verzeichnis der in den Anmerkungen
genannten Literatur ............................ 927
Anmerkungen.......................................... 930
Tiermärchen

1
Fuchs und Wolf
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der
Mann sagt zu seiner Frau: „Backe du Piroggen,
Frau, ich will zum Fluß fahren und Fische fangen.“
Er fing eine Menge Fische, einen ganzen Wagen
voll. Wie er wieder nach Hause fährt, liegt da der
Fuchs zusammengerollt auf der Straße. Der Mann
klettert vom Wagen, geht auf den Fuchs zu, aber
der rührt sich nicht, sondern liegt wie tot. „Das
wird ein Geschenk für mein Weib“, sagte der
Mann, nahm den Fuchs, lud ihn auf den Wagen
und lief selbst voran. Der Fuchs aber nutzte die
Gelegenheit und warf behutsam ein Fischlein nach
dem anderen vom Wagen. Als er den letzten Fisch
heruntergeworfen hatte, machte er sich selbst da-
von.
„Schau, Alte“, sagt der Mann, „was für einen
Pelzkragen ich dir mitgebracht habe!“ – „Wo
denn?“ – „Dort auf dem Wagen, Fische und einen
Kragen.“ Die Frau ging zum Wagen, aber da wa-
ren weder Kragen noch Fische. Sie begann ihren
Mann zu schelten:
„So alt du bist, so albern bist du auch! Jetzt
willst du mich noch zum besten halten!“

9
Da merkte der Mann, daß der Fuchs nicht tot
gewesen war, und ließ den Kopf hängen. Aber es
war zu spät.
Der Fuchs aber trug alle Fische, die auf der
Straße verstreut lagen, zu einem Haufen zusam-
men, setzt sich und läßt es sich schmecken. Da
kommt der Wolf des Wegs: „Guten Tag, Gevat-
ter!“ – „Gib mir von deinen Fischen!“ – „Fang dir
selbst welche, dann kannst du sie auch essen.“ –
„Ich verstehe nichts vom Fischfang.“ – „Ei, das ist
keine Kunst, ich habe ja auch welche gefangen.
Geh nur zum Fluß, Gevatter, und laß deinen
Schwanz zum Eisloch hineinhängen; dann kom-
men die Fische von selbst und beißen sich im
Schwanz fest. Du mußt aber hübsch lange sitzen
bleiben, sonst fängst du nicht genug.“
Der Wolf ging zum Fluß und hing seinen
Schwanz ins Eisloch; die Geschichte hat sich näm-
lich im Winter zugetragen. Da saß er nun die gan-
ze Nacht hindurch, und der Schwanz fror ihm am
Eise an. Er versuchte aufzustehen, aber es ging
nicht. „Ei, wieviele Fische schon angegebissen ha-
ben, ich kann sie gar nicht herausziehen“, denkt
er. Da kommen die Frauen aus dem Dorf, um
Wasser zu holen. Sie sehen den Grauen und
schreien: „Ein Wolf, ein Wolf! Schlagt ihn, schlagt
ihn!“ Sie liefen herbei und fingen an, den Wolf zu
prügeln, die eine mit dem Trageholz, die andere
mit dem Eimer, was ihnen gerade unter die Hände
kam. Der Wolf zerrte hin, zerrte her, riß sich
schließlich den Schwanz ab und rannte davon,

10
was das Zeug hielt. „Warte nur“, denkt er, „das
will ich dir schon heimzahlen, Gevatter!“
Der Fuchs aber, nachdem er die Fische aufge-
gessen, wollte probieren, ob er nicht noch irgend
etwas könne mitgehen heißen. Schlich heimlich in
eine Bauernhütte, in der die Frauen Pfannkuchen
buken, geriet mit dem Kopf in einen Kübel voller
Teig, beschmierte sich den ganzen Kopf und rennt
davon. Da begegnet er dem Wolf. „Solche Lehren
also gibst du? Ich bin jämmerlich verprügelt wor-
den!“ – „Ach, Gevatter“, sagt der Fuchs, „du hast
nur ein wenig Blut lassen müssen, mir aber haben
sie das Gehirn aus dem Schädel geprügelt; ich
kann mich kaum noch auf den Beinen halten.“ –
„Ja, das sieht man“, sagt der Wolf, „du kannst
wahrhaftig nicht mehr laufen; setz dich auf mich,
ich werde dich heimtragen.“ Das tat der Fuchs,
und der Wolf trabte mit ihm los. Wie er nun so
sitzt, spricht er leise vor sich hin: „Der Geprügelte
trägt den Nichtgeprügelten, der Geprügelte trägt
den Nichtgeprügelten.“ – „Was sprichst du da,
Gevatter?“ – „Ich sage: ein Geprügelter trägt den
anderen.“ – „So ist es, Gevatter, genau so ist es!“
„Komm, Gevatter Wolf, wir wollen uns jeder ei-
ne Hütte bauen!“ – „Immer zu, Gevatter Fuchs!“ –
„Ich baue mir eine Rindenhütte, und du baust dir
eine aus Eis.“ Sie machten sich an die Arbeit und
bauten sich jeder eine Hütte: der Fuchs eine Rin-
denhütte, der Wolf eine aus Eis. Darin wohnten
sie nun. Als der Frühling kam, begann die Wolfs-
hütte zu schmelzen.

11
„Gevatter, Gevatter!“ sagt der Wolf, „du hast
mich wieder betrogen; dafür muß ich dich fres-
sen!“ – „Komm mit, Gevatter, wir wollen das Los
entscheiden lassen, wer von uns wen fressen
darf.“ Und der Fuchs führte den Wolf in den Wald
an eine tiefe Grube und sagt: „Springe hinüber!
Wenn du die Grube überspringst, darfst du mich
fressen, kommst du aber nicht hinüber, dann darf
ich dich fressen.“ Der Wolf sprang und fiel in die
Grube hinein. „Nun bleib nur schön hier sitzen!“
sagt der Fuchs und ging davon.
Er geht, trägt ein Rollholz in den Pfoten und bit-
tet einen Bauern, ihn in seine Hütte einzulassen.
„Laß den Gevatter Fuchs bei dir die Nacht zubrin-
gen.“ – „Bei uns ist es schon ohne dich eng ge-
nug!“ – „Ich werde euch nicht zur Last fallen; ich
selbst lege mich auf die Ofenbank, den Schwanz
klemme ich unter die Bank, und das Rollholz
schiebe ich unter den Ofen.“ Da wurde er einge-
lassen. Er legte sich auf die Ofenbank, den
Schwanz klemmte er unter die Bank, und das
Rollholz schob er unter den Ofen. Früh am Morgen
stand der Fuchs auf und verbrannte das Rollholz.
Dann fragte er: „Wo ist denn mein Rollholz? Es ist
mir auch um eine Gans nicht feil!“ Was wollte der
Bauer machen, er mußte ihm für das Rollholz eine
Gans geben. Da nahm der Fuchs die Gans, zieht
davon und singt:

„Es zog ein Füchslein die Straße entlang:


Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz.
Fürs Rollholz eine Gans!“

12
Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des
zweiten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevat-
ter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ –
„Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich
werde euch nicht zur Last fallen; ich selbst lege
mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich
unter die Bank, und die Gans schiebe ich unter
den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Er legte sich
auf die Ofenbank, den Schwanz klemmte er unter
die Bank, und die Gans schob er unter den Ofen.
Früh am Morgen sprang der Fuchs auf, packte die
Gans, rupfte sie, fraß sie auf und sagte: „Wo ist
denn meine Gans? Sie ist mir auch um einen
Truthahn nicht feil!“ Was wollte der Bauer ma-
chen, er mußte ihm für die Gans einen Truthahn
geben. Da nahm er den Truthahn, zieht davon
und singt:

„Es zog ein Füchslein die Straße entlang:


Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz.
Fürs Rollholz eine Gans,
Für die Gans einen Truthahn!“

Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des


dritten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevat-
ter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ –
„Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich
werde euch nicht zur Last fallen; ich selbst lege
mich auf die Ofenbank, den Schwanz klemme ich
unter die Bank, und den Truthahn schiebe ich un-
ter den Ofen.“ Da wurde er eingelassen. Gleich

13
legte er sich auf die Ofenbank, klemmte den
Schwanz unter die Bank und schob den Truthahn
unter den Ofen. Früh am Morgen sprang der
Fuchs auf, packte den Truthahn, rupfte ihn, fraß
ihn auf und sagte: „Wo ist denn mein Truthahn?
Er ist mir auch um eine Schwiegertochter nicht
feil!“ Was wollte der Bauer machen, er mußte ihm
für den Truthahn seine Schwiegertochter geben.
Der Fuchs steckte sie in einen Sack, zieht davon
und singt:

„Es zog ein Füchslein die Straße entlang:


Was trug’s in seinen Pfoten? – Ein Rollholz.
Fürs Rollholz eine Gans,
Für die Gans einen Truthahn,
Für den Truthahn eine Schwiegertochter!“

Poch, poch, poch, klopft er an die Hütte des


vierten Bauern. „Wer ist da?“ – „Ich bin’s, Gevat-
ter Fuchs, laß mich bei dir die Nacht zubringen.“ –
„Bei uns ist’s schon ohne dich eng genug!“ – „Ich
werde euch nicht zur Last fallen; ich lege mich auf
die Ofenbank, den Schwanz klemme ich unter die
Bank, und den Sack schiebe ich unter den Ofen.“
Da wurde er eingelassen. Er legte sich auf die
Ofenbank, den Schwanz klemmte er unter die
Bank, den Sack aber schob er unter den Ofen. Der
Bauer ließ das Mädchen heimlich aus dem Sack
und steckte einen Hund hinein.
Frühmorgens machte sich der Fuchs auf den
Weg, nahm den Sack, zieht davon und sagt:
„Schwiegertochter, sing mir ein Lied!“ Da begann

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der Hund ganz fürchterlich zu knurren. Der Fuchs
erschrak, läßt den Sack mit dem Hund fahren und
rennt davon.

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2
Wie die Füchsin die Wehmutter
gemacht hat
Es lebten einmal ein Gevatter und eine Gevatte-
rin, der Wolf und die Füchsin. Die hatten ein Fäß-
chen mit Honig. Die Füchsin aber mag Süßes gar
zu gern. Einmal liegen die beiden in ihrer Hütte,
und die Gevatterin klopft heimlich mit dem
Schwanz.
„Gevatterin, Gevatterin!“ sagt der Wolf, „es
klopft wer.“ – „Da wird mich wohl jemand als
Wehmutter brauchen“, murmelt die Füchsin. „So
mach dich auf den Weg und geh!“ sagt der Wolf.
Die Füchsin schnell aus der Hütte hinaus und ge-
radenwegs zum Honigfäßchen! Dort tat sie sich
gütlich und kehrte zurück. „Wen hast du gese-
hen?“ fragt der Wolf. „Den Anschnitt“, antwortet
die Füchsin.
Ein zweites Mal liegt die Gevatterin wieder in
der Hütte und klopft mit dem Schwanz. „Gevatte-
rin! Es klopft wer“, sagt der Wolf. „Man braucht
mich gewiß als Wehmutter.“ – „Dann geh nur
hin!“ Die Füchsin ging wieder zum Honigfäßchen
und schleckte, bis sie nicht mehr konnte; nur der
Boden war noch mit Honig bedeckt. Wie sie zum
Wolf zurückkommt, fragt der: „Wen hast du gese-
hen?“ – „Das Mittelstück.“

16
Auch ein drittes Mal überlistete die Füchsin den
Wolf, und diesmal schleckte sie den ganzen Honig
aus. „Wen hast du gesehen?“ fragt der Wolf. „Den
Bodensatz.“
Über eine Weile stellte sich die Füchsin krank
und bittet den Gevatter, ihr etwas Honig zu brin-
gen. Der Gevatter ging, aber vom Honig war auch
nicht ein Tröpfchen mehr da. „Gevatterin, Gevat-
terin!“ ruft der Wolf, „der Honig ist ja aufgefres-
sen!“ – „Was heißt aufgefressen? Wer hat ihn
denn aufgefressen? Das kannst nur du gewesen
sein!“ ereifert sich die Füchsin. Der Wolf bekreu-
zigt sich und schwört, er sage die Wahrheit. „Nun
gut“, sagt die Füchsin, „wir wollen uns in die Son-
ne legen, und bei wem der Honig herausschmilzt,
der ist es auch gewesen.“
Sie gingen und legten sich hin. Die Füchsin
kann nicht schlafen, der Wolf aber schnarcht aus
vollem Halse. Endlich zeigte sich bei der Füchsin,
die es schon gar nicht erwarten konnte, etwas
Honig; hurtig schmierte sie ihn dem Wolf aufs
Fell. „Gevatter, Gevatter!“ stößt sie den Wolf an,
„was ist denn das? Jetzt weiß ich, wer den Honig
gefressen hat!“ Und der Wolf, es blieb ihm nichts
anderes übrig, bekannte sich schuldig. – Das Mär-
chen ist zu Ende erzählt, dafür mir ein Topf mit
Butter gehört.

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3
Wie die Füchsin das Klageweib ge-
macht hat
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau, die hatten eine Tochter. Einmal hatte die
Tochter Bohnen gegessen und eine zu Boden fal-
len lassen. Die Bohne wuchs und wuchs, bis sie an
den Himmel gewachsen war. Der Alte kletterte in
den Himmel. Wie er oben angekommen war, ging
er umher, schaute sich um und sagt: „Ich will
doch meine Alte hierher holen; die wird eine
Freude haben!“ Kletterte zur Erde herunter, steck-
te seine Alte in einen Sack, nahm den Sack zwi-
schen die Zähne und kletterte wieder nach oben:
kletterte, kletterte, wurde müde und ließ den Sack
fallen. So schnell er konnte, rutschte er hinunter,
machte den Sack auf – da liegt seine Alte, bleckt
die Zähne und hat die Augen weit aufgerissen. Er
sagt: „Was lachst du. Alte? Warum bleckst du so
die Zahne?“ Als er aber sah, daß sie tot war, ver-
goß er bittere Tränen.
Sie hatten ganz allein gelebt, an einem einsa-
men Ort. So war auch keiner da, die Klagelieder
für die Alte zu singen. Der Alte nahm einen Sack
mit drei Paar schneeweißer Hühnchen und machte
sich auf den Weg, ein Klageweib zu suchen. Da
sieht er einen Bären kommen und sagt zu ihm:
„Bär, stimme doch mal ein Klagelied an für meine

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Alte! Ich will dir auch zwei schneeweiße Hühnchen
geben.“ Der Bär fing an zu brüllen: „Ach du, mein
geliebtes Mütterchen! Wie weh ist mir um dich!“ –
„Nein“, sagt der Alte, „du verstehst es nicht zu
jammern!“, und ging weiter. Er ging und ging und
traf einen Wolf; er ließ ihn ein Klagelied anstim-
men, aber auch der Wolf kann es nicht.
Wie er noch weiter ging, begegnete ihm die
Füchsin. Er ließ sie ein Klagelied anstimmen und
versprach ihr ein Paar schneeweiße Hühnchen. Da
begann die Füchsin zu singen: „Ach du, mein Müt-
terchen, den Tod bracht’ dir das Väterchen.“ Das
Lied gefiel dem Bauern, und so ließ er die Füchsin
ein zweites Mal singen, dann noch ein drittes und
viertes Mal; da fiel ihm ein, daß er nur drei Paar
Hühnchen hatte. „Füchsin“, sprach da der Alte,
„ich habe das vierte Paar zu Hause liegen lassen;
wir wollen zu mir gehen.“ Die Füchsin folgte ihm.
Zu Hause angekommen, nahm der Alte den Sack,
steckte ein paar Hunde hinein, legte die sechs
Hühnchen obenauf und gab ihn der Füchsin. Die
nahm den Sack und rannte davon. Nach einer
Weile macht sie an einem Baumstumpf halt und
sagt: „Ich will mich auf den Baumstumpf setzen
und ein weißes Hühnchen essen.“ Aß es auf und
rannte weiter. Darauf setzte sie sich wieder auf
einen Baumstumpf und aß das zweite Hühnchen,
danach das dritte, das vierte, das fünfte und
sechste. Als sie den Sack aber zum siebenten Mal
aufmachte, sprangen die Hunde heraus und gin-
gen auf sie los.

19
Die Füchsin lief, was die Beine hergaben, ver-
steckte sich unter einem großen Holzklotz und
fragt: „Öhrlein, Öhrlein, was habt ihr getan?“ –
„Wir haben gelauscht und aufgepaßt, damit kein
Hund die Füchsin faßt!“ – „Äuglein, Äuglein, was
habt ihr getan?“ – „Wir haben nach allen Seiten
gespäht, damit die Füchsin den Hunden entgeht!“
– „Beinchen, Beinchen, was habt ihr getan?“ –
„Wir rannten über Stock und Stein, die Füchsin
sollt’ nicht gefangen sein!“ – „Und du, langer
Schwanz, was hast du getan?“ – „Ich habe mich
an Baumstümpfe, Sträucher und Stämme gekrallt,
damit die Hunde die Füchsin beißen und zerrei-
ßen!“ – „So einer bist du also! He, Hunde, nehmt
meinen Schwanz und freßt ihn auf!“ Und damit
steckte sie den Schwanz heraus. Die Hunde pack-
ten zu, zogen am Schwanz die Füchsin selbst her-
aus und zerrissen sie in Stücke.

20
4
Fuchs und Kranich
Fuchs und Kranich hatten miteinander Freund-
schaft geschlossen, ja, sie hatten sogar bei je-
mandem zusammen Gevatter gestanden.
Einmal wollte der Fuchs den Kranich zu Gaste
haben. Er ging zu ihm hin und lud ihn ein: „Komm
einmal zu mir, Gevatter, komm, mein Bester! Was
meinst du, wie ich dich bewirten werde!“ Der Kra-
nich kommt zum Festmahl, der Fuchs aber hat
Grießbrei gekocht und auf einem Teller breitge-
strichen. Als er aufgetragen hat, ermuntert er den
Kranich zuzulangen. „Iß, mein Teuerster, iß, Ge-
vatter! Ich habe ihn selbst gekocht.“ Der Kranich
fährt mit seinem Schnabel in den Griesbrei, sto-
chert darin herum, doch vergebens! Der Fuchs
aber läßt es sich inzwischen schmecken, schleckt
und schleckt – und aß den ganzen Brei allein auf.
Der Brei ist aufgegessen; der Fuchs sagt:
„Nichts für ungut, lieber Gevatter, aber mehr
kann ich dir nicht vorsetzen.“ – „Dank auch dafür,
Gevatter! Sei doch auch einmal mein Gast!“
Anderen Tags findet sich der Fuchs ein, der
Kranich aber hatte eine Suppe mit schmackhaften
Fleisch- und Fischstückchen zubereitet. Die schüt-
tete er in einen Krug mit schmalem Hals, stellte
sie so auf den Tisch und sagt: „Laß es dir
schmecken, Gevatter! Mehr kann ich dir leider

21
nicht anbieten.“ Der Fuchs läuft um den Krug her-
um, versucht es bald von hier, bald von da, leckt
und schnuppert, doch an die Suppe kommt er
nicht heran: sein Kopf paßt nicht in den Krug hin-
ein. Der Kranich jedoch klappert inzwischen mit
seinem Schnabel, bis er alles aufgegessen hat.
„Nichts für ungut, Gevatter, mehr kann ich dir
nicht vorsetzen.“ Der Fuchs ärgerte sich fast grün,
hatte er doch geglaubt, er könne sich für eine
ganze Woche satt essen, und nun ging er mit lee-
rem Magen heim. Wie man in den Wald hineinruft,
so schallt es wieder heraus! Seit jener Zeit ist es
mit der Freundschaft zwischen Fuchs und Kranich
aus.

22
5
Kater und Füchsin
Es war einmal ein Bauer, der hatte einen Kater.
Der Kater war aber so wild und machte so
schlimme Streiche, daß es geradezu ein Unglück
war. Schließlich wurde es dem Bauern zuviel. Er
überlegte, was zu tun sei, nahm den Kater und
steckte ihn in einen Sack. Den Sack band er zu
und trug ihn in den Wald. Im Walde angekom-
men, ließ er den Kater laufen und dachte: Mag er
hier umkommen! Der Kater lief lange umher und
kam schließlich zur Hütte, in der der Waldhüter
wohnte. Er kletterte auf den Dachboden und liegt
nun dort die ganze Zeit faul herum; bekam er
aber Hunger, dann lief er in den Wald, Vögel und
Mäuse zu fangen, fraß sich satt und kletterte wie-
der auf seinen Dachboden. So lebte er froh und
ohne Sorgen.
Einmal streifte der Kater im Wald umher, da
begegnete ihm die Füchsin, erblickte den Kater
und wundert sich: „Wieviel Jahre lebe ich schon
im Wald, aber ein solches Tier habe ich noch nicht
gesehen.“ Sie machte dem Kater ihre Reverenz
und fragt: „Sag doch, wackerer Held, wer bist du?
Aus welchem Anlaß bis du hierhergekommen, und
wie darf ich dich nennen?“ Der Kater sträubte sein
Fell und sagt: „Ich bin aus den sibirischen Wäl-
dern als Amtmann zu euch geschickt worden. Man

23
nennt mich Katrofei Iwanowitsch.“ – „Ach, Katro-
fei Iwanowitsch“, sagt die Füchsin, „davon habe
ich ja überhaupt nichts gewußt! Aber komm doch
mit mir und sei mein Gast!“ Der Kater ging mit.
Die Füchsin führte ihn in ihren Bau, bewirtete ihn
mit allerlei Wildbret und fragt dann: „Wie ist das,
Katrofei Iwanowitsch, bist du verheiratet oder le-
dig?“ – „Ledig“, sagt der Kater. Darauf die Füch-
sin: „Ich bin auch noch Jungfrau, nimm mich zum
Weib!“ Der Kater war es einverstanden, und so
verbrachten sie den Tag in Saus und Braus.
Anderntags machte sich die Füchsin auf, Vorrä-
te aufzutreiben, damit sie und ihr junger Gemahl
etwas zu leben hätten, der Kater aber blieb zu
Hause. Unterwegs begegnet ihr der Wolf und
fängt an schönzutun: „Wo bist du denn die ganze
Zeit gewesen, Gevatterin? Wir haben alle Höhlen
abgesucht und dich nicht gefunden.“ – „Laß mich,
du Dummkopf! Laß das Schöntun! Jungfer Füchsin
war ich früher, jetzt bin ich eine verheiratete
Frau!“ – „Wer ist denn dein Mann, Fuchsina Iwa-
nowna?“ – „Hast du denn nicht gehört, daß aus
den sibirischen Wäldern der Amtmann Katrofei
Iwanowitsch zu uns geschickt worden ist? Ich bin
jetzt Frau Amtmann!“ – „Nein, Fuchsina Iwanow-
na, davon habe ich noch nichts gehört. Kann man
ihn denn einmal zu sehen bekommen?“ – „Oh,
mein Katrofei Iwanowitsch ist so reizbar; wenn
ihm jemand mißfällt, den frißt er gleich auf. Hör
also gut zu: Beschaffe einen Hammel und mach
ihm damit deine Aufwartung; den Hammel lege
hin, dich selber aber verstecke, damit er dich

24
nicht sieht, denn sonst ergeht dir’s schlecht!“ Der
Wolf machte sich auf den Weg, einen Hammel zu
beschaffen.
Die Füchsin geht weiter, da begegnet ihr der
Bär und fängt an schönzutun. „Was faßt du mich
an, du dummer krummbeiniger Mischka? Jungfer
Füchsin war ich früher, jetzt bin ich eine verheira-
tete Frau!“ – „Wer ist denn dein Mann, Fuchsina
Iwanowna?“ – „Der, den sie aus den sibirischen
Wäldern als Amtmann zu uns geschickt haben; er
heißt Katrofei Iwanowitsch und ist mein Mann.“ –
„Könnte man ihn nicht einmal zu sehen bekom-
men?“ – „Oh, mein Katrofei Iwanowitsch ist so
reizbar; wenn ihm jemand mißfällt, den frißt er
gleich auf! Geh, beschaffe einen Ochsen und
mach ihm damit deine Aufwartung. Der Wolf will
einen Hammel bringen. Hör aber gut zu: Den
Ochsen lege hin, dich selber verstecke, damit Ka-
trofei Iwanowitsch dich nicht sieht, denn sonst,
Bruder, ergeht dir’s schlecht!“ Der Bär trollte sich
davon, einen Ochsen zu beschaffen.
Der Wolf brachte seinen Hammel, zog ihm das
Fell ab und steht dann in Gedanken versunken.
Da kommt der Bär mit einem Ochsen. „Guten
Tag, Bruder Michailo Iwanowitsch!“ – „Guten Tag,
Bruder Lewon! Hast du die Füchsin und ihren
Mann nicht gesehen?“ – „Nein, Bruder, ich warte
schon lange auf sie.“ – „Dann geh und ruf sie!“ –
„Nein, ich werde nicht gehen, Michailo Iwano-
witsch. Geh du, du bist tapferer als ich.“ – „Nein,
Bruder Lewon, ich mag auch nicht gehen.“ Da
kommt, keiner hatte gesehen woher, der Hase

25
gerannt. Der Bär brüllt so laut er kann: „Hierher,
schiefäugiger Satan!“ Der Hase erschrak und kam
herbeigelaufen. „Nun, du schielender Tagedieb,
weißt du, wo die Füchsin wohnt?“ – “Jawohl, Mi-
chailo Iwanowitsch!“ – „Dann lauf schnellstens zu
ihr und sage: Michailo Iwanowitsch, der Bär, und
sein Bruder Lewon Iwanowitsch, der Wolf, sind
schon lange bereit und erwarten dich und deinen
Gemahl; sie wollen mit einem Hammel und einem
Ochsen ihre Aufwartung machen!“
Der Hase rannte los, daß die Beine nur so flo-
gen. Bär und Wolf aber überlegten, wo sie sich
verstecken könnten. Sagt der Bär: „Ich werde auf
die Fichte klettern.“ – „Und was soll ich tun, wo
kann ich mich verbergen?“ fragt der Wolf. „Auf
einen Baum bringt man mich um nichts in der
Welt! Sei so gut, Michailo Iwanowitsch, hilf mir in
meiner Not und verbirg mich irgendwo!“ Der Bär
legte ihn ins Gebüsch und häufte trockenes Laub
über ihn, selber aber kletterte er auf eine Fichte,
bis in den höchsten Wipfel hinauf. Von dort hält er
Ausschau, ob Katrofei mit seiner Frau kommt. Der
Hase war inzwischen zum Fuchsbau gelangt,
klopfte und sagt zur Füchsin: „Michailo Iwano-
witsch, der Bär, und sein Bruder Lewon Iwano-
witsch, der Wolf, lassen sagen, sie sind schon
lange bereit und erwarten dich und deinen Ge-
mahl; sie wollen mit einem Ochsen und einem
Hammel ihre Aufwartung machen.“ – „Geh nur,
Schielauge, wir kommen gleich!“ Nun kommen
Kater und Füchsin heraus. Der Bär sah sie und
sagt zum Wolf: „Paß auf, Bruder Lewon Iwano-

26
witsch, die Füchsin kommt mit ihrem Mann! Was
für ein kleiner Kerl das doch ist!“ Der Kater kam
heran und stürzte sich gleich auf den Ochsen,
sträubte sein Fell und begann, mit Zähnen und
Krallen Fleischstücke herauszureißen. Dabei
knurrt er wie verärgert: „Zuwenig, zuwenig!“ Der
Bär sagt: „Klein, aber ein Vielfraß! Wir könnten es
zu viert nicht auffressen, für ihn allein aber ist es
zuwenig; er macht sich wohl gar noch an uns her-
an!“ Der Wolf nun wollte gern wissen, wie Katrofei
Iwanowitsch aussieht, aber wegen der Blätter
konnte er nichts erkennen. So begann er, über
den Augen ein Loch durch das Laub zu wühlen.
Der Kater hörte das Rascheln der Blätter, glaubte,
es sei eine Maus, machte einen Satz und sprang
dem Wolf mit seinen Krallen gerade in die Augen.
Der Wolf fuhr in die Höhe und rannte davon,
was die Beine hergaben. Der Kater aber war
selbst erschrocken und gerade auf den Baum ge-
sprungen, wo der Bär saß. „O weh“, denkt der
Bär, „er hat mich gesehen!“ Herabzuklettern war
es zu spät, so vertraute er auf Gottes Hilfe, ließ
sich herunterplumpsen und schlug so derb auf
dem Boden auf, daß er glaubte, alle Glieder ge-
brochen zu haben. Dann sprang er auf und mach-
te sich gleichfalls davon. Die Füchsin aber ruft ih-
nen nach: „Wartet nur, er wird’s euch schon
geben!“ Seit dieser Zeit haben alle Tiere vor dem
Kater Angst. Kater und Füchsin aber hatten nun
Fleisch für den ganzen Winter und lebten herrlich
und in Freuden. Und leben noch jetzt ohne Not,
haben ihr Brot.

27
6
Fuchs, Hase und Hahn
Es lebten einmal ein Fuchs und ein Hase. Der
Fuchs hatte eine Hütte aus Eis, der Hase eine aus
Baumrinde. Der Frühling kam, da begann die Hüt-
te des Fuchses zu schmelzen, die des Hasen aber
steht fest wie je. Da bat der Fuchs, der Hase mö-
ge ihm erlauben, sich in seiner Hütte zu wärmen,
und dann jagte er ihn hinaus. Der Hase zieht
jammernd davon, da begegnen ihm die Hunde
und fragen: „Tjaff, tjaff, tjaff! Was jammerst du,
Hase?“ Der Hase sagt: „Laßt mich, Hunde! Wie
soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich
gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat
mich, ihn einzulassen, und dann hat er mich hin-
ausgejagt.“ – “Jammere nicht, Hase“, sagen die
Hunde, „wir werden ihn herausjagen.“ – „Nein, ihr
jagt ihn nicht heraus!“ – „Doch, wir jagen ihn her-
aus!“ Sie kamen zur Hütte. „Tjaff, tjaff, tjaff!
Fuchs, scher dich davon!“ Der aber rief ihnen vom
Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß ich das Haus,
mach ich euch allen den Garaus!“ Die Hunde be-
kamen Angst und liefen davon.
Der Hase zieht jammernd weiter, da begegnet
ihm der Bär: „Worüber jammerst du, Hase?“ Der
Hase sagt: „Laß mich, Bär! Wie soll ich nicht
jammern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der
Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat mich, ihn

28
einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“
– „Jammere nicht, Hase“, sagt der Bär, „ich werde
ihn herausjagen!“ – „Nein, du jagst ihn nicht her-
aus! Die Hunde haben’s versucht und ihn nicht
herausgejagt, und du wirst ihn auch nicht heraus-
jagen.“ – „Doch, ich jage ihn heraus.“ Sie kamen
zur Hütte und wollten den Fuchs herausjagen:
„Fuchs, scher dich davon!“ Der aber rief ihnen
vom Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß ich das
Haus, mach ich euch allen den Garaus!“ Der Bär
bekam Angst und lief davon.
Wieder zieht der Hase weiter und jammert, da
begegnet ihm der Ochse: „Was jammerst du, Ha-
se?“ – „Laß mich, Ochse! Wie soll ich nicht jam-
mern? Eine Rindenhütte hab’ ich gehabt, der
Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er bat mich, ihn
einzulassen, und dann hat er mich hinausgejagt.“
– „Komm mit, ich werde ihn herausjagen.“ –
„Nein, Ochse, du wirst ihn nicht herausjagen. Die
Hunde haben’s versucht und ihn nicht herausge-
jagt, der Bär hat’s versucht und ihn nicht heraus-
gejagt, und du wirst ihn auch nicht herausjagen.“
– „Doch, ich werde ihn herausjagen.“ Sie kamen
zur Hütte: „Fuchs, scher dich davon!“ Der aber
rief ihnen vom Ofen zu: „Spring ich heraus, verlaß
ich das Haus, mach ich euch allen den Garaus!“
Der Ochse bekam Angst und lief davon.
Zieht der Hase wieder weiter und jammert. Da
begegnet ihm der Hahn mit einer Sense: „Kikeriki!
Worüber jammerst du, Hase?“ – „Laß mich, Hahn!
Wie soll ich nicht jammern? Eine Rindenhütte hab’
ich gehabt, der Fuchs aber hatte eine aus Eis. Er

29
bat mich, ihn einzulassen, und dann hat er mich
hinausgejagt.“ – „Komm mit, ich werde ihn her-
ausjagen.“ – „Nein, du wirst ihn nicht herausja-
gen! Die Hunde haben’s versucht und ihn nicht
herausgejagt, der Bär hat’s versucht und ihn nicht
herausgejagt, der Ochse hat’s versucht und ihn
nicht herausgejagt, und du wirst ihn auch nicht
herausjagen.“ – „Doch, ich werde ihn herausja-
gen.“ Sie kamen zur Hütte: „Kikeriki, hab’ ‘ne
Sense hie, hab’ sie hergetragen, den Fuchs zu
schlagen! Fuchs, scher dich davon!“ Der Fuchs
hörte das, erschrak und sagt: „Ich zieh’ mich
schon an.“ Darauf der Hahn wiederum: „Kikeriki,
hab’ ‘ne Sense hie, hab’ sie hergetragen, den
Fuchs zu schlagen! Fuchs, scher dich davon!“ Der
aber sagt: „Ich ziehe schon den Pelz über.“ Dar-
auf der Hahn zum drittenmal: „Kikeriki, hab’ ‘ne
Sense hie, hab’ sie hergetragen, den Fuchs zu
schlagen, Fuchs, scher dich davon!“ Der Fuchs
kam herausgerannt; da erschlug ihn der Hahn mit
der Sense und lebte von nun an mit dem Hasen
herrlich und in Freuden. Das Märchen ist zu Ende
erzählt, dafür mir ein Topf mit Butter gehört.

30
7
Bauer, Bär und Fuchs
Ein Bauer und ein Bär waren unzertrennliche
Freunde. Einmal wollten sie Rüben säen. Sie säten
die Rüben und beredeten sich, wer was haben
sollte. Der Bauer sagte: „Für mich die Wurzeln,
für dich, Mischa, was oben ist.“ Als die Rüben
schön groß waren, nahm sich der Bauer die Wur-
zeln, der Bär dagegen, was oben war. Da merkt
er, daß er es falsch gemacht hat, und sagt zum
Bauern: „Du hast mich übers Ohr gehauen. Wenn
wir wieder etwas säen, sollst du mich nicht noch
einmal so an der Nase herumführen.“
Ein Jahr war vergangen, da sagt der Bauer zum
Bären: „Komm, Mischa, laß uns Weizen säen.“ –
„Immer zu“, sagt der Bär, und sie säten Weizen.
Als der Weizen reif war, sagt der Bauer: „Was
willst du jetzt nehmen, Mischa? Die Wurzeln, oder
was oben ist?“ – „Nein, Bruder, diesmal wirst du
mich nicht übers Ohr hauen. Gib mir die Wurzeln
und nimm du, was oben ist.“ Sie ernteten den
Weizen und teilten. Der Bauer drosch ein wenig
Weizen, buk sich Brot, ging damit zum Bären und
sagt: „Sieh nur, wie schön das Obere ist!“ – „Bau-
er“, sagt der Bär, „jetzt bin ich böse auf dich, ich
will dich fressen!“ Der Bauer ging weg und brach
in Jammern aus.

31
Da kommt der Fuchs und sagt zu ihm: „Was
jammerst du?“ – „Wie soll ich nicht jammern, wie
soll ich nicht klagen? Der Bär will mich fressen!“ –
„Hab keine Angst, Onkel, er wird dich nicht fres-
sen!“ Er versteckte sich hinter den Sträuchern
und hieß den Bauern, stehenzubleiben und zu
warten; kam wieder heraus und fragt: „Bauer,
gibt es hier nicht ein paar Wölfe oder Bären?“ Der
Bär aber ging zu dem Bauern hin und sagt: „Ach,
Bauer, sag nichts, ich will dich auch nicht fres-
sen.“ Antwortet der Bauer dem Fuchs: „Nein!“ Der
Fuchs lachte und sagte: „Und was ist das, was
dort am Wagen liegt?“ Der Bär sagt dem Bauern
leise ins Ohr: „Sag, es ist ein Holzklotz.“ –
„Wenn’s ein Holzklotz wäre, dann wäre er auf dem
Wagen festgebunden“, antwortet der Fuchs und
lief wieder hinter die Sträucher. Der Bär sagte
zum Bauern: „Binde mich und leg mich auf den
Wagen!“ Das tat der Bauer.
Nun kehrte der Fuchs wieder zurück und fragt
den Bauern: „Bauer, hast du nicht ein paar Wölfe
oder Bären zur Hand?“ – „Nein!“, sagte der Bauer.
„Und was ist das, was dort auf dem Wagen liegt?“
– „Ein Holzklotz.“ – „Wenn’s ein Holzklotz wäre,
steckte eine Axt darin!“ Der Bär sagt leise zum
Bauern: „Hau deine Axt in mich hinein.“ Der Bau-
er hieb ihm die Axt in den Rücken, da war der Bär
tot. Kam der Fuchs hervor und sagt zum Bauern:
„Bauer, was gibst du mir nun für meine Arbeit?“ –
„Ich will dir ein Paar weiße Hühner geben. Da
nimm, sieh aber nicht hinein.“

32
Der Fuchs bekam vom Bauern einen Sack und
zog davon. Er trug und trug ihn und denkt: „Ich
will doch einmal hineinsehen.“ Sah hinein, da wa-
ren zwei weiße Hunde darin. Die Hunde springen
heraus und jagen ihm nach. Der Fuchs rannte und
rannte und kroch in ein Loch unter einen Baum-
stumpf. Wie er so sitzt, spricht er vor sich hin:
„Öhrlein, was habt ihr getan?“ – „Wir haben im-
mer gelauscht.“ – „Und ihr, Beine, was habt ihr
getan?“ – „Wir sind immer gelaufen.“ – „Und ihr,
Äuglein?“ – „Wir haben immer ausgeschaut!“ –
„Und du, Schwanz?“ – „Ich habe dich immer beim
Rennen behindert!“ – „So, so, du hast mich immer
behindert? Wart, ich werd’s dir zeigen!“ Und damit
steckte er den Schwanz hinaus, wo die Hunde wa-
ren. Die Hunde packten den Schwanz, zogen den
Fuchs heraus und rissen ihn in Stücke.

33
8
Undank ist der Welt Lohn
Ein Wolf war einmal schon halb in ein Fangeisen
geraten, hatte sich aber mit genauer Not losrei-
ßen können und suchte nun das Weite. Da erblick-
ten ihn die Jäger und setzten ihm nach. Der Graue
mußte einen Weg überqueren, auf der Straße
aber lief gerade ein Bauer, der trug einen Sack
und einen Dreschflegel, denn er kam vom Felde.
Zu dem sagte der Graue: „Sei so gut, Bauer, ver-
birg mich in deinem Sack! Die Jäger sind hinter
mir her.“ Der Bauer war’s einverstanden, steckte
ihn in den Sack, band den Sack zu und warf ihn
auf die Schulter. Wie er weitergeht, kommen die
Jäger dahergesprengt. „Hast du nicht einen Wolf
gesehen, Bauer?“ fragen sie ihn. „Nein!“ antwor-
tete ihnen der Bauer.
Die Jäger ritten weiter und waren bald nicht
mehr zu sehen. „Sind sie fort, meine Mörder?“
fragte der Graue. „Ja, sie sind fort.“ – „Dann laß
mich wieder heraus!“ Der Bauer band den Sack
auf und ließ den Wolf heraus. Der sagte: „Weißt
du was, Bauer, ich will dich fressen!“ – „Ach, Wolf,
Wolf! Aus so großer Not habe ich dich errettet,
und du willst mich fressen!“ – „Undank ist der
Welt Lohn“, erwiderte der Graue. Der Bauer sieht,
daß es schlecht um ihn steht, und sagt: „Wenn’s
so ist, dann wollen wir weitergehen, und wenn der

34
erste, dem wir begegnen, gleichfalls sagt, daß
Undank der Welt Lohn ist, dann bleibe es dabei,
dann sollst du mich fressen.“
Sie gingen weiter. Da begegnete ihnen eine alte
Stute. Der Bauer fragt sie gleich: „Sei so gut,
Mütterchen Stute, schlichte unsern Streit. Ich ha-
be diesen Wolf hier aus großer Not errettet, aber
er will mich fressen.“ Und er erzählte ihr alles, wie
es gewesen war. Die Stute dachte lange nach und
sagte: „Ich habe zwölf Jahre bei meinem Herrn
gelebt, ihm zwölf Füllen geschenkt und mich von
früh bis spät für ihn geplagt. Als ich aber alt ge-
worden war und für die Arbeit nicht mehr taugte,
da nahm er mich und hat mich in eine Schlucht
gestürzt. Mit Mühe und Not bin ich wieder heraus-
geklettert und laufe nun, wohin der Weg mich
führt. Ja, Undank ist der Welt Lohn!“ – „Siehst du,
ich habe recht!“ sagte der Graue.
Der Bauer war sehr betrübt und bat den Wolf,
er möge noch eine zweite Begegnung abwarten.
Der Wolf war auch hiermit einverstanden. Da be-
gegnete ihnen ein alter Hund. Der Bauer gab ihm
die gleiche Frage auf. Der Hund dachte lange nach
und sagte dann: „Ich habe zwanzig Jahre bei
meinem Herrn gedient, Haus und Vieh bewacht,
als ich aber alt geworden und nicht mehr bellen
konnte, hat er mich vom Hof gejagt, und nun lau-
fe ich, wohin der Weg mich führt. Ja, Undank ist
der Welt Lohn!“ – „Nun, siehst du, ich habe
recht!“ Der Bauer war noch mehr betrübt und
flehte den Wolf an, noch eine dritte Begegnung

35
abzuwarten, „dann magst du tun, wie’s dir be-
liebt, wenn schon Undank mein Lohn sein soll.’
Beim dritten Male begegnete ihnen der Fuchs.
Der Bauer wiederholte seine Frage. Der Fuchs be-
gann zu streiten: „Wie soll denn das zugegangen
sein, daß der Graue, dieser große Kerl, in einen so
kleinen Sack hineingepaßt hat!“ Wolf und Bauer
schworen bei Gott, das sei die reine Wahrheit.
Aber der Fuchs glaubte ihnen nicht und sagte: „So
zeig mir doch einmal, Bauer, wie du ihn in den
Sack gesteckt hast!“ Der Bauer hielt den Sack
auf, und der Wolf steckte seinen Kopf hinein. Der
Fuchs rief: „Hast du etwa nur deinen Kopf im Sack
versteckt?“ Der Wolf kroch ganz hinein. „Jetzt zeig
mir doch einmal, Bauer, wie du den Sack zuge-
schnürt hast!“ Der Bauer schnürte den Sack zu.
„Und wie hast du auf dem Felde Getreide gedro-
schen?“ Der Bauer begann, mit dem Flegel auf
den Sack loszudreschen. „Und wie hast du dann
umgewendet?“ Der Bauer fuhr mit dem Dreschfle-
gel herum, traf den Fuchs am Kopf und schlug ihn
tot. Dabei sagte er: „Undank ist der Welt Lohn!“

36
9
Der dumme Wolf
In einem Dorf lebte ein Bauer, der hatte einen
Hund. Von klein auf hatte der Hund das ganze
Haus bewacht, als er aber in die Jahre kam, konn-
te er nicht mehr bellen und wurde seinem Herrn
zur Last. Also nahm der Bauer eine Leine, band
sie dem Hund um den Hals und führte ihn in den
Wald. Führte ihn an eine Espe und wollte ihn
schon erwürgen, als er sah, wie dem alten Hund
bittere Tränen über die Schnauze rollten. Da dau-
erte ihn das Tier, er ließ es am Leben, band es an
der Espe fest und ging nach Hause.
Der alte Hund aber blieb im Walde und begann
zu jammern und sein Los zu verfluchen. Da
kommt aus dem Gebüsch ein großer Wolf hervor,
erblickt ihn und sagt: „Einen schönen guten Tag,
lieber Hund! Schon lange hab ich auf dich gewar-
tet, dich bei mir zu Gaste zu sehen. Wie oft hast
du mich von deinem Hause fortgejagt, jetzt aber
bist du in mein Revier geraten: ich kann mit dir
tun, was mir beliebt. Und ich werde dir alles ge-
bührend heimzahlen!“ – „Und was willst du mit
mir tun, grauer Wolf?“ – „Nicht viel: Ich werde
dich mit Haut und Haar und allen Knochen auf-
fressen!“ – „Ach, du dummer Wolf! Vor lauter Fett
weißt du schon nicht mehr, was du tust. Nach all
dem schmackhaften Ochsenfleisch willst du einen

37
alten, mageren Hund fressen? Wozu willst du dir
für nichts und wieder nichts deine alten Zähne an
mir ausbeißen? Mein Fleisch schmeckt jetzt wie
faules Holz. Ich will dir einen besseren Rat geben:
Geh und bring mir drei Pud schönes Stutenfleisch,
meiner Magerkeit ein wenig aufzuhelfen! Dann
magst du mit mir tun, was dir gefällt.“
Der Wolf gehorchte dem Hund, ging und brach-
te ihm eine halbe Stute geschleppt. „Da hast du
dein Ochsenfleisch! Schau, daß du dicker wirst!“
Sprach’s und verschwand. Der Hund machte
sich über das Fleisch her und fraß alles auf. Nach
zwei Tagen kommt der graue Tölpel wieder und
sagt zum Hund. „Nun, Bruderherz, bist du dicker
geworden oder nicht?“ – „Ein wenig bin ich dicker
geworden. Wenn du mir jetzt noch ein Schaf
brächtest, mein Fleisch würde unvergleichlich sü-
ßer.“ Der Wolf war auch hiermit einverstanden,
lief aufs Feld und legte sich in eine Kuhle, dem
Hirten und seiner Herde aufzulauern. Jetzt treibt
der Hirt seine Herde heran; der Wolf hinter einem
Busch wählte sich ein recht fettes und großes
Schaf aus, stürzt sich darauf, packt es am Halse
und schleift es zum Hund. „Hier hast du dein
Schaf; werde dicker!“
Der Hund erholte sich, fraß auch das Schaf und
spürte seine Kräfte wachsen. Kam der Wolf und
fragt: „Nun, wie steht’s, Bruderherz, wie fühlst du
dich jetzt?“ – „Noch ein klein wenig zu mager.
Wenn du mir jetzt noch einen Eber brächtest, ich
würde fett wie ein Schwein.“ Der Wolf trieb auch
einen Eber auf, brachte ihn und sagt: „Das ist

38
mein letzter Dienst! In zwei Tagen bin ich bei dir
zu Gast!“ – „Nur zu“, denkt der Hund, „mit dir
werde ich schon fertig werden.“
Nach zwei Tagen kommt der Wolf zum Hund,
der jetzt schön dick und rund ist. Wie der den
Wolf erblickte, bellte er ihm wütend entgegen.
„Du Schandkerl“, sagte der Wolf, „du unterstehst
dich, mich zu beschimpfen?“ Damit warf er sich
auf den Hund und wollte ihn in Stücke reißen. Der
Hund aber war wieder wohl bei Kräften, stellte
sich auf die Hinterbeine, die beiden verbissen sich
ineinander, und der Hund bewirtete den Grauen,
daß die Fetzen nur so flogen. Der Wolf riß sich los
und rannte aus Leibeskräften davon. Als er schon
lange gelaufen war, wollte er verschnaufen; da
hörte er Hundegebell und gab erneut Fersengeld.
Kam in den Wald, legte sich unter einen Strauch
und begann, die Wunden zu lecken, die ihm vom
Hund zugefügt worden waren. „Wie schändlich hat
mich der Hund betrogen!“ denkt er bei sich, „Aber
wartet nur, wer mir jetzt in den Weg kommt, der
soll meinen Zähnen nimmermehr entgehen!“
Der Wolf leckte seine Wunden heil und ging
wieder auf Beute. Da sieht er auf einem Berg ei-
nen großen Ziegenbock, zu dem sagt er: „Ziegen-
bock, Ziegenbock, ich bin gekommen, dich zu
fressen!“ – „Ach, grauer Wolf, wozu willst du dir
für nichts und wieder nichts deine alten Zähne an
mir ausbeißen? Stell dich lieber unten an den Berg
und reiß dein großes Maul weit auf: ich will einen
Anlauf nehmen und dir geradenwegs in den Ra-
chen springen, dann brauchst du mich nur hinter-

39
zuschlucken!“ Der Wolf stellte sich unten an den
Berg und riß sein großes Maul weit auf, der Bock
aber, nicht faul, flog wie ein Pfeil den Berg hinab
und stieß den Wolf vor die Stirn, so derb, daß er
zu Boden stürzte. Der Bock aber machte sich aus
dem Staube. Nach drei Stunden wachte der Wolf
auf und glaubte, der Kopf wolle ihm zerspringen,
solche Schmerzen hatte er. Er überlegte und
überlegte, ob er den Bock nun verschlungen hätte
oder nicht. Lange dachte er nach und riet hin und
her. „Hätt’ ich den Bock gefressen, so müßte mein
Bauch doch voll sein. Der Taugenichts hat mich,
scheint’s, betrogen. Aber von nun an weiß ich,
was ich zu tun habe!“
Sprach’s und lief zum Dorf hinunter, erblickte
eine Sau mit ihren Ferkeln und wollte eins davon
packen. Die Sau aber ließ es nicht zu. „Ach, närri-
sche Sau“, sagt der Wolf, „was erdreistest du
dich, mir grob zu kommen? Kann ich doch auch
dich selbst in Stücke reißen und alle deine Ferkel
mit einem Male verschlingen!“ Die Sau aber gab
zur Antwort: „Bis jetzt habe ich dich noch nicht
beschimpft, nun aber muß ich dir sagen, daß du
ein großer Dummkopf bist!“ – „Wie das?“ – „Sehr
einfach; urteile selbst, Grauer: Wie kannst du
denn meine Ferkel fressen? Sie sind ja gerade
erst geworfen und müssen noch gewaschen wer-
den. Steh du bei ihnen Gevatter, so will ich dir
Gevatterin sein, deine kleinen Kinderchen zu tau-
fen!“
Der Wolf war’s einverstanden.

40
Also schön, sie kamen zu einer großen Mühle.
Sagt die Sau zum Wolf: „Lieber Gevatter, stell
dich auf jene Seite des Mühlwehres, wo kein Was-
ser ist, ich aber will gehen, die Ferkelchen in rei-
nes Wasser tauchen und sie dir eins nach dem
anderen reichen.“ Da freute sich der Wolf und
denkt: nun werden meine Zähne etwas zu beißen
bekommen! Und ging, der graue Tölpel, unter die
Brücke; die Sau aber packte das Staubrett mit
den Zähnen, hob’s hoch und ließ das Wasser
durchlaufen. Wie das strömte, wie es den Wolf mit
sich riß und wie einen Kreisel drehte! Die Sau je-
doch machte sich mit ihren Ferkeln auf den
Heimweg. Zu Hause angekommen, fraß sie sich
satt und legte sich mit ihren Kleinen aufs weiche
Lager.
Der Wolf merkte die Hinterlist der Sau, er-
klomm mit Mühe und Not das Ufer und trabte mit
hungrigem Magen durch den Wald. Lange peinigte
ihn der Hunger; schließlich hielt er’s nicht mehr
aus, lief erneut zum Dorf hinunter und sah neben
einer Tenne ein Stück Aas liegen. „Vortrefflich“,
denkt er, „wenn die Nacht hereingebrochen ist,
will ich mich wenigstens an diesem Stück Aas
sattfressen.“ Denn es war schlechte Erntezeit für
den Wolf, und er war froh, sein Leben wenigstens
mit Aasfleisch zu fristen. Das war immer noch
besser, als nichts zwischen den Zähnen zu haben
und auf Wolfsweise Lieder zu singen. Die Nacht
kam, der Wolf lief zur Tenne und begann, das
Stück Aas hinunterzuschlingen. Der Jäger aber
hatte ihm schon lange aufgelauert und für seinen

41
Freund zwei schöne blaue Bohnen bereitgehalten.
Er drückte seine Flinte ab, und der Wolf fiel mit
zerschmettertem Schädel um. So hat der graue
Wolf sein Leben gelassen!

42
10
Kranich und Reiher
Kommt ein Käuzchen geflogen, ist lustig und froh;
es fliegt und fliegt und setzt sich nieder, dreht das
Schwänzchen, putzt’s Gefieder, sieht nach hier
und schaut nach dort, bleibt nicht lang, fliegt wie-
der fort; und fliegt und fliegt und setzt sich nie-
der, dreht das Schwänzchen, putzt’s Gefieder,
blickt nach hier und schaut nach dort…
Das war nur die Einleitung, das Märchen selbst
fängt jetzt erst an.
In einem Moor lebten einmal ein Kranich und
ein Reiher, die hatten sich jeder eine Hütte ge-
baut, der eine an diesem Ende des Moores, der
andere an jenem. Dem Kranich wurde das Allein-
sein langweilig, und er gedachte zu heiraten. „Ich
will gehen und um Base Reiher freien!“
Er machte sich auf den Weg – tapp, tapp –,
sieben Werst durchs Moor. Kommt hin und sagt:
„Ist Base Reiher zu Hause?“ – „Ja!“ – „Werde
meine Frau!“ – „Nein, Kranich, ich werde nicht
deine Frau. Deine Beine sind zu lang, dein Rock
ist zu kurz; du fliegst schlecht und hast nichts,
mich zu füttern. Geh fort, Langbein!“ So mußte
der Kranich unverrichteterdinge nach Hause ge-
hen.
Hinterher besann sich Base Reiher eines ande-
ren und sagte: „Ehe ich als einsame Jungfer lebe,

43
will ich lieber den Kranich heiraten.“ Kommt zum
Kranich und sagt: „Kranich, nimm mich zur Frau!“
– „Nein, Base Reiher, ich brauche dich nicht. Ich
mag nicht heiraten und nehme dich nicht zur
Frau. Scher dich fort!“ Der Reiher brach vor
Scham in Tränen aus und machte sich auf den
Heimweg. Der Kranich besann sich eines anderen
und sagte: „Es war dumm von mir, Base Reiher
nicht zu nehmen; allein ist’s zu langweilig. Ich will
jetzt gehen und sie zur Frau nehmen.“ Er kommt
hin und sagt: „Base Reiher, ich möchte dich heira-
ten. Werde meine Frau!“
„Nein, Kranich, ich werde nicht deine Frau!“ Der
Kranich ging nach Hause.
Da besann sich der Reiher eines anderen:
„Warum habe ich nein gesagt? Wozu soll ich als
einsame Jungfer leben? Lieber will ich den Kranich
heiraten!“ Kommt zum Kranich, aber der will
nicht. Und so gehen sie bis auf den heutigen Tag
einer den anderen zu freien, aber zum Heiraten
kommen sie nicht.

44
11
Der Hahn und die Bohne
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hat-
ten einen Hahn. Der Hahn scharrte vor dem Hau-
se und scharrte eine Bohne heraus. Die wollte er
verschlucken, da geriet sie ihm in die falsche Keh-
le. Geriet ihm in die falsche Kehle, er fiel auf den
Rücken, streckte die Beine von sich, liegt da und
atmet nicht. Die Bäuerin kommt gelaufen und
fragt:
„Was liegst du, Hahn, und atmest nicht?“
„Eine Bohne“, sagt er, „ist mir in die falsche
Kehle geraten. Lauf zur Kuh und bitte sie um But-
ter!“
Sie lief zur Kuh.
„Kuh, gib mir Butter! Der Hahn liegt da und at-
met nicht, eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle
geraten.“
„Lauf zu den Schnittern und bitte um Heu!“
Sie kommt zu den Schnittern.
„Schnitter, gebt mir Heu! Das Heu ist für die
Kuh; die Kuh will mir Butter geben; die Butter ist
für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht,
eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“
Sagen die Schnitter zu ihr:
„Lauf zur Bäckersfrau und bitte um Kringel!“
Die Bäuerin kommt zur Bäckersfrau.

45
„Bäckersfrau, Bäckersfrau! Gib mir Weizenkrin-
gel. Die Kringel sind für die Schnitter; die Schnit-
ter wollen Heu geben. Das Heu ist für die Kuh; die
Kuh will Butter geben. Die Butter ist für den
Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine
Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“
Die Bäckersfrau schickt sie zu den Holzfällern,
um Holz zu bitten.
Kommt die Bäuerin zu den Holzfällern.
„Holzfäller, gebt mir Holz! Das Holz ist für die
Bäckersfrau; die Bäckersfrau will Kringel geben.
Die Kringel sind für die Schnitter; die Schnitter
wollen Heu geben. Das Heu ist für die Kuh; die
Kuh will Butter geben. Die Butter ist für den
Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht, eine
Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“
Die Holzfäller schicken sie zum Schmied, um
Äxte zu bitten: sie haben nichts, das Holz zu
schlagen. Da ging die Bäuerin zum Schmied.
„Schmied, gib mir eine Axt! Die Axt ist für die
Holzfäller; die Holzfäller wollen Holz geben. Das
Holz ist für die Bäckersfrau; die Bäckersfrau will
Kringel geben; die Kringel sind für die Schnitter;
die Schnitter wollen Heu geben. Das Heu ist für
die Kuh; die Kuh will Butter geben. Die Butter ist
für den Hahn; der Hahn liegt da und atmet nicht,
eine Bohne ist ihm in die falsche Kehle geraten.“
„Ich habe keine Axt“, sagt der Schmied, „und
weiß auch nicht, wie ich eine schmieden soll: es
ist keine Kohle da. Geh in den Wald, schneid Fich-
tenzweige und brenne Kohle.“

46
Die Bäuerin fuhr in den Wald, brachte Holz und
brannte Kohle. Die Kohle trug sie zum Schmied –
der Schmied gab die Axt; sie ging zu den Holzfäl-
lern – die Holzfäller gaben Holz; das Holz trug sie
zur Bäckersfrau – die Bäckersfrau gab Kringel; die
Kringel trug sie zu den Schnittern – die Schnitter
gaben Heu; das Heu trug sie zur Kuh – die Kuh
gab Butter; die Butter trug sie zum Hahn – der
Hahn nahm davon, schluckte die Bohne hinter und
fing laut zu krähen an: „Kikeriki, vor dem Haus
sitz ich hie, flechte Schuhe spät und früh, hab den
Pfriemen verloren, Geld gefunden, kaufte mir ein
Mädchen fein, schenkt’ ihm ein seiden Tüchelein!“

47
12
Die Ziege
Der Bock sitzt und jammert: er hat die Ziege nach
Nüssen geschickt, sie ist gegangen und nicht wie-
dergekommen. Da beginnt der Bock zu meckern:

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Ziege! Ich werde die Wölfe auf dich het-
zen.
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Wölfe! Ich werde den Bären auf euch


hetzen.
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Bär! Ich werde das Gesinde auf dich het-
zen.
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,

48
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Gesinde! Ich werde den Knüppel auf


euch hetzen.
Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen,
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Knüppel! Ich werde das Beil auf dich


hetzen.
Das Beil will den Knüppel nicht spalten,
Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen,
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Beil! Ich werde den Stein auf dich het-
zen.
Der Stein will’s Beil nicht schartig machen,
Das Beil will den Knüppel nicht spalten,
Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen,
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,

49
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut. Stein! Ich werde das Feuer auf dich het-
zen.
Das Feuer will den Stein nicht sengen,
Der Stein will’s Beil nicht schartig machen,
Das Beil will den Knüppel nicht spalten,
Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen,
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

Nun gut, Feuer! Ich werde das Wasser auf dich


hetzen.
Das Wasser will das Feuer nicht löschen,
Das Feuer will den Stein nicht sengen,
Der Stein will’s Beil nicht schartig machen,
Das Beil will den Knüppel nicht spalten,
Der Knüppel will’s Gesinde nicht schlagen,
Das Gesinde will den Bären nicht schießen,
Der Bär will die Wölfe nicht reißen,
Die Wölfe wollen die Ziege nicht jagen.

Die Ziege kommt mit den Nüssen nicht,


Mit den gedörrten kommt sie nicht!

50
Nun gut, Wasser! Ich werde den Sturm auf dich
hetzen,
Der Sturm begann, das Wasser zu jagen,
Das Wasser begann, das Feuer zu löschen,
Das Feuer begann, den Stein zu sengen,
Der Stein begann, ‘s Beil schartig zu machen,
Das Beil begann, den Knüppel zu spalten,
Der Knüppel begann, ‘s Gesinde zu schlagen,
Das Gesinde begann, den Bären zu schießen,
Der Bär begann, die Wölfe zu reißen,
Die Wölfe begannen, die Ziege zu jagen:

Da war die Ziege mit den Nüssen da,


Da war sie mit den gedörrten da.

51
13
Wie das Schwein zu Tanze ging
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Die Frau
sagt: „Wir wollen unser Schwein schlachten. Der
Schwager will kommen, und wir haben kein
Schweinefleisch im Hause.“ Das hörte das
Schwein und beschloß fortzulaufen. Wie es so
läuft, begegnet ihm der Hund. „Schwein, wohin
gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich mit!“ –
„Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Sie gingen wei-
ter. Begegnet ihnen der Hase: „Schwein, wohin
gehst du?“ – „Zum Tanz!“ – „Nimm mich mit!“ –
„Nur zu! Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Hund
und Hase gehen weiter. Begegnet ihnen der
Fuchs: „Schwein wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“
– „Nimm mich mit!“ – „Nur zu, komm mit! Je
mehr, desto lustiger!“ Schwein, Hase, Hund und
Fuchs gingen weiter. Begegnet ihnen der Wolf:
„Schwein, wohin gehst du?“ – „Zum Tanz!“ –
„Nimm mich auch mit!“ – „Nur zu! Je mehr, desto
lustiger!“ Schwein, Hund, Hase, Fuchs und Wolf
gingen weiter. Kommt ihnen der Bär entgegen.
„Wohin gehst du, Schwein?“ – „Zum Tanz!“ –
„Nimm mich auch mit!“ – „Warum nicht? Nur zu!
Je mehr, desto lustiger!“ Schwein, Wolf, Bär,
Fuchs, Hase und Hund gingen weiter und immer
weiter. Da kamen sie an eine große Grube. Wie
hinüberkommen? Die Latte, die darüberführte,

52
war dünn. Das Schwein ging voran, als letzter
folgte der Bär. Als sie in der Mitte waren, brach
die Stange, und alle fielen in die Grube. Sie saßen
lange Zeit und bekamen Hunger. Da sagt der
Fuchs: „Wir wollen sehen: wer am längsten heu-
len kann.“ Alle begannen zu heulen, nur der Hase
brachte keinen Laut heraus. Da rissen sie ihn in
Stücke. Der Fuchs nahm die Därme und legte sich
darauf. Der Bär aber hatte nicht mitgeheult; er
war über alle der Herr. Sie saßen einen ganzen
Tag und noch einen, da begannen sie wieder um
die Wette zu heulen. Das Schwein hielt nicht mit
und wurde gefressen, danach auch der Hund und
der Wolf. Die Därme aber hatte jedesmal der
Fuchs genommen und sich darauf gelegt. Nun wa-
ren nur noch Fuchs und Bär übrig. Sie saßen viele
Stunden, der Fuchs aber langte mit der Pfote un-
ter seinen Leib und fraß die Därme. Fragt der Bär:
„Was frißt du, Fuchs?“ – „Meine Därme ziehe ich
heraus und fresse sie.“ Der Bär griff sich in den
Leib, riß alle Därme und was sonst noch darin war
heraus und krepierte. Der Fuchs fraß ihn auf. Nun
saß er in dem Loche und wußte nicht, wie er he-
rauskommen sollte. Da sieht er einen Specht über
dem Loche fliegen. „Väterchen Specht, hilf mir
heraus!“ – „Wie soll ich dir denn heraushelfen?“ –
„Hack mit deinem Schnabel kleine Stufen!“ Er
hackte kleine Stufen, und der Fuchs kletterte her-
aus. „Väterchen Specht, gib mir Bier zu trinken!“
– „Wie soll ich dir denn zu trinken geben?“ – „Dort
fährt ein Bauer Bier. Setz dich abwechselnd aufs
Pferd und aufs Faß, dann wieder aufs Pferd und

53
wieder aufs Faß!“ Der Specht flog hin. Der Bauer
begann, mit der Peitsche zu schlagen, schlug das
Faß entzwei, das Bier floß aus, und der Fuchs
trank sich voll. Dann bittet er: „Väterchen Specht,
füttere mich mit Pfannkuchen!“ – „Wie soll ich
dich denn füttern?“ – „Wenn die Bäuerin den Teig
anrührt, stiehl ein paar Pfannkuchen!“ Der Specht
tat’s. Der Fuchs bittet wieder: „Väterchen Specht,
bring mich zum Lachen!“ – „Wie soll ich dich denn
zum Lachen bringen?“ – „Dort sind vier Bauern
zum Dreschen. Flieg hin und setz dich auf sie,
bald auf den einen, bald auf den anderen, dann
werden sie einander mit den Dreschflegeln schla-
gen.“ Der Specht flog hin. Die Bauern schlugen
einander über Kreuz, daß es eine Art hatte. Der
Fuchs aber kicherte hinter der Tenne. Sie hörten’s
und hetzten die Hunde auf ihn. Da rannte er, was
die Beine hergaben, zwängte sich in einen hohlen
Baum und fragte: „Äuglein, was habt ihr getan?“
– .Wir haben immer ausgeschaut, Fuchs, und dir
geholfen zu entkommen.“ – „Beine, meine Beine,
was habt ihr getan?“ – „Wir sind immer gerannt,
Fuchs, und haben dich vor den Hunden bewahrt.“
– „Und du, Schwanz, was hast du getan?“ – „Ich
bin dir immer zwischen die Beine gekommen.“ –
„Ach, du bist mir immer dazwischengekommen,
wolltest, daß mich die Hunde fressen! Das zahl ich
dir heim!“ Und steckte ihn aus dem hohlen Baum
heraus. Die Hunde rissen den Schwanz ab, und
der Fuchs lief von nun an ohne Schwanz umher.
Die anderen Füchse verspotteten ihn. Der Fuchs
aber sagte: „Reißt nur auch euren Schwanz ab,

54
dann werdet ihr merken, wie leicht es sich läuft.“
Aus!

55
14
Das Schlößchen
Liegt auf dem Felde ein Pferdeschädel. Kam Mäu-
schen Wühl-dein-Loch gelaufen und fragt:
„Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen
Stübchen?“ Niemand antwortet. Da ging es hinein
und wohnte hinfort im Pferdeschädel. Kam Frosch
Quak-Quak: „Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer
wohnt in deinen Stübchen? – „Ich, Mäuschen
Wühl-dein-Loch! Und wer bist du?“ – „Ich bin
Frosch Quak-Quak!“ – „Komm, wohn bei mir!“ Der
Frosch ging hinein, und sie wohnten von nun an
zu zweit. Kam der Hase gelaufen: „Schloß,
Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stüb-
chen?“ – „Ich, Mäuschen Wühl-dein-Loch, und
Frosch Quak-Quak! Und wer bist du?“ – „Ich bin
der Reißaus-überall!“ – „Komm zu uns!“ Von nun
an wohnten sie zu dritt.
Kam der Fuchs gelaufen. „Schloß, Schloß,
Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ –
„Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch Quak-Quak
und der Reißaus-überall! Und wer bist du?“ – „Ich
bin der Spring-überall!“ – „Komm zu uns!“ Von
nun an wohnten sie zu viert. Kam der Wolf:
„Schloß, Schloß, Schlößchen! Wer wohnt in deinen
Stübchen?“ – „Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch
Quak-Quak, der Reißaus-überall und der Spring-
überall! Und wer bist du?“ – „Ich bin der Raub-

56
überall!“ – „Komm zu uns!“ Von nun an wohnten
sie zu fünft.
Da kommt der Bär zu ihnen: „Schloß, Schloß,
Schlößchen! Wer wohnt in deinen Stübchen?“ –
„Mäuschen Wühl-dein-Loch, Frosch Quak-Quak,
der Reißaus-überall, der Spring-überall und der
Raub-überall!“
„Und ich bin der Erdrück-euch-all!“ Sprach’s,
setzte sich auf den Pferdeschädel und erdrückte
alle.

57
15
Die Ziege Naseweis
Es war einmal ein Pope, der hatte viele Ziegen
und hielt einen Knecht. Wie der Frühling kam,
sagte der Pope:
„Knecht, treib die Ziegen auf die Weide und füt-
tere sie gut!“
Der Knecht trieb aus; den ganzen Tag ließ er
die Ziegen auf den Hügeln, in den Tälern, in den
dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit
zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor,
der Pope tritt aus dem Haus und fragt:

Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben,


Seid ihr satt an Speis und Trank?
Seid ihr auf den Hügeln gewesen.
Habt ihr fettes Gras gefressen.
Habt ihr unter der Birke geruht?

Die Ziegen antworten dem Popen:

Wir sind satt an Speis und Trank:


Wir sind auf den Hügeln gewesen.
Haben fettes Gras gefressen.
Haben zarte Blätter gefunden.
Haben unter der Birke geruht.

Eine Ziege aber sagt:

58
Ich bin nicht satt an Speis und Trank:
Bin nicht auf den Hügeln gewesen,
Hab nicht fettes Gras gefressen,
Hab nicht zarte Blätter gefunden,
Hab nicht unter der Birke geruht!

Der Pope holte aus, schlug den Knecht und er-


schlug ihn.
Der Pope hatte einen Sohn. Am Morgen schick-
te er den Sohn hinaus. Der Sohn trieb aus; den
ganzen Tag ließ er die Ziegen auf den Hügeln, in
den Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann
war es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen
kommen zum Tor, und der Pope fragt:

Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben,


Seid ihr satt an Speis und Trank?
Seid ihr auf den Hügeln gewesen.
Habt ihr fettes Gras gefressen.
Habt ihr unter der Birke geruht?

Die Ziegen antworten:

Wir sind satt an Speis und Trank:


Wir sind auf den Hügeln gewesen,
Haben fettes Gras gefressen,
Haben zarte Blätter gefunden,
Haben unter der Birke geruht!

Die eine Ziege sagt:

59
Ich bin nicht satt an Speis und Trank:
Bin nicht auf den Hügeln gewesen,
Hab nicht fettes Gras gefressen,
Hab nicht zarte Blätter gefunden,
Hab nicht unter der Birke geruht!

Da erschlug er den Sohn. Er hatte auch eine


Tochter, die schickte er am dritten Tag, die Zie-
gen zu weiden. Die Tochter trieb aus und ließ die
Ziegen den ganzen Tag auf den Hügeln, in den
Tälern, in den dunklen Wäldern weiden. Dann war
es an der Zeit zum Heimtreiben. Die Ziegen
kommen zum Tor, und der Pope fragt:

Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben,


Seid ihr satt an Speis und Trank?
Seid ihr auf den Hügeln gewesen,
Habt ihr fettes Gras gefressen,
Habt ihr unter der Birke geruht?

Die Ziegen antworten:

Wir sind satt an Speis und Trank:


Wir sind auf den Hügeln gewesen,
Haben fettes Gras gefressen,
Haben zarte Blätter gefunden,
Haben unter der Birke geruht.

Die eine Ziege aber sagt:

Ich bin nicht satt an Speis und Trank:


Bin nicht auf den Hügeln gewesen,

60
Hab nicht fettes Gras gefressen,
Hab nicht zarte Blätter gefunden,
Hab nicht unter der Birke geruht!

Der Pope erschlug auch die Tochter. Am vierten


Tag schickt er seine Popin. Die ließ die Ziegen den
ganzen Tag auf den Hügeln, in den Tälern, in den
dunklen Wäldern weiden. Dann war es an der Zeit
zum Heimtreiben. Die Ziegen kommen zum Tor,
und der Pope fragt:

Nun ihr Zicklein, nun ihr Lieben,


Seid ihr satt an Speis und Trank?
Seid ihr auf den Hügeln gewesen,
Habt ihr fettes Gras gefressen,
Habt ihr unter der Birke geruht?

Die Ziegen antworten:

Wir sind satt an Speis und Trank:


Wir sind auf den Hügeln gewesen,
Haben fettes Gras gefressen,
Haben zarte Blätter gefunden,
Haben unter der Birke geruht!

Die eine Ziege aber sagt:

Ich bin nicht satt an Speis und Trank:


Bin nicht auf den Hügeln gewesen,
Hab nicht fettes Gras gefressen,
Hab nicht zarte Blätter gefunden,
Hab nicht unter der Birke geruht!

61
Da war es auch um die Popin geschehen. Am
fünften Tag trieb der Pope selber aus. Ließ die
Ziegen den ganzen Tag auf den Hügeln, in den
Tälern, in den dunklen Wäldern weiden, trat dann
vor sie und fragt:

Nun, ihr Zicklein, nun ihr Lieben,


Seid ihr satt an Speis und Trank?
Seid ihr auf den Hügeln gewesen,
Habt ihr fettes Gras gefressen.
Habt ihr unter der Birke geruht?

Die Ziegen antworten:

Wir sind satt an Speis und Trank:


Wir sind auf den Hügeln gewesen,
Haben fettes Gras gefressen,
Haben zarte Blätter gefunden,
Haben unter der Birke geruht!

Die eine Ziege aber beharrt eigensinnig:

Ich bin nicht satt an Speis und Trank:


Bin nicht auf den Hügeln gewesen,
Hab nicht fettes Gras gefressen,
Hab nicht zarte Blätter gefunden,
Hab nicht unter der Birke geruht!

Der Pope packte die Ziege und zog ihr das hal-
be Fell ab. Sie riß sich los und rannte aufs Feld,
zur Zieselmaus ins Loch. Die Zieselmaus erschrak,

62
floh aus ihrem Loch und brachte die Nacht im
Freien zu. Da sitzt sie nun und jammert. Kommt
der schiefäugige Hase:
„Warum jammerst du, Zieselmaus?“
„Es ist jemand in meinem Loch!“
Tritt der Hase ans Loch:
„Wer ist in der Zieselmaus Loch?“
„Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb
geschunden, Schielaug, wart, ich komm’ heraus,
reift dein andres Aug dir aus!“
Der Hase verschwand – hast du nicht gesehen
– im Wald. Kommt der Wolf:
„Warum jammerst du, Zieselmaus?“
„Es ist jemand in meinem Loch!“
Tritt der Wolf ans Loch:
„Wer ist in der Zieselmaus Loch?“
„Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb
geschunden, warte nur, ich komm’ heraus, reiße
dir die Augen aus!“
Der Wolf verschwand im Wald: er hatte Angst.
Kommt der Bär:
„Warum jammerst du, Zieselmaus?“
„Es ist jemand in meinem Loch!“
Der Bär tritt ans Loch und fragt:
„Wer ist dort?“
„Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb
geschunden; warte nur, ich komm’ heraus, reiße
dir die Augen aus!“
Der Bär erschrak und floh in den Wald. Kommt
der Igel gekrochen:
„Warum jammerst du, Zieselmaus?“
„Weil jemand in meinem Loch ist!“

63
Kroch der Igel zum Loch und fragt:
„Wer ist dort?“
„Ich, die Ziege Naseweis, voller Wunden, halb
geschunden; warte nur, ich komm’ heraus, reiße
dir die Augen aus!“
Der Igel aber rollte sich wie ein Stein zusam-
men, sprang kopfüber ins Loch hinein und fiel ihr
gerade mit den Stacheln in die nackte Seite! Die
Ziege kletterte aus dem Loch und floh in den
Wald.

64
16
Das Schweinchen
Es lebten einmal ein Kater, ein Sperling, dazu als
drittes ein Schweinchen und schließlich noch ein
Hahn. Die zogen alle nach Holz in den Wald, den
Hahn aber ließen sie zu Hause: „Koch du den Brei,
wir werden Holz schlagen!“ Der Hahn kochte den
Brei, dann schläferte ihn, und er begann die Löffel
zu zählen. „Das ist des Sperlings Löffel, das ist
des Katers Löffel, das ist des Schweinchens Löffel,
das ist mein Löffel, Kikeriki, rührt meinen Löffel
nicht an!“ Das hörte die Füchsin, schlich sich her-
an und sagte:

Hahn, stolzer Hahn,


Golden ist dein Kamm,
Dein Köpfchen, wie schimmert’s,
Dein Hälschen, wie flimmert’s,
Schau einmal zum Fenster ‘raus,
Hochzeitsgäste sind vorm Haus,
Haben Erbsen gestreut,
Niemand liest sie auf!

(Hochzeitsgäste fuhren auch wirklich gerade


Erbsen vorbei!) Der Hahn sah zum Fenster hin-
aus, die Füchsin packte ihn und schleppte ihn fort.
Da schrie der Hahn: „Kater, Sperling und
Schweinchen als drittes, die Füchsin hat mich

65
fortgeschleppt, hinter die dunklen Wälder, hinter
die hohen Berge, hinter das tiefe Moor!“ Sie hör-
ten’s und jagten der Füchsin nach. Der Kater
rennt, daß die Erde erzittert, der Sperling fliegt,
daß die Bäume rauschen, und das Schweinchen
springt, reißt die Augen auf, setzt über alle Hin-
dernisse und rennt nieder, was ihm in den Weg
kommt – uch, wie ein Bär. Sie holten die Füchsin
ein und entrissen ihr den Hahn. Zu Hause ange-
kommen, machten sie sich wieder auf den Weg
nach Holz und sagten beim Weggehen: „Wir ge-
hen Holz holen, koche du den Brei, aber hüte
dich, das Fenster aufzumachen, sonst schleppt
dich die Füchsin fort!“ Der Hahn kocht wieder
Brei, sitzt dann da, langweilt sich, wird schläfrig
und beginnt wieder, die Löffel zu zählen: „Das ist
des Sperlings Löffel, das ist des Katers Löffel, das
ist des Schweinchens und das ist mein Löffel. Ki-
keriki, rührt meinen Löffel nicht an!“ Das hörte die
Füchsin, schlich sich ans Haus und sagte:

Hahn, stolzer Hahn,


Golden ist dein Kamm,
Dein Köpfchen, wie schimmert’s,
Dein Hälschen, wie flimmert’s,
Schau einmal zum Fenster ‘raus,
Hochzeitsgäste sind vorm Haus,
Haben Erbsen gestreut.
Niemand liest sie auf!

Der Hahn sah zum Fenster hinaus, die Füchsin


packte ihn und schleppte ihn fort. Da schrie der

66
Hahn: „Kater, Sperling und Schweinchen als drit-
tes, die Füchsin hat mich fortgeschleppt, hinter
die dunklen Wälder, hinter die hohen Berge, hin-
ter das tiefe Moor!“ Sie hörten’s und jagten der
Füchsin nach. Der Kater rennt, daß die Erde erzit-
tert, der Sperling fliegt, daß die Bäume rauschen,
und das Schweinchen springt, reißt die Augen auf,
setzt über alle Hindernisse und rennt nieder, was
ihm in den Weg kommt. Sie rannten und rannten,
konnten die Füchsin aber nicht einholen: zu weit
hatte sie den Hahn schon geschleppt. So liefen sie
wieder heim. „Wie können wir nur den Hahn be-
freien?“ Da kam ihnen ein Gedanke: Sie machten
sich eine Zither und zogen aus, den Hahn zu be-
freien. Sie zogen also mit ihrer Zither los, kamen
an der Füchsin Haus und begannen zu spielen und
dazu zu singen:

Zither, kling, dieweil wir singen,


Laß die goldnen Saiten klingen.
Ist die Füchsin noch zu Haus?
Ging die Füchsin noch nicht aus?
Mit ihren Kinderchen, den kleinen.
Mit den Kinderchen, den feinen?
Mit dem ersten, dem Beißer,
Mit dem zweiten, dem Greiner,
Mit dem dritten, dem Zerschlag-den-Topf,
Mit dem vierten, dem Reich-mir-den-Trog?

Das hörten die Töchter der Füchsin und sagten:


„Mutter, dort spielen sie auf der Zither, wir wollen
gehen und tanzen!“ – „Geht nur, tanzt ein wenig!“

67
Da gingen sie eine nach der anderen hinaus. Die
erste kam zum Tanze – sie rissen ihr den Kopf ab
und verschwanden wieder hinter den Büschen.
Dann begannen sie wieder: „Zither, kling, die-
weil wir singen, laß die goldnen Saiten klingen!“
Alle Töchter kamen nacheinander heraus, allen
rissen sie die Köpfe ab. Die Füchsin wartet, aber
ihre Töchter kommen nicht zurück. „Nun“, denkt
sie, „ich will doch selbst auch ein wenig tanzen:
sie spielen gar zu schön!“ Kaum war sie aus dem
Tor heraus, rissen sie ihr den Kopf ab und gingen
ins Haus hinein. Der Hahn saß mit festgebunde-
nen Flügeln auf der Bank und ließ den Kopf hän-
gen. Da freuten sie sich, banden ihn los und zo-
gen heim. Von nun an lebten sie herrlich und in
Freuden und wurden reiche Leute.

68
17
Der Pfannkuchen
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der
Mann bittet: „Frau, back mir doch einen Pfannku-
chen!“ – „Woraus soll ich ihn denn backen? Es ist
kein Mehl im Hause.“ – „Ach, Frau, was redest du
da! Kratz ein wenig im Faß, fege ein wenig im
Schrank: gewiß wird sich etwas Mehl finden!“
Die Frau nahm eine Gänsefeder, kratzte ein
wenig im Faß, fegte ein wenig im Schrank, und so
kam an die zwei Hände voll Mehl zusammen. Sie
rührte den Teig mit dicker Milch an, buk den
Pfannkuchen in Öl und stellte ihn zum Abkühlen
aufs Fensterbrett.
Der Pfannkuchen lag dort und lag, und plötzlich
rollte er herunter – vom Fenster auf die Bank, von
der Bank auf den Fußboden, vom Fußboden zur
Tür, sprang über die Schwelle auf den Flur, vom
Flur auf die Treppe, von der Treppe auf den Hof,
vom Hof zum Tor und so weiter und immer wei-
ter.
Der Pfannkuchen rollt die Straße entlang, da
begegnet ihm der Hase: „Pfannkuchen, Pfannku-
chen, ich will dich fressen!“ – „Friß mich nicht,
Schielauge, ich will dir ein Liedchen singen“, sagte
der Pfannkuchen und begann:

Bin aus dem Faß zusammengekratzt,

69
Bin aus dem Schrank zusammengefegt,
Bin mit dicker Milch gemischt
Und in fettem Öl gebacken,
Dann auf dem Fenster abgekühlt.
Bin dem Väterchen entlaufen,
Bin dem Mütterchen entlaufen,
Und du, Hase, kriegst nimmer mich!

Damit rollte er weiter; und der Hase hatte das


Nachsehen.
Der Pfannkuchen rollt, da begegnet ihm der
Wolf: „Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dich
fressen!“ – „Friß mich nicht, grauer Wolf, ich will
dir ein Liedchen singen l“

Bin aus dem Faß zusammengekratzt,


Bin aus dem Schrank zusammengefegt,
Bin mit dicker Milch gemischt
Und in fettem Öl gebacken,
Dann auf dem Fenster abgekühlt.
Bin dem Väterchen entlaufen,
Bin dem Mütterchen entlaufen,
Bin dem Hasen auch entlaufen,
Und du, Wolf, kriegst nimmer mich!

Damit rollte er weiter; und der Wolf hatte das


Nachsehen.
Der Pfannkuchen rollt, da begegnet ihm der
Bär: „Pfannkuchen, Pfannkuchen, ich will dich
fressen!“ – „Wie willst du, Krummbein, mich fres-
sen!“

70
Bin aus dem Faß zusammengekratzt,
Bin aus dem Schrank zusammengefegt,
Bin mit dicker Milch gemischt
Und in fettem Öl gebacken,
Dann auf dem Fenster abgekühlt.
Bin dem Väterchen entlaufen,
Bin dem Mütterchen entlaufen,
Bin dem Hasen auch entlaufen,
Bin dem grauen Wolf entlaufen,
Und du, Bär, kriegst nimmer mich!

Damit rollte er wieder davon, und der Bär hatte


das Nachsehen.
Der Pfannkuchen rollt und rollt, da begegnet
ihm der Fuchs: „Guten Tag, Pfannkuchen! Nein,
was für ein schmucker Bursche du bist!“ Der
Pfannkuchen aber sang:

Bin aus dem Faß zusammengekratzt,


Bin aus dem Schrank zusammengefegt.
Bin mit dicker Milch gemischt
Und in fettem Öl gebacken,
Dann auf dem Fenster abgekühlt.
Bin dem Väterchen entlaufen,
Bin dem Mütterchen entlaufen,
Bin dem Hasen auch entlaufen,
Bin dem grauen Wolf entlaufen,
Bin dem Bär sogar entlaufen,
Und du, Fuchs, kriegst nimmer mich!

„Was für ein wundervolles Lied!“ sagte der


Fuchs. „Ich bin freilich alt geworden, Pfannku-

71
chen, und höre schlecht. Sei doch so gut, setz
dich auf meine Nase und sing es mir noch einmal
lauter vor!“ Der Pfannkuchen sprang dem Fuchs
auf die Nase und sang das gleiche Lied. „Danke
schön, Pfannkuchen! Ein wundervolles Lied, ich
möchte es gar zu gern noch einmal hören. Sei
doch so gut, setz dich auf meine Zunge und sing
es mir ein letztes Mal vor.“ Sprach’s und steckte
seine Zunge heraus. Der dumme Pfannkuchen
sprang ihm auf die Zunge, der Fuchs schnappte
zu und verspeiste ihn.

72
Zaubermärchen

18
Der Kater mit dem Goldschwanz
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hat-
ten drei Töchter. In jener Gegend aber hauste im
Walde hinter dem Berge ein Bär, und dieser Bär
hatte einen Kater mit goldenem Schwanz. Einmal
sagte der Bär: „Kater Goldschwanz, verschaff mir
eine Frau.“ Der Kater mit dem goldenen Schwanz
machte sich auf den Weg, eine Braut zu suchen.
Er streicht im Garten umher, schleicht über die
Gemüsebeete, mitten durch den Kohl. Da erblickt
ihn das eine Mädchen durchs Fenster. „Vater, ein
Kater mit goldenem Schwanz läuft über die Bee-
te!“ – „Lauf und fang ihn! Lauf und fang ihn!“ Sie
lief hinaus, ihn zu fangen. Der Kater läuft übers
Beet – das Mädchen läuft übers Beet, der Kater
läuft die Straße entlang – das Mädchen läuft die
Straße entlang, der Kater springt über den Graben
– das Mädchen springt über den Graben, der Ka-
ter schlüpft ins Haus – das Mädchen schlüpft ins
Haus. Da liegt der Bär auf dem Bett. „Eine aller-
liebste Braut hast du mir gebracht. Jetzt werden
wir ein Leben führen! Du, liebes Weib, sollst mich
füttern, sollst mich tränken, ich aber will dir Holz
bringen. Hier nimm die Schlüssel: in diese Kam-
mer sollst du gehen, in diese Kammer sollst du
gehen, in diese jedoch darfst du nicht hinein,

73
sonst muß ich dich töten.“ Da ging sie in die eine
Kammer, dann in die andere; in der ersten war
Brot, in der zweiten Fleisch, Honig und Speck. Gar
sehr verlangte es sie, auch in die dritte Kammer
zu gehen und zu sehen, was der Bär dort zu ste-
hen habe. Ging hinein und sieht: Dort stehen Fäs-
ser. Sie nahm vom ersten Faß den Deckel und
probierte mit dem Finger, was darin wäre. Wie sie
den Finger ansah, war er golden geworden. Gold
war im Faß, goldenes Wasser. Da erschrak das
Mädchen, band ein Läppchen um den Finger, setzt
sich und näht. Der Bär kam heim, sah den ver-
bundenen Finger und fragt: „Liebes Weib, warum
hast du deinen Finger verbunden?“ – „Hab mich
geschnitten, hab Nudeln gemacht und mich ge-
schnitten!“ – „Das will ich mir einmal ansehen!“ –
„Nein, es tut weh, nein, es tut weh!“ – „Ei was,
ich will’s sehen!“ Er zog den Verband herunter
und sah den goldenen Finger. „Ach, du bist in die
dritte Kammer gegangen!“ Sprach’s, riß ihr den
Kopf ab und warf sie in die dritte Kammer hinter
ein Faß. Wieder war er allein. Da sagt er: „Kater
Goldschwanz, verschaff mir eine Frau! Kater Gold-
schwanz, verschaff mir eine Frau!“ – „Bring du
deine Bräute nicht um! Ich gehe nicht!“ – „Kater
Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!“ – „Nun
gut.“ Der Kater streicht durch die Kohlbeete,
schleicht überall umher. Da erblickt ihn die zweite
Tochter und ruft: „Vater, Mutter, der Kater mit
dem goldenen Schwanz!“ – „Lauf und fang ihn!
Lauf und fang ihn!“ Sie lief hinaus, ihn zu fangen.
Der Kater läuft übers Beet – das Mädchen läuft

74
übers Beet, der Kater läuft die Straße entlang –
das Mädchen läuft die Straße entlang, der Kater
springt über den Graben – das Mädchen springt
über den Graben, der Kater schlüpft ins Haus –
das Mädchen schlüpft ins Haus. Da liegt der Bär
auf dem Bett. „Eine allerliebste Braut hast du mir
gebracht. Jetzt werden wir ein Leben führen! Du,
liebes Weib, sollst mich füttern, sollst mich trän-
ken, ich aber will dir Holz bringen. Hier nimm die
Schlüssel: in diese Kammer sollst du gehen, in
diese Kammer sollst du gehen, in diese jedoch
darfst du nicht hinein, sonst muß ich dich töten!“
Da ging sie in die eine Kammer, dann in die ande-
re; in der ersten war Brot, in der zweiten Fleisch,
Honig und Speck. Gar sehr verlangte es sie, auch
in die dritte Kammer zu gehen und zu sehen, was
der Bär dort zu stehen habe. Geht hinein und
sieht: Dort stehen Fässer. Sie nahm vom ersten
Faß den Deckel und probierte mit dem Finger, was
darin wäre. Wie sie den Finger ansah, war er gol-
den geworden. Gold war im Faß, goldenes Was-
ser. Da erschrak das Mädchen, band ein Läppchen
um den Finger, setzt sich und näht. Der Bär
kommt heim, sieht den verbundenen Finger und
fragt: „Liebes Weib, warum hast du deinen Finger
verbunden?“ – „Hab mich geschnitten, hab Nudeln
gemacht und mich geschnitten!“ – „Das will ich
mir einmal ansehen!“ – „Nein, es tut weh, nein, es
tut weh!“ – „Ei was, ich will’s sehen!“ Er zog den
Verband herunter und sah den goldenen Finger.
„Ach, du bist in die dritte Kammer gegangen!“

75
Sprach’s, riß ihr den Kopf ab und warf sie in die
dritte Kammer hinter ein Faß.
Da war er wieder Witwer und bekam Langewei-
le. „Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!
Kater Goldschwanz, verschaff mir eine Frau!“
„Ich gehe nicht, warum bringst du sie immer
um!“ – „Ich will’s nicht wieder tun, will sie ver-
schonen.“ Nun, er ging. Der Kater strich durch die
Beete, mitten durch die Möhren hindurch. Da er-
blickte ihn die dritte Tochter und ruft: „Vater,
Mutter, der Kater mit dem goldenen Schwanz!“ –
„Lauf und fang ihn! Lauf und fang ihn!“ Sie lief
hinaus, ihn zu fangen. Der Kater läuft über die
Beete – das Mädchen läuft über die Beete, der Ka-
ter läuft die Straße entlang – das Mädchen läuft
die Straße entlang, der Kater läuft durch die Ak-
kerfurche – das Mädchen läuft durch die Ackerfur-
che, der Kater springt über den Graben – das
Mädchen springt über den Graben, der Kater
schlüpft ins Haus – das Mädchen schlüpft ins
Haus. Da liegt der Bär auf dem Bett. „Eine aller-
liebste Braut hast du mir gebracht. Du, liebes
Weib, mache den Ofen an und koche; du sollst
mich füttern, ich aber will Holz bringen. Hier sind
die Schlüssel: in diese Kammer magst du gehen,
in diese Kammer magst du gehen, in diese jedoch
darfst du nicht hinein, sonst muß ich dich töten.“
Damit ging der Bär nach Holz. Sie ging in die er-
ste Kammer – dort fand sie Brot und Mehl. In der
zweiten war Fleisch, Speck und Butter. Nun kam
sie das Verlangen an, in die dritte Kammer zu ge-
hen, was der Bär dort zu liegen habe. Sie schloß

76
die Tür auf und sieht, dort stehen Fässer. Sie
nahm einen Stab und tauchte ihn in das eine Faß
– da war der Stab ganz mit Gold überzogen. Sie
tauchte ihn in ein anderes Faß – da war er silbern
geworden, in das dritte – da bewegte sich der
Stab in ihrer Hand. Sie sah hinter das Faß: „Weh,
hier liegen meine Schwestern erschlagen!“ Wie sie
den Stab ins vierte Faß tauchte, wurde er wieder
starr und unbeweglich: Das Wasser des Todes war
darin. Da nahm sie die eine Schwester, setzte ihr
den Kopf auf den Hals und besprengte sie mit
dem Wasser des Todes; der Kopf wuchs an, doch
die Schwester blieb tot; sie nahm vom Wasser des
Lebens, und die Schwester wurde wieder leben-
dig.
„Was auch draus werden mag, ich will dich er-
retten. Ich werde Pfannkuchen backen, dich in
den Korb setzen, und der Bär soll dich in unseren
Hof werfen: Ich werde sagen, es ist für Mutters
Leichenschmaus.“
Wie der Bär nach Hause kam, ist sie beim
Pfannkuchenbacken. „Ich hab doch ein allerlieb-
stes Weibchen! Wie hast du dir die Zeit vertrie-
ben?“ – „Sieh nur: überall bin ich gewesen, hab
alles gefunden.“ – „In die dritte Kammer bist du
nicht gegangen?“ – „Nein, weiß nicht, was darin
ist.“ – „Dann gib mir zu essen!“ – „Bring doch ei-
nen Korb Pfannkuchen zu den Meinen, für Mutters
Leichenschmaus! Bring ihn hin und wirf ihn in den
Garten!“ – „Gut, ich will’s tun.“ Sie legte die
Schwester in den Korb, auf die Schwester aber
Pfannkuchen und Piroggen. „Nun geh und bring’s

77
als Liebesgabe! Du siehst, der Korb ist voll. Daß
du aber nichts davon ißt! Ich steige aufs Dach und
passe auf!“ Der Bär lud die Kuchen auf seinen
Rücken. Der Korb war aber sehr schwer, darum
sagte er nach einer Weile: „Will mich auf einen
Baumstumpf setzen, mich an einer Pirogge let-
zen.“ Aber die Schwester im Korb sprach: „Ich
seh’s, ich seh’s. Du darfst dich nicht auf den
Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge
letzen!“ – „Ei, was hat sie für scharfe Augen; sieht
mich noch immer!“ Er war aber schon weit ge-
gangen. Als er an den Rand des Gehöfts kam,
warf er den Korb mit den Piroggen hinein. Die
Hunde jagten ihm nach, er aber entfloh in den
Wald. Das Mädchen sprang unterdes heraus und
lief heim. Der Bär kam nach Hause, da ist die Frau
wieder bei der Arbeit: „Mein Vater ist gestorben,
wir müssen etwas zum Leichenschmaus schik-
ken!“ – „Wenn du’s willst, bring ich’s hin.“ Sie buk
wieder Piroggen. „Nun geh, Michail Michailo-
witsch; doch darfst du dich nicht auf ’nen Baum-
stumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge letzen.
Ich werde auf dem Dache stehen, werde alles se-
hen!“ Der Bär hatte schon einen langen Weg hin-
ter sich gebracht, da wurde er müde. „Will mich
auf einen Baumstumpf setzen, mich an einer Pi-
rogge letzen.“ – „Du darfst dich nicht auf den
Baumstumpf setzen, dich nicht an einer Pirogge
letzen!“ – „Was für scharfe Augen sie doch hat:
sieht auch aus der Ferne alles.“ Als er an den
Rand des Gehöfts kam, warf er den Korb in den
Garten, daß die Kuchen nach allen Seiten flogen.

78
Das Mädchen sprang heraus und lief heim, die
Hunde aber jagten dem Bären nach.
Am dritten Tag sagt sie: „Mein Bruder ist ge-
storben, wir müßten etwas zum Leichenschmaus
schicken!“ – „Wie du meinst; back Pfannkuchen
und Piroggen, ich will’s hintragen.“ Sie hatten
aber einen gelehrten Hahn, zu dem sagt sie:
„Deck mich mit Pfannkuchen und Piroggen zu, ich
will dir auch schöne Körner geben.“ Dann nahm
sie einen Mörser, hüllte ihn in ihr Kleid und stellte
ihn aufs Dach. Der Hahn nun deckte sie mit
Pfannkuchen und Piroggen zu (sie hatte aber auch
vom Golde mitgenommen). Der Bär nahm den
Korb und machte sich auf den Weg. Lief und lief
und wurde müde: „Will mich auf einen Baum-
stumpf setzen, mich an einer Pirogge letzen.“ Da
sprach sie: „Ich werde dir, ich werde dir; du
darfst dich nicht auf den Baumstumpf setzen, dich
nicht an einer Pirogge letzen!“ – „Sie sieht’s, da-
bei bin ich doch schon weit.“
Er kam an den Rand des Gehöfts, warf den
Korb hinein, und die Hunde jagten ihm nach. Wie
er nach Hause kam, steht sie auf dem Dach, näm-
lich der Mörser. „Was stehst du noch auf dem
Dach, liebes Weib? Die Piroggen habe ich schon
fortgebracht!“ Sie steht und sagt kein Wort. „So
komm doch herunter, sage ich! Komm herunter,
oder es setzt Schläge!“ Sie steht und sagt kein
Wort. Er wurde wütend, nahm eine Stange und
stieß sie. Sie rollte das Dach herunter, rums,
rums, immer weiter. Er hielt die Pranken bereit,
sie aufzufangen: „Ach, meine Schöne! Sollst dich

79
nicht zu Tode stürzen!“ Der Mörser flog in hohem
Bogen vom Dach herunter, dem Bären gerade auf
die Schnauze, mitten auf die Nase. Und machte
mit dem Bären und dem Märchen ein Ende.

80
19
Das Schneekind
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau, die hatten weder Sohn noch Tochter, und
ihre Fenster hatten sie mit Brettern zugenagelt.
Einmal liegen sie auf dem Ofen, da sagt der Mann
zu seiner Frau:
„Mir ist ein Gedanke gekommen; geh und brin-
ge etwas Schnee!“
Die Alte brachte in einem Sieb Schnee. Den
Schnee kneteten und kneteten sie, bis sie ein
Schneekind herausgeknetet hatten. Das stellten
sie in ihren Ofen. Es wurde trocken und begann zu
wachsen, nicht von einem Tag zum andern, son-
dern von einer Stunde zur andern. So schnell
wuchs es heran, daß es zum Frühjahr schon eine
Jungfrau war. Die Leute im Dorf erfuhren, daß der
Alte ein Schneekind hatte, und kamen gelaufen:
„Laß das Schneekind mit in den Wald zum Bee-
rensammeln!“ Sie baten wohl an die zwanzig Mal.
Schließlich erlaubte es der Alte: „Es sei, geht
nur!“ Da machten sie sich auf den Weg. Die Alte
hatte dem Schneekind ein Schüsselchen mitgege-
ben und ein Stück Brot. Schneekind hatte das
Schüsselchen genommen und auch das Stück
Brot. Die Mädchen essen, Schneekind aber pflückt
indessen Beeren und legt sie ins Schüsselchen.
Wie die Mädchen hinschauen, ist Schneekinds

81
Schüsselchen schon voll, sie selbst aber haben
noch gar nichts gepflückt. Da wurden sie zornig
und schlugen das Schneekind tot. Schlugen’s tot,
das Schüsselchen aber zerbrachen sie, die Beeren
teilten sie, und das Brot aßen sie. Schneekinds
Leib vergruben sie und steckten noch Weidenru-
ten in die Erde darüber. Dann gingen sie heim.
„Und wo ist unser Schneekind?“ – „Wir wissen’s
nicht, haben es verloren!“ Da weinten sie bitter-
lich, aber das half auch nichts. Einmal fuhren
Kaufleute mit ihren Waren denselben Weg, die
hatten einen kleinen Sohn. Der sah, wie unter ei-
nem Strauch Rohr für eine Pfeife wuchs. „Vater,
schneid mir eine Pfeife, ich will darauf spielen!“
Sie schnitten ihm eine Pfeife, und er begann dar-
auf zu spielen. Die Pfeife aber sang:

Lieber Knabe, leise, leise,


Spiel und hör die Trauerweise.
Zwei Schwestern haben mich erschlagen,
Haben mich unter dem Strauch begraben,
Haben’s Schüsselchen zerbrochen,
Haben alle Beeren genommen,
Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen.
Haben mich noch mit Ruten besteckt.

Sie fuhren weiter, und der Knabe spielt ohne


Unterlaß. Als sie zum Dorf kamen, wollten sie
ausruhen und fuhren gerade zu jenem Alten. Der
fütterte die Pferde und stellte den Samowar auf
den Tisch. Der Knabe aber saß draußen auf den

82
Stufen, holte sein Pfeifchen hervor und spielte das
Lied:

Lieber Knabe, leise, leise.


Spiel und hör die Trauerweise.
Zwei Schwestern haben mich erschlagen.
Haben mich unter dem Strauch begraben.
Haben ‘s Schüsselchen zerbrochen.
Haben alle Beeren genommen.
Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen.
Haben mich noch mit Ruten besteckt.

Das hörte die Alte: „Ach, wie klingt das schön.


Laß mich auch einmal versuchen.“ Nahm’s, das
Pfeifchen aber sang:

Mütterchen, ach leise, leise.


Spiel und hör die Trauerweise.
Zwei Schwestern haben mich erschlagen.
Haben mich unter dem Strauch begraben.
Haben ‘s Schüsselchen zerbrochen.
Haben alle Beeren genommen,
Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen,
Haben mich noch mit Ruten besteckt.

Als die Alte das gehört hatte, erblaßte sie: „Was


ist das? Alter, spiel du einmal!“ Der Alte nahm das
Pfeifchen, das aber sang:

Väterchen, ach leise, leise.


Spiel und hör die Trauerweise.
Zwei Schwestern haben mich erschlagen,

83
Haben mich unter dem Strauch begraben,
Haben ‘s Schüsselchen zerbrochen,
Haben alle Beeren genommen,
Haben zum Totenmahl ‘s Brot gegessen,
Haben mich noch mit Ruten besteckt.

Viele Nachbarn waren zusammengelaufen, alle


hörten das Lied, und auch jene Mädchen waren
herbeigekommen. Denen gibt die Alte das Pfeif-
chen. Das eine Mädchen aber, kaum daß es nach
dem Pfeifchen greift, sinkt zu Boden: „Ich will
nicht spielen!“ Das Pfeifchen zerbrach, und im
gleichen Augenblick saß das Schneekind dort. Da
freuten sie sich sehr, ich weiß gar nicht, was sie
alles vor Freude angestellt haben. Die Kaufleute
aber tranken ihren Tee und fuhren dann weiter
zum Markt.

84
20
Die habgierige Alte
Es lebten einst ein alter Mann und eine alte Frau.
Der Mann ging einmal in den Wald, um Holz zu
schlagen. Er suchte sich einen alten Baum aus,
hob die Axt und schlug sie in den Stamm. Da sagt
der Baum zu ihm: „Fälle mich nicht, Bauer! Was
du dir wünschst, will ich dir erfüllen!“ – „Dann
mach, daß ich reich werde!“ – „Es sei; geh nur
nach Hause, du wirst alles in Hülle und Fülle ha-
ben.“ Der Alte kommt nach Hause – da findet er
ein neues Haus vor, vom Keller bis zum Dach voll
schöner Dinge, Truhen und Kästen bis zum Rande
mit Geld gefüllt, Korn, daß es für zehn und aber-
mals zehn Jahre reicht, und die Kühe, Pferde und
Schafe hätte man auch in drei Tagen nicht zählen
können. „Mann, woher kommt das alles?“ fragt
die Alte. „Ich habe einen Baum gefunden – was
immer du begehrst, das tut er.“
So lebten sie einen Monat, da genügte der Alten
das reiche Leben nicht mehr. Sie sagt zu ihrem
Mann: „Wir sind jetzt zwar reich, aber was nützt
das, wenn uns die Leute keine Ehrerbietung er-
weisen! Wenn’s dem Gutsvogt gefällt, kann er
dich und mich aufs Feld schicken; und ist er nicht
bei Laune, dann setzt es Stockprügel. Geh zum
Baum und bitte, daß du Gutsvogt wirst!“ Der Alte
nahm seine Axt, ging zum Baum und will sie dicht

85
über der Wurzel in den Stamm schlagen. „Was
willst du?“ fragt der Baum. „Mach, daß ich Guts-
vogt bin!“ – „Gut, geh mit Gott!“
Er kam nach Hause, da warten schon lange die
Soldaten auf ihn: „Wo treibst du dich herum, alter
Satan?“ schrien sie ihm entgegen. „Beschaff uns
schleunigst Quartier; daß es aber ja ein gutes ist!
Los, los, rühr dich!“ Und dabei schlugen sie ihm
ihre Säbel über den Rücken, daß es eine Art hat-
te. Die Alte sieht, daß auch einem Gutsvogt nicht
immer Achtung erwiesen wird, und sie sagt zu ih-
rem Mann: „Was bringt’s für Gewinn, des Guts-
vogts Weib zu sein! Heute haben dich die Solda-
ten verprügelt, was mag erst geschehen, wenn
der Gutsherr kommt: Was ihm beliebt, das wird er
auch tun. Geh zum Baum und bitte, er soll dich
zum Herrn machen und mich zur Herrin!“
Der Alte nahm seine Axt, ging zum Baum und
will sie wieder in den Stamm treiben. Der Baum
fragt: „Was willst du, Alter?“ – „Mach mich zum
Herrn und meine Alte zur Herrin!“ – „Gut, geh mit
Gott!“ Die Alte lebte nun als Herrin, da verlangte
es sie nach mehr, und sie sagt zu ihrem Mann:
„Was bringt’s für Gewinn, daß ich die Herrin bin!
Ja, wenn du Oberst wärst und ich Frau Obristin,
das war ein anderes Leben, alle würden auf uns
neidisch sein.“
Sie schickt den Alten wieder zum Baum. Er
nahm seine Axt, kam hin und will den Baum fäl-
len. Fragt ihn der Baum: „Was brauchst du?“ –
„Mach mich zum Oberst und meine Alte zur Obri-
stin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Der Alte kam nach

86
Hause, da machten sie ihn zum Oberst. Wie eine
Zeit vergangen ist, sagt die Alte zu ihm: „Was ist
das schon – Oberst! Gefällt’s dem General, steckt
er dich in Arrest. Geh zum Baum und bitte, er soll
dich zum General machen und mich zur Genera-
lin!“ Der Alte ging zum Baum und nimmt die Axt
zur Hand. „Was brauchst du?“ fragt der Baum.
„Mach mich zum General und meine Alte zur Ge-
neralin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Der Alte kam nach
Hause, da beförderten sie ihn zum General.
Wieder verging eine Zeit, und die Alte war es
überdrüssig. Generalin zu sein. Sie sagt zu ihrem
Mann: „Was ist das schon – General! Gefällt’s
dem Zaren, schickt er dich nach Sibirien. Geh zum
Baum und bitte, er soll dich zum Zaren machen
und mich zur Zarin!“ Der Alte ging zum Baum und
nimmt die Axt zur Hand. „Was brauchst du?“ fragt
der Baum. „Mach mich zum Zaren und meine Alte
zur Zarin!“ – „Gut, geh mit Gott!“ Wie der Alte
nach Hause kam, sind schon die Sendboten da,
ihn zu holen: „Der Zar ist gestorben, du bist an
seine Stelle gewählt worden!“ Nur kurze Zeit soll-
te der Alte mit seiner Frau als Zar herrschen: Die
Alte dünkte es zu wenig, Zarin zu sein, sie rief ih-
ren Mann und sagt: „Was ist das schon – Zar! Ge-
fällt’s Gott, schickt er den Tod, und sie begraben
dich in der kalten Erde. Geh zum Baum und bitte,
er soll uns zu Göttern machen!“
Der Alte ging zum Baum. Wie der diese aber-
witzigen Worte hörte, rauschte er mit seinen Blät-
tern und gab dem Alten zur Antwort: „Sei du ein
Bär und deine Frau die Bärin!“ Im gleichen Au-

87
genblick wurde der Alte in einen Bären verwan-
delt, seine Alte in eine Bärin, und beide liefen in
den Wald.

88
21
Das bucklige Pferdchen
Es lebte einmal ein Mann mit seinen Söhnen am
Ende der Welt. Es waren drei Söhne: Anton, der
älteste, Andron, der zweite, und Iwan, der dritte,
der war gerade noch zum Pflügen zu gebrauchen.
Er schlief viel, aß viel und kannte keine Sorgen.
Der Vater hatte eine Deßjatine Weizen gesät. Der
Weizen war gut geraten. Aber irgend jemand trat
ihn immer wieder nieder. Aß auch ein wenig da-
von, vor allem aber trat er ihn nieder. Der Vater
teilte die Söhne zum Wachdienst ein, in der Nacht
den Weizen zu bewachen. Die erste Nacht zog An-
ton auf Wache, der älteste der Brüder. Wie er früh
am Morgen heimkommt, fragt der Vater:
„Wer war im Weizen?“
Der Sohn antwortete:
„Habe niemanden gesehen!“
Es hatte aber dieser Wachtposten auf dem Feld-
rain geschlafen und deswegen nichts gesehen. In
der zweiten Nacht ging Andron, der mittlere Sohn.
Andron bezog die Wache bei der jungen Nachba-
rin, den Weizen aber ließ er Weizen sein. Wie An-
dron früh am Morgen heimkommt, fragt der Va-
ter:
„Wie war’s im Weizen?“
Der Sohn antwortete:
„Habe niemanden gesehen, Vater!“

89
Dabei hatte er bei der jungen Nachbarin ge-
wacht. Die dritte Nacht kommt heran, da schickt
der Vater seinen jüngsten Sohn Iwan. Iwan
sträubt sich und will nicht gehen. Der Vater ver-
spricht ihm:
„Ich kaufe dir auch rote Stiefel, geh, mein
Sohn!“
Iwan machte sich auf den Weg. Nahm eine
Fangleine und einen Kanten Brot mit, dazu eine
Axt (eine Waffe nahm er also immerhin mit). So
zog er auf Wache, legte sich auf den Feldrain, den
Bauch dem Himmel zugekehrt, ißt sein Brot und
zählt die Sterne. Zählte und zählte und konnte sie
nicht zählen. Auf einmal sah er, wie eine wunder-
schöne Stute pfeilgeschwind in den Weizen stürm-
te, herrlich wie die Zarin selbst. Die Mähne war
ganz von Gold und der Schwanz von Silber. Iwan
nimmt seine Fangleine, schlich sich heran und
packte die wunderschöne Stute am Schwanz. Sie
schlug nach allen Seiten aus, kann sich aber nicht
losreißen. Iwan stieg auf und setzte sich auf ihren
Rücken, mit dem Hinterteil nach vorn. Die Stute
flehte:
„Laß mich laufen, Iwan!“
Iwan sagt:
„Nein, ich laß dich nicht laufen, sondern werde
auf dir nach Hause reiten; du hast unseren gan-
zen Weizen niedergetreten.“
Die Stute sagt wieder:
„Laß mich laufen, Iwan, ich will dir drei Pferde
geben: zwei mit goldener Mähne, das dritte aber
mit langen Ohren, langen Beinen und zwei Hök-

90
kern. Die zwei Pferde mit der Goldmähne magst
du immerhin verkaufen, Iwan, das bucklige Pferd-
chen jedoch darfst du um keinen Preis hergeben,
sondern mußt es behalten. Du wirst es brauchen.“
Iwan sagt zu der Stute:
„Und wann willst du sie schicken?“
Die Stute erwiderte:
„Morgen früh werden sie auf eurem Hofe ste-
hen.“
Da ließ Iwan sie laufen. Die Stute lief davon,
und Iwan machte sich auf den Heimweg. Kommt
nach Hause und klopft an die Tür.
„Mach auf, Vater“, ruft er und poltert gegen die
Tür, daß sie bald aus den Angeln fällt.
Der Vater machte ihm auf und fragte:
„Wen hast du dort gesehen, Iwan?“
„Den Teufel, Vater. Er war’s, der unseren Wei-
zen niedergetreten hat.“
Damit kletterte er auf den Ofen, um zu schla-
fen. Seine Brüder aber lachen und verspotten den
Dummkopf:
„Was verstehst du schon davon!“
Am Morgen standen Anton und Andren auf und
gingen zum Nachbarn, wo ein Fest gefeiert wurde.
Iwan wachte auf und trat auf den Hof, sich seine
Pferde anzusehen. Wahrhaftig, da stehen drei
Pferde. Er betrachtete sie, dann ging er und legte
sich wieder auf den Ofen schlafen. Die Brüder
kommen vom Fest. Sie betreten den Hof und se-
hen die Pferde mit der goldenen Mähne. Sie blin-
zelten einander zu, saßen auf und ritten in die
Hauptstadt, die Pferde zu verkaufen, Iwan dem

91
Dummkopf aber ließen sie das bucklige Pferdchen
zurück. Iwan wurde wieder munter, denn er war
unruhig geworden, und er ging nach seinen Pfer-
den zu sehen. Da steht nur noch eines im Hof, die
zwei anderen sind fort. Iwan wurde böse.
„Welcher Satan hat meine Pferde genommen?“
schimpft er.
Da begann das bucklige Pferdchen zu sprechen:
„Schimpf nicht, Iwan; deine Brüder haben die
Pferde genommen und sind in die Hauptstadt ge-
ritten, sie zu verkaufen. Setz dich auf meinen
Rücken, wir holen sie im Augenblick ein.“
Iwan aber kann nicht aufsitzen, wie er es auch
anstellt: die beiden Höcker hindern ihn. Da legte
sich das Pferd auf den Boden, er setzte sich auf
seinen Rücken, und das Pferd stand wieder auf.
„Halt dich an meinen Ohren fest, den langen,
und laß nicht los, Iwan, sonst fällst du herunter!“
Iwan hielt sich fest, und das Pferd flog davon. In
einem Augenblick hatten sie die Brüder eingeholt.
Iwan der Dummkopf begann, seine Brüder auszu-
schelten, die aber beschwatzen ihn:
„Iwan, laß das Schelten sein. Wir wollen die
Pferde verkaufen, dann werden wir dir schöne
Stiefel und Pfefferkuchen kaufen.“
Iwan war’s einverstanden.
Als es Nacht wurde, erblickten die Brüder in der
Ferne ein Licht.
„Iwan, was leuchtet dort? Reit hin und erkunde,
ob wir nicht über Nacht bleiben können, denn es
ist schon dunkel! Reit hin, wir warten auf dich!“
(Sie wollen ihn überlisten.)

92
Iwan flog pfeilgeschwind davon. Wie er an die
Stelle kommt, sieht er, daß es der Feuervogel ist.
Er klettert vom buckligen Pferdchen, nimmt eine
Feder und steckt sie in die Tasche. Da sprach das
Pferd:
„Wozu nimmst du die Feder, Iwan? Wirf sie fort!
Sie wird dir viel Kummer bringen!“
Iwan hört nicht darauf, schweigt und steigt
wieder auf sein Pferd. Die Brüder wollen ihm da-
vonreiten, doch daraus wurde nichts, Iwan holte
sie wieder ein. Die Brüder fragen:
„Was war dort?“
Iwan erwiderte:
„Ein verfaulter Baumstumpf hat geleuchtet.“
Frühmorgens langen die drei Brüder in der
Hauptstadt an und stellen sich auf den Markt. Zu
dieser Stunde fuhr gerade der Zar über den
Markt. Der Zar sah die Pferde, kehrte in sein
Schloß zurück und befahl, die Pferde mit der gol-
denen Mähne zu kaufen.
„Gebt, was sie verlangen!“
Iwan forderte für die Pferde einen Preis, daß
man ihn gar nicht auszusprechen wagt. Da be-
drohten ihn die Höflinge. Iwan machte nun keine
Umstände mehr und überließ ihnen die Pferde. Ein
Höfling behielt Iwan mit seinem buckligen Pferd-
chen am Hofe.
„Du kannst im Pferdestall wohnen, als Wächter
und Pferdeknecht.“
Alles Geld aber hatten die Höflinge den Brüdern
gegeben.

93
Iwan nahm Abschied von ihnen und lebte von
nun an beim Zaren, im Pferdestall. Er schläft zu-
sammen mit seinem Pferd, putzt und füttert es –
das ist seine ganze Arbeit. Eines schönen Tages
bekam Iwan mit einem Pferdeknecht Streit, und
wie sie sich prügelten, fiel die Feder aus Iwans
Tasche. Der Pferdeknecht hob sie auf und brachte
sie dem Zaren. Der Zar sagt zu dem Pferde-
knecht:
„Woher hast du das?“
„Es ist Iwan dem Dummkopf aus der Tasche
gefallen, und ich hab’s aufgehoben.“
Der Zar sagt:
„Ich merke, mit Iwan hat es eine besondere
Bewandtnis.“
Darauf ließ der Zar Iwan zu sich kommen.
„Iwan, woher hast du die Feder?“
„Auf dem Felde hab ich sie gefunden, Zar, ganz
einfach.“
„Nun, Iwan, bringe mir den Feuervogel, ich will
dich belohnen. Bringst du ihn aber nicht, dann soll
es dir schlecht ergehen.“
Iwan ging zu seinem Pferd. Das Pferd spricht zu
ihm:
„Siehst du, Iwan, ich habe dir gesagt, du sollst
die Feder nicht aufheben. Aber du hast nicht auf
mich gehört. Den Feuervogel zu holen ist nicht
schwer“, sagt das Pferd, „das Schwere kommt
erst noch. Den Feuervogel holen wir an einem Ta-
ge. Geh, Iwan, und bitte um einen Eimer Honig,
zwei Futtertröge und Handschuhe aus Saffianle-
der!“

94
Iwan trug alles, was nötig war, zusammen,
setzte sich auf sein Pferd und jagte davon. Das
Pferd kennt den Weg. Es brachte ihn auf eine
Waldlichtung.
„Steig ab, Iwan!“ Das Pferd unterweist ihn:
„Stell den einen Futtertrog hin und gieß Honig aus
dem Eimer hinein, unter den anderen Trog aber
kriech selbst, damit dich die Vögel nicht sehen!“
„Wenn jetzt die Vögel geflogen kommen, Iwan“,
sagt das Pferd, „brauchst du keine Angst zu ha-
ben. Sie strahlen helles Feuer aus. Versuche
nicht, alle zu fangen, denn wenn du alle fangen
willst, wirst du keinen einzigen bekommen. Hast
du einen gefangen, dann ruf mich aufs schnellste.
Ich werde im Augenblick hier sein.“
Iwan legte sich unter dem Trog zurecht, über
seine Hände aber zog er die Handschuhe, um den
Feuervogel zu fangen. Jetzt kamen die Vögel ge-
flogen, Honig zu trinken. Iwan packte rasch zu
und hatte den Feuervogel gefangen. Er war ihm
gleichsam an den Händen angewachsen. Iwan
ruft:
„Schnell, Pferd, ich habe den Feuervogel gefan-
gen!“
Das Pferd war schon da. Iwan steckte den Feu-
ervogel in einen Sack, war am nächsten Tag be-
reits wieder beim Zaren und hatte den Feuervogel
mit.
Der Zar sagt:
„Wir müssen ihn in eine Hütte sperren und die
Fensterläden verschließen, sonst zündet er die

95
ganze Stadt an, und die Leute werden sich ent-
setzen.“
Das wurde auch getan.
Der Zar weidete sich am Anblick des Feuervo-
gels, aber er war noch nicht zufrieden. Er läßt
Iwan wieder zu sich kommen:
„Höre, Iwan, bring mir des Mondes Tochter!“
(Er war nämlich Witwer, der Zar.) „Ich will dich
reich dafür belohnen; bringst du sie aber nicht,
lasse ich dich bestrafen!“
Iwan ging zu seinem Pferd, er weint.
Das Pferd sagt:
„Warum weinst du, Iwan?“
„Der Zar hat mir befohlen, ihm des Mondes
Tochter zu bringen.“
„Das ist nicht schwer, Iwan. Das Schwere
kommt erst noch. Ich habe dir doch gesagt, du
sollst den Feuervogel nicht nehmen. Viel Schwe-
res wirst du erdulden müssen. Geh jetzt zum Za-
ren, Iwan, und bitte ihn um ein blaues Zelt, um
ein Tischchen und um köstliche Speisen und Wei-
ne von jenseits des Meeres.“
Alles, was das Pferd befohlen hatte, holte Iwan
vom Zaren, setzte sich aufs bucklige Pferdchen
und hielt sich an den Ohren fest. Das Pferd flog
davon wie ein Pfeil. Sie kommen ans blaue Meer,
und Iwan schlug nicht weit vom Meer das Zelt
auf, stellte das Tischchen ins Zelt und köstliche
Weine und Speisen von jenseits des Meeres dar-
auf.
Das Pferd sagt zu Iwan:

96
„Bald wird ein Schiff kommen. Auf diesem
Schiff fährt des Mondes Tochter und singt herrli-
che Lieder. Sie wird in dieses Zelt treten, sich zu
erfrischen. Sie wird nämlich glauben, ihr Vater,
der Mond, habe das Zelt für sie bereitet.“
Das Pferd sagt zu Iwan:
„Geh jetzt ins Zelt. Im Zelt ist ein Alkoven. Ver-
birg dich dort, damit des Mondes Tochter dich
nicht sieht. Sie wird sich an den Tisch setzen, die
Weine und Speisen von jenseits des Meeres ko-
sten und ihre herrlichen Lieder singen. Du aber,
Iwan, tritt von hinten herzu und pack sie an den
Zöpfen. Laß aber nicht los, sondern ruf mich aufs
schnellste!“
Das Pferd lief davon, auf eine Waldwiese, Iwan
aber kroch in den Alkoven und feuchtete sich
schnell die Hände an. Des Mondes Tochter kam,
setzte sich an den Tisch und hatte noch keine Lie-
der singen noch auch von den Weinen oder Spei-
sen kosten können, da packte Iwan sie an den
Zöpfen und rief:
„Buckliges Pferdchen, schnell, ich habe die Za-
rentochter gefangen!“
Die Zarentochter bittet ihn:
„Iwan, laß mich frei!“
Doch Iwan hört nicht auf sie, sondern ruft nach
seinem Pferd. Das Pferd kam, Iwan saß auf und
ritt mit der Zarentochter heim. Nach zwei Tagen
schon brachte er dem Zaren des Mondes Tochter.
Der Zar gab ihm ein großes, wertvolles Geschenk,
und Iwan trollte sich in den Stall zu seinem Pferd.
Er versorgte das bucklige Pferdchen und legte sich

97
neben ihm nieder. Der Zar verlangt, die Tochter
des Mondes solle sein Weib werden, aber sie sag-
te nein. Sie setzt sich an den Tisch, schreibt einen
Brief an ihren Vater, den Mond, und bittet den Za-
ren, den Brief zu ihrem Vater zu senden und von
ihm Antwort bringen zu lassen. Dazu sagt sie
noch:
„Beschaff mir das blaue Kästchen vom Grunde
des blauen Meeres; mein Ring liegt darin!“
Sie hatte es nämlich dort verloren. Der Zar läßt
sogleich Iwan rufen:
„Hier, Iwan, nimm diesen Brief, trag ihn zum
Zaren Mond und bring Antwort von ihm. Hol mir
dann aus dem Meer das blaue Kästchen mit dem
Ring. Bringst du mir das Kästchen, dann will ich
dich belohnen, wenn nicht, lasse ich dich bestra-
fen!“
Die Zarentochter aber will den Zaren ohne die-
se Dinge nicht heiraten. Iwan setzte sich auf sein
Pferd und ritt los. Das Pferd sagt:
„Iwan, das ist nicht schwer; das Schwere
kommt erst noch.“
Das Pferd sagt zu Iwan:
„Wir müssen Hecht und Vogel sein.“
Das Pferd jagte dahin. Sie kommen ans blaue
Meer, da liegt ein Walfisch quer über dem Meer.
Iwan muß über den Walfisch ans andere Ufer
reiten. Auf dem Walfisch fahren viele Wagen. Die
Pferde haben ihm mit ihren Hufen alle Knochen
zerschunden. Iwan schreitet über den Walfisch.
Als er am anderen Ufer war, begann der Fisch zu
sprechen:

98
„Reitest du weit, Iwan?“
Iwan antwortet dem Walfisch:
„Zum Zaren Mond!“
Der Walfisch sagt:
„Weswegen?“
„Ich bringe einen Brief und will vom Zaren
Mond Antwort holen.“
„Iwan, frage dort auch meinetwegen. Schon
drei Jahre liege ich hier. Wie lange soll ich noch
liegen?“
Iwan sagt:
„Gut, ich will fragen.“
Das Pferd trägt Iwan weiter und hebt sich in die
Lüfte. Iwan bekam Angst. Das Pferd sagt:
„Hab keine Furcht, Iwan, halt dich an meinen
Ohren fest! Es wird dir nichts geschehen.“
Das Pferd steigt immer höher, dem Himmel
entgegen. Schließlich trägt es Iwan in die Wolken
hinein. Am Ziel angekommen, geht Iwan in die
Badestube. Da liegt der Mond auf einem Tisch,
und auch eine Flasche Wasser steht auf dem
Tisch. Der Mond tränkt sich selbst mit Wasser.
Iwan gibt dem Zaren Mond den Brief und wartet
auf Antwort. Zar Mond las den Brief und übergab
Iwan die Antwort. Da fragt Iwan den Zaren Mond
wegen des Walfisches:
„Drei Jahre“, sagt er, „liegt der Walfisch schon
dort. Wie lange muß er noch liegen?“
Der Zar sagte:
„Er soll meiner Tochter Schiff ausspeien und
sich auf den Meeresgrund sinken lassen.“

99
Er hatte nämlich drei Schiffe verschluckt, und
deswegen hatte ihn der Zar Mond auch als Brücke
übers Meer gelegt. Iwan nahm Abschied vom
Mond und machte sich auf den Heimweg. Das
Pferd ließ sich zur Erde herab. Das Pferd sagt zu
Iwan:
„Iwan, reite über den Walfisch hinweg. Sobald
du drüben bist, kannst du ihm die ganze Wahrheit
sagen. Verlange danach vom Walfisch das Käst-
chen; er soll es vom Grunde des blauen Meeres
emporholen. Dann werden wir ihm aus seiner Not
helfen.“
Iwan antwortete dem Pferd:
„Es ist gut, buckliges Pferdchen!“
Iwan ritt über den Walfisch, dann führt er sein
Pferd zum Verschnaufen auf eine Wiese. Der Wal-
fisch fragt:
„Iwan, hast du dort an mich gedacht?“
Iwan sagt:
„Ich habe an dich gedacht und will dir die ganze
Wahrheit sagen.“
Der Walfisch sagt:
„Iwan, sag sie nur gleich!“
Iwan sagt zum Walfisch:
„Hol mir das blaue Kästchen vom Grunde des
Meeres. Dann werde ich dir alles sagen!“
Der Walfisch sagt zu Iwan:
„Ich will’s holen, nur hilf mir aus meiner Not!“
„Walfisch, spuck dreimal hintereinander aus,
spei des Mondes Schiffe aus und laß dich auf den
Meeresgrund sinken!“

100
Der Walfisch rülpste dreimal hintereinander,
spie die Schiffe aus und ließ sich auf den Meeres-
grund sinken.
Das Meer hatte keinen Herren. Die Fische leb-
ten dort, wie es ihnen behagte. Als der Walfisch
auf dem Meeresgrund anlangte, erschraken all die
kleinen Fische. Der Walfisch befahl den Hechten,
um jeden Preis das Kästchen ausfindig zu ma-
chen. (Die Hechte sind dort flink.) Die Hechte fan-
den das Kästchen sogleich, konnten es aber nicht
forttragen. Da schickte der Walfisch die Robben,
die brachten das Kästchen auf der Stelle. Er gab
das Kästchen Iwan, der bedankte sich und machte
sich auf den Heimweg; der Walfisch aber ließ sich
auf den Meeresgrund sinken.
Iwan kommt nach Hause, geht zuerst zum Za-
ren und dann schnell in den Pferdestall. Dort legt
er sich schlafen. Der Zar will nun die Tochter des
Mondes heiraten, aber die sagt wieder nein.
„Fülle drei Kessel, Zar“, sagt sie, „mache Feuer
und bringe sie zum Glühen. Zwei mit Wasser und
den dritten mit Milch. Dann spring in diese Kessel
hinein, zuerst in die mit Wasser, dann in den mit
Milch, und aus dem wirst du als schöner, junger
Held herausspringen. Dann will ich deine Frau
werden.“
Der Zar ließ alles zurichten. Darauf schickte er
nach Iwan, daß er vor ihm hineinspränge. Iwan
kam zum Zaren, das Pferd aber hatte ihn schon
gewarnt:
„Spring nicht, solange ich nicht dabei bin, son-
dern warte auf mich“, hatte es gesagt. „Ich werde

101
die Kessel heimlich abkühlen, dann kannst du hi-
neinspringen.“
Iwan trat also vor den Zaren. Der Zar hieß ihn,
in die Kessel zu springen. Da verlangte Iwan nach
seinem Pferd.
„Bringt mir mein buckliges Pferdchen. Ich will
Abschied von ihm nehmen, danach werde ich
springen.“
Das Pferd wurde herbeigeführt. Iwan sah es an,
und dann sprang er. Zuerst in diesen Kessel, dann
in jenen. Das Pferd hatte sie schon heimlich abge-
kühlt.
Aus dem letzten Kessel sprang Iwan als ein
strahlender Held heraus. Er wandte sich dem Za-
ren zu und sagt:
„Na, los, Väterchen Zar, spring!“
Der dumme Zar ließ sich in den Kessel plump-
sen und blieb für immer darin. Iwan aber feierte
mit der Zarentochter Hochzeit.

Der Amtmann und der Büttel,


Dazu der Zeugen zwei,
Haben wir auf der Hochzeit getanzt,
Weiter war niemand dabei.

102
22
Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch
Hinter dreimal neun Ländern, im dreimalzehnten
Zarenreich, in einem berühmten, mächtigen Staat
lebte einmal ein mächtiger Zar, der hatte zwei
Söhne. Der ältere hieß Fjodor Zarewitsch, der
jüngere Iwan Zarewitsch. Der Zar starb, und Fjo-
dor Zarewitsch übernahm die Herrschaft. Fjodor
gedachte zu heiraten und sah sich nach einer
Braut um. Da hörte er, daß hinter dreimal neun
Ländern, hinter dreimal neun Meeren, im dreimal-
zehnten Zarenreich, im berühmten Lande der
Jungfrauen eine wunderschöne Zarin lebt. Zu-
sammen mit seinem Bruder Iwan brach er auf,
um die wunderschöne Jungfrau zu freien. Als sie
mit ihren Schiffen in jenem Lande der Jungfrauen
angekommen waren, freite Fjodor Zarewitsch die
wunderschöne Zarin, und sie machten sich auf die
Heimreise. Unterwegs begegnete ihnen ein ande-
res Schiff. Iwan Zarewitsch fing mit den Leuten
vom anderen Schiff ein Gespräch an, denn er
wollte zu ihnen hinüber. So kam er denn auf das
fremde Schiff. Dort erblickte er eine Jungfrau von
unbeschreiblicher Schönheit. Iwan Zarewitsch
freite um sie, aber sie sagte:
„Ich werde nicht heiraten, ehe ich meine Ver-
wandten nicht gesehen habe.“

103
Wer aber ihre Verwandten waren, das sagte sie
nicht. Als Iwan Zarewitsch sich nach seinem Schiff
umsah, war es nicht mehr da. Der Bruder war mit
seinem Weib in sein Reich gefahren. Iwan begriff
sehr wohl, daß der Bruder auf sein halbes Erbe
neidisch war und es an sich bringen wollte.
Iwan Zarewitsch nahm die wunderschöne Jung-
frau und bat den Kapitän des Schiffes, er solle sie
beide ans trockene Ufer bringen. Der Kapitän des
Schiffes brachte sie ans andere Ufer. Iwan machte
sich mit seiner Schönen auf den Weg in sein
Reich. Auf einmal breitet die Jungfrau einen Tep-
pich aus und heißt Iwan Zarewitsch, sich darauf
zu setzen. Er denkt, sie wolle ausruhen, da sagte
sie:
„Nun, fliegender Teppich, erhebe dich über die
ragenden Wälder, unter die ziehenden Wolken!“
In einer Minute waren sie in ihrem Reich. Die
Jungfrau sagt zu Iwan Zarewitsch, er solle nie-
mandem verraten, daß sie bei ihm wohne. Iwan
brachte sie heimlich in sein Schlafgemach, und
niemand hatte die beiden gesehen. Wenn er aber
ausging, verschloß er die Tür, und kam er wieder,
schob er immer den Riegel vor. Nun merkt er, daß
es zwischen dem älteren Bruder Fjodor und des-
sen Weib nicht gut steht: immer schalt sie ihn,
sagte ihm böse Worte und begann zu guter Letzt
sogar ihn zu prügeln. Da dauerte Iwan sein Bru-
der Fjodor.
Einmal sagt die Zarin zu ihrem Mann Fjodor Za-
rewitsch:

104
„Wenn du mir nicht den wilden Eber bringst,
der mit dem Rüssel wühlt, mit dem Schwanze
eggt, und hinter ihm wächst das Korn, dann sper-
re ich dich ins Gefängnis, und du wirst in Ewigkeit
nicht wieder herauskommen!“
Da erschrak Fjodor Zarewitsch, sah sich nach
Hilfe um und wandte sich an seinen Bruder Iwan:
„Lieber Bruder, kannst du mir nicht helfen in
meiner Not? Mein Weib peinigt mich aufs Blut.“
„Womit?“ fragt Iwan Zarewitsch.
„Sie befiehlt mir, ihr den wilden Eber zu brin-
gen, der mit dem Rüssel wühlt, mit dem Schwan-
ze eggt, und hinter ihm wächst das Korn.“
Iwan Zarewitsch versprach, seinem Bruder zu
helfen, und sagt:
„Laß mir Zeit, ich will erst ein wenig nachden-
ken und überlegen. Dann sage ich dir Bescheid.“
Er kommt in sein Schlaf gemach und fragt seine
Schöne:
„Was soll ich tun? Mein Bruder bittet um Hilfe.
Sein böses Weib peinigt ihn aufs Blut und befiehlt
ihm, ihr den wilden Eber zu bringen, der mit dem
Rüssel wühlt, mit dem Schwanze eggt, und hinter
ihm wächst das Korn. Sage doch, meine Teure,
gibt es einen solchen Eber?“
Die schöne Jungfrau sagt:
„Es gibt ihn.“
„Und kann man ihn herbringen?“
„Das ist durchaus möglich“, sagte die Jungfrau.
„Dann hilf mir, ihn herzubringen. Mein Bruder
dauert mich!“

105
Sie nimmt ihr Tüchlein aus der Tasche und gibt
es ihm.
„Sobald du diesen Eber triffst, winke ihm mit
diesem Tüchlein entgegen, und er wird zahmer als
ein Kälbchen werden. Wohin du auch gehen
magst, er wird dir folgen.“
Iwan Zarewitsch ging aufs freie Feld, in die wei-
te Welt. Ob nah, ob fern, ob hoch, ob tief – ein
Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so
bald getan. Er geht einen Tag, dann einen zwei-
ten, und am dritten begegnet ihm der wilde Eber,
wühlt mit dem Rüssel, eggt mit dem Schwanz,
und hinter ihm wächst das Korn. Als der Eber
Iwan Zarewitsch erblickte, stürmte er auf ihn los
und wollte ihn auf seine Hauer spießen, Iwan aber
winkte ihm mit dem Tüchlein entgegen, und der
Eber wurde zahmer als ein Kälbchen. Iwan Zare-
witsch ging voran, und der Eber folgte ihm nach.
Iwan Zarewitsch brachte den Eber in sein Reich.
Als der Eber hinter Iwan den Schloßhof betrat,
begann er, mit dem Rüssel zu wühlen, mit dem
Schwanze zu eggen, und hinter ihm ging das Korn
auf. Da kommt die Zarin aus dem Schloß ge-
sprungen und bittet Iwan, er solle den Eber auf
die Straße jagen, er würde sonst das ganze Haus
umwühlen, und man könne nirgends mehr gehen.
Iwan Zarewitsch ging hinaus auf die Straße, der
Eber hinter ihm her. Er winkte mit dem Tüchlein
die Straße entlang, da lief der Eber aufs freie Feld,
in die weite Welt. Danach lebte Fjodor Zarewitsch
mit seiner Zarin in Eintracht. Aber nicht gar lange
lebten sie so. Die Zarin begann wieder der Teufel

106
zu reiten, denn sie mochte Fjodor Zarewitsch
nicht leiden. Wieder begann sie, ihn zu schlagen,
ihn anzuschreien, und schließlich sagt sie zu ihm:
„Wenn du mir nicht die Stute mit den vierzig
Blessen bringst, zu jeder Blesse vierzig Hengste
und zu jedem Hengst vierzig Stuten, dann werfe
ich dich in die Mistgrube!“
Fjodor Zarewitsch erschrak und läuft wieder zu
seinem Bruder Iwan:
„Lieber Bruder, errette mich aus diesem Un-
heil!“
Iwan Zarewitsch hatte Mitleid mit seinem Bru-
der.
„Warte, Bruder, ich will ein wenig nachdenken.“
Er geht in sein Schlafgemach und erzählt seiner
Auserwählten, wie es dem Bruder geht. Dann bit-
tet er sie, sie möge ihm helfen, den Bruder zu ret-
ten und die Stute mit den vierzig Blessen herzu-
bringen. Ohne langes Überlegen holt sie einen
schmalen Zügel hervor und sagt:
„Wenn du gehst und die Stute mit den vierzig
Blessen erblickst, wird sie wütend auf dich los-
stürmen. Dann winke ihr mit diesem Zügel entge-
gen, und sie wird stehenbleiben wie angewurzelt.
Tritt dann an sie heran, leg ihr den Zügel an, setz
dich auf ihren Rücken und reite los: Alle Hengste
und Stuten werden dir nachlaufen.“
Iwan Zarewitsch nahm den Zügel und ging aufs
freie Feld, in die weite Welt. Er geht einen Tag,
einen zweiten, und am dritten kommt die Stute
gelaufen. Sie stürmt auf ihn los und wollte ihn auf
der Stelle totbeißen. Er winkte ihr mit dem

107
schmalen Zügel entgegen, und sie blieb stehen
wie angewurzelt. Iwan Zarewitsch legte ihr den
Zügel an, setzte sich auf ihren Rücken und ritt los.
Alle Hengste und Stuten, wie viele ihrer auch wa-
ren, liefen ihm nach. Er kam in sein Reich und ritt
ins Schloß zu seinem Bruder Fjodor Zarewitsch.
Fjodor trat mit seiner Zarin auf die Schloßtreppe
heraus, da stürmten die Hengste auf die beiden
los und hätten ihnen beinahe die Köpfe abgeris-
sen. Sie konnten gerade noch in ihre marmornen
Gemächer springen. Die Zarin brüllt zum Fenster
heraus, er solle alle hinausjagen, dieser Spaß sei
nicht nach ihrem Geschmack. Iwan Zarewitsch
führte die Stute auf die Straße hinaus, nahm ihr
den Zügel ab, und die Stute lief mit ihrer Herde
aufs freie Feld, in die weite Welt. Iwan Zarewitsch
ging in sein Schlafgemach, Fjodor Zarewitschs
Weib aber war gleich ganz zahm geworden.
Es verging eine kleine Weile, da begann die Za-
rin, ihren Fjodor Zarewitsch wieder zu plagen. Sie
drohte ihm mit einem schrecklichen Tode, wie ihn
kaum jemand aussinnen kann.
„Wenn du mir aber vom Wildwolf das stählerne
Schwert bringst, will ich dich vom Tode begnadi-
gen.“
Fjodor Zarewitsch wurde sehr betrübt, härmte
sich und vergoß heiße Tränen. Er ging zu seinem
lieben Bruder Iwan Zarewitsch, verneigte sich vor
ihm und bat, er möge ihm helfen in seiner Not.
„Und was ist deine Not?“ fragt Iwan Zarewitsch.
Fjodor Zarewitsch antwortet ihm:

108
„Wieder peinigt mich mein böses Weib. Sie
droht mir mit einem schrecklichen Tode, so
schrecklich, daß niemand ihn aussinnen kann, und
befiehlt mir, vom Wildwolf das stählerne Schwert
zu holen.“
Iwan Zarewitsch antwortet ihm mit folgenden
Worten: „Lieber Bruder, ich will zuerst ein wenig
nachdenken und überlegen.“
Er entfernte sich in sein Schlafgemach und
sprach zu seiner Schönen:
„Teure schöne Jungfrau, ist es möglich, vom
Wildwolf das stählerne Schwert zu beschaffen?
Wenn es möglich ist, dann sag’s, wenn aber nicht,
dann will ich lieber gehen und mein junges Leben
lassen.“
Die schöne Jungfrau sagt zu ihm:
„Wie kannst du so sprechen, Iwan Zarewitsch,
eher will ich mein Leben lassen als du das deine;
aber ich will dir helfen, das stählerne Schwert zu
holen. Geh zuerst und sage deinem Bruder Fjodor,
er soll eine Flotte ausrüsten, und der Kapitän des
Schiffs soll unter deinem Befehl stehen.“
Iwan Zarewitsch ging zu seinem Bruder Fjodor
und trug ihm auf, er solle eine Flotte ausrüsten
und den Kapitän ihm, Iwan Zarewitsch, unterstel-
len. Dann ging er wieder in sein Schlafgemach.
Wie er eintritt, erwartet ihn seine schöne Jung-
frau. In ihren Händen hält sie ein Handtuch und
gibt Iwan Zarewitsch ihren Siegelring:
„Wenn dir der sichere Tod bevorsteht, dann
wasch dich und trockene dich mit diesem Hand-
tuch ab.“

109
Sie küßte Iwan Zarewitsch auf seinen süßen
Mund, begleitete ihn zur Tür und versank darauf
in tiefes Nachdenken.
Iwan verließ sein Reich und kam ans blaue
Meer. Am Ufer stand die ausgerüstete Flotte. Er
betritt das Schiff und befiehlt dem Schiffskapitän,
nach Osten zu segeln.
Sie segelten sehr lange, segelten ein Jahr, ein
zweites, im dritten Jahr aber kamen sie ans ande-
re Ufer. Iwan Zarewitsch nimmt eine Schaluppe
und zwei Matrosen und läßt sich an Land fahren.
Als sie ihn an Land gefahren hatten, befahl er den
Matrosen, auf ihn zu warten, was auch geschehen
möge. Dann ging er in den finsteren dichten Wald.
Ging er nun nah oder fern, hoch oder tief – ein
Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so
bald getan. Er trat aus dem Wald heraus auf eine
große Wiese, auf der Wiese aber steht ein Schloß
aus weißem Marmor. Zu diesem Schloß geht er,
macht das Tor auf und tritt ins Innere. Drinnen
saß eine Alte, ein steinaltes Weib, das hatte
schlohweißes Haar. Er begrüßte die Alte, sie
begrüßte ihn gleichfalls und fragte:
„Woher kommst du, und wohin führt dich dein
Weg?“
Iwan Zarewitsch sagte ihr ohne Umschweife:
„Ich bin aus einem fernen Reich hergeschickt
worden und möchte den Wildwolf sehen.“
„Den Wildwolf zu sehen, wird dir keine Freude,
sondern Leid bringen, er wird dich ganz bestimmt
auffressen. Das wichtigste aber ist, seinen Grimm
zu besänftigen. Ich will dich in eine Nadel ver-

110
wandeln und dann hier sitzen und nähen. Wenn
der Wildwolf geflogen kommt, wird er dich wittern
und nach dir verlangen. Ich zeige dich aber nicht
eher, als bis sein Grimm besänftigt ist.“
Während sie ihn noch in eine Nadel verwandel-
te, ließ sich der Wildwolf auf die Schloßtreppe fal-
len; da erzitterte das Schloß in allen Fugen. Er
kommt in das Marmorgemach und sagte:
„Fuh, fuh, fuh! Von Menschenfleisch kriegt man
sonst nichts zu sehen, nichts zu riechen, aber
heute ist ein Mensch von selbst ins Schloß ge-
kommen.“
Dann sagt er zu der Alten:
„Gib her, ich will ihn fressen.“
Die Alte sagt zu ihm:
„Du bist über die ganze Welt geflogen, hast
dich voll Menschengeruch gesogen, und jetzt
sagst du, ein Mensch wäre von selbst ins Schloß
gekommen.“
Der Wildwolf lief ein wenig umher und legte sich
dann hin, um auszuruhen. Sein Grimm schwand,
und er bat die Mutter, sie möge ihm etwas zu es-
sen geben. Da ließ sie Iwan Zarewitsch los.
„Oho, Iwan Zarewitsch“, sagt der Wildwolf,
„weswegen bist denn du hierher zu mir gekom-
men?“
Iwan Zarewitsch antwortet:
„Was heißt denn das, Wildwolf, du hast mir
noch nichts zu essen, noch nichts zu trinken ge-
geben und fragst schon nach Neuigkeiten!“
Da stellte die Mutter Eisensuppe und Stahlbrot
auf den Tisch. Der Wildwolf bittet Iwan Zare-

111
witsch, sich an den Tisch zu setzen, und sie be-
gannen zu essen. Iwan Zarewitsch hatte erst ei-
nen Löffel gegessen, da hatte der Wildwolf schon
zwei oder drei hinuntergeschlungen und im Nu
alles, was da war und was nicht da war, aufge-
fressen. Darauf unterhielten sie sich. Der Wildwolf
sagt zu Iwan Zarewitsch:
„Trotzdem muß ich dich fressen, Iwan Zare-
witsch, das ist in meinem Reich so üblich.“
Iwan aber sagt zu ihm:
„Trotzdem sollst du mich nicht fressen. Erst
wollen wir Karten spielen. Gewinnst du, dann
magst du mich fressen, gewinnst du nicht, darfst
du mich nicht fressen.“
Der Wildwolf begann, am Tisch die Karten zu
mischen, und sagt:
„Wir wollen aber ausmachen, daß wir Karten
spielen und nicht einschlafen. Wer einschläft, hat
verspielt.“
Sie setzten sich und begannen zu spielen. Sie
spielten einen Monat, einen zweiten, im dritten
Monat aber wurde Iwan Zarewitsch müde. Da sagt
der Wildwolf zu ihm:
„Was ist, Iwan Zarewitsch, bist du müde?“
„Nein, ich bin nicht müde.“
„Und warum hast du den Kopf sinken lassen?“
„Ich habe nachgedacht.“
„Und was hast du gedacht, Iwan Zarewitsch?“
„Ich habe nachgedacht, – ob es mehr Bäume
gibt, die stehen, oder mehr, die liegen.“
Da sagt der Wildwolf:

112
„Wer kann denn wissen, ob es mehr Bäume
gibt, die stehen, oder mehr, die liegen?“
Der Zarewitsch sagt:
„Du kannst doch großartig fliegen, Wildwolf,
flieg los und sieh nach, ich werde inzwischen die
Karten mischen.“
Der Wildwolf ließ sich sofort zu Boden fallen,
stand auf, schüttelte sich und flog los, Iwan Za-
rewitsch aber legte sich aufs Sofa und schlief. Der
Wildwolf flog einen Monat, einen zweiten, im drit-
ten Monat aber kam er zurück, da hatte Iwan Za-
rewitsch inzwischen ausgeschlafen, sitzt da und
mischt die Karten. Als der Wildwolf das Schloß
betrat, fragt ihn Iwan Zarewitsch:
„Nun, weißt du jetzt, ob es mehr stehende oder
mehr liegende Bäume gibt?“
„Mehr liegende“, antwortete der Wildwolf.
Die Mutter setzte ihnen wieder Eisensuppe und
Stahlbrot vor, und sie begannen zu essen. Iwan
hatte erst einen Löffel gegessen, da hatte der
Wildwolf schon zwei oder drei hinuntergeschlun-
gen und die ganze Suppe aufgefressen, Iwan Za-
rewitsch aber blieb hungrig. Wieder begannen sie
Karten zu spielen. Sie spielen einen Monat, einen
zweiten und spielen auch einen dritten Monat. Da
wurde Iwan Zarewitsch wieder müde. Der Wild-
wolf sagt:
„Was machst du?“
„Ich denke nach“, antwortet Iwan Zarewitsch.
„Und worüber denkst du nach?“
„Ich denke nach, ob es mehr Frauen oder mehr
Männer gibt.“

113
„Wer kann denn das wissen“, sagt der Wildwolf.
„Ihr könnt doch großartig fliegen. Fliegt und
seht nach!“
Der Wildwolf ließ sich zu Boden fallen, stand
auf, schüttelte sich und flog los, Iwan Zarewitsch
aber legte sich schlafen. Der Wildwolf flog einen
Monat, flog einen zweiten, im dritten Monat aber
kam er zurückgeflogen, da ist Iwan Zarewitsch
beim Kartenmischen. Der Wildwolf kommt an und
betritt das Schloß. Iwan Zarewitsch fragt ihn:
„Nun, weißt du jetzt, ob es mehr Männer oder
mehr Frauen gibt?“
„Ja, jetzt weiß ich’s: mehr Frauen.“
Die Mutter stellte Eisensuppe und Stahlbrot auf
den Tisch. Sie setzten sich und begannen zu es-
sen. Iwan hatte erst einen Löffel gegessen, da
hatte der Wildwolf schon zwei oder drei hinunter-
geschlungen. Die ganze Suppe fraß der Wildwolf,
Iwan Zarewitsch aber blieb hungrig. Sie setzten
sich wieder zum Spiele; spielen einen Monat, spie-
len einen zweiten, im dritten Monat aber wurde
Iwan Zarewitsch sehr müde und schlief schließlich
ein. Der Wildwolf stieß ihn in die Seite:
„Warum schläfst du?“
Iwan Zarewitsch entschuldigte sich, daß er ein-
geschlafen war.
„Du kannst mich jetzt fressen, erlaube mir nur,
mich vor dem Tode ein letztes Mal zu waschen.“
Der Wildwolf zeigte ihm das Waschbecken. Als
Iwan aber am Waschbecken stand, zog er den
kostbaren Ring seiner schönen Auserwählten ab
und wusch sich. Als er sich gewaschen hatte, hol-

114
te er das Handtuch hervor und trocknete sich ab.
Da bemerkte der Wildwolf das Handtuch und
sprang hinzu:
„Woher hast du dieses Handtuch?“
„Das ist mein Handtuch.“
„Wie kann es deines sein, wenn es das Hand-
tuch meiner leiblichen Schwester ist.“
Als der Wildwolf aber den Ring erblickte, da
blieb er wie gebannt stehen. Es war das der Ring
des Wildwolfs, und er fragte sogleich:
„Wo ist meine Schwester?“
Iwan Zarewitsch sagte:
„Wir haben uns gelobt, einander ewig zu lie-
ben.“
Da riß ihn der Wildwolf in seine Arme, drückte
ihn an sich und küßte ihn.
„So wirst du also durch meine Schwester mein
lieber Schwager.“
Als der Wildwolf aber ging und seiner Mutter
von der Schwester erzählte, ihrer Tochter, und
sagte: „Dieser hier ist Euer Schwiegersohn“, da
wurde die Alte mit einem Male wieder jung wie
eine Dreißigjährige. Der Wildwolf trat an einen
Tisch aus Eichenholz, klopfte mit seinem Zeigefin-
ger darauf, da erschienen, man sah nicht woher,
mannigfaltige Speisen, Getränke und Leckerbis-
sen, eingemachte Früchte von jenseits des Meeres
und süße Erfrischungen. Sie setzten Iwan Zare-
witsch an den Tisch und begannen zu trinken, zu
feiern und fröhlich zu sein. Da nun erzählte Iwan
Zarewitsch seinem Schwager, daß er vom Bruder
geschickt worden sei, das stählerne Schwert zu

115
holen, denn des Bruders Weib verlange, was ihr
gefiele. „Deswegen bin ich also hier.“
Der Wildwolf machte sich geschwind fertig, warf
sich auf die Erde, stand als Wildwolf wieder auf
und gab Iwan Zarewitsch sein stählernes Schwert.
Dann hieß er Iwan Zarewitsch, sich auf ihn, das
heißt den Wildwolf, zu setzen:
„Steig auf und halt dich an meinem Fell gut
fest!“
Und er flog dahin, schneller als der Sturmwind,
wie ein stählerner Pfeil vom straff gespannten Bo-
gen. Er erhob sich über die ragenden Wälder, un-
ter die ziehenden Wolken. Sie holten die Flotte
ein, mit der Iwan Zarewitsch gekommen war. Die
Flotte hatte nämlich nicht auf Iwan Zarewitsch
gewartet, sondern war zur Heimfahrt wieder in
See gestochen. Der Wildwolf ließ sich auf das
Schiff fallen, daß die ganze Flotte erzitterte. Alle
glaubten, es sei irgendeine Katastrophe eingetre-
ten, doch statt einer Katastrophe waren es Iwan
Zarewitsch und der Wildwolf. Der Schiffskapitän
entschuldigte sich, daß er nicht gewartet hatte.
Iwan Zarewitsch verzieh dem Kapitän.
Sie kamen in Fjodor Zarewitschs Reich, und der
Wildwolf und Iwan Zarewitsch gingen heimlich in
Iwans Schlafgemach. Als die Schwester ihren
Bruder Wildwolf erblickte, begann sie vor Freude
zu weinen. Alle drei setzen sich an den Tisch, und
nun beginnt das Fragen und Antworten. Iwan Za-
rewitsch erkundigte sich nach seinem leiblichen
Bruder Fjodor Zarewitsch, wie es ihm gehe. Die
wunderschöne Jungfrau sagt, daß Fjodor Zare-

116
witsch jetzt die Schweine hüte. Die Zarin hatte ihn
einfach aus dem Schlosse gejagt.
Am nächsten Tag gingen der Wildwolf und Iwan
Zarewitsch frühzeitig aufs Feld, wo Fjodor Zare-
witsch die Schweine hütete. Fjodor Zarewitsch
ging barfuß, in Lumpen, treibt die Schweine mit
einer Knute, und als er seinen Bruder Iwan Zare-
witsch erblickte, traute er seinen Augen nicht.
Erst als Iwan zu ihm trat und seinen lieben Bruder
küßte, traute Fjodor Zarewitsch seinen Augen und
begann zu erzählen, wie es ihm ergangen war und
wie er mit seinen Schweinen auf dem Felde um-
herzieht.
Der Wildwolf warf sich auf die Erde, stand als
Fjodor Zarewitsch wieder auf, nahm die Knute
und zog mit den Schweinen los. Als er die
Schweine ins Schloß hineintrieb, kam die Zarin
mit einer Peitsche herausgestürmt und wollte ihn
auspeitschen. Der Wildwolf aber packte sie am
Kragen, drückte sie nach unten an seine Beine
und ließ sie die Knute kosten; und er prügelte sie,
bis sie kaum noch am Leben war. Sie leistete dem
Fjodor Zarewitsch einen Eid, ihn ihr ganzes Leben
lang in Ehren zu halten und zu lieben. Der Wild-
wolf verlangte von ihr das Zarengewand, und als
er es angelegt hatte, ging er zu Iwan Zarewitsch,
als wäre er sein Bruder Fjodor Zarewitsch. Fjodor
Zarewitsch aber saß bei Iwan Zarewitsch im
Schlafgemach. Der Wildwolf kommt hinein und
sagt zu Fjodor Zarewitsch:
„Laß dir’s wohlgehen und mach deine Sache
gut: von nun an wird dir dein Weib gehorchen.“

117
Sie nahmen alle voneinander Abschied, und
Fjodor Zarewitsch ging in seine Gemächer. Die
anderen gingen auf den Hof hinaus. Die wunder-
schöne Jungfrau breitete ihren fliegenden Teppich
aus, alle drei setzten sich darauf und flogen in des
Wildwolfs Reich. Dort feierten sie ein schönes
Fest. Alle Welt war eingeladen. Auch ich bin dort
gewesen, hab Honigbier getrunken und Gurken
drauf gegessen.

118
23
Iwan-Wassersohn und Michail-
Wassersohn
Ein Pope hatte eine Tochter, die war schon eine
alte Jungfer. Sie war ganz neidisch auf Leute, die
Kinder hatten.
„Ich bin ohne Kinder“, sagt sie, „eine alte Jung-
fer, was soll aus mir werden?“
Einmal ging sie mit zwei Eimern, Wasser zu ho-
len. Wie sie den einen Eimer vollgeschöpft hat,
sieht sie, im Eimer schwimmt ein Fläschchen. Sie
nahm das Fläschchen und trank es ganz aus, so
süß schmeckte es ihr. Sie schöpft mit der rechten
Hand den zweiten Eimer voll und sieht, auch im
zweiten Eimer ist ein Fläschchen. Da trank sie
auch das zweite Fläschchen aus, und auch das
schmeckte süß. Und auf einmal spürt sie, daß sie
schwanger ist. In ihrem Leib wuchsen die Kinder
nicht von Stunde zu Stunde, sondern von Minute
zu Minute. Es vergingen vierzig Stunden, da gebar
sie zwei Knaben. Die beiden Kinder wurden ge-
tauft, der eine auf den Namen Michail-
Wassersohn, der andere auf den Namen Iwan-
Wassersohn.
Die Kinder wuchsen rasch heran, innerhalb von
sechs Wochen. Wie sie zwanzig Jahre alt sind,
wollen sie das Jägerhandwerk ergreifen. Sie gin-
gen und bestellten sich gleiche Gewehre, erhielten

119
die Gewehre in wenigen Minuten und zogen auf
die Jagd.
Wie sie so gehen, liegt da ein Hase. Sie legen
an und wollen auf ihn schießen, da spricht der Ha-
se zu ihnen:
„Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“
Sie gehen weiter – da liegt da ein Fuchs. Sie le-
gen an und wollen auf ihn schießen, aber der
Fuchs sagt zu ihnen:
„Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“
Weiter gehen sie – da liegt da ein Wolf. Sie le-
gen an und wollen auf ihn schießen, er aber sagt
zu ihnen mit Menschenstimme:
„Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch
dienen!“
Sie gehen weiter – da liegt ein Bär. Wieder le-
gen sie an und wollen auf ihn schießen, er aber
spricht zu ihnen mit Menschenstimme:
„Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch
dienen!“
Sie gehen weiter – da liegt ein Löwe. Sie legen
an und wollen wieder schießen, aber der Löwe
spricht mit Menschenstimme:
„Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch
dienen!“
Weiter gehen sie – da liegt ein Tiger. Sie legen
an und wollen auf ihn schießen, da spricht er mit
Menschenstimme:
„Schießt nicht auf mich, Burschen, ich will euch
dienen!“

120
Wieder gehen sie weiter – da liegt ein Falke. Sie
legen an und wollen auf ihn schießen, der Falke
aber sagt zu ihnen:
„Schießt nicht auf mich, ich will euch dienen!“
So zogen sie durch den Wald, und alle Tiere,
die sie fanden, sagten zu ihnen: „Wir wollen euch
dienen!“
Danach kehrten sie heim. Zwölf Tage blieben
sie zu Hause, dann gingen sie den gleichen Weg,
ihre Meute zu sammeln. Sie versammelten ihr
Tiervolk, alle ihre Falken und verschiedene abge-
richtete Vögel und zogen auf die Jagd.
Sie liefen und liefen und kamen schließlich an
einen Kreuzweg. Auf dem einen Weg stand ge-
schrieben: „Zum Reichtum“, auf dem anderen
aber „Zum Tode“. Sie warfen das Los. Michail-
Wassersohn erloste „Zum Reichtum“, Iwan-
Wassersohn aber erloste „Zum Tode“.
Da einigten sie sich wie folgt: Die Meute teilten
sie in zwei gleiche Hälften, und jeder bekam ein
Gewehr. Sie selbst aber hatten das gleiche Ge-
sicht, man konnte sie nicht unterscheiden.
„Jetzt werde ich jene Straße ziehen, Bruder,
und du diese. Wenn du tot bist“, sagt Michail-
Wassersohn zu Iwan, „so wird mein Gewehr
schwarz werden. Dann werde ich dich suchen.“
Und wenn Iwans Gewehr schwarz wird, dann ist
Michail nicht mehr am Leben.
Sie nahmen Abschied voneinander und zogen
auf verschiedenen Wegen davon: dieser mit sei-
ner Meute, nämlich Michail-Wassersohn, Iwan-
Wassersohn aber mit der seinen.

121
Iwan lief und lief und kam, siehst du wohl, zu
einem Feld. Auf dem Felde aber steht ein Wirts-
haus. Der Wirt sagt:
„Wozu bist du hierhergekommen? Hier“, sagt
er, „hat der Drache Gorynytsch1 schon alle aufge-
fressen.“
„Was ist das für ein Kerl?“
„Heute“, sagt der Wirt, „haben sie die Zaren-
tochter für ihn hergebracht.“
Sie hatten dort aber einen Turm errichtet, in
den brachten sie die Menschen, die der Drache
dann fraß.
Iwan-Wassersohn sagt:
„Um welche Stunde kommt er denn geflogen?“
„Um zwölf.“
Iwan trank einen Schnaps.
„Weißt du“, sagt er dann, „ich will gehen und
mir ihn ansehen.“
Nahm sein Gewehr und ging an die Stelle. Wie
er hinkommt, ist dort die Zarentochter und trägt
schon den Totenschmuck.
„Ach, wackerer Held, was willst du hier? Der
Drache Gorynytsch wird geflogen kommen, wird
mich fressen und auch dich nicht verschonen!“
„Was ist das für ein Kerl? Er wird daran erstik-
ken! Komm herunter, wir wollen uns ein wenig
unterhalten.“
An die fünf Minuten hatten sie miteinander ge-
sprochen, da sehen sie, wie der Drache Gory-
nytsch geflogen kommt. Nicht weit von dieser

1
Gorynytsch – etwa „der vom Berge“. (Anm. d. Übers.)

122
Stelle war eine Brücke. Iwan-Wassersohn stellte
sich mit seinem Gewehr unter die Brücke und
wartet.
Der Drache Gorynytsch kommt herbeigeflogen:
„Ich rieche Menschenfleisch!“
Iwan-Wassersohn antwortet:
„Was für Menschenfleisch riechst du?“
Darauf der Drache Gorynytsch – er hatte aber
drei Köpfe –:
„Wie steht’s, wollen wir miteinander kämpfen
oder Frieden halten?“
Iwan antwortet:
„Nicht dazu bin ich gekommen, Frieden zu hal-
ten, sondern um zu kämpfen!“
Damit schwang er den Säbel und schlug ihm
mit einem Male zwei Köpfe ab, schwang ihn ein
zweites Mal und trennte ihm den letzten Kopf ab,
und wie er den Säbel das dritte Mal geschwungen
hatte, war der Drache völlig erledigt. Er hackte
ihn in kleine Stücke, hob einen gewaltigen Stein in
die Höhe und legte die Drachenknochen darunter.
Dann geht er zur Zarentochter, nimmt sie bei der
Hand und führt sie davon. An jener Stelle, auf der
Brücke, nahm er Abschied von ihr. Sie aber gab
ihm als Andenken ihr Taschentuch.
Wo immer Tschugunkin der Zigeuner auch sein
mochte, immer war er mit einem Fäßchen nach
Wasser unterwegs. Er drehte das Fäßchen um:
„Steig auf, Zarentochter, ich fahr dich heim!“
Und freut sich über den glücklichen Zufall.
Während sie fuhren, fragt er sie aus: „Wie bist du
denn am Leben geblieben?“

123
„Ein wackerer Held ist gekommen, der hat mich
freigekämpft.“
Er droht ihr:
„Sag, ich hätte dich freigekämpft sonst bringe
ich dich auf der Stelle um!“
Die Zarentochter fürchtete den Tod und schwur
einen Eid, sie wolle es so sagen.
Mutter und Vater sahen ihr Kind, ihre Tochter,
gefahren kommen:
„Ach, liebes Kind, wie bist du am Leben geblie-
ben?“
Tschugunkin der Zigeuner sagt:
„Ich habe sie freigekämpft.“
Da werden ihm Achtung und hohe Ehren zuteil.
Wie der Abend kommt, muß Katja, die zweite
Schwester, dorthin fahren. Ach, wie weint sie da:
„Meine ältere Schwester ist am Leben geblie-
ben, ich aber muß sterben, muß mich fressen las-
sen!“
Sie wurde genauso geschmückt und am glei-
chen Platz abgesetzt.
Da kommt Iwan-Wassersohn:
„Sei gegrüßt, schöne Jekaterina!“
„Sei gegrüßt, sei gegrüßt, wackerer Held. Wes-
wegen hat Gott dich hierher verschlagen?“
„Gerade deinetwegen.“
„Hast du denn von mir gehört?“
„Ja“, sagt er, „ich will dich freikämpfen.“
„Ach, wenn Gott das doch gewähren wollte“,
sagt Katja, „ich würde deine Braut.“
„Nun, soweit ist es noch nicht“, sagt Iwan-
Wassersohn.

124
Kaum haben sie zu Ende gesprochen, da
kommt der zweite Drache Gorynytsch geflogen.
Der hatte sechs Köpfe. Iwan begab sich wieder
unter die Brücke.
Der Drache kommt an die Brücke:
„Ich rieche Menschenfleisch!“
„Was für Menschenfleisch riechst du?“
„Kämpfen wir, oder halten wir Frieden?“
„Nicht dazu bin ich gekommen, Frieden zu hal-
ten, sondern um zu kämpfen!“
Er holte zum ersten Mal aus – da flogen gleich
drei Köpfe herunter, holte ein zweites Mal aus –
und wieder flogen drei herunter. Beim dritten Mal
hatte er ihn ganz und gar zusammengehauen,
hob den gewaltigen Stein in die Höhe und legte
die Knochen darunter. Darauf geht er zu Katja
und sagt:
„Komm mit mir“, sagt er.
Und nahm sie bei der Hand. Sie dankte Iwan-
Wassersohn und schenkte ihm ihren Siegelring.
Iwan begab sich wieder zum Wirtshaus, trank ein
Schnäpschen und legte sich schlafen.
Katja macht sich auf den Weg, und wieder
kommt Tschugunkin der Zigeuner gefahren, um
Wasser zu holen. Wie beim ersten Mal kehrt er
das Fäßchen um und setzt Katja, die zweite Za-
rentochter, auf den Wagen.
„Wie bist du denn am Leben geblieben?“
Sie erzählte ihm: so und so ist es gewesen.
Er drohte auch ihr:
„Sag, ich hätte dich freigekämpft, sonst bringe
ich dich um!“

125
Nun, auch Katja will nicht gern sterben, und sie
schwur einen Eid:
„Ich will sagen, daß du mich freigekämpft hast.“
Vater und Mutter freuten sich, gaben dem Zi-
geuner zu essen und zu trinken und erweisen ihm
alle Ehren.
In der dritten Nacht bringen sie die letzte Toch-
ter an den gleichen Platz.
Iwan-Wassersohn macht sich bereit, gleichfalls
hinzugehen, und trägt dem Wirt auf:
„Stell ein Glas mit Wasser vor dich. Wenn es zu
sieden anfängt, laß meine Meute los.“
Iwan kam an die Stelle:
„Sei gegrüßt, schöne Jungfrau!“
„Meinen Gruß, wackerer Held! Weswegen hat
Gott dich hierher verschlagen?“
„Gerade deinetwegen, ich will dich freikämp-
fen.“
Darauf sie:
„Wollte Gott es gewähren, ich würde deine
Braut.“
„Komm herunter, wir wollen miteinander re-
den.“
Sie kam vom Turm herunter. Er band einen drei
Pud schweren Stein über sich fest, und sie setzten
sich beide unter diesen Stein.
„Paß auf mich auf“, sagt Iwan. „Wenn ich ein-
schlafe, mußt du mich aufwecken. Kommt nun der
Drache geflogen“, sagt er, „und du kriegst mich
nicht munter, dann laß den Stein auf mich herun-
terfallen.“

126
Der Drache kam geflogen. Sie rief und rief,
konnte Iwan jedoch auf keine Weise munter krie-
gen. Aber sie mochte den Stein nicht herunterfal-
len lassen, ihn nicht losbinden, denn sie fürchtete,
es würde sein Tod sein. Da begann sie bitterlich
zu weinen. Eine Träne aber tropfte herab und fiel
auf seine Wange. Iwan-Wassersohn sprang in die
Höhe – so heiß war ihre Träne gewesen.
„Ach“, sagt er, „wie hast du mich verbrannt!
Aber das macht nichts!“
Winkte ihr zu und rannte unter die Brücke.
Diesmal kam ein Drache mit zwölf Köpfen ge-
flogen:
„Ich rieche Menschenfleisch!“
Iwan-Wassersohn antwortet:
„Was für Menschenfleisch riechst du? Ich bin’s,
Iwan-Wassersohn!“
„Schon gut, schon gut“, sagt der Drache, „habe
schon gehört vom Hundesohn Iwan. Dem will ich’s
im Kampf schon zeigen!“
Jener holte aus, nämlich Iwan-Wassersohn, da
lagen sechs Köpfe unten. Der Drache holte mit
dem Schwanz aus – die sechs Köpfe waren wieder
nachgewachsen. Er holte ein zweites Mal aus, und
wieder flogen sechs Köpfe herunter. Der Drache
holte ein zweites Mal mit dem Schwanz aus und
hatte wieder sechs neue Köpfe. Zum dritten Mal
holte Iwan-Wassersohn aus, schlug sechs Köpfe
herunter und zerschlug dabei seinen Säbel. Der
Drache bekommt Iwans Hand mit den Zähnen zu
packen.

127
Jener Wirt aber hatte gesessen und gesessen
und war dabei eingeschlafen. Das Glas siedete
und siedete, platzte und traf ihn an der Backe.
„Oh weh“, sagt er, „ich hab’s verschlafen!“
Iwans Meute aber war hinter zwölf Türen einge-
sperrt gewesen. Sechs Türen hatte die Meute
schon durchgebissen, schlug mit den Füßen,
knirschte mit den Zähnen und heulte. Der Wirt
ließ die Meute los. Da stürzten sie sich auf den
Drachen, rissen ihn in Stücke und befreiten Iwan-
Wassersohn aus seiner Not. Seine Hand war ein
wenig zerbissen.
„Das macht nichts“, sagte er, „das heilt wie-
der!“
Er sammelte die Knochen des Drachen zusam-
men und legte auch sie unter den gewaltigen
Stein zu den Knochen seiner Brüder.
Die Zarentochter Maria nahm ein Tuch von ih-
rem Kleid, verband ihm die Hand und gab ihm ih-
ren Fingerring. Er ging nach Hause, trank einen
Schnaps und legte sich schlafen. Dem Wirt aber
trug er auf, niemandem Schnaps zu geben.
Genau wie gestern kommt Tschugunkin der Zi-
geuner gefahren. Er erblickte Maria, die Zaren-
tochter, stürzt das Fäßchen um und setzt sie auf
seinen Wagen.
„Nun, wie bist du am Leben geblieben?“
„Ein wackerer Held hat mich freigekämpft“, sagt
sie.
„Sag, ich war’s, sonst ist es dein Tod!“
Sie erschrak, die Zarentochter Maria, und
schwur:

128
„Ich will sagen, du warst’s!“
Maria aber war die beste, die schönste unter
den Zarentöchtern.
Er sagt:
„Ich werde dich heiraten!“
„Wenn du’s willst, werde ich deine Frau!“
Er brachte sie also heim, und Vater und Mutter
sind froh: die dritte Tochter hatte er freigekämpft.
Man erweist ihm Achtung und hohe Ehren. Der
Zigeuner aber frohlockt und trägt die Nase hoch,
daß man ihm Ehren erweist. Er schickt sich an,
die Zarentochter Maria zu heiraten, Vater und
Mutter sind einverstanden und geben sie ihm hin.
Und, was denkst du, am Abend soll Hochzeit sein,
soll der Zigeuner mit Maria, der Zarentochter,
vermählt werden! Alle sind schon versammelt, da
schickt man nach Schnaps ins Wirtshaus. Der Wirt
aber gibt keinen Schnaps heraus. Der Zar sagt:
„Was heißt das, gibt keinen Schnaps heraus?“
Und schickt seinen Diener:
„Sag, der Zar hat’s befohlen!“
Der Wirt aber sagt:
„Ich habe meinen eigenen Zaren!“
Der Diener kommt zurück und berichtet’s. Da
wurde der Zar böse:
„Was ist das denn für ein Zar?“
Nimmt seinen Säbel und will selbst fahren.
Die Töchter aber witterten schon, was hier vor-
ging.
„Väterchen, wir möchten mitfahren!“
„Gut, fahren wir!“
Wie sie dort sind, fragt er:

129
„Wo ist dieser Zar?“
„Hier liegt er und schläft.“
Iwan-Wassersohn aber schlief einen gewaltigen
Schlaf. Die Mädchen traten heran und erkannten
ihn.
Der Zar bemerkte an Iwans Hand das Tuch sei-
ner Tochter Maria.
Und plötzlich tritt die erste hinzu und holt ein
Tüchlein aus seiner Tasche:
„Das ist mein Tüchlein, Väterchen“, sagt sie,
„mit meinem Namen.“
Die zweite aber sagt:
„Ach, Väterchen, sieh nur, mein Siegelring
steckt an seinem Finger.“
Die dritte sagt:
„Und dies ist mein goldener Fingerring.“
Und sie können ihn nicht munter bekommen.
Da ließen sie eine Kanone herbringen und began-
nen, aus der Kanone zu schießen, um ihn zu wek-
ken.
Iwan-Wassersohn erwachte und sah die Menge
Volks.
„Was ist“, sagt er, „warum stehen die vielen
Leute hier?“
„Die Leute wollen Schnaps für eine Hochzeit
haben.“
„Wer wird verheiratet?“
„Tschugunkin der Zigeuner!“
„Und weswegen, wieso?“
Der Zar begann, seine Worte zu erläutern:
Tschugunkin habe seine Kinder freigekämpft.
Iwan-Wassersohn will von ihm erfahren, wie er sie

130
freigekämpft hat. Sie fuhren an die Stelle, wo er
mit den Drachen gekämpft hatte. Tschugunkin der
Zigeuner zeigt:
„Hier“, sagt er, „habe ich sie niedergehauen
und dann unter diesen Stein gelegt.“
„Nun“, sagt Iwan Wassersohn, „heb mal hoch
und laß uns die Knochen sehen!“
Der Zigeuner wand und drehte sich, aber von
Heben ist keine Rede, nicht einmal ansehen kann
er den Stein.
Der Zar merkt, daß der Zigeuner im Unrecht ist
und lügt.
Iwan-Wassersohn hebt den Stein in die Höhe,
und der Zar sieht, wieviele Drachenköpfe und
Drachenknochen dort liegen. Vor Entsetzen wurde
er ganz bleich. Iwan packte den Zigeuner bei den
Haaren, legte ihn dorthin zum Drachen und wälzte
den Stein wieder darüber.
Da glaubte der Zar dem Iwan-Wassersohn, daß
alles sein Werk war, daß er alle drei freigekämpft
hatte. Von nun an fürchteten sie den Zigeuner
nicht mehr, sondern waren lieb und zärtlich zu
Iwan-Wassersohn.
Iwan-Wassersohn sagt:
„Ich will Eure Tochter Maria zur Frau nehmen!“
Vater und Mutter segneten ihre Tochter und
brachten sie zur Vermählung. Da wurden sie Mann
und Frau.
So lebten sie nicht gar zu kurze, aber auch
nicht gar zu lange Zeit. Einmal ging Iwan-
Wassersohn mit seinen Tieren auf die Jagd. Lange
lief er im Walde umher, da fing er einen goldenen

131
Hasen. Er ließ ihn aber wieder laufen. Und weiter
liefen sie im Wald umher, bis es Abend wurde. Sie
wurden von der Dunkelheit überrascht und muß-
ten die Nacht im Walde zubringen, Iwan-
Wassersohn und seine Meute. Sie entfachten ein
Feuer, er wärmte sich und brät sich dann Schin-
ken zum Abendessen. Die Meute aber sitzt um ihn
herum. Da kommt, was meinst du, ein steinaltes
Weib:
„Wackerer Held, bind deine Meute an, ich fürch-
te mich sonst! Laß mich ein wenig ans Feuer!“
„Komm, Mütterchen, meine Meute wird dich
nicht anrühren!“
„Nein, ich fürchte mich; nimm dieses Gürtel-
chen und binde die Meute fest, damit sie sich
nicht vom Flecke rühren und mich nicht beißen
kann.“
Er lieg sich verleiten, nahm den Gürtel und
band die Meute. Da wurden alle seine Tiere zu
Stein. Die alte Hexe aber war des Drachen Gory-
nytsch Mutter. Sie warf sich auf ihn, biß ihn zu
Tode, schnitt ihn in Stücke, salzte die Stücke ein,
warf sie in einen Korb und vergrub den Korb im
Walde.
Wie der Bruder Iwans, Michail-Wassersohn, sein
Gewehr ansieht, ist es ganz schwarz geworden.
Da weinte er bitterlich und begann, den Bruder zu
suchen. Er kommt in jenes Reich und zu jenem
Wirt:
„Guten Tag!“
„Guten Tag!“

132
Der Wirt nennt ihn Iwan-Wassersohn, verkann-
te ihn also: „Warum hast du dich denn so lange
nicht sehen lassen? Kaum geheiratet, und gleich
hochmütig geworden l“
Michail merkte, daß der Wirt ihn verkannte. Und
es war unmöglich, sie zu unterscheiden, sie hat-
ten ein und dasselbe Gesicht, auch ihre Meute war
ein und dieselbe, alle Tiere und Vögel. Er kommt
zum Schwiegervater Iwans und zu seinem Weib.
Die freute sich, denn sie hatte ihn lange nicht ge-
sehen. Er wurde freundlich aufgenommen und
bewirtet, blieb aber unfroh. Sie nennt ihn Iwan-
Wassersohn, umarmt und küßt ihn. Aber nein, es
ist nicht das richtige, immer seufzt er. Er spricht
zwar viel, aber doch ohne den richtigen Eifer
(liebkost sie nicht, wie ein Gemahl liebkost). Und
gibt sich nicht zu erkennen, will sie nicht damit
erschrecken, daß ihr Mann nicht mehr lebt; er er-
schreckt sie nicht.
Dann legen sie sich schlafen. Er zieht weder die
Kleider noch die Schuhe aus. Sie ruft ihn: „Wanja,
Wanja“, aber er dreht sich mit dem Gesicht zur
Wand, der Michail-Wassersohn, seufzt und weint
bitterlich. Sie fragt ihn:
„Hat dich vielleicht jemand gekränkt, hat dich
vielleicht jemand bestohlen, oder hast du ein Tier
aus deiner Meute verloren?“
Er schweigt weiter, weint nur und weint. Am
Morgen erhebt er sich, ißt – sie brachten ihm zu
essen und zu trinken – und geht auf die Jagd.
Er lief lange, den gleichen Weg. Den gleichen
goldenen Hasen fing er, und der führte ihn fast an

133
die gleiche Stelle, wo damals sein Bruder lag. Er
wurde von der Dunkelheit überrascht und mußte
mit seiner Meute im Wald übernachten. Er fachte
ein Feuer an, holte Schinken aus seiner Jagdta-
sche, brät sich ein Abendbrot, sitzt und wärmt
sich zusammen mit seiner Meute. Und, was
denkst du, auf einmal kommt die Alte zu ihm:
„Sei gegrüßt, wackerer Held!“
„Gruß, Gruß“, erwidert Michail-Wassersohn un-
lustig.
„Kann ich mich bei dir ein wenig wärmen?“
„Das kannst du.“
„Nimm doch dieses Gürtelchen und binde deine
Meute an, ich habe Angst.“
„Komm nur, komm, hab keine Angst, meine
Meute rührt dich nicht an“, gibt Michail ihr grob
zur Antwort.
„Nein, guter Mann, nimm das Gürtelchen und
binde sie fest.“
Er nahm das Gürtelchen und warf’s ins Feuer.
Das Weib wollte sich schon auf Michail-
Wassersohn stürzen, da packte der Löwe sie um
die Mitte und der Bär lief hinzu, sie zu halten.
„Oh, Michail-Wassersohn, laßt mich los!“
„Sag, wo ist mein Bruder?“
„Ich will’s sagen und dich führen!“
„Dann führe mich!“
Von jener Stelle aus liefen sie zehn Saschen
und fanden des Bruders ganze versteinerte Meute.
„Sprich, du Satan, womit kann man sie wieder
zum Leben erwecken, diese Meute?“
„Nimm dieses Fläschchen und besprenge sie.“

134
Er nahm das Fläschchen und besprengte die
Meute, da schüttelten sich die Tiere und sprangen
auf: der Löwe schlägt mit den Pranken und brüllt,
und mit ihm brüllt die ganze Meute – ihr Herr ist
nicht da.
„Sprich, alter Satan, wo ist mein Bruder?“
„Au, laßt mich los, ich will zeigen, wo er ver-
graben liegt!“
„Nein, ich lasse dich nicht los, doch führe uns!“
Sie führte sie hin, der Bruder wurde ausgegra-
ben und sah aus wie lebendig. Sie legten die
Stücke aneinander, und die Tiere beleckten ihn
mit ihren Zungen. Alle Narben und alle Wunden
leckten sie zu, als wären sie genäht.
„Sag, du Teufel, wie kann man ihn wieder zum
Leben erwecken?“, fragte Michail-Wassersohn.
In diesem Augenblick kam eine andere Zaube-
rin vorbeigeflogen – eine Elster.
„Fangt diese Elster da!“
Der Falke warf sich mit einem Male steil in die
Luft, packte die Elster, zerriß sie über Iwan-
Wassersohn und besprengte ihn mit ihrem Blut.
Iwan-Wassersohn stand auf und sagt: „Ach,
Bruder, hab ich lange geschlafen!“
„Ja“, sagt der Bruder, „lange hättest du ge-
schlafen, lange!“
Die Alte aber erschlug er, riß sie in Stücke und
vergrub sie an eben dieser Stelle.
Dann machen sich die beiden Brüder auf den
Weg. Iwan rühmt sich vor Michail:
„Bruder, ich habe geheiratet!“
Michail sagt:

135
„Ich bin bei euch gewesen, habe dein Weib ge-
sehen, bei ihr geschlafen!“
Das ertrug Iwan-Wassersohn nicht, die Eifer-
sucht packte ihn, und er schlug dem Bruder den
Kopf ab. Die Meute umringte Michail-Wassersohn
und heult, Iwan-Wassersohn aber geht zum
Schloß. Er kommt nach Hause zu seinem jungen
Weib. Doch sein Weib, von Michail gekränkt, emp-
fängt ihn ohne Freude. Sie aßen zu abend, er ver-
sorgte seine Meute – und dann schnell zu seinem
jungen Weib. So lange hatte er sie nicht gesehen,
er freute sich auf sie, begann sie zu umarmen, zu
küssen und zu liebkosen. Aber sie war beleidigt
und blickt ihn finster an. Sie legten sich schlafen,
und er fragt sie:
„Warum bist du so böse auf mich?“
Sie antwortete ihm:
„Wie habe ich dich liebkost in der vorigen
Nacht! Du aber hast dich von mir abgewendet und
kein Wort mit mir gesprochen. Ehrlich bekümmert
habe ich dich gefragt, wer dich gekränkt hat, was
man dir gestohlen hat oder ob du ein Tier aus
deiner Meute verloren hast; aber du hast den
ganzen Abend nur immer gejammert. Hast ge-
weint und geweint und mir nicht geantwortet!“
Da wurde Iwan-Wassersohn sehr betrübt, und
wie sein Bruder Michail verbrachte er die Nacht in
Kummer.
Am Morgen erhebt er sich und zieht mit seiner
Meute wieder dorthin, wo der Bruder liegt. Da
fliegt, was denkst du wohl, ein Rabe über dem to-
ten Bruder.

136
Er schickte den Falken, den Raben zu fangen.
Der Rabe sagt zum Falken:
„Laß mich leben, ich will dir dienen!“
„Dann hilf mir in meiner Not!“
„Gewiß, ich will dir helfen!“
Er flog in den Wald, fand einen Gallapfel und
brachte ihn Iwan-Wassersohn. Iwan drückte Mi-
chails Kopf an den Rumpf und preßte den Apfel
aus. Von diesem Saft wurde Michail-Wassersohn
wieder lebendig.
Beide machten sich auf den Weg zum Schloß.
Wie sie zu Hause ankommen, errät die Frau nicht,
welcher ihr Mann ist und zu welchem sie gehen
soll: ihre Sprache ist die gleiche, ihr Gesicht das
gleiche. Dann erriet sie es: An seinem kleinen
Finger steckte ihr Siegelring. Bald waren beide
verheiratet, Michail heiratete die älteste Schwe-
ster, die Iwan zuerst freigekämpft hatte. Und der
Zar gab jedem der beiden Brüder ein Reich und
einen Teil seiner Schätze. Und als sie das alles
erhielten und heirateten, war auch ich zum Gratu-
lieren, wollt’ das Honigbier probieren, blieb alles
an den Lippen hangen, der Mund ist leer ausge-
gangen.
Und es geht ihnen gut, sie schicken mir Briefe,
nur kommen sie nie an.

137
24
Der Unterfähnrich
Irgendwo in einem fernen Lande lebte ein Zar Ar-
tus. Dieser Zar hatte eine wunderschöne Tochter,
die hieß Helena. Eines schönen Tages ging sie
spazieren und kehrte vom Spaziergang nicht mehr
zurück. Es verging ein Tag, es verging ein zweiter,
aber von der Tochter war noch immer nichts zu
sehen. Da läßt der Zar bekanntmachen: „Wer sei-
ne Tochter findet, dem will er sie zur Frau geben,
und nach seinem Tode soll er sein Erbe sein.“
Und wer immer auch auszog, keiner konnte sie
finden, und alle kehrten unverrichteterdinge zu-
rück. Da erließ er eine zweite Bekanntmachung,
eine strengere: „Wer die Tochter nicht findet, darf
nicht zurückkehren, kehrt er aber zurück, soll er
in den Kerker geworfen werden.“
Danach aber war es das gleiche: Wer immer
auch auszog, keiner fand sie; einige kehrten zu-
rück, andere blieben verschollen.
Eines schönen Tags kommt zu diesem Zar Artus
ein armseliger Soldat aus seiner Armee und sagt:
„Laßt mich fahren!“
Der Zar musterte ihn und sagt:
„Wohin willst du wohl fahren? Da sind schon
andere ausgezogen und haben sie nicht gefun-
den.“

138
Er bleibt beharrlich und dringt in den Zaren:
„Ich werde sie finden, erlaubt mir nur, zwei Ka-
meraden mitzunehmen, gleichfalls Soldaten. Mein
Name ist Unterfähnrich.“
Der Zar schrieb sich den Namen auf und gab
ihm noch die zwei Soldaten bei, deren Namen
nicht bekannt sind.
Danach gab er Anweisung, ein Schiff auszurü-
sten. Das Schiff wurde ausgerüstet, beladen, mit
Lebensmitteln und Waffen versehen. Der
Unterfähnrich ging mit seinen zwei Kameraden an
Bord, und der Zar sagte dem Kapitän, er solle
allen Befehlen des Unterfähnrichs gehorchen.
Und gegen Abend fuhr das Schiff aus, Helena,
die Zarentochter, zu suchen.
Ob sie nun lange oder kurze Zeit fuhren, jeden-
falls legten sie einige Male in Häfen und an Küsten
an. Der Unterfähnrich forschte überall nach Zar
Artus’ Tochter. Eines Nachts nun ging er auf Deck,
einfach so, um sich zu ergehen und ein wenig fri-
sche Luft zu schnappen. Ringsum aber war das
Meer von Wald umgeben. Unweit vom Ufer leuch-
tete im Walde ein Licht auf. Da gab er dem Kapi-
tän Anweisung, auf diese Uferstelle zuzuhalten
und anzulegen.
Der Kapitän gehorchte, fuhr zur angegebenen
Stelle, und sie legten am Ufer an. Der Kapitän ließ
den Anker werfen, ging selbst zum Unterfähnrich,
ihm zu melden, es sei alles in Ordnung. Als er
zum Unterfähnrich kam, gibt der ihm folgenden
Befehl:

139
„Bis zu meiner und meiner Kameraden Rück-
kehr darf das Schiff ohne Erlaubnis nirgends hin-
fahren!“
Dann füllte er eine Tasche mit Schiffszwieback
und Nahrungsmitteln, nahm ein Gewehr und ging
mit den Kameraden auf jenes Licht zu.
Ob sie nun lange oder kurze Zeit gegangen
sind, jedenfalls kamen sie schließlich zu diesem
Licht. Sie machten halt und blieben dort über
Nacht. Am nächsten Morgen stehen sie auf und
nähern sich der Hütte. Der Unterfähnrich ließ sei-
ne Kameraden zurück und ging hinein. Als er ins
Innere trat, war da noch eine Tür. Er sah nach –
sie war verschlossen. Da jedoch niemand in der
Hütte war, kehrte er zu seinen Kameraden zu-
rück.
Wie er bei ihnen ist, sagt er:
„Ich werde mit einem von euch auf die Jagd
gehen, und einen lassen wir hier zum Suppeko-
chen“ (weil ihnen nämlich, während sie zu dieser
Hütte liefen, alle Lebensmittel ausgegangen wa-
ren).
Einer der Kameraden blieb zurück und kochte
Suppe. Es geht aber schon auf den Abend zu.
Plötzlich tritt ein Mann ans Feuer heran, nicht gar
zu klein, nicht gar zu groß – so hoch wie ein Haus.
„Sei gegrüßt, Freund!“ sagt er.
Er antwortet ihm:
„Sei gegrüßt.“
Der Riese fragt:
„Gibst du mir etwas Brei?“
Er antwortet ihm:

140
„Wir sind selbst unser drei, schon für uns ist’s
zuwenig, und Proviant haben wir nicht.“
Da wurde der Riese böse und verprügelte den
Soldaten.
Als der Unterfähnrich und seine Kameraden zu
dem Soldaten zurückkamen, der Suppe kochen
sollte, fragen sie:
„Ist die Suppe fertig?“
Er antwortet ihnen:
„Nein, sie ist nicht fertig, ich habe sie gar nicht
gekocht. Ich bin krank geworden und konnte nicht
kochen.“
Am zweiten Tag ließ der Unterfähnrich den an-
deren Soldaten zurück, den aber, der die Suppe
hatte kochen sollen, nimmt er mit auf die Jagd.
Dieser Soldat machte ein Feuer, setzt sich hin,
kocht seine Suppe und wartet, daß die Kamera-
den von der Jagd kommen. Doch statt der Kame-
raden erscheint ein Mann, nicht gar zu klein, nicht
gar zu groß – so hoch wie ein Haus.
„Sei gegrüßt, Freund!“, sagt er.
Der Soldat antwortet:
„Sei gegrüßt.“
Der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu groß“
fragt:
„Wie steht’s“, sagt er, „gibst du mir etwas Sup-
pe?“
Darauf jener:
„Wir sind selbst unser drei, ‘s ist für uns selbst
zuwenig. Wollte man aber dich füttern, wär’s noch
billiger, dich zu begraben, so ein Kerl, wie du
bist.“

141
Da verprügelte der Mann „nicht gar zu klein,
nicht gar zu groß“ auch diesen Soldaten und
schüttete die Suppe aus.
Am Abend kommt der Unterfähnrich mit seinen
Kameraden von der Jagd zurück, tritt ans Feuer
und fragt:
„Nun, wie steht’s“, sagt er, „ist die Kohlsuppe
fertig?“
Der antwortet:
„Nein, ich habe Bauchschmerzen bekommen
und konnte sie nicht kochen, kann kaum noch sit-
zen.“
Da legten sie sich hungrig schlafen.
Am dritten Morgen sagt der Unterfähnrich:
„Geht ihr auf Jagd, ich will selbst hierbleiben
und Suppe kochen.“
Die Kameraden gingen auf die Jagd. Unterwegs
sprechen sie zueinander:
„Soll’s ihm nur ergehen wie uns, soll er seine
Suppe nur kochen!“
Der Unterfähnrich sitzt und kocht Suppe. Der
Tag neigt sich schon dem Abend zu, die Suppe ist
fertig, und der Unterfähnrich wartet – bald müs-
sen die Kameraden von der Jagd kommen. Doch
statt der Kameraden sieht er, wie ein Riese nä-
herkommt, nicht gar zu klein, nicht gar zu groß,
so hoch wie ein Haus.
Als der Mann „nicht gar zu klein, nicht gar zu
groß“ beim Unterfähnrich ist, begrüßt er ihn:
„Sei gegrüßt, Freund.“
Der Unterfähnrich antwortet:
„Sei gegrüßt.“

142
Da fragt ihn der Riese:
„Gibst du mir etwas Suppe?“
Der Unterfähnrich gibt ihm zur Antwort:
„Nicht nur etwas Suppe, auch eine Ente werden
wir aus der Suppe fischen. Für einen Gast können
wir alles tun, auch das Letzte mit ihm teilen.“
Da antwortet der Mann „nicht gar zu klein, nicht
gar zu groß“:
„So lange lebe ich schon hier“, sagt er, „und
suche einen Kameraden, mit dem man sich ein
wenig unterhalten und die Zeit vertreiben kann,
aber außer dir habe ich noch keinen getroffen.
Laß deine Suppe stehen“, sagte er, „und komm
mit in mein Haus.“
Als sie im Hause des Riesen waren, klopfte der
auf den Tisch, da erschienen auf dem Tisch ver-
schiedene Weine, Leckerbissen, alles, was das
Herz begehrt. Der Mann „nicht gar zu klein und
nicht gar zu groß“ sagt:
„Trink, soviel du willst! Ich werde auch mittrin-
ken.“
Der Unterfähnrich trank ein halbes Glas und
nicht mehr, doch der Mann „nicht gar zu klein und
nicht gar zu groß“ trank sich einen gewaltigen
Rausch an, legte sich dann auf den Fußboden, von
der einen Zimmerecke bis zur andern, und fiel in
einen tiefen Schlaf.
Da warf der Unterfähnrich einen Blick ins ande-
re Zimmer.
Dort stand ein Tisch, und an diesem Tisch saß
ein steinaltes Weib, die Haare schlohweiß. Das
sagt:

143
„Junger Mann, warum bist du hierher gekom-
men? Wenn der Mann ‚nicht gar zu klein und nicht
gar zu groß’ aufwacht, wird er dich totschlagen.“
Als die Alte diese Worte gesprochen hatte, ging
sie hinaus und kehrte nicht wieder. Da nahm der
Unterfähnrich des Riesen Schwert und schlug ihm
mit seinem eigenen Schwert den Kopf ab. Als er
den Kopf abgeschlagen hatte, untersuchte er die
Taschen des Mannes „nicht gar zu klein und nicht
gar zu groß“ und fand darin ein Schlüsselbund. Er
öffnete die erste Tür – dort war es leer; er öffnete
die zweite Tür – dort war es auch leer. So lief er
durch fünf Zimmer, und immer waren sie leer.
Darauf öffnete er noch eine Tür, und im sechsten
Zimmer war es etwas heller. Und als er die sie-
bente Tür öffnete, saß da die wunderschöne Hele-
na, des Zaren Artus Tochter.
Als er dieses Zimmer betreten hatte, sagte sie
zu ihm:
„Ach, kleiner Soldat wie bist du nur hierherge-
kommen. Solange ich hier sitze, ist noch niemand
bei mir gewesen. Gleich wird der Riese kommen
und dich zermalmen.“
Er antwortet ihr:
„Keine Angst. Dem Riesen habe ich schon den
Kopf abgeschlagen, und du“, sagt er, „bist frei.
Jetzt wollen wir an Bord gehen und abfahren.
Nicht weit von hier wartet das Schiff. Wir gehen
an Bord und fahren nach Hause zu deinem Vater.“
Sie verließen das Zimmer und machten sich auf
den Weg zum Schiff. Unterwegs erzählte er ihr,

144
daß er hergeschickt sei, sie zu finden, und daß sie
sein Weib werden solle.
Wie sie schon auf dem Schiff waren, fiel ihr ein:
„Ach, Liebster, ich habe meinen Siegelring auf
der Fensterbank liegengelassen.“
Der Unterfähnrich gibt dem Kapitän Anweisung,
ohne ihn nicht in See zu stechen, und geht, den
Ring zu holen. Als er das Schiff verlassen hatte,
ließ der Kapitän den Anker lichten, die Taue kap-
pen und machte sich auf die Heimfahrt zu Helenas
Vater, dem Zaren Artus. Unterwegs sagte er zu
ihr:
„Sage, daß ich dich gefunden habe, oder ich
werfe dich ins Meer.“
Da schwur sie ihm, wenn sie ankämen, wolle
sie dem Vater sagen: Du hast mich gerettet.
Als sie in der Heimat anlegten, hatte sie Angst,
den Schwur zu brechen, und sagte zum Vater:
„Gerettet hat mich der Kapitän.“
Da segnete der Zar die beiden, gab seine Toch-
ter diesem Kapitän zum Weib und vermachte ihm
das ganze Erbe.
Nun wollen wir die beiden ein wenig verlassen
und sehen, wie es dem Unterfähnrich erging. Als
der Unterfähnrich mit jenem Ring aus dem Haus
getreten war, hatte er sich nach der Stelle bege-
ben, wo das Schiff lag. Doch als er hinkam, er-
blickte er nur den leeren Platz und die liegenge-
bliebenen Tauenden. Da wurde er sehr betrübt,
blieb zwei Stunden dort sitzen und dachte nach.
Dann stand er auf und ging durch den Wald, ein
Obdach zu suchen: „Es ist doch unmöglich, daß

145
dieser Wald kein Ende nimmt!“ Wir wissen nicht,
ob er lange Zeit lief oder kurze Zeit, jedenfalls
verließen den Unterfähnrich nicht weit von einem
Haus die Kräfte, da er ohne etwas zu essen so
lange umhergestreift war; er legte sich hin, um
ein wenig auszuruhen, und konnte sich nicht wie-
der erheben. So lag er etwa einen Tag und eine
Nacht. Am zweiten Tag kommt ein unbekannter
Mann zu ihm und will ein Gespräch mit ihm an-
fangen, doch der Unterfähnrich kann ihm schon
nicht mehr antworten. Da nahm der unbekannte
Mann ihn mit, brachte ihn nach Hause, goß ihm
ein kleines Gläschen Wein ein und gab ihm ein
kleines Stückchen Brot. Nach einer Weile goß er
ihm noch ein Gläschen Wein ein und gab ihm ein
Stück Brot. Und beim dritten Mal goß er ihm wie-
der ein Gläschen Wein ein und gab ihm eine grö-
ßere Portion zu essen. Da sagt der Unterfähnrich:
„Warum gebt Ihr mir nicht mehr zu essen?“
Der unbekannte junge Bursche, Wanjuscha mit
Namen, antwortet ihm:
„Du darfst nicht mehr bekommen, weil du sehr
ausgehungert bist; du könntest dich überessen
und sterben.“
Am nächsten Tag fragt Wanjuscha:
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Unterfähnrich.“
Da sagt er zu ihm:
„Höre, Unterfähnrich, verdinge dich bei uns als
Knecht. Du wirst nicht bloß Knecht sein, sondern
fast ganz dein eigener Herr.“

146
Dazu gab der Unterfähnrich sein Einverständ-
nis.
Darauf holte Wanjuscha Schlüssel aus der Ta-
sche und gibt sie ihm.
„Hier hast du die Schlüssel“, sagt er. „Wieviele
ihrer auch sind, du kannst überall hineingehen,
aber dieser Schlüssel hier ist von dieser Kammer.
Die verbiete ich dir, und wenn du diese Abma-
chung übertrittst, werden wir dich bestrafen. Doch
jetzt komm, du mußt mir erzählen, wie es dich in
diesen Wald verschlagen hat und wer du bist.
Da begann der Unterfähnrich, ihm alles zu er-
zählen.
„Ich bin“, sagt er, „ein Soldat aus Zar Artus’
Reich. Dessen Tochter war verschollen. Ich äußer-
te den Wunsch, diese Tochter zu suchen und sie
Zar Artus wiederzubringen, wofür er mir ver-
sprach, sie mir zum Weib zu geben und mir nach
seinem Tode seinen Besitz zu vermachen.“
Dort lebt also der Unterfähnrich einen Monat,
einen zweiten, auch einen dritten, und er bekam
große Sehnsucht, so schön war Helena gewesen,
als er sie im Zimmer bei dem Mann „nicht gar zu
klein und nicht gar zu groß“ gesehen hatte, und er
dachte:
„Ich will doch in diese Kammer gehen und se-
hen, was darin ist. Was soll schon daraus werden!
Wenn sie mich davonjagen, gehe ich eben.“
Nahm den Schlüssel und ging, die verbotene
Kammer aufzuschließen. Als er sie geöffnet hatte,
ertönten Kanonenschüsse, Lärm und Sausen. Und
im gleichen Augenblick kam Wanjuscha herzuge-

147
rannt und begann, den Unterfähnrich auszuschel-
ten.
„Ach, du Tölpel, was habe ich dir denn gesagt!
Was hast du angerichtet! Wie soll man dich jetzt
bestrafen? Nun gut, das erste Mal will ich dir noch
vergeben.“
Und der Unterfähnrich verbrachte dort ein Jahr
seit dem Tage, da er die Abmachung übertreten
und die Kammer geöffnet hatte.
Da wurde er noch trauriger und beschloß, die
verbotene Kammer ein zweites Mal zu öffnen. Als
er sie geöffnet hatte, geschah darin ganz das glei-
che: Sausen und Kanonenschüsse. In diesem Au-
genblick kam Wanjuscha herzugelaufen, nahm
ihm den Schlüssel weg und jagte ihn davon. Als
jedoch eine halbe Stunde vergangen war, bekam
Wanjuscha Mitleid mit dem Unterfähnrich, rief ihn
zurück und sagt:
„Du bist sicher wegen deiner Geliebten sehr
traurig?“
Der Unterfähnrich antwortet:
„Ja.“
Da sagt er zu ihm:
„Ich will“, sagt er, „mit meinem Onkel über dich
sprechen. Vielleicht können wir dir mit irgend et-
was helfen.“
Als Wanjuscha mit dem Onkel gesprochen hat-
te, erlaubte dieser, dem Unterfähnrich ein altes
Pferd und einen verrosteten Zaubersäbel zu ge-
ben. Wanjuscha läßt den Unterfähnrich kommen,
ruft die Diener und sagt zu den Dienern:
„Bringt Großvaters verrosteten Säbel!“

148
Als sie diesen verrosteten Säbel gebracht hat-
ten, nahm Wanjuscha ihn und gibt ihn dem Unter-
fähnrich.
„Und jetzt“, sagt er, „geht und bringt das alte
Pferd!“
Die Diener gingen, sattelten das Pferd und
bringen es Wanjuscha.
Da sagt Wanjuscha:
„Gebt es dem Unterfähnrich!“
Der Unterfähnrich bestieg das Pferd, nahm den
Säbel und denkt:
„Was soll ich mit diesem Säbel, da er doch ganz
verrostet ist, und dazu dieses alte Pferd?“
Wanjuscha antwortet:
„Reite bis zu diesem Wald dort“, sagte er,
„schwinge einmal den Säbel und paß auf, was ge-
schieht. Was jedoch das Pferd anlangt, so wirst du
dich selbst überzeugen können.“
Der Unterfähnrich ritt bis zu jenem Wald,
schwang einmal den Säbel – gleich lag der halbe
Wald am Boden. Da kehrte er um, dankte Wanja
und seinem Onkel und machte sich auf den Weg
in Zar Artus’ Reich.
Als er beim Zaren angekommen war und sich
im Schloß meldete, war Helena schon verheiratet
und lebt mit dem Kapitän.
Da ging der Unterfähnrich zum Zaren selbst
hinein und sagt:
„Warum habt Ihr wider Euer eigenes Gesetz
gehandelt? Als ich auszog, Eure Tochter zu su-
chen, habe ich sie gefunden. Ihr aber seid Eurem

149
Wort untreu geworden und habt sie einem ande-
ren zum Weib gegeben!“
Zar Artus fragt ihn:
„Womit kannst du beweisen, daß du sie gefun-
den hast, und wie ist das alles vor sich gegan-
gen?“
Der Unterfähnrich antwortet:
„Nachdem ich Helena in einer mir auch jetzt
noch unbekannten Gegend gefunden hatte, nahm
ich sie und ging mit ihr zum Schiff. Als wir auf
dem Schiff waren, sagt sie zu mir: ,Ich habe mei-
nen Ring liegen lassen, den mir der Vater ge-
schenkt hat.’ Ich kehrte um, den Ring zu holen,
unterdessen aber stach der Schiffskapitän in See,
und ich blieb allein zurück. Zum Beweis aber
nehmt dies hier, Väterchen Zar!“
Und er streckt die Hand aus und zeigt den Ring,
den Helena bei dem Mann „nicht gar zu klein und
nicht gar zu groß“ vergessen hatte.
Da befahl Zar Artus, ihm seine Tochter zu brin-
gen. Als die Tochter erschien, sagte er:
„Wie hat sich das zugetragen, daß du mich be-
logen hast? Denn hier steht der Mann, der dich
fand, und er hat bewiesen, daß er dich fand und
rettete.“
Sie sagt zu ihm:
„Ja, es ist wahr, ich habe dich belogen. Aber ich
war gezwungen, dich zu belügen, denn der Kapi-
tän hatte die Anker lichten lassen, und als wir auf
hoher See waren, bedrohte er mich: ‚Sage, daß
ich dich gerettet habe, sonst werfe ich dich ins

150
Meer.’ Daraufhin habe ich ihm geschworen, dir zu
sagen, er habe mich gerettet.“
Da rief Zar Artus den Henker und ließ den Kapi-
tän in Gegenwart des Unterfähnrichs hinrichten,
seine Tochter aber vermählte er zum zweitenmal,
mit dem Unterfähnrich. Und auf den dritten Tag
lieg er im Schloß ein großes Fest zu Ehren der
Wahrheit veranstalten, zu dem aus dem Nachbar-
reich der König Dadon eingeladen wurde.
Auf dem Feste verliebte sich Helena in den Kö-
nig, und als die Gäste wieder heimgefahren wa-
ren, schrieb sie diesem König Dadon einen Brief,
in dem es hieß:
„Überziehe meinen Vater in einem halben Mo-
nat mit Krieg. Ich werde dir helfen.“
Zwei Wochen vergingen, und König Dadon er-
klärt dem Zaren Artus den Krieg. Aber Zar Artus
war zu dieser Zeit nicht vorbereitet und wurde
sehr bekümmert. Er ruft den Schwiegersohn zu
Hilfe und sagt ihm:
„König Dadon hat uns den Krieg erklärt, aber
unser Heer ist noch nicht bereit.“
Darauf antwortet ihm der Unterfähnrich:
„Väterchen, treib mir ein Heer wenigstens so
groß wie ein Regiment auf, und selbst das ist noch
zu viel. Ich will allein die ganze Welt bezwingen!“
Der Vater sagt ihm:
„Ich werde dir nicht nur ein Regiment, nein,
zwei werde ich dir aus dem ganzen Reich geben.“
Das Heer König Dadons aber nähert sich schon
der Grenze von Zar Artus’ Reich. Da zog der Un-
terfähnrich mit zwei Regimentern aus, gegen das

151
zahlreiche Heer König Dadons zu kämpfen. Kaum
hatte er sich mit seinem Heer aufgestellt, begann
sein Gegner zu höhnen:
„Was ist er mit zehn Soldaten ausgezogen? Was
will er damit ausrichten?“
Der Unterfähnrich zog seinen Säbel und
schwang ihn einmal – sogleich lag das halbe Heer
am Boden. Er schwang ihn ein zweites Mal, und
von Dadons Heer war nichts mehr zu sehen. Da
kehrt der Unterfähnrich heim zu seinem Schwie-
gervater, ohne auch nur einen einzigen Mann aus
seinem Heer verloren zu haben, und der Schwie-
gervater freute sich sehr über ihn.
Darauf schreibt sie ihm einen zweiten Brief:
„Mein Liebster, sammle ein noch größeres Heer
und ziehe aus, denn mein Vater hat überhaupt
kein Heer, und du kannst ihn besiegen.“
König Dadon erklärte Zar Artus zum zweiten
Male den Krieg. Zar Artus aber rief wieder seinen
Schwiegersohn, den Unterfähnrich, und sagte
ihm, daß König Dadon erneut den Krieg erklärt
habe.
Der Unterfähnrich antwortet:
„Ziehe nicht erst überflüssige Truppen zusam-
men; die in der Festung liegen, genügen.“
Und er zog mit seinem Heer aus, mähte das
Heer König Dadons nieder und kehrte heim zu
seinem Schwiegervater. Da sagt Helena, des Un-
terfähnrichs Weib und Zar Artus’ Tochter, zu ih-
rem Mann:

152
„Liebster, woher bist du so stark und klug?
Warum siegst du immer, und woher kommt dir
solche Stärke?“
Doch der Unterfähnrich antwortete ihr hierauf
nichts, denn ihm war aufgetragen worden, nichts
von dem Zaubersäbel zu erzählen, nicht einmal
seinem lieben Weib: denn die wird dich noch eher
als ein Kamerad verraten.
Aber Helena gab sich hiermit nicht zufrieden.
Bald umarmt sie ihn, bald küßt sie ihn und tut, als
ob sie den Unterfähnrich sehr, sehr liebe. Sie
gießt ihm ein Glas Wein ein und sagt:
„Trink dies von mir!“
Er trank aus. Da fragt sie:
„Nun sag mir doch, warum bist so stark, so tap-
fer, warum siegst du immer?“
Der Unterfähnrich argwöhnte nichts und sagt zu
seinem Weib:
„Ich habe einen Freund, er hängt an der Wand,
mit dem ich die ganze weite Welt bezwingen
kann. Dort dieser Säbel“, sagt er, „es ist ein Zau-
bersäbel. Du brauchst ihn nur einmal zu schwin-
gen, und ganze Heere sinken zu Boden.“
Und nach diesen Worten fiel der Unterfähnrich
in einen tiefen Schlaf.
Als er eingeschlafen war, rief Helena ihre Die-
nerin und sagte:
„Geh in die Rüstkammer und bringe von dort
einen Säbel, ganz genau wie diesen da, der an
der Wand hängt!“
Die Dienerin ging und brachte einen Säbel, ge-
nau so einen, wie dieser war. Da wickelte Helena

153
den Zaubersäbel in Papier, schrieb König Dadon
einen Brief und schickte Brief und Säbel mit einem
Eilboten zu König Dadon. Den Säbel aus der Rüst-
kammer aber steckte sie in die Scheide des Unter-
fähnrichs.
Als König Dadon Brief und Säbel erhalten hatte,
erklärt er Zar Artus zum dritten Mal den Krieg.
Da ruft Zar Artus wieder seinen Schwiegersohn
und sagt zu ihm:
„König Dadon hat uns zum dritten Mal den
Krieg erklärt.“
Worauf der Unterfähnrich antwortet:
„Väterchen, ich brauche keinen einzigen Mann,
ich werde allein mit ihm fertig.“
König Dadon aber, nachdem er Brief und Säbel
erhalten hatte, nahm gleichfalls kein Heer mit,
sondern zog auch allein ins Feld.
Als sie auf dem Schlachtfeld angekommen wa-
ren, zog der Unterfähnrich, von der Vertauschung
nichts ahnend, seinen Säbel und schwang ihn,
doch oh weh, er wirkt nicht. Da zieht König Dadon
seinen Säbel aus der Scheide und schwang ihn
gewaltig; doch erschlug er den Unterfähnrich
nicht, sondern warf ihn nur aus dem Sattel und
befahl seinen Leibwächtern, ihn an den Schwanz
seines eigenen Pferdes zu binden: Soll das Pferd
ihn zu Tode schleifen.
Zar Artus’ Schloß besetzte er, nahm Helena
zum Weibe und sperrte ihren Vater und ihre Mut-
ter in eine steinerne Säule. Aber nun wollen wir
die beiden in Ruhe lassen, sollen sie leben und

154
herrschen, wir aber gehen über zur weiteren Be-
schreibung des Lebens unseres Unterfähnrichs.
Das Pferd des Unterfähnrichs war sehr klug. Als
sie ihm den Unterfähnrich an den Schwanz ge-
bunden hatten, war es zunächst losgerannt, hatte
dann aber zweimal das Hinterteil in die Höhe ge-
worfen und sich den Unterfähnrich auf den Rük-
ken gesetzt. Dann war es davongejagt zu eben
dem Onkel, von dem es zusammen mit dem Un-
terfähnrich gekommen war.
Kaum lief es in den Hof ein, begann es zu wie-
hern. Der Onkel hörte das:
„Wanjuscha, sieh, unser Pferd ist wieder da!“
Als Wanjuscha hinausging und nachsah, war
tatsächlich ihr altes Pferd wieder da, und darauf
saß, verkehrtherum, der Unterfähnrich.
Da befahl Wanjuscha seinen Knechten, den Un-
terfähnrich vom Schwanz des Pferdes loszubinden
und mit einem Kehrichtbesen vom Hof zu jagen,
das Pferd aber in den Stall zu führen.
Weit ging der Unterfähnrich nicht vom Hof fort.
Er setzte sich hin, sitzt und weint. Ob er nun lan-
ge Zeit dort gesessen hat oder kurze, das wissen
wir nicht, jedenfalls ging er zu dem Onkel zurück
und bat, er möge ihm helfen, sich irgendwie an
König Dadon und seinem Weib Helena zu rächen.
Der Onkel bekam Mitleid, als er des Unterfähn-
richs Bitte hörte, rief seinen Wanjuscha und sag-
te:
„Bring die drei Blumen aus meiner Kammer,
aus der, in die nur ich gehe.“

155
Wanjuscha ging und bringt drei Blumen: die er-
ste rot, die zweite weiß und die dritte blau. Brach-
te sie und gibt sie dem Unterfähnrich:
„Hier nimm die rote Blume. Kommst du in einen
Wald, dann iß diese Blume, und du wirst zur
Blindschleiche und kannst an allen Tieren vorbei-
schleichen, die in diesem Walde sind. Die Tiere
werden wittern, daß ein Mensch da ist, aber dich
nicht finden. Die zweite, weiße aber sollst du es-
sen, wenn ein Fluß kommt. Du wirst zum Fisch
und kannst diesen Fluß durchschwimmen. Wann
du aber die dritte essen sollst, das wirst du aus
dem erkennen, was geschieht, und mußt du selbst
entscheiden.“
Nachdem der Unterfähnrich die Blumen be-
kommen hatte, bedankte er sich bei Wanjuscha
und seinem Onkel und machte sich auf den Weg.
Als er an einen undurchdringlichen Wald kam, voll
wilder Tiere, aß er die rote Blume, wurde zur
Blindschleiche und kroch wohlbehalten durch die-
sen Wald.
Danach geht er weiter – da fließt ein reißender
Strom, so breit, daß er ihn nicht durchwaten noch
durchschwimmen kann. Er aß die weiße Blume,
wurde zum Fisch und kam gut durch den Fluß. Als
er am anderen Ufer war, stand er auf und ging
weiter. Lief und lief und denkt:
„Wie lange soll ich noch gehen? Ich will doch
die letzte, die blaue Blume essen und sehen, was
daraus wird.“
Als er die blaue Blume gegessen hatte, wurde
er zu einem Hengst mit goldener Mähne und gol-

156
denem Schweif und rannte in jenes Reich, wo Kö-
nig Dadon mit seiner Helena lebte.
Er kommt in jenes Reich, rennt in ein Dorf und
läuft in den Hof eines armen, armen Bauern. Läuft
in den Hof und geradenwegs zur Krippe. Die alte
Bäuerin aber kam heraus, erblickte dieses Pferd,
geht wieder in ihre Hütte hinein und sagt:
„Alter, Alter, sieh nur, was für ein schönes Pferd
bei uns steht. Wir wollen’s in die Hauptstadt brin-
gen, wo der König wohnt, und es dort auf dem
Markt verkaufen!“
Gerade als sie es auf den Markt gebracht hat-
ten, fuhr König Dadon durch die Stadt. Er sah die-
ses Pferd und fragt:
„Hör, Bauer, wie steht’s, verkaufst du das
Pferd?“
„Ja, Väterchen“, sagt der, „ich verkauf’s.“
„Und wieviel willst du dafür?“
Der Alte antwortet:
„Zweitausend, Väterchen.“
König Dadon holte zweitausend Rubel hervor,
bezahlte dem Alten das Pferd, nahm’s und führte
es in sein Schloß.
Als er es ins Schloß gebracht hatte, kam Helena
heraus und sagte:
„Höre, Liebster, das ist kein Pferd, sondern
mein früherer Gemahl und dein schlimmster
Feind!“
Er fragt sie:
„Und was soll mit ihm geschehen?“
Sie antwortet ihm:

157
.Man muß es töten, verbrennen und die Asche
in den Wind streuen, damit nichts übrig bleibt.“
Er befahl seinen Dienern, das Pferd anzubinden
und es am nächsten Tage frühmorgens aufs Feld
hinauszuführen, zu töten, zu verbrennen und die
Asche zu verstreuen.
Eine Dienerin aber hörte dieses Gespräch. Sie
kam heraus und sagt:
„Ach, was für ein schönes Pferd, und sie wol-
len’s töten. Wie können sie das nur tun?“
Das Pferd aber spricht zu ihr mit Menschen-
stimme:
„Wenn sie mich aufs Feld geführt haben und
mich das erste Mal schlagen, wird mir ein Zahn
herausspringen, dir gerade in den Schuh. Blicke
dich ja nicht um, geh und vergrabe diesen Zahn
unter der Ecke der Kammer, in der Zar Dadon mit
seinem Weibe schläft.“
Als sie es aufs Feld hinausgeführt hatten,
schlugen sie es gegen die Stirn, ein Zahn sprang
heraus und der Dienerin in den Schuh. Sie sagte
kein Wort, drehte sich um, ging und pflanzte die-
sen Zahn unter die Ecke der Kammer, wo König
Dadon mit seinem Weibe schlief. Das Pferd aber
erschlugen sie, verbrannten’s und streuten die
Asche in den Wind.
Am nächsten Tage wacht König Dadon früh am
Morgen auf, tritt aus der Kammer ins Freie, da
wächst nicht weit von der Kammer ein goldener
Apfelbaum, und darauf sind goldene Äpfel. Er
weckt sein Weib:

158
„Helena, sieh, was für ein schöner Apfelbaum
bei uns steht!“
Sie antwortet ihm:
.Ach, Liebster, rühr ihn nicht an, das ist kein
Apfelbaum, sondern mein früherer Gemahl, und
für dich der Tod!“
Er sagt:
„Und was soll mit ihm geschehen?“
„Man muß ihn umhauen, verbrennen und die
Asche in den Wind streuen.“
Die Dienerin aber hört dieses Gespräch, kommt
heraus und sagt:
„Was für ein schöner Apfelbaum, und sie wollen
ihn umhauen!“
Da sagt er zu ihr:
„Sobald sie zum ersten Mal mit der Axt auf
mich einbauen werden, wird ein Span zu dir in
den Schuh fliegen. Drehe dich um und geh, nimm
den Span und wirf ihn in den Teich, wo frühmor-
gens König Dadon zu baden pflegt.“
Die Dienerin tat dies auch. Sobald sie mit der
Axt den ersten Schlag getan hatten, flog ihr ein
Span in den Schuh, sie sagte kein Wort, drehte
sich um und ging zum Teich, holte den Span her-
vor und warf ihn hinein. Dann kehrte sie um und
ging ins Schloß.
Am nächsten Tag erhebt sich König Dadon früh
am Morgen vom Lager und geht zum Teich baden.
Wie er an den Teich kam, sah er einen sehr schö-
nen Erpel, der schwimmt in der Nähe des Ufers,
hat einen goldenen Kopf und goldene Federn. Er
wirft das Zauberschwert von sich (denn sonst leg-

159
te er es nie ab und schlief sogar mit ihm), zieht
sein Gewand aus und steigt in den Teich, diesem
Erpel nach. Doch der Erpel entfernt sich ein wenig
vom Ufer. Und er lockte König Dadon so weit, bis
ihm das Wasser schon an die Schultern reichte.
Da erhebt er sich vom Wasser, läßt sich am Ufer
zu Boden gleiten und wird zu einem Menschen,
zum Unterfähnrich. Nimmt seinen Zaubersäbel
und sagt:
„Nun, Bösewicht, komm heraus!“
In diesem Augenblick kommt sein früheres
Weib Helena gelaufen und schreit:
„Ach, Liebster, das ist kein Erpel, sondern mein
früherer Gemahl und für dich der Tod!“
Da dreht sich der Unterfähnrich zu ihr und sagt:
„Ja, ich bin dein früherer Gemahl, und für euch
beide der Tod!“
Er holt mit dem Säbel aus und schlägt durch
vom Kopf bis zu den Füßen. Und kaum war König
Dadon ans Ufer gekommen, schlug er ihm den
Kopf ab.
Danach kehrte er ins Schloß zurück und heira-
tete die Dienerin, die ihn gerettet hatte, als er ein
goldenes Pferd und ein goldener Apfelbaum gewe-
sen war.
Nun wurde er der Erbe von Artus’ Reich und
gab ein Fest für alle Welt, auf dem auch ich war.
Denn auch mich lud er ein, ich trank Honigbier
und Wein! Nun, und damit wollen wir Schluß ma-
chen.

160
25
Wanjuschka
Ein Vater brachte seinen Sohn Wanjuschka in die
Lehre. Unterwegs überraschte sie ein Unwetter.
Es regnete, und sie verirrten sich. Unversehens
kamen sie zu einem Haus. „Wir wollen uns an den
Zaun stellen, Vater, dann wird uns der Regen
nicht so peitschen.“ In diesem Hause aber wohnt
ein alter Mann, der ist fünfhundert Jahre alt. Der
hörte diese Worte: „Wer ist da an meinem Haus?“
– „Ich und mein Sohn.“ – „Aha!“, sagte der Alte.
„Kommt herein!“ Er ließ sie ein und fragte: „Wo-
hin wollt ihr?“ – „Meinen Sohn in die Lehre ge-
ben!“ – „Laß ihn für drei Jahre bei mir, ich will ihn
lehren, was schlecht und was gut ist.“ Der Vater
war’s einverstanden. Die Nacht über blieben sie
dort. Der freundliche Alte lehrte ihn, den Samo-
war anzusetzen: Er goß Wasser ein und legte glü-
hende Kohlen auf. „Wanjuschka, bring aus dem
Zimmer, was dort auf dem Tisch ist!“ Da brachte
er ihnen von allem: Gesottenes und Gebratenes.
„Das ist wirklich ein guter Herr, er hat uns gut
bewirtet. Gehorche ihm in allem!“ Er begleitete
den Vater ein Stück auf dem Heimweg und gab
ihm Brot und was sonst noch nötig ist als Weg-
zehrung mit.
Der Sohn bleibt bei dem Alten, lebt ein Jahr
dort, lebt auch ein zweites und vom dritten die

161
Hälfte. „Warum lehrst du mich kein Handwerk? So
kann ich es auch zu Hause haben. Wenn du mich
nichts lehrst, gehe ich nach Hause, lehrst du mich
aber etwas, bleibe ich.“
Der Alte vertraute ihm von sieben Zimmern die
Schlüssel an: „Nun, Wanjuschka, zu welchem
Handwerk du Lust hast, das lerne auch!“
Als der Alte fort war, ging Wanjuschka durch
die Zimmer. Er kam ins erste Zimmer: da lag ein
großer Haufen Kupfergeld. Wanjuschka trottete
ins zweite Zimmer: da lag gleichfalls ein Haufen,
Silber, und nicht weniger als vom Kupfer. „Was ist
der Alte reich!“ Er ging ins dritte Zimmer: dort
lagen ganze Berge von Silber. Wie er ins vierte
Zimmer kam, lagen dort Stapel von Papiergeld.
„Wozu brauche ich ein Handwerk! Wenn mir der
Alte einen Arm voll Geld gibt, kann mir jedes
Handwerk gestohlen bleiben!“ Er kam ins fünfte
Zimmer: da waren Teppiche ausgebreitet, mit
Edelsteinen besetzt, und an den Wänden hingen
Geigen und Gitarren. „Was für ein komischer Kauz
doch der Alte ist!“ Er ging ins sechste Zimmer –
da waren alle Arten von Vögeln gefangen, die
sangen mit den verschiedensten Stimmen. Wan-
juschka verwunderte sich: „Die wollen gefangen
sein!“
Wanjuschka geht einen Tag und einen zweiten
durch diese Zimmer. Der Alte sagt: „Wie ist’s,
Wanjuschka, welches Handwerk lernst du?“ –
„Was soll mir denn ein Handwerk, Großväterchen!
Wenn du mir ein ordentliches Bündel Geld zu-
rechtmachst, brauche ich überhaupt kein Hand-

162
werk“, erwiderte Wanjuschka. „Lerne irgend et-
was, irgendein Handwerk!“ – „Na schön!“
Der Alte zog auf die Jagd, Wanjuschka aber
nahm die Schlüssel und ging durch die Zimmer.
Schließlich kam er zum siebenten Zimmer. „Ei,
was für eine feste Tür!“ Dieses Zimmer hatte der
Alte Wanjuschka verboten, aber da war wohl ge-
rade das Beste drin. Wie er hinsieht, ist in der Tür
ein Ast. Er nahm einen hölzernen Schlägel und
schlug den Ast heraus. Da sieht er im Zimmer drei
Jungfrauen sitzen und Teppiche mit Edelsteinen
besticken.
Wanjuschka stieß einen Seufzer aus. Die Jung-
frauen sagten: „Wanjuschka, warum kommst du
uns nicht besuchen?“ – „Ich bin noch zu jung, zu
eurem Zimmer gibt mir das Großväterchen den
Schlüssel nicht.“ – „Nun, da können wir dir einen
Rat geben.“ – „Ratet mir!“ – „Wenn der Alte am
Abend heimkommt, gib ihm ein Gläschen Wein,
auch zwei, sogar drei – dem Alten!…“
Abends kommt der Alte heim. „Ach, Großväter-
chen, jeden Tag gehst du fort, sicher bist du sehr
müde?“ – „Natürlich, Wanjuschka, wie sollte ich
nicht müde sein?“ Wanjuschka gab ihm ein Glä-
schen, auch ein zweites, und sogar ein drittes.
„Ach, hast du mich gelabt. Schüttle mir das wei-
che Federbett auf und die Daunenkissen und deck
mich mit der Zobeldecke zu!“ – „Schon gut. Groß-
väterchen, leg dich nur hin!“ Und er richtete ihm
alles. Der Alte legte sich auf die linke Seite. Wan-
juschka beobachtet ihn und schläft nicht. Der Alte
dreht sich auf die rechte Seite: da hing an seinem

163
linken Ohr der Schlüssel zu dem Zimmer. Wan-
juschka sah’s, nahm behutsam den Schlüssel und
ging zum Zimmer der Mädchen.
Er kommt hin, schließt auf, steht da und spricht
kein Wort zu ihnen: hat die Sprache verloren und
steht da. Die Jungfrauen sagten: „Wie ist’s, Wan-
juschka, sind wir schön?“ – „Soviel schöne Dinge
das Großväterchen auch in seinen Zimmern hat,
ihr erscheint mir noch schöner!“ – „Nun,
Wanjuschka, geh doch einmal in jenes Zimmer!
Darin ist eine Kommode, in dieser Kommode eine
Schatulle. Oben auf dem Wandbrett muß der
Schlüssel liegen. Schließ die Schatulle auf: darin
sind unsere edelsteinbesetzten Kleider; die bring
her!“ Wanjuschka brachte die Kleider
angeschleppt und gibt sie ihnen. Sie zogen die
Kleider an, faßten ihn unter die Arme und tanzten
eine Quadrille. „Wanjuschka, sag – sind wir
schön?“ – „Ich wage nicht einmal, euch
anzusehen, so schön seid ihr!“ – „Wenn wir auch
schön sind, so hast du uns doch zum letztenmal
gesehen!“ Sie ließen sich zu Boden fallen und
verwandelten sich in Bienen. Wanjuschka hatte
sie verloren. Er setzte sich auf die Bank, fuchtelte
mit den Armen, strampelte mit den Beinen, kurz,
gebärdete sich ganz närrisch. Etwas Dummes
hatte er da angerichtet! Er öffnete die Tür, da
flogen sie davon, aus dem Haus hinaus.
Der Alte erwachte, griff sich ans linke Ohr – der
Schlüssel war weg. Er sah Wanjuschka an: „Du
Hundesohn! Wer hat dir erlaubt, den Schlüssel
von meinem Ohr zu nehmen?“ – „Was heißt, wer

164
hat’s erlaubt! Ich habe dich gestern mit Wein be-
trunken gemacht, dich überlistet! Wer hat’s er-
laubt! Die Biester selber waren’s, die mich’s ge-
lehrt haben!“ – „Was hast du angerichtet! Ich
brauche jetzt drei Jahre, bis ich sie wieder zu-
sammen habe!“ – „Was macht’s – such sie nur
immer zusammen!“ – „Du hast jetzt drei Jahre bei
mir gelebt, nun sollst du noch drei Jahre bleiben.“
Der Alte machte sich auf den Weg und ließ
Wanjuschka für drei Jahre allein. Wie er heim-
kommt – nach drei Jahren –, bringt er alle drei
Jungfrauen wieder mit. „Sechs Jahre hast du nun
bei mir gelebt, Wanjuschka. Jetzt bist du erwach-
sen, und ich will dich verheiraten… Welche von
ihnen willst du nehmen?“ – „Ach, irgendeine!“ –
„Nein, sag welche!“ – „Nun, meinetwegen nehme
ich die da!“ – „Nein, nimm nicht diese, nimm lie-
ber diese!“ Er wies ihm ein eigenes Haus zu. Alles
war reichlich im Hause vorhanden: „Für ewig wer-
det ihr hier nicht wohnen“, sagt er. Gab ihm die
Schatulle und sprach: „Mach sie nicht auf, zieh ihr
nicht das Kleid an.“
Eine Woche hatten sie so verbracht, da wollte
sie zur Messe gehen. Sie zog ein Trauerkleid an
und hüllte sich in einen schwarzen Schal aus Dau-
nenfedern. „Angezogen bin ich jetzt wie eine rich-
tige Nonne! Hätte ich einen guten Mann, dann gä-
be er mir mein edelsteinbesetztes Kleid! Da
würden die Leute Augen machen: Nein, würden
sie sagen, hat der Wanjuschka eine schöne Frau!“
Wanjuschka vergaß nicht, was ihn das Großväter-
chen geheißen hatte; er gab ihr eine Maulschelle,

165
daß sie sich gleich hinsetzte. „Nun schön! Mir
soll’s recht sein, mögen die Leute nur reden!“
Als eine Woche herum ist, kommt der Alte sie
besuchen. „Nun, Wanjuschka, wie geht’s?“ –
„Danke, Großväterchen, es geht mir gut.“ – „Jetzt
aber müßt ihr mich einmal besuchen: ich bekom-
me Gäste.“ Wanjuschka bedankte sich und sagte
zu seiner Frau: „Mach dich fertig!“ – „Auf einmal
habt ihr’s eilig: Gäste sind da!“ Sie zog das Trau-
erkleid an, hüllte sich in den schwarzen Schal aus
Daunenfedern. „Zum Großvater kommen nur Gä-
ste aus Zarengeschlechtern! Ja, ein guter Mann
zöge mir jetzt mein edelsteinbesetztes Kleid an!…“
Wanjuschka vergaß, nahm den Schlüssel aus
der Tasche und holte aus der Schatulle das Kleid
hervor. Sie zog das Kleid schnell an; als sie’s an-
hatte, küßte sie ihn. „Jetzt wollen wir gehen.“ Sie
traten auf die Straße, da ließ sie sich zu Boden
fallen, verwandelte sich in eine Taube und flog
davon. Das war dir schon ein Eheweib!
Er ging ins Zimmer zurück, setzte sich auf die
Bank, fuchtelte mit den Armen, strampelte mit
den Beinen… Fuchtle nur, soviel du willst, es wird
dich niemand daran hindern! Wanjuschka ging auf
den Hof hinaus, sammelte einen Armvoll Stroh
und stopfte damit den ganzen Ofen voll. Stopfte
ihn voll und brannte’s an. Dann brach er sich
Brotstücke zurecht, legte sie in seinen Ranzen und
machte sich auf, sein Weib zu suchen. „Allein ge-
he ich nicht den Alten zu besuchen.“ Er ging den
ganzen Tag; als es Abend wurde, geriet er in ein
tiefes Moor und versank bis zu den Knien. Danach

166
kam er in ein Tal, setzte sich auf einen Erdhügel
und nahm ein Stück Brot aus dem Ranzen: sitzt
da und ißt vor lauter Kummer. „Jetzt warte nur,
Vater, dein Wanjuschka hat ausgelernt! Weiß
selbst nicht, wie ich hier wieder herauskommen
soll. Weiß nicht einmal, wo ich bin!“ Und Wan-
juschka begann zu weinen.
Schließlich sprang er auf und blickte nach allen
Seiten – da sah er in der einen Richtung ein Licht.
„Gewiß wohnen dort Leute!“ Er ging auf das Licht
zu, kommt hin und sieht: Eine Hütte steht da und
dreht sich auf einem Hühnerbein. „Nun, Hütte,
steh wie früher, wie die Mutter dich gestellt hat:
zum Wald mit der Hinterseit’, zu mir mit der Vor-
derseit’!“ Er ging in die Hütte hinein, zog Schuhe
und Kleider aus, legte sich auf den Ofen und fühlt
sich wie zu Hause.
Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá,
eine Hexe: sie rennt durch den Wald, daß es
dröhnt und schallt. Wie sie in die Hütte kommt,
reißt sie ihr Maul auf; die Baba-Jagá will Wanja
fressen. Der sagte: „Was fällt dir ein, altes Biest?
Machen es in den anderen Dörfern die alten Wei-
ber etwa ebenso? Du sollst das Bad anheizen,
mich baden und waschen und fragen: Wo hast du
bisher gelebt?“
Die Alte überlegte es sich anders: Sie heizte
das Bad an, badete ihn und gab ihm zu essen.
„Wo hast du denn bisher gelebt?“ – „Ich habe
sechs Jahre beim Großväterchen als Lehrling ge-
lebt: er hat mich mit seiner jüngsten Tochter ver-
heiratet.“ – „Ach, du Dummkopf! Du hast ja bei

167
meinem Bruder gelebt und meine Nichte genom-
men. Und die war gestern zu einem Plauderstünd-
chen bei mir. Wozu hast du ihr das edelsteinbe-
setzte Kleid angezogen? Sie lebte noch bei dir,
hätt’st du’s nicht getan!“ – „Unterweise mich lie-
ber, wie ich zu ihr gelangen kann. Tantchen!“ –
„Geh weiter, ich habe noch eine Schwester, von
der aus ist es näher; sie wird dich unterweisen!“
Dabei gab sie ihm einen Fladen zum Geschenk:
„Wenn sie dir zu nahe kommt und dich fressen
will, dann fahr ihr zwischen die Zähne, mit diesem
Fladen hier!“ Sie gab ihm noch einen Rabenkno-
chen dazu, den steckte er in die Tasche. Dann
machte er sich wieder auf den Weg.
Er ging den ganzen Tag bis zum Abend und ge-
riet zur Nacht in ein tiefes Moor. Er sank bis zu
den Knien im Sumpf ein, kam in ein Tal, setzte
sich auf einen Erdhügel, holte ein Stück Brot her-
aus, sitzt und ißt. Schließlich sprang er auf die
Füße und sah wieder ein Licht brennen. „Gewiß
wohnt dort meine Tante!“ Damit ging er auf das
Licht zu. Eine Hütte steht da auf Ziegenbeinen
und Hammelhörnern und dreht sich im Kreise.
„Hütte, genug jetzt herumgehinkt: ‘s ist Zeit für
Wanjuschka hineinzugehn!“ Er ging in die Hütte,
zog Schuhe und Kleider aus, legte sich auf den
Ofen und fühlt sich wie zu Hause.
Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá:
rennt durch den Wald, daß es dröhnt und schallt.
Sie betritt ihre Hütte, kommt in die Stube und will
ihn fressen. „Ach, du Alte! Machen sie’s in den
anderen Dörfern etwa ebenso? Willst du dich wohl

168
freundlich aufführen!“ Und Wanjuschka fährt ihr
mit dem Fladen zwischen die Zähne. „Da hast du
etwas zu tun! Du sollst das Bad anheizen, mich
baden, mir zu essen geben und mich fragen, wo-
hin mein Weg mich führt und wo ich bisher gelebt
habe.“
Die Alte überlegte es sich anders. „Na gut, hast
von der Schwester was mitgebracht, einen Fla-
den.“ Sie heizte das Bad, badete ihn und gab ihm
zu essen. „Und wo hast du bisher gelebt, mein
Lieber?“ – „Ich habe sechs Jahre beim Großväter-
chen als Lehrling gelebt, und er hat mich auch mit
seiner jüngsten Tochter verheiratet.“ – „Was bist
du für ein Dummkopf! Du hast ja bei meinem
Bruder gelebt und meine Nichte genommen. Ge-
stern war sie zu einem Plauderstündchen bei mir.
Hätt’st du ihr nicht das edelsteinbesetzte Kleid
angezogen, sie wär dir nicht davongelaufen!“ –
„Kann ich nicht durch dich zu ihr gelangen. Tant-
chen?“ Sie gab ihm einen Knochen vom Feuervo-
gel zum Geschenk. „Da ist noch meine älteste
Schwester, die wird dir alles sagen; sie wohnt
ganz in ihrer Nähe… Das ist aber eine sehr Böse;
ich will dir noch ein Handtuch mitgeben; kommt
sie dir zu nahe, schlag sie damit über die Augen!“
Er machte sich auf den Weg, lief den ganzen
Tag, bis es Nacht wurde, geriet in ein tiefes Moor
und versank bis zu den Knien. Dann kam er in ein
Tal, setzte sich auf einen Erdhügel, holte ein
Stück Brot heraus (er hatte Hunger), sitzt und ißt.
Als er das Stück Brot aufgegessen hatte, stand er
auf, blickte sich nach allen Seiten um, sah in der

169
einen Richtung ein Licht und ging darauf los. Eine
Hütte steht da auf Ziegenhörnern und Hammel-
beinen, die dreht sich. „Hütte, steh wie früher,
wie die Mutter dich gestellt hat: zum Wald mit der
Hinterseit’, zu uns mit der Vorderseit’!“ Er geht
hinein, aber niemand ist drin, nur ein Kerzendocht
brennt.
Da kommt, keiner weiß woher, eine Baba-Jagá:
rennt durch den Wald, daß es dröhnt und schallt;
kommt hereingerannt und will ihn fressen. Er
schlägt ihr das Handtuch über die Augen: „Was
fällt dir ein, altes Biest!? Du sollst fragen: Woher
kommst du, und wohin willst du? So machen’s die
alten Weiber in den anderen Dörfern. Heize das
Bad für mich und bade mich!…“ – „Na gut, hast
von der Schwester das Handtuch mitgebracht, ich
sehe, du bist ein Bekannter.“ Sie heizte das Bad,
badete ihn und gab ihm zu essen. „Wo hast du
denn bisher gelebt, mein Lieber?“ – „Beim Groß-
väterchen habe ich sechs Jahre als Lehrling ge-
lebt, er hat mich auch mit seiner jüngsten Tochter
verheiratet. Die ist fortgeflogen!“ – „Du Dumm-
kopf, ach, du Dummkopf! Gestern war sie zu ei-
nem Plauderstündchen bei mir. Hätt’st du ihr nicht
das edelsteinbesetzte Kleid angezogen, sie wäre
dir nicht davongelaufen!“ – „Unterweise mich,
Tantchen, wie ich zu ihr kommen kann!“ – „Nun
gut, komm mit, ich will dir ihr Haus zeigen!“
Sie führte ihn auf einen Berg. „Siehst du dort in
dieser Richtung ein Feuer, hell wie die Sonne?“ –
„Ja“, sagt er. „Das ist kein Feuer, hell wie die
Sonne, sondern ihr Haus: es ist ganz aus Gold.

170
Dorthin hast du dreihundert Werst zu laufen, zu
diesem Haus. Komm jetzt zu mir, ich will dich leh-
ren, wie du in ihr Haus gelangst… Da nimm, ich
gebe dir einen Fladen: an ihrem Tor sind drei Lö-
wen angebunden, die lassen dich so nicht durch.
Brich den Fladen in drei Teile und wirf sie ihnen
vor. Sie werden den Fladen fressen, du aber
spring unterdessen durch den Zaun vors Schloß.
Dort stehen drei Wächter an der Schloßtreppe, die
werden dich nicht durchlassen. Mach dir nichts
draus: gib dem einen eine Maulschelle, daß er
sich hinsetzt, dann wird auch der andere zu Boden
gerissen, und der dritte wird sagen: ‚Geh nur im-
mer durch, geh nur immer durch!’ Da geh hinein.
Du kommst ins erste Zimmer, dann ins zweite. Im
dritten Zimmer sitzt sie in so einem schönen Ses-
sel. Nenne sie aber nicht Weib, nenne sie Herrin:
sie ist doch eine Zarin, kein einfaches Weib. Falle
vor ihr auf die Knie und sage: ‚Herrin, erlaube,
daß ich mich dreimal verstecke; wenn ich nicht
dreimal vor dir verborgen bleibe, kannst du mit
mir machen, was du willst!’“
Sie gab ihm noch einen Hechtsknochen und be-
gleitete ihn ein Stück. Wanjuschka führte alles
aus, was ihm aufgetragen worden war. Er kam
zur Zarin ins Schloß, fiel auf die Knie und bittet
sie: „Herrin, erlaube, daß ich mich dreimal ver-
stecke; wenn ich nicht dreimal vor dir verborgen
bleibe, kannst du mit mir machen, was du willst!“
„Ach, Wanjuschka“, sagte sie. „Wo willst du
dich verstecken? Ich werde dich überall finden!“ –
„Erlaubt mir trotzdem, Herrin, mich zu verstek-

171
ken!“ Sie erlaubte es. Er trat auf die Wiese hin-
aus. „Wo soll ich mich verstecken? Setze ich mich
unter den Strauch, findet sie mich!“ Er fuhr mit
der Hand in die Tasche, da geriet ihm zuerst der
Rabenknochen in die Finger, der von der ersten
Tante. Er warf diesen Rabenknochen auf die Wie-
se, da erschien, keiner weiß woher, ein riesiger
Rabe, faßte ihn unter den Achseln bei den Armen
und trug ihn in ein tiefes Moor; nur der Kopf sah
noch heraus. Der Rabe setzte sich ihm auf den
Kopf und verdeckte ihn – so war Wanjuschka ver-
borgen.
„Diener, gebt mir mein Wahrsagebuch und
meine Spiegel: ich will Wanja suchen!“ Sie suchte
ihn überall – in Sümpfen und Wäldern, auf Wiesen
und auf dem Meeresgrund: nirgends war er zu
sehen. Da fand sie ihn im tiefen Moor: der Rabe
sitzt auf seinem Kopf. „Rabe, zieh Wanjuschka
heraus, ich will ihn hier haben!“ Der Rabe zog ihn
aus dem Sumpf, brachte ihn ans Meer, tauchte
ihn hinein, wusch ihn und brachte ihn ans Ufer auf
die Wiese. Wanja geht hinein. „Nun, Wanjuschka,
hast dich das erste Mal versteckt?“ – „Ja!“ – „Nun,
geh, versteck dich noch einmal!“
Wanjuschka machte sich auf den Weg, trat auf
die Wiese und holte den Knochen des Feuervogels
heraus, den von der zweiten Tante. Da erschien,
keiner weiß woher, der Feuervogel, packte ihn un-
ter den Achseln und entführte ihn zum Himmel,
dort versteckte er ihn hinter einer Wolke. Wie es
soweit war, sagte sie: „Diener, gebt mir mein
Wahrsagebuch und meine Spiegel: ich will Wanja

172
suchen!“ Sie richtete die Spiegel auf die Meere,
auf die Wälder und Wiesen: nirgends war er zu
sehen. Sie richtete ihn gegen den Himmel und sah
ihn hinter der Wolke. „Feuervogel, hol ihn herun-
ter, tu ihm aber keinen Schaden.“ Der Feuervogel
holte ihn herunter und setzte ihn unversehrt auf
der Wiese ab. Er geht zu ihr hinein… „Geh, ver-
steck dich zum drittenmal!“
Wanjuschka machte sich das dritte Mal auf den
Weg. Trat hinaus, lief in die Nähe des Meeres,
griff in die Tasche, da geriet ihm der Hechtskno-
chen in die Finger. Er warf ihn auf die Wiese. Da
erschien, keiner weiß woher, ein mächtiger Hecht;
der packte und verschluckte ihn und entführte ihn
ins Meer, wo es am tiefsten ist. Dort machte er
halt und kroch unter einen Stein. Sie gaben ihr
das Wahrsagebuch und die Spiegel, und sie be-
gann Wanjuschka zu suchen: auf den hohen
Himmel richtete sie ihre Spiegel, auf Wälder, Wie-
sen und Seen, aufs Meer, wo es am tiefsten ist,
und unter den Stein… Nur eine Zehe an dem ei-
nen Bein hatte der Hecht nicht mit hinunterge-
schluckt: die Zehe war zu sehen. Um ein geringes
war Wanjuschka nicht verborgen… „Diener,
kommt einmal her: seht euch das an, wo Wan-
juschka sich versteckt hat!“ Die Diener kamen
herbeigelaufen und lachten… „Hecht, schaff ihn
mir ans trockene Ufer!“ Da steckte der Hecht sei-
nen Kopf aus dem Meer, spuckte ihn aus ans
trockene Ufer und hatte ihn ganz zerdrückt.
Wanjuschka kam ins Schloß und fing an zu wei-
nen; das sah eine Dienerin und hatte Mitleid mit

173
ihm. „Warte, Wanjuschka, warte ein wenig und
sprich mit mir! Ich will dich unterweisen. Bitte sie
flehentlich, sie soll dir noch einmal erlauben, dich
zu verstecken. Ich werde dir ein Versteck weisen,
wo sie dich in alle Ewigkeit nicht findet. Wenn sie
dir erlaubt, dich noch einmal zu verstecken, dann
sperr die Tür zu und geh ins zweite Zimmer, dort
sind die Spiegel: leg dich zwischen die Spiegel
und verhalte dich ruhig!“ Er ging zu ihr und fiel
auf die Knie. „Nun, wie ist’s, Wanjuschka, welchen
Tod wünschst du dir jetzt? Soll ich dich am Galgen
aufhängen oder dich lebendig begraben lassen?“
Er brach in Tränen aus und sagt: „Herrin, erlaube
mir wenigstens noch ein einziges Mal, mich zu
verstecken!“ – „Wo willst du dich verstecken? Ich
finde dich überall!“ Den Dienern und Generälen
aber tat er leid: „Herrin, hab Mitleid mit ihm: er-
laub ihm noch einmal sich zu verstecken!“ Sie
war’s einverstanden.
Wanjuschka verließ sie, sperrte die Türe zu,
ging ins zweite Zimmer, ließ sich zwischen die
Spiegel fallen und bleibt ruhig liegen. Wie es so-
weit war, begann sie, ihn überall zu suchen – im
Meer und auf dem Meeresgrund, in den Wäldern
und Seen, auf den Wiesen und am hohen Him-
mel… Nirgends konnte sie ihn finden. „Ihr Schur-
ken, ihr habt mich dazu verleitet! Habt ihn gehei-
ßen, sich zu verstecken!“ Sie warf ihre Bücher auf
den Boden, lief hin und her durch alle Zimmer,
setzte sich dann auf einen Stuhl und ließ den Kopf
hängen. „Wanjuschka!“ rief sie auf einmal, „wo
bist du? Komm her, wir wollen von jetzt an zu-

174
sammen leben!“ Und wieder nahm sie ihre Bücher
und Spiegel, suchte und suchte… und konnte ihn
nirgends finden (den einen Spiegel auf den ande-
ren richten, das konnte sie nicht!). Wieder rannte
sie hin und her durch alle Zimmer. „Höre, lieber
Wanjuschka, wo bist du? Komm, ich will nicht
mehr streiten mit dir, will von nun an mit dir zu-
sammen leben!“
Von da an lebte er mit ihr zusammen. Nach ei-
nem Monat schickte er seinem Vater einen Brief:
„Ich wohne jetzt in dem und dem Reich und bin
Zar. Wenn du Lust hast, zieh zu mir!“ Der Vater
hatte Lust, zu ihm zu ziehen.

175
26
Wanjuschka der Dummkopf
Ein Vater hatte drei Söhne. Er war aber, wie man
früher so sagte, ein wenig ein Zauberer. Eines
schönen Tages nun kam er ans Sterben.
„Hört, Söhne, wenn ich gestorben bin, sollt ihr
drei Nächte an mein Grab kommen!“
Nun, versteht sich, Söhne müssen des Vaters
Gebot ausführen. Also schnell das Los geworfen!
Das Los traf für die erste Nacht den ältesten
Bruder, für die zweite Nacht den mittleren Bruder
und für die dritte den Wanjuschka.
Da sagte der älteste Bruder:
„Wanja, geh du für mich!“
Der Abend kommt, er nimmt ein Bündel Bast,
nimmt eine Handvoll Hanf, ein Ahornscheit dazu,
und auch noch ein Bund Stroh.
So kommt er ans Grab und setzt sich hin, den
Pfriemen in der Hand. Ans Flechten denkt er nicht,
klopft aber mit dem Pfriemen. Als Mitternacht he-
rankommt, beginnt das Grab zu zittern, und aus
dem Grab ertönt eine menschliche Stimme:
„Wer ist am Grab?“
„Ich bin am Grab.“
„Du, der Dummkopf?“
„Ich, der Dummkopf!“

176
„Dafür will ich dich belohnen. In den Bannwie-
sen haust ein Schwein mit goldenen Borsten. Es
soll dein sein.“
„Danke, Väterchen!“
Am Morgen wurde es hell. Er kommt eilig ge-
laufen, und die Brüder sehen ihn:
„Dort, dort kommt Wanjuschka; er lebt noch!“
Also gut. Jetzt kommt die zweite Nacht. Der
mittlere Bruder muß gehen. Der mittlere Bruder
sagt:
„Wanja, geh du für mich!“
„Schön!“
Er nimmt ein Bündel Bast, nimmt eine Handvoll
Hanf, ein Ahornscheit dazu, und auch noch ein
Bund Stroh.
Kommt ans Grab, ans Flechten denkt er nicht,
klopft aber mit dem Pfriemen. So kommt Mitter-
nacht heran. Das Grab erzittert, und aus dem
Grab ertönt eine menschliche Stimme:
„Wer ist am Grab?“
„Ich bin am Grab.“
„Du, der Dummkopf?“
„Ich, der Dummkopf!“
„Dafür will ich dich belohnen. Es haust in den
Bannwiesen ein Stier mit goldenen Hörnern. Er
soll dein sein.“
„Danke, Väterchen!“ Es wird hell, er geht, und
sie sehen ihn:
„Der Dummkopf, der Dummkopf! Er lebt noch!“
Also gut. Der Abend kommt und damit die drit-
te Nacht. Er sagt:

177
„Ich bin für euch nachts draußen gewesen.
Geht jetzt wenigstens ihr beide für mich!’
Doch sie:
„Mach, was du willst, unsere Nächte sind schon
vorbei.“ Nun, versteht sich, er nimmt ein Bündel
Bast, nimmt eine Handvoll Hanf, ein Ahornscheit
dazu, und auch noch ein Bund Stroh. So machte
er sich auf den Weg und setzte sich aufs Grab;
ans Flechten denkt er nicht, klopft aber mit dem
Pfriemen. Mitternacht kommt heran. Das Grab er-
zittert, und aus dem Grab ertönt eine menschliche
Stimme:
„Wer ist am Grab?“
„Ich bin am Grab.“
„Du, der Dummkopf?“
„Ich, der Dummkopf!“
„In den Bannwiesen grast die Siwka-Burka, die
weise Kaúrka2. Sie soll dein sein.“
„Danke, Väterchen!“
Also gut, er geht. Die Brüder sehen ihn:
„Sieh doch, sieh doch, der Dummkopf kommt!“
Und waren sehr verwundert.
Sie waren, versteht sich, verheiratet, er aber
war ledig, der Dummkopf nämlich. So leben sie
also, und es vergingen einige Jahre. Der Zar aber
hatte eine Tochter. Wie die Zeit kommt, sie zu
verheiraten, baute der Zar ein Haus, zwölf Bal-
kenlagen hoch, setzte sie oben darauf und sagt:

2
„Siwka-Burka“ und „Kaúrka“ bedeutet beides etwa
„graubraune Stute“. (Anm. d. Übers.)

178
„Wer meine Tochter erreicht, wird ihr Bräuti-
gam.“
Das ganze Volk kommt dort zusammen, und
auch die Brüder wollten zusehen. Sie machten
sich reisefertig und brachen auf.
Der Dummkopf sagt:
„Nehmt mich mit!“
Sie beschimpften ihn mit allen möglichen Aus-
drücken.
„Ist mir ganz egal, ich werde dort sein!“
„Komm nur! Wir werden dir den Rücken strei-
chen!“
Also gut, sie zogen davon. Er ging zum Hinter-
tor hinaus, pfiff und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“ Siwka-Burka
kommt gesaust, daß die Erde nur so braust. Wie
sie vor ihm stand, kroch er ihr ins linke Ohr, trank
und aß sich satt, dann ins rechte – macht’ sich
glatt. Und war ein so schmucker Bursche gewor-
den, du glaubst es nicht, du ahnst es nicht, be-
schreibst’s auch mit der Feder nicht. So machte er
sich auf den Weg. Seine Brüder hatte er schnell
erreicht und zog ihnen ordentlich eins mit der
Peitsche über. Dann kam er angeflogen, machte
einen Satz bis zum sechsten Balken, aber sechs
Balken fehlten noch. Er wandte um und jagte zu-
rück. Wie er wieder zu Hause war, ließ er Siwka-
Burka laufen und legte sich wieder auf den Ofen,
die Hosen bis an die Knie. Ja. Nun kommen die
Brüder herein und sagen:

179
„Das war ein Kerl! So etwas haben wir unser
Lebtag noch nicht gesehen!“
„Meint ihr etwa mich?“
„Hahaha, meinen wir etwa dich?! Warte, wir
werden dich durchwalken! Für dieses Wort müs-
sen wir dich durchwalken!“
Also gut. Es verging einige Zeit, und wieder ruft
der Zar das Volk zusammen.
Wieder bettelt er:
„Nehmt mich mit, Brüder. Ich möchte sehen,
was das für eine Zarentochter ist!“
„Du bist wohl nicht bei Trost, du Rotznase!“
Also gut, sie zogen ab.
Er ging zum Hintertor hinaus, pfiff und rief.
Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur
so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ihr ins
linke Ohr, aß und trank sich satt, dann ins rechte
– macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker
Bursche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst
es nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht.
Er überholt alles Volk und saust, daß die Erde
braust. Holte seine Brüder ein und versetzte ihnen
eins mit der Peitsche. Dann machte er einen Satz
– noch drei Balken fehlten bis zu ihr.
Er wandte um und jagte zurück. Sein Pferd ließ
er laufen, sich selbst legte er wieder auf den Ofen.
Nun kommen die Brüder herein und sagen:
„Das war ein Kerl! So etwas haben wir unser
Lebtag noch nicht gesehen!“
„Meint ihr etwa mich?“
Sie überschütteten ihn mit Schimpfworten. Also
gut. Es verging einige Zeit.

180
Der Zar ruft wieder das Volk zusammen. Ja. Al-
so, die Brüder wollen wieder zusehen.
„Auf, wir wollen’s uns ansehen. Vielleicht
kommt der tüchtige Kerl wieder geritten!“
Er bettelt.
„Ich möchte mitkommen und zusehen!“
„Du bist wohl nicht bei Trost, du Mißgeburt!“
„Ist mir ganz egal, ich werde doch dort sein!“
„Komm nur! Wir walken dich durch!“
Er machte es wieder so: ging zum Hintertor
hinaus, pfiff und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“
Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur
so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins lin-
ke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte –
macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bur-
sche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es
nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht.
Dann machte er sich auf den Weg. Kam angeflo-
gen, versetzte wieder jedem einen ordentlichen
Hieb, flog empor, erreichte die Zarentochter, sie
drückte ihm mit ihrem Siegelring ein Mal auf die
Stirn, gab ihm den Ring und küßte ihn. Er wandte
um und machte sich auf den Heimweg; den Ring
trug er am Finger. Zu Hause ließ er das Pferd lau-
fen, wickelte den Ring in einen Lappen, und um
die Stirn band er ein Handtuch.
Nun kommen die Brüder herein und sagen:
„Alle Wetter, was für ein Kerl! Hat sie erreicht!
Nun gibt’s Hochzeit.“
Er sagt:

181
„Meint ihr etwa mich, Brüder?“
„Hahaha, meinen wir etwa dich! Was ist mit
deiner Stirn?“
„Bin vom Ofen heruntergefallen.“
„Da hat man’s wieder, vom Ofen gefallen!“
Und sie überschütteten ihn mit Schimpfworten.
In der Nacht nun plagt ihn doch die Neugierde,
und er will sich den Ring ansehen. Er wickelte ihn
aus dem Lappen – da war die Hütte ganz hell.
„Dummkopf, verschwende nicht die Streichhöl-
zer!“
„Ich verschwende keine Streichhölzer!“
Also gut. Und nun, versteht sich, ruft der Zar
seine Generäle zusammen, sie sollen den Bräuti-
gam suchen. Er nimmt dazu die Generäle und alle
guten Offiziere.
Er hat sie also zusammengerufen, aber sie kön-
nen ihn auf keine Weise finden. Jetzt ruft er die
Kaufleute, die aus den Dörfern. Nein, sie finden
ihn nicht. Jetzt die Bauern. Auch die Brüder ma-
chen sich auf. Nein, sie finden ihn nicht. Jetzt
nimmt er Leute aus dem gemeinen Volk – auch
Wanjuschka selbst war dabei. Er macht sich auf
den Weg, kommt zu ihr und setzt sich hin. Sie
gießt ihm gleich ein Glas Schnaps ein, da sah sie
den Siegelring und das Mal an der Stirn. Sie tritt
nahe heran, wischt ihm das Gesicht ab und führt
ihn zu ihrem Vater.
„Hier, Vater, ist mein Bräutigam, den mir das
Schicksal beschieden hat!“
Auf dem Hinterhof wurde eine Hütte eingerich-
tet, und dort lebten sie. Ein Jahr hatten sie nun

182
vielleicht dort gelebt, da hörte der Zar, daß in den
Bannwiesen ein Schwein mit goldenen Borsten
haust. Er hatte aber noch mehr Schwiegersöhne.
„Reitet los und fangt es!“
Sie ritten davon. Des Dummkopfs Frau aber
kommt zu ihrem Mann.
„Was gibt’s dort bei Vater Neues?“
„Je nun, ein Schwein mit goldenen Borsten
haust in den Bannwiesen. Jetzt haben sich gerade
alle Schwäger aufgemacht und sind losgeritten, es
zu fangen.“
„Geh und bitte um irgendein Pferd, ich will auch
reiten und mir das Schwein mit den goldenen Bor-
sten ansehen.“
Sie kommt zum Vater.
„Vater, gib mir ein Pferd, Wanja will auch aus-
reiten!“
„Nimm eines ganz hinten vom Hofe, dort das
lahme!“ Wanja saß auf, mit dem Hintern nach
vorn, und nahm den Schwanz ins Maul. Er zog es
mit den Zähnen am Schwanz, daß die Haut nur so
davonflog:
„Elstern und Raben! Hier habt ihr vom Zaren
euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“
Er pfiff und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“
Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur
so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins lin-
ke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte –
macht’ sich glatt; und war ein so schmucker Bur-
sche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es

183
nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht. Er
überholte seine Schwäger, sie bekamen ihn nicht
einmal zu sehen. Sein Pferd ließ er in die Bann-
wiesen laufen, er selbst schlug ein weißes Zelt auf
und liegt und räkelt sich dort wie ein General. Nun
kamen sie, versteht sich, in die Bannwiesen gerit-
ten. Vom Schwein mit den goldenen Borsten aber
bekamen sie nur die Borsten zu sehen; es huschte
vorüber wie ein Vogel – und weg war es. Ja, da
reiten sie nun. Auf einmal erblickten sie ihn.
„Was ist denn das für einer? Vielleicht weiß der,
wo es ist.“
„Guten Tag!“
„Guten Tag!“
„Kommt ihr weit her?“
„Ja, der Zar hat uns den Auftrag gegeben, das
Schwein mit den goldenen Borsten zu fangen.
Aber von Fangen kann keine Rede sein, wir haben
es nicht einmal richtig zu Gesicht bekommen.“
„Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will es
euch fangen.“
„Ja, Väterchen, nichts soll uns zu teuer sein.“
„Nun, ich werde nicht viel von euch nehmen, –
von jedem aus dem Rücken einen Riemen, einen
Finger lang oder zwei.“
Er schnitt jedem einen Riemen aus dem Rük-
ken.
Dann lockte er das Schwein. Es kam zu ihm, sie
führten’s weg. Er rief seine Siwka-Burka, überhol-
te alle und lümmelt wieder zu Hause herum, ganz
der alte Dummkopf.
Sein Weib kam. Er sagt:

184
„Was gibt’s?“
„Je nun, sie haben das Schwein gebracht. Und
wir leben hier im Unglück.“
„Warte nur, auch bei uns kehren noch Festtage
ein.“
„Weswegen sollten sie wohl zu uns hier auf den
Hinterhof kommen? Das wird nie sein.“
„Das wird sein!“
Gut. Einige Zeit verging. Da hörte der Zar, daß
in den Bannwiesen ein Stier mit goldenen Hörnern
haust.
Wieder versammelt er seine Schwiegersöhne.
„Nun, ihr meine treuen Diener. Ich habe gehört,
daß ein Stier mit goldenen Hörnern in den Bann-
wiesen haust. Könnte man ihn nicht fangen?“
„Warum nicht? Das Schwein haben wir doch
auch gefangen“ (doch davon sagten sie nichts,
daß nicht sie es gewesen waren).
Und wieder ritten sie los. Die Zarentochter
kommt zu Wanjuschka.
„Was gibt’s Neues bei Vater?“
„Sie sind fortgeritten, den Stier mit den golde-
nen Hörnern zu fangen.“
„Geh und bitte um ein Pferd!“
Sie kommt zum Vater.
„Vater, Wanja möchte auch reiten und sich an-
sehen, was das für ein Stier ist.“
„Dort auf dem Hinterhof“, sagt er, „ist ein
Pferd.“
Sie ging, nahm’s und brachte es mit Mühe und
Not vor ihre Hütte. Er setzte sich darauf, mit dem

185
Hintern nach vorn, und nahm den Schwanz ins
Maul. Sie sieht’s:
„Ach, Liebster, nicht einmal aufsitzen kannst
du, wie sich’s gehört.“
Er aber ritt zur Stadt hinaus und zog mit den
Zähnen am Schwanz, daß die Haut nur so davon-
flog.
„Elstern und Raben, hier habt ihr vom Zaren
euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“
Er pfiff und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“
Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur
so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins lin-
ke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte –
macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bur-
sche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es
nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht.
Wieder überholte er alle, sie bekamen ihn nicht
einmal zu sehen. Dann schlug er sein weißes Zelt
auf, liegt und räkelt sich und liest die Zeitung. Die
anderen, versteht sich, reiten nun auch in die
Bannwiesen hinein, aber vom Stier bekamen sie
nur für einen Augenblick die Hörner zu sehen.
„Natürlich, wer soll denn den fangen!“
Sie reiten weiter, da erblickten sie Wanjuschka:
„Los, reiten wir hin, ist das nicht der von damals?“
„Gut’n Tag!“
„Gut’n Tag!“
„Ja, wir sind ausgeritten, den Stier mit den gol-
denen Hörnern zu fangen.“

186
„Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will ihn
euch fangen.“
„Väterchen, nimm, was du willst, nichts soll uns
zu teuer sein!“
„Ich nehme nur wenig von euch: ich werde je-
dem vom rechten Fuß die kleine Zehe abschnei-
den, das ist alles.“
Er schnitt also jedem die kleine Zehe ab und
wickelte sie in ein Tuch. Dann lockte er – der Stier
kam gelaufen; sie fingen ihn und führten ihn fort.
Er überholte sie und lümmelt wieder herum.
Sein Weib ging hinüber ins Schloß.
Da feierten sie ein Fest, Herrgott nochmal!
Sie weinte sich satt und ging.
„Dort feiern sie, und was ist bei uns?“
Er sagt wieder zu ihr:
„Warte nur, Frau, auch bei uns kehren noch
Festtage ein!“
„Woher sollten sie wohl kommen?“
„Sie werden kommen!“
Nach einiger Zeit nun hört der Zar, daß eine
Siwka-Burka in den Bannwiesen grast. Er ver-
sammelt also die Schwiegersöhne, ihn aber for-
dert er nicht auf, es kommt ihm gar nicht in den
Sinn, daß er auch Schwiegersohn ist.
Dann sagt er:
„Nun, ihr meine treuen Schwiegersöhne, ich
habe gehört, daß in den Bannwiesen eine Siwka-
Burka, eine weise Kaúrka grast. Wenn ihr euch
nicht anstrengt und sie fangt, braucht ihr nicht
wiederzukommen.“

187
„Wir reiten. Damals haben wir’s doch auch fer-
tig gebracht.“
Also gut. Sie machten sich reisefertig und ritten
los.
Sie kommt.
„Was gibt’s Neues bei Vater?“
„Je nun, sie sind fortgeritten, die Siwka-Burka
zu fangen.“
„Geh und bitte um ein Pferd!“
Sie ging wieder und bat. Er gab wieder einen
lahmen Gaul. Wanjuschka saß auf, ritt wieder aus
der Stadt heraus und zog am Schwanz, daß die
Haut nur so davonflog.
„Elstern und Raben! Hier habt ihr vom Zaren
euren Lohn und von mir ein Mittagessen!“
Er pfiff und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“
Siwka-Burka kommt gesaust, daß die Erde nur
so braust. Wie sie vor ihm stand, kroch er ins lin-
ke Ohr, trank und aß sich satt, dann ins rechte –
macht’ sich glatt. Und war ein so schmucker Bur-
sche geworden, du glaubst es nicht, du ahnst es
nicht, beschreibst’s auch mit der Feder nicht.
Brach auf, überholte alle, ließ sein Pferd laufen,
schlug das weiße Zelt auf, liegt da, räkelt sich und
liest die Zeitung. So. Jetzt kamen die anderen und
ritten in die Bannwiesen. Von Siwka-Burka sahen
sie nur die Mähne schimmern – und weg war sie.
„Wer soll die denn fangen!“
Sie machten kehrt und warteten. Da sahen sie
ihn.

188
„Komm, reiten wir hin, ist das nicht der vom
letzten Mal?“
„Gut’n Tag!“
„Gut’n Tag!“
„Kommt ihr weit her?“
„Ja, weit. Hier grast eine Siwka-Burka, und der
Zar hat uns geschickt, sie zu fangen. Wer soll das
aber fertigbringen?“
„Wollt ihr’s euch was kosten lassen? Ich will sie
euch fangen.“
„Nichts soll uns zu teuer sein, Väterchen.“
„Na, schön, ich werde nicht viel von euch neh-
men. Von jedem den kleinen Finger der rechten
Hand.“
Er fing ihnen die Siwka-Burka, übergab sie ih-
nen, und sie führten sie davon.
Diesmal mußte er zu Fuß laufen. Er kommt also
heim.
Sein Weib, versteht sich, kommt zu ihm.
Er sagt:
„Nun, was gibt’s Neues bei Vater?“
„Sie haben die Siwka-Burka gebracht. Sie feiern
dort – Herrgott nochmal!“
„Komm, wir wollen sehn, wie sie feiern!“
Sie gehen hinüber.
Die Frau ging als erste hinein.
„Vater, Wanja und ich sind gekommen“ (das
war das erste Mal, sonst waren sie noch nie ge-
kommen).
Nun, natürlich, der Zar gießt ihnen ein.
„Vater, warum sitzen diese Schwiegersöhne mit
dem Zaren an der hohen Tafel und haben die

189
Handschuhe an?“ sagt er: „Im Zimmer ist es doch
warm.“
„Das ist ihre eigene Sache“, sagt der Zar.
„Wie’s ihnen behagt, mögen sie auch sitzen.“
„Laß sie die Handschuhe doch mal ausziehen.“
Der Zar lachte, die Sache fing an, ihm Spaß zu
machen.
„Zieht mal die Handschuhe aus“, sagt er, „er ist
ein wenig dumm!“
Da zogen sie sie aus.
Wanjuschka holt die Finger hervor. Wie er sie
ansetzte, so wuchsen sie an.
Dann sagt er:
„Das war die Siwka-Burka.“
Der Zar gebietet: „Halt!“
Der Zar gab ihm ein zweites Glas. Das trank er
aus und sagt:
„Nun befiehl ihnen, Vater, die Schuhe auszuzie-
hen, den Schuh vom rechten Fuß!“
„Na kommt schon, Schwiegersöhne, zieht die
Schuhe aus!“
Dann sagte der Zar:
„So, so; keine kleinen Zehen!“
Wanjuschka wickelte sie aus, setzte sie an – da
wuchsen sie fest. Wie er sie ansetzte, wuchsen sie
fest.
„So“, sagt er, „das war der Stier mit den golde-
nen Hörnern.“
„Aha“, sagt der Zar, „Wanjuschka will’s uns be-
weisen.“
Und er gießt ihm das dritte Glas ein. Wanjusch-
ka sagt:

190
„Befiehl ihnen, die Hemden auf dem Rücken
hochzurollen!“
Der Zar sagt und ist schon ganz bei Laune:
„Na kommt schon, rollt mal hoch!“
Wanjuschka holt sein Tuch hervor und weiß bei
jedem Riemen, zu wem er gehört. Legt den ersten
auf – er wächst fest; legt den zweiten auf – er
wächst fest.
„So“, sagt er, „das war das Schwein mit den
Goldborsten.“
Da stammelten sie:
„Aha, er ist wohl der, der alles gefangen hat.“
Auf dieses Wort hin tritt er auf die Schloßtreppe
hinaus, pfiff gewaltig und rief:
„Siwka-Burka, weise Kaúrka, komm herbei ge-
schwind, schneller als der Wind!“
Siwka-Burka jedoch war hinter zwölf Schlössern
eingesperrt, damit sie nicht fortlaufen konnte.
Aber sie legte los, daß die Späne flogen, zerschlug
alle Schlösser und erschien vor ihm. Und er war
ein so schmucker Bursche geworden, du glaubst
es nicht, du ahnst es nicht, beschreibst’s auch mit
der Feder nicht. Und er trat in die Tür.
„Jetzt bin ich des Zaren Schwiegersohn!“
Der Zar jagte die anderen Schwiegersöhne da-
von, ihm aber gab er sein halbes Reich.
Und sie leben auch noch heute. Ich bin unlängst
dort gewesen, also es geht ihnen prächtig!
So war das also.

191
27
Jemelja der Dummkopf
In einem kleinen Dorf lebten drei Brüder: Semjon
und Wassili und als dritter Jemelja der Dumm-
kopf.
Die älteren Brüder waren verheiratet und trie-
ben Handel, Jemelja der Dummkopf aber lag die
ganze Zeit auf dem Ofen, kratzte im Ruß und
schlief mehrere Tage hindurch, ohne munter zu
werden.
Einmal beschlossen die Brüder, in die Residenz-
stadt zu fahren, um Waren einzukaufen. Sie
weckten Jemelja, zerrten ihn vom Ofen herunter
und sagen zu ihm: „Jemelja, wir fahren in die Re-
sidenzstadt, verschiedene Waren zu kaufen. Blei-
be du hier bei den Schwägerinnen und gehorche
ihnen, wenn sie dich bitten, ihnen bei irgend et-
was zu helfen. Gehorchst du ihnen, dann bringen
wir dir aus der Stadt einen roten Kaftan, eine rote
Mütze und einen roten Gürtel mit, und außerdem
noch viel Näschereien.“ Jemelja aber hatte rote
Kleider am liebsten, er freute sich auf die schönen
Sachen und klatschte vor Vergnügen in die Hän-
de: „Alles will ich für eure Frauen tun, Brüder,
wenn ihr mir nur so schöne Sachen zum Anziehen
kauft!“ Und damit klettert er wieder auf den Ofen
hinters Ofenrohr und fiel sogleich in einen tiefen
Schlaf. Die Brüder nahmen Abschied von ihren

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Frauen und machten sich auf den Weg in die Re-
sidenzstadt.
Jemelja schläft einen Tag, schläft auch einen
zweiten Tag, am dritten aber wecken ihn seine
Schwägerinnen: „Steh auf, Jemelja, komm herun-
ter vom Ofen, du mußt doch ausgeschlafen ha-
ben, schläfst ja schon den dritten Tag! Geh zum
Fluß, Wasser holen!“ Er aber antwortet ihnen:
„Laßt mich in Ruh, ich bin sehr müde. Ihr seid
doch keine Gräfinnen, geht selbst nach Wasser!“ –
„Du hast doch deinen Brüdern gerade erst ver-
sprochen, daß du uns gehorchen willst. Und jetzt
sperrst du dich schon. Da müssen wir deinen Brü-
dern schreiben, sie sollen dir keinen roten Kaftan
kaufen, keine rote Mütze, keinen roten Gürtel und
auch keine Näschereien.“ Da sprang Jemelja
schnell vom Ofen herunter, zieht seine zerrisse-
nen Stiefel an und seinen elenden Kaftan und ist
ganz schmutzig von Ruß. Eine Mütze aber trug er
nie, denn seine Haare waren borstig und hart wie
rußbeschmierte Flachsspindeln. Er nahm die Ei-
mer und ging zum Fluß.
Wie er nun im Eisloch die Eimer voll Wasser ge-
schöpft hat und gehen will und sich noch einmal
nach dem Eisloch umsieht, da steckt ein Hecht
seinen Kopf aus dem Eisloch heraus, und er
denkt: „Daraus werden mir die Schwägerinnen
eine schöne Pirogge backen!“ Er setzte die Eimer
ab, ging zum Eisloch und packte den Hecht, der
aber begann plötzlich mit menschlicher Stimme zu
reden. Jemelja war zwar ein Dummkopf, aber er
wußte, daß ein Fisch nicht mit Menschenstimme

193
spricht, und er erschrak sehr. Der Hecht aber sag-
te zu ihm: „Laß mich ins Wasser zurück, in die
Freiheit! Ich werde dir mit der Zeit nützlich sein
und alle deine Befehle ausführen. Du brauchst nur
zu sagen: ,Wie’s der Hecht gebietet und ich erbit-
te!’ – und es wird alles geschehen, wie du willst.“
Da ließ Jemelja ihn frei und denkt: „Vielleicht hat
er mich betrogen?“ Er geht zu seinen Eimern und
ruft mit lauter Stimme: „Wie’s der Hecht gebietet
und ich erbitte: Eimer, lauft selbst nach oben und
verschüttet mir ja keinen Tropfen Wasser!“ Und er
hatte das letzte Wort noch nicht zu Ende gespro-
chen, da liefen die Eimer los.
Die Leute sahen das und staunten über ein sol-
ches Wunder. „So lange leben wir schon auf der
Welt, aber noch nie haben wir gesehen oder auch
nur gehört, daß Eimer selbst laufen können. Bei
diesem schrecklichen Dummkopf Jemelja aber
laufen sie von selbst, und er geht hinterher und
lacht sich eins.“
Als die Eimer ins Haus gelaufen kamen, staun-
ten die Schwägerinnen über ein solches Wunder,
er aber machte sich schleunigst wieder auf seinen
Ofen und schlief einen gewaltigen Schlaf.
Nach einer ziemlich langen Zeit ging ihnen das
gehackte Holz aus, sie wollten aber Pfannkuchen
backen. Da wecken sie Jemelja: „Jemelja, he Je-
melja!“ Er aber antwortet: „Laßt mich in Ruhe, ich
bin ganz schrecklich müde!“ – „Geh, hack Holz
und bring’s ins Haus. Wir wollen Pfannkuchen
backen und dir die allersaftigsten geben!“ – „Ihr
seid doch keine Gräfinnen, geht, hackt euer Holz

194
selber und bringt’s herein!“ – „Wenn wir’s selber
bringen und hacken müssen, bekommst du von
uns auch nicht einen einzigen Pfannkuchen.“
Pfannkuchen aber mochte Jemelja gar zu gern. Er
nahm das Beil und ging auf den Hof. Er hackte
und hackte, da fiel ihm ein: „Was hacke ich denn,
ich Dummkopf, mag doch der Hecht hacken.“ Und
mit leiser Stimme sprach er vor sich hin: „Wie’s
der Hecht gebietet und ich erbitte: Beil, hack das
Holz, und Holz, flieg von allein ins Haus!“ Da
hackte das Beil in einem Augenblick das ganze
Holz klein, dann sprang die Tür auf, und ins Haus
kam ein Riesenbündel Holz geflogen. Den Schwä-
gerinnen verschlug es die Sprache. „Was ist nur
mit unserem Jemelja los, er vollbringt ja geradezu
Wunder!“ Jemelja aber kam wieder herein und
kroch auf den Ofen. Die Schwägerinnen heizten
den Ofen, buken Pfannkuchen und setzten sich an
den Tisch, um zu essen. Ihn aber versuchten sie
zu wecken, versuchten’s immer wieder und konn-
ten ihn nicht munter kriegen. Nach einiger Zeit
ging ihnen überhaupt das Holz aus, und es mußte
in den Wald gefahren werden. Da begannen sie
wieder, ihn zu wecken: „Jemelja, steh auf, wach
auf, du mußt doch ausgeschlafen haben, wasch
dir doch wenigstens dein schmutziges Gesicht,
sieh dich doch an, wie du dich vollgeschmiert
hast!“ – „Wascht euch selber, wenn’s euch danach
verlangt! Ich fühle mich auch so wohl.“ – „Fahr
nach Holz in den Wald, wir haben kein Holz
mehr!“ – „Fahrt selber, ihr seid keine Gräfinnen.
Brennholz hab’ ich euch gebracht, aber Pfannku-

195
chen habt ihr mir nicht gegeben.“ – „Wir haben
doch versucht, dich zu wecken, haben’s immer
wieder versucht, aber du gibst ja nicht einmal ei-
nen Laut von dir. Nicht wir sind schuld, du selber
bist schuld. Warum bist du nicht heruntergekom-
men?“ – „Mir ist auch auf dem Ofen warm und
wohl. Ihr aber hättet mir einfach drei Pfannkuchen
aufs Maul legen sollen. Ich wäre munter geworden
und hätte sie mir schmecken lassen.“ – „Du bist
immer widerborstig gegen uns und hörst nicht auf
uns. Wir müssen doch deinen Brüdern schreiben,
sie sollen dir keine schönen roten Kleider und
auch keine Näschereien kaufen.“ Da bekam es
Jemelja mit der Angst zu tun, zieht seinen schäbi-
gen Kaftan an, nimmt das Beil, geht auf den Hof,
stellt den Schlitten bereit und nimmt einen Knüp-
pel in die Hand. Die Schwägerinnen aber kamen
heraus, um zuzusehen. „Warum spannst du das
Pferd nicht an? Wie willst du denn ohne Pferd fah-
ren?“ – „Wozu soll ich das arme Pferdchen quälen!
Ich kann auch ohne Pferde fahren.“ – „Du solltest
wenigstens eine Mütze aufsetzen oder etwas um
den Kopf binden. Es ist kalt draußen, du wirst dir
die Ohren erfrieren.“ – „Wenn ich an den Ohren
friere, werde ich sie mit meinen Haaren zudek-
ken.“ Und er sprach mit leiser Stimme: „Wie’s der
Hecht gebietet und ich erbitte: Fahr selber, Schlit-
ten, in den Wald, und flieg schneller als irgendein
Vogel!“ Und er hatte die letzten Worte noch nicht
zu Ende gesprochen, da sprang das Tor weit auf,
und der Schlitten flog schneller als ein Vogel auf
den Wald zu. Jemelja sitzt im Schlitten, hält den

196
Knüppel in die Höhe und singt, was seine Stimme
nur hergibt, närrische Lieder. Und seine Haare
spießen nach allen Seiten. Der Wald lag hinter der
Stadt. Die Leute in der Stadt können ihm nicht
schnell genug ausweichen, und außerdem interes-
sierte es sie, daß da ein junger Bursche ohne
Pferd, im bloßen Schlitten gefahren kam. Wer
nach seinem Schlitten griff, den schlug er mit sei-
nem Knüppel, wohin er gerade traf. So jagte er
durch die Stadt, fuhr viele Menschen um und prü-
gelte viele mit seinem Knüppel. Wie er in den
Wald kommt, rief er mit lauter Stimme: „Wie’s
der Hecht gebietet und ich erbitte: Beil, schlag
das Holz, und Holz, flieg von allein in den Schlit-
ten!“ Und kaum hatte er seinen Spruch zu Ende
gesagt, da war der Schlitten schon voll Holz und
alles fest verschnürt. Er setzte sich obendrauf und
fuhr durch die gleiche Stadt zurück. In der Stadt
aber drängten sich die Menschen, und alle spra-
chen von dem jungen Burschen, der im bloßen
Schlitten, ohne Pferde gefahren war. Auf dem
Rückweg, als er mit seiner Ladung Holz kam, fuhr
er noch mehr Menschen um und prügelte noch
mehr mit seinem Knüppel als beim ersten Mal. Als
er wieder zu Hause war, kroch er gleich auf den
Ofen, den Schwägerinnen aber verschlug es die
Sprache. „Was ist nur mit unserem Jemelja los, er
vollbringt ja geradezu Wunder: Die Eimer laufen
bei ihm von selber, das Holz kommt von selber ins
Haus geflogen, und der Schlitten fährt ohne Pferd.
Mit dem werden wir noch unsere Not haben. Si-
cher hat er in der Stadt viele Leute umgefahren,

197
und man wird uns mit ihm zusammen ins Gefäng-
nis stecken.“
Und sie beschlossen, ihn nirgends mehr hinzu-
schicken. Jemelja aber schlief seelenruhig auf
dem Ofen, und sooft er erwacht, kratzt er den
Ruß im Ofenrohr zusammen und schläft wieder
ein.
Von diesem Jemelja nun drang die Kunde zum
Zaren, es gäbe einen, dessen Schlitten führe von
selber, und er habe in der Stadt sehr viele Men-
schen umgefahren. Da ruft der Zar einen treuen
Diener und befiehlt ihm: „Geh und finde mir die-
sen Burschen und bring ihn persönlich zu mir!“
Der Diener des Zaren macht sich auf den Weg und
sucht in den verschiedenen Städten, in großen
und kleinen Dörfern, aber überall und allerorts
erhält er ein und dieselbe Antwort: „Gehört haben
wir von einem solchen Burschen, aber wo er
wohnt, wissen wir nicht.“ Schließlich gelangt er in
das Städtchen, in dem Jemelja die vielen Men-
schen umgefahren hatte. Von dieser Stadt aber
sind es bis zu Jemeljas Dorf nur sieben Werst, und
der Zarendiener kam gerade mit einem Mann aus
Jemeljas Dorf ins Gespräch. Der sagte: „Einen
solchen Burschen gibt es in unserem Dorfe. Es ist
Jemelja, der Dummkopf.“ Da kommt der Diener
des Zaren in Jemeljas Dorf, geht zum Dorfschul-
zen und sagt zu ihm: „Komm mit, wir wollen die-
sen Burschen festnehmen, der so viele Menschen
zuschandengefahren hat.“ Als der Zarendiener
und der Dorfschulze in Jemeljas Haus kamen, er-
schraken die Schwägerinnen sehr: „Nun sind wir

198
verloren! Dieser Dummkopf hat mit seinen närri-
schen Streichen nicht nur sich selbst ins Unglück
gebracht, sondern auch uns.“ Der Diener des Za-
ren fragt die Schwägerinnen: „Wo ist bei euch
Jemelja zu finden?“ – „Dort auf dem Ofen schläft
er.“ Da schrie der Zarendiener Jemelja mit lauter
Stimme an: „Jemelja, komm herunter vom Ofen!“
– „Warum denn? Mir ist auf dem Ofen schön
warm. Laßt mich in Ruhe, ich will schlafen!“ Und
er begann von neuem laut zu schnarchen. Der Za-
rendiener aber wollte ihn zusammen mit dem
Dorfschulzen gewaltsam vom Ofen herunterzer-
ren. Als Jemelja merkte, daß sie ihn vom Ofen
zerrten, schrie er wie ein Wilder: „Wie’s der Hecht
gebietet und Jemelja erbittet: Komm, Knüppel,
und mach dem Diener des Zaren und unserem
Schulzen deine Aufwartung!“ Da erschien auf
einmal ein Knüppel und prügelte Schulzen wie Za-
rendiener aufs unbarmherzigste. Sie kamen mehr
tot als lebendig aus dem Haus heraus. Als der Za-
rendiener sieht, daß es ganz unmöglich ist, ihn
festzunehmen, begab er sich wieder zum Zaren,
berichtete ihm alles ausführlich und schloß: „Ge-
funden hab ich ihn, aber mit dem Herbringen war
es nichts. Seht nur, Kaiserliche Majestät, wie mein
ganzer Leib zerschunden ist.“ Und er hob sein
Hemd in die Höhe, da war sein ganzer Leib grün
und blau geschlagen und über und über mit Nar-
ben bedeckt. Der Zar ruft einen anderen Diener
und sagt: „Der eine hat ihn gefunden, du geh und
bring ihn her! Wenn du ihn aber nicht herbringst,
lasse ich dir den Kopf abschlagen, bringst du ihn

199
jedoch, will ich dich reich belohnen.“ Der zweite
Zarendiener fragte den ersten genauestens aus,
und der erzählte ihm alles. Er mietete eine Post-
troika und fuhr zu Jemelja. In Jemeljas Dorf an-
gekommen, wendet sich auch der zweite Zaren-
diener an den Dorfschulzen: „Zeige mir, wo
Jemelja wohnt, und hilf mir, ihn festzunehmen!“
Der Schulze hat zwar Angst, den Zarendiener zu
erzürnen – das darf man nicht, sonst kriegt man
eine schwere Strafe –, aber noch mehr Angst vor
Jemeljas Schlägen. Er erzählt dem Zarendiener
alles ausführlich, daß man ihn mit Gewalt nicht
festnehmen könne. Da sagt der Diener des Zaren
zum Dorfschulzen: „Wie sollen wir ihn denn dann
festnehmen?“ Der Schulze sagt: „Er mag Näsche-
reien sehr gern: süße Körner und Pfefferkuchen,
und außerdem ist er dem Branntwein gut.“ Da
holte der Zarendiener eine Menge Näschereien
herbei, nahm ein Viertel Schnaps, betritt Jemeljas
Haus und begann, ihn zu wecken: „Jemelja,
komm herunter vom Ofen, hier schickt dir der Zar
viele Näschereien und Branntwein!“ Als Jemelja
das hörte, ward er guter Dinge und sagte: „Gib
immer her, ich kann auch hier auf dem Ofen es-
sen, wozu soll ich runterkommen? Ich werde die
Näschereien essen und den Branntwein trinken
und mich dann ausruhen.“ Der Diener des Zaren
aber sagt zu ihm: „Die Näschereien willst du es-
sen und den Schnaps trinken, aber wirst du auch
den Zaren besuchen kommen? Er hat dich zu sich
eingeladen.“ – „Warum sollte ich nicht mal hinfah-
ren? Ich fahre gern spazieren.“ Die Schwägerin-

200
nen aber sagten dem Zarendiener auch von sich
aus: „Gebt ihm lieber auf den Ofen, was Ihr ihm
zu geben gedenkt. Wenn er einmal versprochen
hat, zum Zaren zu fahren, dann hält er Wort und
kommt.“ So geben sie ihm die Näschereien und
den Schnaps. Er trinkt den Schnaps und ißt die
Näschereien. Und bekam einen Rausch. Der Za-
rendiener aber sagt zu ihm: „Nun, die Näscherei-
en hast du gegessen und den Schnaps getrunken,
hast dir beides schmecken lassen, jetzt komm,
wir wollen zum Zaren fahren!“ Jemelja sagt dar-
auf: „Fahr nur zu, Diener des Zaren! Ich hole dich
schon ein, ich halte Wort und komme.“ Und damit
legte er sich wieder hin und schnarchte, daß das
ganze Haus dröhnte. Der Diener des Zaren fragte
die Schwägerinnen nochmals, ob es wahr sei, daß
er tue, was er vorher versprochen habe. Die sag-
ten natürlich ja, es ist wirklich so, er bricht sein
Wort nie. Der Zarendiener fuhr davon, Jemelja
aber schläft höchst vergnügt auf seinem Ofen.
Wird er munter, knackt er Sonnenblumenkerne
und schläft dann wieder ein.
Nun verging eine geraume Zeit, Jemelja aber
denkt gar nicht daran, zum Zaren zu fahren. Da
weckten die Schwägerinnen Jemelja und schalten:
„Jemelja, los, aufstehen, du hast genug geschla-
fen!“ Er antwortete ihnen: „Laßt mich in Ruhe, ich
bin sehr müde!“ – „Du hast aber doch verspro-
chen, zum Zaren zu fahren. Den Schnaps hast du
getrunken, die Näschereien gegessen, und nun
schläfst du und fährst nicht.“ – „Schön, ich fahre
gleich los. Gebt mir mal meinen Kaftan, sonst ist

201
es vielleicht doch zu kalt!“ – „Den kannst du dir
schon selber nehmen, auf dem Ofen wirst du ja
wohl nicht fahren wollen. Komm herunter vom
Ofen und hol ihn dir!“ – „Nein, im Schlitten ist es
mir zu kalt, ich werde auf dem Ofen liegenbleiben
und den Kaftan überziehen.“ Doch die Schwäge-
rinnen sagen zu ihm: „Was fällt dir nur ein, du
Dummkopf, und was stellst du nur an! Wo hat
man je gehört, daß die Leute auf einem Ofen spa-
zierenfahren!“ – „Die Leute sind nicht ich. Ich
werde so fahren.“ Und er sprang herunter, holte
seinen schäbigen Kaftan unter der Bank hervor,
deckte sich zu und sagte mit lauter Stimme:
„Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Ofen,
fahr geradenwegs zum Zaren ins Schloß!“ Der
Ofen krachte in allen Fugen und flog mit einem
Male hinaus ins Freie. Und schneller als jeder Vo-
gel fuhr er zum Zaren. Jemelja aber liegt oben-
drauf und singt aus vollem Halse Lieder. Später
hörte er auf und schlief ein. Und der Zarendiener
war gerade in den Hof des Zarenschlosses einge-
fahren, da kommt auch Jemelja der Dummkopf
auf seinem Ofen angeflogen. Der Diener sah ihn
ankommen und eilte, dem Zaren Bericht zu er-
statten. Eine solche Ankunft interessierte nicht
nur den Zaren, sondern auch sein ganzes Gefolge
und seine ganze Familie. Alle kamen heraus, sich
Jemelja anzusehen, der aber sitzt auf seinem
Ofen, hat das Maul weit aufgerissen, und seine
Haare spießen wie Flachsspindeln. Auch die Toch-
ter des Zaren war mit herausgekommen. Als Je-
melja diese schöne Jungfrau sah, gefiel sie ihm

202
gar sehr, und er sprach mit leiser Stimme vor sich
hin: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte,
diese schöne Jungfrau soll sich in mich verlieben.“
Der Zar nun befiehlt ihm, vom Ofen herunterzu-
klettern. Jemelja aber gibt ihm zur Antwort:
„Warum denn? Mir ist auch auf meinem Ofen
warm genug, und ich kann euch alle vom Ofen
aus sehen. Sag nur, was du zu sagen hast!“ Da
sprach der Zar mit strenger Stimme zu ihm:
„Warum hast du mit deinem Schlitten so viele
Leute umgefahren?“ – „Warum sind sie denn nicht
aus dem Wege gegangen? Wenn du dagestanden
und Maulaffen feilgehalten hättest, hätte ich dich
auch überfahren.“ Da wurde der Zar sehr böse
und gab Befehl, Jemelja von seinem Ofen herun-
terzuziehen. Kaum aber erblickte Jemelja die
Wächter des Zaren, sagte er mit lauter Stimme:
„Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte: Ofen,
flieg zurück an deinen Platz!“ Und er hatte die
letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als
der Ofen auch schon schnell wie der Blitz aus dem
Zarenschloß herausflog, und die Tore öffneten
sich für ihn von selbst. Die Schwägerinnen fragen
ihn: „Wie ist’s, warst du beim Zaren?“ – „Na, ver-
steht sich. Bin ja schließlich nicht ins Holz gefah-
ren.“ – „Nein wahrhaftig, Jemelja, du vollbringst
geradezu Wunder. Wie kommt’s nur, daß sich bei
dir alles bewegt: der Schlitten fährt von selbst,
und der Ofen fliegt von selbst. Und warum ist dies
bei anderen Leuten nicht so?“ – „Freilich, bei an-
deren ist’s nicht so und wird auch nie so sein.
Aber mir gehorcht alles.“ Und damit fiel er in ei-

203
nen tiefen Schlaf. Die Zarentochter aber sehnte
sich inzwischen sehr nach Jemelja, denn ohne ihn
gab es für sie auf der ganzen weiten Welt keine
Freude. Und sie bat Vater und Mutter, den jungen
Burschen zu rufen und ihr zum Manne zu geben.
Der Zar verwunderte sich über eine so schreckli-
che Bitte und wurde sehr zornig auf seine Tochter.
Aber sie sagte: „Ich mag nicht mehr leben auf
dieser Welt, mich hat eine unbegreifliche Sehn-
sucht befallen, macht mich zu seinem Weibe!“
Wie der Zar sieht, daß alles Reden, sie könne
doch nicht sein Weib werden, gar nichts über die
Tochter vermag und daß sie gegen alle Ermah-
nungen der Eltern taub ist, beschloß er, diesen
Dummkopf Jemelja kommen zu lassen. Und er
sendet einen dritten Diener aus: „Geh und bring
ihn mir her, aber bring ihn gleich mit, und nicht
etwa auf einem Ofen oder im Schlitten!“ Der Za-
rendiener kommt nun in Jemeljas Dorf. Da ihm
der erste Diener gesagt hatte, Jemelja liebe
Schnaps, Pfefferkuchen und Näschereien, trug er
eine Menge der verschiedensten Näschereien zu-
sammen und kaufte Schnaps. Er kam herein,
weckte Jemelja und sagt: „Komm herunter vom
Ofen, Jemelja, trink Schnaps mit mir und iß, was
ich dir mitgebracht habe!“ Der aber sagt zu ihm:
„Gib nur immer her, ich kann auch auf dem Ofen
Schnaps trinken und deine Mitbringsel essen.“ –
„Du mußt doch schon ganz wundgelegene Seiten
haben, wenn du immer auf dem Ofen liegst. Ich
will, daß du hier bei mir sitzt, und ich werde dich
bewirten wie einen Grafen.“ Da klettert Jemelja

204
von seinem Ofen herunter und zieht seinen Kaftan
an. Er hatte immer große Angst, er könne sich
erkälten. Was aber den Kaftan betrifft, so konnte
man ihn eigentlich gar nicht so nennen: ein Flik-
ken hing am anderen, so zerrissen war er. Der
Zarendiener also bewirtet ihn mit Branntwein, und
Jemelja hatte sich bald einen ordentlichen Rausch
angetrunken und war auf der Bank am Tisch ein-
geschlafen. Da befiehlt der Zarendiener, Jemelja
in seine Kutsche zu schleppen und so viel Schnaps
mitzunehmen, daß es bis zum Zarenschloß reicht.
Er zog ihm aber seinen alten, zerrissenen Kaftan
an. Sobald Jemelja erwachte, gab er ihm wieder
Schnaps zu trinken, und so brachte er den schla-
fenden und betrunkenen Jemelja ins Schloß. Als
der Zar erfuhr, daß Jemelja angekommen war,
ließ er ein großes Faß anrollen und die Zarentoch-
ter zusammen mit Jemelja dem Dummkopf hin-
einstecken. Als man sie hineingesteckt hatte,
wurde das Faß mit Pech verschlossen und ins
Meer versenkt. Jemelja aber schläft auch im Faß
weiter und ist nicht munter zu kriegen. Am dritten
Tag weckte ihn die wunderschöne Zarentochter:
„Jemelja, Jemelja! Steh auf, wach auf!“ – „Laß
mich in Ruh! Ich bin sehr müde!“ Sie weinte bit-
terlich, daß er sie überhaupt nicht beachtete. Als
er die bitteren Tränen der Zarentochter sah, tat
sie ihm doch leid, und er fragt: „Warum weinst
du?“ – „Wie sollte ich nicht weinen? Man hat uns
doch ins Meer geworfen, und wir sitzen in einem
Faß.“ Da sagte Jemelja: „Wie’s der Hecht gebietet
und ich erbitte: Faß, flieg ans Ufer und fall aus-

205
einander in kleine Teile!“ Und augenblicklich wur-
den sie durch eine Meereswoge ans Ufer gewor-
fen, das Faß fiel auseinander, und diese Insel war
so schön, daß die wunderschöne Zarentochter den
ganzen Tag umherlief und sich bis zur späten
Nacht an all der Schönheit nicht sattsehen konnte.
Als sie dorthin kam, wo sie Jemelja zurückge-
lassen hatte, war er unter seinen schäbigen Kaf-
tan gekrochen und schlief wie ein Murmeltier. Da
weckte sie ihn und rief: „Jemelja, Jemelja, steh
auf, wach auf!“ – „Laß mich in Ruhe! Ich bin mü-
de!“ – „Ich bin auch müde, aber unter freiem
Himmel ist es doch zu kalt.“ – „Ich habe mich mit
meinem Kaftan zugedeckt.“ – „Und womit soll ich
mich zudecken?“ – „Was geht’s mich an?“ Da be-
gann die Zarentochter bitterlich zu weinen, daß er
sie so gar nicht beachtete, während sie ihn von
ganzer Seele liebte. Als er sah, daß die Zaren-
tochter weinte, fragte er sie: „Was willst du
denn?“ – „Wenn wir uns doch wenigstens eine
Laubhütte machten, um uns vor dem Regen zu
schützen.“ Da schrie er mit lauter Stimme: „Wie’s
der Hecht gebietet und ich erbitte, es soll ein
Schloß erscheinen, wie es kein anderes in der wei-
ten Welt gibt!“ Und kaum hatte er die letzten
Worte ausgesprochen, da erhob sich auf der Insel
ein sehr schönes Marmorschloß, wie es in keiner
Residenzstadt je eines gegeben hat oder geben
wird. Die Zarentochter faßt ihn bei den Händen
und führt ihn zu diesem Schloß. Und ihr ganzer
Hofstaat erwartet sie, macht vor ihnen die Tore
weit auf, und alle verbeugen sich bis zur Erde. Als

206
sie dieses Schloß nun betreten hatten, ließ sich
Jemelja auf eins der kostbaren Betten fallen, um
zu schlafen, und er zog nicht einmal seinen abge-
tragenen, schäbigen Kaftan aus. Die Zarentochter
aber ging inzwischen das wunderschöne Schloß
besichtigen und weidete sich an all dem Glanz und
Reichtum. Als sie dorthin kam, wo sie Jemelja zu-
rückgelassen hatte, sah sie, daß er bitterlich
weinte. Sie fragt ihn: „Warum weinst du so bitter-
lich, lieber Jemelja?“ – „Wie sollte ich nicht heulen
und weinen? Ich finde keinen Ofen und weiß
nicht, wohin ich mich legen soll!“ – „Liegst du
denn schlecht auf den Daunenfedern und dem
kostbaren Diwan?“ – „Nein, auf einem Ofen liegt
sich’s am besten. Und außerdem ist mir hier
langweilig, auch Ruß kann ich nirgends sehen.“
Sie beruhigte ihn, und er schlief wieder ein. Sie
ging zum andern Male weg. Und als sie sich nach
Herzenslust im ganzen Schloß umgesehen hatte,
kam sie zu Jemelja zurück und sieht verwundert:
Jemelja stand vor einem Spiegel und schimpfte:
„Ich bin sehr häßlich und gar nicht schön. Was für
ein schreckliches Gesicht habe ich, und meine
Haare spießen wie Flachsspindeln.“ Die Zaren-
tochter antwortet ihm: „Wenn du auch nicht
schön und ansehnlich bist, so habe ich dich doch
in mein Herz geschlossen und liebe dich.“ Da sag-
te er: „Wie’s der Hecht gebietet und ich erbitte:
Ich muß der allerschönste Bursche werden.“ Und
auf einmal veränderte sich Jemelja vor ihren Au-
gen und wurde zu einem so schönen Helden, daß
man es weder mit Worten sagen noch mit der Fe-

207
der beschreiben kann, so unbeschreiblich schön
war er. Und er hatte nun auch einen klugen
Verstand. Da erst gewann er die Zarentochter lieb
und behandelte sie von nun an wie sein Eheweib.
Es verging nicht gar zuviel Zeit, da hört Jemelja
plötzlich Kanonenschüsse auf dem Meer. Er tritt
mit der wunderschönen Zarentochter aus seinem
Schloß und sieht, daß ein Schiff angelegt hat. Die
Zarentochter aber erkennt das Schiff ihres Vaters.
Da sagt sie zu Jemelja: „Geh du die Gäste emp-
fangen, ich aber will hierbleiben.“ Als Jemelja zur
Anlegestelle kam, war der Zar mit seinem Gefolge
schon an Land gestiegen. Und er wundert sich
über dieses neuerbaute Schloß mit den herrlichen
grünen Gärten und fragt Jemelja: „Zu welchem
Reich gehört dieses kostbare Schloß?“ Jemelja
antwortete: „Zu Eurem!“ Und er bittet sie, seine
Gäste zu sein.
Als der Zar das Schloß betreten hatte und sie
am Tisch saßen, fragt er: „Und wo ist Eure Ge-
mahlin? Oder seid Ihr nicht verheiratet?“ – „Nein,
ich bin verheiratet, ich werde sie Euch gleich vor-
stellen, sie macht sich erst noch zurecht.“ Und als
Jemelja sie geholt hatte und wieder zum Zaren
kommt, da verwunderte sich der gar sehr, er-
schrak, geriet ganz außer sich und weiß nicht,
was er tun soll. Und er fragt: „Bist du es wirklich,
meine liebe Tochter?“ – „Ja, ich bin’s, liebster Va-
ter! Du hast mich und diesen meinen Gemahl in
einem verschlossenen Faß ins Meer werfen lassen,
aber wir sind hier an diese Insel getrieben, und
mein Jemelja Iwanytsch hat all dies hier selber

208
erbaut, was Ihr mit Euren eigenen Augen hier se-
hen könnt.“ – „Wie ist das denn möglich? Er war
doch ein Dummkopf und einem Ungeheuer ähnli-
cher als einem Menschen!“ – „So ist’s, nur daß er
jetzt völlig verwandelt und ein ganz anderer ge-
worden ist.“ Da bittet der Zar sie um Verzeihung,
sowohl seine Tochter wie auch seinen lieben
Schwiegersohn Jemelja Iwanytsch, und beide
vergaben ihm seine Schuld. Als der Zar eine Weile
bei seinem Schwiegersohn und seiner Tochter zu
Gast gewesen ist, lädt er sie zu sich ein, um sie in
der Hauptkathedrale zu trauen und alle Verwand-
ten und Bekannten dazu einzuladen. Jemelja war
hiermit einverstanden. Als der Zar die Kunde
verbreiten und Boten aussenden ließ, man solle
zu diesem großen Fest kommen, bittet Jemelja
seine wunderschöne Zarentochter: „Auch ich habe
Verwandte, erlaubt mir also, daß ich fahre, sie zu
holen. Ihr aber bleibt solange im Schloß.“ Da ge-
währten ihm der Zar und die wunderschöne junge
Zarentochter, wenn auch nicht allzu gern, Urlaub
und gaben ihm die drei besten Pferde, die sie hat-
ten, eine vergoldete Kutsche und einen Kutscher.
Und Jemelja jagte los in seine Heimat. Als er sich
den heimatlichen Gefilden nahte und einen dunk-
len Wald durchfuhr, hört er plötzlich seitwärts Ru-
fen, das kaum noch an sein Ohr dringt. Er läßt
den Kutscher die Pferde anhalten und sagt zu
ihm: „Hier haben sich wohl Leute im dunklen Wald
verirrt.“ Und er antwortet auf ihr Rufen und sieht
plötzlich seine zwei leiblichen Brüder auf sich zu-
kommen. Jemelja fragt sie: „Was lauft ihr hier

209
umher, gute Leute, und ruft so laut? Ihr habt
euch wohl verirrt?“ – „Nein, wir suchen unseren
leiblichen Bruder. Er ist verschwunden, wir wissen
nicht, wohin.“ – „Wie ist das denn gekommen,
daß er verschwunden ist?“ – „Man hat ihn zum
Zaren gebracht. Und wir glauben, daß er von dort
entflohen ist und sich vielleicht in diesem Wald
verirrt hat, denn er war ein Dummkopf und ver-
steht rein gar nichts.“ – „Wenn er ein Dummkopf
ist, warum sucht ihr ihn dann überhaupt?“ – „Wie
sollten wir ihn nicht suchen? Ist er doch unser
leiblicher Bruder, und es ist uns seinetwegen we-
her ums Herz als um uns selbst, denn er ist ein
armer, dummer Mensch.“ Und dabei traten den
Brüdern die Tränen in die Augen. Da sagt Jemelja
zu ihnen: „Ich selbst bin euer Bruder Jemelja.“
Sie wollten ihm aber auf keine Weise glauben.
„Treibt bitte nicht Euren Spott mit uns und habt
uns nicht zum besten! Uns ist auch so elend ge-
nug zumute.“ Er aber ließ nicht nach in seinen Be-
teuerungen und erklärte, wie sich alles mit ihm
zugetragen hatte. Und er erzählte ihnen, was er
von seinem Dorf wußte und wie alle Leute dort
heißen. Außerdem aber zog er Rock und Hemd
aus und sagte: „Ihr wißt, daß ich auf der rechten
Seite ein großes Muttermal habe, das auch jetzt
noch zu sehen ist.“ Da glaubten ihm die Brüder,
und er setzt sie in die vergoldete Kutsche. Sie
durchquerten den Wald und kamen zum ersten
Dorf. Jemelja mietet drei andere Pferde und
schickt seine Brüder zum Zaren. „Ich aber will
selber fahren, meine Schwägerinnen, eure Frau-

210
en, zu holen.“ Als Jemelja in sein Dorf kam und
sein Vaterhaus betrat, erschraken die Schwäge-
rinnen gar sehr. Er aber sagt zu ihnen: „Macht
euch bereit, wie sich’s gehört, zum Zaren zu fah-
ren!“ Sie konnten sich kaum auf den Beinen hal-
ten, so waren sie erschrocken, und fingen bitter-
lich an zu weinen: „Da hat sicher unser
Dummkopf Jemelja irgend etwas Dummes ange-
stellt, und der Zar will uns gewiß ins Gefängnis
stecken!“ Er aber befiehlt: „Macht euch schnell-
stens fertig! Und ihr dürft nichts mitnehmen!“ Er
setzte sie neben sich in die vergoldete Kutsche.
Und wie sie zum Zarenschloß gefahren kommen,
werden sie schon vom Zaren, der wunderschönen
Zarentochter, dem Gefolge des Zaren und von ih-
ren Männern erwartet. Und die Brüder sagen zu
ihren Frauen: „Warum seid ihr so betrübt? Das ist
doch unser Bruder Jemelja Iwanytsch, der mit
euch fährt!“ So sprechen sie und sehen ihre Frau-
en froh an.
Da erst wich die Angst von ihnen, als sie ihre
Männer sahen. Und beide warfen sich Jemelja
Iwanowitsch zu Füßen und baten ihn um Verzei-
hung, daß sie ihn früher so schlecht behandelt
hatten. Jemelja verzieh ihnen und kleidete alle,
Brüder wie Schwägerinnen, in kostbare Gewän-
der. Und der Zar ließ ein Fest rüsten und gab ih-
nen seinen väterlichen Segen zur Hochzeit. Als sie
getraut waren, wollte Jemelja kein Fest im Zaren-
schloß feiern, sondern lud alle in sein Schloß auf
die Insel ein, sich diese Wunderinsel und das

211
kostbare schöne Schloß anzusehen. Und als sie
ankamen, gab er ein großes Fest.
Auch mich luden sie ein, ich trank Bier und
Wein, der Bart hat alles abgefangen, der Mund ist
leer ausgegangen.

212
28
Die Feder von Finist dem edlen Falken
Es lebte einmal ein Mann, der hatte drei Töchter:
die älteste und die mittlere waren eitle und putz-
süchtige Dinger, die jüngste aber hatte einzig die
Wirtschaft im Sinn. Einmal will der Vater in die
Stadt fahren und fragt seine Töchter, was er einer
jeden mitbringen soll. Die älteste bittet: „Bring
mir Stoff für ein Kleid mit!“ Die mittlere sagt das-
selbe. „Und was soll ich dir mitbringen, meine lie-
be Tochter?“ fragt er die jüngste. „Vater, bring
mir eine Feder von Finist dem edlen Falken mit!“
Der Vater nahm Abschied von seinen Töchtern
und fuhr in die Stadt; für die beiden älteren Töch-
ter kaufte er Kleiderstoff, eine Feder von Finist
dem edlen Falken aber konnte er nirgends finden.
Wie er nach Hause kam, erfreute er die älteste
und die mittlere Tochter mit dem neuen Stoff. Zur
jüngsten aber sagte er: „Für dich jedoch habe ich
keine Feder von Finist dem edlen Falken gefun-
den.“ – „Laß es nur gut sein“, sagte sie, „vielleicht
glückt es dir ein andermal, eine zu finden.“ Die
beiden älteren Schwestern schneiden zu, nähen
sich neue Kleider und verspotten die jüngste; die
aber kümmert sich nicht darum und schweigt.
Und wieder macht sich der Vater bereit, in die
Stadt zu fahren, und fragt: „Nun, liebe Töchter,
was soll ich euch mitbringen?“ Die älteste und die

213
mittlere Tochter bitten, er solle jeder ein Tuch
kaufen, die jüngste aber sagt: „Vater, bring mir
eine Feder von Finist dem edlen Falken mit!“ Der
Vater fuhr in die Stadt, kaufte zwei Tücher, eine
Feder aber bekam er nicht einmal zu Gesicht. Wie
er nach Hause kam, sagte er: „Ach, Töchterchen,
ich habe wieder keine Feder von Finist dem edlen
Falken finden können!“ – „Das macht nichts, Va-
ter, vielleicht glückt es ein andermal.“
Ein drittes Mal rüstet sich der Vater zur Fahrt in
die Stadt und fragt: „Sagt mir, liebe Töchter, was
soll ich euch mitbringen?“ Die beiden älteren sa-
gen: „Bring uns Ohrringe mit!“ Die jüngere aber
sagt wieder ihren alten Spruch: „Bring mir eine
Feder von Finist dem edlen Falken mit!“ Der Vater
kaufte goldene Ohrringe und suchte dann überall
nach der Feder, aber niemand wußte etwas von
einer solchen Feder. Er wurde sehr betrübt und
machte sich auf die Heimreise. Kaum hatte er das
Stadttor hinter sich gelassen, da begegnet ihm ein
altes Männlein mit einem kleinen Korb. „Was
trägst du da, Alter?“ – „Eine Feder von Finist dem
edlen Falken.“ – „Was willst du dafür haben?“ –
„Gib mir tausend Rubel!“ Der Vater bezahlte das
Geld und sprengte mit dem Körbchen heim. Die
Töchter begrüßen ihn. „Nun, meine liebe Tochter“,
sagt er zur jüngsten, „endlich habe ich dir ein Ge-
schenk mitgebracht; hier, nimm!“ Die jüngste
Tochter machte vor Freude beinahe einen Luft-
sprung, nahm das Körbchen, küßte und herzte es
und drückte es fest an die Brust.

214
Nach dem Abendbrot gingen alle zur Nachtruhe
in ihre Zimmer. Auch sie ging in ihre Kammer,
deckte das Körbchen auf – da flog die Feder Fi-
nists des edlen Falken heraus, schlug gegen den
Fußboden, und vor dem Mädchen stand ein wun-
derschöner Zarensohn. Nun gingen süße und liebe
Worte zwischen ihnen hin und her. Das hörten die
Schwestern, und sie fragten: „Mit wem sprichst du
da, Schwesterchen?“ – „Mit mir selbst“, antworte-
te das schöne Mädchen. „So, so, mach einmal
auf!“ Der Zarensohn warf sich auf den Boden und
wurde wieder zur Feder; sogleich legte sie die Fe-
der in den Korb und öffnete die Tür. Die Schwe-
stern blicken hierhin, gucken dorthin – aber nie-
mand ist zu sehen. Kaum waren sie wieder fort,
da öffnete das schöne Mädchen das Fenster, holte
die Feder heraus und sagt: „Flieg, meine Feder,
aufs freie Feld; flieg umher bis zum nächsten
Mal!“ Die Feder verwandelte sich in einen edlen
Falken und flog fort aufs freie Feld.
In der nächsten Nacht kommt Finist der edle
Falke wieder zu seinem Mädchen geflogen, und
wieder wechselten sie frohe Worte. Die Schwe-
stern hörten das und liefen gleich zu ihrem Vater:
„Vater! Bei unserer Schwester ist nachts immer
jemand; auch jetzt sitzt jemand dort und spricht
mit ihr.“ Der Vater stand auf und ging zu seiner
jüngsten Tochter, tritt in ihre Kammer, aber der
Zarensohn hatte sich schon längst in eine Feder
verwandelt und liegt in dem Korb. „Ihr nichtsnut-
zigen Dinger“, fuhr der Vater da seine älteren

215
Töchter an, „was redet ihr Schlechtes über sie?
Ihr solltet lieber auf euch selbst aufpassen!“
Am anderen Tage griffen die Schwestern zu ei-
ner List: Am Abend, als es draußen schon ganz
dunkel war, stellten sie eine Leiter an, nahmen
scharfe Messer und spitze Nadeln und steckten sie
rings um das Fenster des schönen Mädchens. In
der Nacht kam Finist der edle Falke geflogen, aber
wie sehr er sich auch mühte und plagte, er konnte
nicht in die Kammer gelangen und schnitt sich nur
die Flügel wund. „Leb wohl, schönes Mädchen!“
sagte er. „Wenn du mich suchen willst, dann such
mich weit, weit von hier, am Ende der Welt. Erst
mußt du drei Paar eiserne Schuhe durchgelaufen,
drei eiserne Wanderstäbe zerbrochen und drei
steinerne Weihbrote verzehrt haben, ehe du mich
findest, deinen wackeren Helden!“ Das Mädchen
aber schläft und schläft. Zwar hört sie im Schlaf
diese schlimmen Worte, aber aufwachen und auf-
stehen kann sie nicht.
Am Morgen wacht sie auf und sieht – rings um
ihr Fenster stecken Messer und Nadeln, und das
Blut fließt nur so davon herab. Da schlug sie die
Hände zusammen: „Großer Gott! Gewiß haben die
Schwestern meinem lieben Freund ein Leid ange-
tan!“ Und sogleich brach sie auf und ging aus dem
Haus. Sie lief zur Schmiede und schmiedete sich
drei Paar eiserne Schuhe und drei eiserne Wan-
derstäbe, dazu versah sie sich mit drei steinernen
Weihbroten und machte sich dann auf den Weg,
Finist den edlen Falken zu suchen.

216
Sie lief und lief und hatte schon ein Paar eiser-
ne Schuhe durchgelaufen, einen eisernen Wan-
derstab zerbrochen und ein steinernes Weihbrot
verzehrt, da kommt sie an eine Hütte. Sie klopft
an: „Wirt und Wirtin! Beherbergt mich vor der
dunklen Nacht!“ Eine Alte antwortet: „Herzlich
willkommen, schönes Mädchen! Wohin führt dich
dein Weg, mein Kind?“ – „Ach Großmütterchen,
ich suche Finist den edlen Falken!“ – „Oh, schönes
Mädchen, da wirst du lange suchen müssen!“ Am
Morgen sagt die Alte: „Geh jetzt zu meiner mittle-
ren Schwester, sie wird dich Gutes lehren, und
hier ist ein Geschenk für dich: eine silberne
Spinnbank und eine goldene Spindel; setzt du
dich hin, um Flachs zu spinnen, so wird dein Fa-
den immer von Gold sein.“ Darauf nahm sie noch
ein Knäuel Garn: „Wohin es rollt, geh ihm nach!“
Das Mädchen dankte der Alten und lief dem
Knäuel nach.
Über eine Weile war das zweite Paar Schuhe
durchgelaufen, der zweite Wanderstab zerbrochen
und das zweite Weihbrot verzehrt; da rollte das
Garnknäuel schließlich zu einer Hütte. Sie klopfte
an: „Gute Leute, beherbergt ein schönes Mädchen
vor der dunklen Nacht,!“ – „Herzlich willkommen!“
antwortet eine Alte, „wohin führt dich dein Weg,
schönes Mädchen?“ – „Großmütterchen, ich suche
Finist den edlen Falken.“ – „Da wirst du lange su-
chen müssen!“ Am Morgen gibt ihr die Alte einen
silbernen Teller und ein goldenes Ei und schickte
sie zu ihrer ältesten Schwester: die weiß nämlich,
wo Finist der edle Falke zu finden ist.

217
Das schöne Mädchen verabschiedete sich von
der Alten und machte sich wieder auf den Weg.
Sie lief und lief, das dritte Paar Schuhe war
durchgelaufen, der dritte Wanderstab zerbrochen
und das letzte Weihbrot verzehrt, da rollte das
Knäuel zu einer Hütte. Das Mädchen klopft und
sagt: „Gute Leute, beherbergt ein schönes Mäd-
chen vor der dunklen Nacht!“ Wieder kam eine
Alte heraus: „Komm mein Kind! Herzlich willkom-
men! Woher des Wegs, und wohin willst du?“ –
„Großmütterchen, ich suche Finist den edlen Fal-
ken.“ – „O weh, der ist schwer zu finden! Er lebt
jetzt in der und der Stadt und hat der Weihbrot-
bäckerin Tochter geheiratet.“ Am Morgen sagt die
Alte zum schönen Mädchen: „Hier hast du ein Ge-
schenk: einen goldenen Stickrahmen und eine
Nadel; du brauchst nur den Rahmen zu halten, die
Nadel stickt dann von selbst. Jetzt geh mit Gott
und verdinge dich bei der Weihbrotbäckerin als
Magd!“
Gesagt, getan! Das schöne Mädchen kam zu
der Weihbrotbäckerin Haus und verdingte sich als
Magd. Die Arbeit geht ihr flink von der Hand: den
Ofen heizen, Wasser tragen und das Mittagessen
bereiten – alles geht wie im Fluge. Die Weihbrot-
bäckerin sieht’s und freut sich: „Gott sei Dank“,
sagt sie zu ihrer Tochter, „endlich haben wir eine
Magd, die willig und tüchtig ist; man braucht ihr
nichts zu sagen, sie tut alles von selbst!“ Als das
schöne Mädchen aber seine Arbeit in der Wirt-
schaft beendet hatte, nahm sie die silberne
Spinnbank und die goldene Spindel und begann

218
zu spinnen: sie spinnt – und aus dem Flachse
zieht sich ein Faden, kein einfacher, sondern aus
lauterem Gold. Das sah der Weihbrotbäckerin
Tochter: „Ach, schönes Mädchen, willst du mir
nicht deinen lustigen Zeitvertreib verkaufen?“ –
„Bitte, ich will ihn dir verkaufen.“ – „Und welchen
Preis forderst du?“ – „Erlaube mir, die Nacht bei
deinem Gemahl zu verbringen.“ Die Tochter war’s
einverstanden. „Das ist kein Unglück“, denkt sie,
„meinem Gemahl kann ich einen Schlaftrunk ge-
ben, durch diese Spindel aber können Mutter und
ich steinreich werden!“
Finist der edle Falke aber war nicht zu Hause:
den ganzen Tag tummelte er sich in den Lüften
und kam erst gegen Abend heim. Sie setzten sich
zum Abendbrot. Das schöne Mädchen trägt die
Speisen auf und blickt ihn unverwandt an, er
aber, der wackere Held, erkennt sie nicht. Die
Tochter der Weihbrotbäckerin mischte Finist dem
edlen Falken ein Schlafmittel in seinen Trank, leg-
te ihn auf sein Bett und sagt zur Magd: „Geh zu
ihm in die Kammer und verjag die Fliegen!“ Das
schöne Mädchen verjagt die Fliegen und weint da-
bei bitterlich: „Werde munter, wach auf, Finist,
edler Falke! Ich, das schöne Mädchen, bin zu dir
gekommen; drei eiserne Wanderstäbe habe ich
zerbrochen, drei Paar eiserne Schuhe durchgelau-
fen, drei steinerne Weihbrote verzehrt und die
ganze Zeit dich, meinen Liebsten, gesucht!“ Aber
der Finist schläft, merkt nichts, und die Nacht
ging vorüber.

219
Am anderen Tag nahm die Magd das silberne
Tellerchen und rollt darauf das goldene Ei hin und
her: da lagen viele goldene Eier darauf! Das sah
der Weihbrotbäckerin Tochter: „Verkauf mir dei-
nen lustigen Zeitvertreib!“ sagt sie. „Bitte, du
kannst ihn kaufen.“ – „Und welchen Preis forderst
du?“ – „Erlaube mir, noch eine Nacht bei deinem
Gemahl zu verbringen.“ – „Schön, ich bin einver-
standen!“ Finist der edle Falke aber hatte sich
wieder den ganzen Tag in den Lüften getummelt
und kam erst gegen Abend heimgeflogen. Sie
setzten sich zum Abendbrot. Das schöne Mädchen
trägt die Speisen auf und blickt ihn unverwandt
an, er aber merkt nichts, als habe er sie nie ge-
kannt. Wieder gab ihm der Weihbrotbäckerin
Tochter ein Schlafmittel zu trinken, legte ihn auf
sein Bett und schickte die Magd, die Fliegen zu
verjagen. Und wie sehr das schöne Mädchen auch
weinte und ihn zu wecken suchte, er schlief auch
dieses Mal bis zum Morgen und hörte nichts.
Am dritten Tag sitzt das schöne Mädchen da,
hält den goldenen Stickrahmen in ihren Händen,
die Nadel aber stickt ganz von selbst, und was für
wunderbare Muster! Die Tochter der Weihbrotbäk-
kerin konnte sich gar nicht satt daran sehen.
„Verkauf mir, schönes Mädchen“, sagt sie, „ver-
kauf mir deinen lustigen Zeitvertreib!“ – „Bitte, du
kannst ihn kaufen.“ – „Und welchen Preis forderst
du?“ – „Erlaube mir, eine dritte Nacht bei deinem
Gemahl zu verbringen.“ – „Schön, ich bin einver-
standen.“ Am Abend kam Finist der edle Falke ge-
flogen; sein Weib gab ihm ein Schlafmittel zu trin-

220
ken, legte ihn auf sein Bett und schickt die Magd,
die Fliegen zu verjagen. Da verjagt nun das schö-
ne Mädchen die Fliegen und klagt dazu unter Trä-
nen: „Werde munter, wach auf, Finist, edler Fal-
ke! Ich, das schöne Mädchen, bin zu dir
gekommen; drei eiserne Wanderstäbe habe ich
zerbrochen, drei Paar eiserne Schuhe durchgelau-
fen, drei steinerne Weihbrote verzehrt und die
ganze Zeit dich, meinen Liebsten gesucht!“ Aber
Finist der edle Falke schläft fest und merkt nichts.
Lange weinte sie, lange suchte sie, ihn zu wek-
ken; plötzlich fiel ihm eine Träne des schönen
Mädchens auf die Wange, und im gleichen Augen-
blick wachte er auf: „Ach“, sagt er, „es hat mich
etwas gebrannt!“ – „Finist, edler Falke“, antwortet
das Mädchen, „ich bin zu dir gekommen! Drei ei-
serne Wanderstäbe habe ich zerbrochen, drei Paar
eiserne Schuhe durchgelaufen, drei steinerne
Weihbrote verzehrt und die ganze Zeit dich ge-
sucht! Schon die dritte Nacht stehe ich über dich
gebeugt, doch du schläfst, wachst nicht auf und
antwortest nicht auf meine Worte!“ Da erst er-
kannte Finist der edle Falke das Mädchen, und er
freute sich, daß man es gar nicht beschreiben
kann. Sie berieten sich und verließen die Weih-
brotbäckerin. Am Morgen vermißte der Weihbrot-
bäckerin Tochter ihren Gemahl: weder er war zu
finden, noch die Magd! Sie beklagte sich bei ihrer
Mutter; die Weihbrotbäckerin ließ die Pferde
einspannen und jagte ihnen nach. Sie fuhr und
fuhr, machte auch bei den drei Alten halt, aber

221
Finist den edlen Falken holte sie nicht ein: nicht
einmal seine Spur war zu sehen!
Schließlich stand Finist der edle Falke mit seiner
Auserwählten vor dem Haus ihres Vaters; er warf
sich auf die kalte Erde und verwandelte sich in
eine Feder; das schöne Mädchen nahm die Feder,
barg sie unter ihrem Brusttuch und ging zu ihrem
Vater. „Ach liebe Tochter! Ich dachte schon, du
seiest überhaupt nicht mehr am Leben. Wo bist
du so lange gewesen?“ – „Ich bin gegangen, zu
Gott zu beten.“ Es war aber die Woche nach
Ostern. Der Vater will gerade mit seinen älteren
Töchtern zur Frühmesse fahren. „Wie ist’s, liebe
Tochter“, fragt er die jüngste, „mach dich fertig
und laß uns zusammen fahren; heute ist ein so
froher Tag.“ – „Väterchen, ich habe nichts anzu-
ziehen.“ – „Zieh unsere Kleider an“, sagen die äl-
teren Schwestern. „Ach, liebe Schwestern, eure
Kleider passen mir ja nicht! Ich will lieber zu Hau-
se bleiben.“
Der Vater fuhr mit den zwei Töchtern zur Früh-
messe; unterdessen holte das schöne Mädchen
seine Feder hervor. Die Feder warf sich auf den
Fußboden und verwandelte sich in den wunder-
schönen Zarensohn. Der Zarensohn pfiff zum Fen-
ster hinaus – sogleich erschienen Kleider,
Schmuck und eine goldene Kutsche. Sie zogen
schöne Gewänder an, setzten sich in die Kutsche
und fuhren los. Sie treten in die Kirche und stellen
sich vorn hin, vor alle anderen; die Leute verwun-
derten sich: was für ein Zarensohn mit seiner
Gemahlin ihnen da die Ehre erwies! Gegen Ende

222
der Frühmesse gingen sie vor allen anderen hin-
aus und fuhren nach Hause; da verschwand die
Kutsche, und Kleider und Schmuck waren fort, als
hätte es sie nie gegeben; der Zarensohn aber
verwandelte sich wieder in eine Feder.
Dann kam auch der Vater mit den Töchtern
heim. „Ach, Schwesterchen! Siehst du, du hast
nicht mitfahren wollen, aber in der Kirche war ein
wunderschöner Zarensohn mit seiner herrlichen
Gemahlin.“ – „Das macht nichts, liebe Schwe-
stern. Ihr habt’s mir erzählt, das ist genauso gut,
als wäre ich dabei gewesen.“
Am anderen Tag geschah wieder das gleiche,
als aber am dritten Tag der Zarensohn sich mit
seinem schönen Mädchen in die Kutsche setzte,
trat der Vater aus der Kirche heraus und sah mit
eigenen Augen, daß die Kutsche vor sein Haus
fuhr und danach verschwand. Der Vater kehrte
heim und bedrängte seine jüngste Tochter mit
Fragen; da sagt sie: „Es bleibt mir nichts anderes
übrig, ich muß alles gestehen.“ Sie holte die Feder
hervor. Die Feder warf sich auf den Fußboden und
verwandelte sich in den Zarensohn. Da wurden sie
gleich getraut, und es gab eine reiche Hochzeit.
Auch mich luden sie zur Hochzeit ein, ich trank
Wein, der Bart hat alles abgefangen, der Mund ist
leer ausgegangen. Sie setzten mir eine Haube auf
und knufften mich, was das Zeug hielt; sie setz-
ten mir einen Korb auf und sagten: „Du, langer
Lümmel, nicht lange gefackelt, verschwinde so
schnell du kannst!“

223
29
Die schöne Wassilissa
In einem Reiche lebte einmal ein Kaufmann. Zwölf
Jahre war er verheiratet gewesen, hatte aber nur
eine einzige Tochter, die schöne Wassilissa. Als
die Mutter zu sterben kam, war das Mädchen acht
Jahre alt. Auf dem Sterbebett rief die Kaufmanns-
frau ihr Töchterchen zu sich, holte unter der Dek-
ke eine Puppe hervor, gab sie ihr und sagte: „Hö-
re, liebe Wassilissa, behalte meine letzten Worte
im Gedächtnis und beherzige sie. Ich sterbe, und
zugleich mit meinem mütterlichen Segen hinter-
lasse ich dir diese Puppe hier; bewahre sie immer
bei dir und zeige sie niemandem. Wenn dir aber
einmal Kummer und Leid widerfährt, dann gib ihr
zu essen und frage sie um Rat. Sie wird erst es-
sen und dir dann sagen, wie man dem Unheil
wehren kann.“ Darauf küßte die Mutter ihr
Töchterchen und verschied.
Nach dem Tode seines Weibes trauerte der
Kaufmann eine Weile, wie es sich gehörte, dann
aber dachte er sich aufs neue zu verheiraten. Er
war ein stattlicher Mann und hätte genügend
Bräute finden können, am meisten aber gefiel ihm
eine Witwe. Sie war schon älter und hatte selbst
zwei Töchter, die mit Wassilissa fast gleichaltrig
waren, nach allem zu schließen also eine erfahre-
ne Hausfrau und Mutter. Der Kaufmann heiratete

224
die Witwe, aber er hatte sich getäuscht und in ihr
nicht die gute Mutter für seine Wassilissa gefun-
den. Wassilissa war die erste Schönheit im ganzen
Dorf; Stiefmutter und Stiefschwestern neideten
ihre Schönheit und bürdeten ihr alle möglichen
Arbeiten auf, damit sie vor Erschöpfung abmagere
und ihr Gesicht durch Wind und Sonne seine
schöne weiße Farbe verlöre; sie machten ihr das
Leben zur Hölle.
Wassilissa ertrug alles ohne Murren und wurde
mit jedem Tag schöner und stattlicher, während
die Stiefmutter und ihre Töchter vor Bosheit im-
mer magerer und häßlicher wurden, obwohl sie
nur immer herumsaßen und die Hände in den
Schoß legten wie die Gräfinnen. Wie mochte das
wohl zugehen? Unserer Wassilissa half ihre Puppe.
Wie hätte das Mädchen sonst mit all der Arbeit
zurechtkommen sollen! Dafür geschah es biswei-
len, daß Wassilissa selbst überhaupt nichts aß und
der Puppe die besten Leckerbissen aufhob; und
am Abend, wenn alle schlafen gegangen waren,
sperrte sie sich im Kämmerchen ein, wo sie wohn-
te, bewirtete die Puppe und sprach dazu: „Da,
Puppe, iß und nimm, meinen Kummer auch ver-
nimm! Die böse Stiefmutter bringt mich noch un-
ter die Erde. Lehre mich, wie soll ich mich verhal-
ten und was soll ich tun?“ Die Puppe ißt zuerst,
und danach gibt sie ihr Ratschläge und tröstet sie
in ihrem Kummer; am Morgen aber macht sie für
Wassilissa alle Arbeit. Wassilissa braucht sich nur
im Schatten zu erholen und Blumen zu pflücken,
und schon sind ihre Beete gejätet, ist der Kohl

225
gegossen, Wasser geholt und der Ofen geheizt.
Die Puppe zeigt ihr noch ein Kräutlein gegen Son-
nenbräune. So hatte sie mit ihrer Puppe ein schö-
nes Leben.
Es vergingen einige Jahre. Wassilissa wuchs
heran und kam ins Alter zu heiraten. Alle jungen
Männer der Stadt freien um Wassilissa, der Stief-
mutter Töchter aber sieht keiner auch nur einmal
an. Die Stiefmutter wird noch giftiger als bisher
und antwortet allen Freiern: „Ich gebe die Jüngste
nicht vor den Älteren in die Ehe!“ Und wenn sie
die Freier verabschiedet hat, kühlt sie mit Schlä-
gen ihr Mütchen an Wassilissa.
Nun mußte der Kaufmann einmal auf längere
Zeit in Handelsgeschäften von Hause fort. Da zog
die Stiefmutter in ein anderes Haus, und gleich
hinter diesem Haus war ein tiefer Wald. Im Walde
aber stand auf einer Lichtung ein Häuschen, und
in diesem Häuschen lebte eine Hexe; die ließ nie-
manden zu sich herein und fraß Menschen, als
wären es kleine Hühnchen. Als die Stiefmutter in
das andere Haus gezogen war, schickte sie die ihr
verhaßte Wassilissa immer wieder nach etwas an-
derem in den Wald. Aber Wassilissa kam jedesmal
wohlbehalten wieder nach Hause: die Puppe zeig-
te ihr den Weg und ließ sie nicht in die Nähe des
Hexenhauses.
So wurde es Herbst. Die Stiefmutter verteilte
den drei Mädchen die Arbeit für die Abende: die
eine mußte Spitze häkeln, die andere Strümpfe
stricken, Wassilissa aber mußte spinnen, und die
Arbeit war jeder genau zugemessen. Sie löschte

226
im ganzen Haus das Licht und ließ nur eine einzi-
ge Kerze brennen, dort, wo die Mädchen arbeite-
ten. Sie selbst legte sich schlafen. Die Mädchen
arbeiteten. Auf einmal begann die Kerze zu rußen;
die eine Stiefschwester nahm ihre Stricknadel, um
den Docht wieder zu richten, statt dessen aber
löschte sie, wie es die Mutter sie geheißen hatte,
gleichsam aus Versehen die Kerze aus. „Was sol-
len wir jetzt tun?“ sagten die Mädchen: „Kein
Licht im ganzen Hause, und unsere Arbeit ist noch
nicht beendet. Es muß jemand zur Hexe Baba-
Jagá gehen und Licht holen!“ – „Mir ist von mei-
nen Nadeln hell genug“, sagte die, die Spitze hä-
kelte, „ich brauche nicht zu gehen.“ – „Ich brau-
che auch nicht zu gehen“, sagte die andere, die
Strümpfe strickte, „mir ist von meinen Strickna-
deln hell genug!“ – „Du mußt Licht holen gehen!“
schrien beide: „Marsch, zur Baba-Jagá!“ Und da-
mit stießen sie Wassilissa aus der Stube.
Wassilissa ging in ihr Kämmerchen, stellte das
fertige Abendbrot vor die Puppe und sagte: „Da,
Puppe, iß und nimm, meinen Kummer auch ver-
nimm: sie schicken mich nach Licht zur Baba-
Jagá; die Hexe wird mich fressen!“ Die Puppe aß,
und ihre Augen begannen zu leuchten wie zwei
Kerzen. „Hab keine Angst, liebe Wassilissa“, sagte
sie. „Geh, wohin sie dich schicken, nur nimm mich
immer mit! Wenn ich dabei bin, wird dir bei der
Baba-Jagá nichts geschehen.“ Wassilissa machte
sich fertig, steckte die Puppe in ihre Tasche, be-
kreuzigte sich und machte sich auf den Weg in
den tiefen Wald.

227
Sie geht und zittert vor Angst.
Auf einmal sprengt ein Reiter an ihr vorbei: das
Gesicht ganz weiß, in weißen Kleidern, das Pferd
unter ihm weiß und auch das Riemenzeug des
Pferdes weiß – da begann es zu dämmern.
Sie geht weiter, da sprengt ein anderer Reiter
vorbei: das Gesicht ganz rot, in roten Kleidern
und auf einem roten Pferd – da ging die Sonne
auf.
Wassilissa lief die ganze Nacht und den ganzen
nächsten Tag und kam erst am Abend auf die
Lichtung, wo das Haus der Hexe stand; der Zaun
rings um das Haus ist aus Menschenknochen, und
auf dem Zaun stecken Menschenschädel, mit Au-
gen; statt der Türen stehen am Eingang Men-
schenbeine, die Riegel sind Hände und das Tür-
schloß ein Mund mit scharfen Zähnen. Wassilissa
erstarrte vor Entsetzen und blieb wie angewurzelt
stehen. Auf einmal kommt wieder ein Reiter gerit-
ten: das Gesicht schwarz, ganz in Schwarz geklei-
det und auf einem schwarzen Pferd; er sprengte
vor das Hexentor und verschwand, wie vom Erd-
boden verschluckt – da war es Nacht. Aber die
Finsternis dauerte nicht lange: an allen Schädeln
auf dem Zaun begannen die Augen zu leuchten,
und auf der ganzen Lichtung war es hell wie am
lichten Tag. Wassilissa zitterte vor Angst; weil sie
aber nicht wußte, wohin sie fliehen sollte, blieb
sie, wo sie war.
Bald hörte man im Wald einen fürchterlichen
Lärm, die Bäume ächzten, und die trockenen Blät-
ter raschelten: die Baba-Jagá kam aus dem Wald.

228
Sie fährt in einem Mörser, mit dem Stößel treibt
sie ihn an, und mit einem Ofenbesen verwischt sie
ihre Spur.
Sie fuhr vors Tor, hielt an, schnüffelte nach al-
len Seiten und schrie: „Fuh, fuh! Ich rieche Men-
schenfleisch! Wer ist hier?“ Wassilissa trat voll
Furcht vor die Alte, verneigte sich tief und sagte:
„Ich bin’s, Großmütterchen! Der Stiefmutter Töch-
ter haben mich zu dir geschickt, Licht zu holen.“ –
„Schön“, sagte die Baba-Jagá, „die kenne ich; von
nun an wirst du bei mir wohnen und arbeiten,
dann will ich dir auch Licht geben; willst du aber
nicht, dann fresse ich dich!“ Darauf drehte sie sich
zum Tor um und rief: „Heh, ihr meine festen Rie-
gel, löst euch, und ihr, meine weiten Tore, öffnet
euch!“ Die Tore öffneten sich, und die Baba-Jagá
fuhr pfeifend hinein; Wassilissa folgte ihr, und da-
nach war alles wieder zugesperrt. Als die Baba-
Jagá in der Stube war, setzte sie sich, streckte
ihre Beine aus und sagt zu Wassilissa: „Nun bring
mal her, was dort im Ofen steht; ich habe Hun-
ger!“
Wassilissa zündete an den Schädeln, die auf
dem Zaun steckten, einen Span an, zog die Spei-
sen aus dem Ofen und trug sie der Baba-Jagá auf;
von den Speisen hätten aber wohl an die zehn
Mann satt werden können. Aus dem Keller holte
sie Kwaß, Honig, Bier und Wein. Alles aß und
trank die Alte allein; für Wassilissa ließ sie nur ein
wenig Krautsuppe übrig, einen Kanten Brot und
ein Stückchen gebratenes Ferkel. Danach legte
sich die Baba-Jagá schlafen und sagt: „Wenn ich

229
morgen wegfahre, dann spute dich: kehre den
Hof, fege das Haus aus, koche das Essen, mach
die Wäsche fertig und geh in den Speicher, nimm
einen Scheffel Weizen und lies das Mutterkorn
heraus! Und daß mir alles fertig ist, sonst fresse
ich dich!“ Nachdem die Hexe Wassilissa ihre Ar-
beit zugewiesen hatte, begann sie zu schnarchen.
Wassilissa aber stellte der Puppe die Reste hin,
die die Alte übriggelassen hatte, zerfloß in Tränen
und sagte: „Da Puppe, iß und nimm, meinen
Kummer auch vernimm! Eine schwere Arbeit hat
die Baba-Jagá mir aufgetragen, und sie droht, sie
will mich fressen, wenn ich nicht alles ausführe;
hilf mir!“ Die Puppe gab zur Antwort: „Hab keine
Angst, schöne Wassilissa! Iß dein Abendbrot,
sprich dein Gebet und leg dich schlafen; der Mor-
gen ist klüger als der Abend!“
In aller Frühe erwachte Wassilissa, aber die Ba-
ba-Jagá war schon auf und sah zum Fenster hin-
aus: an den Menschen-Schädeln verlöschen die
Augen; der weiße Reiter sprengte vorbei – da war
es schon ganz hell. Die Baba-Jagá trat auf den
Hof hinaus und pfiff – da stand der Mörser vor ihr
mit dem Stößel und dem Ofenbesen. Der rote Rei-
ter sprengte vorbei – da ging die Sonne auf. Die
Baba-Jagá setzte sich in den Mörser und fuhr da-
von, mit dem Stößel treibt sie an, und mit dem
Ofenbesen verwischt sie ihre Spur. Wassilissa war
nun allein; sie sah sich im Haus der Baba-Jagá
um, bestaunte den Überfluß an allen Dingen und
versank in Nachdenken, welche Arbeit sie zuerst
beginnen sollte. Wie sie aufsieht, ist die ganze Ar-

230
beit schon getan; die Puppe las gerade die letzten
Körner Mutterkorn aus dem Weizen heraus. „Ach,
du meine Retterin!“ sagte Wassilissa zu ihrer Pup-
pe. „Du hast mir aus meiner Not geholfen!“ – „Du
brauchst nur noch das Essen zu kochen“, antwor-
tete die Puppe und kletterte in Wassilissas Ta-
sche. „Koche nur getrost und ruhe dich schön
aus!“
Gegend Abend deckte Wassilissa den Tisch und
wartet auf die Baba-Jagá. Es begann zu däm-
mern, draußen sprengte der schwarze Reiter am
Tor vorbei, und es war ganz dunkel: nur die Au-
gen an den Schädeln leuchteten. Da begannen die
Bäume zu ächzen, das Laub raschelte – die Baba-
Jagá kommt gefahren. Wassilissa ging ihr entge-
gen. „Ist alles getan?“ fragt die Baba-Jagá. „Sieh
bitte selbst nach, Großmütterchen!“ sagte Wassi-
lissa. Die Baba-Jagá sah überall nach, ärgerte
sich, daß sie keinen Grund zu schimpfen fand und
sagte: „Na gut!“ Dann stieß sie einen lauten Ruf
aus. Es erschienen drei Paar Hände, ergriffen den
Weizen und trugen ihn fort. Die Baba-Jagá aß sich
voll und satt, legte sich zum Schlaf nieder und
gab Wassilissa wieder einen Auftrag: „Morgen
machst du das gleiche wie heute, und außerdem
nimmst du aus dem Speicher den Mohn und säu-
berst ihn von Erde, Körnchen für Körnchen; es hat
nämlich jemand aus Bosheit Erde darunter ge-
mischt!“ Sprach’s, drehte sich zur Wand und be-
gann zu schnarchen; Wassilissa aber machte sich
daran, ihre Puppe zu füttern. Die Puppe aß erst
und sagte dann wie gestern: „Sprich dein Gebet

231
und leg dich schlafen; der Morgen ist klüger als
der Abend; alles wird getan werden, liebe Wassi-
lissa!“
Am Morgen fuhr die Baba-Jagá wieder in ihrem
Mörser davon, Wassilissa aber hatte die ganze Ar-
beit mit ihrer Puppe in einem Augenblick getan.
Die Alte kam wieder nach Hause, besah sich alles
und rief: „Ihr meine treuen Diener, meine lieben
Freunde, preßt Öl aus dem Mohn!“ Es erschienen
die drei Paar Hände, ergriffen den Mohn und tru-
gen ihn fort. Die Baba-Jagá setzte sich zum Es-
sen. Sie ißt, Wassilissa aber steht schweigend da-
bei. „Warum sprichst du nicht mit mir?“ sagte die
Baba-Jagá. „Stehst da, als wärst du stumm!“ –
„Ich habe mich nicht getraut“, antwortete Wassi-
lissa. „Doch wenn du erlaubst, dann möchte ich
dich gern einiges fragen.“ – „Frag nur immer zu;
nur führt nicht jede Frage zum Guten: wer viel
weiß, wird bald alt!“ – „Ich möchte dich nur nach
dem fragen, Großmütterchen, was ich gesehen
habe. Als ich auf dem Weg zu dir war, überholte
mich ein Reiter auf weißem Pferd, das Gesicht
weiß und in weißen Kleidern: Wer ist das?“ – „Das
ist mein Diener, der helle Tag“, antwortete die
Baba-Jagá. „Danach überholte mich ein anderer
Reiter auf rotem Pferd, das Gesicht rot und ganz
in Rot gekleidet: Wer ist das?“ – „Das ist mein
treuer Diener, die rote Sonne!“ antwortete die
Baba-Jagá. „Und was bedeutet der schwarze Rei-
ter, der mich überholte, als ich schon an deinem
Tor stand?“ – „Das ist meine Dienerin, die dunkle
Nacht – alle dienen mir treu!“

232
Wassilissa dachte noch an die drei Paar Hände,
aber sie schwieg. „Warum fragst du nicht weiter?“
fragte die Baba-Jagá. „Das genügt mir schon; du
hast doch selbst gesagt, Großmütterchen, wer viel
erfährt, wird bald alt.“ – „Es ist gut“, sagte die
Baba-Jagá, „daß du nur nach dem fragst, was du
draußen, und nicht nach dem, was du hier drin
gesehen hast! Ich mag es nicht, wenn man drau-
ßen über mich spricht, und wer allzu neugierig ist,
den fresse ich! Jetzt will ich dich etwas fragen:
„Wie stellst du es an, daß du mit der Arbeit fertig
wirst, die ich dir auftrage?“ – „Mir hilft der Segen
meiner Mutter“, gab Wassilissa zur Antwort. „Ach
so ist das! Scher dich schleunigst von hier fort, du
gesegnetes Töchterchen! Ich kann keine Geseg-
neten brauchen!“ Sie zerrte Wassilissa aus der
Stube und stieß sie zum Tor hinaus, nahm vom
Zaun einen Schädel mit brennenden Augen,
steckte ihn auf einen Stock, gab ihn ihr und sag-
te: „Hier hast du das Licht für die Töchter der
Stiefmutter; danach haben sie dich ja hierherge-
schickt.“
Eilends machte sich Wassilissa auf den Heim-
weg, beim Licht des Schädels, das erst bei An-
bruch des Morgens erlosch. Am Abend des näch-
sten Tages gelangte sie schließlich an ihr Haus.
Als sie sich dem Tor näherte, wollte sie den Schä-
del schon fortwerfen; gewiß brauchen sie zu Hau-
se schon kein Licht mehr, dachte sie nämlich bei
sich. Doch auf einmal war aus dem Schädel eine
hohle Stimme zu vernehmen: „Wirf mich nicht
fort, bring mich der Stiefmutter!“

233
Sie blickte auf der Stiefmutter Haus, und da sie
in keinem Fenster Licht sah, entschloß sie sich,
mit dem Schädel hineinzugehen. Es war das erste
Mal, daß man sie freundlich empfing, und sie er-
zählten ihr, seit der Zeit, da Wassilissa fortgegan-
gen war, hätten sie kein Licht im Hause gehabt:
selbst Feuer zu schlagen hätten sie auf keine Wei-
se vermocht, und das Licht, das sie von Nachbarn
holten, sei erloschen, sobald sie mit ihm die Stube
betraten. „Hoffentlich wird sich dein Licht halten“,
sagte die Stiefmutter. Sie trugen den Schädel in
die Stube, aber die Augen aus dem Schädel starr-
ten unverwandt die Stiefmutter und ihre Töchter
an und brannten sie fürchterlich! Sie wollten sich
verstecken, doch wohin sie auch rennen mochten,
die Augen folgten ihnen überallhin. Gegen Morgen
waren sie völlig zu Kohle verbrannt, nur Wassilis-
sa allein war unversehrt geblieben.
Am Morgen vergrub Wassilissa den Schädel in
der Erde, verschloß das Haus, ging in die Stadt
und bat eine alte Frau, die keine Verwandten hat-
te, sie bei ihr wohnen zu lassen. Dort lebt sie nun
wohlgemut und wartet auf den Vater. Eines Tages
sagt sie zu der Alten: „Es ist langweilig, so untätig
zu sitzen, Großmütterchen! Geh doch und kauf
mir Flachs, vom allerbesten, ich möchte spinnen.“
Die Alte kaufte schönen Flachs; Wassilissa setzte
sich ans Spinnrad; die Arbeit geht ihr flink von der
Hand, und der Faden wird gleichmäßig und fein
wie Haar. So hatte sie schon eine Menge Garn ge-
sponnen, und es wäre an der Zeit gewesen, mit
dem Weben zu beginnen. Aber so feine Webkäm-

234
me, daß sie für Wassilissas Garn taugten, wird
man nirgends finden, und es wird sich auch nie-
mand zutrauen, solche Kämme zu machen. Da
bat Wassilissa ihre Puppe, und die sagt: „Bring
mir nur irgendeinen alten Kamm und ein altes
Schiffchen, dazu noch eine Pferdemähne; ich will
dir schon alles richten.“
Wassilissa besorgte alles Nötige und legte sich
dann schlafen, die Puppe aber baute über Nacht
einen herrlichen Webstuhl. Gegen Ende des Win-
ters war das Linnen gewebt, und es war so fein,
daß man es statt eines Fadens hätte durch ein
Nadelöhr ziehen können. Im Frühjahr bleichten sie
es, und Wassilissa sagt zu der Alten: „Großmüt-
terchen, verkauf dieses Linnen, das Geld kannst
du für dich nehmen.“ Die Alte blickte auf die Ware
und schlug die Hände zusammen: „Nein, mein
Kindchen! Solches Linnen darf keiner außer dem
Zaren tragen; ich will’s ins Schloß bringen.“ Die
Alte ging zum Schloß des Zaren und läuft immer
unter den Fenstern auf und ab. Das sah der Zar,
und er fragte: „Was willst du, Alte?“ – „Eure Maje-
stät“, antwortet die Alte, „ich habe hier eine wun-
derbare Ware, und keinem außer dir will ich sie
zeigen.“ Der Zar gebot, sie hereinzulassen, und
als er das Linnen gesehen hatte, war er ganz aus
dem Häuschen: „Was willst du dafür haben?“
fragte er. „Dieses Linnen ist mit Geld nicht zu be-
zahlen, Väterchen Zar! Ich habe es dir als Ge-
schenk gebracht.“ Der Zar dankte der Alten und
entließ sie mit Geschenken.

235
Nun wollte man dem Zaren aus diesem Linnen
Hemden nähen; man schnitt sie zu, aber nirgends
war eine Näherin zu finden, die sich zugetraut
hätte, die Hemden zu nähen. Sie suchten lange;
schließlich ließ der Zar die Alte rufen und sagte zu
ihr: „Hast du’s fertig gebracht, solches Linnen zu
spinnen und zu weben, so sollst du nun auch
Hemden daraus nähen.“ – „Nicht ich war es, Herr,
die das Linnen gesponnen und gewebt hat“, sagte
da die Alte. „Das ist die Arbeit eines Mädchens,
das ich zu mir genommen habe.“ – „Dann soll
eben sie die Hemden nähen!“ Die Alte kehrte
heim und erzählte alles Wassilissa. „Ich wußte“,
antwortet ihr Wassilissa, „daß diese Arbeit meinen
Händen nicht erspart bleibt.“ Sie schloß sich in
ihre Kammer ein und setzte sich an die Arbeit,
nähte ohne sich auch nur eine Pause zu gönnen,
und bald war ein Dutzend Hemden fertig.
Die Alte brachte die Hemden zum Zaren, Wassi-
lissa aber wusch sich, kämmte sich, zog sich an
und setzte sich ans Fenster. Dort sitzt sie nun und
wartet, was geschehen wird. Auf einmal sieht sie,
wie ein Diener des Zaren den Hof betritt. Er kam
in die Stube und sagt: „Der Zar will die Meisterin
sehen, die ihm die Hemden genäht hat, und sie
soll aus seinen eigenen Händen belohnt werden.“
Wassilissa ging und trat vor das Antlitz des Zaren.
Als der Zar die schöne Wassilissa erblickte, ver-
liebte er sich sofort besinnungslos in sie. „Nein“,
sagt er, „du meine Schöne! Ich will mich von dir
nicht mehr trennen, du sollst meine Frau werden.“
Damit faßte der Zar Wassilissa bei ihren weißen

236
Händen, setzte sie neben sich, und sogleich wurde
Hochzeit gefeiert. Bald kehrte auch Wassilissas
Vater heim, freute sich über ihr Glück und lebte
von da an bei seiner Tochter. Die Alte nahm Was-
silissa zu sich, die Puppe aber trug sie bis an ihr
Lebensende immer in ihrer Tasche.

237
30
Maria Morewna3
In einem Zarenreich lebte einmal ein Zarensohn
Iwan; er hatte drei Schwestern, die erste hieß Ma-
ria, die zweite Olga, die dritte Anna. Vater und
Mutter waren ihnen gestorben; auf dem Sterbe-
bette hatten sie ihrem Sohn aufgetragen: „Wer
zuerst um deine Schwestern freit, dem gib sie
auch – behalte sie nicht lange bei dir!“ Der Zare-
witsch begrub seine Eltern und ging aus Kummer
mit den Schwestern in den grünen Garten spazie-
ren. Auf einmal steigt am Himmel eine schwarze
Wolke auf, zieht ein fürchterliches Gewitter her-
auf. „Kommt nach Hause, Schwestern!“ sagt Iwan
Zarewitsch. Kaum waren sie im Schloß, da krach-
te ein Donnerschlag, die Decke teilte sich, und zu
ihnen ins Zimmer kam ein edler Falke geflogen;
der Falke warf sich auf den Fußboden, wurde zu
einem edlen Helden und spricht: „Sei gegrüßt,
Iwan Zarewitsch! Früher bin ich als Gast gekom-
men, jetzt aber bin ich als Freier hier; ich will bei
dir um deine Schwester Maria, die Zarentochter,
freien.“ – „Wenn die Schwester dich mag, ich ste-
he ihr nicht im Wege – mag sie mit Gott gehen!“

3
„Morewna“ – Name, der einen nicht näher zu bezeich-
nenden Hinweis auf „Meer“ enthält. (Anm. d. Übers.)

238
Maria die Zarentochter war einverstanden; der
Falke heiratete sie und trug sie davon in sein
Reich.
Ein Tag folgt auf den anderen, eine Stunde jagt
die andere – ein Jahr ist herum, ehe man sich’s
versieht; Iwan Zarewitsch ging im grünen Garten
mit seinen zwei Schwestern spazieren. Wieder
zieht eine Wolke mit Wind und Blitzen auf.
„Kommt nach Hause, Schwestern!“ sagt der Za-
rewitsch. Kaum waren sie im Schloß, da krachte
ein Donnerschlag, das Dach fiel auseinander, die
Decke teilte sich, und ein Adler kam hereingeflo-
gen; der Adler warf sich auf den Boden und wurde
zu einem edlen Helden: „Sei gegrüßt, Iwan Zare-
witsch! Früher bin ich als Gast gekommen, jetzt
aber bin ich als Freier hier.“ Und er freite um Ol-
ga, die Zarentochter. Iwan Zarewitsch antwortet:
„Wenn Olga die Zarentochter dich mag, dann soll
sie dich heiraten, ich stehe ihrem Willen nicht
entgegen.“ Olga die Zarentochter gab ihr Einver-
ständnis und nahm den Adler zum Manne; der Ad-
ler ergriff sie und trug sie davon in sein Reich.
Es verging noch ein Jahr; Iwan Zarewitsch sagt
zu seiner jüngsten Schwester: „Komm, wir wollen
im grünen Garten ein wenig spazierengehen!“ Sie
gingen ein wenig spazieren; wieder zieht eine
Wolke mit Sturm und Blitzen auf. „Laß uns nach
Hause gehen, Schwester!“ Sie kamen nach Hause
und hatten sich noch nicht hingesetzt, da krachte
ein Donnerschlag, die Decke teilte sich, und ein
Rabe kam hereingeflogen; der Rabe warf sich auf
den Boden und wurde zu einem edlen Helden: die

239
vorigen waren schon schön gewesen, dieser aber
war noch schöner. „Nun, Iwan Zarewitsch! Früher
bin ich als Gast gekommen, jetzt aber bin ich als
Freier hier; gib mir Anna, die Zarentochter, zur
Frau.“ – „Ich stehe dem Willen der Schwester
nicht entgegen; wenn sie dich lieb hat, mag sie
dich heiraten.“ Anna die Zarentochter nahm den
Raben zum Manne, und er trug sie davon in sein
Reich.
Iwan Zarewitsch war nun allein; ein ganzes
Jahr lebte er ohne die Schwestern, und es wurde
ihm langweilig. „Ich will gehen“, sagt er, „und die
Schwestern suchen.“ Er machte sich auf den Weg,
ging und ging und sieht – auf dem Felde liegt ein
Heer, eine geschlagene Streitmacht. Iwan Zare-
witsch fragt: „Wenn hier noch einer am Leben ist,
der melde sich! Wer hat dieses große Heer ge-
schlagen?“ Es meldete sich einer, der noch am
Leben war: „Dieses ganze Heer hat Maria Morew-
na geschlagen, die schöne Königin.“ Iwan Zare-
witsch ritt weiter und kam zu einem weißen Zelt;
heraus trat zu seinem Empfang Maria Morewna,
die schöne Königin: „Sei gegrüßt, Zarewitsch, wo-
hin führt dich dein Weg – reitest du aus eigenem
Willen oder gezwungen?“ Antwortet ihr Iwan Za-
rewitsch: „Edle Helden reiten nicht gezwungen!“ –
„Nun, wenn du es nicht eilig hast, dann sei in
meinem Zelt mein Gast.“ Iwan Zarewitsch freute
sich, blieb zwei Nächte im Zelt, gewann Maria Mo-
rewnas Liebe und heiratete sie.
Maria Morewna, die schöne Königin, nahm ihn
mit sich in ihr Reich; sie lebten einige Zeit zu-

240
sammen, da kam der Königin in den Sinn, in den
Krieg zu ziehen; sie übergibt Iwan Zarewitsch die
ganze Wirtschaft und befiehlt: „Überall geh hin
und hab auf alles ein Auge; nur in diese Kammer
darfst du nicht sehen!“ Er hielt’s nicht aus, und
sobald Maria Morewna davongeritten war, stürzte
er sich sofort in die Kammer, öffnete die Tür und
sah hinein – da hängt dort Kostschej der Unsterb-
liche, an zwölf Ketten angeschmiedet. Kostschej
bittet Iwan Zarewitsch: „Hab Mitleid mit mir, gib
mir zu trinken; zehn Jahre schmachte ich hier,
hab nichts gegessen, nichts getrunken – der Hals
ist mir ganz ausgetrocknet!“ Der Zarewitsch gab
ihm einen ganzen Eimer Wasser; er trank ihn aus
und bat wieder: „Mit einem Eimer kann ich mei-
nen Durst nicht stillen; gib mir noch einen!“ Der
Zarewitsch gab ihm einen zweiten Eimer;
Kostschej trank ihn aus und bat um einen dritten,
und als er den dritten ausgetrunken hatte, ge-
wann er seine frühere Stärke zurück, schüttelte
die Ketten und zerbrach alle zwölf mit einemmal.
„Danke, Iwan Zarewitsch!“ sagte Kostschej der
Unsterbliche. „Jetzt wirst du Maria Morewna nie-
mals mehr sehen, genausowenig wie deine Oh-
ren!“ Und mit einem schrecklichen Wirbelsturm
fuhr er zum Fenster hinaus, holte Maria Morewna
unterwegs ein, packte sie und entführte sie. Iwan
Zarewitsch aber weinte bitterlich, rüstete sich zur
Reise und machte sich auf den Weg: „Was auch
immer geschehen mag, ich werde Maria Morewna
finden.“

241
Er geht einen Tag, geht einen zweiten, und in
der Morgendämmerung des dritten sieht er ein
wunderschönes Schloß; am Schloß steht eine Ei-
che, und auf der Eiche sitzt ein edler Falke. Der
Falke flog von der Eiche herab, warf sich auf die
Erde, verwandelte sich in einen edlen Helden und
rief: „Ach, mein lieber Schwager! Gott mit dir!“
Maria die Zarentochter kam herausgelaufen, be-
grüßte Iwan Zarewitsch voll Freude, fragte nach
seiner Gesundheit und erzählte, wie es ihr geht.
Der Zarewitsch blieb drei Tage bei ihnen zu Gast,
dann sagt er: „Ich kann nicht lange euer Gast
sein: ich bin auf dem Wege, meine Frau zu su-
chen, Maria Morewna, die schöne Königin.“ – „Es
wird schwer für dich sein, sie zu finden“, antwor-
tet der Falke. „Laß auf jeden Fall deinen silbernen
Löffel hier: wir werden ihn ansehen und an dich
denken.“ Iwan Zarewitsch ließ seinen silbernen
Löffel beim Falken und machte sich wieder auf
den Weg.
Er ging einen Tag, ging einen zweiten, und in
der Morgendämmerung des dritten sieht er ein
Schloß, noch schöner als das erste; beim Schloß
steht eine Eiche, und auf der Eiche sitzt ein Adler.
Der Adler flog von der Eiche herab, warf sich auf
die Erde, verwandelte sich in einen edlen Helden
und rief: „Steh auf, Zarentochter Olga! Unser lie-
ber Bruder kommt.“ Olga die Zarentochter kam
sogleich heraus, lief ihm entgegen, küßte und
umarmte ihn, fragte nach seiner Gesundheit und
erzählte, wie es ihr geht. Iwan Zarewitsch blieb
drei kurze Tage bei ihnen und sagt: „Länger zu

242
bleiben habe ich keine Zeit; ich bin auf dem We-
ge, meine Frau zu suchen, Maria Morewna, die
schöne Königin.“ Antwortet der Adler: „Es wird
schwer für dich sein, sie zu finden; laß deine sil-
berne Gabel bei uns: wir werden sie ansehen und
an dich denken.“ Er ließ seine silberne Gabel bei
ihnen und machte sich wieder auf den Weg.
Er ging einen Tag, ging einen zweiten, und in
der Morgendämmerung des dritten sieht er ein
Schloß, noch schöner als die ersten zwei; beim
Schloß steht eine Eiche, und auf der Eiche sitzt
ein Rabe. Der Rabe flog von der Eiche herab, warf
sich auf die Erde, verwandelte sich in einen edlen
Helden und rief: „Zarentochter Anna! Komm
schnell heraus, unser Bruder kommt!“ Anna die
Zarentochter kam herausgelaufen, begrüßte ihn
voll Freude, küßte und umarmte ihn, fragte nach
seiner Gesundheit und erzählte, wie es ihr geht.
Iwan Zarewitsch blieb drei kurze Tage bei ihnen
und sagt: „Lebt wohl! Ich will gehen und meine
Frau suchen, Maria Morewna, die schöne Königin.“
Antwortet der Rabe: „Es wird schwer für dich sein,
sie zu finden; laß doch die silberne Tabakdose bei
uns: wir werden sie ansehen und an dich denken.“
Der Zarewitsch gab ihm die silberne Tabakdose,
nahm Abschied und machte sich wieder auf den
Weg.
Er ging einen Tag, ging einen zweiten, am drit-
ten aber gelangte er zu Maria Morewna. Sie er-
blickte ihren Liebsten, warf sich an seinen Hals,
vergoß viele Tränen und sprach: „Ach, Iwan Za-
rewitsch, warum hast du nicht auf mich gehört,

243
hast in die Kammer gesehen und Kostschej den
Unsterblichen herausgelassen?“ – „Vergib, Maria
Morewna! Denk nicht an das Vergangene, laß uns
lieber losreiten, solange Kostschej der Unsterbli-
che noch nicht zu sehen ist; vielleicht holt er uns
nicht ein!“ Sie brachen auf und ritten davon.
Kostschej aber war auf der Jagd; gegen Abend
reitet er nach Hause, da strauchelt unter ihm sein
wackeres Pferd. „Was strauchelst du, unersättli-
cher Gaul? Oder spürst du irgendein Unheil?“
Antwortet das Pferd: „Iwan Zarewitsch war da,
hat Maria Morewna entführt.“ – „Und können wir
sie einholen?“ – „Wir können Weizen säen, war-
ten, bis er reif ist, ihn mähen, dreschen, zu Mehl
machen, fünf Öfen Brot backen, das Brot aufessen
und ihnen erst danach hinterherreiten – auch
dann kommen wir noch zurecht!“ Kostschej
sprengte los und holte Iwan Zarewitsch ein:
„Nun“, sagt er. „das erstemal vergebe ich dir we-
gen deiner Gutherzigkeit, daß du mir Wasser zu
trinken gegeben hast; auch ein zweitesmal will ich
dir vergeben, beim drittenmal aber hüte dich – in
Stücke werde ich dich hauen!“ Damit nahm er ihm
Maria Morewna weg und ritt mit ihr davon. Iwan
Zarewitsch aber setzte sich auf einen Stein und
brach in Tränen aus.
Er weinte und weinte und ritt dann wieder zu-
rück, Maria Morewna zu holen; Kostschej der Un-
sterbliche war gerade nicht zu Hause. „Reiten wir,
Maria Morewna!“ – „Ach, Iwan Zarewitsch! Er wird
uns einholen.“ – „Mag er uns immer einholen; wir
werden doch wenigstens ein paar Stunden Zu-

244
sammensein.“ Sie brachen auf und ritten davon.
Kostschej der Unsterbliche ist auf dem Heimweg,
da strauchelt unter ihm sein wackeres Pferd. „Was
strauchelst du, unersättlicher Gaul? Oder spürst
du irgendein Unheil?“ – „Iwan Zarewitsch war da,
hat Maria Morewna mitgenommen.“ – „Und kön-
nen wir sie einholen?“ – „Wir können Gerste säen,
warten, bis sie aufgegangen ist, sie mähen und
dreschen, Bier brauen, uns einen Rausch antrin-
ken, ordentlich ausschlafen und ihnen erst danach
hinterherreiten – auch dann kommen wir noch
zurecht!“ Kostschej sprengte los und holte Iwan
Zarewitsch ein: „Ich habe dir doch gesagt, daß du
Maria Morewna niemals mehr sehen wirst, genau-
sowenig wie deine Ohren!“ Damit nahm er sie ihm
weg und entführte sie.
Iwan Zarewitsch war wieder allein, weinte und
weinte und ritt dann wieder zurück, Maria Morew-
na zu holen; zu der Zeit war Kostschej gerade
nicht zu Hause. „Reiten wir, Maria Morewna!“ –
„Ach, Iwan Zarewitsch, er holt uns doch ein, wird
dich in Stücke hauen.“ – „Mag er mich immer in
Stücke hauen, ich kann ohne dich nicht leben.“
Sie brachen auf und ritten los. Kostschej der Un-
sterbliche ist auf dem Heimweg, da strauchelt un-
ter ihm sein wackeres Pferd. „Was strauchelst du?
Oder spürst du irgendein Unheil?“ – „Iwan Zare-
witsch war da, hat Maria Morewna mitgenom-
men.“ Kostschej sprengte los, holte Iwan Zare-
witsch ein, hackte ihn in kleine Stücke und legte
sie in ein verpichtes Faß; das beschlug er mit ei-

245
sernen Ringen und warf es ins blaue Meer; Maria
Morewna aber nahm er mit sich.
Genau zu dieser Zeit wurde bei den Schwägern
Iwan Zarewitschs das Silber schwarz. „Ach“, sag-
ten sie, „da ist ein Unglück geschehen!“ Der Adler
stürzte sich aufs blaue Meer hinab, packte das
Faß und schleppte es ans Ufer, der Falke flog, um
Wasser des Lebens, der Rabe, um Wasser des To-
des zu holen. Sie trafen sich alle drei an der glei-
chen Stelle, zerschlugen das Faß, holten die Stük-
ke Iwan Zarewitschs heraus, wuschen sie und
legten sie aneinander, wie es sich gehört. Der Ra-
be besprengte ihn mit Wasser des Todes – da
wuchsen die Stücke zusammen, vereinigten sich;
der Falke besprengte ihn mit Wasser des Lebens –
da zuckte Iwan Zarewitsch, stand auf und sagt:
„Ach, wie habe ich lange geschlafen!“ – „Noch
länger hättest du geschlafen, wenn wir nicht wä-
ren!“ antworteten die Schwäger. „Komm jetzt mit
zu uns, sei unser Gast.“ – „Nein, Brüder, ich will
gehen, Maria Morewna zu suchen.“
Er kommt zu ihr und bittet: „Erfrage von
Kostschej dem Unsterblichen, wo er sich ein so
wackeres Pferd verschafft hat.“ Maria Morewna
paßte einen günstigen Augenblick ab und fragte
Kostschej aus. Kostschej sagte: „Hinter dreimal
neun Ländern, im dreimal zehnten Reich, jenseits
des Feuerflusses wohnt die Hexe Baba-Jagá; die
hat eine Stute, auf der sie jeden Tag um die Welt
fliegt. Sie hat auch viele andere herrliche Stuten;
ich war drei Tage als Hirt bei ihr und habe keine
einzige Stute verloren! Und dafür hat die Hexe mir

246
einen jungen Hengst gegeben.“ – „Wie bist du
denn über den Feuerfluß gekommen?“ – „Ich habe
da ein Tuch – sobald ich dreimal nach rechts win-
ke, entsteht eine hohe, hohe Brücke, an die kann
das Feuer nicht heran!“ Maria Morewna hatte ge-
nau zugehört, erzählte alles Iwan Zarewitsch, und
das Tuch hatte sie weggenommen und gab es
ihm.
Iwan Zarewitsch überquerte den Feuerfluß und
ging weiter zur Hexe Baba-Jagá. Lange ging er,
ohne zu trinken, ohne zu essen. Da kam ihm ein
fremdländischer Vogel mit seinen Jungen in den
Weg. Iwan Zarewitsch sagt: „Ich will doch wenig-
stens ein Vogeljunges essen.“ – „Iß nicht, Iwan
Zarewitsch!“ bittet der fremdländische Vogel, „ich
werde dir noch einmal nützlich sein.“ Er ging wei-
ter – da sieht er im Walde einen Bienenstock. „Ich
will doch“, sagt er, „ein wenig Honig nehmen.“ Die
Bienenmutter läßt sich vernehmen: „Rühr meinen
Honig nicht an, Iwan Zarewitsch! Ich werde dir
noch einmal nützlich sein.“ Er rührte ihn nicht an
und ging weiter; da kommt ihm eine Löwin mit
ihrem Löwenjungen in den Weg. „Ich will doch
wenigstens dieses Löwenjunge essen; ich habe
solchen Hunger, mir ist schon ganz übel!“ – „Rühr
es nicht an, Iwan Zarewitsch!“ bittet die Löwin,
„ich werde dir noch einmal nützlich sein.“ –
„Schön, sollst deinen Willen haben!“
Hungrig schleppte er sich weiter, ging und ging
– da steht auf einmal das Haus der Baba-Jagá da,
rings um das Haus zwölf Pfähle, auf elf Pfählen
steckt ein menschlicher Kopf, nur einer ist noch

247
frei. „Sei gegrüßt, Großmütterchen!“ – „Sei ge-
grüßt, Iwan Zarewitsch! Weswegen bist du ge-
kommen – aus eigenem Willen oder gezwungen?“
– „Ich bin gekommen, mir bei dir ein reckenstar-
kes Pferd zu verdienen.“ – „Aber gern, Iwan Za-
rewitsch! Bei mir braucht man ja nicht ein Jahr zu
dienen, sondern nur drei Tage; wenn du meine
Stuten gut hütest, gebe ich dir ein Reckenpferd,
wenn aber nicht, dann, nichts für ungut, muß dein
Kopf auf dem letzten Pfahl stecken.“ Iwan Zare-
witsch war’s einverstanden; die Baba-Jagá gab
ihm zu essen und zu trinken und befahl ihm, sich
an die Arbeit zu machen. Kaum hatte er die Stu-
ten aufs Feld hinausgetrieben, da reckten sie die
Schwänze in die Höhe und rannten auf den Wie-
sen nach allen Richtungen auseinander; ehe sich’s
der Zarewitsch versah, waren sie schon gänzlich
verschwunden. Da weinte er und war betrübt,
setzte sich auf einen Stein und schlief ein. Die
Sonne war schon im Untergehen, da kam der
fremdländische Vogel geflogen und weckte ihn:
„Steh auf, Iwan Zarewitsch! Die Stuten sind jetzt
zu Hause.“ Der Zarewitsch stand auf machte sich
auf den Heimweg; die Hexe aber lärmt und schreit
ihre Stuten an: „Warum seid ihr nach Hause ge-
kommen?“ – „Wie hätten wir nicht heimkehren
sollen? Die Vögel der ganzen Welt sind über uns
hergefallen und haben uns beinahe die Augen
ausgehackt.“ – „Nun, rennt morgen nicht auf den
Wiesen umher, sondern verstreut euch in den tie-
fen Wäldern!“

248
Iwan Zarewitsch schlief die ganze Nacht, am
Morgen aber sagt die Baba-Jagá zu ihm: „Paß ja
auf, Zarewitsch! Wenn du meine Stuten nicht gut
hütest, wenn du auch nur eine einzige verlierst,
dann kommt dein ungestümer Kopf auf den
Pfahl!“ Er trieb die Stuten aufs Feld; sie reckten
sofort die Schwänze in die Höhe und rannten nach
allen Richtungen in die tiefen Wälder. Wieder
setzte sich der Zarewitsch auf einen Stein, weinte
und weinte und schlief ein. Die Sonne stand hin-
term Wald, da kam die Löwin gerannt: „Steh auf,
Iwan Zarewitsch! Die Stuten sind alle zusammen-
getrieben.“ Iwan Zarewitsch stand auf und ging
nach Hause; die Hexe lärmt schlimmer als zuvor
und schreit ihre Stuten an: „Warum seid ihr nach
Hause gekommen?“ – „Wie hätten wir nicht heim-
kehren sollen? Die wilden Tiere der ganzen Welt
sind über uns hergefallen und hätten uns beinahe
in Stücke gerissen.“ – „Nun, lauft morgen ins
blaue Meer!“
Wieder schlief Iwan Zarewitsch die ganze
Nacht; am Morgen schickt ihn die Baba-Jagá, die
Stuten zu hüten. „Wenn du sie nicht hütest,
kommt dein Kopf auf den Pfahl.“ Er trieb die Stu-
ten aufs Feld: sie reckten sofort die Schwänze in
die Höhe, schwanden ihm aus den Augen und
rannten ins blaue Meer; stehen im Wasser bis
zum Hals. Iwan Zarewitsch setzte sich auf einen
Stein, weinte und schlief ein. Die Sonne stand
hinter dem Wald, da kam die Biene geflogen und
sagte: „Steh auf Zarewitsch! Die Stuten sind alle
zusammengetrieben; und wenn du wieder zu

249
Hause bist, dann komm der Baba-Jagá nicht unter
die Augen, geh in den Pferdestall und versteck
dich hinter der Krippe. Dort ist ein grindiger jun-
ger Hengst, wälzt sich im Mist; den stiehl und geh
in tiefer Mitternacht aus dem Haus.“
Iwan Zarewitsch stand auf, schlich sich in den
Pferdestall und legte sich hinter die Krippe; die
Baba-Jagá lärmt und schreit ihre Stuten an:
„Warum seid ihr heimgekehrt?“ – „Wie hätten wir
nicht heimkehren sollen? Schwärme und abermals
Schwärme von Bienen sind über uns hergefallen,
von der ganzen Welt, und haben uns von allen
Seiten bis aufs Blut gestochen!“
Die Hexe schlief ein, genau um Mitternacht aber
stahl ihr Iwan Zarewitsch den grindigen jungen
Hengst, sattelte ihn, saß auf und sprengte davon
zum Feuerfluß. Kam an diesen Fluß, winkte mit
dem Tuch dreimal nach rechts – und plötzlich,
hast du nicht gesehen, schwebte über dem Flug
eine hohe, prächtige Brücke. Der Zarewitsch ritt
über die Brücke und winkte mit dem Tuch nach
links, aber nur zweimal – da war über dem Fluß
nur noch eine ganz, ganz dünne Brücke! Früh-
morgens wachte die Baba-Jagá auf – vom grindi-
gen jungen Hengst keine Spur! Sie stürzte hinter-
her, um die beiden zu verfolgen; was das Zeug
hält, jagt sie in einem eisernen Mörser dahin, mit
dem Stößel treibt sie an, mit dem Ofenbesen ver-
wischt sie die Spur. Kam zum Feuerfluß, warf ei-
nen Blick darauf und denkt: „Schöne Brücke!“
Fuhr über die Brücke und war gerade bis zur Mitte
gekommen, da brach die Brücke, und die Hexe

250
Baba-Jagá plumpste in den Fluß; hier fand sie ei-
nen schrecklichen Tod! Iwan Zarewitsch zog den
jungen Hengst auf und fütterte ihn in den jungen
Wiesen; es wurde ein wundervolles Pferd aus ihm.
Der Zarewitsch kommt zu Maria Morewna; sie
kam herausgelaufen und warf sich an seinen Hals:
„Wie hat Gott dich wieder zum Leben erweckt?“ –
„So und so“, sagt er, „laß uns losreiten!“ – „Ich
habe Angst, Iwan Zarewitsch! Wenn Kostschej
uns einholt, wirst du wieder in Stücke gehauen.“ –
„Nein, er wird uns nicht einholen. Ich habe jetzt
ein prächtiges Reckenpferd, es fliegt wie ein Vo-
gel.“ Sie bestiegen das Pferd und ritten los.
Kostschej der Unsterbliche ist auf dem Heimweg,
da strauchelt unter ihm sein Pferd. „Was strau-
chelst du, unersättlicher Gaul? Oder spürst du ir-
gendein Unheil?“ – „Iwan Zarewitsch war da, hat
Maria Morewna entführt.“ – „Und können wir sie
einholen?“ – „Das weiß Gott! Iwan Zarewitsch hat
jetzt ein reckenstarkes Pferd, das ist besser als
ich.“ – „Nein, ich ertrag es nicht!“ sagt Kostschej
der Unsterbliche. „Ich reite hinterher.“ Ritt er nun
lange oder kurze Zeit, jedenfalls holte er Iwan Za-
rewitsch ein, sprang vom Pferd und wollte mit
seinem scharfen Säbel auf ihn einschlagen; da
traf ihn Iwan Zarewitschs Pferd aus aller Kraft mit
dem Huf und zerschmetterte ihm den Kopf, der
Zarewitsch aber machte ihm mit seiner Keule völ-
lig den Garaus. Danach schichtete der Zarewitsch
Holz zu einem Haufen, entfachte ein Feuer, ver-
brannte Kostschej den Unsterblichen und ver-
streute seine Asche in den Wind.

251
Maria Morewna bestieg Kostschejs Pferd, Iwan
Zarewitsch das seine, und dann ritten sie zuerst
den Raben besuchen, dann den Adler und schließ-
lich auch den Falken. Wohin sie immer kamen,
überall wurden sie freudig empfangen: „Ach, Iwan
Zarewitsch! Wir haben schon nicht mehr gehofft,
dich wiederzusehen. Nun freilich, nicht umsonst
hast du solche Mühen bestanden: Eine solche
Schönheit wie Maria Morewna, da kann man in
der ganzen Welt suchen und wird keine zweite
finden!“ Sie blieben eine Weile, feierten und ritten
weiter in ihr Zarenreich; langten an und lebten
von nun an herrlich und in Freuden, wurden reich
und tranken Honigwein.

252
31
Iwan Zarewitsch und Blauäuglein,
die Heldenjungfrau
Das ist auf dem Meere gewesen, auf dem Ozean;
auf der Insel Kidan, da steht ein Baum, der hat
goldene Wipfel, und auf diesem Baum geht der
Kater Bajun umher; geht er nach oben, singt er
ein Lied, und geht er nach unten, erzählt er Mär-
chen. Das wäre ein Spaß und ein Vergnügen, da
zuzusehen. Das ist noch nicht das Märchen, son-
dern erst die Einleitung; das Märchen kommt erst.
Dieses Märchen wird von Morgen bis Nachmittag
dauern, bis nach dem weichen Vesperbrot. Jetzt
nun wollen wir das Märchen beginnen.
Es war in irgendeinem Zarenreich, einem frem-
den Staat, da lebte ein Zar mit seiner Zarin. Der
Zar und die Zarin hatten drei Söhne. Der älteste
Sohn hieß Fjodor Zarewitsch, der zweite Sohn
Wassili Zarewitsch, und der jüngste Sohn hieß
Iwan Zarewitsch.
Dieser Zar veranstaltete ein Fest für alle Welt.
Er hatte zu seinem Fest Fürsten und Bojaren und
kühne Recken eingeladen. „Wer von euch würde,
ihr Burschen, durch dreimal neun Länder ins
zehnte Reich reisen, zur Jungfrau Blauäuglein?
Würde von dieser Jungfrau Blauäuglein Wasser
des Lebens und den Krug mit den zwölf Schnep-
pen holen? Ich würde diesem Reiter ein halbes

253
Reich verschreiben und einen halben Edelstein.“
Bei diesem Fest versteckt sich der Große hinter
dem Mittleren, und der Mittlere versteckt sich hin-
ter dem Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt
keine Antwort. Da tritt sein ältester Sohn Fjodor
Zarewitsch vor und sagt: „Wir haben keine Lust,
das Reich fremden Leuten zu geben. Ich will diese
Fahrt machen, diese Dinge holen und dir, Vater,
geben.“ – „Nun, liebes Kind! Möge unser eigenes
Gut uns auch zuteil werden.“ Also schön; Fjodor
Zarewitsch geht nun durch die Pferdeställe, wählt
sich ein Pferd, das noch keiner geritten, zäumt es
mit einem Zügel, der noch kein Pferd gezäumt,
nimmt eine Peitsche, die noch keiner geschwun-
gen, legt ihm zwölf Gurte und einen an, nicht des
schönen Aussehens wegen, sondern um seine
Stärke, seine Kühnheit zu zeigen. Der Zarewitsch
machte sich auf den Weg; man sah, daß er auf-
saß, aber sah nicht, in welcher Richtung er davon-
jagte. Reitet er nun nah oder fern, tief oder hoch,
zwischen Himmel und Erde, im fremden Land, –
er gelangte zu einem Berg. Den halben Berg ritt
er hoch, da liegt auf halber Höhe eine steinerne
Platte, und auf diese Platte ist eine Aufschrift ge-
schrieben, sind Kerben eingekerbt: „Drei Wege.
Auf dem ersten Weg – selber hungrig sein; auf
dem zweiten – selber satt, aber das Pferd hung-
rig, und auf dem dritten – mit einem Mädchen
schlafen.“ Da überlegt er bei sich: „Bin ich selber
hungrig, werde ich kaum lange leben; auf einem
hungrigen Pferd werde ich nicht weit kommen,
aber mit einem Mädchen schlafen, das will ich –

254
dieser Weg ist der allerbeste für mich.“ Er schlug
den Weg ein, wo stand „mit einem Mädchen
schlafen“, und gelangt auf einmal zu einem ein-
samen Haus. Da kommt ein Mädchen herausge-
rannt: „Liebster, schon komme ich, aus dem Sat-
tel heb ich dich; du sollst mit mir Brot und Salz
essen und zur Nacht schlafen.“ – „Ach, Mädchen,
Brot und Salz essen will ich nicht, und im Schlaf
kann ich meinen Weg nicht verkürzen. Ich muß
weiterreiten.“ – „Ach, Zarensohn, eile nicht zur
Weiterreise, eile zum Mahl!“
Sie führt ihn ins Schlaf gemach: „Leg du dich
an die Wand, ich will mich an den Rand legen. Dir
werde ich dann zu trinken und mir zu essen brin-
gen.“ – „Ach, schönes Mädchen, bei Christus ist
die Nacht überall gleich.“ – „Bei mir aber etwas
länger als bei den Menschen!“
Er legte sich an die Wand, sie stürzte das Bett
um, und, marsch, flog er hinab, in eine Grube
vierzig Saschen4 tief. Da sitzt er nun lange, und
es verging eine ganz hübsche Zeit.
Nun veranstaltet sein Vater zum zweitenmal ein
Fest, und wieder für alle Welt. Auch zu diesem
Fest hatte sich allerhand Publikum versammelt:
Zaren, Zarensöhne, Könige, Königssöhne – alle
hatten sich zu diesem Ball versammelt. Da sagt
dieser Zar: „Wer wohl, ihr Burschen, fände sich
unter denen, die auserwählt sind, und fände sich
unter denen, die Lust haben, in eben dieses Reich

4
Längenmaß im zaristischen Rußland =3 Arschin = 7 Fut
= 213,34 cm. (Anm. d. Übers.)

255
zu reiten, zu dieser Jungfrau Blauäuglein, diese
Dinge zu holen und mir, dem Zaren, Wasser des
Lebens zu bringen?“ Schön: unter diesem Publi-
kum versteckt sich der Große hinter dem Mittle-
ren, und der Mittlere versteckt sich hinter dem
Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt keine Ant-
wort. Da tritt wieder ein Sohn von ihm vor, der
mittlere, Wassili Zarewitsch: „Väterchen! Ich habe
keine Lust, das Reich in fremde Hände zu geben,
aber Lust, die Dinge zu holen und in deine Hände
zu legen.“ – „Nun, liebes Kind! Unser eigenes Gut
soll uns auch wieder zuteil werden.“
Wassili Zarewitsch geht also durch die Pferde-
ställe und wählt sich ein Pferd, das noch keiner
geritten, zäumt es mit einem Zügel, der noch kein
Pferd gezäumt, und nimmt eine Peitsche, die noch
keiner geschwungen. Auch er legt ihm zwölf Gurte
und einen an, nicht wegen des schönen Ausse-
hens, sondern wegen seiner Reckenstärke, wegen
des Heldenruhms. Der Zarewitsch machte sich auf
den Weg. Man sah, daß er aufsaß, aber sah nicht,
in welcher Richtung er davonjagte.
Auch er kommt zu diesem Berge. Auf halber
Höhe liegt die Platte, und auf diese Platte ist eine
Unterschrift geschrieben, sind Kerben eingekerbt:
„Drei Wege trennen sich. Auf dem ersten Wege
reiten – selber hungrig sein; auf dem zweiten –
selber satt, aber das Pferd hungrig, und auf dem
dritten – mit einem Mädchen schlafen.“ Dorthin
wandte er sich: „Auf hungrigem Pferd kann ich
nicht weiterreiten, und selber kann ich nicht lange
weiterleben, aber mit einem Mädchen schlafen –

256
dieser Weg ist für mich der allerbeste!“ Und auch
er schlug den Weg „mit einem Mädchen schlafen“
ein und gelangt zu dem einsamen Haus. Da sagt
das Mädchen: „Der Liebste kommt, schon geh ich,
ihn aus dem Sattel heb ich. Er soll mit mir Brot
und Salz essen und zur Nacht schlafen.“ – „Aber
ich will nicht Brot und Salz essen, und ruh ich aus,
kann ich meinen Weg nicht verkürzen.“ – „Ach,
edler Held, Zarensohn, eile nicht zur Weiterreise,
eile zum Mahl!“ Da legte er sich arglos aufs Bett
schlafen. Sie aber warf auch ihn hinab: „Wer
kommt geflogen?“ – „Wassili Zarewitsch! Und wer
sitzt dort?“ – „Fjodor Zarewitsch!“ – „Nun, Brü-
derchen, wie sitzt sich’s denn?“ – „Ach, nicht übel.
Hungers läßt sie einen nicht sterben, aber satt zu
essen gibt sie einem auch nicht – ein Pfund Brot
und ein Pfund Wasser.“ – „Ach, Bruderherz, da
sitzen wir schön in der Patsche!“ – Und da sitzen
diese Helden nun, die Zarenkinder.
Jener Zar veranstaltet wieder ein Fest für alle
Welt. Er hatte zu seinem Fest Fürsten und Bojaren
und kühne Recken eingeladen. „Wer von euch
würde, ihr Burschen, durch dreimal neun Länder
ins zehnte Reich reisen, zur Jungfrau Blauäuglein?
Würde von dieser Jungfrau Blauäuglein Wasser
des Lebens und den Krug mit den zwölf Schnep-
pen holen? Ich würde diesem Reiter ein halbes
Reich verschreiben und einen halben Edelstein.“
Auf diesem Fest versteckt sich der Große hinter
dem Mittleren, und der Mittlere versteckt sich hin-
ter dem Kleinsten, vom Kleinsten aber kommt
keine Antwort.

257
Da tritt sein jüngster Sohn Iwan Zarewitsch vor
und sagt: „Wir haben keine Lust, das Reich frem-
den Leuten zu geben. Ich will diese Fahrt machen,
diese Dinge holen und dir, Vater, geben.“ – „Nun,
liebes Kind! Möge unser eigenes Gut uns auch zu-
teil werden.“
Also schön: Iwan Zarewitsch geht nun durch die
Pferdeställe, wählt sich ein Pferd, das noch keiner
geritten, zäumt es mit einem Zügel, der noch kein
Pferd gezäumt, nimmt eine Peitsche, die noch
keiner geschwungen, legt ihm zwölf Gurte und
einen an, nicht des schönen Aussehens wegen,
sondern wegen seiner Reckenstärke, wegen des
Heldenruhms. Der Zarewitsch machte sich auf den
Weg. Reitet er nun nah oder fern, tief oder hoch,
zwischen Himmel und Erde, im fremden Land, –
er gelangte zu dem Berg. Den halben Berg ritt er
hoch, da liegt auf halber Höhe die steinerne Plat-
te, und auf diese Platte ist eine Aufschrift ge-
schrieben, sind Kerben eingekerbt: „Drei Wege.
Auf dem ersten Weg – selber hungrig sein; auf
dem zweiten – selber satt, aber das Pferd hung-
rig, und auf dem dritten – mit einem Mädchen
schlafen.“
Er schlug den Weg ein, wo stand „selber hung-
rig sein“. Und er kommt zu einem einsamen Haus.
Steht da ein Haus, eine Hütte, auf einem Hühner-
bein, auf einer Hundepfote. „Diese Hütte – zum
Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der Vor-
derseit!“ Die Hütte drehte sich zum Wald mit der
Hinterseite und zu ihm mit der Vorderseite. Er
ging hinein, da sitzt dort ein steinaltes Weib, eine

258
Baba-Jagá, brüht Seide und wirft die Fäden über
einen Querbalken. „Ach“, sagt sie, „lange hab ich
kein Menschenfleisch zu sehen gekriegt: jetzt ist
es von selbst zu mir gekommen. Ich will diesen
Menschen braten, er soll die weite Welt nicht wie-
dersehen.“ – „Ach, du alte Baba-Jagá, du Einbein,
hast den Vogel noch nicht gefangen und rupfst
ihn, hast den Burschen noch nicht erkannt und
beschimpfst ihn. Du solltest sogleich aufspringen,
dem edlen Helden, dem Wandersmann, zu essen
geben und für die Nacht ein Lager bereiten; ich
lege mich zur Ruhe nieder, und du könntest dich
zu mir ans Kopfende setzen, könntest fragen, und
ich würde erzählen, wer bist du und woher, lieber
Mann? Wie heißt du?“ Da machte die Alte alles so,
gab ihm zu essen, wie es sich gehört, setzte sich
ans Kopfende und begann zu fragen, und er be-
gann zu erzählen. „Wer bist du, mein Lieber, und
woher, und wie heißt du? Aus welchem Lande bist
du, und aus welchem Stamm, und welchen Va-
ters, welcher Mutter Sohn?“ – „Ich bin, Großmüt-
terchen, aus dem und dem Zarenreich, einem fer-
nen Land, der Zarensohn Iwan Zarewitsch bin ich.
Ich bin ausgezogen, durch dreimal neun Länder
und dreimal neun Seen zu reiten, in ein fernes
Reich zur Jungfrau Blauäuglein, Wasser des Le-
bens und der Jugend zu holen; ich bin ein Send-
bote meines Vater.“ – „Nun, mein liebes Kind! –
Eben diese starke Heldenjungfrau ist meine Nich-
te, meines Bruders Tochter; ich weiß nicht, ob du
dieses Gut bekommst, mein Lieber.“ Am nächsten
Morgen stand er in aller Frühe auf und wusch sich

259
aufs gründlichste. Verneigte sich nach allen vier
Himmelsrichtungen und dankte ihr für das Nacht-
lager.
„Es braucht keinen Dank, Iwan Zarewitsch! Je-
dem steht ein Nachtlager zu, dem Fußwanderer
wie dem Reiter, dem Armen wie dem Reichen, al-
len Menschen, aber reite auf meinem Pferd weiter.
Mein Pferd ist größer und meine Keule schwerer.“
Da ließ er sein Pferd bei der Alten und ritt auf
ihrem Pferd weiter. Dieses Pferd ist tüchtiger,
läuft schneller als seines. Er zieht dahin, ob nah,
ob fern. Nicht so bald ist eine Tat getan, nicht so
bald ein Märchen erzählt, und er reitet immer wei-
ter. Der Tag neigte sich schon zur Nacht, da sah
er vor sich ein Haus stehen, eine Hütte auf Hüh-
nerbeinen, auf einer Hundepfote. „Ach, du Hütte
auf Hühnerbeinen! Dreh dich zum Wald mit der
Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit; ich will
keine Ewigkeit bleiben, nur eine dunkle Nacht
übernachten. Wie ich in diese Hütte hineinkomme,
so auch wieder heraus, wie ich hineinreite, so
auch wieder heraus.“ Da drehte sich die Hütte
zum Wald mit der Hinterseite und zu ihm mit der
Vorderseite, und er ritt hin. Plötzlich bekam ein
anderes Pferd Witterung und begann zu wiehern,
seines aber ließ sich noch lauter vernehmen, denn
sie waren aus einer Herde. Das hörte die Alte in
der Hütte. „Da ist wohl meine Schwester zu Be-
such gekommen.“ Sie kam heraus. „Nicht deine
Schwester ist gekommen, ein schöner Held ist ge-
kommen.“ – „Kommt bitte herein in die Stube.“
Sie versorgte das Pferd und forderte ihn auf, he-

260
reinzukommen. Man begrüßt nach dem Gewand,
aber verabschiedet nach dem Verstand. Was sich
im Hause fand, das nahm sie und gab ihm zu es-
sen, bereitete für die Nacht auch ein Lager und
setzte sich ans Kopfende. „Wer bist du, lieber
Mann? Wer und woher, und wie heißt du?“ – „Ich
bin ausgezogen zur Jungfrau Blauäuglein, Wasser
des Lebens und der Jugend zu holen. Und ich muß
bei ihr den Krug mit den zwölf Schneppen voll
Wasser des Lebens und der Jugend holen.“ – „Na,
ich weiß nicht, mein Lieber, wie du das bekom-
men willst. Sie ist die stärkste Heldenjungfrau. Sie
ist meine Nichte, meines Bruders Tochter. Aber je
weiter man in den Wald hineinfährt, um so mehr
Holz schlägt man. Ich habe eine große Schwester,
dorthin sollst du fahren, bei mir aber übernach-
ten.“ Er übernachtete also bei der Alten. Am
nächsten Morgen steht er in aller Frühe auf,
wäscht sich aufs gründlichste und verneigt sich
nach allen vier Himmelsrichtungen. „Ach, es
braucht doch keinen Dank, Iwan Zarewitsch! Ein
Nachtlager führt und trägt man nicht mit sich her-
um, überall steht einem ein Nachtlager zu, dem
Fußwanderer wie dem Reiter; laß der Schwester
Pferd bei mir und nimm mein Pferd; mein Pferd ist
noch geschwinder, und meine Keule noch schwe-
rer.“ Da machte er sich sogleich auf den Weg und
sieht, ob es weit ist. Die ganze Strecke durchreitet
er schnell, Tag und Nacht unterwegs. Er kam zu
einem Haus. „Ach, Hütte! Kehre dich zum Wald
mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit.
Ich will keine Ewigkeit bleiben, sondern eine

261
Nacht übernachten.“ Er ritt zu dieser Hütte, wie-
der bekam ein Pferd Witterung und begann zu
wiehern, seines aber ließ sich noch lauter ver-
nehmen. Das hörte die Alte. „Da ist wohl die
Schwester zu Besuch gekommen!“ Sie sah nach –
es ist ihr Pferd, der Reiter aber ist ein Fremdling,
und sie kennt ihn nicht. Nun, sie sagt also:
„Kommt bitte herein in meine Stube. Man begrüßt
Euch nach Eurem Gewand und verabschiedet Euch
nach Eurem Verstand.“ Und es trug sich bei ihr
das folgende zu: Sie gab dem Manne zu trinken
und zu essen und bereitete ihm ein Lager. „Wer
bist du, lieber Mann, und woher?“ – „Ich bin Iwan
Zarewitsch; ich will durch dreimal neun Länder
reiten, und ich reite durch dreimal neun Seen, rei-
te ins dreimal zehnte Reich, und ich brauche Was-
ser des Lebens und den Krug mit zwölf Schnep-
pen.“ – „Aber wie nur, mein liebes Kind!? Rings
um ihr Reich ist eine Mauer, drei Saschen hoch
und einen Saschen breit, und eine Wache von
dreißig Heldenjungfrauen, die lassen dich nicht
zum Tor hinein. Du mußt aber mitten in der Nacht
reiten und auf meinem Pferd – mein Pferd springt
über die Mauer hinweg, zur Nachtzeit und in der
ersten Nachtstunde. Den heutigen Tag laß noch
verstreichen, heute Nacht aber mach dich hin-
über!“ Und sie unterweist ihn wie folgt: „Nimm
das Wasser an der und der Stelle, unter der und
der Nummer, und wenn du ins Schlafgemach
kommst, so schlafen sie; es sind ihrer dreizehn
Heldenjungfrauen, auf der einen Seite von ihr
sechs, und auf der anderen Seite sechs. Alle se-

262
hen gleich aus und sind gleich groß.“ Er setzte
sich also auf ihr wackeres Pferd und ritt los als es
schon Nacht war. Das Pferd sprengt dahin, Moore
und Sümpfe überspringt es, Flüsse und Seen fegt
es mit dem Schwanz zu. Das war eine Sache, da
gab es kein großes Federlesen. Diese Strecke leg-
te er ohne Aufenthalt zurück. Er kam zur Stadt,
das Pferd sprang, ohne zu fragen, hinüber und
setzte über die Mauer. Er fand die Dinge sogleich
an der und der Stelle, unter der und der Nummer,
drang weiter ein und wollte noch sie selbst sehen.
Er kommt ins Schlafgemach. Sie schlafen. Auf der
einen Seite sechs, auf der anderen sechs, und sie
hat Arme und Beine weit von sich gestreckt. Da
tränkte er sein Roß in ihrem Brunnen, den Brun-
nen aber deckte er nicht wieder zu, sondern ließ
das Gewand, wie es war. Er muß reiten. Doch das
Pferd hatte etwas gemerkt und sprach mit Men-
schenstimme: „Du hast gesündigt, Iwan Zare-
witsch; ich kann jetzt die Mauer nicht übersprin-
gen.“ Er schlug das Pferd gegen die Rippen: „Ach,
du Pferd, du Wolfsrachen, du Krautsack! Wir kön-
nen hier nicht bleiben in diesem Reich.“ Da mach-
te das Pferd einen Satz und streifte mit dem Huf-
eisen des linken Hinterbeins die Mauer. An der
Mauer begannen Saiten zu klingen und Glocken zu
läuten, da begannen sofort Wölfe zu heulen, und
durch das ganze Reich lief der Ruf: „Auf! Heute ist
bei unserer Heldenjungfrau ein großer Diebstahl
geschehen!“ Die Jungfrau Blauäuglein selbst
machte sich mit ihren zwölf Heldenjungfrauen an
die Verfolgung. Sie kommt zur einen Hütte, da-

263
nach zur anderen. Er hatte das Pferd gewechselt,
sie aber ritt ohne zu füttern. „Großmütterchen,
hast du nicht den Hundesohn gesehen, diesen
Lümmel?!“ – „Nein“, sagt die Alte, „habe ihn nicht
gesehen. Iwan Zarewitsch ist vorbeigeritten, im
ganzen Reich gibt es unter der Sonne keinen, der
ihm gleicht – die Sonne ist am Himmel, er auf der
Erde. Kehrt bitte um.“ – „Es ist mir nicht leid, daß
er sein Roß getränkt hat, aber es kränkt mich,
daß er den Brunnen nicht bedeckt hat!“ Plötzlich
kam er zu der anderen Alten. Er bestieg das
Pferd. Er ist vom Hof herunter – da kommt die
Heldenjungfrau auf den Hof. „Großmütterchen,
hast du niemanden gesehen?“ – „Nein, ein Held
ist vorbeigeritten, doch schon lange, ein schöner
Held – die Sonne ist am Himmel, er auf der Erde.“
Nun, er ging zu seinem Pferd und saß auf. Da er-
blickte sie ihn; wie sie immer näher kam, kniete
er nieder und bittet um Verzeihung. Die Helden-
jungfrauen schicken sich an, auf ihn loszureiten
und ihm den Kopf abzuschlagen. Sie antwortete,
daß das Schwert kein demütiges Haupt schlägt.
Steigt selbst vom Pferd und nimmt ihn an seinen
weißen Händen und hebt ihn von der Erde auf.
Nun schlugen sie hier, auf freiem Feld, unter dem
weiten Himmel, auf den grünen Wiesen, auf seidi-
gen Gräsern ein Zelt aus weißem Leinen auf. Da
feierten und tanzten sie in diesem Zelt drei Tage
und drei Nächte hintereinander. Hier gelobten sie
sich Treue und wechselten die Ringe. „In drei Jah-
ren komme ich zu dir, mein Reich werde ich auflö-
sen.“ Sie antwortete ihm: „Zieh du nun nach Hau-

264
se und kehre nirgends ein!“ Nun kam er in seine
Gegend, an diese Wegscheide, an die gleichen
Wege und denkt: „So ist es schön, ich reite heim,
und meine Brüder sitzen irgendwo gefangen und
verfaulen für nichts und wieder nichts.“ Da bog er
vom Wege ab, sie zu suchen, und kam zu dem
Haus. Sie sprang heraus und sagt: „Oh, Iwan Za-
rewitsch! Schon lange erwarte ich dich, sollst Brot
und Salz kosten.“ – „Ich will nichts kosten und
nichts essen.“ – „Komm, ich helfe dir aus dem
Sattel.“ – „Ich habe schon bessere als dich gese-
hen.“ Sie führte ihn hinein. Er legte sie aufs Bett
und stieß sie hinunter. „Wer ist dort noch am Le-
ben?“ Sie piepsten wie zwei Mücken: „Wir sind
noch am Leben, Fjodor Zarewitsch und Wassili
Zarewitsch.“ Er suchte bei ihr einige Stricke zu-
sammen und holte sie heraus. Und sie traten vor
die Wand. Die Spiegel an der Wand aber began-
nen, sich mit Erde zu überziehen. „Wozu wollen
wir die Leute erschrecken? Sind schon arg
schwarz geworden.“ Er wusch sie mit Wasser des
Lebens, sie wurden wie früher, verwandelten sich.
Also schön, er saß sogleich auf und ritt los, sie
aber gingen zu Fuß: sie hatten keine Pferde. Er
kam an die Wegscheide. „Brüder, bewacht ihr
meine Sachen und das Pferd, ich will ein wenig
ruhen.“ Er legte sich also hin und versank in einen
tiefen Schlaf. Da sagt Fjodor Zarewitsch: „Was
denkst du, Wassili Zarewitsch?“ – „Daß wir in ih-
rem Keller hätten verfaulen müssen, wenn uns
der Bruder nicht herausgezogen hätte. Uns wird
der Vater ohne die Sachen kaum viel Ehre geben,

265
er wird uns zu Hirten machen. Komm, wir wollen
ihn in ein Loch werfen und seine Sachen neh-
men!“ Und sie warfen ihn hinab. Da flog er hinun-
ter, drei Tage und drei Nächte. Kam unten an und
schlug sich die Beine auf. An einer Meeresküste
kam er wieder zu sich. An diesem Meer gab es nur
einen alten Eichenwald und kleine Fichten. Nur
Himmel und Wasser. Da steigt ein Wetter auf, ein
Gottessegen, aus dem Meer und vom Himmel. Die
Jungen des Vogels Nagaj piepsen, und der Regen
peitscht sie. Da zog er kurzerhand seinen Mantel
aus, deckte des Vogels Nagaj Junge zu und stellte
sich selbst vor dem Regen unter eine Eiche. Als
das Wetter vorbei ist, kommt der Vogel Nagaj ge-
flogen. In allen Tonarten: „Hat euch das Wetter
nicht erschlagen, ein Unglück gebracht?“ – „Schrei
nicht so, Mutter! Uns hat ein russischer Mann be-
schützt. Sei still, weck ihn nicht auf.“ – „Weswe-
gen bist du hierhergekommen, lieber Mann?“ –
„Mich haben meine Brüder verraten, leibliche Brü-
der, aber schlimmer als Fremde.“ – „Was willst du
haben für deine Mühe? Du hast meine Jungen be-
schützt. Gold, Silber, Edelstein?“ – „Ich brauche
nichts, Vogel Nagaj, kein Gold, kein Silber, keinen
Edelstein. Doch kann ich nicht wieder in meine
Heimat gelangen?“ – „Da brauche ich zwei Botti-
che und an die zwölf Pud Rindfleisch.“ Er war ein
wohlhabender Mann, ging zu den Fischern und
Jägern ans Ufer hinunter und kaufte eine Menge
Gänse, Schwäne und Grauenten. Die brachten sie,
stellten dem Vogel den einen Bottich auf die rech-
te Schulter, den anderen auf die linke, er selbst

266
setzte sich in die Mitte, begann das Füttern, und
der Vogel zog in großer Höhe dahin. Er gab ihm,
was in dem einen Bottich war, dann fütterte er
aus dem zweiten. Gibt und gibt – und der ganze
Vorrat wurde alle. Der Vogel aber dreht sich um.
Er schnitt sich Finger und Zehen ab und gab sie
hin. Sie kamen an. „Steig herunter, Iwan Zare-
witsch!“ – „Ich kann nicht herunter: habe meine
Finger und Zehen abgeschnitten.“ – „Habe nicht
gewußt, daß das dein Fleisch war. Hätte dich ganz
aufgefressen.“ Der Vogel spie alles wieder aus
und machte sich auf den Rückweg. Iwan strich
Wasser des Lebens und der Jugend darauf, er hat-
te ein Fläschchen für unterwegs bei sich. Er sieht
nach, die Brüder sind nicht mehr da. Zu Fuß kam
er in seines Vaters Reich. Aber Vater und Mutter
wollen von ihm nichts wissen. Wie früher war da
ein Kaufmannshandel, ein Branntweinladen. Er
trinkt die ganze Zeit. Hörte, daß der Vater das
Reich noch niemandem vermacht, die Sachen
aber bekommen hat. Das war sogleich vorbei. Die
Jungfrau Blauäuglein nämlich kam in dieses Reich
gezogen. Drei Werst entfernt, auf freiem Felde,
unter dem weiten Himmel, auf den grünen Wie-
sen, auf seidigen Gräsern schlug sie ein Zelt aus
weißem Leinen auf. Von diesem Zelt bis zum Za-
renschloß baute sie eine drei Werst lange Brücke
aus Ahorn: die Spitzen gedrechselt, das Geländer
vergoldet. Auf diesen Spitzen sangen Vögel mit
verschiedenen Stimmen. Und den Boden überzog
sie mit kostbarem Tuch. Um acht Uhr morgens
nun bekommt der Zar eine Aufforderung: „Eure

267
Kaiserliche Majestät! Liefert am heutigen Tag den
Schuldigen aus, findest du aber den Schuldigen
nicht, komme ich in Euer Reich, reiße dir bei le-
bendigem Leibe die Augen aus und nehme sie mit
nach Hause.“ Er liest die Aufforderung und jam-
mert. „Nun reit schon, Fjodor Zarewitsch! Du bist
sicherlich schuldig, bist lange unterwegs gewe-
sen.“ Der zieht nun los, Fjodor Zarewitsch, zu Fuß
über diese Brücke. Bei der Jungfrau aber tummeln
sich zwei Knaben in der Nähe des Zeltes – ihre
eigenen. „Mutter, Mutter! Unser Vater ist auf dem
Wege nach hier.“ – „Auf welcher Seite?“ – „Rech-
terhand von der Brücke.“ – „Sowie ihr ihn gepackt
habt, prügelt ihn durch!“ Die Kinder walkten ihn
so durch, daß er nach Hause kam und dem Vater
nichts sagte. Am zweiten Tag kommt wieder eine
Aufforderung. „Liefert am heutigen Tag nun den
Schuldigen aus. Gebt Ihr ihn nicht her, komme ich
selbst und führe Euch in die Gefangenschaft.“ Da
sagt er: „Geh du, sicherlich bist du schuldig, Was-
sili Zarewitsch!“ Wassili Zarewitsch ging. Und wie-
der die Kinder: „Mutter, Mutter! Zu uns kommt
wieder ein Vater.“ – „Auf welcher Seite?“ – “Lin-
kerhand.“ (Auch er traute sich nicht, über die
Brücke zu gehen.) „Packt ihn und prügelt ihn noch
derber als den ersten durch!“ Sie walkten ihn
durch, daß es eine Art hatte. Auch er ging zurück
zum Vater; und zwar auf der Stelle, und be-
schwert sich über niemanden. Also schön: am
dritten Tag kommt wieder eine Aufforderung.
„Nun geht, sucht den Trunkenbold, meinen dritten
Sohn.“ Der ging auf der Stelle. Als Begleitung

268
nahm er zwölf Mann mit, Betrunkene aus einer
Teestube. Sie zerbrechen die Brücke, zerreißen
den Stoff und lassen hinter sich eine leere Straße
zurück. Die Jungen: „Irgendein Strauchdieb
kommt mit seinen zwölf Gesellen. Sie zerbrechen
die Brücke, zerreißen den Stoff und teilen ihn un-
ter sich.“ Sie aber sagt: „Das ist euer Vater mit
seinen Gesellen. Nehmt einen Edelstein, Speise
und Trank und geht, euren Vater begrüßen.“ Sie
trat selbst zur Begrüßung heraus und empfing sie.
Die Kameraden erhielten jeder ein Gläschen, dann
machten sie sich auf den Heimweg. Darauf wand-
te sie sich an den Zaren: „Die zwei hier haben ihn
verraten, haben ihn ins untere Reich gestoßen. Er
hat drei Jahre dort leiden müssen.“
Alles war reichlich vorhanden in diesem Zaren-
reich. Sie wurden getraut. Alle tranken auf diesem
Fest. Und er setzte ihn auch auf den Zarenthron.
Und er bestieg nun den väterlichen Thron, seinen
Brüdern aber erwies er wenig Ehre. Man ließ sie
laufen, sich ein Nachtlager zu suchen. Hier eine
Nacht, dort zwei, die dritte Nacht aber durften sie
nicht bleiben. – Was ich wußte, hab ich erzählt.
Schluß der Geschicht’, besser kann ich’s nicht.

269
32
Iwan Zarewitsch und die schöne Maria
mit dem schwarzen Zopf
In irgendeinem Zarenreich war es, in irgendeinem
Staat war es, nicht in unserem Königreich war es.
Das ist noch nicht das Märchen, das ist erst die
Einleitung; das Märchen wird morgen Nachmittag
erzählt, nach dem weichen Vesperbrot, und noch
‘ne Pirogge essen wir dann und packen den Stier
bei den Hörnern an.
Es lebte einmal ein Zar Iwan Wassiljewitsch,
der hatte einen großen Sohn Wassili Zarewitsch
und einen zweiten Sohn Mitri Zarewitsch; und der
jüngste Sohn war Iwan Zarewitsch. Nun war Was-
sili Zarewitsch in das Alter gekommen und der Zar
dachte ihn zu verheiraten, und sie konnten lange
Zeit keine Braut finden. Bald finden sie eine Braut
– Vater und Mutter ist sie recht, ihm gefällt sie
nicht; bald findet er eine Braut für sich – aber Va-
ter und Mutter mögen sie nicht. Einmal nun ist
Wassili Zarewitsch unterwegs, auf einer breiten
Straße, da begegnet ihm ein altes Weib mit ‘nem
dicken Leib, die sagt zu Wassili Zarewitsch:
„Ich habe für dich eine Braut gefunden, Wassili
Zarewitsch!“
Er aber sagt zu ihr:
„Wo hast du sie denn gefunden, Großmütter-
chen?“

270
„Dort der General da hat eine Tochter, die müßt
Ihr zur Frau nehmen.“
Wassili Zarewitsch kommt zu seinem Vater und
sagt:
„Vater, ich habe eine Braut gefunden, die Toch-
ter von dem und dem General.“
Der Vater sagt ihm, er möge sie zur Frau neh-
men. Bei dem Zaren brauchte kein Bier gebraut
und brauchte kein Wein gebrannt zu werden. Es
war genug gebrautes Bier und genug gebrannter
Wein da, und man fuhr sie zur Trauung. Nach der
Trauung brachte man sie zurück und legte sie
aufs Hochzeitslager. Aber aufs Lager legte er sich
nicht mit ihr, ins freie Feld floh er von ihr, und
dort reitet er jetzt auf seinem Pferd.
Vater und Mutter merkten plötzlich, daß Wassili
Zarewitsch nicht im Hause war, und wußten nicht,
wo sie ihn suchen sollten.
Iwan Zarewitsch fragt seinen Vater:
„Vater, was für eine Frau ist das bei uns?“
Der Zar antwortet ihm:
„Das ist eure Schwägerin.“
„Und wo ist denn ihr Mann?“
„Fortgeritten ins freie Feld, schon lange, und
jetzt ist er nicht da.“
Da sagt Iwan Zarewitsch:
„Vater, gebt mir Euren Segen, ich will reiten
und meinen Bruder Wassili Zarewitsch suchen.“
„Gott gibt dir seinen Segen“, sagte der Zar. „Du
wirst mir also einmal kein Ernährer sein!“
Da sattelte sich Iwan Zarewitsch ein tüchtiges
Pferd und ritt ins freie Feld, in die wilde Steppe,

271
seinen Bruder Wassili Zarewitsch zu suchen. Auf
freiem Feld, in der wilden Steppe, stand ein wei-
ßes Zelt. Im Zelt schlief Wassili Zarewitsch. Iwan
Zarewitsch ritt zu dem weißen Zelt, Iwan Zare-
witsch betrat das weiße Zelt und wollte ihn im
Schlaf erschlagen (er weiß nicht, wer es ist) und
denkt bei sich: „Wozu soll ich ihn im Schlaf er-
schlagen wie einen Toten! Nicht Ehre noch Ruhm
bringt das mir wackerem Helden; ich will ihn lie-
ber aus dem Schlaf aufwecken und ihn genau be-
fragen: wer er ist, woher, und wohin der Weg ihn
führt.“
Wassili Zarewitsch erwachte und fragte:
„Woher bist du, edler Held?“
„Aus dem und dem Zarenreich, des und des Va-
ters und der und der Mutter Sohn.“
„Und was willst du?“
„Ich will erfahren, wo ich meinen Bruder Wassili
Zarewitsch finden kann.“
Wassili Zarewitsch sagte zu ihm:
„Wer bist du?“
„Ich bin Iwan Zarewitsch.“
„Unser Iwan Zarewitsch“, sagte Wassili Zare-
witsch, „ist drei Jahre alt und schaukelt in der
Wiege.“
Antwortete Iwan Zarewitsch:
„Er schaukelt jetzt nicht in der Wiege, sondern
streift auf dem Pferd durch die wilde Steppe und
will seinen Bruder Wassili Zarewitsch finden.“
Und Wassili Zarewitsch sagte:
„Ich selbst bin’s!“

272
Da bestiegen sie ihre wackeren Pferde und rit-
ten auf gut Glück los.
Sie ritten in die grünen Wiesen, – nun, ein Mär-
chen ist bald erzählt, aber eine Tat ist nicht bald
getan. Sie ritten sehr weit. Sie selbst waren schon
müde geworden auf den Pferden, und ihre Pferde
waren matt, und ihre seidenen Peitschen hatten
sie schon ganz in Fetzen geschlagen. Da sagte der
ältere Bruder Wassili Zarewitsch:
„Weißt du was, Bruder, wir wollen etwas rasten
und die Pferde füttern!“
Iwan Zarewitsch sagte zu ihm:
„Was du für richtig hältst, Bruder, das tu auch!“
Sie stiegen von ihren wackeren Pferden und lie-
ßen sie auf den grünen Wiesen grasen. Wassili
Zarewitsch sagte:
„Leg dich hin und ruh dich aus, Bruder Iwan Za-
rewitsch, ich will über die grünen Wiesen gehen,
ob ich nicht einen Hasen finde; den schieße ich,
bringe ihn dir, und wir braten ihn.“
Und Iwan Zarewitsch sagte:
„Geh mit Gott, Bruder!“
Und Wassili Zarewitsch zog auf gut Glück los.
Und er kommt zum großen, großen blauen Meer,
und dort steht eine Hütte. Wassili Zarewitsch
betrat die Hütte. Sah hinein: in der Hütte sitzt ei-
ne schöne Jungfrau, sitzt da, weint bitterlich, und
vor ihr steht ein Sarg. Wassili Zarewitsch sagte:
„Warum weinst du, schöne Jungfrau?“
„Wie sollte ich nicht weinen, Wassili Zare-
witsch? Die letzte Stunde bin ich auf der weiten

273
Welt. Gleich kommt aus dem Meer der Drache ge-
krochen und frißt mich.“
Wassili Zarewitsch sagte zu ihr:
„Weine nicht, schöne Jungfrau, bleib nur ich am
Leben, wirst auch du am Leben bleiben!“
Wassili Zarewitsch legte sich auf ihre Knie und
sagte:
„Kraule mich ein wenig, schöne Jungfrau!“
Sie begann ihn zu kraulen, und er versank in
einen festen Schlaf. Da türmten sich im blauen
Meer gewaltige Wellen, und ein schrecklicher Dra-
che tauchte empor, mit einem Kopf wie ein
Waschkessel, kriecht aus dem Meer und will die
schöne Jungfrau fressen. Sie rüttelt ihn aus aller
Kraft:
„Wassili Zarewitsch, wach auf! Der schreckliche
Drache frißt uns beide!“
Wassili Zarewitsch schläft und merkt nichts. Da
fällt der schönen Jungfrau aus dem rechten Auge
eine heiße Träne, und die heiße Träne fiel Wassili
Zarewitsch auf sein weißes Antlitz und brannte
wie Feuer. Und Wassili Zarewitsch erwachte und
sieht, daß der schreckliche Drache gekrochen
kommt; er zog seinen scharfen Säbel, schwang
ihn gegen den Hals und schlug dem Drachen den
scheußlichen Kopf ab. Den Rumpf packte er und
warf ihn ins Meer, den scheußlichen Kopf aber
legte er unter einen Stein.
Und Wassili Zarewitsch sagte zu der schönen
Jungfrau:
„Seht Ihr, ich bin am Leben, und Ihr seid am
Leben!“

274
„Dank, Wassili Zarewitsch; ich will für ewig dei-
ne Frau sein!“
Wassili Zarewitsch machte sich auf den Weg zu
seinem Bruder, zu Iwan Zarewitsch. Kommt hin
und bringt nichts mit.
„Hab nichts gefunden, Bruder.“
Diese schöne Jungfrau aber stammte aus einem
fremden Zarenreich. Jede Nacht wurde von dort
eine andere an diese Stelle gebracht. Der fremde
Zar hatte einen Hofnarren, und der Zar schickt
den Narren, in der Hütte nach dem Rechten zu
sehen. Der Narr spannte ein dreibeiniges Pferd
vor ein klappriges Wägelchen, legte ein Faß dar-
auf und fuhr zum Meer, Wasser zu holen. Er
betritt die Hütte – da sitzt die schöne Jungfrau
quicklebendig da. Er nun, der Narr, nahm sie auf
seine Arme, setzte sie auf das Faß und fuhr sie
nach Hause. Und der Narr sagte zum Zaren:
„Ich“, sagt er, „habe Euren Drachen erschla-
gen!“
Der Zar freute sich sehr und gab ihm seine
Tochter (die er zurückgebracht hatte) zur Frau.
Das war vielleicht ein Fest! Die Türen standen
weit offen, und die Schenken hatten alle geöffnet.
Wein gab es fässerweise zu trinken. Und auf dem
Fest war es lustig und wurde getanzt wie noch
nie. Nun lebte der Narr mit ihr, wurde reich und
vergaß die schlechten Zeiten. Wassili Zarewitsch
aber und Iwan Zarewitsch bestiegen ihre wacke-
ren Pferde und machten sich auf den Weg in das
fremde Reich, wo dieses Fest ist. Sie kommen

275
zum Zaren. Der Zar begrüßt sie und erweist ihnen
alle Ehre, und Wassili Zarewitsch sagte:
„Was ist das für ein Fest bei dir, Zar?“
Antwortet ihm der Zar:
„Ich verheirate meine Tochter.“
Wassili Zarewitsch sagte:
„Und zwar mit wem?“
„Mit dem Hofnarren.“
„Und aus welchem Grunde?“
„Er hat sie vom Tode bewahrt.“
Und der Zar erzählte ihm die Geschichte, daß
sie jede Nacht einen Menschen dorthin gebracht
hatten, der gefressen wurde. Sie hatten die Toch-
ter hingebracht, die sollte aufgefressen werden,
die Narrenfratze aber war nach Wasser ans Meer
gefahren und hatte dem Drachen den Kopf abge-
schlagen und die Tochter lebendig zurückge-
bracht. Da hatten sie sie kurzerhand mit ihm ver-
heiratet. Wassili Zarewitsch sagt:
„Fremder Zar, man müßte sich diesen toten
Drachen einmal ansehen. Ruft Euren Schwieger-
sohn; er soll ihn uns zeigen, wo er liegt.“
Der Narr wurde gerufen.
„Komm mal, Narr, komm mit uns“, sagte Was-
sili Zarewitsch, „zeig, wo der Drache liegt!“
Er war sehr traurig, daß der Narr bei seiner
Auserwählten liegt.
Der Narr führt sie zum Meer und sagt:
„Hier liegt er.“
Wassili Zarewitsch sagt:
„Bringt mal Schleppnetze und ein paar ge-
schickte Leute herbei! Wer kann mit dem

276
Schleppnetz fangen und das Meer entlang wa-
ten?“
Es fanden sich geschickte Leute, sie warfen die
seidenen Schleppnetze aus – aber an der Stelle
war nichts. Er aber, der Narrenkerl, sah nieman-
den an.
Wassili Zarewitsch sagt:
„Ihr Herren Fischer! Werft die Netze hier aus!“
Sie warfen die Schleppnetze aus und zogen das
fürchterliche Ungeheuer heraus – den Rumpf. Und
Wassili Zarewitsch sagte:
„Nun sag doch mal, Narr, wo ist sein Kopf?“
Der weiß nicht, was er antworten soll.
„Hier, Narr ist der Kopf: unter dem Stein.“
Der Narr geht zu dem Stein und kann ihn nicht
von der Stelle rücken.
Wassili Zarewitsch sagte:
„Du hast verspielt, Narr: nicht du hast den Dra-
chen erschlagen!“
Wassili Zarewitsch hob den Stein in die Höhe
und zog den Kopf hervor und sagte zu dem frem-
den Zaren:
„Ich habe Euren Drachen umgebracht!“
Der fremde Zar entblößte seinen scharfen Säbel
und schlug dem Narren das freche Haupt ab, weil
er gelogen hatte, seine Tochter aber traute er
Wassili Zarewitsch an. Da wurde getrunken und
gefeiert, da waren sie lustig und ließen es sich ei-
ne Zeitlang gut sein. Und Iwan Zarewitsch sagte
zu seinem Bruder Wassili Zarewitsch:
„Ich gratuliere dir zum Ehestand! Du hast eine
Braut gefunden, wo soll ich aber eine suchen? Ich

277
muß wohl durch die weite Welt fahren, die mir
Bestimmte zu suchen.“ Sie setzten sich an den
Tisch, um Tee zu trinken, und als der Abend kam,
legten sie sich in verschiedenen Zimmern zur Ru-
he. Wassili Zarewitsch fragt seine junge Frau:
„Wie ist das, gibt’s auf dieser Welt jemanden,
der schöner ist als du und tapferer als ich?“
Die schöne Jungfrau sagte zu ihm:
„Was ist schon meine Schönheit! Hinter dreimal
neun Ländern, im zehnten Reich wohnt die schöne
Maria mit dem schwarzen Zopf, die ist einzig
schön: nur sie zu bekommen ist schwer. Dort ist
noch der Recke Karka, groß und breit wie ein
Heuschober. Weiß nicht, wer von euch stärker
ist.“
Wassili Zarewitsch sagte zu seinem Bruder
Iwan Zarewitsch:
„Dort, Bruder, haben wir dir eine Braut be-
stimmt.“
Iwan Zarewitsch nahm Abschied von ihnen und
machte sich auf seinen weiten Weg. Er nahm ein
scharfes Messer in die Hände und sagt:
„Wenn sich dieses scharfe Messer mit Blut
überzieht, dann bin ich nicht mehr am Leben.“
Und ritt ins freie Feld, in die wilde Steppe, die
für ihn Bestimmte zu suchen. Ritt er nun lange
oder kurze Zeit, jedenfalls steht da auf einmal ei-
ne Hütte, dreht sich auf einem Hühnerbein:
„Hütte, Hütte! Stell dich zu mir mit der Vorder-
seit, zum Wald mit der Hinterseit!“
Die Hütte stellte sich zu ihm mit der Vorderseite
und zum Wald mit der Hinterseite. Drin liegt eine

278
Hexe, eine Baba-Jagá, hat die Beine in die Ecken
gestemmt und ihre schreckliche große eiserne Na-
se gegen die Decke gestemmt.
„Na, Iwan Zarewitsch, fliehst du vor etwas,
oder suchst du etwas?“
Iwan Zarewitsch antwortet ihr:
„Ich fliehe nicht vor etwas, aber um so mehr
suche ich etwas: Ich bin auf dem Wege durch
dreimal neun Länder, ins dreimal zehnte Reich,
die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf zu fin-
den.“
„Och“, sagt die Baba-Jagá, „es ist schwer, sie
zu bekommen, und schwer, sie zu gewinnen! Sie
ist sehr weit weg. Reite noch so viel und noch
halbsoviel und noch viertelsoviel.“
Iwan Zarewitsch bestieg sein wackeres Pferd
und ritt los. Ritt und ritt und kam an einen riesi-
gen Wald und hatte argen Hunger. Da steht eine
riesengroße Eiche, und auf der Eiche summen laut
die Bienen. Er stieg von seinem wackeren Pferd,
kletterte auf die grüne Eiche und wollte etwas Ho-
nig essen. Da sagt die Bienenmutter:
„Rühr meinen Honig nicht an, Iwan Zarewitsch:
ich werde dir noch einmal nützlich sein!“
Iwan Zarewitsch verließ sich so sehr auf ihre
Worte, daß er von der Eiche auf die kühle Erde
herabsprang; er bestieg sein wackeres Pferd und
ritt weiter, wohin sein Weg ihn führt. Er kann
nicht mehr auf dem Pferde sitzen: hat tüchtigen
Hunger. Da kommt eine Maus gerannt. Iwan Za-
rewitsch springt von seinem wackeren Pferd,

279
packt zu und will sie essen. Die Maus sagt zu
Iwan Zarewitsch:
„Iß mich nicht: ich werde dir noch einmal nütz-
lich sein!“
Iwan Zarewitsch ließ sie laufen und ritt weiter.
An einer großen Straße ist eine kleine Wasserla-
che, darin kriecht ein Krebs herum. Iwan Zare-
witsch freute sich sehr über ihn, will ihn fangen
und auf einem Feuer braten. Der Krebs sagt zu
ihm:
„Ach, Iwan Zarewitsch, wenn du dich auch auf
mich freust, so laß mich dennoch in Ruhe: ich
werde dir noch nützlich sein.“
Iwan Zarewitsch wurde sehr böse und warf den
Krebs ins Wasser.
„Die Pest über dich! Und trotzdem werde ich am
Leben bleiben, werde nicht sterben!“
Und wieder ritt er weiter. Ritt er nun viel oder
wenig, lange Zeit oder kurze Zeit, jedenfalls kam
er zu Karka dem Recken. Kommt hin, trifft ihn
aber nicht zu Hause an, nur seine Mutter. Die er-
blickte ihn und erkannte ihn auf der Stelle.
„Ach, Iwan Zarewitsch, schon lange wartet Kar-
ka der Recke auf dich!“
Iwan Zarewitsch sagt:
„Sag mir doch. Großmütterchen, wo ist er?“
„Das dritte Jahr ist er nach einer Braut unter-
wegs.“
„In welcher Richtung?“
„Zur Jungfrau Zar. Das dritte Jahr reitet er und
kann seine Auserwählte nicht bekommen; er
wünscht dich sehr herbei und ist sehr böse auf

280
dich: ‚Ach, ließe er sich nur hier sehen – bei le-
bendigem Leibe fräße ich ihn auf!’ Aber geh erst
mal ‘raus aufs freie Feld, in die wilde Steppe, und
nimm das Fernrohr, ob Karka der Recke nicht ge-
ritten kommt. Wenn er mit freudiger Nachricht
reitet, fliegt ein edler Falke vor ihm her, wenn er
aber traurig reitet, kreist ein schwarzer Rabe über
ihm.“
Iwan Zarewitsch guckte durchs Fernrohr und
erblickte Karka den Recken, und über seinem
Kopf kreist ein schwarzer Rabe.
Da sagte Iwan Zarewitsch zu der Alten:
„Er kommt unglücklich.“
„Nun“, sagt die Alte, „wohin soll ich dich jetzt
stecken? Er ist ärgerlich.“
Sie schließt einen kleinen Speicher auf und ver-
sperrt ihn mit einem Schloß.
„Hier“, sagt sie, „leg dich hin. Ich will ihn zuerst
mit einem Schnäpschen bewirten und von dir be-
richten.“
Karka der Recke erschien und sagt zu seiner
Mutter:
„Gib mir bitte was zu trinken, Mutter!“
Die Alte goß ihm ein Gläschen Gebrannten ein;
er trank das Gläschen aus und war nicht betrun-
ken.
„Gib mir noch eines, Mutter!“
Er trank das zweite aus und wurde guter Laune.
Die Mutter fragt ihn:
„Und wo ist deine Auserwählte, Söhnchen?“
„Ich hab mich so geplagt, Mutter!“
„Und wenn Iwan Zarewitsch käme?“

281
„Da wäre mir aber wohl: ich holte mir die Jung-
frau Zar, nicht allein, sondern mit ihm, und un-
terwies ihn, wie er die schöne Maria mit dem
schwarzen Zopf bekommen kann.“
Die Alte sagt:
„Du würdest ihn also jetzt nicht anrühren?“
„Was denkst du, Mutter! Wäre er jetzt bei mir,
bei den Händen nähme ich ihn und küßte ihn auf
seinen süßen Mund.“
Die Herrin, seine Mutter, sagt:
„Er ist hier, Söhnchen, schläft im Speicher.“
Da freute sich Karka, ging selber in den Spei-
cher, nimmt ihn bei den Händen, setzt ihn an ei-
nen Eichentisch und bewirtet ihn mit Tee und
Schnaps. Und Karka der Recke sagte:
„Ach, Bruder Iwan Zarewitsch, und ich habe nur
von dir gehört, wie du geboren wurdest und in der
Wiege schaukelst!“
Iwan Zarewitsch sagt:
„Ich schaukle nicht in der Wiege, sondern strei-
fe auf meinem wackren Pferd durch die wilde
Steppe. Ich bin nicht gewohnt, im Zarenreich als
Zar zu herrschen, ich bin gewohnt, über die wilde
Steppe zu fliegen und viel Leid zu erfahren.“
„Und warum, Iwan Zarewitsch, streifst du auf
deinem wackeren Pferd durch die wilde Steppe,
was suchst du?“
„Hör zu“, sagt Iwan Zarewitsch, „hinter dreimal
neun Ländern, im dreimal zehnten Reich lebt die
schöne Maria mit dem schwarzen Zopf, ich möch-
te sie gewinnen und zur Frau nehmen.“
Karka der Recke sagt:

282
„Es ist schwer, sie zu holen, und man muß ein-
mal sterben, Leib und Knochen in der wilden
Steppe verstreuen.“
„Ach, lieber Bruder, Recke Karka, wer keinen
Verlust ertragen will, der wird als Handelsmann
keinen Gewinn zu sehen bekommen; und wenn
wir Recken nicht durch die weite Welt fliegen und
eine schöne Auserwählte nicht suchen wollten,
das brächte uns keine Ehre, keinen Ruhm, wenn
wir nicht durch die weite Welt fliegen, keine Not
ertragen wollten.“
„Nun“, sagt Karka, „dieses Märchen wollen wir
sein lassen, Iwan Zarewitsch, und ein neues be-
ginnen.“
Da begann ein Erzählen, begann ein Fabulieren,
von Siwka-Burka, der graubraunen Stute, von der
weinlüsternen Henne und vom angriffslustigen
Winterferkelchen. Jetzt wird’s dem Ferkelchen zu
dumm, es wirft den Märchenerzähler um, da setz-
te sich der Märchenerzähler, es war Speckbein, an
den Wegrain, wo das Schwein kam. Karka der
Recke sagt:
„Nun, Bruder, ich habe meinen Spaß gemacht,
und damit soll’s gut sein. Aber frag mal eine
Gans, ob ihr die Füße nicht kalt werden. Ich reite
das dritte Jahr, um meine Auserwählte zu be-
kommen. Wohlan, hilf mir und hör zu, was ich dir
erzähle: Meine Braut hat vierzig Schmiede; sobald
die vierzigmal zugeschlagen haben, werden auf
der Stelle vierzig Kriegssoldaten geboren, ausge-
rüstet und kampfbereit. Und dann hat meine
Braut noch vierzig Mädchen; die sitzen in einem

283
Zimmer, jedes Mädchen hat vierzig Nadeln, und
sobald eine mit einer Nadel einen Stich gemacht
hat, ist auch schon ein Soldat kampfbereit. Ich
werde die Soldaten erschlagen, und du wirst die
Schmiede niederhauen; ich werde die Braut lie-
ben, und du wirst die Mädchen erschlagen.“
Iwan Zarewitsch sagt:
„Sterben will ich mit dir, Bruder!“
Sie saßen auf und ritten los. Sie kamen ins
Jungfrauenreich zur Jungfrau Zar.
„Bruder Iwan Zarewitsch, komm nicht zu nah
heran, sondern geh durch die Zimmer, hau die
Mädchen nieder, erschlag die Schmiede und
komm mir nicht zu nahe!“
Sie waren also losgeritten und bald an ihr Ziel
gekommen. Sie begannen, die Streitmacht nie-
derzuhauen, die schönen Mädchen zu erwürgen,
und nahmen die Jungfrau Zar gefangen. Das war
dort kein Bierbrauen, das war kein Weinbrennen,
sondern es ging darum, die Jungfrau Zar gefan-
genzunehmen. Die Schmiede erschlugen sie, die
schönen Mädchen hieben sie nieder, und die Jung-
frau Zar nahmen sie gefangen. Karka der Recke
nahm sie und drückte sie fest ans Herz, und sie
machten sich mit ihr auf den Heimweg. Auf einmal
merkte Karka der Recke, daß Iwan Zarewitsch
nicht bei ihm war.
„Ach“, sagt er, „Mutter, ich habe ihn wohl er-
schlagen!“
Iwan Zarewitsch aber sagt:
„Ja, ja, Bruder, ich bin hier!“
Da tranken und feierten sie und waren lustig.

284
„Komm, Iwan Zarewitsch, trinken wir das dritte
Glas! Ich trinke, feiere, bin lustig und habe keine
Angst vor Vater und Mutter!“
„Ach, Recke Karka, der Kopf tut mir weh, ich
kann nicht mehr.“
Er trinkt keinen Tee und nimmt keinen
Schnaps.
„Leg du mich an die frische Luft, wo sie am
leichtesten ist!“
Iwan Zarewitsch denkt bei sich: „Ob Karka der
Recke mir wohlwill oder nicht? Ich will doch ein-
mal absichtlich krank werden.“
Und er wird krank und kann die Beine nicht
mehr bewegen. Karka der Recke pflegte ihn wie
ein kleines Kind; trug ihn in den grünen Garten
und legte ihn auf eine Bettstatt aus gehobelten
Brettern, wo der Wind ihn erfrischen kann. Nun
liegt Iwan Zarewitsch im Garten auf der Bettstatt.
„Nun, Recke Karka“, sagt Iwan Zarewitsch,
„hab Dank, du hast mich Kranken wohl aufge-
nommen.“
Es verstrich ein wenig Zeit. Da sagt Iwan Zare-
witsch:
„Bruder, wir wollen Branntwein trinken.“
Karka der Recke freute sich sehr, rannte selbst
nach dem Branntwein, gab ihm Schnaps und Tee
zu trinken und schmeichelte ihm mit Worten:
„Ach du mein lieber Bruder, wie fühlst du dich
nach der Krankheit?“
„Nun, Gott sei Dank, das Alte ist noch beim al-
ten, aber Neues ist nichts. Lange habe ich hier mit
dir gefeiert, Recke Karka, hab meinen Weg verlo-

285
ren. Was ich mir vorgenommen habe, muß ich
tun, und wohin ich muß, dorthin muß ich auch rei-
ten.“
Karka der Recke sagt:
„Wohin du’s für richtig hältst, dorthin reitest du
auch.“
„Und wohin ich wollte, Bruder, dorthin reite ich
auch!“
„Wenn ich dich nicht unterweise, Bruder Iwan
Zarewitsch, wie du sie bekommen und wie du sie
halten kannst, wirst du nicht mit dem Leben
davonkommen.“
Da brach Iwan Zarewitsch in Tränen aus, wisch-
te sie mit einem Handtuch wieder ab und sagt:
„So soll’s denn sein, und leb wohl!“
Bestieg sein wackeres Pferd und ritt los. Er ver-
setzte seinem wackeren Pferd einen Hieb, schlug
es gegen die Rippen, schlug die Haut durch bis
aufs Fleisch, schlug das Fleisch durch bis auf die
Knochen, brach die Knochen durch bis aufs Mark
– sein wackeres Pferd sprang über Berge und Tä-
ler und brachte die dunklen Wälder zwischen sei-
ne Beine. Es war ein Ritt für drei Jahre, er war in
drei Stunden am Ziel. Kommt an den Ort, wohin
er mußte, geht eine breite Straße entlang und
fragt rechtgläubige Leute:
„Wo wohnt die schöne Maria mit dem schwar-
zen Zopf?“
Es kommt ihm eine Alte entgegen, eine Weih-
brotbäckerin, die bei der schönen Maria mit dem
schwarzen Zopf wohnt und das Essen für sie be-
reitet.

286
„Großmütterchen Weihbrotbäckerin, sei schön
friedlich! Wo kann ich die schöne Maria mit dem
schwarzen Zopf treffen?“
„Was willst du von ihr, Wanjuschka?“
„Ich will sie sehen, auf den süßen Mund küssen
und zur Frau nehmen.“
„Geh und kauf verschiedene Blumen, Wan-
juschka, und verschiedene Wohlgerüche, und ich
will gehen und sie zu Gast laden. Du, wackerer
Held, leg dich aufs Sofa, schlaf aber nicht etwa,
sondern halt die Ohren offen, was geschehen
wird.“
Iwan Zarewitsch legte sich also hin, die Weih-
brotbäckerin ging zur schönen Maria mit dem
schwarzen Zopf und sagt:
„Guten Tag auch, schöne Maria mit dem
schwarzen Zopf. Komm doch bitte mich besu-
chen!“
Die schöne Maria freute sich und ging sie besu-
chen. Betritt ihr Zimmer, da war das Zimmer mit
fremden Blumen geschmückt und mit verschiede-
nen Wohlgerüchen. Die schöne Maria sagt:
„Woher hast du die fremden Blumen und die
verschiedenen Wohlgerüche, Großmütterchen?“
„Was auf dem Meere schwimmt, kannst du
nicht alles haben, und was die Leute reden,
kannst du nicht alles hören. Komm, Maria, wir
wollen uns setzen und uns etwas ausdenken.“
„Und was ist bei dir in der Kammer? Wer liegt
bei dir auf dem Sofa, Großmütterchen?“
„Sieh doch nach.“
Die schöne Maria ging zum Sofa und fragt:

287
„Was ist das für ein Mann? Wie gern möchte ich
ihn küssen l“
Die Alte hinderte sie nicht und lieg sie küssen.
Sie küßte ihn. Nun, und Iwan Zarewitsch war
nicht blöde, er hielt sie auf einmal fest. Er hielt sie
fest, küßte sie auf ihren süßen Mund und drückte
sie fest an sein Herz. Iwan Zarewitsch sagt:
„Habe Dank, Großmütterchen, daß du mich
hergeführt und Marjuschka zu mir gebracht hast.“
Die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf aber
sagt:
„Ich will auf ewig dein sein, dein Eheweib, und
mich nicht von dir trennen. Besteig dein wackeres
Pferd, Wanjuschka, und nimm mich mit. Ich blei-
be bei dir, Wanjuschka!“
Sie saßen auf und ritten auf Iwans wackerem
Pferd davon.
Die schöne Maria hatte zwölf Brüder, die kamen
sie besuchen, aber die schöne Maria war nicht zu
Hause. Sie fragten die Alte:
„Wo ist denn unsere leibliche Schwester, die
schöne Maria?“
Die Alte sagt:
„Der Bösewicht Iwan Zarewitsch war hier, und
sie sind fortgeritten.“
Da brachten die Brüder eine scheckige Stute
mit zwölf Blessen herbei, setzten sich jeder auf
eine Blesse, setzten sich und ritten los.
„Wir holen ihn ein, den Bösewicht, reißen ihn in
Stücke, und die schöne Maria nehmen wir ihm
weg!“

288
Nur wenig Zeit verging, da hatten sie ihn ein-
geholt und nahmen ihm die Schwester weg; ihn
hackten sie in Stücke und warfen sie in die wilde
Steppe. Das Blut fließt in die kühle Erde, das
Fleisch hacken die Raben.
Bei seinem lieben Bruder Wassili Zarewitsch
aber, bei seiner jungen Frau, wich aller Glanz aus
den Augen: sie sah das scharfe Messer voll Blut
und sagte zu ihrem Mann:
„Sieh dir einmal das scharfe Messer an: dein
Bruder ist nicht mehr am Leben.“
Wassili Zarewitsch sagt zu seiner Frau:
„Ach, ich weiß ja überhaupt nichts davon. Oh,
er wird wohl tot sein!“
Auf dem Hofe des Zarenschlosses nun stand ein
großer, großer verkrüppelter Eichbaum; in diesem
Eichbaum war das Wasser des Lebens und des
Todes verschlossen. War dort verschlossen und
tat sich niemandem auf. Da geht Wassili Zare-
witschs Frau zu dem verkrüppelten Eichbaum,
weint und bittet:
„Ach Väterchen, alter verkrüppelter Eichbaum,
gewähre mir um Gotteslohn vom Wasser des To-
des und des Lebens!“
Der Eichbaum tut sich nicht auf, und aus dem
Eichbaum kommt kein Wasser. Sie ging umher
und immer umher und härmte sich sehr ab: die
Beine versagen ihr, und sie kann ihr stolzes Haupt
nicht mehr auf den Schultern halten. Sie hatte
zwei leibliche Schwestern, fromme Mädchen, die
fragen sie:

289
„Was bist du so abgehärmt, Schwesterchen,
was bist du so traurig, Schwesterchen, was weinst
du, Schwesterchen?“
Sie antwortet ihnen:
„Wie soll ich nicht weinen? Speise nehme ich
nicht zu mir, die dunklen Nächte schlafe ich nicht,
gehe immer auf Vaters weiten Hof, zum verkrüp-
pelten Eichbaum, alle Nächte hab ich dort gestan-
den, hab den verkrüppelten Eichbaum angefleht:
‚Ach Väterchen, verkrüppelter Eichbaum, gewähre
mir um Gotteslohn vom Wasser des Todes und
des Lebens!’“
„Und wozu brauchst du Wasser des Lebens und
des Todes, Schwesterchen?“
„Ach, Schwestern, ihr kennt meinen Kummer
nicht, daß mein lieber Schwager gestorben ist,
Wassili Zarewitschs Bruder und auch der meine.“
„Komm, Schwesterchen, auch wir wollen mit dir
zu Gott flehen und den verkrüppelten Eichbaum
bitten, ob er’s uns vielleicht gewährt.“
Alle drei Schwestern machten sich auf, entbo-
ten dem Eichbaum mitternächtliche Verneigun-
gen, vergossen Tränen aus ihren Augen und sag-
ten zum Eichbaum:
„Ach Väterchen, verkrüppelter alter Eichbaum,
gewähre uns um Gotteslohn vom Wasser des Le-
bens und des Todes!“
Auf einmal tut sich die verkrüppelte Eiche auf,
und das Wasser fließt heraus. Wassili Zarewitschs
Frau füllte zwei Fläschchen und sagt:
„Du mein lieber Mann Wassili Zarewitsch! Sattle
doch dein wackeres Pferd und laß uns reiten, wo-

290
hin ich gebiete, und laß uns unseren Bruder Iwan
Zarewitsch in der wilden Steppe suchen!“
Sie saßen auf und ritten los und kamen an die
Stelle, wo Iwan Zarewitschs Fleisch verstreut lag.
Sie sammelten das Fleisch, legten die Glieder zu-
sammen, bestrichen sie mit Wasser des Todes
und besprengten sie mit Wasser des Lebens.
Iwan Zarewitsch stand auf, schüttelte sich,
blickte nach allen vier Himmelsrichtungen und
sagt:
„Ach, wie habe ich lange geschlafen!“
Die Schwägerin antwortet ihm:
„Wären wir nicht, du schliefst in alle Ewigkeit.“
„Habe Dank, Schwester, du hast dich meiner
erbarmt; nun leb wohl und laß mich auch künftig
nicht im Stich!“
Saß auf und ritt davon. Wir wollen das jetzt las-
sen und etwas anderes anfangen. Woher er also
gekommen war, dort ritt er auch wieder hin. Iwan
versetzte seinem wackeren Pferd einen Schlag mit
der seidenen Peitsche; sein wackeres Pferd wurde
böse und jagte eilends mit ihm dahin. Iwan Zare-
witsch kommt in jene Gegend, wo die schöne Ma-
ria mit dem schwarzen Zopf lebte. Fand die Alte,
die Weihbrotbäckerin, und die sagt zu ihm:
„Iwan Zarewitsch, reite, wohin ich dich schicke:
durch dreimal neun Länder, ins zehnte Reich. Ich
will dich unterweisen, wie du Maria bekommen,
wie du sie gewinnen kannst. Du mußt lange Zeit
leiden. Reite zu ihrer Großmutter, diese Großmut-
ter hat zwölf Töchter. Das sind Mädchen, lauter
Mädchen, werden aber mit einem Male Stuten,

291
lauter Stuten. Wenn du zu der Alten auf den Hof
kommst, sage zu ihr:
,Liebes Großmütterchen! Hast du nicht ein Pferd
zu verkaufen?’
Die Alte wird zu dir sagen:
‚Ich habe zwölf Stuten, die sind nicht zu ver-
kaufen, nur zu vererben. Aber ich gebiete dir, sie
drei Tage zu hüten, und für die Arbeit kannst du
dir das beste Pferd nehmen; hütest du sie aber
nicht und treibst sie nicht heim, dann werde ich
mich an deinem Fleisch satt essen und an deinem
Blut satt trinken!’“
Iwan Zarewitsch denkt bei sich:
„Ich will’s doch versuchen! Zwei Tode werde ich
nicht erleiden, und einem kann ich nicht entge-
hen, und ich weiß, für wen ich verderbe.“
Er verdingte sich kurzerhand bei der Alten, und
am Morgen, hüh, hüh, trieb er die Pferde auf die
Weide. Trieb sie auf die grünen Wiesen. Die Alte
hatte ihm einen Fladen mit einem Schlafmittel ge-
backen. Er nahm ihn, biß hinein und sank in einen
tiefen Schlaf. Die Pferde liefen auf den Wiesen
nach allen Richtungen auseinander und tauchten
in den Büschen unter. Er schlief fest und blieb bis
zum Abend liegen.
Das erfuhr die Bienenmutter auf der Eiche und
sagt zu ihren Kindern:
„Fliegt los, meine Kinder, in die grünen Wiesen!
Wanjuschka schläft fest, wird nicht munter. Weckt
ihn und treibt seine Pferde zusammen!“
Und eine Biene war dabei, die war sehr stark;
sie fliegt zu Wanjuschka und sticht ihn in sein

292
weißes Gesicht. Wanjuschka wurde munter und
vergoß bittere Tränen: auch nicht ein einziges
Pferd ist da, und er weiß nicht, wo er sie suchen
soll, und er hat nichts heimzutreiben. Da sagt die
Biene:
„Nimm deine Knute, Wanjuschka, und warte
hier. Wir treiben sie dir her.“
Alle Bienen versammelten sich, um über die
grünen Wiesen zu fliegen, begannen zu fliegen, zu
brummen, die Stuten zusammenzutreiben, und
übergaben sie Wanjuschka.
„Jetzt aber los, Wanjuschka, treib sie!“
Wanjuschka, nicht faul, trieb sie mit seiner
Knute zu der Alten.
„Hier hast du sie, Großmütterchen; ich hab dei-
nen Befehl ausgeführt.“
„Na schön, Wanja, warte ab, was morgen sein
wird.“
Am nächsten Morgen steht die Alte auf und gibt
Wanjuschka den Befehl:
„Hier nimm, Wanjuschka, treib sie aus und treib
sie unversehrt wieder heim! Hier hast du einen
Fladen für deine Arbeit.“
Er nahm den Fladen, barg ihn auf der Brust un-
term Hemd, trieb die Stuten auf die grünen Wie-
sen, und die Stuten gehen so friedlich, rupfen
Gras, schlürfen etwas Quellwasser, laufen ein we-
nig umher und legen sich ein bißchen hin. Wan-
juschka wollte etwas essen, holte ein Stück Fla-
den unter dem Hemd hervor, biß kräftig hinein
und war bald eingeschlafen. Er denkt, nicht lange
– da hatte er bis zum Abend geschlafen. Die Stu-

293
ten aber verschwanden in den Büschen, in den
Büschen und den Mauselöchern. Da war auf ein-
mal die Mäusemutter, die lief über den Weg und
war dick und drall. Die alte Maus befahl, Wan-
juschka zu wecken und die Stuten zusammenzu-
treiben. Die alte Maus kam herbeigelaufen.
„Wanjuschka, die Alte wartet deiner im Hof,
und du machst uns hier Sorgen! Du mußt aufste-
hen und die Stuten heimtreiben.“
Wanjuschka stand auf, schüttelte sich, vergoß
bittere Tränen und sagte:
„Ach du mein Mütterchen, alte Maus! Du soll-
test meiner Guttat gedenken und die Stuten her-
treiben!“
Die alte Maus schickte ihnen alle jungen Mäuse
nach, trieb alle Stuten zusammen, und Wanjusch-
ka trieb sie heim.
„Hier hast du sie, Großmütterchen, zwei Tage
habe ich schon gehütet.“
„Wanjuschka, treib morgen noch einmal aus.
Morgen ist’s weiter, und du mußt mehr Brot mit-
nehmen.“
Wanjuschka stand zeitig auf, machte sich auf
den Weg und trieb aus. Er bekam Hunger, biß
vom Fladen ab und schlief ein; schlief bis zum
Abend. Die Pferde tauchten in den Büschen unter,
aber der Krebs sah’s, trieb sie alle zu Wanjuschka
zurück und weckte ihn. Wanjuschka trieb die Stu-
ten heim.
„Jetzt ist’s genug, Großmütterchen, ich bin
nicht dein Diener, und für die Arbeit will ich Geld,
und wenn kein Geld, dann Mädchen!“

294
„Wähl dir irgendeine Stute aus, Wanjuschka!“
(Es waren aber keine Stuten, sondern schöne
Mädchen.)
Wanjuschka legte sich schlafen, und von den
zwölfen kommt die älteste Schwester zu ihm und
läßt ihn wissen:
„Woran denkst du, Wanjuschka?“
„Weiß selber nicht, woran ich denke.“
„Nimm mich zur Frau; ich will dich Gutes leh-
ren.“
Wanjuschka gab ihr die Hand und sagte:
„Du sollst für immer meine Frau sein!“
„Paß auf, Wanjuschka, sei gescheit: wir sind
zwölf – elf Närrinnen, die jüngste aber ist ein
Schlaukopf. Man wird uns alle an die Krippe stel-
len und allen Hafer vorschütten: wir werden alle
fett und glatt sein; unsere jüngste Schwester aber
ist eine schnelle Rennerin, die wird in der Krippe
liegen. Die nimm und sage zur Großmutter: ‚Hier,
die dürre ist mir recht!’ Heb sie aus der Krippe,
reib sie mit einem Strohwisch ab, binde sie an
deinen Gürtel und sag zur Großmutter: ,Damit
genug und leb wohl!’“
Das machte Wanjuschka auch. Er bestieg sein
Pferd und ritt davon zu der alten Weihbrotbäcke-
rin; kam an und fragt:
„Wie steht’s, Weihbrotbäckerin, wie kann ich
die schöne Maria mit dem schwarzen Zopf sehen?
Denkt sie noch an mich?“
Die sagt:
„Wir haben geglaubt, du bist nicht mehr am Le-
ben, und wer von uns beiden dich erwähnen wür-

295
de, dem sollte es den Kopf kosten. Nun leg dich
aber ein Weilchen hin, Wanjuschka, ich will zu ihr
gehen.“
Die Weihbrotbäckerin kommt zur schönen Ma-
ria:
„Guten Tag, Marjuschka!“
„Guten Tag, Großmütterchen!“
„Komm, Marjuschka, spielen wir ein wenig Kar-
ten!“
Sie spielten also ein wenig. Die Alte bekam die
Dame, Maria aber den König.
Da sagt die Alte:
„Was für ein schöner König das ist, Marjusch-
ka.“
„Als wär’s Iwan Zarewitsch, Großmütterchen!“
„Ach, Marjuschka, das ist wohl wahr, aber auch
schlimm. Gib mir mal ein stumpfes Beil, ich will
dir den Kopf abschlagen. Wir haben doch ausge-
macht, wer als erster Iwan Zarewitsch erwähnt,
den soll es den Kopf kosten.“
„Nun ja. Großmütterchen, laß es nur gut sein.
Hier ist niemand, und wenn er hier wäre, ich wür-
de mich von ihm nicht trennen.“
„Wanjuschka liegt auf dem Sofa, Marjuschka!“
Marjuschka rannte hin, erblickte Wanjuschka
und küßte ihn auf den süßen Mund.
„Nun, Wanjuschka, wenn du stirbst, will ich’s
mit dir!“
„Bleib ich nur am Leben, Marjuschka, wirst auch
du am Leben bleiben!“
Sie bestiegen die Stuten und ritten los.

296
Nun kommen ihre leiblichen Brüder und fragen
die Alte:
„Und wo ist unsere Schwester?“
Die Alte sagt:
„Iwan Zarewitsch hat sie entführt.“
„Wir haben ihn in Stücke gehauen, aber an-
scheinend zu wenig!“
Die zwölf Brüder setzen sich auf die zwölf Bles-
sen, setzen sich und flogen davon wie ein junger
edler Falke. Sie kamen Wanjuschka näher. Wan-
juschka schlug der Stute die Schenkel. Da fuhr die
Stute in die Höhe wie ein weißer Schwan. Die
scheckige Stute höher, aber die Stute unter Iwan
noch höher. Sie kamen zum Väterchen, das Vä-
terchen aber war schon ganz alt. Iwan Zarewitsch
sagt:
„Guten Tag, Väterchen!“
Der freute sich, warf sich Wanjuschka an die
weiße Brust, und sie küßten sich.
„Ach, das ist gut, Wanjuschka, daß du in deine
Heimat zurückgekommen bist.“
Das ist des Märchens Schluß, erzählt hat’s ein
wackrer Bursch, bringt uns Burschen Bier im Glas,
fürs Märchenerzählen Schnaps im Glas.

297
33
Andrej der Jäger
In irgendeinem Zarenreich, in irgendeinem Staat
lebte einmal ein Zar, und der war ledig. Das heißt,
er hatte zwölf Jäger bei sich, und einer war der
Jäger Andrej; der schoß einen Falken im Fluge
und war Oberjäger. Und ihre Jagd verlief wie
folgt: Sechs Tage arbeiteten sie für den Zaren,
den siebenten Tag aber für sich persönlich.
So hatte Andrej fünf Jahre bei dem Zaren zuge-
bracht und immer bei der gleichen Arbeit. Da
schien ihm, der Verdienst sei zu klein, er wollte
fortgehen. Dann dachte er:
„Ich will doch noch diesen Monat bleiben, will
noch einmal für mich selbst jagen, dann gehe ich
fort.“
Und so geht er einmal für sich auf die Jagd, an
einem siebenten Tag. Ging hinaus, lief den ganzen
Tag im Wald umher und sah niemanden. Dann
kommt er schon in die Nähe der Stadt, da sieht
er: ein Falkenweibchen sitzt auf einem Baum-
stamm.
„Dann wollen wir wenigstens die schießen.“ Er
schoß also, verwundete sie, und sie fiel zu Boden.
Er hob sie auf und wollte ihr den Kopf abdrehen,
da begann das Falkenweibchen mit Menschen-
stimme zu sprechen und sagt:

298
„Hört zu, Jäger Andrej, reißt mir nicht den Kopf
ab, sondern tragt mich nach Hause. Wenn du
mich nach Hause gebracht hast und dich hinsetzt,
um Tee zu trinken, lege mich aufs Fensterbrett.
Dann werft mich zum Fenster hinaus und paßt
auf, was geschieht. Wollt Ihr, dann nehmt’s für
Euch, wenn nicht, dann gebt’s den Leuten.“
Als er nun seinen Tee trank, legte er sie aufs
Fensterbrett, dann warf er sie zum Fenster hin-
aus. Da wurde auf einmal ein Mädchen daraus,
schön wie eine Blume. Er sieht sie an und bringt
kein Wort heraus.
Sie fragte:
„Nun, wie steht’s, Jäger Andrej, gibst du mich
den Leuten, oder nimmst du mich für dich?“
„Für mich nehme ich dich.“
„Für dich, nun gut, nur versteh mich zu halten!“
Sie kam herbei und lebte von nun an bei ihm.
Sie hatten eine Woche miteinander gelebt, da
sagt sie:
„Andrej, Ihr lebt gewiß ärmlich?“
„Ja, wie du selber siehst.“
Da sagt sie:
„Hör zu, Andrej, hast du unter deinen Bekann-
ten welche, die dir mit hundert Rubeln aushelfen
würden, dann geh hin und bitte sie. Wenn du
dann dieses Geld hast, geh in ein Geschäft und
bring mir hundert Arschin5 Seide, ich werde dar-
aus einen Teppich sticken.“

5
Ehemaliges russisches Längenmaß = 71,1 cm. (Anm. d.
Übers.)

299
Andrej ging sogleich zu einem bekannten
Kaufmann, der hieß natürlich auch Iwan.
„Hört“, sagt er, „gebt mir bitte zwanzig Rubel.“
„Wozu brauchst du sie?“
„Du weißt doch selber, bin in Not.“
„Was willst du schon mit zwanzig Rubel, da, ich
geb dir vierzig.“
Er bedankte sich bei ihm und ging zu einem an-
deren bekannten Kaufmann.
„Höre, Freund, gib mir zwanzig Rubel, ich
brauch sie nötig.“
„Was willst du schon mit zwanzig Rubeln, An-
drej; hier, ich gebe dir vierzig.“
Er nahm sie und hatte schon achtzig; nun
brauchte er noch zwanzig. Er ging hinaus und
sucht einen dritten Kaufmann auf.
„Hör zu, Freund, hilf mir mit zehn Rubeln aus.“
Der gab ihm zwanzig. Nun hatte er hundert. Als
er das Geld hat, geht er in ein Geschäft, kauft
hundert Arschin Seide und bringt sie seiner Frau:
„Hier, schöne Jelena, ich hab die Seide ge-
bracht.“
Da sagt sie zu ihm:
„Von wem hast du das Geld genommen, von ei-
nem Kaufmann oder von dreien, und wieviel hat
dir jeder gegeben?“
„Beim ersten, dem Kaufmann Iwan, habe ich
um zwanzig gebeten, er hat mir vierzig gegeben,
beim zweiten habe ich um zwanzig gebeten, er
hat mir vierzig gegeben, beim dritten zehn, er hat
mir zwanzig gegeben, und so habe ich hundert
Rubel.“

300
„Hör zu, Andrej, wenn du zu Gelde kommst und
es zurückgibst, gib auch das Doppelte. Von wem
du zwanzig erbeten hast, und er gab vierzig, dem
gib achtzig, und so bei jedem.“
Andrej ging auf Arbeit, für sechs Tage, und sie
machte sich an ihre Arbeit, begann den Teppich
zu sticken. Als Andrej sechs Tage auf der Jagd
gewesen war, kommt er heim, und in dieser Zeit
hatte sie den Teppich fertiggestickt. Andrej
kommt, versteht sich, am Sonnabend, und am
Sonntagmorgen gibt sie ihm den Teppich und
sagt:
„Hier, Andrej, geh auf den Markt und verkauf
den Teppich; setz aber keinen Preis fest, was man
dir gibt, das nimm!“
Er nimmt den Teppich und will gehen, da sagt
sie:
„Hör zu, Andrej, wenn du das Geld bekommen
hast, zahl doppelt soviel zurück, wie sie dir gege-
ben haben.“
Andrej der Jäger nimmt den Teppich und geht
los zum Markt. Kommt auf den Markt, hat den
Teppich mit, rollt ihn auf, und es versammelten
sich so viele Leute, diesen Teppich zu betrachten,
daß schon kein Durchkommen mehr war. Und
keiner bietet einen Preis, alle sehen ihn nur an.
Und auf diesem Teppich war folgendes abgebildet:
ein Wald war darauf, Flüsse, Seen, das Meer, Vö-
gel, Fische und alles, was es auf der Welt gibt. Da
stehen sie nun alle. Danach fügte es sich, daß der
Leiboffizier des Zaren gefahren kommt:

301
„Nun, was steht ihr hier zusammen, macht
Platz!“
Natürlich drängte er sich gewaltsam durch die
Menge und bestaunte den Teppich. Der Leiboffi-
zier betrachtete den Teppich drei Stunden lang,
und er gefiel ihm sehr, und er fragte:
„Wem gehört dieser Teppich, und wieviel kostet
er?“
Da tritt Andrej zu dem Leiboffizier und sagt:
„Das ist mein Teppich.“
„Und wieviel kostet er?“
„Was ihr geben wollt, das nehme ich.“
Da sagt der Leiboffizier des Zaren:
„Also hör zu, Andrej, ich will dir dreißigtausend
geben, ist das genug?“
„Genug.“
Er holt das Geld aus der Tasche, gibt’s ihm und
geht fort. Da ging Andrej zu dem ersten Kauf-
mann und gibt ihm achtzig Rubel; der Kaufmann
fragt:
„Warum denn achtzig, Andrej? Ich habe dir
vierzig gegeben.“
„Weil ich euch um zwanzig bat und ihr mir das
Doppelte gegeben habt, deswegen will ich auch
das Doppelte zahlen.“
So auch beim zweiten Kaufmann, so auch beim
dritten. Die Kaufleute bedankten sich bei Andrej,
und er bringt das restliche Geld nach Hause, zu
seiner Frau.
„Hier, Lenotschka, ich hab dir das Geld ge-
bracht.“
„Und wieviel hast du bekommen?“

302
„Dreißigtausend.“
„Hast du das Geld zurückgezahlt?“
„Hab’s zurückgezahlt.“
„Nun, Andrej, siehst du jetzt, was ich verdient
habe?“
„Ja, ganz ordentlich.“
„Jetzt kannst du ein schönes Leben führen.“
Als nun dieser Leiboffizier des Zaren den Tep-
pich an die Wand gehängt hat, muß doch gerade
der junge Zarewitsch zum Leiboffizier kommen
und den Teppich betrachten. Als der junge Zare-
witsch den Teppich betrachtete, gefiel er ihm
sehr, und er fragte:
„Woher hast du diesen Teppich, Leiboffizier? Für
wieviel hast du ihn gekauft?“
„Ich habe ihn auf dem Markt gekauft und drei-
ßigtausend bezahlt.“
„Bei wem?“
„Bei Andrej dem Jäger.“
„Verkauf ihn mir, ich will dir fünfunddreißigtau-
send geben.“
Der aber sagt:
„Bitte, nimm ihn, ich werde zu Andrej gehen
und einen neuen bestellen.“
Er bekam also das Geld, und am Abend, gegen
zehn Uhr, geht er zu Andrej einen Teppich bestel-
len. Als er zu Andrej kommt, hat sich Andrej
schon schlafen gelegt, und die Tür war verschlos-
sen. Er kommt also hin und klopft. Andrej sagt:
„Wir müssen aufmachen, Lenotschka, da ist
wohl jemand. Ich will gehen, mich anziehen und

303
aufmachen, wahrscheinlich jemand von den Die-
nern des Zaren.“
Sie sagt:
„Andrej, du hast dich schon zur Ruhe gelegt,
dich ausgezogen, schlaf du also, ich will gehen
und selber aufmachen.“
Sie kommt zur Tür und öffnet. Als sie nun die
Tür aufgemacht hatte, blickte der Leiboffizier des
Zaren sie an; den einen Fuß hat er über die
Schwelle gesetzt, aber den anderen setzt er nicht
darüber, ist ganz stumm und kann kein Wort
mehr sprechen. Da fragt sie ihn:
„Weswegen seid ihr gekommen, Leiboffizier des
Zaren, braucht ihr ihn für euch selber, den An-
drej, oder für den Zaren? Ihr wißt ja selbst, er hat
sich schlafen gelegt, und morgen früh muß er auf
Arbeit für den Zaren gehen.“
Er aber schwieg immer weiter. Lange wartete
sie auf eine Antwort, schließlich konnte sie nicht
länger warten, drehte ihn an den Schultern herum
und schloß die Tür. Er schwieg noch immer und
machte sich auf den Heimweg. Als er schließlich
über hundert Saschen weg war, fiel ihm ein:
„Ach, ich war doch gegangen, einen Teppich zu
bestellen, und hab’s vergessen; nun, der Andrej
hat eine schöne Frau, ein wahres Bild.“
Wie er zu Hause ist, kommt gerade der Zare-
witsch.
„Nun, wie steht’s, hast du den Teppich be-
stellt?“
„Eben nicht!“
„Warum nicht?“

304
„Ich hatte andres als den Teppich im Sinn; An-
drej hat eine so schöne Frau, ich hab mich selbst
ganz vergessen, eine solche Schönheit ist das!“
Da sagte der Zarewitsch zu ihm:
„Schön, da werde ich selber gehen und den
Teppich bestellen und mir ansehen, was für eine
Frau Andrej hat.“
So ging der junge Zarewitsch gegen acht Uhr
zu Andrej. Als er hinkam, hatte sich Andrej schon
ausgezogen und will sich gerade wieder schlafen
legen. Die Tür ist selbstverständlich verschlossen.
Als geklopft wurde, sagt er, der Andrej:
„Schöne Jelena, ich muß an die Tür; ich zieh
mich gleich an und gehe.“
„Nein, nein, Andrej, Ihr habt Euch schon ausge-
zogen, ich gehe selbst aufmachen.“
Als Jelena zur Tür kam und die Tür aufmachte,
setzte der junge Zarewitsch einen Fuß über die
Schwelle; und wie er ein solches Bild vor sich sah,
erstarrte er und blieb stehen. Sie sah ihn lange
an, dann fragte sie:
„Was ist, junger Zarewitsch, welche Bitte habt
ihr an Andrej, sagt’s bitte, ich warte. Ihr wißt
selbst, Andrej muß ausruhen und früh auf Arbeit
gehen.“
Er brachte kein Wort heraus, der junge Zare-
witsch, blickte sie nur immer an. Sie dreht ihn an
den Schultern herum:
„So geht, junger Zarewitsch, wenn ihr nichts
sagen könnt. Andrej muß schlafen.“
Und er ging hinaus. Als er ein kurzes Stück ge-
gangen war, fiel ihm ein:

305
„Ei, ei, was für eine schöne Frau der Andrej
hat; ich muß sie Andrej um jeden Preis wegneh-
men, oder vielleicht gibt er sie mir im guten.“
Als er nach Hause kommt, versammelt er seine
Bojaren und beginnt mit ihnen zu reden:
„Auf welchem Wege kann man Andrej die Frau
wegnehmen: ihn hinrichten geht nicht, die Frau
gewaltsam wegnehmen geht nicht, nun, mit ei-
nem Wort, man muß irgendeinen Auftrag aussin-
nen.“
Und alle waren einverstanden, ihm einen sol-
chen Auftrag zu geben, daß er auf seine Frau ver-
zichtet oder sie durch diesen Auftrag freiwillig ab-
tritt. Nun begannen sie nachzudenken. Lange
dachten sie nach, es fiel ihnen aber nichts ein.
Schließlich übernahm es einer seiner Höflinge, für
zehntausend Rubel innerhalb von drei Tagen eine
Aufgabe für ihn zu ersinnen.
.Wenn du was weißt, gebe ich dir das Geld.“
Und der Zarewitsch gibt ihm den Auftrag. Holt
das Geld heraus.
„Wenn Euch nichts einfällt, dann ist’s am dritten
Tag um Euern Kopf geschehen.“
Und mit diesen Worten ging er aus dem Zim-
mer. Der Höfling dachte zwei Tage nach, es fiel
ihm nichts ein, und er glaubt sich in Gefahr. Am
dritten Tag ging er in den Wald:
„Fällt mir was ein, dann fällt mir was ein, wenn
nicht, häng ich mich auf, um meinen Kopf ist’s
sowieso geschehn.“
Er geht also im Wald umher, betrübt und trau-
rig, und es fällt ihm nichts ein, am Abend aber

306
nach Hause zu gehen, hat gar keinen Zweck. Auf
einmal begegnet ihm eine Alte und sagt zu ihm:
„Nun, lieber Mann, so in Gedanken?“
Er antwortet ihr grob:
„Laß mich gefälligst in Ruhe!“
Ging vorbei, aber besann sich:
„Ich sollte doch die Alte fragen, vielleicht weiß
sie etwas.“ – „Vergib das derbe Wort, Großmüt-
terchen, vielleicht weißt du, worüber ich nachden-
ke?“
Da sagt sie zu ihm:
„Hör zu, mein Lieber, und merk dir für die Zu-
kunft: an alten Leuten rennt man nicht vorbei.
Geh und sag dem Zaren: Andrej soll durch drei-
mal neun Länder ziehen, ins dreimal zehnte Reich,
auf die Insel Bujan, und soll das Lamm mit dem
goldenen Kopf herbringen. Man soll ihm ein Schiff
geben, das leckt, und eine Besatzung, die trinkt;
geht er dorthin, kommt er nicht zurück. Und als
Frist soll man ihm vier Monate geben, nicht mehr;
er wird auf seine Frau verzichten.“
Da bedankte sich der Höfling bei der Alten und
sagt:
„Danke, ich will gleich gehen.“
Kommt zum Zaren und sagt:
„Eure Majestät, ich habe etwas ausgedacht.
Man soll Andrej folgenden Auftrag geben: Andrej
soll durch dreimal neun Länder, durch dreimal
neun Leiden ziehen, ins dreimal zehnte Zaren-
reich, auf die Insel Bujan, und soll das Lamm mit
dem goldenen Kopf herbringen. Man soll ihm ein

307
Schiff geben, das leckt, und eine Besatzung, die
trinkt; geht er dorthin, kommt er nicht zurück.“
Da sagte der Zarewitsch zu ihm:
„Nun, schönen Dank!“
Sogleich schickt er einen Diener, Andrej zu ho-
len.
„Ruf ihn her! Was wird er mir zu sagen haben?“
Als der Diener hinkommt und verkündet, der
Zar läßt Euch rufen, überlegt er:
„Weswegen läßt mich der Zar rufen?“
Er sagt zur schönen Jelena:
„Nun, ich weiß nicht.“
Jelena sagt:
„Hör zu, Andrej, geh zum Zaren, er hat einen
Auftrag für dich, ich weiß. Wenn du zum Zaren
kommst, wird er zu dir sagen: ‚Hör zu, Andrej,
gibst du mir deine Frau, dann gebe ich dir keinen
Auftrag und sage nichts. Wenn du sie nicht her-
gibst, bekommst du einen Auftrag.’ Wenn du hin-
kommst, dann sag ihm: ‚Schön, beladet ein Schiff
mit Wein und Brot.’ Und laß dich mit ihm auf kei-
ne andere Frist als vier Monate ein.“
Unser Andrej ging also zum Zaren. Kommt zum
Zaren und begrüßt ihn.
„Hör zu, Andrej, was ich dir zu sagen habe. Gib
mir deine Frau. Wenn du sie hergibst, sage ich dir
nicht, welchen Auftrag ich für dich habe; wenn du
sie nicht hergibst, bekommst du einen Auftrag.“
Andrej antwortet dem Zaren wie folgt:
„Ich habe für mich geheiratet. Eure Majestät,
und nicht für andere Leute, und ich bin nicht ein-
verstanden. Beladet ein Schiff mit Brot und Wein.“

308
Sie machten mit ihm eine Frist von vier Mona-
ten aus.
„Wenn du’s nicht schaffst, kommt dein Kopf von
den Schultern“, bestimmte der Zar.
Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer.
„Nun“, denkt er, „meinen Kopf werde ich nicht
lange mehr tragen, in vier Monaten kann ich
nichts holen.“
Andrej kommt nach Hause und weint bittere
Tränen.
„Nun, Jeletschka, ich werde dich nicht wieder-
sehen.“
Da antwortet sie ihm:
„Geh nur, Andrej, das ist ja kein Auftrag, son-
dern ein Aufträgchen, der Auftrag kommt erst
noch. Wir wollen essen, leg dich schlafen, und der
Morgen ist klüger als der Abend.“
Sie aßen also ihr Abendbrot; sie legte sich mit
ihm schlafen, schlief ein wenig, ruhte bis Mitter-
nacht, stand dann auf, zog aus der Tasche ein
Zaubertuch und winkte mit ihm. Da sprangen drei
Burschen heraus:
„Welchen Dienst sollen wir für dich tun, schöne
Jelena?“
„Hört zu, Burschen, was es zu tun gibt: Ihr
müßt innerhalb von zwei Stunden durch dreimal
neun Meere, durch dreimal neun Leiden eilen ins
dreimal zehnte Reich, auf die Insel Bujan, und
von dort das Lamm mit dem goldenen Kopf
herbringen.“
Die Burschen brachten nach zwei Stunden das
Lamm mit dem goldenen Kopf an, sie nimmt’s,

309
packt’s in eine Kiste, legt sie an ihr Kopfende und
legt sich schlafen. Sie schliefen bis sechs Uhr. Je-
lena stand zuerst auf, machte den Samowar heiß
und weckte ihn dann:
„Andrej, steh auf, du mußt vor der Reise noch
etwas trinken und essen.“
Als Andrej etwas getrunken hatte, machte er
sich zur Fahrt bereit und brach in Tränen aus.
„Jeletschka, auf Wiedersehen, ich werde dich
nicht mehr sehen!“
„Andrej, weine nicht, du glaubst, der Zar kriegt
mich, nein, der kriegt mich sowenig zu sehen wie
seine eigenen Ohren.“
Sie gibt ihm das Kistchen.
Da nimmt Andrej das Kistchen:
„Wenn du auf dem Schiff bist, werden zwei Mo-
nate vergehen, und es wird stilles Wetter sein.
Während dieses Wetters mach die ganze Besat-
zung betrunken, so daß auch nicht einer nüchtern
ist, und wende das Schiff. Wenn du zurück-
kommst, nun, begreife doch, in diesem Kistchen
ist das Lamm mit dem goldenen Kopf; das gibst
du dem Zaren.“
Nun nahm er Abschied und brach in Tränen
aus. Sie nimmt ihr Tuch aus der Tasche, wischt
die Tränen ab und sagt:
„Nun geh, Andrej, hab keine Angst, ich werde
nirgendshin verschwinden.“
Nach diesen Worten ging Andrej zum Hafen.
Kaum war Andrej fort, da schickte der Zare-
witsch eine Abteilung Soldaten zu der schönen
Jelena. Die suchten lange nach ihr, durchwühlten

310
das ganze Haus, hoben die Dielenbretter in die
Höhe, konnten sie nicht finden und meinten, An-
drej habe sie mitgenommen.
Andrej kommt nun zum Hafen, da war das
Schiff schon bereit. Er besteigt das Schiff, und sie
fahren übers Meer.
Ganze zwei Monate zog er über das Meer, dann
trat eine Windstille ein, und er sagt:
„Wißt ihr was, Burschen, aus Anlaß des schönen
Wetters wollen wir zusammen eins trinken.“
Und es begann bei ihnen ein großes Trinkgela-
ge.
Als er sie alle betrunken gemacht hatte und es
auf dem Schiff still war, trat er hinters Ruder und
wendete vorsichtig das Schiff. Es wehte ein gün-
stiger Wind, und er sagt:
„Hört zu, Burschen, kann jemand von euch ans
Ruder gehen?“
„Hör mal, Jäger Andrej, aufstehen können wir,
nur der Kopf tut weh.“
„Nun ja, da müssen wir einen zum Nüchtern-
werden trinken.“
Sie tranken ein wenig und fuhren dann weiter,
setzen ihren Weg fort. Sie fahren also, das Wetter
ist sehr schön, und es weht ein günstiger Wind.
Sie fuhren und fuhren, und auf einmal näherten
sie sich ihrem Land. Als sie in ihrem Land ange-
kommen sind, fragt ihn die Besatzung:
„Nun, Jäger Andrej, wo sind wir gewesen, wes-
wegen sind wir ausgezogen, wie haben wir nur
immer getrunken, weswegen sind wir zurückge-
kommen in unser Land, haben wir das mitge-

311
bracht oder richtiger, haben wir bekommen, wes-
wegen wir ausgezogen sind?“
Er aber antwortet ihnen:
„Ja, wie denn, Burschen, könnt ihr euch wirklich
nicht erinnern?“
„Wie sollen wir uns erinnern, wo wir alle be-
trunken waren.“
„Wir haben’s bekommen.“
„Na, Gott sei Dank!“
Mit diesen Worten gehen sie an Land. Sobald
sie an Land sind, begegnet ihnen der junge Zare-
witsch, den Säbel in der Hand, und geht auf ihn
zu. Als Andrej den Zarewitsch begrüßt hat, sagt
der:
„Nun, wie steht’s, Andrej, hast du’s bekom-
men?“
„Hier, ihr könnt selber nachsehen!“
Und gibt ihm das Kistchen. Der Zarewitsch
nahm’s und ging nach Hause. Und Andrej ging
auch nach Hause. Wie er sich seinem Hause nä-
hert, kommt Jelena auf die Treppe herausgelau-
fen, umarmt ihn, küßt ihn und führt ihn ins Zim-
mer, der Samowar stand schon bereit. Da setzten
sie sich, um Tee zu trinken. Jeletschka fragt:
„Nun, Andrej, wie war’s?“
„Es ist ganz gut gegangen.“
„Du mußt noch ein zweites Mal ausziehen.“
Es waren noch keine zwei Tage vergangen, da
erfuhr der junge Zarewitsch, daß bei Andrej die
Frau ist.
„Um jeden Preis muß ich ihm seine Frau weg-
nehmen!“

312
Er rief jenen Höfling, er solle ihm eine andere
Aufgabe ausdenken. Der Höfling sagt:
„Schön, Eure Majestät, ich werde bald etwas
ausgedacht haben.“
Und er geht wieder, jene Alte zu suchen. Geht
durch den Wald. Sobald er die Alte erblickt hatte,
blieb er gleich stehen.
„Nun, mein Freund, wie steht’s, war Andrej
dort?“
„Ja, er war dort.“
„Nun, Andrej zu betrügen ist nicht schwer, aber
seine Frau betrügt man nicht so schnell.“
„Nun, denk jetzt einen anderen Auftrag für ihn
aus, Großmütterchen.“
Die Alte antwortete:
„Schön, ich hab bald etwas ausgedacht. Andrej
soll wieder durch dreimal neun Länder, durch
dreimal neun Meere ins dreimal zehnte Zarenreich
ziehen, auf die Insel Bujan, und soll das Schwein-
chen mit den goldenen Borsten herbringen. Man
soll ihm eine Besatzung geben, die trinkt, und ein
Schiff, das leckt. Geht er dorthin, kommt er nicht
zurück.“
Mit diesen Worten kam der Höfling zum Zare-
witsch.
„Eure Majestät, ich habe wieder etwas ausge-
dacht: Andrej soll durch dreimal neun Länder,
durch dreimal neun Leiden ziehen, ins dreimal
zehnte Reich, auf die Insel Bujan, und soll das
Schweinchen mit den goldenen Borsten herbrin-
gen. Man soll ihm eine Besatzung geben, die

313
trinkt, und ein Schiff, das leckt. Und als Frist vier
Monate, nicht mehr.“
Bald ruft er nun Andrej dringend zum Zaren.
Der sagt zu Jeletschka:
„Wieder irgendwas, irgendein Unheil droht mir,
man ruft mich wieder zum Zaren.“
Sie sagt:
„Sag dem Zaren, sie sollen wieder ein Schiff mit
Wein und Brot beladen. Du weißt doch selber, du
hast mich für dich genommen und nicht für ande-
re Leute, nun versteh mich auch zu hüten!“
„Was wollt Ihr von mir, Eure Majestät?“
Der Zar sagt zu ihm:
„Hör zu, Andrej; wohin steckst du deine Frau,
wenn du fortgehst?“
„Sie ist zu Hause bei mir.“
„Gib sie mir, sonst gebe ich dir wieder einen
Auftrag.“
„Nein“, antwortet er, „ich gebe sie nicht her.
Ich habe für mich selber geheiratet.“
„Schön. Wenn du sie mir also nicht geben willst,
dann gebe ich dir den Auftrag, durch dreimal neun
Meere, durch dreimal neun Länder zu ziehen, ins
dreimal zehnte Zarenreich, auf die Insel Bujan,
und bring mir das Schweinchen mit den goldenen
Borsten. Wir geben dir eine Frist von vier Mona-
ten. Bringst du’s nicht her, kommt dein Kopf von
den Schultern.“
Da antwortet ihm Andrej:
„Na schön, Eure Majestät, beladet ein Schiff mit
Wein und Brot, ich werde bereit sein.“

314
Mit diesen Worten ging Andrej hinaus und nach
Hause. Wie er zu Jeletschka kommt, fragt ihn Je-
letschka:
„Nun, was ist, Andrej?“
„Wieder ein Auftrag dorthin, wie das erste Mal.“
„Schon gut, Andrej, sei nicht traurig, der Mor-
gen ist klüger als der Abend. Das alles, Andrej, ist
noch kein Auftrag; wenn der dritte Auftrag
kommt, bei dem müssen wir uns Gedanken ma-
chen.“
Da aßen sie ihr Abendbrot und legten sich
schlafen. Sie schlief mit ihm bis zwölf Uhr. Um
zwölf steht sie auf, zieht ihr Zaubertuch hervor,
winkt damit, da erscheinen die drei Burschen und
verneigen sich vor ihr.
„Was befiehlst du zu tun, Jeletschka?“
„Hört zu, Burschen: Eilt innerhalb von zwei
Stunden ins dreimal neunte Zarenreich, in den
dreimal zehnten Staat, auf die Insel Bujan, und
bringt von dort das Schweinchen mit den golde-
nen Borsten.“
Die Burschen verneigten sich und rannten los.
Die zwei Stunden waren noch nicht einmal ver-
gangen, da kamen sie zurück und brachten das
Schweinchen angeschleppt. Sie nimmt das
Schweinchen, verpackt es in eine Kiste und legt
sich schlafen. Stand um sechs auf, machte den
Samowar heiß und weckte Andrej:
„Steh auf, Andrej, du mußt noch etwas trinken,
etwas essen und dich auf den Weg machen.“
Andrej trank den Tee, zog sich an und brach in
Tränen aus.

315
„Nun, Jeletschka, wahrscheinlich werde ich dich
nicht wiedersehen.“
„Weine nicht, Andrej, es wird nichts gesche-
hen.“
Als er angezogen war, gibt sie ihm die Kiste:
„Hier, Andrej, nimm diese Kiste, darin ist das
Schweinchen mit den goldenen Borsten. In zwei
Monaten mach die Besatzung betrunken, wende
das Schiff und komm zurück; du brauchst nir-
gendshin zu ziehen, du hast alles in der Kiste.“
„Und wird der Zar dich finden?“
„Nein, er wird mich nicht finden; er kriegt mich
genausowenig zu sehen wie seine eigenen Oh-
ren.“
Als Andrej fortgefahren war, begab sich der Za-
rewitsch zu ihm nach Hause, wühlte alles durch,
hob die Fußböden in die Höhe, nahm die Öfen
auseinander, durchwühlte alles, was es zu durch-
wühlen gab, doch sie war nicht da.
„Wahrscheinlich hat Andrej sie mitgenommen“,
denkt er.
Andrej hatte sich also nach dem Schiff aufge-
macht. Kommt hin, besteigt das Schiff, und so
machten sie sich auf die Reise. Sie fuhren zwei
Monate, bis eine Windstille eintrat, das heißt ruhi-
ges Wetter. Als das Wetter ruhig geworden war,
machte er seine ganze Besatzung wieder betrun-
ken, und als es auf dem Schiff schon still war,
geht er ans Ruder, wendet das Ruder und fängt
dann an, die Besatzung aus dem Schlaf zu wek-
ken:

316
„Steht auf. Freunde, es muß jemand, wenn
möglich, steuern!“
„Steuern ist gut, Herr, aber der Kopf tut so
weh.“
„Na schön, dann trinkt eins auf euren Rausch!“
Nun näherten sie sich ihrem Land. Immer näher
kommt ihr Land, und sie fangen wieder zu fragen
an:
„Jäger Andrej, wie steht’s, haben wir das be-
kommen, weswegen wir ausgezogen sind?“
„Haben’s bekommen.“
„Na schön, das ist gut.“
„Könnt ihr euch wirklich nicht erinnern?“
„Wie sollen wir uns erinnern, wo wir völlig be-
trunken waren.“
„Haben’s bekommen.“
Als sie nun angelegt hatten, gingen alle an
Land, und schon kommt der junge Zarewitsch mit
seinem Schwert und fragt:
„Nun, wie steht’s, Andrej, hast du’s bekom-
men?“
„Hab’s bekommen. Ihr könnt’s nehmen, Eure
Majestät; hab’s ausgeführt.“
Und ging nach Hause.
Kaum ist er am Haus, da kommt Jeletschka auf
die Treppe herausgesprungen, küßt ihn und führt
ihn in die Stube. Der Samowar war schon bereit,
und sie setzten sich an den Tisch. Nun trinken sie
Tee, und sie fragt:
„Nun, Andrej, wie war’s?“
„Es ist ganz gut gegangen.“

317
„Nun, das ist recht, und so wird’s auch künftig
sein.“
Noch waren keine zwei Tage vergangen, da er-
fuhr der Zarewitsch schon, daß bei Andrej die
Frau ist. Er ließ den Höfling suchen, damit er eine
dritte Aufgabe ausdenken und Andrej seine Frau
wegnehmen sollte, koste es was es wolle. Sie fan-
den den Höfling, und der Zarewitsch sagt zu ihm:
„Hör zu, Freund, denk noch eine dritte Aufgabe
für Andrej aus!“
Er antwortet:
„Schön, ich brauch nicht lange etwas für ihn
auszudenken.“
Er hofft schon auf die Alte. Danach ging der
Höfling wieder in den Wald. Lange ging er so,
dann trifft er die Alte:
„Guten Tag, Großmütterchen!“
„Guten Tag, Söhnchen!“
Sie fragte ihn:
„Nun, wie steht’s, hat’s Andrej ausgeführt?“
„Hat’s ausgeführt.“
„Hm, Andrej zu betrügen braucht man nicht
lange, aber seine Frau betrügt man nicht. Nun,
macht nichts, jetzt werde ich trotzdem etwas aus-
denken, werde ihn für sieben Jahre von seiner
Frau trennen.“
Dann sagt sie zu ihm:
„Geh also zum Zaren und sage ihm folgendes:
,Andrej soll nach Weiß-nicht-wohin ziehen und
das Weiß-nicht-was bringen. Gib ihm keine be-
stimmte Frist, nun, nicht weniger als sieben Jahre.
Vielleicht versucht er’s gar nicht erst. In dieser

318
Zeit aber kann der Zar die schöne Jelena heira-
ten.“
Na ja, sie weiß doch nicht, daß Jelena sich ver-
bergen kann. Sogleich geht dieser Höfling zum
Zaren und meldet:
„Also, Eure Majestät, Andrej soll nach Weiß-
nicht-wohin ziehen und das Weiß-nicht-was brin-
gen. Und gebt ihm keine bestimmte Frist. In die-
ser Zeit aber könnt Ihr Euch seine Frau verschaf-
fen.“
Als der Zar von dem Höfling diese Worte gehört
hatte, schickte er in Ungeduld nach Andrej. Als
der Bote zu Andrej kam, befahl er ihm, zum Zaren
zu kommen, und zwar unverzüglich. Andrej ant-
wortete:
„Ist gut.“
Und wieder sagt er zu seiner schönen Jelena:
„Jeletschka, der Zar hat sicher wieder etwas
Schlimmes bereit.“
„Ja, sicher wieder einen Auftrag. Nun, lehne
den Auftrag nicht ab, übernimm ihn, dann werden
wir schon weiter sehen.“
Wie Andrej zum Zaren kommt, führt ihn der Zar
in ein besonderes Zimmer und beginnt, ihn mit
Wein zu bewirten; er will ihn betrunken machen,
damit er schneller sein Einverständnis gibt. Aber
seine Frau hatte ihm eingeschärft:
„Paß auf, Andrej, trink keinen Schnaps!“
Andrej schlug natürlich nicht ab, ging mit ihm
zu Tisch, trank ein kleines Gläschen, und der Zar
beginnt auf ihn einzureden.

319
„Hör zu, Andrej, gib mir deine Frau, ich verhei-
rate dich mit einer hübschen Generalstochter, und
du wirst ein glückliches Leben führen, ohne über-
flüssige Sorgen; wenn nicht, bekommst du wieder
einen großen Auftrag.“
Andrej fand sich zu nichts bereit, zu keinerlei
Zugeständnissen, und sagte:
„Ich will lieber gehen als meine Frau wegge-
ben.“
Und Schnaps trank er überhaupt nicht mehr.
„Dann also, Andrej, gebe ich dir den folgenden
Auftrag: nach Weiß-nicht-wohin zu ziehen und das
Weiß-nicht-was zu bringen. Eine Frist lege ich
nicht fest. Kommst du zurück und bringst es nicht
mit, dann kostet es dich den Kopf.“
Andrej ging mit diesen Worten hinaus und
kommt heim zur schönen Jelena. Kommt traurig
und betrübt, mit Tränen in den Augen. Jeletschka
fragte Andrej:
„Warum weinst du?“
„Wie soll ich nicht weinen, Jeletschka? Folgen-
den Auftrag haben sie mir gegeben: nach Weiß-
nicht-wohin zu ziehen und das Weiß-nicht-was zu
holen.“
Sie antwortete ihm:
„Höre, Andrej, sei nicht traurig, trink, iß und leg
dich schlafen: der Morgen ist klüger als der
Abend, am Morgen wird alles klar sein.“
Sie aßen zu Abend und legten sich schlafen. Sie
schlief nur ein wenig, stand auf, nimmt ihr Zau-
berbuch zur Hand und beginnt zu suchen, wo das
Weiß-nicht-was ist. Lange suchte sie, konnte es

320
natürlich nicht finden, warf das Zauberbuch bei-
seite, nimmt ihr Zaubertuch, schüttelte es, und
die drei Burschen sprangen heraus.
„Was befehlt Ihr, schöne Jelena?“
„Hört, Burschen, wißt ihr nicht, wo das Weiß-
nicht-was ist?“
Der eine sagt: „Ich weiß es nicht.“ Der andere:
„Weiß nicht.“ Alle wie aus einem Munde. Sie
verbarg das Tuch in der Tasche, nimmt eine große
Docke Wolle und beginnt, ein Knäuel zu wickeln.
Als sie ein großes Knäuel gewickelt hatte – sie
konnte es kaum umfassen –, trug sie’s vor die Tür
und legte es auf die Treppe. So verbrachte sie die
Zeit bis sechs Uhr morgens. Sie setzte den Sa-
mowar an und weckte Andrej.
„Steh auf, Andrej, mein Lieber, die Arbeit war-
tet schon auf dich – eine lange Reise!“
Sie setzten sich also, tranken Tee, und sie sagt:
„Höre, Andrej, auf der Treppe liegt ein Knäuel.
Dieses Knäuel wird den Weg entlang rollen, und
du geh ihm nach. Solange dieses Knäuel den Weg
entlangrollt, geh; geh die ganze Zeit, bis das
Knäuel zu Ende ist und der Faden auf dem Weg
ausläuft; dort wirst du ein Schloß erblicken. In
dieses Schloß geh hinein, dort wird man dich
empfangen.“
Andrej bricht also auf. Sie hatte ihm eine Ta-
sche zurechtgemacht, einen Reisesack, und er
begann zu weinen:
„Jeletschka, ich werde dich nicht wiedersehen,
weiß nicht, wohin ich gehe!“

321
„Mach dir keine Gedanken, Andrej, der Zar
kriegt mich nicht, ich werde auf dich warten; frei-
lich werden wir uns lange nicht sehen.“
Weiter sagt sie noch zu ihm:
„Hier nimm die Tasche. Wenn du in das Schloß
kommst, wird man dich empfangen, dir zu essen
und zu trinken geben und dich schlafen legen.
Wenn du am Morgen aufstehst und dich wäschst,
wird man dir ein Handtuch bringen, aber trockne
dich nicht mit ihrem Handtuch ab, hol dein eige-
nes aus dem Reisesack und trockne dich damit
ab.“
Er brach nun auf, ihretwegen war ihm sehr weh
ums Herz, und er begann zu weinen. Sie tröstete
ihn, trocknete ihm mit ihrem Tuch die Tränen,
und sie gingen zusammen vor die Tür zur Treppe.
Er ging hinab auf die Straße, und das Knäuel roll-
te vor ihm her. Und so machte sich Andrej auf
den Weg. Sobald der Zar erfahren hatte, daß An-
drej fort war, stellte er sogleich an ihrem Haus
eine Wache auf und begann, das ganze Haus zu
durchsuchen. Aber finden konnte er sie nicht,
wurde schließlich wütend und brannte das ganze
Haus nieder.
Und Andrej ging seinen Weg immer weiter, das
Knäuel aber rollte und wurde immer kleiner und
kleiner. So wie Andrej lief, wurde das Knäuel im-
mer kleiner und kleiner. Und Andrej war es schon
leid zu gehen, immer dachte er an die schöne Je-
lena. Er ging also und ging, setzte seinen Weg
fort, und das Knäuel war klein geworden wie ein
Hühnerkopf. Andrej wurde es schwer ums Herz,

322
keine Menschenseele zu sehen; je kleiner das
Knäuel wurde, um so schwerer wurde es Andrej
ums Herz. Schon so klein war das Knäuel nun ge-
worden, daß es auf dem Wege nicht mehr zu er-
kennen war, und der Faden lief auf dem Wege
aus. Andrej blickte auf, da steht ein Schloß vor
ihm. Er geht zur Treppe, zur vorderen.
Wie er an der Treppe ist, kommen die Stufen
herab zwei Mädchen zu ihm gelaufen, eine sieht
aus wie die andere, wie seine Jeletschka, aber er
wagte nicht, es zu sagen. Sie nehmen ihn bei der
Hand und führen ihn ins obere Stockwerk. Als sie
ihn hineingeführt hatten, legten sie sogleich kost-
bare Tischtücher auf, brachten Getränke, süße
Schnäpse und ausländische Weine herbei, gaben
ihm zu trinken, zu essen und legten ihn zum
Schlaf auf ein Daunenbett. Dann gingen sie.
Er schlief die ganze Nacht. Am Morgen kommen
sie um acht gelaufen und wecken ihn. Als er auf-
gestanden war, brachten sie ihm Wasser zum Wa-
schen und brachten ein Handtuch. Andrej wusch
sich natürlich. Dann reichen sie ihm das Hand-
tuch.
„Nein, Mädchen, ich habe ein Handtuch, mein
eigenes, für die Reise.“
Er holt sein Handtuch aus dem Reisesack;
kaum hatte er sein Gesicht mit dem Handtuch be-
deckt, da entriß ihm eins der Mädchen das Hand-
tuch und rannte davon. Und die andere hinterher.
Andrej blieb in großer Betrübnis stehen und
denkt:

323
„Was wird jetzt mit mir geschehen, warum hat
sie mir bloß befohlen, mich mit meinem eigenen
Handtuch abzutrocknen?“
Die Mädchen nun bringen das Handtuch zu ihrer
Mutter und sagen:
„Hört nur, Mutter, unser Schwager Andrej ist
gekommen.“
„Aha, weiß schon, weiß schon, weswegen er
gekommen ist.“
Es war nämlich ihr Handtuch. Deswegen also
hatte sie ihm befohlen, sich mit dem Handtuch
abzutrocknen, damit sie wüßten, wer er ist und
weswegen er kommt, deswegen hatte sie ihm
eben befohlen, sich damit abzutrocknen. Die Alte
sprang von ihrem Stuhl auf und geht zusammen
mit ihren Töchtern zu ihm:
„Guten Tag, Schwiegersohn!“
„Guten Tag, guten Tag, Mütterchen!“
„Ich weiß schon, weswegen du gekommen bist.
Der Zar will meine Jeletschka haben. Haha, das
wird ihm nicht gelingen, dir aber will ich bei dem
helfen, weswegen du gekommen bist; bleibe ein
paar Tage bei mir. Das hat er sich so gedacht, der
junge Zarewitsch, meine Jeletschka zu kriegen; er
soll das Nachsehen haben, mag er auch hundert
Jahre suchen, er wird sie nicht finden.“
Da setzte sich Andrej an den Tisch, begann zu
essen und beruhigte sich.
Jetzt sagt sie:
„Schön, Schwiegersohn, bleib drei Tage bei mir,
ich will mich ans Suchen machen.“

324
Und sie ging fort. Sie kommt also in ihr Zim-
mer, nimmt ihr Zauberbuch zur Hand und begann
nachzusehen, wo das Weiß-nicht-was ist. Sie sah
lange nach, warf das Buch beiseite und raufte sich
die Haare, konnte es nicht finden. Sie dachte lan-
ge, lange nach und sagt:
„Endlich hab ich’s!“
Sie nahm zwei Besen und flog fort durch die
Luft, flog einen Tag und eine Nacht, kam zurück
und hatte es nicht finden können. Sie nimmt ihr
Zauberbuch und beginnt wieder nachzusehen. Sah
nach, sah nach, konnte’s nicht finden, warf das
Buch beiseite und dachte nach. Dachte acht Stun-
den nach und sagte:
„Jetzt hab ich’s gefunden, jetzt weiß ich, wo es
ist. Großmütterchen Springbein lebt dreihundert
Jahre im Sumpf, sie wird es bestimmt wissen, ich
will doch zu ihr fliegen.“
Sie nimmt zwei Besen und fliegt fort. Als sie
zum Großmütterchen Springbein in den Sumpf
geflogen kam, fragte sie:
„Großmütterchen Springbein, weißt du, wo das
Weiß-nicht-was ist?“
„Das weiß ich“, sagt sie.
„Dann sag’s!“
„Nein, ich sag’s nicht. Ich werde’s dann sagen,
wenn du mich in gekochter Milch zum Feuerfluß
trägst, dann werde ich es dir sagen, aber vorher
sag ich’s nicht.“
Sie nimmt Springbein auf und trägt sie zu sich.
Nimmt einen Krug Milch und beginnt, sie zu ko-
chen. Als sie sie gekocht hatte, setzte sie dieses

325
Großmütterchen Springbein, es war aber eine
Kröte, hinein und geht zu ihrem Schwiegersohn.
„Nun, Schwiegersohn, zieh dich an, du mußt
reiten, ich will dir mein Pferd geben.“
Unser Jäger Andrej zog sich also an und führt
sein Pferd heraus. Die Alte sagt zu ihm:
„Flieg auf diesem Pferd bis zum Feuerfluß, am
Feuerfluß aber wird das Pferd schon nicht mehr da
sein, dann frag das Großmütterchen, wie du
weiterkommst.“
Als er nun am Feuerfluß ankam, war das Pferd
schon nicht mehr da. Allein der Krug war übrigge-
blieben, und er zog die Kröte Springbein an einem
Faden heraus. Als er sie herausgezogen hatte,
sagt sie zu ihm:
„Steig auf mich auf, Andrej, ehe es zu spät ist!“
Er aber sagt zu ihr:
„Was fällt dir ein, Großmütterchen, du bist ja so
klein, ich werde dich zerdrücken.“
„Los, steig auf!“
Lange sperrte er sich, stieg nicht auf, schließlich
aber:
„Na schön, ich werde aufsteigen.“
Er stieg auf, die Kröte aber ging in die Höhe,
immer höher, wurde größer als der Wald und
saugte ihn ganz in sich hinein, nur der Kopf war
noch zu sehen. Dann sagte sie:
„Nun halt dich schön fest!“
Die Kröte machte einen Satz und sprang über
den Feuerfluß. Sie ließ ihn heraus. Er fragt sie:
„Großmütterchen, wo ist denn nun das Weiß-
nicht-was?“

326
„So ist’s recht, wenn du nicht gefragt hättest,
hättest du’s auch nicht erfahren. Jetzt will ich’s dir
sagen.“
Und das Großmütterchen beginnt:
„Höre nun, wo das Weiß-nicht-was wohnt: geh
diesen Weg, er wird dir freilich lang erscheinen,
aber geh nur! Du wirst ein Haus – kein Haus se-
hen, eine Scheune – keine Scheune, einen Raum
– keinen Raum. Geh hinein, das Haus ist ganz und
gar leer und zerfallen, nur ein Ofen steht darin.
Geh in dieses Haus und stell dich hinter den Ofen.
Es werden zwei Burschen kommen und sagen:
‚Schwager Naum6, zu trinken und zu essen!’ Mu-
sikinstrumente werden zu spielen beginnen, und
perlenbestickte Tischtücher, Getränke, süße
Schnäpse und ausländische Weine werden er-
scheinen. Du aber bleib stehen, bis sie weggehen
und das Zimmer ganz leer ist. Dann komm hervor
und sage: ‚Schwager Naum, zu trinken und zu es-
sen!’ Und du wirst ganz das gleiche bekommen.
Wenn du beim Trinken und Essen bist, lade auch
den Schwager Naum zu einem Gläschen ein. Dann
wird er dich nie mehr verlassen. Das wird das
Weiß-nicht- wer sein.“
Das alles sagte das Großmütterchen Spring-
bein. Er bedankte sich bei ihr und machte sich auf
den Weg. Lange zieht er so dahin, und schließlich
sah er: ja, ein Haus – kein Haus, eine Scheune –
keine Scheune. Er geht hinein – es ist ganz und

6
Naum – zweisilbig mit Betonung der zweiten Silbe zu
sprechen: Naúm. (Anm. d. Übers.)

327
gar leer und zerfallen, nur ein Ofen steht darin,
und auf einmal sieht er, es kommen zwei junge
Männer und sagen sogleich:
„Schwager Naum, zu trinken und zu essen!“
Und von irgendwoher erschienen perlenbestick-
te Tischtücher, Getränke, süße Schnäpse und aus-
ländische Weine, und das Zimmer veränderte
sich, sah ganz anders aus. Als sie nun gegessen
hatten und fortgegangen waren, war das Zimmer
wieder leer. Da kommt Andrej hinter dem Ofen
hervor. Als er hinter dem Ofen hervorgekommen
war, sagte er:
„Schwager Naum, zu trinken und zu essen!“
Und es geschah ihm das gleiche, perlenbestick-
te Tischtücher erschienen, Getränke, süße
Schnäpse, ausländische Weine und auch ein Wod-
ka und ein Gläschen und alles, was das Herz be-
gehrt. Da setzte er sich an den Tisch, begann zu
essen und sagt:
„Schwager Naum, kann ich nicht noch ein zwei-
tes Gläschen haben?“
Schwager Naum reicht ihm ein zweites Glä-
schen.
„Schwager Naum, laß dich von mir, dem Wan-
dersmann, mit dem zweiten Gläschen bewirten.“
Als Schwager Naum das Gläschen ausgetrunken
hatte, sagte er:
„Jäger Andrej, du hast mich mit einem Glä-
schen bewirtet, nun gehe ich nie mehr von dir
fort. Ich habe die zwei Dummköpfe dreißig Jahre
gefüttert, aber noch keine verbrannte Brotrinde
von ihnen zu sehen bekommen.“

328
„Schwager Naum, zeig dich l“
„Nein“, sagt der, „ich bin ein Geist, den nie-
mand sehen kann. Ich bin Weiß-nicht-wer.“
Andrej also trank und aß und brach auf.
„Nun, wie steht’s, Schwager Naum, kommst du
mit?“
„Natürlich, ich bleibe immer bei dir.“
„Wohin?“
„Laß uns nur gehen.“
Lange zog Andrej seinen Weg und fragte immer
wieder:
„Schwager Naum, bist du da?“
„Bin da. Ich gehe nie von dir fort.“
Schließlich kommt Andrej ans Meer. Als er am
Meer ist, sagt er:
„Schwager Naum, und wohin gehen wir jetzt?“
„Warte, Andrej, gleich kommt ein Schiff, mit
dem werden wir fahren.“
Auf einmal kommt irgendwoher ein Schiff ge-
fahren, ein Boot legt an und bringt ihn zum Schiff.
Er fragte:
„Schwager Naum, bist du da?“
„Bin da, bin da; ich gehe nie von dir fort.“
Nun, auf dem Schiff war keine Menschenseele,
waren keine Leute.
„Was heißt das, Schwager Naum, wir haben
keine Leute, wer von uns wird steuern, wir haben
weder Steuerleute noch Matrosen.“
Da sagte Schwager Naum:
„Leg dich schlafen, ich komme schon alleine zu-
recht.“

329
Also legte sich Andrej hin, schlief ein wenig,
steht auf. Schwager Naum sagt zu ihm:
„Nun, Andrej, wir werden an eine Insel kom-
men, und an dieser Insel werden wir aussteigen,
das heißt, uns dort ansiedeln.“
Sie kommen also zu dieser Insel, sogleich wird
vom Schiff ein Boot heruntergelassen und bringt
sie auf die Insel; das Schiff aber war schon ver-
schwunden. Sie betreten also die Insel. Die Insel
stand im Meer. Schwager Naum sagt:
„Hör zu, Andrej, auf dieser Insel werden wir ein
Schloß bauen und es mit Gärten umgeben. An der
Insel werden drei Schiffe vorbeifahren, die werden
uns besuchen kommen.“
Schwager Naum baute also sogleich ein Schloß,
legte ringsum Gärten an, und von nun an lebten
sie dort. Und Schwager Naum sagt zu ihm:
„In zwei Tagen werden drei Schiffe hierher
kommen. Die haben so etwas Seltsames noch
nicht gesehen; dreißig Jahre fahren sie an dieser
Stelle vorbei und haben nie eine Behausung gese-
hen. Sie werden gerade hier haltmachen und zu
uns kommen. Die Kapitäne auf diesen Schiffen
haben drei Wunderdinge, die wir im Tausch gegen
mich an uns bringen müssen. Sie werden einver-
standen sein, aber ich gehe nie von dir fort. Wenn
wir ihnen zu trinken und zu essen gegeben haben,
machen wir sie ein wenig betrunken, sie werden
mit ihren Wunderdingen prahlen und dich fragen:
,Was ist das bei dir für ein Schwager Naum?’“

330
Wirklich vergeht einige Zeit, und es kommen
drei Schiffe gefahren. Alle liefen zusammen und
wunderten sich:
„Was ist denn das, dreißig Jahre fahren wir
schon, ein solches Wunder haben wir noch nicht
gesehen. Jemand ist hierhergekommen, hat ein
Schloß erbaut, das müssen wir uns ansehen!“
Sie machten also halt, alle drei Schiffe zusam-
men; alle Kapitäne mit ihren Matrosen und Steu-
erleuten ließen Boote herab und fuhren an Land.
Als sie angelegt hatten und das Schloß betraten,
empfing sie Andrej der Jäger und sagte:
„Schwager Naum, zu trinken und zu essen, die
Seeleute bewirten!“
Und es erschienen perlenbestickte Tischtücher,
Getränke, süße Schnäpse und ausländische Wei-
ne.
Das alles war getan. Die Gäste setzten sich zu
Tisch. Als sie Schnaps zu trinken begannen, be-
kamen sie einen ordentlichen Rausch. Da begin-
nen sie nun, ihn zu fragen:
„Jäger Andrej, was ist das bei dir für ein
Schwager Naum? Was ist das für ein Mensch, und
hast du dich schon lange hier auf der Insel ange-
siedelt?“
Da sagt er zu ihnen:
„Das ist Schwager Naum – mein Freund, er
führt alle meine Befehle aus, und wo immer wir
uns ansiedeln wollten, dorthin würde ich mit ihm
fahren.“
„Und was für ein Mensch ist er, könnte man ihn
nicht einmal zu Gesicht bekommen?“

331
„Ich weiß nicht. Ich habe ihn selber noch nicht
gesehen; er ist ein Geist, den niemand sehen
kann.“
Als sich die Gäste vollgetrunken hatten, began-
nen sie zu prahlen. Der eine Kapitän sagt:
„Ja, Andrej, ich habe auch ein Wunderding;
wenn es mir einfällt, habe ich da ein Beil und sage
zu einem Baum: ‚Beil, ruck-zuck, werd’ zum Schiff
im Flug!’ Und im gleichen Augenblick geschieht’s.“
Da begann der zweite Kapitän zu sprechen:
„Ja, das ist ja ganz schön, aber ich habe einen
Säbel. Wenn ich ans Ufer komme und schlage
über das Wasser hin, entsteht eine kristallene
Brücke. Schlage ich quer zum Wasser, geschieht
nichts. Und wenn ich ein Schloß bauen will, da
gehe ich auf einen schönen Platz, fahre dreimal
mit dem Säbel im Kreise herum und mache ein
Schloß, wie immer ich es haben will.“
Da sagt der dritte Kapitän zum zweiten:
„Ich habe ein schönes Ding. Es ist so ein kleines
Rohr; wenn ich aufs Feld hinausgehe und pfeife,
entsteht ein großes Heer, und was ich befehle,
das tun sie.“
Als alle Kapitäne alle ihre Geschichten erzählt
haben, sagt Schwager Naum zu Andrej, flüstert
ihm ins Ohr:
„Höre, Jäger Andrej, gib mich zum Tausch; alle
diese Dinge brauchen wir, und ich gehe nie von
dir fort; sie werden einverstanden sein.“
Darauf sagt Andrej der Jäger zu den Kapitänen:

332
„Hört zu, Kameraden Kapitäne, laßt uns einen
Tausch machen, ich gebe euch den Schwager
Naum und ihr mir alle diese Dinge.“
Die Kapitäne überlegten eine Weile, besprachen
sich untereinander und sagten schließlich:
„Ist recht.“
Und so hatten sie beschlossen:
„Kameraden, wir wollen es so machen: Wir ge-
hen nach Hause, bringen unsere Frauen her und
werden auf der Insel leben; Schwager Naum wird
uns versorgen, und wir brauchen nicht zu arbei-
ten.“
Sogleich brachen sie zu den Schiffen auf, ihre
Dinge zu holen. Als sie auf den Schiffen ange-
kommen waren, nahmen sie die Dinge und fuhren
wieder an Land. Unterdessen aber sagt Schwager
Naum zu Andrej:
„Wenn sie wiederkommen, nimm sie in Emp-
fang und mach sie betrunken; selber aber nimm
ihre Dinge an dich und geh ans Ende der Insel.“
Wie sie also wiederkommen, diese Kapitäne,
setzten sie sich zu Tisch, und es begann ein
Trinkgelage. Die Kapitäne geben ihm ihre Dinge,
er aber sagt zu Schwager Naum:
„Nun, Schwager Naum, bleib du jetzt bei den
Kapitänen und diene ihnen, wie du mir gedient
hast; ich gehe jetzt fort.“
Er verabschiedete sich, nahm die Dinge in Emp-
fang und ging.
Ein Stück war er gegangen, da sagte er:
„Schwager Naum, bist du da?“

333
„Ich bin schon lange bei dir. Aber warte etwas,
sie werden noch ein wenig trinken und dann ein-
schlafen. Aufwachen werden sie auf nacktem
Stein, anderes wird dort nicht mehr sein.“
Die Kapitäne tranken, bis sie einschliefen. Sie
wachten auf, sprangen in die Höhe und waren auf
nacktem Stein zurückgeblieben; nichts war mehr
da, weder das Schloß noch die Gärten. Und von
Andrej keine Spur.
Als Andrej ans Ende der Insel kam, fragt er
Schwager Naum:
„Nun, Schwager Naum, was werden wir tun?“
„Das solltest du jetzt selber wissen; hast du das
Beil?“
„Ja.“
„Nun, dann bau ein Schiff!“
Andre] suchte rasch einen Baum aus und tat
einen Schlag mit dem Beil:
„Nun, ruck-zuck, werd’ zum Schiff im Flug!“
Im gleichen Augenblick war das Schiff fertig
und lag schon auf dem Wasser. Jetzt sagt er:
„Nun, Schwager Naum, wie kommen wir jetzt
aufs Schiff?“
„Nun, du hast doch ein Ding?“
Er nimmt den Säbel, schlug über das Wasser
hin, und es entstand eine Brücke. Sie gingen zum
Schiff hinüber. Er schlug quer, nahm die Brücke
fort, und sie fuhren auf dem Schiff davon.
Sie fuhren nun lange oder kurze Zeit, niedrig
oder hoch, nah oder fern und fahren und fahren
die ganze Zeit. Andrej kommt in eben das Land,
aus dem er ausgezogen war, und sieht: es ist’s.

334
Als sie am Ankerplatz angekommen sind, nimmt
Andrej den Säbel, schlug über das Wasser hin,
und es entstand eine Brücke. Die betraten sie und
gingen an Land. Als sie am Ufer waren, gehen sie
durch die Stadt, und Andrej geht zu den Häusern,
wo sein Zimmer gewesen war. Als er hinsah und
sich die Stelle betrachtete, da war alles niederge-
brannt, und das Gras war schon darauf gewach-
sen. Da blickte er auf und sagte:
„Nun, meine Jeletschka ist also tot, verbrannt
hat sie der Wahnsinnige.“
Da wußte Andrej nicht, was er tun sollte. Er
fragte also den Schwager Naum:
„Schwager Naum, und was werden wir jetzt
tun?“
Schwager Naum antwortete ihm:
„Bau ein Haus, und deine Jeletschka wird sich
finden.“
Da nimmt Andrej der Jäger den Säbel, dreht
sich mit ihm einmal im Kreis herum und sagt:
„Nun, ein Schloß soll mir gebaut werden, noch
dreimal schöner als das des Zaren.“
Und im gleichen Augenblick war das Schloß er-
baut, mit einer Aufschrift aus Silber: „Jäger An-
drejs Haus“.
Als er sah, daß das Schloß so herrlich gebaut
war, ging er voll Freude ins obere Stockwerk und
lief durch alle Zimmer. Schließlich kam er ins
Schlafzimmer. Als er im Schlafzimmer war, zog er
den Vorhang beiseite und sieht, Jeletschka schläft
auf dem Bett. Er weckte sie, sie öffnete die Au-
gen, sprang auf, küßte ihn ab und sagte:

335
„Bist du’s, den ich sehe, mein lieber Jäger An-
drej?“
„Ich bin’s“, antwortete er. „Komm gleich mit in
den Saal, wir wollen ein Begrüßungsessen veran-
stalten, und ich werde von meiner Fahrt erzäh-
len!“
Als sie den Saal betreten hatten, setzten sie
sich zu Tisch, und sie fragte:
„Nun, Jäger Andrej, hast du das Weiß-nicht-was
gefunden?“
Er sagt:
„Ja.“
Dann sagt Andrej:
„Los, Schwager Naum, zu trinken und zu essen;
wir wollen lustig sein; versorge dich, mich und
meine Frau.“
Da fragt sie:
„Schwager Naum, wer bist du, zeig dich mir!“
„Nein, schöne Jelena, ich habe mich seit meiner
Geburt niemandem gezeigt. Ich bin ein Geist,
niemand kann mich sehen, ich bin das Weiß-
nicht-was.“
Sie fragte nicht mehr. Jetzt fragt Andrej:
„Wie steht’s, Schwager Naum, was werden wir
jetzt tun? Willst du zum Zaren gehen oder bei mir
bleiben?“
Schwager Naum antwortet:
„Nein, Andrej, zum Zaren gehe ich nicht, der
Zar hat mich nicht gefunden, sondern gefunden
hast du mich, Jäger Andrej, und dir werde ich die-
nen, mit dem Zaren aber werden wir anders ab-
rechnen.“

336
Und Schwager Naum sagt zu ihm:
„Höre, Andrej, nimm das kleine Rohr, das wie
eine Tabakspfeife aussieht, und komm mit aufs
Feld. Wenn wir auf dem freien Feld sind, pfeife
einmal!“
Andrej nimmt das Rohr und geht hinaus aufs
freie Feld.
Als er auf dem Felde war, pfiff er sogleich auf
dem Rohr. Und es ergoß sich ein so großes Heer,
wie er es noch nie gesehen hatte; es wurde weder
kleiner noch größer. Die Hauptatamane kommen
zu ihm herangesprengt und verneigen sich bis
zum Gürtel.
„Was wünschst du, Jäger Andrej?“
Er weiß nicht, was er ihnen sagen soll. Da sagt
Schwager Naum zu Andrej:
„Befiehl ihnen, leere Granaten in die Stadt zu
feuern, und laß den Zaren herausrufen, oder er
soll ein Heer schicken.“
Als der Zar die Schreckensbotschaft hörte, ver-
lor er den Kopf und weiß nicht, was er tun soll. Er
schickt fünfundzwanzig Mann Soldaten, zu erkun-
den was los ist, was sie wollen und was für ein
Heer gekommen ist. Als diese Soldaten ankamen,
fragt Andrej:
„Schwager Naum, was sollen wir mit diesen
Soldaten machen?“
„Folgendes: zwanzig Mann mit den Haaren am
Gras festbinden und fünf zurücksenden: schick
uns nicht so wenig, schicke entweder ein Heer
oder komm selbst.“

337
So machten sie es auch: zwanzig banden sie
fest, und die übrigen schickten sie mit der Ant-
wort zurück. Als die Soldaten zum Zaren zurück-
kamen und die Schreckensbotschaft berichteten,
wurde der Zar sehr nachdenklich: was sollte er
tun? Schließlich beschloß er, selbst hinauszurei-
ten. Als der Zar auf das Feld kam, sah ihn Andrej
der Jäger, und er sagt zum Schwager Naum:
„Schwager Naum, was wollen wir jetzt mit dem
Zaren anfangen?“
Antwortet Schwager Naum:
„Ich meine, man sollte sehr einfach mit ihm
verfahren: ihn hinrichten, und du wirst Zar.“
Andrej antwortet:
„Nein, Schwager Naum, hinrichten will ich ihn
nicht, will nicht des Bösen gedenken, sondern lie-
ber etwas anderes mit ihm machen und hören,
was er sagt.
Als der Zar zu Andrej dem Jäger kam, erschrak
er sehr und bat um Gnade.
„Jäger Andrej, mach mit mir, was du willst, nur
schlag mir nicht den Kopf ab.“
Und er erblickte das riesige Heer.
„Ich will nichts von dir haben, nichts, was du
gebracht oder nicht gebracht hast, ich will nichts
haben, nur laß mich am Leben!“
„Nun gut.“
„Ich will dir meinen Thron übergeben, besteige
den Thron, ich trete ab.“
Da sagte er zum Zaren:
„Nun gut, ich lasse dir das Leben, aber du sollst
vierzig Jahre Hirte sein.“

338
Darauf pfiff er zweimal in sein Rohr, und das
Heer war verschwunden.
Dann gingen sie in den Palast des Zaren. Der
Zar übergibt ihm in Ruhe alle Geschäfte und ging
selbst unter die Hirten.
Da bestieg Andrej der Jäger den Thron und be-
gann Hochzeit zu feiern.
Als die Hochzeit zu Ende war, regierte er das
Zarenreich bis in sein hohes Alter.

339
34
Als sich Mücke und Fliege bekriegten
Mücke und Fliege bekriegten sich. Die Mücke biß
die Fliege und die Fliege die Bremse. Die Bremse
aber stach die Hornisse und die Hornisse den
Sperling. Und es bekriegten sich alle Insekten,
Vögel und Tiere. Das war der Vogel- und Tier-
krieg.
In einem kleinen Dorf lebte einmal ein armer,
armer Jäger. Einmal nun kam es ihm in den Sinn,
weit weg, in einem großen tiefen Wald auf Jagd zu
gehen. Als er in den tiefen Wald kam, sieht er:
Auf drei riesigen Eichen sitzt ein Vogel mit aufge-
sperrtem Rachen, so groß wie ein riesiges Haus.
Der Jäger erschrak sehr über diesen Riesenvogel
und denkt: „Er wird mich mitsamt meinem Ge-
wehr verschlingen.“ Dann aber besann er sich:
„Ich bin doch ein Jäger! Wovor habe ich denn
Angst! Ich werde ihn einfach ins Maul schießen,
und vielleicht töte ich ihn sogar.“
Er nahm sein Gewehr und zielte dem Vogel ins
Maul. Und gerade, als er den Hahn abdrücken
wollte, begann der Vogel auf einmal mit Men-
schenstimme zu sprechen und sagte: „Jäger,
schieß nicht auf mich!“ – „Und warum nicht?“ –
„Ich will dir viel erlegtes Wild geben.“ – „Nun, her
damit!“ Und der Vogel zeigte ihm das Wild. Als er
dieses Wild zusammengetragen und die Felle ab-

340
gezogen hatte, wurde er mit einem Male ein rei-
cher Mann. Aber weil die Leute vom Gelde nie ge-
nug kriegen können, ging er wieder an jene Stel-
le, ob nicht vielleicht der Vogel noch dort sitzt.
Als er an die Stelle kam, saß der Vogel wirklich
dort. Und wieder zielte er, und der Vogel sagt zu
ihm: „Jäger, schieß nicht auf mich!“ Er antwortet
ihm: „Warum nicht?“ – „Schieß nicht auf mich, ich
will dir viel erlegtes Wild geben.“ – „Nun, her da-
mit!“ Und der Vogel zeigte ihm doppelt so viel wie
beim erstenmal. Mit Hilfe der Nachbarn und ande-
rer Leute trug er all diese kostbaren Tiere zu-
sammen, zog die Felle ab und verkaufte sie. Da
wurde er schon ein sehr reicher Mann. Aber weil
die Leute vom Gelde nie genug kriegen können,
beschloß er, ein drittes Mal hinzugehen: „Viel-
leicht gibt mir der Vogel noch einmal?“ Als er das
dritte Mal hinkam, saß der Vogel wirklich noch
immer auf den drei riesigen Eichen. Und wieder
zielte er. Und gerade, als er den Hahn abdrücken
will, sagt der Vogel zu ihm: „Jäger, schieß nicht
auf mich!“ – „Und warum nicht?“ – „Schieß nicht
auf mich, ich will dir viel erlegtes Wild geben.“
Und der Vogel zeigte ihm so viel, daß es einigemal
mehr war als beim ersten Mal. Und dann sagte er
zu ihm: „Jäger, du sollst mich für drei Jahre zur
Erholung als Gast aufnehmen. Du siehst, wieviel
von allem möglichen Getier hier liegt, und alles
habe ich erlegt. Ich bin der Vogel-Zar. Ich brau-
che nicht viel: jeden Tag vierzig Eimer Wasser
und sechzig Pud Fleisch. Und wenn du mich nicht
aufnimmst, dann fresse ich dich.“ Dem Jäger war

341
der Gast nicht so ganz nach dem Herzen, aber es
gab keinen Ausweg, und er lud ihn zu sich zu
Gast. Und Leute dingte er nicht nur aus seinem
eigenen Dorf, sondern auch aus allen umliegen-
den Dörfern, und er ließ einen riesigen Kübel ma-
chen, in dem er das Fleisch einsalzte, das er auf
dem Schlachtfeld gesammelt hatte, das von dem
Vogel erlegte, und er lagerte es in tiefen Gruben
mit Quellwasser, wo es sich gut hielt, und so füt-
terte er den Vogel drei Jahre hindurch. Und der
Vogel sagt zu ihm: „Nun, Jäger, bitte ich dich, drei
Jahre mein Gast zu sein.“ Der Jäger verspürte
zwar nicht allzuviel Lust, aber er konnte nichts
machen. Er entschloß sich, Gast des Vogels zu
sein. Der setzte ihn auf seinen riesigen Rücken
wie auf ein weiches Federbett, und los ging’s, hö-
her als die Wolken am Himmel. Der Vogel flog mit
ihm davon. Und als sie in eine steinige Steppe
hineinflogen, warf er den Jäger ab und ließ ihn
fallen. Der fliegt und denkt: „Ich werde mich wohl
auf diesen schrecklichen Steinen zu Tode stürzen,
und niemand wird meine Knochen begraben.“ Und
gerade als er auf die Erde fallen wollte, hielt ihm
der Vogel seinen Rücken hin, und er fiel weich wie
auf ein Federbett und hatte nicht den geringsten
Schaden genommen. Dann flog der Vogel über
dunkle, undurchdringliche Wälder, und wieder
warf er den Jäger ab und ließ ihn über diesem
dunklen tiefen Wald fallen. Der Jäger erschrak na-
türlich tüchtig und denkt: „Ich werde in diesen
tiefen Wald fallen, und niemand wird mich finden,
und die wilden Tiere werden nicht nur mein

342
Fleisch, sondern auch meine Knochen fressen und
keine Spur von mir zurücklassen.“ Und gerade als
er in den Wald fallen will, setzt sich der Vogel auf
die Baumwipfel, die sich unter seiner Last bogen,
und hält ihm seinen Rücken hin, und er fällt weich
wie auf ein Federbett. Dann stieg der Vogel wie-
der empor, höher als vorher, und flog über einen
großen Ozean, und er stieg so hoch, daß dem Jä-
ger das Meer wie eine Tasse Wasser erschien. Und
wieder ließ er ihn fallen, genau über dem tiefen
Meer; das Meer hatte einen Wirbel, wenn ein
Schiff dorthinein geraten wäre, es wäre in tausend
Stücke gegangen. Der Jäger fliegt und denkt:
„Nun, jetzt falle ich in dieses Meer, und niemand
wird je etwas von mir hören oder eine Spur von
mir finden. Die anderen Male hätte vielleicht noch
zufällig einer vorbeikommen und wenigstens mei-
ne Knochen finden können, jetzt aber falle ich ins
Wasser, und die Raubfische werden mich ver-
schlingen, und es wird auch nicht die geringste
Spur von mir übrigbleiben.“ Und gerade, als er ins
Wasser fallen wollte, hielt ihm der Vogel plötzlich
seinen Rücken hin, und er fiel weich wie auf ein
Federbett, heil und gesund. Da fragt ihn der Vo-
gel-Zar: „Nun, Jäger, bist du erschrocken?“ – „Ja,
sehr erschrocken, wie hätte ich nicht erschrecken
sollen, war ich doch schon beinahe ins Meer gefal-
len.“ – „Genauso war ich erschrocken, denn ich
war ja auch nur um Haaresbreite vom Tode ent-
fernt. Denn wenn du nur den Abzughahn berührt
hättest, wäre der Schuß losgegangen, und ich wä-
re nicht mehr am Leben. Jetzt sind wir quitt, du

343
hast mich dreimal erschreckt und ich dich auch.
Mehr werde ich dich nicht erschrecken.“ Als sie
den großen Ozean überflogen hatten, fragt der
Vogel den Jäger: „Jäger, sieh dich um, ist nichts
zu sehen?“ Er sah sich um und sagte: „Ich kann
nirgends etwas sehen, nur dort rechter Hand sehe
ich etwas wie einen Feuerschein.“ – „Genau dort-
hin müssen wir fliegen, das ist mein Schloß.“ Als
sie zum Schloß des Vogels kamen, da war es ein
Kristallschloß, und das Dach war aus Gold, es
glänzte wie ein Spiegel, und von weitem sah es
aus wie Feuerschein. Und rings um das Schloß
war ein herrlicher Garten mit verschiedenen Obst-
bäumen; manche Bäume blühten, und an man-
chen hingen nicht einfache Früchte und Äpfel,
sondern goldene, und überall sangen und jubilier-
ten paradiesische Vögel und spielte eine sehr lu-
stige Musik, ohne Musikanten. Und woran der Jä-
ger auch nur denken mochte, alles erschien vor
ihm. Und er bekam solche Wunderdinge zu Ge-
sicht, wie er sie noch nie gesehen hatte, ja, es
war ihm nicht einmal eingefallen, so etwas zu
denken (wie es mir in Moskau gegangen ist). Und
der Jäger vergaß sogar seine liebe Heimat und
seine liebe Frau. Und er merkte nicht, wie die drei
Jahre vergingen. Und der Vogel sagt zu ihm:
„Nun, Jäger, es ist für dich an der Zeit, nach Hau-
se zu gehen, du bist drei Jahre bei mir zu Gast
gewesen.“ – „Wozu erzählst du solche Märchen?
Ich bin insgesamt nur drei Wochen bei dir zu Gast
gewesen.“ – „Nein, Jäger, du könntest das ganze
Leben bei mir verbringen und würdest es nicht

344
merken, weil das Leben bei mir zu kurzweilig und
lustig für dich ist.“ Als der Vogel ihn an die Heimat
erinnerte, besann er sich: „Ich kann ja jetzt auch
zu Hause ein sehr schönes Leben führen, weil ich
ein reicher Kaufmann geworden bin.“ Und erst da
entsann er sich seiner lieben Frau, und der Vogel
sagt zu ihm: „Ich gebe dir dieses alte verrostete
Kästchen zum Geschenk, an dem ein verrostetes
Schlüsselchen hängt, aber merke dir, ehe du zu
Hause bist, darfst du’s nicht aufschließen und
nicht öffnen, wenn du es aber aufschließt und
nicht alles wieder hineintust, wirst du eines
schrecklichen Todes sterben.“ Und er setzte den
Jäger auf seinen Rücken, brachte ihn fast bis zu
seinem Hause und setzte ihn im Walde ab. Das
war an die fünfzig Werst vom Hause entfernt. Als
sich der Jäger seinem Dorfe näherte – es fehlten
noch an die fünf Werst – sah er eine sehr schöne
Waldwiese, wo er ausruhen wollte, weil er sehr
müde war. Er liegt da und denkt: „Was schleppe
ich da für ein Kästchen, was ist darin? Der Vogel
hat mir verboten, es aufzuschließen. Ich will doch
einmal nachsehen.“ Und kurzerhand schloß er das
Kästchen auf und öffnete es. Aus dem Kästchen
kamen alle möglichen Insekten geflogen, und
darauf kam Großvieh: Ochsen und Kühe, und es
wurde eine so riesige Herde, daß man sie nicht
zählen konnte; danach breitete sich ein Markt
aus, und aller möglicher Handel wurde getrieben,
und die Kaufleute mit den verschiedensten Waren
schrien: „Kaufmann, hol dir dein Geld!“ Aber ihm
stand der Sinn nicht nach Geld, er saß da und

345
dachte: „Wie soll ich eine so unermeßliche Menge
in das Kästchen bringen?“ Und er begann bitter-
lich zu weinen. „Ich muß auf der Stelle eines
schrecklichen Todes sterben.“ Da kommt auf ein-
mal irgendwoher ein alter Mann mit einem großen
grauen Bart, und seine Nase war aus Gußeisen.
Der fragt: „Warum bist du so betrübt, guter Mann,
und weinst so bitterlich?“ – „Wie sollte ich nicht
weinen, Großvater? Ich habe dieses Kästchen hier
vor der Zeit aufgeschlossen, es ist ein Geschenk
vom Vogel-Zar, und er hat mir aufgetragen, es
erst zu Hause zu öffnen. Ich habe es aber nicht
ausgehalten, es aufgeschlossen und geöffnet. Er
hat mir gesagt, wenn du’s aufschließt und nicht
alles wieder hineintust, wirst du eines schreckli-
chen Todes sterben.“ – „Was gibst du mir? Ich
werde alles einsammeln und in das Kästchen le-
gen.“ – „Was du haben willst, das nimm, mir ist
nichts zu schade für dich.“ – „Je nun, ich brauche
im übrigen nicht viel. Gib mir nur das, was du zu
Hause nicht kennst.“ Der Jäger dachte nach und
nochmals nach: „Was ich zu Hause nicht kenne?
Alles kenne ich, obwohl ich drei Jahre nicht zu
Hause war. Und wenn ich schon etwas nicht ken-
ne, dann ist es nichts Wichtiges.“ Und er schrieb
ihm ein Papier und sagte: „Mach am kleinen Fin-
ger der rechten Hand einen Schnitt und unter-
schreibe mit deinem Blut: Ich gebe dir, was ich zu
Hause nicht kenne, in fünfzehn Jahren.“ Und der
Alte flüsterte irgend etwas, und alles wurde klein
wie ein Pünktchen: Insekten, Kühe, Ochsen und
Markt – alles ging in das Kästchen hinein. Und der

346
Zar-Wassermann, das Großväterchen, machte es
zu, verschloß es und gab den Schlüssel dem Jäger
zurück. Als der nach Hause kam, war die Freude
seiner Frau unbeschreiblich; sie lief ihm mit ihrem
drei Jahre alten blonden Jungen entgegen. Da erst
entsann sich der Jäger, daß er vergessen hatte,
daß er seine Frau schwanger zurückließ.
Ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber in
Wirklichkeit nicht bald getan. Ihr Sohn wuchs her-
an und wurde ein tüchtiger, hübscher und kluger
Bursche. Er lernte lesen und schreiben und ver-
schiedene Sprachen. Und nun waren genau fünf-
zehn Jahre vergangen, seit der Jäger bei dem Vo-
gel zu Gast gewesen und zurückgekehrt war, und
es war an der Zeit, Kolja dem Großvater Wasser-
mann zu übergeben; und die Eltern jammerten
um ihn, härmten sich und weinten bitterlich. Kolja
aber bemerkte ihren Kummer und fragte: „Warum
weint ihr, Väterchen und Mütterchen? Was fehlt
euch? Es scheint, wir haben alles in Fülle, ihr aber
seid, wie ich sehe, traurig und weint immer. Seid
ihr vielleicht krank?“ Doch sie antworteten ihm:
„Das hat nichts auf sich, wir haben nichts Beson-
deres.“ Aber er glaubte ihnen nicht: „Ihr verbergt
irgendein Geheimnis vor mir. Wir leiden keine
Not. Geld haben wir viel. Nicht nur wir haben ein
schönes Leben, sondern auch all unsere Nach-
barn, sogar die Nachbardörfer, weil wir nieman-
dem eine Bitte abschlagen, keinem Armen, ihr
aber weint und jammert immer!“ Und einmal nun,
als der Vater nicht da war, fragte Kolja die Mutter.
Die Mutter aber konnte nicht mehr widerstehen

347
und sagte ihm das Geheimnis, daß „der Vater dich
einem Großvater Zar-Wassermann gegeben hat,
als er nicht wußte, daß ich dich habe.“ – „Aber
warum weint und jammert ihr dann um mich? Das
ist eben mein Schicksal. Trockne mir Zwieback,
und ich will mich auf den Weg machen. Wo soll
ich ihn aber suchen?“ Der Vater sagte zu ihm:
„Geh nur nach Westen. Er hat mir gesagt, wohin
du auch gehst, du gelangst zum Ziel, wohin du
auch fährst, du gelangst zum Ziel. Und wenn du
ihn suchst, wirst du ihn finden.“
Kolja nahm also Abschied von seinen Eltern und
machte sich auf, den Großvater Zar-Wassermann
zu suchen. Ein Märchen ist bald erzählt, aber Kol-
jas Reise ging nicht so bald vonstatten. Schließlich
aber gelangte er in einen dunklen, undurchdringli-
chen Wald. Lange ging er durch diesen dunklen
tiefen Wald. Als ihm schon alle Eßvorräte ausge-
gangen waren und er solchen Hunger hatte, daß
er fast am Umfallen war, sieht er plötzlich nicht
weit ein Licht. Er ging auf dieses Licht zu, da
stand eine Hütte auf Hühnerbeinen und drehte
sich mit Blitzesschnelle im Kreise. Er sagt zu ihr:
„Hütte, Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich
zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der
Vorderseit!“ Und die Hütte blieb sogleich stehen.
Er geht in die Hütte hinein, darin saß eine alte,
steinalte Baba-Jagá. Sobald die ihn gesehen hat-
te, sagte sie: „Von Menschenfleisch bekommt man
nichts zu riechen und nichts zu sehen, jetzt aber
ist Menschenfleisch von selbst zu mir ins Haus ge-
kommen. Ich werde dich gleich fressen!“ – „Halt

348
ein, alte Kröte! Ich bin vom Wege staubig,
schmutzig und verschwitzt, du kannst an mir er-
sticken. Du solltest aber nicht so mit mir umge-
hen: solltest mir zuerst zu trinken und zu essen
geben und fragen, wohin gehst du, wackerer
Held, wohin führt dich dein Weg, gehst du aus ei-
genem Willen oder gezwungen?“ Die Hexe wun-
derte sich über diese furchtlose Antwort und ver-
schonte ihn. Sie gab ihm zu trinken und zu essen
und öffnete die Tür zum anderen Zimmer, wo es
heiß und voller Dampf war. Er wusch sich. Sie gab
ihm saubere Wäsche, er zog sich um, und darauf
sagt sie zu ihm: „Nun, Kolja, du hast es verpaßt,
zu deinem Großvater Zar-Wassermann zu gelan-
gen. Er war vorgestern bei mir und hat zu Mittag
gegessen und nach dir gefragt, ob du vielleicht
vorbeigekommen bist.“ – „Dann sag bitte, wo
wohnt er denn? Ich bin rechtzeitig von zu Hause
weggegangen und kann überhaupt nicht heraus-
bekommen, wo er wohnt.“ – „Ich weiß ja nicht,
wo er wohnt, vielleicht weiß es meine ältere
Schwester.“ – „Und wo wohnt deine ältere Schwe-
ster?“ – „Ich gebe dir ein Knäuel Roll-von-selbst.
Wohin es rollt, folge ihm. Wenn du haltmachen
mußt, bleib stehen, und das Knäuel bleibt auch
stehen. Und es wird dich zu meiner älteren
Schwester führen. Weil die aber noch böser ist als
ich, gebe ich dir ein Taschentuch. Wenn sie über
dich herfallen will, dann schwenke dieses Tuch
und sage, ich bringe von der Schwester einen
Gruß für dich und dazu dieses Taschentuch hier.“

349
Als er zur zweiten Hexenhütte kam, drehte sich
die Hütte genauso wie die erste. Er sagte: „Hütte,
Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich zum Wald
mit der Hinterseit und zu mir mit der Vorderseit!“
Und die Hütte blieb sogleich stehen. Als er in die
Hütte hineinkam, saß da eine alte, steinalte Baba-
Jagá und sagte: „Von Menschenfleisch bekommt
man nichts zu riechen und nichts zu sehen, jetzt
aber ist Menschenfleisch von selbst zu mir ins
Haus gekommen. Ich werde dich gleich fressen.“
Sie riß ihren widerlichen schrecklichen Rachen auf
und stürzte sich auf ihn. Aber Kolja schwenkte das
Tuch und sagte: „Was tust du, alte Hexe? Ich
bringe dir doch von deiner Schwester dieses Tuch
hier und einen Gruß, und du willst mich fressen.“
Da verschonte ihn die Hexe und sagte: „Du hast
den Großvater Zar-Wassermann verpaßt. Er hat
gestern bei mir Abendbrot gegessen und von dir
gesprochen, ob ich dich nicht gesehen hätte.“ –
„Sag doch bitte, wo kann ich ihn finden?“ – „Ja,
das weiß ich nicht, wo er wohnt. Vielleicht weiß es
meine ältere Schwester.“ Kolja dachte: „Gibt es
wirklich noch eine ältere als dich? Schon du siehst
aus wie über neunhundert Jahre.“ – „Ich gebe dir
ein Knäuel Roll-von-selbst, folge ihm, es wird dir
zeigen, wo meine ältere Schwester wohnt. Da sie
aber noch böser ist als wir, gebe ich dir ein Hand-
tuch. Will’s das Unglück, und sie fällt über dich
her, dann halte in der einen Hand das Taschen-
tuch und in der anderen dieses gestickte Hand-
tuch, schwenke die Arme und sage, ich bin ge-
kommen, dir dieses Tuch und dieses Handtuch

350
von deinen Schwestern zu bringen und einen Gruß
dazu. Dann wird sie dich verschonen.“
Schließlich also kommt er zur dritten Baba-
Jagá; deren Hütte drehte sich ebenfalls schneller
als der Blitz auf Hühnerbeinen, und er sagte:
„Hütte, Hütte auf den Hühnerbeinen, stell dich
zum Wald mit der Hinterseit und zu mir mit der
Vorderseit!“ Und die Hütte blieb sogleich stehen.
Als er die Hütte betrat, war niemand in der Hütte.
Aber kaum war er drin, da hört er plötzlich einen
unglaublichen Sturm und starken Wind, die Bäu-
me neigten sich bis zur Erde, manche riß es mit
den Wurzeln heraus, manche knickte es um. Und
wie ein Sturm kam es in die Hütte geflogen, warf
sich auf den Fußboden und verwandelte sich in
eine abscheuliche fürchterliche Baba-Jagá; die riß
ihren Rachen auf, spreizte ihre Finger mit langen
Nägeln und wollte Kolja verschlingen; der aber
schwenkte beide Arme, in der einen Hand das
Tuch und in der anderen das Handtuch, und schrie
mit lauter Stimme: „Warum willst du mich fres-
sen? Ich habe dir von der einen Schwester ein Ta-
schentuch gebracht, von der anderen ein Hand-
tuch, und soll von beiden Schwestern grüßen.“ Da
beruhigte sie sich und sagte: „Kolja, du hast den
Großvater Zar-Wassermann verpaßt. Er war heute
bei mir zum Frühstück und hat nach dir gefragt.“
– „Sag mir bitte, wo wohnt er?“ – „Er wohnt von
hier noch ein ganz hübsches Stück entfernt, aber
ich persönlich weiß nicht wo. Du mußt noch durch
dreimal neun Länder ziehen, ins dreimal zehnte
Zarenreich, dann siebzehn dunkle tiefe Wälder

351
durchqueren und siebzehn unbesteigbare Berge
übersteigen und sechzehn schnelle Flüsse durch-
waten, und schließlich wirst du zum siebzehnten
schnellen Fluß gelangen, an dessen Ufer steht ein
Weidenbusch. Um welche Tageszeit du auch
dorthinkommst, du mußt warten, bis es elf Uhr
vormittag ist. Um elf werden elf Tauben geflogen
kommen, die verwandeln sich in elf schöne Mäd-
chen. Du aber bleib hinter jenem Weidenbusch
sitzen und rühr dich nicht, damit sie dich nicht
bemerken. Wenn sie gebadet und sich angezogen
haben, klopfen sie auf die Erde, verwandeln sich
wieder in wunderschöne Tauben, schwingen sich
in die Lüfte und fliegen davon; dann kommt die
zwölfte Taube geflogen, wirft sich auf die Erde
und verwandelt sich in ein wunderschönes Mäd-
chen. Sie wird zweimal am Flußufer entlanggehen,
sich danach ausziehen, sich ins Wasser werfen
und baden. Sie wird sich nicht so sehr waschen
als vielmehr untertauchen und unter Wasser
schwimmen. Dann sei nicht faul, nimm leise und
unbemerkt ihre Kleider und versteck dich schnell-
stens wieder hinter dem Busch. Wenn sie genug
gebadet hat, wird sie ans Ufer kommen, ihre Klei-
der nicht sehen und sagen: ,Wer hat seinen Spaß
mit mir getrieben? Bist du ein alter Mann, so sei
mein Großvater, bist du eine alte Frau, so sei
meine Großmutter, bist du aber in mittleren Jah-
ren, so sei mein zweiter Vater oder meine zweite
Mutter. Wenn du aber in meinem Alter bist, dann
sei mein erwählter Bruder oder meine erwählte
Schwester.’ Aber gib die Kleider nicht heraus, ehe

352
sie nicht schwört, daß sie dein treues Weib sein
wird. Erst dann gib sie ihr, und sie wird sagen, wo
Großvater Zar-Wassermann wohnt.“
Ein Märchen ist bald erzählt, aber Koljas Reise
ging nicht so bald vonstatten, und schließlich kam
er doch noch an diesen schnellen Fluß und fand
den Weidenbusch. Als er sich hinter den Weiden-
busch gesetzt hatte, brauchte er nicht lange zu
warten, als er plötzlich den Flügelschlag der Tau-
ben hört; sie kamen herangeflogen, warfen sich
auf die Erde und verwandelten sich in elf wunder-
schöne Mädchen von unbeschreiblicher Schönheit.
Sie zogen sich aus, warfen sich ins Wasser und
begannen zu baden. Als sie fertig waren mit Ba-
den, zogen sie ihre Kleider wieder an, klopften auf
die Erde, verwandelten sich wieder in elf Tauben,
schwangen sich in die Lüfte und flogen davon.
Genau nach einer halben Stunde kam die zwölfte
Taube geflogen, warf sich auf die Erde und ver-
wandelte sich in ein wunderschönes Mädchen, in
ein so schönes Mädchen, daß es sich mit Worten
nicht sagen und mit der Feder nicht beschreiben
läßt, sie war unbeschreiblich schön. Kolja hatte
viele vornehme Fräuleins und Photographien ge-
sehen, doch eine derartige Schönheit hatte er nir-
gends angetroffen und noch nicht gesehen, und er
dachte: „Sollte ich wirklich ein solcher Glückspilz
sein und eine solche Schönheit zur Frau haben?“
Sie ging zweimal am Flußufer auf und ab, ohne
Eile, zog sich aus und warf sich ins Wasser. Und
sie badete nicht so sehr als daß sie untertauchte
und unter Wasser schwamm. Kolja aber sprang in

353
diesem Augenblick hinter dem Busch hervor, er-
griff ihre Kleider und versteckte sich hinter dem
Weidenbusch. Als sie genug gebadet hatte, kam
sie ans Ufer. Da sie ihre Kleider nicht sah, konnte
sie nicht aus dem Wasser herauskommen, und sie
sagte: „Wer seinen Spaß mit mir getrieben hat,
gebt mir bitte meine Kleider!“ Aber die Kleider
wurden ihr nicht gegeben. Da wiederholte sie
noch einmal: „Wer seinen Spaß mit mir getrieben
hat, gebt mir bitte meine Kleider! Bist du ein alter
Mann, so sei mein Großvater, bist du eine alte
Frau, so sei meine Großmutter, bist du in mittle-
ren Jahren, so sei mein zweiter Vater oder meine
zweite Mutter, bist du in meinem Alter, so sei
mein erwählter Bruder oder meine erwählte
Schwester.“ Doch Kolja gab ihr die Kleider nicht.
Da sagte sie: „Gib mir meine Kleider, Nikolaj Iwa-
nowitsch, ich schwöre dir, daß ich auf ewig deine
treue und verläßliche Frau sein werde, und du
sollst auf ewig mein treuer und verläßlicher Mann
sein.“
Da brachte Kolja die Kleider und legte sie an die
Stelle, woher er sie genommen hatte. Als sie an-
gezogen war, rief sie Kolja: „Komm her!“ Als er
hervorkam, gab sie ihm ihre Hand und drückte die
seine kräftig, mit dem anderen Arm aber drückte
sie ihn an ihre weiße Brust und gab ihm einen
kräftigen Kuß. Und er antwortete auf ihren hei-
ßen, brennenden Kuß unzählige Male. Und bei ih-
rem Anblick vergaß er alles auf der Welt, all seine
Leiden, und er sagte: „Hier ist meine Heimat, hier
ist mein Glück und mein Vaterland!“ Sie aber sag-

354
te zu ihm: „Jetzt habe ich keine Zeit, mit dir zu
sprechen, sonst könnten mein Vater oder meine
Schwestern etwas ahnen.“ Er hatte sogar verges-
sen, wohin er wollte, erst beim Abschied fiel es
ihm ein, und er fragte: „Weißt du vielleicht, wo
Großvater Zar-Wassermann wohnt? Ich muß zu
ihm.“ – „Wie sollte ich es nicht wissen, er ist mein
leiblicher Vater. Er wohnt an die fünf Werst von
hier, nicht nur er, sondern wir alle zusammen, nur
in verschiedenen Schlössern. Er wohnt rechter
Hand, die elf Schlösser meiner Schwestern stehen
beieinander, mein Schloß aber, das allerschönste,
steht abseits von den anderen, du wirst es sofort
erkennen. Du mußt aber bis fünf Uhr abends hier-
bleiben und pünktlich um sechs zuerst zu mir
kommen, wo ich dich auf der vorderen Schloß-
treppe erwarten werde.“ Und Kolja erschien diese
Zeit länger als die ganze Reise, seit er von zu
Hause ausgezogen war. So sehr hatte er sich in
einem einzigen Augenblick in sie verliebt. Sie sag-
te ihm aber: „Ich heiße die schöne Nastasja.“ Eilig
verabschiedete sie sich von ihm, warf sich auf die
Erde, verwandelte sich in eine Taube, schwang
sich in die Lüfte und flog davon. Als er bis fünf
Uhr abends gewartet hatte, rannte er was die
Beine hergaben dorthin, wo die schöne Nastasja
wohnte. Und er erkannte sofort ihr schönes, glän-
zendes Schloß, und sie stand schon auf der vorde-
ren Schloßtreppe, empfing ihn mit einem Lächeln,
nahm seinen Arm und führte ihn ins Schloß. Als
sie eingetreten war, ging sie zu einem Tisch,
klopfte mit der Hand auf den Tisch, und es er-

355
schienen zwölf Prinzessinnen und fragten sie:
„Was befehlt ihr, schöne Nastasja?“ Sie sagt zu
ihnen: „Tragt uns die besten Leckerbissen auf und
teure Weine aus dem Ausland, denn ich heirate,
damit ich mich nicht schämen muß, wenn ich
meinen auserwählten Bräutigam bewirte.“
Und es erschienen so viele verschiedene Ge-
tränke und Leckerbissen, daß Kolja zwar schon
viel auf der Welt hier und da gesehen hatte, aber
so etwas, was hier aufgetragen wurde, hatte er
noch nicht gesehen. Und sie begannen zu trinken
und zu essen. Danach legten sie sich als Neuver-
mählte unbesorgt zur Ruhe. Am Morgen weckt die
schöne Nastasja ihren Kolja, der bis zum Morgen
nicht geschlafen, sondern sich die ganze Nacht an
ihrer Schönheit geweidet und ergötzt hat. Sie sag-
te zu ihm: „Es ist Zeit, zu meinem Vater zu ge-
hen, aber merke dir, führ alles aus, was er zu tun
verlangt. Verlangt er, daß du Mittag essen sollst,
dann iß zu Mittag, verlangt er, daß du ausruhen
sollst, dann ruh aus, verlangt er, daß du spazieren
gehen sollst, dann geh spazieren, und verlangt er,
daß du arbeiten sollst, dann arbeite. Wenn er dir
aber zum Unglück eine zu schwere Arbeit gibt,
dann komm zu mir!“ Er kommt also zum Großva-
ter Zar-Wassermann und sagt: „Guten Tag, Groß-
vater Zar-Wassermann, ich habe die Ehre, mich
bei dir zu melden.“ – „Du kommst zu spät!“ – „Ich
habe keine Schuld, Großvater Zar-Wassermann,
ich bin rechtzeitig von zu Hause weggegangen,
aber weil es allzuweit war und ich den Weg nicht
wußte, habe ich dich lange nicht finden können.“

356
– „Na schön, wenn auch mit Verspätung, so bist
du doch gekommen, daher verzeihe ich dir! Setz
dich, iß zu Mittag, du bist sicher von der Reise
hungrig.“ Er gehorchte, aber essen wollte er nicht.
Und als der Großvater Zar-Wassermann sagte:
„Leg dich hin, ruh dich aus!“, da war er sehr froh,
weil er die ganze Nacht nicht geschlafen, sich an
der Schönheit der schönen Nastasja geweidet und
ergötzt hatte. Als er am Abend aufwachte, sagte
Großvater Zar-Wassermann zu ihm: „Jetzt wollen
wir in meinen Lieblingsgarten spazieren gehen.“
Als sie den Garten betraten, da erschien ihm der
Garten widerwärtig und tot. Die Bäume waren
vertrocknet. An jedem vertrockneten Baum hing
ein menschliches Skelett. Und die Knochen klap-
perten im Wind. Der Garten war ringsum mit ei-
nem Pfahlzaun umgeben, und nur auf zwei Pfäh-
len waren keine Menschenköpfe. Als sie den
Garten verlassen hatten, zeigt Großvater Zar-
Wassermann mit der Hand: „Siehst du dort den
Wald?“ Kolja sagte: „Ja.“ – „Er ist siebzehn Deßja-
tinen7 groß. Du sollst ihn bis zum Morgen ganz
fällen, das Holz sortieren, die Äste zusammentra-
gen und verbrennen, die Baumstümpfe herauszie-
hen, pflügen, säen, Weizen zur Reife bringen,
mähen, dreschen, das Stroh zusammentragen,
das Korn mahlen und morgen früh zum Frühstück
eine Pirogge backen und mit der heißen Pirogge
zu mir kommen. Und wenn du das nicht tust, so

7
Deßjatine – Ehemaliges russisches Flächenmaß = 1,09
ha. (Anm. d. Redaktion.)

357
sieh hin, – auf dem Zaun fehlen zwei Köpfe, dann
wird dein Kopf hier an diesem Pfahl hängen.“ –
„Wie soll denn ein einziger Mensch das in einer
Nacht fertigbringen! Wie soll man denn Getreide
in einer Nacht zur Reife bringen!“ Ihm schwindelte
vor Kummer, er begann bitterlich zu weinen und
fiel ohne Besinnung zu Boden. Und er weiß nicht,
wie lange er dort gelegen hat, und als er zu sich
kam, dachte er: „Ich habe am längsten auf dieser
Welt gelebt.“ Plötzlich aber erinnerte er sich sei-
ner schönen Nastasja und dachte: „Ich will gehen
und wenigstens ein letztes Mal vor dem Tode von
ihr Abschied nehmen.“ Er ging und konnte kaum
ein Bein vor das andere setzen. Die schöne Na-
stasja aber empfing ihn mit einem Lächeln auf der
vorderen Schloßtreppe und sagte zu ihm: „Warum
gehst du so sehr traurig und betrübt, hat dir etwa
mein Vater eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ –
„Er ist nicht wert, daß du ihn Vater nennst, möge
es ihn in Stücke zerreißen!“ – „Hat er dir vielleicht
eine zu schwere Arbeit gegeben?“ – „Ja, er hat
mir gesagt, ich soll siebzehn Deßjatinen Holz fäl-
len, das Holz sortieren, die Äste verbrennen, die
Stümpfe herausziehen, pflügen und Weizen säen,
ihn zur Reife bringen, mähen, dreschen, das Stroh
zusammentragen, das Korn mahlen, eine Pirogge
backen und am Morgen mit der heißen Pirogge
zum Tee kommen. Und wenn ich’s nicht tue, dann
soll mein Kopf am Zaun hängen.“ – „Nun, mach
dir nichts draus. Der Morgen ist klüger als der
Abend, und wir beide werden gescheiter sein.“
Und sie nahm seinen Arm und führte ihn ins

358
Schloß. Während sie zu Mittag aßen und Tee tran-
ken, war es schon zehn Uhr abends geworden. Sie
nahm seinen Arm und sagte: „Wir wollen auf die
Schloßtreppe hinausgehen.“ Als sie auf der
Schloßtreppe waren, holte sie ein Pfeifchen aus
der Tasche und pfiff, da kam plötzlich eine un-
zählbare Menge herbeigeflogen und stellte sich
regimenterweise vor ihr auf. Als sie sich aufge-
stellt hatten, fragten sie: „Was befehlt Ihr uns zu
tun, schöne Nastasja?“ – „Seht dort die siebzehn
Deßjatinen Wald! Einige von euch müssen ihn fäl-
len, andere die Äste verbrennen, andere das Holz
sortieren, andere pflügen, andere die Stümpfe he-
rausziehen, andere säen, andere den Weizen zum
Wachsen bringen, andere gießen, andere mähen,
das Stroh zusammentragen, den Weizen dreschen
und mir das Mehl bis zwölf Uhr bringen, damit ich
den Teig anrühren kann, damit meine Pirogge
zum Morgen gut gelingt. Marsch, an die Arbeit!
Und wenn ihr das nicht tut, dann bade ich euch
alle in Weihwasser.“ Und sie flogen davon, stießen
einander in die Seiten, flogen davon, daß die Fun-
ken von ihnen nur so sprühten, grüne, blaue und
rote, fliegen und sagen: „Weswegen uns diese
Strenge? Da haben wir doch ganz andere Dinge
vollbracht. Das ist ja keine Arbeit, das ist Spiele-
rei! Und niemals sonst hat sie dieses Wasser er-
wähnt.“ Das war für sie das allerhöchste Straf-
maß. Und es war noch keine Stunde vergangen,
als sie ihr schon das Mehl brachten. Am Morgen
weckt sie ihren Kolja und sagt: „Es ist Zeit, zu ge-
hen und meinem Vater die heiße Pirogge zu brin-

359
gen. Wenn er dir aber etwas sagt, dann wirf ihm
kurzerhand die heiße Pirogge ins Gesicht.“ Er
nahm die Pirogge und ging. Um diese Zeit aber
setzte sich Großvater Zar-Wassermann gerade
zum Tee, und er sagte: „Bist ein tüchtiger Kerl,
Kolja, doch ich sehe, daß du das nicht mit eigenen
Händen vollbracht hast.“ Da holte Kolja aus und
schleuderte ihm die Pirogge ins Gesicht, so daß
sie auseinanderbrach und die Stücke über den
Fußboden flogen. Großvater Zar-Wassermann
aber las alle Stücke auf und verschlang sie wie ein
hungriger Wolf. Als er sich ausgeruht hatte, sagt
er zu ihm: „Hebe rings um mein Schloß einen See
aus, in die Länge wie in die Breite achtzehn
Werst, und fülle ihn mit Wasser, so daß auf die-
sem See nicht nur einfache, sondern auch See-
schiffe fahren können. Und in der Mitte des Sees
sollst du eine kristallene Brücke mit vergoldetem
Geländer bauen, und alle drei Saschen einen
Obstbaum pflanzen, so daß der eine Baum blüht
und am anderen die Äpfel wachsen, nicht einfache
Äpfel, sondern goldene. Und unter jedem Baum
sollst du eine Quelle mit Quellwasser graben, da-
mit ich etwas zum Waschen und zum Trinken ha-
be, wenn’s das Unglück will und ich beim Spazie-
rengehen in Schweiß gerate. Und wenn du das
zum Morgen nicht fertig hast, wird dein Kopf an
diesem Zaunpfahl hängen.“ Kolja dachte nach und
begann bitterlich zu weinen. „Wie soll man denn
das in einer Nacht schaffen können!“ Doch ging er
in Tränen zu seiner schönen Nastasja, die ihn
schon auf der Schloßtreppe erwartete. „Warum

360
bist du so sehr traurig, Kolja? Hat dir mein Vater
vielleicht eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ –
„Nenn diesen Auswurf nicht Vater, möge es ihn
Stücke reißen oder möge ihn der Donner erschla-
gen!“ – „Warum so unfreundlich? Hat er dir etwa
eine zu schwere Arbeit aufgegeben?“ – „Er hat mir
gesagt, ich soll rings um sein Schloß einen See
ausheben, in die Länge wie in die Breite achtzehn
Werst, und ihn mit Wasser füllen, so daß auf ihm
nicht nur einfache, sondern auch Seeschiffe fah-
ren können, und in der Mitte des Sees soll ich eine
kristallene Brücke mit vergoldetem Geländer bau-
en und alle drei Saschen Obstbäume pflanzen, so
daß der eine Baum blüht und auf dem anderen
goldene Äpfel wachsen, und unter jedem Baum
soll ich eine Quelle mit Quellwasser graben, und
wenn du das zum Morgen nicht fertig bringst,
dann wird dein Kopf am Zaunpfahl hängen.“ –
„Nun, mach dir nichts draus, der Morgen ist klü-
ger als der Abend, und wir beide werden geschei-
ter sein; jetzt aber komm Mittag essen und Tee
trinken.“ Als sie fertig waren mit Teetrinken, war
es zehn Uhr abends. Sie nahm seinen Arm und
sagte: „Wir wollen auf die Schloßtreppe gehen.“
Sie pfiff in ihr Pfeifchen, da kam eine unüberseh-
bare Menge, ein riesiger Haufen herbeigeflogen
und fragt: „Was befiehlst du uns zu tun, schöne
Nastasja?“ Sie sagte zu ihnen: „Ihr müßt am gro-
ßen Schloß einen See ausheben und mit Wasser
füllen und Seeschiffe mit Besatzung darauf setzen
und in der Mitte eine kristallene Brücke mit ver-
goldetem Geländer bauen und Obstbäume pflan-

361
zen, so daß der eine Baum blüht und am anderen
goldene Äpfel wachsen, und unter jedem Baum
eine Quelle mit Quellwasser graben. Denkt aber
daran, wenn ihr das alles gemacht habt, dann
treibt am Ende des Geländers den letzten Nagel
bis zur Hälfte hinein und legt neben ihn einen
Hammer von gewöhnlichem Gewicht, so daß ein
gewöhnlicher Mensch mit ihm hämmern kann.
Marsch, an die Arbeit! Und wenn ihr das nicht tut,
dann bade ich euch alle in Weihwasser!“ Und sie
flogen davon, stießen einander in die Seiten und
stritten untereinander: „Was sind das für strenge
Worte? Wir haben ganz andere Dienste für sie ge-
leistet, aber so heftige Worte haben wir nie von
ihr zu hören bekommen.“ Es ist das aber für sie
die allerhöchste Strafe, wenn sie einen badet,
dann ist er gleich tot. Und es war noch keine
Stunde vergangen, als sie schon mit der Meldung
geflogen kamen, daß die Brücke und alles fertig
ist. Da weckt sie Kolja zeitig in der Frühe und
sagt: „Geh, Kolja, es ist schon Zeit für dich zu ge-
hen, sonst wirst du die Brücke nicht rechtzeitig
überqueren. Wenn du zum Ende des Geländers
kommst, wirst du dort einen Hammer von ge-
wöhnlichem Gewicht liegen sehen, den mußt du in
die Hände nehmen und warten, bis mein Vater,
Großvater Zar-Wassermann, erscheint.“ Als er
hinkam und gerade den Hammer ergriffen hatte,
sieht er plötzlich Großvater Zar-Wassermann auf
einem Feuerwagen einherjagen, und er schreit
ihm zu: „He, Großvater Zar-Wassermann, fahre
nicht weiter, die Brücke ist noch nicht fertig.“ Und

362
im Nu war er schon bei Kolja; Kolja aber schlug in
diesem Augenblick mit dem Hammer auf den Na-
gel, und der Nagel fuhr bis zum Ende hinein. Kolja
aber sagte unterdessen: „Fuh! Wie bin ich müde!“
Großvater Zar-Wassermann kletterte vom Wagen
und sagte: „Bist ein tüchtiger Kerl, Kolja, doch ich
sehe, daß du das nicht mit eigenen Händen voll-
bracht hast.“ – „Nun, alter Griesgram, alles ist dir
nicht recht und nicht gut genug.“ Und er lief mit
dem Hammer in Händen zu ihm hin, holte mit al-
ler Jugendkraft, die er besaß, aus und schlug ihn
auf die Nase, daß die Funken sprühten. Aber
Großvater Zar-Wassermann sagte: „Genug des
Spielens und Scherzens, du bist noch jung, ich
aber bin schon zu alt, mir ist nicht nach Spaßen
zumute.“ Da dachte Kolja: „Ich habe ihn totschla-
gen und seinen Schädel in tausend Stücke zer-
trümmern wollen, er aber denkt, ich mache ein
Spiel mit ihm.“ Großvater Zar-Wassermann setzte
Kolja in den Feuerwagen, und sie fuhren ins
Schloß. Als sie zu Mittag gegessen und sich aus-
geruht hatten, sagte er zu Kolja: „Du sollst mir bis
zum Morgen mein Lieblingspferd zureiten, es steht
hinter zwölf gußeisernen Türen und ist mit zwölf
starken Ketten angeschmiedet. Es hat seit seiner
Geburt das Tageslicht noch nicht gesehen und
weiß nicht, daß es außer ihm noch ein Lebewesen
auf der Welt gibt.“ Da geht Kolja fröhlich zu seiner
schönen Nastasja. Die schöne Nastasja aber emp-
fängt ihn auf ihrer Schloßtreppe und fragt: „War-
um bist du heute so sehr lustig, Kolja? Hat dir
mein Vater etwa eine leichte Arbeit aufgegeben?“

363
– „Ja!“ – „Und was hat er dir aufgegeben?“ – „Er
hat gesagt, ich soll den Hengst zureiten, der noch
nie das Licht des Tages gesehen hat.“ – „Heute
gerade solltest du weinen, du hast allen Grund
dazu. Jene Aufgaben waren keine Aufgaben, das
aber ist eine Aufgabe, das betrifft uns beide per-
sönlich, unsere Hände. Nimm hier die drei Nadeln,
geh in die Schmiedewerkstätten, laß aus der er-
sten Nadel eine Peitsche von einhundert Pud
schmieden, aus der zweiten Nadel einen Zaum
von dreihundert Pud und aus der dritten Nadel
einen Sattel von sechshundert Pud.“ Als Kolja in
die Schmiedewerkstätten kam und die Nadeln
hingab und sagte, man soll ihm diese Dinge
schmieden, lachten die Schmiede ihn aus, be-
schimpften ihn und stießen ihn hinaus, und er
kam in Tränen zur schönen Nastasja zurück. Die
fragte ihn: „Warum kommst du und weinst?“ –
„Deine frechen Diener haben mich beinah verprü-
gelt und mich hinausgestoßen.“ Kolja tat ihr leid,
und mit schnellen Schritten ging sie mit ihm in die
Schmiede-Werkstätten. „Welches Recht habt ihr,
meinen treuen Diener zu kränken und zu beleidi-
gen?“ So unerträglich leid tat ihr Kolja. „Und was
sagt denn er? Kann man etwa aus einer Nadel
solche Dinge schmieden?“ – „Nun, natürlich kann
man das; nehmt die Zange und steckt sie wie ge-
wöhnliches Eisen ins Schmiedefeuer, und es wird
ein Stück Stahl daraus, aus dem ihr ohne weiteres
diese Dinge schmieden könnt.“ Als sie die Nadeln
ins Schmiedefeuer steckten, nahmen die Nadeln
an Größe zu, und wirklich schmiedeten sie die

364
Peitsche, den Zaum und den Sattel. Sie sagte zu
Kolja: „Nimm die Peitsche!“ Aber er konnte sie
nicht aufheben, ja er konnte sie nicht einmal auf
der Erde von der Stelle bewegen. Da nimmt sie
alle drei Dinge auf den Arm, und sie gingen an die
Stelle, wo unter der Erde der Hengst stand. Als
sie die erste schwere Gußeisentür aufgebrochen
hatten, spürte das Pferd: „Ich bin also nicht allein,
es gibt ein Lebewesen auf der Welt, es gibt noch
jemanden.“ Und es riß so stark, daß es alle zwölf
Eisenketten zerriß und die Gußeisentüren zer-
brach und ins Freie rennen wollte, als die schöne
Nastasja es so heftig zwischen die Ohren auf den
Kopf schlug, daß das Pferd in die Knie ging, und
sie warf ihm den Zaum über den Kopf und legte
ihm den Sattel auf den Rücken, sprang selbst auf
das Pferd und jagte los über den lockeren Sand
durch die Steppe. Wie sehr das Pferd auch sprang
und rannte, die schöne Nastasja schlug es erbar-
mungslos mit der hundert Pud schweren Peitsche,
daß das Fleisch stückenweise auf die Erde fiel und
nur die Haut an ihm blieb und die nackten Kno-
chen. Als es am Ende seiner Kräfte war, legte sie
ihm einen einfachen Zaum an und legte einen ge-
wöhnlichen Sattel auf seinen Rücken, gab Kolja
ein gewöhnliches Tauende, setzte ihn auf den Sat-
tel und sagte: „Nimm, und jetzt reite! Und wenn
mein Vater herauskommt und dich beschimpft,
dann spring aus dem Sattel und schlag das Pferd
aus aller Kraft mit der Peitsche. Das Pferd, sobald
es merkt, daß kein Reiter auf ihm ist, wird über
die Steppe jagen. Meinem Vater aber wird es leid

365
um das Pferd sein, er wird ihm nachsetzen, du
aber komm schnell zu mir gelaufen!“ Und kaum
hatte er sich auf das Pferd gesetzt und den Hof
noch nicht überquert, da erschien Großvater Zar-
Wassermann bei Kolja. „Ach, du Lumperkerl, war-
um hast du mein Lieblingspferd so zuschanden
geschlagen? Heißt das etwa zureiten? Dafür werde
ich dir’s zeigen.“ Aber Kolja sagte zu ihm: „Dir ist
alles nicht recht und nicht gut genug.“ Und er
sprang aus dem Sattel und schlug das Pferd aus
aller Kraft mit der Peitsche. Und das Pferd, sobald
es sah und merkte, daß kein Reiter auf ihm war,
jagte wie ein Sturmwind über die Steppe. Großva-
ter Zar-Wassermann aber hatte keine Zeit, mit
Kolja abzurechnen, er rannte hinter dem Pferd
her. Und Kolja ging zu seiner schönen Nastasja.
Die sagte zu ihm: „Wir beide können hier nicht
mehr bleiben. Jetzt hat mein Vater alles erfahren,
wie es ist. Wir müssen jetzt fortziehen, in deine
teure, liebe Heimat zu deinen Eltern, und dort
werden wir in Ruhe leben.“ Da erst erinnerte sich
Kolja seiner Eltern. Bis dahin hatte er beim An-
blick der schönen Nastasja seine teure Heimat
und seine Eltern vergessen. Und er freute sich
sehr, daß er seine Eltern wiedersehen würde. Und
sie brachen auf und machten sich auf den weiten
Weg. Und sie gingen also kurze oder lange Zeit,
nah oder fern, und sie sagt: „Sieh mal nach und
leg dich auf die Erde und höre, ob nicht die Ver-
folger hinter uns her sind.“ Er sah nach, legte sich
auf die Erde, stand auf und sagte: „Ich höre
nichts und sehe nichts.“ Sie legte sich auf die Erde

366
und sagte: „Dicht hinter uns sind die Verfolger.
Ich werfe mich auf die Erde und werde zu einer
Herde Ferkel, wirf auch du dich auf die Erde, und
du wirst zu einem Schweinehirten. Es wird eine
wilde Troika gefahren kommen, und die Leute
darin werden fragen: ‚He, Schweinehirt! Hast du
vielleicht gesehen, ob hier ein Kavalier mit seinem
Fräulein vorbeigekommen ist?’ Du aber antworte,
daß du nichts gesehen und nichts gehört hast.“
Sie warfen sich also auf die Erde, sie wurde zu
einer Schweineherde und er zu einem Schweine-
hirten. Und sie hatten dies kaum getan, da
kommt eine wilde Troika angejagt, und sie fra-
gen: „Schweinehirt, hast du vielleicht gesehen, ob
hier ein Kavalier mit seinem Fräulein vorbeige-
kommen ist?“ – „Nein, ich habe nichts gesehen
und nichts gehört.“ Die Verfolger fuhren weiter,
sie aber warfen sich auf die Erde und wurden, was
sie früher gewesen waren. Die Troika aber fuhr
noch eine gewisse Strecke, dann kehrte sie zum
Großvater Zar-Wassermann zurück. Und Großva-
ter Zar-Wassermann fragt sie: „Nun, habt ihr sie
eingeholt?“ – „Nein, wir haben sie nicht eingeholt
und nichts gesehen außer einem Schweinehirten,
der hütete seine Schweineherde.“ – „Ach ihr
Dummköpfe, ihr Satanskerle! Die hättet ihr pak-
ken müssen, das sind sie. Fahrt jetzt los, und was
immer euch auf dem Weg begegnet, merkt euch,
das sind sie.“ Die schöne Nastasja sagt zu ihrem
Kolja: „Hör, Kolja, sieh mal nach und leg dich mit
dem Ohr auf die Erde, ob die Verfolger hinter uns
her sind.“ Kolja lauschte ein wenig und sagte:

367
„Ich höre niemanden und sehe nichts.“ Sie legte
sich auf die Erde und sagte: „Dicht hinter uns sind
die Verfolger. Ich werfe mich auf die Erde und
werde zu einer Kirche, und du wirfst dich auf die
Erde und wirst zum Kirchendiener. Sie werden
aber nicht merken, daß es keine richtige Kirche
ist, ohne Glocken und Heiligenbilder, und sie wer-
den Angst haben, sich der Kirche zu nähern.“ Und
sie warf sich auf die Erde und verwandelte sich in
eine Kirche, und er warf sich auf die Erde und
verwandelte sich in einen Kirchendiener.
Und kaum hatten sie dieses Stückchen voll-
bracht, da kommt plötzlich eine wilde Troika an-
gejagt, macht gegenüber der Kirche halt und
schreit: „He, Kirchendiener, hast du vielleicht ge-
sehen, ob hier ein Kavalier mit seinem Fräulein
vorbeigekommen ist?“ – „Nein, ich habe nichts
gesehen.“ Und sie fuhren noch eine gewisse
Strecke und kehrten dann um. Sie aber klopften
auf die Erde, wurden, was sie früher gewesen wa-
ren, und zogen weiter. Als die Verfolger zu Groß-
vater Zar-Wassermann kamen, fragt Großvater
Zar-Wassermann sie: „Nun, habt ihr sie eingeholt
und mitgebracht?“ – „Nein, wir haben sie nicht
mitgebracht und niemanden eingeholt und nichts
gesehen, nur eine Kirche haben wir gesehen und
den Kirchendiener.“ – „Ach ihr Dummköpfe, ihr
Satanskerle, das sind sie, die hättet ihr packen
müssen.“ – „Wie konnten wir uns denn der Kirche
nähern, sie hat Glocken und Heiligenbilder.“ –
„Ach ihr Dummköpfe, ihr Satanskerle, es ist eine
falsche Kirche, ohne Glocken und Heiligenbilder.

368
Nein, ich sehe schon, ihr holt sie niemals ein. Ich
muß selber nach – auf dem Springer, der dreibei-
nigen Stute.“ Und Großvater Zar-Wassermann ritt
auf seiner dreibeinigen Stute davon, die mit ei-
nem Satz dreihundert Werst zurücklegte.
Die schöne Nastasja sagte zu Kolja: „Leg dich
doch mal auf die Erde und lausche und sieh nach,
ob die Verfolger hinter uns her sind.“ Kolja sah
nach, legte sich mit dem Ohr auf die Erde und
sagte: „Ich höre nichts und sehe nichts.“ Darauf
legte sie sich auf die Erde und sagte: „Dicht hinter
uns sind die Verfolger, und mein Vater selbst jagt
uns nach, und vor ihm kann man sich nicht ver-
bergen. Ich werfe mich auf die Erde und werde zu
einem großen See, und du wirfst dich auf die Erde
und wirst zu einem Barsch, er aber wird uns ge-
wiß einholen, sich auf die Erde werfen und in ei-
nen Hecht verwandeln, und er wird dich jagen,
um dich zu verschlingen. Du aber paß auf und sei
auf der Hut, halt ihm nicht deinen Kopf hin, son-
dern halt deinen Schwanz hin, gegen die Wolle
kann er einen Barsch nicht verschlingen. Jetzt
hängt alles von dir ab, und wenn du nicht aufpaßt,
sind wir beide verloren.“ Und sie warf sich auf die
Erde und verwandelte sich in einen riesigen See.
Er aber warf sich auf die Erde und verwandelte
sich in einen Barsch. Und Großvater Zar-
Wassermann kam auf dem Springer, seiner Stute,
angeritten, warf sich auf die Erde, verwandelte
sich in einen Hecht und jagte dem Barsch nach.
Und als er ihn gerade verschlingen wollte, hielt
der ihm den Schwanz hin, und an ein Verschlin-

369
gen war überhaupt nicht zu denken. Drei Tage
und drei Nächte jagte der Hecht den Barsch, aber
verschlingen konnte er ihn nicht, immer hielt der
Barsch seinen Schwanz hin. Da war Großvater
Zar-Wassermann ganz erschöpft und am Ende
seiner Kraft, und er sagte mit drohender Stimme:
„Du, meine liebe und abscheuliche Tochter, dafür
sollst du drei Jahre ein Salzsee sein.“ – „Und du
selbst sollst für diese Gemeinheit und Bosheit drei
Jahre lang eine Salzsäule sein. Du aber, Kolja, du
hast keinerlei Schuld, geh nach Hause, aber den-
ke an den Eid, den du mir geschworen hast, hei-
rate drei Jahre lang keine andere, und in drei Jah-
ren komme ich zu dir.“ Und Kolja schwamm zum
Ufer, warf sich auf die Erde und wurde, was er
früher gewesen war. Am ersten Dorf angekom-
men, mietete er eine Posttroika und jagte davon
in seine liebe Heimat.
Es ist ganz unmöglich, zu erzählen oder auch
nur zu beschreiben, wie Mutter und Vater ihren
lieben Sohn empfingen, den sie schon längst tot
geglaubt hatten. Und sie führten ein sehr schönes
Leben, und ihr Lob war in aller Munde. Und nicht
nur sie lebten in Reichtum, sondern auch die gan-
ze Umgebung. Wer immer mit Nöten und Bitten
zu ihnen kam, sie halfen allen. Und das Geld wur-
de bei ihnen nicht weniger, sondern mehr.
Und es vergeht also ein Jahr, es vergeht auch
das zweite, und es kommt das letzte und dritte.
Doch Koljas Eltern reden die ganze Zeit: „Söhn-
chen, du mußt heiraten, solange wir noch leben,
wir möchten wenigstens noch sehen, wie du mit

370
deiner jungen Frau leben wirst.“ Er aber schlug es
immer mit Bestimmtheit ab und sagte: „Die Zeit
ist noch nicht gekommen, laßt mir noch meine
Freiheit; ich werde noch lange genug verheiratet
sein.“ Weil ihm aber diese drei Jahre wie eine
ganze Ewigkeit vorkamen, dachte er, es seien
nicht erst drei Jahre, sondern ganze neun vergan-
gen, und er beschloß, ein schönes Mädchen zu
heiraten; mit der feierten sie und waren lustig,
machten Polterabende und freiten etwa drei Mo-
nate.
Und es war schon eine besondere Kirche für sie
gebaut worden, damit sie in der Nähe ihres Hau-
ses getraut werden konnten. Weil die Braut weit
weg wohnte, mußte sie mit ihrem Gefolge allein
gefahren kommen. Und als die Braut angekom-
men war, feierten sie ihre letzten Stunden und
den Abend bei Kolja, dann aber sollten sie zur
Trauung gehen; da kommt auf einmal zu seiner
Taufmutter ein altes, steinaltes Weib auf zwei
Krücken gegangen, mit schrecklichen Hauern, wie
bei einem Wildschwein, und bittet um ein Nacht-
lager.
Die Taufmutter antwortet ihr: „Ich ließe dich
übernachten, aber ich will gerade zur Hochzeit
gehen, mein Patenkind Kolja verheiraten. Und zu
Hause bleibt niemand zurück, weil ich allein woh-
ne.“ – „Nun, das macht doch nichts, mein Mütter-
chen, ich werde dir nichts wegnehmen, denn ich
bin viel zu müde. Sperre mich mit starken Schlös-
sern ein, ich werde mich auf den Ofen legen und
bis zum Morgen schlafen.“ Und sie ließ sie bei sich

371
übernachten und gab ihr zu essen, was sie gerade
da hatte. Die Alte aber aß und legte sich auf den
Ofen schlafen. Und die Taufmutter machte sich
fertig, zur Hochzeit zu gehen. Die Alte auf dem
Ofen sagt zu ihr: „Werden bei euch auf den Hoch-
zeiten auch Zauberstückchen gemacht?“ – „Was
für Zauberstückchen? Wir sind Dorfleute und ken-
nen nichts.“ – „Dann gib mir ein Stückchen Teig,
ich werde dich ein Zauberstückchen lehren.“ Und
die Taufmutter kratzte im Backtrog ein Stückchen
Teig zusammen, und sie rollte es zu einer Kugel,
wie ein Ei, dann brach sie’s in zwei Hälften und
rollte zwei Kugeln.
„Siehst du jetzt hier diese zwei Kugeln?“ – „Ja.“
Und sie warf sie auf den Tisch, da standen plötz-
lich eine Ente und ein Enterich da, keine einfa-
chen, sondern Schwanz und Schnabel aus Gold.
Und sie laufen auseinander zu den entgegenge-
setzten Tischenden, drehen sich gleichzeitig um,
laufen in der Mitte des Tisches wieder zusammen
und schlagen Schnabel gegen Schnabel. Die Ente
sagt: „Wie?“, und der Enterich sagt: „Wie du
willst.“
„Da hast du ein Zauberstückchen! Geh hin und
zeig’s!“
Darauf nahm sie Ente und Enterich, warf sie auf
den Tisch, und sie wurden wieder zwei Teigku-
geln. Sie nahm diese zwei Kugeln, wickelte sie in
ein Tuch, steckte sie in die Tasche und ging zur
Hochzeit. Als sie hinkam, feierten die Gäste
schon, tanzten, aßen und tranken. Und sie feierte

372
ebenfalls mit ihnen und vergaß ihr Zauberstück-
chen. Vater und Mutter aber sagten:
„Nun, genug gefeiert, es ist Zeit, Kinder, euch
den Segen zu geben.“ Und sie riefen beide zur
Kniebank und nahmen Heiligenbilder zum Segnen
in die Hände. Da erst dachte die Taufmutter wie-
der an ihr Zauberstückchen und sagte: „Wartet
ein wenig, ich will euch ein Zauberstückchen zei-
gen.“ Da sagten Koljas Eltern zur Taufmutter:
„Hast du etwa nicht genug Zeit gehabt, dein Zau-
berstückchen zu zeigen? Auf was für Einfälle
kommst du noch!“ – „Nein, bitte, laßt mich, ich
zeige es euch jetzt gleich.“ – „Du kannst es doch
zeigen, wenn sie getraut worden sind und wieder
feiern und lustig sind.“ Doch das fröhliche Publi-
kum war schon angeheitert und bat, mit dem
Segnen zu warten: „Soll sie uns ihr Zauberstück-
chen zeigen!“ Und die Taufmutter ging zum Tisch,
holte aus der Tasche die Teigkugel und sagte:
„Seht ihr hier die Teigkugel?“ – „Ja!“ Sie brach sie
in zwei Teile, rollte zwei Kugeln und zeigte sie.
„Seht jetzt hier die zwei Teigkugeln!“ – „Na und?
Was weiter?“ – „Paßt nur auf!“ Und sie warf die
Kugeln auf den Tisch, da standen auf einmal eine
Ente und ein Enterich da, keine einfachen,
Schwanz und Schnabel aus Gold. Und sie laufen
auf dem Tisch auseinander, der eine an das eine
Tischende, der andere ans andere, drehen sich
gleichzeitig um, laufen in der Mitte des Tisches
wieder zusammen und schlagen Schnabel gegen
Schnabel. Die Ente sagt: „Wie?“ Und der Enterich
sagt: „Wie du willst.“ Dem Bräutigam ist, als hätte

373
ihn jemand mit Nadeln in den Hintern gestochen,
er springt auf, läuft von seiner Braut weg und
fragt die Taufmutter: „Taufmutter, wer hat dich
dieses Zauberstückchen gelehrt?“ – „Bleib du ru-
hig auf deinem Platz neben der Braut sitzen. Ich
kenne es selber.“ – „Nein, das hat dich jemand
gelehrt.“ – „Bleib doch neben deiner Braut sitzen!“
– „Sag mir, wer es dich gelehrt hat. Und wenn
du’s nicht sagst, nehme ich den Segen nicht an.“
Da sagte die Taufmutter: „Zu mir ist eine Alte auf
zwei Krücken gekommen und hat mich dieses
Zauberstückchen gelehrt.“ – „Nun, dann geh
schnell zu ihr und bring sie schnell hierher auf die
Hochzeit!“ – „Sie ist so alt und müde, daß sie
wahrscheinlich nicht kommen wird.“ – „Wenn du
sie bittest, wird sie kommen, wenn du aber nicht
gehst, dann geh ich selber und hole sie.“ Und er
wollte schon aufbrechen. Da sagte die Taufmutter
zu ihm: „Setz dich auf deinen Platz neben der
Braut, ich gehe nach der Alten.“ Als die Taufmut-
ter nach Hause kam, lud sie die Alte zur Hochzeit
ein und sagte zu ihr: „Bitte komm, der Bräutigam
bittet dich zur Hochzeit.“ – „Ach, wo denkst du
hin, meine Ernährerin, was bin ich für ein Hoch-
zeitsgast. Ich bin so müde, daß ich froh bin, mich
auf dem Ofen ausruhen zu können, und außerdem
bin ich schon zu alt.“ – „Nein, sei so gut, komm!
Der Bräutigam ist nämlich wie von Sinnen, er
wollte selber laufen, dich zu holen, und will den
Segen der Eltern nicht annehmen, ehe er dich
nicht selber gesehen hat.“ – „In diesem Falle muß
ich wohl gehen.“ Die Alte war aber ganz zerlumpt,

374
und der blaue Sarafan8 an ihr bestand aus lauter
Flicken. Sie nahm die zwei Krücken an die Brust,
die Taufmutter faßte sie unter die Arme und führ-
te sie auf die Hochzeit. Und kaum hatten sie das
Haus betreten, da sah sie der Bräutigam und
stürzte der Alten in die Arme, und er begann sie
zu umarmen und zu küssen und sagte: „Woher
bist du gekommen, meine schöne, langerwartete
Braut?“ Da erstarrten die Leute und alle Gäste vor
Verwunderung und standen wie versteinert. Vater
und Mutter aber sagen: „Sohn, wie kann sie deine
Braut sein, sie ist doch mehr als siebenhundert
Jahre alt, und du erst dreiundzwanzig. Sie ist für
dich keine Großmutter mehr, sondern eine Ur-
großmutter.“ – „Nein, da läßt sich nichts machen,
das ist wohl mein Los. Sie hat mich vor dem ge-
wissen Tod errettet. Und wenn sie nicht gewesen
wäre, dann weilte ich schon lange nicht mehr un-
ter den Lebenden. Nicht ich bin hier schuld, son-
dern ihr selber, und ich habe mich eurer elterli-
chen Gewalt gefügt. Und deswegen bitte ich und
verlange, mich mit ihr zu segnen.“ Da sagten die
Eltern zu der Alten: „Vielleicht willst du ihn nicht
zum Manne haben. Großmütterchen, weil du gar
zu alt bist, und er jung, und du bald sterben
wirst?“ – „I wo, meine Besten, und wenn er we-
nigstens einen Tag mir gehört. Ich will mit dem
jungen Burschen leben.“ – „Vielleicht nimmst du
ein Abstandsgeld, Großmütterchen, wir geben dir,

8
Trachtenrock der russischen Bäuerin. (Anm. d. Redakti-
on.)

375
soviel du willst: Gold, Silber oder Edelsteine.“ Sie
sagte zu ihnen: „Ich brauche nicht allzuviel.“ Mit
den Krücken zog sie Kolja heran, nahm ihn auf
ihre Arme und sagte: „Mehr brauche ich nicht, nur
diese eine Last hier.“ Da sehen Koljas Eltern, daß
nichts sie auseinanderbringen kann, und sie sag-
ten, wenn auch sehr widerwillig: „Nun gut, stellt
euch unter unseren elterlichen Segen. An diesem
Leid seid ihr selber schuld.“ Und sie nahmen ein
Heiligenbild, um den Segen zu erteilen. Es waren
aber viele Gäste da, und als die hörten, daß eine
andere Braut aufgetaucht war, kam das ganze
Haus herbeigelaufen, um zuzusehen, so daß auch
das junge Paar gedrückt wurde. Die Alte aber
schwang ihre Krücken und sagte zu den Leuten:
„Ihr habt mich gedrückt, macht etwas Platz, ich
bin alt und könnte sonst hinfallen, weil meine al-
ten Beine mich schlecht tragen.“ Die Leute mach-
ten etwas Platz. Und die Alte warf sich auf den
Fußboden und verwandelte sich in eine so wun-
derschöne Jungfrau, daß es sich weder mit Wor-
ten sagen noch mit der Feder beschreiben läßt,
von so unbeschreiblicher Schönheit. Und neben
ihr stehen zwölf Prinzessinnen und halten ihr
Brautkleid und ihre Toiletten. Da sagt der Sohn zu
seinen Eltern: „Seht euch jetzt meine schöne Na-
stasja hier an und vergleicht sie mit dieser meiner
Braut. Sind sie sich etwa gleich?“ Die erste Braut
aber war ihr gegenüber nicht einmal den kleinen
Finger wert. Da stellten die Eltern, statt sie zu
segnen, das Heiligenbild auf seinen Sims, warfen
sich der schönen Nastasja zu Füßen und baten um

376
Vergebung und Verzeihung für die Kränkung. Sie
vergab ihnen und sagte: „Das ist für mich schon
nichts Neues mehr und geschieht nicht das er-
stemal.“ Und Kolja sagte zu seinem treuen
Freund: „Nimm du meine erste Braut zur Frau,
denn sie ist hübsch.“ Und die Braut liebte auch
Koljas Freund und wußte, daß er genauso reich ist
wie Kolja, und sie war gern einverstanden. Die
Eltern gaben ihnen ihren Segen. Und danach wur-
den sie getraut und gaben ein Fest für alle Welt,
und die zwei Paare lebten von nun an in Liebe und
Eintracht. Auch mich luden sie zum Fest ein, ich
trank Bier und Wein, ist alles um den Bart geron-
nen, der Mund hat nichts abbekommen.

377
35
Die Froschzarin
In alten Zeiten, es ist schon lange her, hatte ein
Zar drei Söhne – alle waren schon erwachsen. Der
Zar sagt: „Kinder! Macht euch jeder eine Arm-
brust und schießt: welche Frau den Pfeil bringt,
die soll die Braut sein; wenn ihn niemand bringt,
dann heißt das, der soll nicht heiraten.“ Der älte-
ste Sohn schoß, den Pfeil brachte eine Fürsten-
tochter; der mittlere schoß, den Pfeil brachte eine
Generalstochter; aber dem kleinen Iwan-
Zarewitsch brachte den Pfeil aus dem Sumpf ein
Frosch in seinen Zähnen zurück. Jene Brüder wa-
ren lustig und guter Dinge, Iwan-Zarewitsch aber
versank in Trübsinn und begann zu weinen: „Wie
soll ich mit einem Frosch zusammenleben? Ein
Leben leben – das ist mehr als einen Fluß zu
durchwaten oder ein Feld zu überqueren!“ Er
weinte und weinte, aber es war nichts zu machen
– er nahm den Frosch zur Frau. Sie wurden alle
nach dem dortigen Brauch getraut; den Frosch
trugen sie auf einem Teller.
So leben sie nun. Der Zar wollte einmal an Ge-
schenken von seinen Schwiegertöchtern sehen,
welche von ihnen die geschickteste ist. Er erließ
einen Befehl, die Schwiegertöchter sollen ein
Hemd nähen und ihm bringen, um zu zeigen, wel-
che am besten nähen kann. Iwan-Zarewitsch ver-

378
sank wieder in Nachdenken und weint: „Was wird
nur mein Frosch machen! Alle werden spotten.“
Der Frosch kriecht über den Fußboden und quakt
nur. Als Iwan-Zarewitsch eingeschlafen ist, ging
er vors Haus, warf seine Haut ab, wurde zu einem
schönen Mädchen und rief: „Ihr Ammen und Zau-
berinnen! Macht das und das!“ Die Zauberammen
brachten auf der Stelle ein Hemd allerbester Ar-
beit. Sie nahm es, rollte es zusammen und legte
es neben Iwan-Zarewitsch; sie selber aber wurde
wieder zu einem Frosch, als wäre gar nichts ge-
wesen! Iwan-Zarewitsch wachte auf, freute sich,
nahm das Hemd und trug es zum Zaren. Der Zar
nahm’s und betrachtete es: „Ja, das ist ein Hemd
– das kann man am Ostersonntag anziehen!“ Der
mittlere Bruder brachte ein Hemd; der Zar sagte:
„Nur im Bad kann man darin gehen!“ Und vom
ältesten Bruder nahm er das Hemd und sagte: „In
einer Bauernhütte kann man es tragen!“ Die Za-
rensöhne gingen auseinander; die zwei aber re-
den untereinander: „Nein, wir haben gewiß um-
sonst über die Frau Iwan-Zarewitschs gespottet;
sie ist kein Frosch, sondern irgendeine ganz
Schlaue!“
Der Zar gibt wieder einen Befehl, die Schwie-
gertöchter sollen Brot backen und ihm bringen,
um zu zeigen, welche am besten backen kann.
Jene Schwiegertöchter hatten zuerst über den
Frosch gespottet, jetzt aber, da die Zeit heran-
kam, schickten sie ihre Kammerzofe, heimlich zu
sehen, wie sie backen würde. Der Frosch merkte
das aber, rührte kurzerhand den Teig an, rollte

379
ihn, meißelte den Ofen oben auf und schüttete
den Teig geradewegs dorthinein. Die Kammerzofe
sah’s, lief davon, erzählte es ihren Herrinnen, den
Schwiegertöchtern des Zaren, und die machten es
genauso.
Aber der Frosch hatte sie nur genasführt; er
kratzte alles sogleich wieder aus dem Ofen, mach-
te ihn sauber, verschmierte ihn, als wäre gar
nichts gewesen, ging auf die Schloßtreppe,
schlüpfte aus seiner Haut und rief: „Ihr Ammen
und Zauberinnen! Backt mir sogleich solche Brote,
wie sie mein Vater nur an Sonn- und Feiertagen
gegessen hat.“ Die Zauberammen brachten das
Brot sogleich angeschleppt. Sie nahm es, legte es
neben Iwan-Zarewitsch und wurde wieder zu ei-
nem Frosch. Iwan-Zarewitsch wachte auf, nahm
das Brot und trug es zu seinem Vater. Der Vater
war gerade dabei, die Brote von den älteren Brü-
dern entgegenzunehmen; ihre Frauen hatten die
Brote genauso in den Ofen geworfen wie der
Frosch, und daher war bei ihnen ein schreckliches
Zeug herausgekommen.
Der Zar nahm zuerst das Brot vom ältesten
Sohn, sah es an und schickte es in die Küche;
vom mittleren nahm er’s und schickte es eben-
dorthin. Nun war Iwan-Zarewitsch an der Reihe;
er reichte sein Brot hin. Der Vater nahm’s, sah es
an und sagt: „Das ist ein Brot, am Ostersonntag
zu essen! Nicht so eines wie bei den älteren
Schwiegertöchtern, mit Schliff!“
Danach gefiel es dem Zaren, einen Ball zu ver-
anstalten, um zu sehen, welche von seinen

380
Schwiegertöchtern am besten tanzen kann. Alle
Gäste und Schwiegertöchter waren versammelt
bis auf Iwan-Zarewitsch; der überlegte: wohin soll
ich mit dem Frosch fahren? Und unser Iwan-
Zarewitsch schluchzte laut auf. Da sagt der Frosch
zu ihm: „Weine nicht, Iwan-Zarewitsch! Geh nur
zum Ball. Ich werde in einer Stunde dasein.“
Iwan-Zarewitsch freute sich ein wenig, als er hör-
te, daß der Frosch sprechen kann; er fuhr davon,
der Frosch aber ging, warf seine Haut ab und zog
sich ganz wunderbar an! Er kommt auf den Ball;
Iwan-Zarewitsch freute sich, und alle klatschten in
die Hände: was für eine Schönheit! Sie begannen
zu essen; die Zarin nagte immer ein Knöchelchen
ab – und in den Ärmel damit, trank etwas – und
den Rest in den anderen Ärmel. Jene Schwieger-
töchter sehen, was sie tut, und sie stecken sich
die Knochen auch in die Ärmel, trinken etwas, und
den Rest schütten sie in die Ärmel. Dann kam das
Tanzen an die Reihe; der Zar schickt seine älteren
Schwiegertöchter, aber die schieben den Frosch
vor. Der faßte sogleich Iwan-Zarewitsch an und
ging; und er tanzte und tanzte, drehte und drehte
sich – alle waren starr! Er schwenkte den rechten
Arm – da entstanden Wälder und Gewässer,
schwenkte den linken – da flogen verschiedenar-
tige Vögel heraus. Alle verwunderten sich. Als er
zu tanzen aufhörte, war nichts davon mehr da.
Die anderen Schwiegertöchter gingen tanzen und
wollten es genauso machen: die eine schwenkt
den rechten Arm, da fliegen die Knochen nur so
heraus, und mitten unter die Leute, aus dem lin-

381
ken Ärmel spritzt Wasser heraus, ebenfalls mitten
unter die Leute. Dem Zar mißfiel das, und er
schrie: „Genug, genug!“ Die Schwiegertöchter
hörten auf. Der Ball ging dem Ende zu. Iwan-
Zarewitsch fuhr voraus, fand dort irgendwo die
Haut seiner Frau, nahm sie und verbrannte sie.
Sie kommt, vermißt die Haut: nicht da! – ver-
brannt. Sie legte sich mit Iwan-Zarewitsch schla-
fen; vor Morgengrauen sagt sie zu ihm: „Nun,
Iwan-Zarewitsch! Ganz hast du es nicht ausgehal-
ten; ich wäre die deine gewesen, aber jetzt – das
weiß nur Gott. Leb wohl! Suche mich hinter drei-
mal neun Ländern, im dreimal zehnten Zaren-
reich!“ Und damit war die Zarin verschwunden.
Ein Jahr war vergangen, Iwan-Zarewitsch sehnt
sich nach seiner Frau, und aufs zweite Jahr rüste-
te er sich zur Reise, erbat von Vater und Mutter
den Segen und zog los. Er geht schon lange, da
trifft er auf einmal auf eine Hütte – zum Wald mit
der Vorderseite, zu ihm mit der Hinterseite. Er
sagt: „Hütte, Hütte! Steh wie früher, wie die Mut-
ter dich gestellt hat – zum Wald mit der Hinter-
seit’ und zu mir mit der Vorderseit’!“ Die Hütte
drehte sich. Er ging in die Hütte; da sitzt eine Alte
und sagt: „Fuh, fuh! Von Menschenfleisch war
nichts zu riechen und nichts zu sehen, heute ist
Menschenfleisch von selber auf den Hof gekom-
men! Wohin willst du, Iwan-Zarewitsch?“ – „Erst
gib mir zu trinken und zu essen. Alte, dann frag
nach Neuigkeiten!“ Die Alte gab ihm zu trinken
und zu essen und legte ihn schlafen. Iwan-
Zarewitsch sagt zu ihr: „Großmütterchen! Ich bin

382
ausgezogen, die schöne Jelena zu suchen.“ –
„Ach, mein Kind, wie lange hast du auf dich war-
ten lassen. Sie hat in den ersten Jahren oft an
dich gedacht, jetzt aber schon nicht mehr, und sie
war auch schon lange nicht mehr bei mir. Geh
weiter zu meiner mittleren Schwester, die weiß
mehr.“
Iwan-Zarewitsch machte sich am Morgen auf
den Weg, gelangte zu einer Hütte und sagt: „Hüt-
te, Hütte! Steh wie früher, wie die Mutter dich ge-
stellt hat – zum Wald mit der Hinterseit’ und zu
mir mit der Vorderseit’!“ Die Hütte drehte sich. Er
ging hinein und sieht: eine Alte sitzt da und sagt:
„Fuh, fuh! Von Menschenfleisch war nichts zu rie-
chen und nichts zu sehen, aber heute ist Men-
schenfleisch von selbst auf den Hof gekommen!
Wohin willst du, Iwan-Zarewitsch?“ – „Je nun,
Großmütterchen, die schöne Jelena holen.“ –
„Ach, Iwan-Zarewitsch“, sagte die Alte, „wie lange
hast du auf dich warten lassen! Sie hat schon be-
gonnen, dich zu vergessen, sie heiratet einen an-
deren: bald ist Hochzeit! Sie lebt jetzt bei meiner
großen Schwester, geh dorthin, aber paß auf,
wenn du in ihre Nähe kommst, merken sie es an
ihr, und Jelena wird sich in eine Spindel verwan-
deln, und das Kleid an ihr wird zu Gold. Meine
Schwester wird das Gold wickeln; wenn sie die
Spindel abgewickelt und in einen Kasten gelegt
und den Kasten abgeschlossen hat, dann such
den Schlüssel, öffne den Kasten, zerbrich die
Spindel, wirf die Spitze hinter dich und das Unter-
teil vor dich; dann wird sie vor dir stehen.“

383
Iwan-Zarewitsch ging los, kam zu dieser Alten,
ging in die Hütte, sie wickelte Gold, wickelte es
ab. Die Spindel legte sie in einen Kasten, ver-
schloß ihn und legte den Schlüssel irgendwohin.
Er nahm den Schlüssel, öffnete den Kasten, nahm
die Spindel heraus und zerbrach sie, genau wie es
ihm gesagt worden war, warf die Spitze hinter
sich, das Unterteil aber vor sich. Plötzlich stand
die schöne Jelena da und begrüßte ihn: „Ach, wie
lange hast du auf dich warten lassen, Iwan-
Zarewitsch! Ich hätte beinahe einen anderen ge-
heiratet.“ Jener Bräutigam aber mußte bald kom-
men. Die schöne Jelena nahm einen fliegenden
Teppich von der Alten, sie setzten sich darauf und
fuhren los, flogen davon wie ein Vogel. Auf einmal
kam der Bräutigam an, erfuhr, daß sie fort waren;
er war auch ein Pfiffikus! Er setzte ihnen kurzer-
hand nach, jagte und jagte sie, und es fehlten nur
zehn Saschen, daß er sie eingeholt hätte: sie flo-
gen auf dem Teppich nach Rußland hinein, er aber
konnte aus irgendeinem Grunde nicht nach Ruß-
land und machte kehrt; sie flogen nach Hause,
alle freuten sich, und von nun an lebten sie ver-
gnügt und wurden reich, und ihr Lob war in aller
Munde.

384
36
Die Tochter des Zaren
In einem Zarenreich, in einem Staat lebte ein Zar.
Der hatte eine einzige Tochter. Und die ver-
schwand jede Nacht, unbekannt wohin. Der Zar
ließ überall bekannt machen: „Wer meiner Toch-
ter auf die Schliche kommt, dem gebe ich sie zur
Frau und gebe ihm das halbe Zarenreich, kommt
er ihr aber nicht auf die Schliche, verliert er sei-
nen Kopf.“
Rings um das Haus stand ein Pfahlzaun, der
war beinahe ganz mit Menschenköpfen behangen:
kein Tag verging, ohne daß ein neuer Kopf auf
einen neuen Pfahl kam.
Und es diente ein Soldat in einem Regiment.
Des Dienens war er überdrüssig. Er stand auf Wa-
che, nahm sein Gewehr und ging auf gut Glück
los. Ging er nun lange oder kurze Zeit, nah oder
fern, jedenfalls kam er auf eine Waldwiese, die
war glatt wie geeggt: da stehen drei Waldgeister
und teilen drei Dinge: eine Tarnkappe, ein Tisch-
tuch-deck-dich und einen fliegenden Teppich.
„Gott helf euch, ihr drei Waldgeister, die drei Din-
ge zu teilen!“ – „Danke, Soldat! Teile uns diese
Dinge!“ Der Soldat lud sein Gewehr und sagt: „Ich
schieße, wer vorn die Kugel fängt, bekommt die
drei Dinge!“

385
Der Soldat schoß, aber er hatte das Gewehr
einfach umgedreht. Die Kugel flog nach hinten,
die Waldgeister aber rannten nach vorn, die Kugel
zu haschen. Der Soldat, nicht faul, setzte die
Tarnkappe auf, setzte sich auf den fliegenden
Teppich und flog auf gut Glück los.
Er kommt in eben das Reich geflogen, wo im-
mer die Zarentochter verschwand.
Er nahm alle diese Dinge, knüllte sie zusam-
men, steckte sie in seinen Beutel und ging zum
Zaren. „Ich will auf eure Tochter aufpassen, aber
nicht nur eine Nacht, sondern drei Nächte!“ Der
Zar sagte: „Wenn du ihr auf die Schliche kommst,
gebe ich sie dir zur Frau, kommst du ihr aber
nicht auf die Schliche, schlage ich dir den Kopf ab
und hänge ihn an einen Zaunpfahl.“
Er führte den Soldaten zur Zarentochter ins
Schlafzimmer. Das hatte eine Zwischenwand: in
dem einen Teil ist der Wächter untergebracht, in
dem anderen die Zarentochter. Kaum hatte sich
der Soldat ausgezogen und aufs Sofa gesetzt,
kommt die Zarentochter heraus und gießt ihm ein
Glas Schnaps ein: „Trink, Soldat!“ Der Soldat
nahm das Glas, tat, als trinkt er’s aus – drehte
sich um und goß es kurzerhand aus. Darin hatte
sie ein Schlafpulver gehabt, das hatte der Soldat
erraten: er war nicht dumm.
Als er der Zarentochter das leere Glas gegeben
hatte, fiel er hintenüber und tat, als sei er einge-
schlafen. Die Zarentochter guckte durch ein Loch
in der Wand ihres Zimmers – der Soldat schnarch-
te schon.

386
Sie rief mit leiser Stimme ihre Dienerinnen und
sagt: „Bringt mir zwölf Paar Schuhe und zwölf
Paar Strümpfe!“ Sie brachten’s ihr. Unter ihrem
Bett aber war eine Geheimtür zum Keller. Sie
drückte eine Feder, und die Tür ging auf: sie
steigt hinab. Aber der Soldat hatte inzwischen
seinen Beutel geöffnet, die Tarnkappe genommen,
setzte sie auf den Kopf und war nicht mehr zu se-
hen.
Die Zarentochter ging in den Keller, er hinter-
her. Unten lag eine Zauberplatte. Die Zarentoch-
ter hob sie hoch und stieg hinab unter die Erde.
Und der Soldat hinterher.
Sie wollte zum Zaren der Unterwelt. Einige Zeit
lief sie, hielt an – da war dort ein kupferner Gar-
ten: ein kupferner Apfelbaum, aus Kupfer auch
die Äpfel. Kaum war sie in den Garten hineinge-
sprungen, schwupp, riß der Soldat einen kupfer-
nen Apfel ab und steckte ihn in seinen Beutel.
Plötzlich begannen Glocken zu läuten und Kano-
nen und Gewehre zu schießen: es wurde Alarm
gegeben.
Die Zarentochter erhielt keinen Durchlaß. Sie
kehrte also heim. Sie betritt ihr Schlafzimmer,
aber der Soldat liegt schon auf seinem Lager, er
war vor ihr herausgerannt (die Gärten des Unter-
weltszaren sehen nur aus wie Gärten, es sind
Vorposten). Die Zarentochter guckte durch das
Loch: „Schlaf nur, Soldat, in zwei Tagen wird dir
mein Vater den Kopf abschlagen!“
Am Morgen singt noch kein Vogel, aber der
Soldat brüllt schon aus vollem Halse: „Los, mein

387
Mittagessen her. Wein und Samowar!“ Und es ist
alles für ihn bereit, sie bringen’s. Er heizte den
ganzen Tag ein.
Am Abend aber kommt die Zarentochter her-
aus, bringt ihm ein goldenes Glas voll Schnaps:
„Trink, Soldat!“ Der Soldat nahm das Glas, tat so,
als trinkt er’s aus – drehte sich um und goß es
kurzerhand aus. Als er der Zarentochter das leere
Glas gegeben hatte, fiel er hintenüber, als wäre er
eingeschlafen. Der Zarentochter wurden zwölf
Paar Schuhe und zwölf Paar Strümpfe gebracht,
sie stieg hinab unter die Erde und lief los. Der
Soldat hinterher. Den kupfernen Garten hatte sie
schon hinter sich. Sie kam zu einem silbernen. Ein
silberner Apfelbaum, aus Silber auch die Äpfel.
Der Soldat riß einen Apfel ab, knüllte ihn zusam-
men und steckte ihn in seinen Beutel. Plötzlich
begannen Glocken zu läuten, es wurde Großalarm
gegeben. Sie erhielt wieder keinen Durchlaß. Sie
kehrte heim, der Soldat aber war schon wieder
vor ihr auf seinem Lager. Sie guckte durch das
Loch und sprach zu sich: „Schlaf nur, Soldat, noch
einen Tag, und mein Vater wird dir den Kopf ab-
schlagen!“
Am Morgen singt noch kein Vogel, aber der
Soldat brüllt schon aus vollem Halse: „Los, mein
Mittagessen her. Wein und Samowar!“ Und es
wird ihm alles gebracht.
Am dritten Abend kommt die Zarentochter her-
aus und bringt ihm einen goldenen Becher voll
Schnaps mit einem Pulver. Der Soldat denkt: „Ein
wenig will ich kosten!“ Er schluckte einen Schluck

388
hinter, den Rest goß er aus: kaum hatte er der
Zarentochter den Becher gegeben, da fiel er hin-
tenüber und schlief ein. Der Zarentochter wurden
zwölf Paar Schuhe und zwölf Paar Strümpfe ge-
bracht; sie stieg hinab unter die Erde und lief los,
der Soldat aber blieb zurück.
Drei Minuten später wachte der Soldat auf und
sieht: die Zarentochter ist fort. Er nahm seine
Tarnkappe, setzte sie auf den Kopf, drückte die
Feder: die Geheimtür ging auf, und der Soldat
stieg hinab in den Keller. Dort begann er, die Plat-
te herumzuwälzen. Die Platte war schwer, und er
konnte sie nicht sofort hochheben. Schließlich
nahm er all seine Kräfte zusammen, hob die Plat-
te recht und schlecht hoch und stieg hinab unter
die Erde. Er durchlief den kupfernen Garten, den
silbernen Garten durchlief er, aber die Zarentoch-
ter war nicht da. Er kommt zu einem goldenen
Garten, auch hier ist die Zarentochter nicht. Er
pflückte einen goldenen Apfel. Wieder wurde
Alarm gegeben. Weil aber die Zarentochter schon
durch war, konnten sie sie nicht aufhalten, der
Soldat aber war in seiner Tarnkappe – er war
nicht zu sehen und ging weiter.
Er kommt zum Meer und sieht: die Zarentoch-
ter steigt einen Berg empor. Dort war ein Kristall-
berg. Dieser Berg ist das Meeresufer. Hier erreich-
te der Soldat die Zarentochter. Die Zarentochter
trat an den Rand des Berges und sagt: „Erschei-
ne, Wagen ohne Achsen und ohne Räder, einfach
so in der Luft!“ Der Wagen erschien, die Zaren-
tochter setzte sich hinein, der Soldat ihr auf die

389
Knie, und sie fuhren davon übers Meer zum Zaren
von jenseits des Meeres.
Der Zar empfängt die Zarentochter und sagt:
„Ljubuschka, warum bist du zwei Tage nicht bei
mir gewesen?“ – „Deine verfluchten Diener haben
mich ja nicht durchgelassen!“ – „Ich werde sofort
befehlen, alle Diener abzulösen.“ Er nahm ihren
Arm und führte sie in seinen Palast. Und der Sol-
dat hinterher.
Er setzte sie auf einen Stuhl; er hatte aber eine
Karaffe Biet-selbst-an: sie gießt selber ein und
bietet selber an. Der Zar sagte: „Karaffe, biete
an!“ Die Karaffe sprang aus dem Schrank, ehe
man sich’s versah. Gießt selber ein und bietet sel-
ber an, zuerst dem Zaren, dann der Zarentochter
und übergeht auch den Soldaten nicht. Der Zar
fragt: „Ljubuschka, was ist denn das, wir sind nur
zwei, sie aber gießt dreimal ein, wem bietet sie
denn an?“ – „Ich weiß nicht. Nur als ich heute
übers Meer fuhr, war auf meinen Knien eine
schreckliche Last.“
„Nun denn, gehen wir jetzt. Was für ein Kleid
und was für Schuhe ich für dich besorgt habe!“ Er
nimmt’s aus dem Schrank und zeigt’s der Zaren-
tochter. Kleid und Schuhe waren von unbeschreib-
licher Schönheit. Der Soldat aber nahm alles,
knüllte’s zusammen und steckte es in seinen Beu-
tel.
„Nun, Ljubuschka, jetzt wirst du nicht mehr so
zu mir kommen: wir beide werden jetzt heiraten!“
– „Um nichts in der Welt! Ich muß noch einmal bei
meinem Vater sein“, sagt sie. „Warum?“ – „Ich

390
muß zusehen, wie mein Vater dem Soldaten den
Kopf abschlägt!“
Sie unterhielten sich ein Weilchen. Der Zar von
jenseits des Meeres begleitete die Zarentochter.
Als sie ans Meeresufer kamen, sagte sie: „Er-
scheine, Wagen ohne Achsen und ohne Räder,
einfach so in der Luft!“ Der Wagen erschien, die
Zarentochter setzte sich hinein, der Soldat aber
kam nicht dazu, sich ihr auf die Knie zu setzen,
weil er schon ordentlich beschwipst war. Der Wa-
gen flog davon, und der Soldat konnte gerade
noch hinten die Stangen erhaschen (es waren da
wohl irgendwelche Stangen angebracht). Er er-
wischte sie und wurde mitgezogen. Sie fuhren
übers Meer. Dann ergriff er den Wagen, knüllte
ihn zusammen und steckte ihn in seinen Beutel.
Die Zarentochter lief – sie trug schon das letzte
Paar Schuhe und das letzte Paar Strümpfe; als sie
in ihr Schlafzimmer kam, sah sie durch das Loch
nach dem Soldaten; der Soldat schlief schon auf
seinem Lager. Da lachte die Zarentochter: „Schlaf
nur, Soldat, morgen früh wird dir mein Vater den
Kopf abschlagen!“
Am anderen Tag singt noch kein Vogel, der Sol-
dat aber brüllt aus vollem Halse – er verlangt
Wein, sein Mittagessen und den Samowar.
Der Zar kommt selber, zieht den Säbel und will
dem Soldaten den Kopf abschlagen. Der Soldat
sprang beiseite: „Da hört sich doch alles auf! We-
gen solcher Schweinehunde die Köpfe abschla-
gen!“

391
Er setzte seine Tarnkappe auf – und war nicht
mehr zu sehen. Und er sagt: „Zar, du denkst, ich
habe deine Tochter entwischen lassen?! Nein, ich
weiß alles. Versammle alle deine Generäle, dann
werde ich es schon erklären.“
Als alle versammelt waren, bat der Soldat zu
verbürgen, wer seine Rede unterbricht, der soll
hundert Rubel zahlen und hundert Rutenhiebe be-
kommen. Alle waren’s einverstanden. Da erzählte
der Soldat, wie alles war…
Als er zu dem kupfernen Garten kam, sagte ein
General: „Das ist nicht wahr, so etwas gibt es
nicht!“ Der Soldat öffnet seinen Beutel: „Und was
ist das?“ sagt er. Sogleich wurde der General auf
den Fußboden gelegt und durchgebläut; und sie
bläuten ihn durch, daß es eine Art hatte!
Als er zu dem silbernen Garten kam, sagte der
zweite General: „So etwas gibt es nun aber be-
stimmt nicht! Einen kupfernen Garten, meinetwe-
gen, das haben wir schon gesehen, aber einen
silbernen hat man noch nie gesehen!“ Der Soldat
öffnet seinen Beutel: „Und was ist das?“ sagt er.
Sogleich wurde der General auf den Fußboden ge-
legt und durchgebläut; und sie bläuten ihn durch,
daß es eine Art hatte.
Als er zum goldenen Garten kam, sagte der
dritte General: „So etwas gibt es nun aber be-
stimmt nicht! Einen kupfernen, einen silbernen
haben wir schon gesehen, aber goldene hat man
noch nie gesehen!“ Der Soldat öffnet seinen Beu-
tel: „Und was ist das?“ sagt er. Sogleich wurde

392
der General auf den Fußboden gelegt und durch-
gebläut!…
„Wir kamen zum Zaren von jenseits des Mee-
res. Und der Zar hat eine Karaffe Biet-selbst-an:
die gießt selber ein und bietet selber an.“ Er stellt
sie auf den Tisch und sagt: „Karaffe, biete an.“
Die Karaffe bot allen an. Und alle lobten ihn.
Darauf holte er das Kleid heraus. Erklärte alles.
Der Zar befahl sogleich seiner Tochter, sich für die
Trauung mit dem Soldaten zu schmücken. Den
Bräutigam fragt er: „Nun, Soldat, fährst du nach
Hause, oder willst du hierbleiben?“ – „Nach Hau-
se“, sagte der. Der Zar belohnte ihn reichlich.
Und sie machten sich auf einem Schiff auf die
Heimfahrt. Die Zarentochter fragt den Soldaten:
„Warum fährst du nach Hause?“ – „Ich werde mä-
hen, mit der Sense, und dich werde ich auch dazu
zwingen.“ Die Zarentochter sagt: „Was fällt Euch
ein, haben wir etwa bei meinem Vater nicht genug
zum Leben?“ – „Laß nur, sonst läßt du dir’s einfal-
len, zum Unterweltszaren von jenseits des Meeres
zu fliehen!“
Da bat die Zarentochter den Soldaten unter
Tränen, er solle sie nicht fortbringen, und schwor,
ihm auf ewig treu zu sein. Der Soldat kehrte zum
Zaren zurück, und als der Zar starb, wurde er
Zar.

393
37
Die Schafe im Meer
In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal
ein alter Mann; er lebte in Armut, aber er hatte
drei Söhne – der älteste war klug, der mittlere
war nicht gerade klug, aber doch kein Dummkopf,
der jüngste aber war ganz und gar ein Dumm-
kopf. Die Not peinigte sie, daß es nicht mehr zum
Aushalten war, und der älteste Sohn sagt:
„Lag mich fort, Vater, ich will gehen und Arbeit
suchen.“
Nun, der Vater wollte ihn nicht gleich fortlas-
sen: „Wohin willst du denn gehen?“
„Je nun, ehe ich so lebe, will ich lieber arbeiten
gehen.“
„Nun, geh mit Gott!“
Der Älteste ging los und kommt an einen Fluß,
der war nicht gerade tief, aber breit; am Ufer sitzt
eine Alte und bittet:
„Wackerer Bursche, trag mich auf die andere
Seite hinüber!“
„Hol dich der und jener, alter Satan, wenn ich
nur selber hinüberkomme!“ Er watete durch den
Fluß und ging weiter. Ging er nun nah oder fern,
niedrig oder hoch, jedenfalls erblickte er eine klei-
ne Hütte, und in der Hütte war ein alter Mann:
„Wohin willst du, wackerer Bursche?“
„Arbeit suchen, Großvater.“

394
„Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht
– Schafe hüten; hütest du drei Tage und be-
kommst heraus, was die Schafe fressen – drei-
hundert Rubel, kriegst du’s nicht heraus – drei-
hundert Peitschenhiebe.“ Er dachte: „Wie soll ich
das nicht herausbekommen, was die Schafe fres-
sen?“
„Ich krieg’s heraus“, sagt er.
Nun, sie tranken Kwaß, beteten zum Heiland
und legten sich schlafen. Am Morgen stand er auf
und trieb die Schafe aus. Die Schafe gingen zum
Meer, der schwarze Schafbock sprang ins Meer
und die Schafe ihm nach. Da steht der Bursche
und überlegt, was er tun soll. Er weinte und wein-
te, wie er sich aber helfen soll in seiner Not, weiß
er nicht. Am Abend stiegen die Schafe aus dem
Meer, er trieb sie heim und sagte dem Alten
nichts. Am anderen Tag genauso, und am dritten
trieb er sie wieder heim, rupfte aber vorher Gras
und steckte es unters Hemd. Wie er die Schafe
eintreibt, fragt der Alte:
„Nun, hast du herausbekommen, was die Scha-
fe fressen?“
„Ja.“ Und er zeigt das Gras.
Da band ihn der Alte an einen Pfahl und gab
ihm dreihundert Peitschenhiebe. Der Bursche
schleppte sich mit knapper Not nach Hause.
Auch der zweite begann zu betteln, aber der
Vater wollte ihn nicht gehen lassen: „Der ist schon
krank zurückgekommen, und jetzt willst du fort.“
Aber er gehorchte nicht und ging.

395
Ging er nun nah oder fern, niedrig oder hoch,
jedenfalls kommt er an einen Fluß, der ist nicht
gar so tief, aber breit. Am Ufer sitzt eine Alte und
sagt:
„Wackerer Bursche, trag mich auf die andere
Seite hinüber!’
„Hol dich der und jener, alter Satan, wenn ich
nur selber hinüberkomme!“
Und er watete hindurch.
Wie er drüben ist, geht er weiter und sieht eine
kleine Hütte, und in der Hütte sitzt ein alter Mann.
„Wohin willst du, wackerer Bursche?“
„Ich gehe Arbeit suchen, Großvater.“
„Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht
– drei Tage Schafe hüten; kriegst du heraus, was
die Schafe fressen – dreihundert Rubel, kriegst
du’s nicht heraus – dreihundert Peitschenhiebe.“
„Nun“, denkt er, „wie soll ich das nicht heraus-
kriegen; ich krieg’s heraus“, und er schlug ein. Es
endete genauso wie bei dem älteren Bruder.
Mit Mühe und Not schleppt er sich nach Hause;
der Vater sah’s und wurde böse.
„Da siehst du, was du dir verdient hast.“
Aber auch der erzählte nicht, was mit ihm ge-
wesen war.
Da wollte Iwan der Dummkopf gehen.
„Wohin willst du denn gehen, du siehst doch,
wieviel deine Brüder verdient haben.“
„Nun, ich gehe trotzdem.“
Und er ging.

396
Ging er nun nah oder fern, niedrig oder hoch,
jedenfalls geht er und sieht einen Fluß, nicht tief,
aber breit. Am Ufer sitzt eine Alte und bittet:
„Wackerer Bursche, trag mich auf die andere
Seite hinüber.“
„Setz dich nur auf meine Schultern!“
Die Alte saß auf, er trug sie flink ans andere
Ufer, und die Alte sagt zu ihm:
„Nun höre, Iwan, wenn du mich einmal
brauchst, dann sage nur: ,Wo ist mein Großmüt-
terchen?’ Ich werde zur Stelle sein.“
Iwan ging weiter.
Er geht – da steht auf einmal eine kleine Hütte,
und in der Hütte ist ein alter Mann.
„Wohin willst du, junger Mann?“
„Arbeit suchen, Großvater.“
„Verding dich zu mir, bei mir ist die Arbeit leicht
– Schafe hüten; kriegst du heraus, was die Schafe
fressen – dreihundert Rubel, kriegst du’s nicht
heraus – dreihundert Peitschenhiebe.“
„Nun gut, ich will’s versuchen.“ Bei sich aber
denkt er: „Hier ist es wohl gewesen, wo es meine
Brüder erwischt hat.“
Sie tranken Kwaß, beteten zum Heiland und
legten sich schlafen.
Am Morgen stand er auf und trieb die Schafe
aus. Kaum waren sie ans Meer gekommen,
sprang der Schafbock ins Wasser und die Schafe
hinterher. Iwan steht da und denkt: „Da hast du
die Bescherung, was nun?“ Am Abend stiegen die
Schafe aus dem Meer, und Iwan trieb sie heim.
Am zweiten Tag dasselbe. Iwan weiß nicht, was er

397
tun soll, er ist dicht am Weinen: „So verdiene ich
mir ja dreihundert Peitschenhiebe“, und da fiel
ihm ein:
„Wo ist mein Großmütterchen?“
„Ich bin zur Stelle“, steht sie schon neben ihm.
Da erzählte er ihr, daß die Schafe ins Meer ver-
schwinden und er nicht herausbekommen kann,
was sie fressen. Sie sagt zu ihm:
„Du mußt folgendes machen, Iwan: Wenn du
die Schafe austreibst, geh hinter dem schwarzen
Schafbock her; wenn er ins Meer springt, pack ihn
an den Hörnern und setz dich auf ihn drauf. Und
dort paß gut auf: was sie geben werden, das
nimm, dann wirst du herausbekommen, wovon
sich die Schafe ernähren. Das ist noch nicht alles:
wenn du die Schafe heimgetrieben hast und dem
Alten gibst, wovon sich die Schafe ernähren, dann
nimm von ihm weder Gold noch etwas anderes,
sondern erbitte von ihm den Sack Schüttel-dich,
den Beutel Schüttel-dich, die Kappe Sieh-mich-
nicht und die Stiefel Laufe-schnell.“
Den dritten Tag trieb Iwan die Schafe zum Meer
und wich nicht von dem schwarzen Schafbock;
sobald der ins Meer springen will, packt Iwan ihn
bei den Hörnern, sitzt auf seinem Rücken und
springt so mit dem Bock ins Meer. Der Schafbock
war plötzlich ein Pope und die Schafe Menschen,
und er hielt eine Messe, und nach der Messe ver-
teilten sie Weihbrote, und alle gaben Iwan ein
ganzes Weihbrot; er nahm’s und steckte alles un-
ters Hemd; darauf wurden alle wieder zu Schafen
und der Pope zum Schafbock. Iwan packte den

398
Schafbock bei den Hörnern und stieg aus dem
Meer. Er trieb die Schafherde heim, und der Alte
fragt:
„Nun, wie ist’s, hast du herausgekriegt, wovon
sich die Schafe ernähren?“
„Ja“, und er holte die Weihbrote aus seinem
Hemd hervor und gab sie dem Alten.
Bei dem Alten wurden die Weihbrote zu Stei-
nen. Da will er Iwan Gold geben, der aber sagt,
daß er kein Gold braucht, sondern den Sack
Schüttel-dich, den Beutel Schüttel-dich, die Kappe
Sieh-mich-nicht und die Stiefel Laufe-schnell. Wie
sich der Alte auch winden mochte, er mußte alles
herausgeben.
Iwan nahm’s und machte sich auf den Heim-
weg, da war die Alte zur Stelle:
„Nein, es ist noch zu früh für dich, nach Hause
zu gehen, komm mit in die Stadt.“
Er ging mit der Alten in die Stadt, da sagt sie:
„Höre, schüttle deinen Sack Schüttel-dich,
schüttle eine hübsche Menge Geld zusammen und
miete Zimmerleute, ein Schiff zu bauen, miete
tüchtige Ruderer und laß das Segel hissen.“
Sie machten das Schiff, und die Alte fuhr mit
Iwan los. Die Alte gibt ihm ein Fernrohr:
„Sieh durch“, sagt sie, „du hast jüngere Au-
gen.“
Er sah durch und sagt:
„Irgend etwas Schwarzes ist dort in der Ferne
zu sehen.“
„Genau dorthin laß das Schiff fahren.“

399
Das Schiff machte eine Wendung und fuhr dort-
hin; sie kamen an eine Insel. Da sagt die Alte:
„Nun, geh über diese Insel und sieh, was es
dort Interessantes gibt.“
Iwan ging lange auf der Insel umher, fand
nichts Interessantes, sah dort nur Zarenvögel und
Kaiserfedern, sammelte die Eier und zerschlug sie
an Baumstümpfen; dann fand er irgendwelche
Ruinen, Ziegel liegen herum.
Er kehrte zum Schiff zurück, und das Großmüt-
terchen fragt ihn:
„Nun, was hast du dort Interessantes oder
Lehrreiches gesehen?“
„Nichts habe ich gesehen, Großmütterchen, ha-
be nur Zarenvögel und Kaiserfedern gesehen; Eier
habe ich gesammelt und an den Baumstümpfen
zerschlagen.“
„Und weiter hast du nichts gesehen?“
„Ich habe noch irgendwelche Ruinen gesehen,
Ziegel liegen herum.“
„Das eben brauchen wir; schicke die Ruderer,
sie sollen diese Ziegel bis auf den letzten zusam-
mentragen und hierherbringen.“
Iwan schickte die Ruderer, die trugen alle Zie-
gel zusammen und brachten sie aufs Schiff.
Sie fuhren in ein Zarenreich, einen Staat.
Sie kamen dort an, da schickt die Alte Iwan:
„Bring dem Zaren ein Geschenk“, und sie nahm
ein paar Ziegel, verbot ihm aber, sie bei offenen
Fenstern zu zeigen.
Iwan kommt zum Zaren und bittet, ihn zu mel-
den. Der Zar befahl, ihn vorzulassen:

400
„Was hast du mir zu sagen, Bursche?“
„Hier, Kaiserliche Majestät, habe ich dir ein Ge-
schenk gebracht, man darf es aber nicht bei offe-
nen Fenstern ansehen, die Fensterläden müssen
geschlossen werden.“
Der Zar befahl, die Läden zu schließen. Iwan
öffnete sein Bündel, da war es, als wenn in dem
Gemach die Sonne erstrahlte – so hell wurde es;
die Steine brennen wie Feuer und schillern in den
verschiedensten Farben. Der Zar freute sich, be-
dankte sich bei dem Dummkopf und erteilte ihm
die Erlaubnis, durch das ganze Reich zu gehen
und sich alles anzusehen. Iwan geht durch die
Stadt und sieht, was es dort Nützliches, was es
dort Lehrreiches gibt. Auf einmal sieht er, es steht
da eine große, riesengroße, hohe und nochmals
hohe Säule, und an der Säule ist eine große Tafel,
auf der geschrieben steht:
„Wer mir erklären kann, wo die Königstochter
zwölf Paar Schuhe in einer Nacht durchtanzt, dem
gebe ich sie zur Frau.“
Iwan kommt nach Hause, und das Großmütter-
chen fragt ihn:
„Wie ist’s, warst du beim König?“
„Ja, er hat mir die Erlaubnis gegeben, durch die
ganze Stadt zu gehen und mir alles anzusehen.“
„Nun, was hast du dort Nützliches und Lehrrei-
ches gesehen?“
„Nichts habe ich gesehen, nur eine hohe und
nochmals hohe, große, riesengroße Säule habe ich
gesehen, daran eine große Tafel, und auf der
stand geschrieben: ‚Wer mir erklären kann, wo

401
die Königstochter in einer Nacht zwölf Paar Schu-
he durchtanzt, dem gebe ich sie zur Frau.’“
„Nun siehst du, das ist etwas Lehrreiches und
Nützliches; setz die Kappe Sieh-mich-nicht auf
und zieh die Stiefel Laufe-schnell an und geh ins
Schloß zur Königstochter; was sie tun wird, das tu
du auch.“
Er machte alles so. Kommt zur Königstochter,
und sie gibt Befehl, zwölf Paar Schuhe zu putzen,
darauf befahl sie, ihr Tee zu bringen; man setzte
sich zum Tee, und Iwan sitzt daneben und trinkt
auch. Sie gießen eine Tasse ein, da ist sie schon
leer; er stößt die Zarentochter an, sie verschüttet
oder zerschlägt die Tasse.
„Was ist mit mir los“, sagt die Zarentochter,
„ich verschütte und zerbreche alles.“
Nach dem Tee besprengte sie sich aus einem
Parfümfläschchen, warf sich auf den Fußboden
und flog fort. Dann ging sie zum Ufer. Iwan tat
dasselbe – und ihr nach; sie rief Ruderer herbei,
ein Boot fuhr vor, sie setzte sich in das Boot, fuhr
zu einer Insel, und Iwan mit ihr. Sie kamen an,
die Königstochter stieg ans Ufer, schwenkte ein
Tuch, und sogleich erschien ein Schloß. Sie ging in
das Schloß hinein und begann, die Türen aufzu-
schließen, eine nach der anderen, zwölf Türen. Sie
kamen ins zwölfte Zimmer; sie stieß eine Truhe
auf, ließ einen Hasen heraus, schlug ihn auf die
Backe, aus dem Hasen wurde ein Musikant, der
begann zu spielen und die Zarentochter zu tan-
zen. Sie tanzt und tanzt ohne Pause. Am Morgen
sind alle zwölf Paar durchgetanzt. Die Königstoch-

402
ter schlug den Musikanten auf die Backe, es wur-
de ein Hase aus ihm, sie sperrte ihn in die Kiste,
ging hinaus, schwenkte ihr Tuch – das Schloß war
weg, nur ein Ei war geblieben; sie nahm das Ei in
ihr Tuch, ging zum Ufer, setzte sich ins Boot, und
sie fuhren davon. Unterwegs fragt sie die Rude-
rer:
„Wie kommt’s, daß das Boot heute so schwer
von der Stelle kommt?“
„Ja, wir rudern mit Mühe, als ob irgendeine Last
darin wäre.“
Sie stieg an Land, warf sich auf die Erde und
flog davon. Und Iwan flog auch davon. Am ande-
ren Tag dasselbe, nur während sie tanzte, nahm
Iwan das Tuch, verschloß die Zimmer, ging hin-
aus, schwenkte das Tuch, legte das Ei hinein und
steckte’s in die Tasche. Er kommt nach Hause und
erzählt alles dem Großmütterchen. Da sagt sie zu
ihm: „Geh und sag dem Zaren, er soll alle auslän-
dischen Gäste versammeln, dann erklärst du ihm,
wo die Zarentochter in einer Nacht zwölf Paar
Schuhe durchtanzt.“
Iwan ging zum Zaren und sagte:
„Ich kann erklären, wo die Zarentochter in einer
Nacht zwölf Paar Schuhe durchtanzt, nur ladet alle
ausländischen Gäste dazu ein.“
Das sagte er, damit der Zar sein Wort nicht zu-
rücknahm und ihm die Zarentochter gab.
Als alle ausländischen Besucher versammelt
waren, bat Iwan alle, ihm zu folgen. Sie kamen
ans Ufer, er rief die Ruderer herbei, sie fuhren zur
Insel hinüber, dann schwenkte Iwan das Tuch,

403
sofort wuchs das Schloß empor, sie gingen alle
mit ihm ins Schloß, er öffnete alle elf Türen,
kommt zur zwölften, schließt auf, und alle sahen
sogleich, daß die Königstochter noch immer tanz-
te. Alle Schuhe waren schon durchgetanzt, ihre
Füße waren ganz blutig, aber sie tanzte immer
weiter. Da ging Iwan zu dem Musikanten, schlug
ihn auf die Backe, und er wurde wieder zum Ha-
sen; er setzte ihn in den Kasten und schloß ab.
Die Zarentochter brachten sie ins Schloß, Iwan
aber schwenkte das Tuch, und das Schloß war
verschwunden, das Ei aber steckte er in die Ta-
sche. Danach blieb dem Zaren nichts anderes üb-
rig, als Iwan die Königstochter zur Frau zu geben.
Er erklärte ihn zu seinem Erben, und sie lebten
herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute.

404
38
Der weise Iwan
In einem Zarenreich, in einem Staat hatte ein Zar
einen Sohn Iwan-Zarewitsch. Und sobald der voll-
jährig war, begann er seinen Vater zu bitten, er
wolle eine Braut suchen gehen. Und zog los. Er
kommt zu einem König, der hat drei Töchter, die-
ser König. Und er hätte es schon gern gesehen,
wenn Iwan-Zarewitsch irgendeine Tochter ge-
nommen hätte; er empfängt ihn mit großer Freu-
de. Alle sind sehr froh und setzen sich zum Essen.
Iwan-Zarewitsch sagt zu seinem Hofmeister:
„Hofmeister, geh und stelle fest, wo die Königs-
töchter ihre Schlafzimmer haben!“ Der Hofmeister
ging und stellte es fest. Das Abendessen war zu
Ende. Iwan-Zarewitsch fuhr mit seinem Hofmei-
ster davon. „Wenn ich doch hören könnte“, sagt
er, „was sie über mich reden werden!“ Der Hof-
meister führte Iwan-Zarewitsch zu ihrem Schlaf-
zimmer.
In dieses Schlafzimmer kamen alle drei Königs-
töchter und waren voll Freude. „Ach, wenn Iwan-
Zarewitsch mich nähme, ich würde ihm aus einer
einzigen Handvoll Flachs Hemd und Hose spin-
nen.“ Und die zweite sagt: „Ach, wenn Iwan-
Zarewitsch mich nähme, ich würde ihm aus einem
einzigen Rocken Flachs Hemd und Hose spinnen.“
Die dritte aber sagt: „Da habt ihr was Rechtes ge-

405
funden, euch zu brüsten! Wenn Iwan-Zarewitsch
doch mich nähme, ich würde ihm sechs Söhne
gebären und als siebenten einen weisen Iwan, die
Arme bis zu den Ellbogen in Gold, die Beine bis zu
den Knien in Silber und an jedem Haar eine Per-
le.“ Iwan-Zarewitsch sagt: „Hofmeister, hörst du,
was sie reden?… Jetzt werde ich freien.“
Am Morgen kommt er zum König. „Mir gefällt
Eure älteste Tochter sehr“, sagt er. Der Zar freut
sich; bei Zaren braucht es kein Bierbrauen und
kein Weinbrennen, es ist alles bereit: sie feierten
Hochzeit. Sie feierten etwa eine Woche. Er sagt:
„Wie steht’s, Seelchen, du hast versprochen, aus
einer einzigen Handvoll Flachs Hemd und Hose zu
spinnen?“ – „Wie sollte so etwas möglich sein?! Es
wird so manches unter Mädchen geredet!“ Er
schickte sie kurzerhand ins Kloster und freit um
die zweite. Der König gab sie ihm. Wieder feierten
sie; dann sagt er: „Nun, wie steht’s, Seelchen, du
hast versprochen, aus einem einzigen Rocken
Flachs Hemd und Hose zu spinnen?“ – „Kann man
denn das überhaupt? Es wird so manches unter
Mädchen geredet!“ Nun, er schickte auch diese ins
Kloster. Er freit um die jüngste und nimmt die
letzte Tochter. Mit der fuhr er zu seinen Eltern.
Sie kamen nach Hause, leben herrlich, alles ist
gut. Aber die anderen Schwestern hassen sie.
„Wir haben nur eine Woche gelebt“, sagen sie,
„sie aber ein Jahr. Alle Kräfte werden wir aufwen-
den, um sie zu beseitigen.“ So hatte sie ein Jahr
gelebt, da wurde sie schwanger. Jene sind bitter-
böse, aber ins Schloß zu gehen wagen sie nicht,

406
solange der Zar da ist. Der Fürst fuhr fort, da
kommen sie zu ihr. „Ach, liebes Schwesterchen!
Jetzt seid Ihr schwanger. Ihr braucht ein gutes
Großmütterchen… Hier taugen sie alle nichts, wir
haben eine Bekannte, die ist sehr tüchtig, du wirst
keinen Schmerz spüren.“ Sie vertraute den
Schwestern. „Liebe Schwestern! Seid so gut,
schickt sie her!“ Es war aber eine Zauberin, ihre
Bekannte. Diese Zauberin also kommt zu ihr, gab
ihr ein Pulver zu trinken, sie fiel in Ohnmacht und
gebar zwei Söhne, die Arme bis zu den Ellbogen in
Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber; und an
jedem Haar eine Perle. Die Zauberin nahm diese
Kinder zu sich, an ihrer Stelle aber brachte sie
dem Zaren einen jungen Kater und einen jungen
Hund. „Was hast du da gebracht? War’s wenig-
stens ein gewöhnliches Kind!“ – „Was denn, Vä-
terchen, was geboren wird, muß man nehmen.“
Die Fürstin erfuhr’s, weinte und weinte. Der Zar
war lange böse, lange brauchten sie, ihn zu be-
sänftigen. Schließlich verzieh er ihr; er liebte sie
schrecklich, und alle im Lande liebten sie.
Nach einiger Zeit wurde sie wieder schwanger.
Die Schwestern hassen sie noch mehr, weil er
wieder mit ihr lebt. Sobald der Fürst nicht da ist,
kommen sie wieder und sind wer weiß wie zärtlich
zu ihr… „Damals hast du doch gut geboren?“ –
„Gut“, sagt sie, „habe keinerlei Schmerz gespürt.“
– „Nun, wir werden dir wieder dieses Großmütter-
chen schicken!“ – „Ich weiß nicht recht…“, sagt
sie. „Nein, nein, unbedingt. Wechseln darf man
nicht…“ Wieder kam diese Zauberin, gab ihr ein

407
Pulver, und sie schlief ein… Im Schlaf gebar sie
zwei Söhne, die Arme bis zu den Ellbogen in Gold,
die Beine bis zu den Knien in Silber, und an jedem
Haar eine Perle; sie versteckte sie und legte einen
Frosch und eine Maus hin. Sie kam wieder zu sich.
„Nun, wie ist’s“, sagt sie, „was habe ich geboren?“
– „Einen Frosch und eine Maus!“ – „Ach, liebes
Großmütterchen! Hat nicht irgend jemand in un-
serem Reich geboren, daß ich die Kinder statt der
meinen annehmen kann?“ – „Aber, aber!“ Sie
wusch Frosch und Maus und brachte sie zum Za-
ren. „Was hast du da wieder gebracht?“ – „Einen
Frosch und eine Maus.“ – „Alte Schachtel! Was
willst Du damit?“ – „Sie zeigen, Väterchen, sie
zeigen!“ Die Zarin weinte und weinte. Es kommen
die Generals- und Senatorenfrauen… „Ihr solltet
eine andere Wärterin nehmen“, sagen sie. „Ja“,
sagt sie, „aber die Schwestern empfehlen sie…“ –
„Die hassen Euch ja.“ Den Zaren mußten sie lange
Zeit besänftigen… Der Zar verzieh ihr wieder; sie
ging wieder aus dem Haus.
Nach einiger Zeit wurde sie wieder schwanger.
„Gäbe der Herrgott doch wenigstens ein gewöhnli-
ches Kind!“ Wieder drängten ihr die Schwestern
jenes Weib auf, die legte statt der Kinder eine
Schlange und irgendein Tierjunges ins Bett.
„Großmütterchen, was habe ich geboren?“ – „Eine
Schlange, Mütterchen, eine Schlange!“ – „Ach,
großer Gott…“ – „Nun, wie ist’s?“… „Was geboren
wird, muß man nehmen…“ Lange war der Zar zor-
nig, zum letztenmal verzieh er ihr… Und wieder
wurde sie schwanger, gebar den weisen Iwan…

408
Sie wurde zusammen mit diesem weisen Iwan in
ein Faß gesteckt und ins Wasser geworfen…
Der weise Iwan wächst im Faß nicht von Tag zu
Tag, sondern von Stunde zu Stunde und war
schon so weise und so klug. Er streckte sich,
schlug gegen den Boden, der Boden flog heraus.
Sie waren auf einer Insel. Sie gehen über diese
Insel, da erhob sich so ein kalter Wind… „Wie ist
mir kalt!“ sagt sie. Sogleich machte er ein Feuer
an… „Wärmt Euch ein wenig“, sagt er, „ich will in
den Wald gehen und einen Vogel oder ein Tier
fangen.“ Er lief an einem See entlang, lief über
eine Wiese, lief weiter und sieht eine winzige Hüt-
te. Er ging hinein: niemand da; sogleich begann
er nach Eßbarem zu suchen; guckte in den Ofen,
nichts… „Warte, ich werde mich unter dem Ofen
verstecken!“ Er kroch drunter und sitzt unter dem
Ofen… Ein grauhaariger Alter kommt herein, setz-
te sich auf die Bank, nahm einen Knüppel und
warf ihn auf den Fußboden. „Knüppel, ans Werk!“
Sogleich kamen irgendwoher Speisen und Geträn-
ke… „Diesen Knüppel müßte ich haben!“ Der Alte
aß und trank sich satt, stellte den Knüppel in die
Ecke, fing an zu schnarchen und war fest einge-
schlafen. Der weise Iwan aber kam hervor, nahm
den Knüppel und rennt nach Hause… Rennt an
dem gleichen See vorbei und über die gleiche
Wiese. Da kommt ein Bäuerlein… „Was trägst du
da?“ – „Ein Beil!… Willst du ein Haus bauen, ist’s
gleich fertig…“ Und der weise Iwan zeigte ihm den
Knüppel… „Tauschen wir!“ Sie tauschten. Der Alte
geht hurtig mit dem Knüppel davon. Iwan-

409
Zarewitsch sagt: „Beil! Kann man dem Alten da
meinen Knüppel nicht wieder wegnehmen?“ –
„Warum nicht?“ sagt das Beil. „Das kann man!“ Es
flog davon und nahm dem Alten den Knüppel
weg.
Der weise Iwan kommt mit Beil und Knüppel zu
seiner Mutter und erzählt der Mutter alles. Die
Mutter ist froh, betet zu Gott. Der weise Iwan legt
sich schlafen und befiehlt dem Beil und dem
Knüppel, sie sollen ein Schloß bauen, genauso ei-
nes wie bei seinem Vater. Am Morgen wacht er in
dem Schloß auf; die Dienerschaft steht bereit,
und alles ist so wie in Vaters Schloß. Sie staunen
nur. Am anderen Abend legt sich der weise Iwan
schlafen und befiehlt, am Morgen solle auf der In-
sel ein Anlegeplatz fertig sein… Er steht früh auf,
alles ist fertig.
Am nächsten Tag fährt ein Schiff an der Insel
vorbei; und die Kaufleute staunen: „Kein Vogel ist
hier geflogen, und jetzt steht ein Schloß da.“ Der
weise Iwan geht zum Anlegeplatz. „Ihr Herren
Kaufleute, kommt bitte!“ Und die Kaufleute stau-
nen, gehen mit zu ihm ins Schloß; er bewirtete sie
und fragt: „Wohin fahrt ihr und mit was für Wa-
ren?“ – „Wir gehen nach Rußland mit den und den
Waren. Übrigens“, sagen sie, „hat uns der Zar be-
fohlen, Zobel, Marder und Füchse zu beschaffen.“
– „Ja“, sagt er, „ich habe welche!“ Sie legten sich
schlafen. Der weise Iwan befiehlt dem Beil und
dem Knüppel, die allerbesten Zobel, Marder und
Füchse sollten zur Stelle sein. Am Morgen steht
der weise Iwan auf, und sie trinken Tee. Nach

410
dem Tee sagt er: „Nun, meine Herren Kaufleute,
kommt in mein Arbeitszimmer, die Tiere anse-
hen.“ Sie gingen, die Kaufleute staunten nur. „Wir
haben auch schon viel gekauft“, sagen sie, „aber
so etwas haben wir noch nicht gesehen. Wie ist
euer Vor- und Vatersname?“ – „Iwan Iwanytsch“,
sagt er, „ich wohne mit meiner Mutter hier.“ Und
sie fragen ihn: „Wie ist denn“, sagen sie, „der
Preis?“ – „Ich schenk sie euch so“, sagt er, „nur
nehmt mich mit in euer Land!“
Sie blieben noch einen Tag bei ihm, dann fuh-
ren sie ab, und er mit ihnen. Das Schiff fliegt wie
ein Vogel; war es sonst zwei Wochen gefahren, so
jetzt zwei Tage… Sie kamen an; er verabschiedete
sich und verließ sie. Dann verwandelte er sich in
eine Fliege, setzte sich diesen Kaufleuten auf die
rechte Schulter und sitzt nun dort. Sie kommen
zum Zaren. „Befehlt nicht“, sagen sie, „uns hinzu-
richten, befehlt, ein Wort zu sagen.“ – „Redet, re-
det!“ – „Im Meer auf einer Insel lebt eine Mutter
mit ihrem Sohn, mit Iwan Iwanytsch. Und sie ha-
ben genauso ein Schloß wie Ihr. Wir haben“, sa-
gen sie, „drei Tage dort gewohnt: das sind so
edelmütige, umgängliche Leute…“ – „Meine Her-
ren Kaufleute, wendet eure Schiffe, wir fahren
hin!“ Die Tanten kamen sofort herbeigesprungen.
„Ach, was hört Ihr auf einen gewöhnlichen Bauern
vom Dorfe… Kommt lieber mit uns übers Meer;
wir haben dort fremdländische Kater!“ – „Schön“,
sagt er, „morgen!“ Die Kaufleute schenkten dem
Zaren die Tiere und gingen nach Hause… Der wei-
se Iwan sagt: „Beil und Knüppel! Ich will zu Hause

411
sein!“ Sogleich brachten sie ihn nach Hause; er
legt sich schlafen. „Beil und Knüppel! Daß morgen
ja jene fremdländischen Kater bei mir sind!“
Am anderen Tag kommt wieder ein Schiff an
der Insel vorbei. „Meine Herren Kaufleute! Kommt
bitte zu mir!“ Die haben Angst: nichts ist dagewe-
sen, und nun das alles… Er lud sie ein, bewirtete
sie; sie bestaunen in einem fort das Schloß und
die fremdländischen Kater: das Fell schmiegt sich
nur so an… Auch diese Kaufleute blieben drei Ta-
ge, er gab ihnen Zobel, Füchse und Marder, noch
bessere als den ersten, und fuhr mit ihnen davon.
Sie fuhren also; eine solche Stille ist auf dem
Meere, aber das Schiff fliegt wie ein Vogel… Die
Kaufleute denken: „Das ist ein Engel“, sagen sie,
„und kein Mensch; ein Heiliger, ganz bestimmt…“
Der weise Iwan kommt mit ihnen an, verabschie-
dete sich von ihnen, verwandelte sich in eine Flie-
ge und setzte sich dem einen Kaufmann auf den
Kopf. Die Kaufleute gingen zum Zaren und brin-
gen ihm Zobel, Füchse und Marder, noch bessere
als das erstemal. Der Zar staunt. Die Kaufleute
sagen: „Auf einer Insel im Meer steht genauso ein
Schloß wie bei Euch; und sie haben dort fremd-
ländische Kater. Es lohnt, sich das anzusehen.“ –
„Meine Herren Kaufleute, wendet eure Schiffe, wir
fahren zu der Insel!“ Wieder sagen die Tanten:
„Ach, was hört ihr auf jeden Knasterbart! Fahrt
lieber mit uns: bei der Tante im Garten gibt es
Paradiesvögel, die singen herrliche Lieder.“ – „Er-
gebensten Dank! Damals“, sagt er, „bin ich die
fremdländischen Kater ansehen gefahren und ha-

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be nichts gesehen!“ – „Nun, die konnten davon-
rennen, aber die Vögel werden nirgends hinren-
nen! Fahrt lieber mit uns…“ – „Nun schön“, sagt
er. Die Kaufleute gingen nach Hause. Der weise
Iwan sagt: „Beil und Knüppel, ich will bei meiner
Mutter sein!“ Sie brachten ihn auf die Insel; er
legt sich schlafen: „Beil und Knüppel! Daß morgen
ja die Paradiesvögel bei mir sind und herrliche
Lieder singen!“ Er wacht am Morgen auf und hört:
herrliche Musik. Sie lauschten und lauschten…
Danach kommt ein drittes Schiff an der Insel
vorbei. Wieder lud Iwan-Zarewitsch die Kaufleute
ein, gab ihnen Zobel, Marder und Füchse. Sie
blieben drei Tage bei ihm, fuhren los, und er mit
ihnen. Das Schiff fliegt wie ein Vogel… Sie kamen
an; er verabschiedete sich und ging fort; dann
verwandelte er sich in eine Fliege und setzte sich
dem einen Kaufmann auf den Kopf. Die Kaufleute
kommen zum Zaren und überreichen die Füchse,
Marder und Zobel. Der Zar sagt: „Das sind mir
Zobel! Eine Augenweide!“ – „Da haben wir ganz
andere Dinge gesehen!“ sagen sie. „Im Meer auf
einer Insel steht genauso ein Schloß wie Eures;
dort lebt eine vornehme Dame mit ihrem Sohn
Iwan Iwanytsch. Sie haben dort fremdländische
Kater, und Paradiesvögel singen herrliche Lie-
der…“ – „Ach, Kaufleute, wendet eure Schiffe; ich
will mit euch fahren!“ Und wieder die Tanten:
„Ach, wie seid ihr leichtgläubig! Fahrt lieber mit
uns; wir haben sechs Söhne, strahlend wie die
Falken, die Arme bis zum Ellbogen in Gold, die
Beine bis zum Knie in Silber, und an jedem Haar

413
eine Perle; die können bestimmt nicht verschwin-
den, sie werden nur zur Mittagszeit für zwei Stun-
den herausgelassen.“ Der Zar dachte an seine
Söhne. „Schön“, sagt er, „fahren wir…“ Die Kauf-
leute gingen nach Hause. Der weise Iwan aber
stach die eine Tante ins Auge und die andere in
den Kopf… „Ach“, sagt die, „mich hat etwas in den
Kopf gestochen!“ Das Blut lief sogleich, und sie
band ein Tuch darum. Der weise Iwan aber ver-
wandelte sich in eine Fliege und flog nach Hause.
„Nun, Mutter, backt mir zu morgen sechs Ku-
chen!“ Da buk sie ihm sechs Kuchen. Er sagt:
„Beil und Knüppel! Daß ich ja genau zur Mittags-
zeit dort bin!“ Sie brachten ihn dorthin; jene Zau-
berin ließ alle sechs Söhne heraus. Ach, wie sie
umherrannten… Die Arme bis zu den Ellbogen in
Gold, die Beine bis zu den Knien in Silber, und an
jedem Haar eine Perle. Er warf ihnen einen Ku-
chen hin, dann den zweiten, den dritten, alle… Sie
griffen danach und begannen zu essen. „Ach“, sa-
gen sie, „wie schmecken die, wie schön sind sie,
als hätten Mutters Hände sie gebacken.“ Da sahen
sie den Bruder… „Versteck dich“, sagen sie, „so
schnell wie möglich!“ Und die Zauberin sagt: „Ah,
weiser Iwan! Auch du willst zu mir.“ Er sagt: „Beil
und Knüppel! Hackt sie in kleine Stücke und werft
sie alle ins Wasser!“ Sie zerhackten sie und war-
fen die Stücke ins Wasser… Da freuten sich alle
Brüder, daß sie die Zauberin los waren. „Beil und
Knüppel! Wir wollen an unserem Haus sein.“
Sogleich waren sie alle an ihrem Haus. Die Mutter
kam heraus und erkannte sie alle. Sie fielen alle

414
auf die Knie: „Mutter, Mutter!“ – „Bedankt euch
beim Jüngsten…“, sagt sie. Und der Zar war wie-
der nicht zu ihnen gekommen: die eine Tante sah
nur noch auf einem Auge, und der anderen war
der Kopf angeschwollen wie ein Bierkessel.
Wieder kommen Kaufleute auf Schiffen gefah-
ren; sie staunen. Der weise Iwan kommt heraus
und lädt sie ein: „Kommt bitte!“ Die Brüder hatten
noch keine Menschen gesehen, sie sind ganz ver-
wundert… Die Kaufleute bestaunen sie noch mehr.
Sie blieben drei Tage und kommen zum Zaren.
„Ach, Väterchen, Eure Kaiserliche Majestät! Im
Meer auf einer Insel steht genauso ein Schloß wie
Eures, und es wohnen darin sechs Brüder, die
Arme bis zum Ellbogen in Gold, die Beine bis zu
den Knien in Silber, und an jedem Haar eine Per-
le; der siebente Bruder aber ist der weise Iwan.
Es gibt dort auch fremdländische Kater, und Para-
diesvögel singen herrliche Lieder.“ – „Ach, Brüder,
wendet Eure Schiffe, wir wollen fahren!“ Die Tan-
ten aber sind nicht da, sie liegen im Bett… Sie
fuhren los.
Nach einer Woche kommen sie zu dieser Insel.
Der Zar staunt selber… Zu seiner Begrüßung
kommt der weise Iwan mit seinen Brüdern und
seiner Mutter heraus… Der Zar fiel auf die Knie
und begann vor Freude zu weinen… Und der Zar
schickte sofort einen Erlaß, sie sollten spurlos ver-
schwinden (die Tanten nämlich). Der Zar kam zu-
rück. Zur Begrüßung kam ihm die ganze Stadt
entgegen, die Senatoren, und die Zarin wurde an
den Händen geführt… Der weise Iwan sagt: „Beil

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und Knüppel! Daß mir ja alles hier ist: die Para-
diesvögel und die fremdländischen Kater!“ Was
war das für eine Freude, und wie bestaunte das
Volk diese seltsamen Dinge und die Zarenkinder!

416
39
Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn
Es lebten einmal eine Maus und ein Sperling. Nun,
die Maus hatte sich in der Erntezeit mit allem ver-
sorgt, der flatterhafte Sperling aber mit nichts.
Und der Winter war diesmal hart, schneidend und
kalt. Der Sperling wußte nicht, wie er sich retten
sollte, und kam zur Maus ins Loch: „Liebste Ge-
vatterin, nimm mich auf, solange der grimmige
Frost dauert!“
„Oh“, sagt sie, „mein Proviant wird nicht rei-
chen.“
Nun, er bettelt sie: „Laß mich bitte, bitte ein,
Maus!“
„Na, ich will gehen und meine Vorräte ansehen:
wenn es reicht, lasse ich dich ein.“
Sie besah ihre Kornkästen und erklärte sich
einverstanden ihn einzulassen. „Satt werden wir
zwar nicht, aber Hungers werden wir auch nicht
sterben.“
Nun, sie machten aus, zusammen zu leben.
„Und im Sommer werden wir zusammen arbeiten.
Du wirst Weizen sammeln, und ich werde ihn mit
dem Schnabel dreschen und forttragen.“ Der
Frühling kam, der Sperling schwang sich in die
Lüfte und flog davon. Die Maus war gekränkt, sie
ging zu ihrem Gemeindeältesten, den Sperling
verklagen. Ihr großes Gericht trat zusammen. Alle

417
waren versammelt, auch die Vögel waren alle ge-
kommen, und auch das kleine Getier, die Mäuse
und Maulwürfe. Und das Gericht begann. Ein Ge-
richt war ihnen noch nicht genug, sie eröffneten
untereinander den Krieg. Zwei Tage bekriegten
sie sich. Nun, und ihr Gericht lief auseinander;
einem Adler hatten sie die Flügel angeschossen –
er blieb auf einem Baumstumpf sitzen.
Einmal ging Iwan der Kaufmannssohn auf die
Jagd und sieht diesen Adler, nimmt die Flinte her-
unter und zielt, um ihn zu erlegen. Da antwortet
ihm der Adler mit Menschenstimme: „Iwan-
Kaufmannssohn, schieß nicht auf mich, ich bin
genauso ein Mensch wie du, nur für einige Zeit
verwünscht; nimm mich lieber mit und füttere
mich, ich werde dir von Nutzen sein.“ Iwan der
Kaufmannssohn geht hin und fragt: „Und muß ich
dich lange füttern?“ – „Ein Jahr“, sagt er, „muß
ich gefüttert werden.“ – „Und welche Speise ißt du
denn?“ – „Am Tag einen Hammel.“
Nun, der Kaufmannssohn nahm den Adler und
bringt ihn seinem Vater: „Hier, so und so, das ha-
be ich gefunden.“ Und erzählt alles. Der Vater
schwieg eine Weile. „Das ist teuer“, sagt er. Nun,
wiederum, wenn er auch brummt, so ist es doch
sein einziger Sohn – er möchte es ihm nicht
verbieten.
Etwa ein halbes Jahr hatte er ihn gefüttert, da
begann der Vater zu schimpfen: „Das ist doch zu
stark – am Tag einen Hammel! Zu welchem Nut-
zen fütterst du ihn?“ Darauf wurde der Vater bö-
se, wartete, bis der Sohn einmal fortgegangen

418
war, befahl, den Adler in eine Schlucht zu werfen,
und verbot zu sagen, wohin sie ihn geworfen hat-
ten. Aber das Stubenmädchen hatte es gemerkt,
wohin sie ihn gebracht hatten, und sagte es ihm
heimlich. Und er holte den Adler aus der Schlucht
und brachte ihn in die Hütte einer alten Frau. Er
bringt täglich einen Hammel und füttert ihn heim-
lich, ohne Wissen des Vaters.
Bis zum Jahr fehlt nur noch ein Monat, aber der
Vater hat erfahren, daß der Sohn ihn trotzdem
füttert; er wurde böse auf den ungehorsamen
Sohn und jagte ihn kurzerhand im bloßen Rock
aus dem Haus. Der Kaufmannssohn kommt mit
bitteren Tränen zum Adler: „Nicht nur, daß ich
nichts habe, dich zu füttern“, sagt er, „ich selber
habe jetzt nichts mehr zu essen.“ – „Nun, was
macht’s, sagt der Adler, „dann gehen wir eben,
unsere Kräfte versuchen.“ Sie kamen dort auf ei-
nen Platz. „Nun“, sagt der Adler, „setz dich auf
mich und halte dich schön fest.“ Und er trug ihn
auf seinem Rücken bis unter die Wolken, trug ihn
bis unter die Wolken und ließ ihn herunterfallen.
Iwan der Kaufmannssohn war dicht daran, sich zu
Tode zu stürzen, da ließ er ihn nicht zu Boden fal-
len und fing ihn wieder auf.
Als sie dann haltgemacht hatten: „Was hast du
eigentlich gedacht“, fragt der Adler den Kauf-
mannssohn, „als du so flogst?“ – „Was soll ich ge-
dacht haben? Ich habe gedacht: Wenn ich auf die
Erde falle, stürze ich mich zu Tode.“ – „Damit ha-
be ich Euch die erste Schuld vergolten. Als ich auf
dem Baumstumpf saß und du auf mich zieltest,

419
habe ich auch gedacht, es wird mein Tod sein.
Nun, dann setz dich auf meinen Rücken und laß
uns fliegen, wohin uns der Weg führt.“
Flogen sie nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls
kommen sie zu einer Stadt und machen vor den
Toren halt. „Jetzt hör zu, Iwan-Kaufmannssohn,
schenk mir dreimal deinen Schweiß, leiste mir ei-
nen Dienst.“ – „Und wo kann ich denn in Schweiß
kommen?“ antwortet der. „Klettre hier auf den
Zaun!“ Er kletterte hinauf. „Jetzt schüttle mich an
den Ohren, bis dir Arme und Beine versagen.“
Nun, er schüttelte und schüttelte – er konnte
schon nicht mehr. Der Schweiß fließt in Strömen
an ihm herunter. „Nun, ruh dich etwas aus“, sagt
er. „Noch zweimal schenk mir deinen Schweiß!“
sagt er. Und aus seiner Haut ragten schon bis
zum Knie Menschenbeine heraus. Und wieder
schüttelte er ihn aus Leibeskräften. Schüttelte und
schüttelte. Er konnte schon nicht mehr. Der
Schweiß fließt in Strömen an ihm herunter, aber
es waren schon die Brustwarzen zu sehen. „Nun,
jetzt schüttle zum letzten Mal, bis die Haut in dei-
nen Händen bleibt. Wenn du aber nicht durch-
hältst, ist für uns beide alles verloren!“ Er schüt-
telte ihn aus dieser Haut heraus, und der Adler
trat als junger Bursche vor ihn hin. „Nun, jetzt
wollen wir Brüderschaft schließen.“
Sie schlossen Brüderschaft und gelobten, ein-
ander nicht zu verlassen. „Jetzt geh in das und
das Haus, da steht die und die Aufschrift, und bit-
te um ein Almosen. In diesem Hause wohnt meine
älteste Schwester. Geh zum Fenster und bitte um

420
ein Almosen nicht um Christi willen, sondern um
des Adler-Zarewitschs willen. Und die Frau wird
fragen: ,Was für ein Almosen willst du denn?’ Bit-
te dann um die goldenen Schlüssel vom Keller
und hör zu, was sie dir sagt, falls sie dir die
Schlüssel nicht gibt.“
Er geht hin und beginnt, um ein solches Almo-
sen zu bitten, nicht um Christi willen, sondern für
den Adler-Zarewitsch. Und am Fenster stand das
Stubenmädchen und bügelte Wäsche. Nun, was
die Beine hergaben, rannte die zu ihrer Herrin:
„Was ist das für eine neue Art, um Almosen zu
bitten?“ Die Herrin ahnte die Geschichte, ging sel-
ber zum Fenster, er erzählte ihr die ganze Ge-
schichte und bittet um die Schlüssel. Sie hörte
sich die Geschichte an und sagt: „Wie lange ich
auch den Bruder nicht gesehen habe, ich will ihn
lieber noch einmal genauso lange nicht sehen,
aber die Schlüssel gebe ich nicht.“ Nun, er kommt
zu ihm und erzählt’s. „Macht nichts, hier ist es
nicht gelungen, gehen wir zur zweiten Schwester,
in die zweite Stadt.“
Nun, kurz erzählt, dort wurden sie auch abge-
wiesen. Sie gingen in die dritte Stadt, zur jüng-
sten Schwester; wieder ging Iwan der Kauf-
mannssohn, um das gleiche Almosen zu bitten.
Die freute sich von ganzem Herzen. „Und wo ist er
denn, der Adler-Zarewitsch?“ – „Gib mir nur die
Schlüssel, und ich bringe dich zu einem Wiederse-
hen mit ihm.“ Sie gab ihm die Schlüssel. Nun, und
dann kam er mit dem Adler wieder, sie unterhiel-
ten sich und feierten ein Fest. Bei der jüngsten

421
Schwester also war das Wiedersehen mit dem
Bruder. Nun, und danach traute der Adler-
Zarewitsch Iwan den Kaufmannssohn mit seiner
Schwester. „Ich aber“, sagt er, „will gehen und
mein Glück suchen.“ Und er übergab Iwan-
Zarewitsch alle zwölf Keller, in denen war viel von
allem möglichen Gold und Silber.
Und der Adler-Zarewitsch kommt in eine frem-
de Stadt. In dieser Stadt lebte der unsterbliche
Kastschej, der herrschte über diese Stadt. Und er
hatte eine Kaufmannstochter geraubt, die hielt er
bei sich gefangen.
Einige Zeit lebte der Adler-Zarewitsch in dieser
Stadt und begann, die Frau Kastschejs zu besu-
chen, wenn Kastschej nicht in der Stadt war. Und
Kastschejs Frau wurde von ihm schwanger. Und
einmal erwischte der unsterbliche Kastschej den
Adler bei sich im Schloß und schlug ihm den Kopf
ab. Sie aber war von ihm schwanger. Und als
Kastschej weggefahren war, gebar sie in seiner
Abwesenheit. Und sie weiß nicht wohin mit dem
Kind. Kastschej würde es sowieso umbringen. Und
sie kam auf den Gedanken, es in ein Eichenfaß zu
legen; auf das Faß schrieb sie, daß es ein unge-
tauftes Kind ist, und warf’s ins Meer.
Und eben der Kaufmannssohn, der die Schwe-
ster des Adlers geheiratet hatte, hatte einen
Traum, an seinem Ankerplatz hätten neue Schiffe
angelegt. Und er weckt früh am Morgen seine
Frau. „Was ist das für ein Traum? Ich will zum
Ankerplatz fahren. Ob dort alles in Ordnung ist?“
Er kommt zum Ankerplatz, da schwimmt an sei-

422
nem Ankerplatz ein Faß. Nun, er fischte dieses
Faß heraus, sieht die Aufschrift, daß es ein unge-
tauftes Kind ist, nimmt das Faß und bringt’s nach
Hause zu seiner Frau. Sie nahmen beide das Faß,
machten es auf, holten das Kind heraus, und da
lag ein Zettel, daß es vom Adler-Zarewitsch ge-
zeugt ist. Und beide freuten sich: „Nein so was,
von unserem Bruder.“ Und sie feierten Taufe.
Tauften’s und gaben ihm den Namen Wassili. Und
er hatte schon selber zwei Jungen. Und er zog’s
mit seiner Frau auf wie sein eigenes.
Er wächst bei ihnen nicht von Jahr zu Jahr,
nicht von Tag zu Tag, sondern geradezu von
Stunde zu Stunde. Und sie gaben ihn zusammen
mit ihren Kindern in die Schule. Sie lassen ihn
nichts merken, „daß du nicht unserer bist.“ Wenn
die Kinder aus der Schule gelaufen kommen, trei-
ben sie ihren Mutwillen. Wassili stößt sie ein klein
wenig – das ist für sie schon zu viel. Sie kommen,
beklagen sich: Hier, Wasja ärgert uns. Nun, sie
sagen ihm nichts. Kinder sind eben Kinder.
Einmal hatten sich die Kinder verzankt – der äl-
teste Junge sagt zu ihm: „Du bist nicht von uns,
dich haben wir gefunden.“ Der lief mit Tränen zu
Vater und Mutter. Die wollen es ihm ausreden;
aber er wiederholt immer das eine: „Laßt mich
fort: wenn ich nicht euer Kind bin, dann will ich in
die Welt ziehen.“ Nun, irgendwie besänftigten sie
ihn. Er blieb. In der Schule war er der beste. Man-
cher lernt drei Jahre, er hatte in einem Jahr alles
begriffen.

423
Einmal spielten die Kinder mit Pfeilen, und seine
Pfeile waren auf einen alten, zerfallenen Schuppen
gefallen. Er ging, seinen Pfeil zu holen, sah dieses
Faß und las die Aufschrift. Und er geht jetzt zu
Vater und Mutter. „Nein, ihr habt die Unwahrheit
gesagt. Hier ist dieses Faß. Laßt mich fort, ich will
in alle vier Himmelsrichtungen gehen und mein
Glück suchen.“
Sie aber schmerzte es, ihn fortzulassen. Sie
mühten sich einige Zeit mit ihm ab, können nichts
mit ihm anfangen und erzählen ihm nun von
selbst alles ausführlich, wer er ist und wessen
Sohn er ist.
Und er ging in die Stadt, wo dieser unsterbliche
Kastschej wohnte. Jetzt aber hatte der Kastschej
schon eine Mauer rings um die Stadt machen las-
sen: läßt niemanden durch. Genau gegenüber
dem Schloß Kastschejs lebte eine alte Frau in ei-
ner elenden Hütte. Zu dieser Alten kommt eben
dieser Wasja und bittet um ein Nachtlager. Die
Alte ließ ihn ein und setzte ihm vor, was sie da
hatte. „Wer herrscht über Eure Stadt hier, Groß-
mütterchen?“ fragt er. „Oh, mein Kind, der un-
sterbliche Kastschej herrscht über diese Stadt! Er
hat das Volk schon fast zu Tode gepeinigt!“ –
„Warum, Großmütterchen, ist diese Stadt so stark
bewacht?“ fragt er. „Oh, mein Kind, früher war
das einfach, alle liefen und fuhren einfach so ein
und aus. Das ist alles aus einem bestimmten
Grunde geschehen.“ – „Aus welchem Grunde
denn?“ – „Der Kastschej hat eine Frau, die hat er
den Russen gestohlen; und hier hat ein Ritter ge-

424
lebt, der hat die Frau Kastschejs immer besucht,
Kastschej aber hat die ganze Geschichte heraus-
bekommen und ihm den Kopf abgeschlagen, da-
nach aber hat er hier die Wachen ausgestellt. Und
die Frau Kastschejs war vom Adler-Zarewitsch
schwanger, und ich weiß nicht, wo sie das Kleine
verborgen hat.“ Wasja aber schrieb sich alles hin-
ter die Ohren. „Höre, liebes Großmütterchen, sei
du mir eine zweite Mutter, ich habe ein Anliegen
an dich. Geh auf den Markt, kauf mir Frauenklei-
der und eine Geige, und hier hast du Geld, kauf
mir etwas zu essen. Und sage niemandem etwas,
einfach: eine Frau ist bei mir zu Besuch, und fer-
tig!“ Die Alte ging also auf den Markt, kaufte ihm
Frauenkleider und eine Geige. Er zog die Frauen-
kleider an und bat die Alte, bat sie inständig, sie
solle nicht sagen, daß er männlichen Geschlechts
sei.
Er setzte sich auf den Hof unters Fenster, dem
Kastschej gegenüber, und begann, auf der Geige
zu spielen – Kastschej gefiel die Musik. Er lausch-
te und lauschte, fing auf seinem Balkon an zu
tanzen und schickt seine Diener: „Geht hin und
fragt dieses Mädchen, ob sie nicht am Abend zu
mir spielen kommen will.“ Die Diener fragen das
Mädchen, aber die, das heißt Wasja, sagt: „Ich
verstehe es nicht, für euren Herrn zu spielen, ich
bin von einfachen Leuten. Eine gewöhnliche Land-
streicherin. Wie sollte ich für ihn spielen können?“
Wieder schickt er die Diener, sie solle es nicht
abschlagen, denn ihr Spiel gefalle sehr. Nun, er
versprach zu spielen und schreibt ein Briefchen

425
für seine Mutter. „Euer Sohn, der im Faß war, hat
sich gefunden, ich bin beim Onkel aufgewachsen.
Und, meine liebe Mutter, frage den Kastschej, wo
sein Tod ist. Er wird zweimal lügen, das dritte Mal
sagt er die Wahrheit. Und hat er gesagt, wo sein
Tod ist, dann sei recht aufmerksam zu ihm.“
Und die Diener kamen und riefen dieses Mäd-
chen, sie solle spielen. Kastschej gefiel sie sehr.
Sie spielt schön und ist ein sehr kluges und ehrer-
bietiges Mädchen. Aber seine Frau zeigt er ihr
nicht einmal, hält sie im zwölften Stockwerk ge-
fangen, wegen ihres Fehltritts. Aber Wasja schlug
ihm trotzdem ein Schnippchen, schickte der Mut-
ter durch die Kammerzofe das Briefchen. Als das
Tanzen zu Ende ist, begleiten die Diener das Mäd-
chen nach Hause, Kastschej gibt ihm fünfzig Ru-
bel, aber er übergab dieses Geld heimlich der
Kammerzofe, damit diese das Briefchen abliefere.
Nun, und weil er, Kastschej, nach Herzenslust
getanzt hatte und herumgehopst war, schläft er
am nächsten Morgen lange. Das hatte es bei
Kastschej noch nie gegeben: ihr wurde der Tee
gebracht, sie weckt ihn und bittet ihn ganz zärt-
lich, Tee zu trinken. Kastschej freute sich sehr
darüber. Sonst liebte sie ihn nicht, und jetzt ruft
sie ihn, mit ihr Tee zu trinken. Und beim Tee be-
gann sie eine Unterhaltung mit ihm: „Solange wir
auch schon miteinander leben, mein Liebster, so
haben wir doch nie miteinander gesprochen. Und
was macht dir das für Vergnügen, diese Abende
zu veranstalten, dich bis zu einem solchen Grade

426
abzuquälen, und jetzt bist du müde. Und wo be-
findet sich denn. Liebster, Euer Tod?“
Kastschej mußte lachen: „Wozu braucht Ihr
denn meinen Tod?“ – „Was für eine Frau kann ich
dir denn sein“, sagt sie, „wenn ich nichts weiß.“ –
„Mein Tod“, sagt er, „ist bei der Kuh in den Hör-
nern.“ – „Bei welcher?“ – „Bei der gescheckten“,
sagt er und flog davon. Sie befahl sogleich, diese
gescheckte Kuh zu ihr aufs Stockwerk zu bringen.
Sie stellte sie auf einen kostbaren Teppich, steck-
te ihr alle möglichen Blumen an und band ihr die
verschiedensten Bänder um. Nun kommt
Kastschej heim, sah’s: „Was hast du dir denn da
wieder einfallen lassen?“ – „Nun, was ist das denn
für eine Art, Liebster, paßt es sich etwa für deinen
Tod, sich auf den Höfen herumzutreiben? Sie kön-
nen deinen Tod noch umbringen, und ich bleibe
als Witwe zurück. Lieber will ich ihn selber pfle-
gen, mich um ihn kümmern, statt irgendwelcher
Diener.“
Kastschej war gerührt. „Führ sie hinaus, Närrin,
nicht hier ist mein Tod!“ Nun, die Kuh wurde weg-
getrieben, die Blumen wurden abgenommen, sie
begann zu weinen: „Warum willst du nicht die
Wahrheit sagen?“ Kastschej aber weiß vor Freude
nicht wohin, daß ihn sein Weib liebgewonnen hat.
Wieder veranstaltet er einen Abend, wieder lädt
er jenes Mädchen ein zu spielen, und wieder hat
der Sohn ein Briefchen geschrieben: „Frag noch
mehr, wo der Tod ist.“ Nun, kurz gesagt,
Kastschej tanzte wieder nach Herzenslust, legte
sich wieder schlafen, und wieder weckt sie ihn

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früh und fragt nach seinem Tod: „Was für eine
Frau kann ich Euch denn sein, wenn ich nichts
weiß.“ – „Mein Tod ist beim Bock auf den Hör-
nern“, sagte er und flog davon. Sie befahl
sogleich, diesen Bock zu ihr nach oben zu tragen,
stellte ihn auf einen Teppich und umwand ihn mit
Perlen und Gold.
Wieder kommt Kastschej heimgeflogen und
sah’s: „Was ist denn das wieder?“ – „Nun, was ist
denn das für eine Art, Liebster, ist es etwa gut für
deinen Tod, sich auf den Höfen herumzutreiben?“
Er aber lacht: „Du Närrin und nochmals Närrin,
führe ihn weg von hier!“ Da begann sie zu wei-
nen: „Auf der Stelle, wenn du mich nicht liebst
und nicht gutwillig die Wahrheit sagst, nehme ich
mir das Leben. Ich komme zu dir mit meinem
ganzen Herzen, und du liebst mich nicht und
sagst nicht die Wahrheit.“ Nun, und heulte los.
Kastschej sagte nun die Wahrheit: „Nun, Närrin
und nochmals Närrin! Höre, wo mein Tod ist: Mein
Tod ist hinter drei Ländern, auf einer wilden Step-
pe, niemand geht dorthin, niemand fährt dorthin,
über das Meer. Jenseits dieses Meeres steht eine
Hütte, in dieser Hütte ist eine Kiste angeschmie-
det, in dieser Kiste ist eine Schachtel, in dieser
Schachtel eine Ente, in dieser Ente ein Ei, in die-
sem Ei – mein Tod. Wenn dieses Ei zerbricht, das
wird mein Tod sein.“
Sie schrieb das alles gleich auf ein Papier und
schickte es mit der Kammerzofe ihrem Sohn. Der
Sohn erhielt dieses Briefchen und wurde sehr
froh.

428
Nun, von der Alten nahm er Abschied – ließ ihr
etwas Kapital zurück und sagt: „Großmütterchen,
sag niemandem etwas und trag es nicht hinaus,
vielleicht sehen wir uns einmal wieder, aber ich
gehe jetzt auf die Wanderschaft.“
Ging er nun lange oder kurze Zeit, jedenfalls
kam er in eine Gegend, wo es weder etwas zu
kaufen noch etwas zu mieten gab, und er hatte
Hunger. Irgendeinen schimmligen Zwieback hatte
er noch. Er denkt: „Ich will ihn im Meer aufwei-
chen und essen.“ Kaum war er am Ufer und hatte
ihn aufgeweicht, kommt ein Fisch heran und ent-
reißt ihm dieses Stückchen. „Warum hast du mir,
einem Wandersmann, das letzte Stückchen weg-
genommen?“ Nun, er zuckte die Achsel und ging
weiter.
Es war ein klarer, heißer Tag. Der größte Fisch
kam heraus, sich an der Sonne zu trocknen. Liegt
da, wie ein großer Berg. Da denkt er bei sich: „Ich
will meinen Stock danach werfen, irgendein Stück
wird von diesem Fisch abbröckeln, und ich kann
es essen.“ Der Fisch antwortete ihm: „Denke das
nicht, Wanderer, du wirst von meinem Stück nicht
ewig satt sein, mir aber wird es ewig weh tun,
und ich kann dir besser nützlich sein.“ Er ging
weiter und rührte den Fisch nicht an. Ertrug den
Hunger.
Ein Hund kommt gelaufen, der hat drei Welfen
bei sich, und er ist so hungrig, daß er mit dem
Stock den einen Welfen totschlagen will. Der Hund
antwortet ihm: „Für ewig wirst du dich an meinem
Welfen nicht satt essen, ich aber werde ewig Kla-

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ge gegen dich führen. Und ich kann dir noch nütz-
lich sein.“
Nun, er ging weiter, wieder seinen Weg, und
kommt an eben das Meer, wo die Hütte steht. Am
Meer aber ist weder eine Fähre noch ein Boot –
nichts. Er setzte sich hin, ließ den Kopf hängen
und sitzt da. Da sieht er: das Meer bewegt sich.
Derselbe Fisch, von dem er ein Stück hatte ab-
schlagen wollen, kam heran und brachte ihm auf
seinem Rücken die Hütte angeschleppt. „Nun, bist
du zufrieden mit meinem Dienst?“ – „Danke!“ sagt
er. Er geht in die Hütte hinein, bricht die Kiste
auf, hat die Kiste aufgebrochen – aber er hatte in
der Hütte die Tür nicht zugesperrt, die Ente
sprang aus der Schachtel und flog davon in die
Steppe. „Was für eine Dummheit!“ Er setzte sich
hin und ließ den Kopf noch ärger als das erste Mal
hängen. „Hab sie in den Händen gehabt und sie
nicht halten können.“ Irgendwoher bringt ihm der
Hund, dessen Welfen er verschont hatte, die Ente
angeschleppt; er hatte ihr im Flug den Hals
durchgebissen. – „Nun, siehst du, Wandersmann,
auch ich bin dir nützlich gewesen.“ Er verneigte
sich vor dem Hund bis zum Gürtel. Setzte sich
hin, die Ente aufzuschneiden: die Ente hatte er
zwar aufgeschnitten, aber das Ei rollte zurück ins
Meer. „Was bin ich nur für ein Narr, was für ein
Dummkopf!“ Plötzlich sieht er, das Meer bewegt
sich, und der Fisch, der ihm den Zwieback entris-
sen hatte, bringt ihm das Ei angeschleppt. Er
steckte das Ei ein und ging zurück.

430
Nun, und Kastschej ging es zu Hause schlecht.
Der Tod hatte ihn angerührt. Nun, kurz erzählt, er
kommt wieder zu dieser Alten, bei der er das er-
ste Mal gewesen war. „Nun, Großmütterchen, was
gibts Neues bei uns?“ – „Das gibt es Neues, daß
Kastschej im Bett liegt, schon ohne Bewegung
liegt.“ Er übernachtete bei der Alten. Am anderen
Tag geht er geradenwegs ins Schloß zu Kastschej,
geht schon furchtlos. Kastschej bittet ihn um
Gnade: „Gib mir dieses Ei, nimm meinen Platz ein,
ich gehe fort von hier.“ Er hörte nicht darauf,
nahm das Ei, zerschlug’s, und Kastschej mußte
ins Gras beißen. Da verbrannte er Kastschej,
streute die Asche in alle Winde, verstreute sie bis
aufs letzte Körnchen. Das ganze Volk atmete auf.
Nun gab es ein Läuten, Singen und Freude. Er
aber ging, den Vater ausgraben. Grub den Vater
aus, bestrich ihn mit diesem Ei, und sein Vater
wurde wieder lebendig. Nun, und nun lebten sie
herrlich und in Freuden und wurden reiche Leute.
Auch der Onkel, bei dem er gelebt hatte, kam, zu
diesem Fest.

431
40
Das goldene Ei
In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal
ein sehr reicher Bauer. Der hatte drei Söhne: zwei
kluge und als dritten Iwan den Dummkopf. Der
Alte wurde krank und trägt seinen Söhnen auf:
„Falls ich sterbe, setzt mir ja den Iwan nicht hint-
an!“ Der Alte starb. Der Leichenschmaus war vor-
bei, die Seelenmesse gelesen. Jetzt lebten die
Söhne allein. Nun, die Brüder leben ganz gut mit-
einander, in Frieden, aber die Schwägerinnen fin-
gen an sich zu zanken. Die Brüder, die großen,
hatten keine Kinder, Iwan der Dummkopf aber
hatte ihrer sieben. Die Schwägerinnen sagen:
„Wozu sollen wir fremde Kinder füttern. Wir wol-
len Iwan abfinden! Mag er mit seiner Familie allein
leben.“ Die Brüder fanden Iwan ab, und als Haus
gaben sie ihm nur das Waschhaus. An Getreide
gaben sie ihm drei Maß Roggen. Das war sein An-
teil – auf schöne Art hatten sie Iwan nicht hintan-
gesetzt! Die drei Maß Roggen ließ er mahlen; aß
sie auf – nicht einmal für drei Wochen reichte es.
Mehr zu essen war nicht da, und zum Kaufen hat-
te er kein Geld. „Ich will zum großen Bruder ge-
hen“, sagt er. „Vielleicht gibt er mir ein Maß Rog-
gen.“ Er kam zum großen Bruder. „Bruder, ich
habe nichts zu essen! Kannst du mir nicht ein Maß
Roggen geben?“ Der Bruder nahm die Schlüssel,

432
ging in die Scheune und schüttete ihm ein Maß
Roggen auf. Der Dummkopf fuhr zur Mühle und
ließ es mahlen. Seine Frau verbuk’s und sie aßen
auch dieses Maß auf. Wieder war nichts zu essen
da. Iwan ging wieder zu seinem Bruder, ob er ihm
nicht noch ein Maß gibt. Er kam zum Bruder.
„Bruder, ich habe dein Maß aufgegessen! Kannst
du mir nicht noch eins geben?“ Der Bruder sagte:
„Was denn, Iwan, willst du immer so nach einem
Maß zu mir kommen? Du hast dein Maß bekom-
men, nun verdiene selber!“ Aber er schüttete ihm
trotzdem ein Maß Roggen auf. „Da, aber komm
nicht wieder zu mir!“ Der Bruder ging zur Mühle,
brachte das Maß hin und ließ es mahlen. Seine
Frau verbuk’s, und sie aßen’s wieder auf. An ei-
nem Maß ißt man nicht lange, neun Mäuler gehör-
ten ja zur Familie. Und wieder war nichts zu essen
da. „Ich will zum Bruder gehen“, sagt er. „Viel-
leicht gibt er mir noch ein Maß.“ Er kommt zum
Bruder. „Bruder, ich habe nichts zu essen. Kannst
du mir nicht noch ein Maß geben?“ Auf einmal
stürzten sich die Schwägerinnen auf ihn und be-
gannen zu schreien: „Sollen wir dich und deine
Familie durchfüttern? Willst du immer nach einem
Maß zu uns kommen?“ Nun, der Bruder hatte
trotzdem Mitleid und gab ihm noch ein Maß. Er
ließ das Maß mahlen und aß es wieder auf. Es ist
nichts mehr zu essen da, und zum Kaufen hat er
kein Geld. Zum Bruder zu gehen, getraut er sich
nicht mehr, der hat’s verboten. Es war an einem
Sonntag. Er machte sich fertig und ging los. „Ich
gehe“, sagt er, „wohin der Weg mich führt!“ Er

433
kam an einen kleinen Wald. Der Wald war an die
vierzig Werst entfernt. Er hört, wie seitwärts je-
mand Holz hackt. Er bleibt stehen und denkt:
„Was denn, heute ist Sonntag, aber jemand hackt
Holz, macht nicht Feiertag! Ich will doch mal hin-
gehen“, sagt er, „und sehen, wer da hackt.“ Er
bog vom Weg ab und ging zu der Stelle, wo ge-
hackt wurde. Kommt hin – da hackt eine Alte
Holz. „Was machst du da, Alte? Heute ist Feiertag,
und du arbeitest!“ Die Alte wetterte los: „Wie du
dich herumtreibst, Herumtreiber, so sollen sich
wohl alle herumtreiben! Ich bin deines Bruders
Schicksal. Dein Bruder, weißt du, strengt sich an
bei der Arbeit, und ich bin sein Schicksal, ich helfe
ihm. Du aber, nicht nur am Feiertag, auch am
Werktag arbeitest du nicht, und deswegen hast du
auch nichts. Und dein Schicksal gibt sich mit sei-
nem Liebsten ab!“ – „Und wo kann ich mein
Schicksal finden?“ – „Setz dich auf mich, ich bring
dich hin, dann wirst du dein Schicksal finden!“
Iwan der Dummkopf setzte sich der Alten auf die
Schultern. Die Alte trug ihn aus dem Wald, brach-
te ihn aufs freie Feld und stellte ihn auf einen
Weg. „Hier, geh diesen Weg lang! Du wirst zu ei-
ner Schmiede kommen – geh in die Schmiede
hinein und bitte, dir drei Eisenstangen zu schmie-
den. Wenn die Stangen geschmiedet sind, dann
geh diesen Weg weiter. Du wirst zu einem Haus
kommen. Es ist ein dreistöckiges Haus, und in
diesem Haus sitzt dein Schicksal im Zimmer und
gibt sich mit seinem Liebhaber ab. Geh in dieses
Haus, bete zu Gott, bekreuzige dich und setz dich

434
auf die Bank. Wenn dein Schicksal aufspringt, zu
dir kommt, dich fragt und dich bewirtet, dann
trink zwei Gläschen aus, das dritte aber trink
nicht! Sie wird dich zwingen wollen, du aber gerb
ihr mit diesen Stangen das Fell und gerb es ihr,
bis sie sich dir unterwirft.“ So machte er sich auf
den Weg. Kam zu der Schmiede und ließ sich drei
Eisenstangen schmieden. Er kommt zu dem Haus.
Es ist ein dreistöckiges Haus. Ging in dieses Haus.
Da sitzt ein Mann mit einer Frau am Tisch. Er trat
ein, betete zu Gott, verbeugte sich vor ihnen und
setzte sich auf die Bank. Auf einmal kam die Frau
mit einer Karaffe zu ihm. Begann ihn zu bewirten.
Sie goß ihm ein Gläschen ein, er trank’s, sie goß
ein zweites ein, er trank das zweite, sie goß ein
drittes ein, das dritte nahm er nicht. Sie wollte ihn
zwingen; er packte sie und prügelte munter auf
sie ein. „Was fällt dir ein, mich zu zwingen!“ Als er
sie zu prügeln begann, sprang ihr Liebster aus
dem Fenster. Er prügelte und prügelte; die eine
Eisenstange hatte er zerbrochen, er nahm die
zweite und zerbrach die zweite. Die zweite hatte
er zerbrochen, er nahm die dritte. Da flehte ihn
die Frau an: „Hör auf mit Prügeln, ich will dir hel-
fen!“ Da hörte er auf, sie zu prügeln. Sie gab ihm
eine Henne mit goldenem Kamm. „Da, trag diese
Henne nach Hause, setze sie ins Nest! Sie wird dir
goldene Eier legen.“ Iwan nahm die Henne und
machte sich auf den Rückweg. Er kommt an die
Stelle, wo er die Alte verlassen hatte. Die setzte
ihn auf ihre Schultern und brachte ihn dorthin, wo
sie Holz gehackt hatte. Die Alte blieb zurück und

435
hackte Holz, er aber ging zur Straße. Er kam auf
die Straße und machte sich auf den Heimweg.
Kam nach Hause, da weinen die Kinder: „Wir ha-
ben Hunger! Gib uns Brot, Vater!“ Vater hatte
kein Brot mitgebracht – iß, was du willst. Schnell
setzte er die Henne ins Nest.
Die Henne legte ein goldenes Ei. Am zweiten
Tag legte sie ein zweites. Am dritten Tag legte sie
das dritte. Da ging Iwan der Dummkopf zu seinen
Brüdern. Die Brüder wollen gerade auf Schiffen in
fremde Länder fahren. „Brüder, nehmt meine drei
Eier mit! Wenn ihr in die fremden Länder kommt,
vielleicht wird man euch dort einen Sack Getreide
für jedes geben.“ – „Ach, du Dummkopf, bei uns
stehen ganze Spreukörbe voll Eier! Wenn es einen
Sack für jedes gäbe, würden wir sie alle dorthin
mitnehmen!“ Der Bruder begann zu weinen.
„Trotzdem, was sie auch geben werden, nehmt sie
trotzdem mit!“ Aber er erklärt nicht, was für Eier
es sind. Nun, Brüder, da kann man nichts ma-
chen: „Bring sie aufs Schiff, leg sie irgendwo in
eine Ecke!“ Iwan der Dummkopf ging nach Hause,
wickelte sie in die allerschmutzigsten Lappen,
brachte sie aufs Schiff und legte sie hin, wo sie
nicht zerdrückt werden konnten. Die Brüder
machten sich mit ihren Schiffen auf in die frem-
den Länder. Sie kamen in den fremden Ländern
an und machten am Ankerplatz halt. Dann neh-
men sie die allerbesten Geschenke und bringen
sie dem König. Brachten die Geschenke hin und
gaben sie dem König. Der König lobte die Ge-
schenke sehr und erlaubte ihnen, in seiner Stadt

436
Handel zu treiben. Nun verkauften die Brüder alle
Waren sehr bald und hatten großen Gewinn. Sie
kauften Waren und beluden ihre Schiffe. Sie wol-
len wieder in ihre Stadt fahren. Schon hatten sie
die Schiffe bestiegen und wollten losfahren, da fiel
ihnen ein: „Wie denn, Brüder, wir haben ja die
Eier nicht verkauft. Wo liegen sie denn?“ Gleich
suchten sie die Eier; wickelten die Lappen ab, da
fielen die drei Eier heraus. „Ach, der Dummkopf,
woher hat er denn solche Eier? Warum hat er uns
denn das nicht erklärt?“ Sie nahmen diese drei
Eier, gingen in die Stadt, legten sie auf einen gol-
denen Teller, brachten sie zum König und sagten,
daß das „ein Geschenk von unserem Bruder für
Euch ist“. Der König freute sich sehr über dieses
Geschenk, so etwas hatte er in seinem Leben
noch nicht gesehen. Er bedankte sich für das Ge-
schenk und belud Iwan dem Dummkopf drei
Schiffe für die Eier. „Hier“, sagt er, „bringt Iwan
dem Dummkopf von mir ein Geschenk für sein
Geschenk.“ Jetzt hatten sie sechs Schiffe, und sie
machten sich auf den Weg. Es tat ihnen leid, die
Schiffe dem Bruder zu geben. „Der Bruder hat ei-
nen Sack für jedes Ei haben wollen, geben wir
ihm zwei für jedes und behalten die Schiffe für
uns!“ So machten sie aus. Plötzlich blieben die
Schiffe stehen, bewegten sich nicht von der Stel-
le. Stehen einen Tag, den zweiten, den dritten,
stehen einen Monat und bewegen sich nicht von
der Stelle. Die Brüder erschraken darüber: „Des-
wegen sind unsere Schiffe stehengeblieben, weil
wir dem Bruder die Schiffe nicht geben wollten!

437
Herrgott, mach unsere Schiffe flott, wir geben sie
dem Bruder!“ Plötzlich fuhren die Schiffe weiter.
Sie sind bald zu Hause, sahen also ihre Heimat –
und beratschlagten wieder: „Wir geben dem Bru-
der die Schiffe nicht.“ Die Schiffe blieben wieder
stehen. Einen Tag um den anderen und eine Wo-
che stehen die Schiffe und bewegen sich nicht von
der Stelle. Die Brüder jammerten: „Mach uns flott,
unsere eigenen geben wir hin, nicht nur seine.“
Da fuhren die Schiffe plötzlich weiter. Sie kamen
zum Ankerplatz. Die Brüder ließen die Köpfe hän-
gen, gingen nach Hause und waren betrübt:
schade, daß der Reichtum nicht mehr ihnen ge-
hörte. Auf einmal kommt Iwan der Dummkopf ih-
nen entgegengerannt: „Wie ist’s, Brüder, habt ihr
meine Eier verkauft?“ – „Ja, ja! Lauf zum Anker-
platz, Iwan, alles was dort ist, alles gehört dir für
die Eier.“ Iwan läuft zum Ankerplatz. Die Leute,
die über die Waren gesetzt waren, sagen: „Da
kommt unser Herr gerannt!“ Die Schiffsleute
nahmen ihren Herrn bei den Händen und führten
ihn auf die Schiffe. „Laß dir erklären, Iwan, – alles
das ist dein Besitz! Alle sechs Schiffe! Weise uns
unseren Platz an, und dann wollen wir Handel
treiben.“ Sie rissen Iwan dem Dummkopf seine
elenden Kleider herunter und zogen ihm schöne
an. „Du mußt ein Herr sein, Iwan, nicht so ein ab-
gerissener Kerl!“ Iwan freute sich, lief zu seiner
Frau, brauchte keinerlei sonstigen Reichtum. Kam
zu seiner Frau. „Frau, vornehme Dame, sieh, wie
sie mich für das Ei zurechtgeputzt haben!“ Seine
Frau ergriff einen Knüppel und ging auf ihren

438
Mann los: „Putz brauchst du, du Hund, und die
Kinder brauchen kein Brot!“ – „So geh doch hin
zum Ankerplatz, du niederträchtiges Ding, wenn
du neidisch bist!“ Die Frau ließ den Knüppel fah-
ren und rannte voll Freude zum Ankerplatz. Iwans
Frau kommt zum Ankerplatz gelaufen. Die Han-
delsdiener riefen: „Ist das unsere Herrin, die da
gerannt kommt, so zerlumpt?“ Sogleich ergriffen
sie sie bei den Händen, rissen ihr die elenden
Kleider herunter und putzten sie als Herrin an.
Und sie rannte nach Hause und brauchte nichts
weiter. Dann sahen die Handelsdiener, daß sie
von ihrer Herrschaft nichts Vernünftiges erwarten
konnten und fingen selber an, Läden zu bauen.
Sie bauten die Läden, luden die Waren aus und
trieben fleißig Handel. Dann nahmen sich Iwans
Söhne des Handels an. Und dann begann auch
Iwan selber, in den Laden zu gehen. So trieben
sie Handel. Verdienten gut, schafften sich ein gro-
ßes Vermögen an. Dann schaffte sich Iwans Frau
einen Liebhaber an. Dieser Liebhaber nun geht
überall herum. Kaum waren sie in den Laden ge-
gangen, Handel zu treiben, kam er zu ihr und lief
herum und fand die Henne mit dem goldenen
Kamm. Die Henne hatte auf ihrem Kamm eine
Aufschrift: „Wer diesen Kamm ißt, wird Zar, und
wer von der Henne den Magen ißt, der wird Gold
spucken.“ So merkte dieser Freund, woher der
ganze Putz kam. Es verlangte ihn, die Henne zu
essen. Da sagt er: „Liebste, schlachte diese Hen-
ne, und essen wir sie zusammen.“ Sie sagte:
„Nein, diese Henne will ich nicht schlachten!“ –

439
„Und warum willst du sie nicht schlachten?“ –
„Darum will ich’s nicht, weil wir durch diese Henne
zu leben begonnen haben.“ – „Nun, wenn du die
Henne nicht schlachten willst, dann will ich dich
auch nicht lieben! Ich komme in Ewigkeit nicht
wieder zu dir!“ – „Ob du mich nun liebst oder
nicht, die Henne schlachte ich nicht!“ Auf einmal
sprang ihr Liebhaber auf und lief aus dem Haus.
„Ich komme in Ewigkeit nicht wieder zu dir, du
niederträchtiges Ding!“ Es tat ihr aber leid.
„Komm zurück“, sagt sie, „Liebster! Ich will die
Henne für dich schlachten!“ Da kam er zurück. Sie
schlachtete die Henne, nahm sie aus und briet sie
sogleich. Setzte sie aufs Feuer. Er sagt: „Nun,
Liebste, wir wollen das Bad heizen! Erst waschen
wir uns, und dann essen wir die Henne.“ Gleich
heizte sie das Bad, und sie gingen ins Bad. Auf
einmal kamen ihre zwei kleinen Söhne angerannt,
Mischka und Grischka, und wollten etwas zu es-
sen. „Ach“, sagen sie, „Mutter ist nicht da, und wir
haben Hunger.“ Mischka sagt: „Komm, Grischka,
sieh nach, was im Ofen ist, es macht nichts, daß
Mutter nicht da ist!“ Grischka machte den Ofen
auf und sieht die Pfanne mit dem Braten stehen.
„Och“, sagt Mischka, „da steht eine Pfanne mit
Braten!“ – „Los, trag ihn auf den Tisch, wir wer-
den ihn sowieso essen!“ Grischka zog die Pfanne
heraus, stellte sie auf den Tisch, und sie putzten
sie leer. Nahmen die Knochen, legten sie in die
Pfanne und stellten sie in den Ofen. Dann rannten
sie aus dem Haus und sehen, wie ihre Mutter mit
dem Liebhaber aus dem Bad ins Haus geht.

440
„Komm, wir wollen hören, ob Mutter auf uns
schimpft, daß wir die Henne gegessen haben.“
Ihre Mutter kam mit dem Liebhaber. Sie wollen
die Henne essen: sie greift in den Ofen und sieht
nur die Knochen. „Ach, Liebster, jemand hat die
Henne aufgegessen, nur die Knochen liegen in der
Pfanne. Sicher haben Mischka und Grischka sie
gegessen. Laß sie nur nach Hause kommen, ich
ziehe ihnen bei lebendigem Leibe das Fell herun-
ter!“ Grischka und Mischka hören diese Reden.
„Ach, wie Mutter auf uns schimpft; da laufen wir
lieber von zu Hause fort!“ Sie gingen aus der
Stadt hinaus, drehten sich jeder eine Zigarette
und fingen an zu rauchen. Sie rauchten. Mischka
spuckte aus, da war Gold aus seinem Munde ge-
kommen. Sie wunderten sich. Er spuckte noch
einmal – wieder ein Goldstück, und so weiter,
immer spuckt er Gold aus. Soviel hatte er zu-
sammengespuckt, daß er alle Taschen vollgestopft
hatte, nicht mehr wußte, wohin damit, und zu
spucken aufhörte. „Oh, Mischka, jetzt können wir
ein schönes Leben führen! Volle Taschen“, sagt
er, „und im Mund noch mehr.“ So gingen sie wei-
ter und weiter. Gingen und gingen, immer den
Weg entlang. Sie kommen in eine Stadt und wis-
sen nicht, was für eine Stadt das ist. Sie fanden
am Stadtrand eine Alte. „Großmütterchen, laß uns
bitte übernachten!“ – „Herzlich gern, übernachtet!
Nur zu essen kann ich euch nichts geben, es ist
nichts vorbereitet.“ Da steht Mischka auf, holt ei-
ne Handvoll Goldstücke heraus und gibt sie der
Alten. „Da nimm, Großmütterchen! Nimm diese

441
Handvoll Goldstücke und kaufe uns etwas zum
Abendbrot!“ Die Alte lief in die Stadt, kaufte alles
mögliche ein, brachte es auf einer Fuhre an, heiz-
te sogleich den Ofen an und gab den Kindern zu
trinken und zu essen. So leben sie etwa einen
Monat bei diesem Großmütterchen. Es geht ihnen
gut, und der Alten auch. Dann haben sie mit der
Alten eine Unterhaltung: „Großmütterchen“, sa-
gen sie, „was gibt es Schönes in Eurer Stadt?“ –
„Kinder“, sagt sie, „bei uns wird heuer der Zar
gewählt: wir haben keinen Zaren in unserem
Staat.“ – „Und wie wird er denn gewählt, Groß-
mütterchen?“ – „Am festgesetzten Tag kommt das
ganze Volk zusammen, und alle bekommen eine
Kerze, und bei wem die Kerze sich entzündet, der
wird Zar.“ – „Großmütterchen, da bleiben wir
noch solange hier, warten solange.“ – „Bleibt nur,
Kinderchen, bleibt! Ich bin froh, wenn ihr bleibt!“
Sie blieben also noch einen ganzen Monat bei der
Alten. Dann kam der festgesetzte Tag, und Misch-
ka und Grischka begaben sich zum Versamm-
lungsplatz. Es war so viel Volk versammelt, daß
man es nicht einmal zählen konnte, und alle be-
kamen eine Kerze in die Hände. Bei Grischka fing
die Kerze in den Händen zu brennen an. Alles Volk
blickte sich um: bei diesem Lausejungen ist die
Kerze angebrannt – er soll also Zar sein. Das gan-
ze Volk begann zu lärmen: „Vielleicht ist er ein
Zauberer? Die Sache muß auf ein anderes Mal
verschoben werden!“ Sie verschoben die Sache
auf ein anderes Mal. Das andere Mal versammelte
sich wieder das ganze Volk, und wieder bekamen

442
alle eine Kerze. Wieder entzündete sich in Grisch-
kas Händen die Kerze. Das Volk begann wieder zu
lärmen: „Was soll das heißen, bei diesem Lause-
jungen ist die Kerze zum zweitenmal angebrannt!“
Wie sehr das Volk aber auch lärmte, das Gericht
sagte: „Was das Gesetz bestimmt, das muß auch
geschehen! Bei Grischka hat sich die Kerze ent-
zündet, so muß er auch Zar werden!“ So setzten
sie Grischka auf den Zarenthron.
Ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat nicht
so bald getan. Er war nun schon zwanzig Jahre
alt. Da bestieg er also den Zarenthron. Der Zar
heiratet und lebt mit seiner Frau, und Mischka
wohnt bei ihm. „Bruder Grischka, du schläfst mit
deiner Frau, ich aber alleine! Ich will heiraten.“ –
„Aber gewiß, Bruder, wenn du heiraten willst, –
welche du willst, die kannst du dir auch nehmen.“
– „Nein, Bruder, hier will ich nicht heiraten! Hier
finde ich keine Braut, die ich liebe. Ich will jetzt
fort; wo ich eine Braut finde, die ich liebe, dort
will ich heiraten.“ – „Nein, Bruder“, sagt er, „ich
würde dir nicht raten, fortzugehen: du gehst fort
und bist ohne mich verloren!“ – „Nein, Bruder, ich
glaube nicht, daß ich verloren bin! Selbst wenn sie
mir’s aus der Tasche stehlen, so habe ich in mir
selber viel. Wie kann ich da verloren sein?“ –
„Nun“, sagt er, „geh mit Gott! Geh, zieh umher,
wenn du nicht auf mich hören willst!“ So machte
sich Bruder Mischka auf den Weg. „Leb wohl, Bru-
der Grischka“, sagt er. Sie nahmen voneinander
Abschied, und er machte sich auf den Weg. Ging
er nun eine große oder eine kleine Strecke – je-

443
denfalls verirrte er sich. Er ging und ging, bekam
Hunger, aber es ist nichts zu bekommen; Geld hat
er zwar, aber nirgends kann er etwas kaufen. Da
dachte er an seinen Bruder. „Freilich, der Bruder
hat gesagt, daß ich ohne ihn verloren bin!“ Dann
kam er an ein Flüßchen. Das Flüßchen eilt dahin,
und am Ufer steht ein Büschel Gras. Er aß von
diesem Gras – da wurde er ganz schlapp und welk
und wurde krank. „Ach, lieber Gott! Was ist mit
mir geschehen. Jetzt bin ich verloren! Nun, da
läßt sich nichts machen. Ich will an diesem Flüß-
chen entlanggehen; sollte es mich wirklich zu kei-
ner Behausung führen?“ Er ging an dem Flüßchen
entlang, und wieder fand er ein Büschel Gras. „Ich
will mich ein wenig setzen“, sagt er, „und etwas
essen: man stirbt nur einmal!“ sagt er. Er setzte
sich neben das Büschel und aß dieses Gras. Er
hatte von dem Gras gegessen – da fiel die ganze
Krankheit von ihm ab, er wurde ganz rein, wurde
gesund und schön, schöner als vorher. „Gott sei
Dank!“ sagt er. „Gott ist nicht ohne Erbarmen: hat
mir die Gesundheit wieder gegeben.“ Er pflückte
so viel wie möglich von diesem Gras und steckte’s
in die Tasche. Kehrte zurück zu dem anderen und
pflückte auch davon. Dann ging er den Fluß ent-
lang und kam auf eine große Straße. Ging die
große Straße entlang und kommt so in eine Stadt.
In dieser Stadt fand er am Stadtrand eine Alte.
„Großmütterchen, laß mich bei dir übernachten!“
sagt er. „Herzlich gerne. Übernachte nur, mein
Kind! Nur zu essen kann ich dir nichts geben.“
Mischka steckte die Hand in die Tasche und gibt

444
der Alten eine Handvoll Gold. „Nimm“, sagt er,
„und kauf mir etwas zum Abendbrot!“ Die Alte
freute sich, nahm die Goldstücke und lief in die
Stadt; kaufte alles mögliche zusammen und
brachte’s mit einer Fuhre an. Gleich heizte sie den
Ofen, buk und kochte und gab ihrem Logiergast
zu essen. Dann fragt Mischka die Alte: „Was gibt
es Schönes bei Euch?“ – „Was es Schönes gibt?
Von unserem König die Tochter ist dreißig Jahre
krank, und niemand kann sie gesundmachen; aus
fremden Ländern haben sie Doktoren geholt –
niemand kann sie gesundmachen.“ – „Melde mich
mal an. Großmütterchen! Kann ich sie denn nicht
gesundmachen?“ – „Ach, mein Kind“, sagt sie,
„wie willst du sie denn gesundmachen? Verschie-
dene Doktoren haben sie behandelt und haben sie
nicht gesundmachen können. Wenn du sie näm-
lich behandelst und nicht gesund machst, kostet
es dich den Kopf! Alle die Zaunpfähle hier sind mit
Köpfen behangen, ein einziger Pfahl ist noch üb-
rig, wohl für deinen Kopf.“ – „Ach nein. Großmüt-
terchen, melde mich trotzdem an: vielleicht ma-
che ich sie gesund!“ Die Alte lief zum König. Sie
kam zum Schloß, die Diener halten sie an: „Was
willst du, Großmütterchen?“ – „Hier, so und so,
bei mir übernachtet einer und will versuchen, eure
Tochter gesundzumachen.“ Die Diener meldeten
es gleich dem König. Der König befahl, der Lo-
giergast der Alten solle sofort kommen. Der mel-
dete sich sogleich beim König. Der König fragt:
„Nun, mein Freund, willst du’s versuchen, meine
Tochter zu behandeln?“ – „Jawohl“, sagt er, „ich

445
werde Eure Tochter gesundmachen.“ – „Nun,
wenn du meine Tochter gesundmachst“, sagt er,
„belohne ich dich mit all meinem Vermögen, wenn
aber nicht – kostet es deinen Kopf! Hier der eine
Zaunpfahl ist schon bereit. Wie willst du sie denn
behandeln?“ – „Es müssen zwei Bäder geheizt
werden“, sagt er, „und sie wird gesund sein.“ Der
König befahl, das Bad zu heizen. Das Bad wurde
geheizt, sie führten die Königstocher mit dem
Doktor ins Bad. Mischka holte sogleich das Gras
heraus, von dem er krank geworden war, legte es
in das warme Wasser und wusch sie mit diesem
Gras am ganzen Körper. Darauf wurde sie noch
schlimmer krank. Man führte sie aus dem Bad.
Der König sah sie an. „Noch schlimmer hat’s der
Doktor gemacht, hat meine Tochter bis auf den
Tod geheilt! Besser schlage ich ihm gleich den
Kopf ab, statt das zweite Bad heizen zu lassen, er
bringt meine Tochter sonst noch ganz um. Oder
soll ich nochmal heizen lassen? Was wird noch
daraus werden?“ Der König ließ das zweite Bad
heizen. Und die Königstochter wurde mit dem
Doktor ins zweite Bad geführt. Mischka nahm das
Gras, von dem er gesund geworden war, weichte
es im Wasser auf und hieß sie, von dem Wasser
zu trinken. Und dann wusch er sie mit diesem
Wasser. Mit einemmal war die ganze Krankheit
von ihr abgefallen, sie wurde gesund und schön,
er hätte sie die ganze Zeit nur ansehen mögen.
Da nimmt die Königstochter Mischka bei den Hän-
den, küßt ihn auf den Mund und sagt: „Sei du
mein lieber Gemahl!“ Sie faßten sich an den wei-

446
ßen Händen und gehen aus dem Bad geradewegs
ins Schloß. Der König sah aus dem Fenster, sieht
den Doktor kommen, aber an seine Tochter wagt
er gar nicht zu denken, traut seinen Augen nicht.
„Sollte dieser Doktor wirklich meine Tochter ge-
sundgemacht haben und jetzt mit ihr kommen?“
Da kommt seine Tochter heran. „Guten Tag, Vater
und Mutter! Dieser Doktor hat mich gesundge-
macht. Ich möchte seine Frau werden!“ sagt sie.
Der König dachte nicht lange nach, ließ gleich
Hochzeit feiern. Er traute sie. So leben sie nun.
Dann begann sie ihn zu bedrängen. „Warum“,
sagt sie, spuckst du Gold?“ – „Ich spucke von Na-
tur Gold“, sagt er, „bei uns spuckt alles Gold!“
Nun, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte
nichts erreichen. Da veranstaltete sie ein Fest,
braute Bier, ließ alle möglichen Weine kommen,
lud eine Menge Gäste ein und bat sie: „Könntet
ihr meinen Mann nicht irgendwie dazu verleiten,
ein Gläschen Wein zu trinken!“ (Er trank aber
nicht.) Die Gäste also tranken auf dem Fest, aber
ihn konnten sie auf keine Weise verleiten, auch
nur einen Tropfen Wein zu trinken. So gingen alle
Gäste auseinander und hatten nichts mit ihm an-
fangen können. Sie aber wollte der Sache trotz-
dem gar zu gern auf den Grund kommen. Sie
heizte also ein Bad. Am Morgen ging er ins Bad,
sie setzte den Samowar an, kochte Tee, goß ihm
ein Glas Tee ein und goß in dieses Glas von den
allerteuersten Weinen hinzu. Dann kommt Misch-
ka aus dem Bad und setzt sich, um Tee zu trin-
ken. Hatte sich zum Tee gesetzt, trank das Glas

447
aus, wurde betrunken und fiel um. Seine Frau
sagt: „Diener, tragt ihn ins Schlafzimmer: er hat
gewiß Rauch geschluckt.“ Die Diener legten ihn
auf seine Lagerstatt, auf ein Federbett. Er lag dort
einige Zeit, es wurde ihm übel, und er spie diesen
Magen aus, durch den er Gold spuckte. Seine Frau
sah’s sogleich, wusch den Magen ab, aß ihn und
spuckte – ein Goldstück sprang heraus. „Ach,
deswegen also hat er immer Gold gespuckt! Die-
ner“, sagt sie, „nehmt ihn und tragt den Trunken-
bold auf den Abtritt!“
Die Diener nahmen ihn und warfen ihn auf den
Abtritt. Er kam dort wieder zu sich und sagt: „Du
lieber Gott, wie bin ich hierher gekommen? Habe
beim Tee gesessen und finde mich jetzt auf dem
Abtritt. Gewiß ist irgend etwas Schlimmes pas-
siert. Wohin soll ich denn jetzt gehen – nackt und
ganz voll Schmutz? Ich muß mich ja schämen,
unter die Leute zu gehen.“ Er wickelte sich kur-
zerhand in eine Bastmatte und ging aus der Stadt.
Er kam an einen Graben, wusch sich und ging
weiter. Lief und lief, immer durch Wald und immer
durch Wald. Lief so lange, bis er zu müde zum
Weitergehen war. Da steht ein Apfelbaum und hat
so schöne Äpfel – er hätte sie die ganze Zeit an-
sehen können. Gleich pflückte er von diesen Äp-
feln und aß sich satt. Auf einmal war er ganz mit
Hörnern bedeckt. „Lieber Gott, was ist mit mir
passiert? Jetzt bin ich verloren! Freilich, der Bru-
der hat’s gesagt. Jetzt habe ich kein Geld und bin
ganz mit Hörnern bedeckt! Wohin soll ich jetzt
gehen?“ So schleppte er sich weg von dem Apfel-

448
baum, aber die Hörner hindern ihn: sie bleiben
überall an den Bäumen hängen. Er kam zu einem
anderen Apfelbaum, pflückte einen Apfel, aß ihn –
ein Horn fiel ab. Da aß er sich an diesen Äpfeln
satt – und alle Hörner fielen ab. Sogleich pflückte
er eine Menge von diesen Äpfeln. Dann zu jenem
Apfelbaum und von jenen gepflückt. Und er kehr-
te wieder in die Stadt zurück. Kam in die Stadt
und suchte wieder seine Alte am Stadtrand auf.
„Großmütterchen, laß mich übernachten!“ sagt er.
„Herzlich gern, mein Kind! Übernachte!“, sagt sie.
Er blieb also und übernachtete dort. Die Alte gab
ihm Abendbrot und legte ihn schlafen. „Großmüt-
terchen, hast du nicht vielleicht einen neuen
Korb? Bring diese Äpfel hier zur Königstochter und
verkaufe sie!“
Das Großmütterchen brachte einen Korb. Er
stopfte ihn ganz voll Äpfel. Sie brachte sie zur Kö-
nigstocher. Die Dienerinnen kommen heraus:
„Großmütterchen, was bringst du da?“ – „Hier die
Äpfel zum Verkauf!“ Die Königstochter freute sich
und kaufte die Äpfel. Kaufte sie, und gleich in ihr
Zimmer und gegessen! Hat sie einen Apfel geges-
sen, wächst ein Horn, wächst ein Horn. So war sie
ganz mit Hörnern bedeckt. Die Dienerinnen liefen
nach einem Doktor. Die Doktoren kamen mit Sä-
gen und begannen die Hörner abzusägen. Haben
sie ein Horn abgesägt, so wächst ein noch größe-
res nach mit einer Gabel. Sie plagten und plagten
sich und können nichts machen. Sie meldeten’s
dem König. Der König wurde traurig, weiß nicht,
wie er diese Hörner abnehmen soll. Sogleich

449
schickt er eine Bekanntmachung in alle Teile des
Landes, in alle Gouvernements, wer kann, soll
zum König kommen. Da kamen Doktoren aus al-
len Gegenden und begannen die Hörner abzusä-
gen. Ein Horn haben sie abgesägt, da wächst ge-
genüber ein noch größeres, mit einer Gabel. Sie
plagten und plagten sich, konnten mit den Hör-
nern nichts machen und fuhren wieder fort. Da
schickt der Logiergast seine Alte: „Geh zum König
und sage, ich habe einen Logiergast, der will die
Hörner abnehmen.“ Der König befahl dem Logier-
gast, sofort zu ihm ins Schloß kommen. Der Lo-
giergast kam ins Schloß. Der König fragt: „Wie
ist’s, Logiergast, kannst du die Hörner meiner
Tochter abnehmen?“ – „Ja“, sagt er. „Wie willst du
sie denn abnehmen?“ – „Es muß ein Bad geheizt
und die Hörner müssen aufgeweicht werden, dann
werde ich sie abnehmen. Und sie muß ins Bad ge-
bracht und eingeschlossen werden, und das Bad
darf nicht eher aufgeschlossen werden, als ich es
sage, und wenn Ihr es früher aufschließt, dann
macht Ihr alles zunichte, und ich kann die Hörner
nicht abnehmen.“ So machten sie es mit dem Kö-
nig aus. Der König befahl, das Bad zu heizen. Das
Bad wurde geheizt. Aber wie bringt man sie hin?
Sie kommt ja nicht aus dem Zimmer heraus.
Sogleich wurde allen Sägern befohlen, sie sollten
die Hörner zu gleicher Zeit absägen und die Kö-
nigstocher durch die Tür zerren. Gleich versam-
melten sich alle Säger; sie hatten sie noch nicht
durchgezerrt – da war sie wieder ganz mit Hör-
nern bedeckt. So sägten sie an jeder Tür die Hör-

450
ner ab und zerrten sie durch. So brachten sie sie
auch ins Bad. Sogleich wurde die Tür verschlossen
und rings ums Bad eine Wache aufgestellt. Er warf
sie auf die Schwitzbank und machte Dampf, die
Hörner aufzuweichen. Er machte so viel Dampf,
daß er selber im Bad keine Luft mehr kriegte.
Dann hatte er drei Eisenstangen vorbereitet, mit
denen behandelt er sie. Behandelte, behandelte
und behandelte sie, daß sie die Besinnung verlor.
Sie schrie, schrie und hörte auf zu schreien. Die
Wache, die am Bad stand, meldete dem König:
„Deine Tochter hat im Bad geschrien, geschrien
und aufgehört.“ Der König wollte aus Ungeduld
das Bad aufschließen, dann besann er sich, daß
ausgemacht war, das Bad dürfe nicht aufge-
schlossen werden, ehe es der Doktor erlaubt.
Dann spuckte die Königstochter den Hühnerma-
gen aus. Er nahm den Magen, wusch ihn in war-
mem Wasser und verschluckte den Magen. Spuck-
te, und ein Goldstück sprang heraus. Dann gab er
ihr von den Äpfeln, von denen er selber gesund
geworden war. Sie begann diese Äpfel zu essen,
und die Hörner begannen von ihr abzufallen. Sie
aß sich an den Äpfeln satt – alle Hörner waren
abgefallen, sie war gesund. Sie sah diesen Doktor
an und sieht, daß es ihr Mann ist. Sogleich fiel sie
auf die Knie: „Oh, Liebster, vergib mir meine
Schuld! Ich habe böse an dir gehandelt, meinen
Spott getrieben!“ – „Nun“, sagt er, „Gott wird dir
vergeben! Vergib du mir!“ Sie vergaben einander
und begannen wie früher zu leben. Dann riefen
sie auf einmal: „Schließt das Bad auf!“ Es wurde

451
aufgeschlossen. Sie gehen Hand in Hand gerade-
wegs ins Schloß. Der König freute sich darüber,
daß die Tochter gesund geworden war und mit
ihrem Mann kommt. Da gab er ein Fest für alle
Christenwelt. Sie tranken, feierten und waren ta-
gelang lustig. Dann wollte Mischka seinen Bruder
Grischka besuchen. Und seine Frau bettelte: „Ich
trenne mich nicht von dir, nimm mich mit!“ –
„Nun, fahren wir, warum nicht!“ Sie machten sich
bereit und fuhren los. Kamen in den Staat, wo der
Bruder lebt. Der Bruder freute sich sehr. Sie blie-
ben zwei, drei Tage zu Gast, dann erinnerten sie
sich ihres Vaters. „Wir müssen unseren Vater be-
suchen fahren, wie es ihm geht!“ Also brachen die
beiden Brüder auf und fuhren los – beide hochan-
gesehene Leute, der eine König, der andere Zar.
Sie kommen zu jener Stadt, da hütet ein Hirt eine
Herde Schweine. Sie sehen diesen Hirten und ru-
fen: „Komm mal her, Alter, zu uns!“ Der Alte er-
schrak, begann zu zittern, weiß nicht, was er tun
soll. Sie sehen, daß der Alte erschrocken ist, und
rufen ihm zu: „Komm nur, komm, Alter, hab keine
Angst!“ Der Alte kam heran. Sie fragen: „Höre Al-
ter, in dieser Stadt war ein Iwan-Dummkopf, lebt
der noch oder nicht?“ – „Er lebt, er lebt, meine
Lieben. Ich selbst bin’s!“ – „Bist wirklich du selber
Iwan der Dummkopf?“ – „Ja, meine Lieben!“ –
„Wie bist du denn unter die Hirten geraten? Er
war doch reich.“ – „Das ganze Hab und Gut ist
noch da, aber meine Frau lebt mit ihrem Liebsten
zusammen, und mich haben sie gezwungen, die
Schweine zu hüten.“ – „Nun, Alter, steig zu uns in

452
den Wagen, wenn es so ist, wenn du wirklich Iwan
der Dummkopf bist!“ Der Alte erschrak, wagt
nicht einzusteigen, weiß nicht, was er tun soll.
„Steig ein, steig ein!“ sagen sie, „wovor hast du
Angst?“ – „Die Schweine werden mir davonlau-
fen“, sagt er. „Nun, der Teufel soll die Schweine
holen, genug der Schweine! Steig ein!“ Der Alte
setzte sich zu ihnen in den Wagen. Sie kamen zu
ihrem Haus. Gingen ins Haus hinein. Ihre Mutter
sitzt mit ihrem Liebsten am Tisch, sie schmusen
miteinander. Sie packten ihre Mutter, traten ihr
auf den einen Fuß, ergriffen den anderen und ris-
sen sie mitten auseinander; und den Liebhaber
banden sie an die Tür und erschossen ihn. Das
Hab und Gut ließen sie ihren Brüdern, den Alten
aber nahmen sie mit und fuhren dann jeder in
sein Königreich. Sie lebten herrlich und in Freuden
und wurden reiche Leute. Und leben noch heute.
Aus ist die Mär, zu erzählen ist nichts mehr.

453
41
Von Nikita dem Herumtreiber
Es lebten ein alter Mann und eine alte Frau. Der
Mann und die Frau hatten drei Söhne, zwei ver-
nünftige und als dritten den Dummkopf Nikita.
Der Alte hatte eine neue Hütte gebaut und sagt
zum ältesten Sohn: „Geh und bring eine Nacht
dort zu: wenn du etwas Schönes im Traum siehst,
ziehen wir in die neue Hütte, wenn aber etwas
Schlechtes, dann nicht, dann verkaufen wir sie.“
Der älteste Sohn verbrachte eine Nacht darin und
sagt: „Ach, Väterchen“, sagt er, „wie reich werden
wir sein!“ Darauf schickt der Alte den mittleren
Sohn. Der mittlere Sohn sagte dasselbe.
Darauf schickt er den Dummkopf Nikita: „Nun,
geh, Nikita! Was wirst du sehen?“ Nikita sah im
Traum, er säße auf einem Zarenthron. Am ande-
ren Tag fragt der Vater: „Nun, Nikita, was hast du
gesehen?“ Nikita dachte bei sich: „Was für einen
Zaren gibt ein Dummkopf ab?“ Und sagt: „Das ist
nicht wahr! Und was ich gesehen habe, sage ich
nicht!“ Der Vater verprügelte den Sohn und führte
ihn vors Tor.
Auf der Straße kam ein Kaufmann gefahren.
„Weswegen prügelst du deinen Sohn, Bauer?“ –
„Er hat im Traum etwas gesehen und sagt es
nicht!“ – „Prügle ihn nicht! Verkauf ihn mir!… Wie-
viel willst du haben?“ – „Gib wenigstens einen Ei-

454
sengroschen, dafür gebe ich ihn her!“ Der Kauf-
mann gab den Eisengroschen, setzte den Dumm-
kopf Nikita auf den Wagen und fuhr weiter.
Nach einer Weile fragte auch der Kaufmann:
„Was hast du im Traum gesehen?“ Nikita sagt es
nicht. Der Kaufmann begann ihn zu prügeln. Da
kam auf dieser Straße der Zar gefahren. „Weswe-
gen prügelst du deinen Sohn oder Knecht, Kauf-
mann?“ – „Er hat im Traum etwas gesehen und
sagt es nicht.“ – „Prügle ihn nicht, verkauf ihn
mir! Wieviel willst du haben?“ – „Hundert Rubel.“
Der Zar gab das Geld, nahm Nikita mit und brach-
te ihn zu sich nach Hause.
Weil er viele Male gekauft worden war, gaben
sie ihm den Namen „Nikita der Herumtreiber – der
neugekaufte Diener“. Der Zar schickte ihn in den
Pferdestall, den Pferdeknechten zu helfen. So leb-
te Nikita etwa ein halbes Jahr. Da fragte der Zar
ihn: „Sag, Nikita, was hast du im Traum gese-
hen?“ – „Was geht das dich an? Was ich gesehen
habe, sage ich nicht!“ (Ein Dummkopf ist eben ein
Dummkopf, was will man mit ihm anfangen.) Der
Zar prügelte ihn nicht, aber warf ihn in eine stei-
nerne Schandsäule auf dem Hof.
Dieser Zar aber hatte einen Sohn, Iwanuschka.
Er wollte ihn verheiraten. Er freite um eine Braut
in einem anderen Königreich. Iwanuschka wohnte
dort, bei der Braut. Jener König aber hatte nur
eine einzige Tochter, Söhne hatte er nicht. Und
auch dieser Zar, Iwanuschkas Vater, hatte nur
einen einzigen Sohn, keine Töchter, niemanden
sonst. Der König will ihn überreden, zu seiner

455
Tochter zu ziehen, der Zar aber will, daß sie mit
seinem Sohn zu ihm kommt. Da sagt die Königs-
tochter zu ihnen: „Ich schicke Euch drei Rätsel:
ratet Ihr sie, ziehe ich mit zu Euch, ratet Ihr sie
nicht, soll er bei mir wohnen bleiben!“ Der Zar
war’s einverstanden.
Die Königstochter schickte einen Baumstamm;
der war sorgfältig zugerichtet – was unten und
was oben war, konnte man nicht unterscheiden.
Es soll geraten werden, was unten und was oben
ist. Der Zar machte in der ganzen Stadt bekannt,
man solle kommen, das Rätsel zu raten. Wieviel
Leute auch kamen, niemand konnte es erraten.
Zuletzt kommt ein Alter über den Hof gegan-
gen, wo Nikita der Herumtreiber in der Säule fest-
gebunden ist Nikita sieht ihn und fragt: „Wo bist
du gewesen, Großvater?“ – „Beim Zaren, Rätsel
raten.“ – „Das sind mir Helden: der Zar sitzt auf
dem Zarenthron und kann ein Rätsel nicht erra-
ten! Ich hätte es längst erraten!“ sagt Nikita. Der
Alte meldete dem Zaren, daß „bei dir einer in der
Säule sitzt und sagt: Ich hätte es längst erraten.“
Der Zar ahnte, daß das Nikita ist, und schickt ei-
nen Diener nach ihm. Der Diener kam und sagt:
„Nikita, komm mit zum Zaren, ein Rätsel raten!“ –
„Wer nach jemandem schickt, der kann auch sel-
ber kommen“, sagt der.
Der Zar stieg in seine Kutsche, kommt an, setzt
Nikita neben sich und fährt mit ihm los. Als sie
ankamen, nahm Nikita der Herumtreiber – der
neugekaufte Diener, ein Beil, schlug ein Eisloch in
den Fluß und warf den Stamm ins Wasser; der

456
drehte sich mit dem Unterteil nach oben und mit
dem Oberteil nach unten. Da machten sie Zei-
chen, was unten und was oben ist. Und schickten
ihn der Königstochter. Die Königstochter bekam
ihn und sagt: „Das hat er nicht von selber erra-
ten, sondern ein anderer.“ Nikita kehrte wieder an
seinen Platz zurück.
Nach einer Weile schickt die Königstocher das
zweite Rätsel. Hundertfünfzig Hengste schickte sie
– von zwei und anderthalb Jahren, alle mit glei-
chem Fell und gleich groß. Wie viele Leute auch
kamen, um zu raten, niemand konnte es erraten.
Schließlich kommt der Alte über den Hof gegan-
gen. Nikita sah ihn und fragt: „Wo bist du gewe-
sen, Großvater?“ – „Beim Zaren, Rätsel raten.“ –
„Das sind mir Helden: der Zar sitzt auf dem Za-
renthron und kann ein Rätsel nicht erraten! Ich
hätte es längst erraten!“ Der Alte ging und melde-
te das dem Zaren. Der Zar schickte einen Diener
nach ihm. Der Diener kam und sagt: „Nikita,
komm mit, ein Rätsel raten.“ – „Wer nach jeman-
dem schickt, der kann auch selber kommen.“ Der
Zar setzte sich in seine Kutsche und kommt hin:
„Nun, Nikita, komm mit, ein Rätsel raten!“ Sie
setzten sich in die Kutsche und fuhren los.
Sie kommen an den Fluß, er schlug ein großes
Eisloch und ließ alle heran, um zu trinken, die
Hengste. Das Ufer war steil. Die zweijährigen
können das Wasser nicht erreichen und gehen auf
die Knie, die einjährigen aber kommen so heran.
Da brannten sie ihnen Zeichen ein. Schickten sie
der Königstocher.

457
Seitdem lief Nikita der Herumtreiber – der neu-
gekaufte Diener, frei herum: der Zar hatte ihn
freigelassen. Einmal kommt er zum Zaren und
sagt: „Eure Kaiserliche Majestät, schickt mich in
das Königreich, wo Euer Sohn Iwan ist. Ich habe
im Traum gesehen, als ob er arge Sehnsucht nach
mir hat.“ Der Zar sagt: „Warum nicht, geh!“ –
„Nur folgendes, Majestät, gib mir dreißig Soldaten
und suche sie so aus, daß sie alle so groß sind wie
ich, und die Haare wie bei mir, und daß sie mir
von Gesicht alle ähnlich sind!“ Man holte von allen
Regimentern Soldaten zusammen und wählte
dreißig Mann aus, die Nikita dem Herumtreiber
ähnlich sahen. Als sie dann aufgestellt waren,
konnte nicht einmal der Zar selber erkennen, wel-
cher Nikita der Herumtreiber war. (Kleidung hat-
ten sie die gleiche an – alle Soldatenkleidung.)
Und Nikita begab sich mit seinen Soldaten zu dem
König, wo Iwanuschkas Braut war.
Sie gingen eine Weile. Da stehen drei Brüder
und teilen eine Tarnkappe. „Was macht ihr hier?“
sagte Nikita. „Wir teilen die Kappe hier.“ – „Gebt
her, ich werde sie euch teilen.“ Nikita legte einen
Pfeil auf seinen Bogen (früher gab es noch Bogen)
und schoß ihn ab: „Wer zuerst hinkommt, dem
gehört die Kappe.“ Alle drei Brüder rannten da-
von. Nikita der Herumtreiber nahm die Kappe,
setzte sie auf den Kopf, und von allen dreißig war
nichts mehr zu sehen.
Sie gingen weiter und weiter, da teilen drei
Brüder ein perlenbesticktes Tischtuch und einen
Krug mit vierzig Schneppen: aus jeder Schneppe

458
fließen verschiedene Getränke und Süßigkeiten.
Nikita der Herumtreiber sagt: „Was macht ihr
da?“ – „Wir teilen den Krug hier.“ – „Gebt her, ich
werde ihn teilen!“ – „Wie willst du ihn teilen?“ –
„Ich werde einen Pfeil von meinem Bogen schie-
ßen: wer zuerst hinkommt, dem gehört der Krug.“
Die Brüder rannten los, Nikita nahm den Krug,
setzte die Tarnkappe auf – und es war nichts
mehr von ihnen zu sehen.
Sie gingen ein wenig weiter und sahen: drei
Brüder teilen einen fliegenden Teppich. „Was
macht ihr da?“ – „Wir teilen den fliegenden Tep-
pich hier.“ – „Gebt her, ich teile ihn!“ – „Wie willst
du ihn teilen?“ – „Ich werde einen Pfeil von mei-
nem Bogen schießen: wer zuerst hinkommt, dem
gehört der fliegende Teppich.“ Die Brüder rannten
los, Nikita aber setzte die Tarnkappe auf, trat auf
den Teppich, stampfte mit dem Fuß, der Teppich
löste sich und flog davon, und alle Soldaten mit.
Als sie in das Königreich geflogen kamen, wo
sich die Braut Iwanuschkas und Iwanuschka
selbst befanden, war nicht weit von der Stadt ein
riesiger Eichenhain. Der Teppich ließ sich auf
zwölf riesigen Eichen nieder (er war schon ganz
schön groß, wie man sieht). Nikita der Herumtrei-
ber – der neugekaufte Diener, ließ seine Gefähr-
ten auf dem Teppich zurück und ging in die Stadt,
Iwanuschka zu suchen. Geht durch die Stadt, da
begegnet ihm Iwanuschka. „Guten Tag, Iwa-
nuschka!“ – „Guten Tag, Nikita-Herumtreiber.“ –
„Ich bin gekommen, dir zu helfen.“ Iwan dachte

459
nur: „Welche Hilfe kann von dir Dummkopf kom-
men?“ Aber er sagte nichts.
„Nun, wird eure Hochzeit bald sein?“ fragt Niki-
ta. „Wer kann’s wissen? Heute gehen sie Stoff für
das Kleid kaufen: wenn ich besseren kaufe,
kommt sie mit mir, wenn der König besseren
kauft, muß ich bei ihr bleiben.“ – „Wo werden sie
denn den Stoff fürs Kleid kaufen?“ – „Hier in die-
sem Geschäft“, zeigte Iwanuschka. Und Nikita der
Herumtreiber verabschiedete sich von Iwanuschka
und ging fort.
Als der König mit seiner Tochter und Iwanusch-
ka in das Geschäft kamen, wartete Nikita schon
auf sie in seiner Tarnkappe. Die schönsten Stoffe,
wie viele es nur in dem Geschäft gab, kaufte der
Zar seiner Tochter für ihr Kleid. Solche gab es in
der ganzen Stadt nicht mehr. Der König verließ
das Geschäft und begab sich mit seiner Tochter
ins Schloß, Nikita der Herumtreiber aber, und
Iwanuschka mit ihm, – zum Teppich.
Als die Nacht gekommen war, setzte Nikita die
Tarnkappe auf und begab sich zum König. Beim
König nähten ein Schneider und eine Schneiderin
das Kleid für die Tochter, und Nikita sitzt mit ih-
nen am Tisch – sie sehen ihn nicht. Als sie das
ganze Kleid fertig hatten, legten sie es auf ein
Präsentierbrett, und Schneider und Schneiderin
gingen schlafen; Nikita aber nahm das Kleid und
begab sich auf seinen Teppich. Er kommt an: „Da
nimm, Iwanuschka, dieses Kleid hier!“ (Iwanusch-
ka war noch bei ihm zu Gast, er hat ja genug an-
zubieten).

460
Der Schneider und die Schneiderin wurden früh
am Morgen munter, sehen hin – das Kleid ist nicht
da. „Was sollen wir jetzt machen, Schneider?“ –
„Ich weiß nicht, Schneiderin, was wir machen sol-
len!“ – .Wir wollen schnell eines aus Flicken nä-
hen!“ Sie schnitten’s recht und schlecht zu, flick-
ten’s mit groben Stichen zusammen und legten’s
an die gleiche Stelle.
Am anderen Tag wurde der König munter, da
war Iwanuschka schon bei ihm. Der König bringt
der Tochter das Kleid auf dem Präsentierbrett,
Iwanuschka trägt sein Kleid auf seinem Präsen-
tierbrett. Die Königstochter ging zu ihrem Vater,
nahm das Kleid und versuchte es anzuziehen,
konnte es aber nicht anbekommen (aus Flicken
zusammengenäht, wie sollte es anders sein). Sie
warf dieses Kleid beiseite, ging zu ihrem Bräuti-
gam, nahm’s, zog’s an, wie nach Maß genäht: ak-
kurat und richtig.
Da fragt Iwanuschka: „Nun, wann wird unsere
Hochzeit sein?“ – „Zur Hochzeit muß doch ein
Trauring gekauft werden? Wenn du einen besse-
ren kaufst, komme ich mit dir; wenn mein Vater
einen besseren kauft, ziehst du zu mir!“ Iwa-
nuschka begab sich auf den Teppich zu Nikita dem
Herumtreiber und sagte ihm, daß „wer den besse-
ren Ring kauft: wenn ich, dann muß sie mit mir
kommen, wenn ihr Vater, muß ich zu ihr ziehen.“
Nikita der Herumtreiber setzte die Tarnkappe
auf und ging los. Der König kam in den Laden des
Goldschmieds; welcher der schönste Goldring war,
den kauften sie, und es gab weiter keinen solchen

461
Ring. Der König ging nach Hause, und Nikita der
Herumtreiber hinter ihm her.
Als es Abend geworden war, legte sich der Kö-
nig schlafen, zog den Ring ab und legte ihn aufs
Fensterbrett, Nikita der Herumtreiber aber nahm
den Ring und legte einen aus Stroh dorthin – hat-
te ihn aus Stroh geflochten und legte ihn hin. Je-
nen aber brachte und gab er Iwanuschka. „Nun,
Iwanuschka, soll der König morgen seiner Tochter
ein Geschenk bringen, und bring du deiner Braut
ein Geschenk!“
Am anderen Tag kommt Iwanuschka mit sei-
nem Geschenk: auf einem goldenen Teller trägt er
einen goldenen Ring, der König aber trägt einen
aus Stroh. Die Königstochter trat zu ihrem Vater,
nahm den Ring, er paßt nicht an ihren Finger, sie
trat zu ihrem Bräutigam, nahm den Ring, setzte
ihn auf – genau, als sei er für sie ausgewählt wor-
den.
Da fragt Iwanuschka: „Nun, wird unsere Hoch-
zeit bald sein?“ – „Ja, ich bin schlau und klug,
aber du hast jemanden, der schlauer ist als ich.
Du machst das doch nicht selber, Iwanuschka,
sondern ein anderer. Nun, laß nur, komm morgen
mit deinen Gefährten zu uns zu Gast, wieviele es
auch sind. Danach kommen wir zu dir zu Gast.
Wenn wir euch besser bewirten, ziehst du zu mir,
und wenn du besser, dann komme ich zu dir.“
Iwanuschka kam und eröffnete dies Nikita dem
Herumtreiber. Nikita sagt: „Nur Mut, Iwanuschka,
wir werden sie schon besser bewirten. Und jetzt
leg dich schlafen!“

462
Sie legten sich auf den Teppich schlafen. Die
Königstochter aber dachte bei sich:
„Ich will doch mal hingehen: was ist das für ei-
ner“, sagt sie, „der bei ihm solche Stückchen voll-
bringt.“ Sie kommt auf den Teppich und sieht sich
alle an. Alle schlafen. Auch Nikita der Herumtrei-
ber schläft, die Tarnkappe hat er unter dem
Hemd. Da erriet’s die Zarentochter und sagt zu
sich selbst: „Das ist er wohl, mein Widersacher!“
Sie nahm ihren Ring ab und schlug ihn gegen sei-
ne Stirn. Da bildete sich bei ihm auf der Stirne ein
Stern: der funkelt nur so. Und sie ging nach Hau-
se.
Nikita der Herumtreiber wachte auf, sperrte
seine Augen auf, es leuchtete wer weiß wie von
ihm. „Ach, die Fliegen sollen dich fressen, jetzt
sitze ich in der Patsche!“ Er sprang vom Teppich
auf und lief zum König ins Schloß. Er wußte, in
welchen Gemächern sich die Königstochter befin-
det; er drang dort ein, stahl den Ring, ging wieder
zu sich auf den Teppich und versah alle Soldaten
auf der Stirn mit diesem Zeichen. Den Ring aber
brachte er wieder fort und legte ihn auf die alte
Stelle.
Am Morgen kommen Boten vom König und bit-
ten Iwanuschka mit seiner Begleitung zu Gast
zum König. Unterwegs sagt Nikita der Herumtrei-
ber zu seinen Gefährten: „Wenn wir hinkommen,
wird die Königstochter wahrscheinlich sagen, daß,
welcher der älteste Bruder ist, der soll sich an den
Ehrenplatz setzen. Ihr wißt, daß ich euer ältester
Bruder bin, aber tut das nicht! Sondern jeder soll

463
sagen: ‚Ich bin der älteste Bruder, ich bin der äl-
teste!’ und sich an den Ehrenplatz drängen. Dann
findet sie sich unter uns nicht zurecht.“
Als sie zum König kamen, sagt die Königstoch-
ter: „Wer der älteste Bruder ist, der soll sich an
den Ehrenplatz setzen!“ Der eine sagt: „Ich bin
der älteste Bruder!“ Der andere: „Ich bin der älte-
ste Bruder!“ Und sie begannen einander vom
Tisch wegzuzerren – warfen den Tisch um und
stießen alles, was darauf war, herunter. Da sagte
die Königstochter: „Setzt euch, wie jeder will!“
Als sie sich gesetzt hatten, begann sie, jedem
einen Becher Wein zu reichen. Als sie dem ersten
reichte, warf sie ihm die Haare aus der Stirn und
sagt: „Vater, das ist mein Widersacher!“ Sie reich-
te dem zweiten – dasselbe; dem dritten – genau
dasselbe. Da sagt sie: „Ich bin schlau und klug,
aber du, Iwanuschka, hast jemanden, der noch
schlauer ist als ich!“
Sie waren dort eine Weile zu Gast und gingen
dann zu Iwanuschka auf den Teppich zu Gast. Als
sie hinkamen, breitete Iwanuschka das perlenbe-
stickte Tischtuch aus und stellte den Krug mit den
vierzig Schneppen darauf – aus jeder Schneppe
kamen alle möglichen Getränke geflossen. Die
Bewirtung war besser als beim König.
Nun, da fragt Iwanuschka: „Ist es jetzt soweit,
daß wir heiraten?“ – „Es ist jetzt soweit!“ sagt sie.
„Mehr weiß ich nicht, nur paßt auf, wohin ihr noch
fahren müßt: es ist hier ein Meer, und in diesem
Meer wohnt ein Meereszar, hat einen Menschen-
blick und goldene Locken auf dem Kopf – von dem

464
müßt ihr Locken für mich unter den Brautkranz
erbitten!“
Der König machte sich bereit und ging zum
Ufer, und die Königstochter vertraute nicht einmal
ihrem eigenen Vater und ging ihn begleiten. Der
König setzte sich in ein Boot, und die Zarentoch-
ter steht am Ufer und sieht zu. Nikita der Herum-
treiber aber setzt sich in seiner Tarnkappe vor den
König ins Boot.
Der König rudert, und Nikita der Herumtreiber
zweimal so viel. Der König sagt: „Sieh, wie mir
eine göttliche Kraft hilft! Wie sehr ich auch rudere,
das Boot schnellt zweimal schneller voran!“ Er
kam in die Mitte des Meeres und rief: „Meereszar
mit dem Menschenblick, gib mir Locken für die
Tochter unter den Brautkranz!“ Der Meereszar
steckte seinen Kopf heraus, der ganze Kopf war
voll Gold und voller Locken. Und er sagt: „Zupfe
immer ein Haar heraus, und zwar an den Schlä-
fen, die kürzesten. Mein ganzer Kopf ist schon ab-
gezupft und tut weh.“ Der König nimmt ein Haar
von der Schläfe, Nikita der Herumtreiber aber ei-
ne ganze Handvoll und vom Hinterkopf –
schwupp! Der Zar brüllte auf und verschwand im
Wasser. Der König begann zu bitten: „Laß mich
wenigstens noch zwei Haare herausziehen!“ Der
Zar steckte wieder seinen Kopf heraus. Der König
nimmt ein Haar, Nikita der Herumtreiber aber
wieder – schwupp, eine Handvoll. Und beim drit-
tenmal genauso. Der Zar brüllte auf, fuhr zurück
ins Meer und sagte: „Von heute an gebe ich in
Ewigkeit niemandem mehr auch nur ein einziges

465
Haar!“ Der König kommt nach Hause und sagt zu
seiner Tochter: „Nun, Tochter, bestimmt kann
Iwanuschka nirgends Haare beschaffen: drei Haa-
re habe ich erbettelt, und auch die nur mit Mühe
und Not, und der Zar hat geschworen, von heute
an in alle Ewigkeit keine mehr zu geben.“
Am anderen Tag bringt der König als Geschenk
für seine Tochter auf einem goldenen Teller drei
goldene Haare, Iwanuschka aber einen ganzen
Teller voll (Nikita hatte sie für ihn gezupft). „Nun,
Iwanuschka, ich bin schlau und klug, aber du hast
jemanden, der ist schlauer als ich! Jetzt ist es Zeit
für uns zu heiraten, mehr weiß ich nicht!“
Sie feierten Hochzeit, rüsteten ein Schiff, und
Iwanuschka machte sich auf den Weg in sein Za-
renreich zu seinem Vater. Nikita der Herumtreiber
aber fliegt mit seinen Gefährten auf dem fliegen-
den Teppich über ihnen und ruft von dort: „Ach,
Iwan der Zarewitsch fährt mit seiner Vermählten,
wie schön!“ Iwanuschka hörte’s und sagt zu sei-
ner Frau: „Hörst du, weil wir beide fahren, freuen
sich die Engel über uns!“ (Er denkt: von oben –
das müssen Engel sein.) Sie antwortet ihm: „Ein
Teufel, aber keine Engel“, sagt sie, „das ist mein
Widersacher, der sich freut!“ Und sie denkt bei
sich: „Wenn Iwanuschka nicht wäre, würde ich ihn
heiraten: er ist sogar schöner als Iwanuschka und
klüger und schlauer.“ (Sie hat sich in diesen Nikita
den Herumtreiber geradezu verliebt.)
Dann sagt sie zu ihrem Mann: „Höre, Iwa-
nuschka, wenn wir nach Hause kommen, dann
sage deinem Vater: „Wozu hast du den Dumm-

466
kopf zu mir geschickt? Seinetwegen wäre ich bei-
nahe ums Leben gekommen.“ Und sie denkt bei
sich: „Soll er nur Nikita den Herumtreiber hinrich-
ten! Wenn ich ihn nicht mehr sehe, wird mir leich-
ter ums Herz sein.“
Als sie zu Hause ankamen, kam der König mit
seinem Gefolge heraus, den Sohn und die junge
Schwiegertochter zu begrüßen. Aber Nikita der
Herumtreiber war schon längst beim König. Als sie
vom Schiff kamen, sagt Iwanuschka: „Vater, wozu
hast du den Dummkopf Nikita zu mir geschickt?
Seinetwegen wäre ich beinah ums Leben gekom-
men!“ Der Zar wurde böse auf Nikita, zog seinen
Säbel und wollte ihm den Kopf abschlagen.
Da setzte Nikita der Herumtreiber seine Tarn-
kappe auf und begann mit dem Zaren zu spre-
chen. „Eure Majestät, wenn ich nicht gewesen wä-
re, dann wäre dein Sohn nicht nach Hause
gekommen!“ Und er erzählte ihm: „Das und das
habe ich dort gemacht, und das und das habe ich
gemacht!“ Alles erzählte er ihm. Und die junge
Schwiegertochter bekräftigte seine Worte. Da
schlug der Zar im Zorn seinem Sohn den Kopf ab.
Und auf Wunsch der Braut traute er sie mit Nikita
dem Herumtreiber – dem neugekauften Diener.
Als er selber zu alt wurde, gab er sein Reich Ni-
kita dem Herumtreiber. Da erst sagte Nikita der
Herumtreiber zum Zaren: „Folgendes habe ich im
Traum gesehen: ich säße auf dem Zarenthron.“
Sein Traum war in Erfüllung gegangen.
Ich war auch auf der Hochzeit hier, trank Honig
und Bier. Allen Gästen wurde mit dem Schöpflöffel

467
eingeschenkt, mich haben sie mit dem Stiel ge-
tränkt; bei der Nase faßten sie mich, unter die
Brücke warfen sie mich; ich rollte fort und immer
fort, war plötzlich hier an diesem Ort.

468
42
Die Zarin ohne Arme
In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal
ein Zar mit seiner jungen Zarin. Der Zar hatte
seine junge Zarin sehr lieb, er war wie von Sinnen
vor Liebe zu ihr. Die Schwester des Zaren dage-
gen haßte sie, und häufig verleumdete sie die
junge Frau bei ihrem Bruder. Doch der glaubte ihr
nicht. Und nun fährt er in seinen Zarenangelegen-
heiten eines schönen Tages in ein anderes Zaren-
reich und nimmt seinen Schwager mit. Als sie fort
waren, gebar die Zarin kurze Zeit später einen
Knaben. Die Schwägerin aber schrieb kurzerhand
an ihren Bruder, den Zaren, und an den Bruder
der Zarin, daß „Eure Frau und Schwester einen
sehr schönen Knaben geboren hat, ihn aber da-
nach genommen und aufgegessen hat.“ Der Zar
schrieb einen Brief und sagte: „Rührt meine Frau
bis zu meiner Ankunft nicht an! Wenn ich wieder
da bin, werde ich selbst mit ihr abrechnen.“ Die
Schwester aber erbrach den Brief und steckte in
den Umschlag ein anderes, von ihr vorbereitetes
Papier, daß „der Zar befohlen hat, dir für ein so
gemeines Verbrechen, daß du dich mit anderen
herumtreibst, die Arme bis zu den Ellenbogen ab-
zuschneiden und dich mit deinem neugeborenen
Balg aus dem Zarenschloß zu verjagen.“ Da setz-
ten die Wächter des Zaren sie in eine dunkle Kut-

469
sche, fuhren sie weit weg in einen tiefen Wald,
setzten sie dort ab und fuhren wieder in ihre Resi-
denzstadt. Das Kind aber hatten sie ihr an die
Brust gebunden, und so lief sie mit ihm durch den
dunklen Wald. Sie hatte weniger Hunger, als daß
der Durst sie quälte – es verlangte sie sehr zu
trinken. Und auf einmal kommt sie an einen
schnellen Fluß, und sie hätte so gern getrunken,
aber das war auf keine Weise möglich; wenn sie
sich vorgebeugt hätte, hätte sie das Kind ertränkt,
weil sie keine Hände hatte und das Kind nicht
festhalten konnte. Und sie betete zu Gott, und auf
einmal vernahm sie eine Stimme: „Trink, es wird
nichts geschehen.“ Und sie begann zu trinken,
und auf einmal fiel ihr das Kind ins Wasser; da
schrie sie: „Herr! Wenn ich’s gewußt hätte, ich
hätte lieber nicht getrunken, denn ich habe mein
Kind ertränkt!“ Und wieder vernahm sie eine
Stimme: „Nimm das Kind aus dem Wasser.“ –
„Ich würde es nehmen, aber ich habe keine Hän-
de!“ – „Nimm’s nur mit deinen Stümpfen!“ Und
als sie die abgehackten Arme ins Wasser tauchte,
da wuchsen ihr plötzlich wieder Arme und Hände
an, und sie nahm ihr Kind.
Lange irrte sie in der weiten Welt umher, und
schließlich kam sie in eine Stadt, wo sie sich als
Dienstmagd verdingte. Und der Knabe wuchs
nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu
Stunde. Und nach ziemlich langer Zeit kommt auf
einmal zu diesem reichen Herrn, wo sie lebte, der
Zar und kommen ihr Bruder und die Schwägerin
gefahren. Sie erkannte sie sofort, aber sie konn-

470
ten sie nicht erkennen. Sie gab sich ihnen dort
nicht zu erkennen, weil sie noch gar zu weit vom
Hause entfernt waren. Als ihr Knabe herange-
wachsen war, schon gut mit ihr gehen konnte,
nahm sie den Knaben, kündigte ihrer Herrschaft
und beschloß, wieder in ihre Residenzstadt zu zie-
hen. Und sie kaufte sich einen Hirsch und eine
Hirschkuh und ritt auf dem Hirsch und der Hirsch-
kuh durch die tiefen Wälder. Und wo sie nun zum
Füttern haltmachte, bat sie immer: „Verkauft mir
doch für den Hirsch einen Laib Brot und für die
Hirschkuh eine Schale Glut!“ Und man antwortet
ihr: „Wie soll denn die Hirschkuh das fressen? Es
wird ihr doch zu heiß sein.“ – „Und als beim Zaren
die Zarin ihr Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh
gewesen, aber sie hat’s doch gegessen.“9 Und auf
diese Weise nun erreichte sie schließlich ihre Re-
sidenzstadt. Als sie in die Stadt kam, hielt sie na-
he beim Schloß an und sagt wieder: „Verkauft mir
für den Hirsch einen Laib Brot und für die Hirsch-
kuh eine Schale Glut!“ Man sagt ihr: „Wie soll
denn die Hirschkuh das fressen, es wird ihr doch
zu heiß sein.“ – „Und als die Frau des Zaren ihr
Kind gegessen hat, ist ihr gewiß weh gewesen,
aber sie hat’s gegessen.“
Und die Kunde von dieser Frau kam bald dem
Zaren zu Ohren. Der Zar befahl sie zu sich ins
Schloß und sagte: „Wanderin, du hast, wie ich se-
he, viel erlebt; erzähle uns bitte!“ Sie sagt zu ih-

9
Im Russischen ergeben die Wörter „heiß“ und „weh“ ein
Wortspiel: жарко – жалко. (Anm. des Übers.)

471
nen: „Ich habe viel erlebt, aber ich habe Angst, es
könnte jemandem ein Ärgernis sein.“ – „Nein, es
wird niemandem ein Ärgernis sein.“ – „Gebt mir
Euer Zarenwort, wenn ich erzähle, daß mich nie-
mand unterbricht!“ Der Zar war damit einverstan-
den. Da beginnt sie zu sprechen: „Es lebte ein Zar
mit seiner jungen Zarin. Er hatte eine Schwester.
Der Zar liebte seine Frau sehr, die Schwester aber
dagegen haßte sie; der Neid hatte sie gepackt,
daß der Bruder seine Frau sehr liebt, und oft ver-
leumdete sie die Zarin bei ihrem Bruder, sie wäre
untreu.“ Die Schwester hörte das und sagte: „Das
lügst du!“ Der Zar aber sagte: „Fahre fort“, und
der Schwester gebot er zu schweigen. Sie spricht
weiter: „Einmal fährt der Zar mit seinem Schwa-
ger in seinen Zarenangelegenheiten ins Ausland.
Und in seiner Abwesenheit gebar die junge Zarin
einen schönen Sohn. Die Schwester aber schrieb
ihm einen Brief, daß ‚deine junge Frau es schlimm
treibt, dir untreu geworden ist und viele andere
Liebhaber gehabt hat, und weil ihr der neugebo-
rene Sohn hinderlich war, hat sie ihn genommen
und aufgegessen.’“ Und die Schwester sagt wie-
der: „Du lügst!“ Aber der Zar gebot seiner Schwe-
ster zu schweigen und sagte: „Wanderin, setze
deine Erzählung fort!“ – „Und da wurde der Zar
auf seine Frau böse und befahl, ihr die Arme bis
zu den Ellbogen abzuschneiden, sie in eine dunkle
Kutsche zu setzen und in die dunklen Wälder zu
fahren, den wilden Tieren zum Fraß. Das Kind
aber hatten sie ihr an die Brüste gebunden. Und
als sie nun durch den tiefen Wald ging, quälte sie

472
starker Durst. Als sie zu einem Fluß kam, wollte
sie trinken, weil sie aber keine Hände hatte, hätte
sie das Kind ertränken können. Da betete sie zu
Gott: ‚Herr! Wie sehr möchte ich trinken!’ Sie ver-
nahm eine Stimme: ‚So trinke!’ Als sie trank, ver-
lor sie das Kind von der Brust. Da begann sie wie-
der, sich über ihr Schicksal zu beklagen, und
sagte: ‚Hätte ich’s gewußt, dann hätte ich nicht
getrunken, aber jetzt habe ich mein Kind er-
tränkt.’ Wieder vernimmt sie eine Stimme: ‚Nimm
dein Kind mit deinen Stümpfen!’ Und als sie ihre
abgehackten Arme ins Wasser tauchte, da wuch-
sen ihr wieder Arme und Hände an. Und ich – ich
bin ebendiese Frau, und dies hier ist mein Mann,
und das mein Bruder, und das meine Schwägerin,
die so grausam an mir gehandelt hat. Aber weil
ich nicht wußte, wie ich zu euch gelangen konnte,
habe ich mir einen Hirsch und eine Hirschkuh ge-
kauft. Für den Hirsch habe ich um Brot gebeten,
für die Hirschkuh aber um eine Schale Glut. Und
die Leute haben zu mir gesagt: ‚Wie soll sie’s
denn fressen, es ist doch zu heiß?’ Und ich habe
ihnen geantwortet: ‚Die Zarin hat doch auch ihr
Kind gegessen, es ist ihr weh gewesen, aber sie
hat’s gegessen. So auch die Hirschkuh; es ist
zwar heiß, aber sie muß es fressen.’“ Da sperrte
der Zar seine Schwester für dieses Verbrechen ins
Gefängnis. Seine junge Frau aber hielt er noch
mehr in Ehren als früher. Und seinen Sohn lehrte
er das Lesen und Schreiben. Und zu Ehren all
dessen gab er ein Fest für alle Welt; auch mich
luden sie ein, ich trank Bier und Wein, ‘s ist um

473
den Bart geronnen, der Mund hat nichts abbe-
kommen.

474
43
Fürst Pjotrs treue Gemahlin
In einem Zarenreich, in einem Staat, die alten
Leute sagen, in dem, in dem wir leben, es ist
schon lange her, als er noch ein Fürstentum war,
da lebten einmal zwei Brüder – ein Fürst Michail
Lexandrytsch und ein Fürst Pjotr Lexandrytsch.
Der ältere Bruder Michail war verheiratet. Seine
Gemahlin war klug und schön, und sie lebte mit
Michail in Liebe und Eintracht. Oft fuhr Fürst Mi-
chail in seinen Angelegenheiten fort, sogar in an-
dere Länder, die Fürstin aber war immer zu Hau-
se.
Einmal nun war der Fürst für lange Zeit wegge-
fahren, und jemand begann die Fürstin zu besu-
chen, irgendeine unsichtbare Macht. Zuerst fürch-
tete sich die Fürstin, dann aber begann sie, sich
mit dieser unsichtbaren Macht zu unterhalten.
Und so ging es lange Zeit.
Als der Fürst zurückkam, sieht er – sie ist sehr
elend geworden.
Er fragt:
„Was hast du, was ist mit dir, bist du krank?“
Sie sagt:
„Nein. Irgendeine unsichtbare Macht besucht
mich, ein Zauberer vielleicht, oder ein Geist; auch
wenn du zu Hause bist, kommt sie: kaum geht Ihr
hinaus, erscheint irgendeine unsichtbare Macht,

475
ein Zauberer oder sonst etwas, sieht aus wie ein
Mann, kommt zum Fenster hereingeflogen und
beunruhigt mich, ich fürchte mich!“
Und ihr Mann sagt zu ihr:
„Und kann man ihn nicht irgendwie umbrin-
gen?“
„Ach, er ist gar zu groß und mächtig!“
„Nun, bring in Erfahrung, wodurch er sterben
kann. Frag so, daß er’s nicht merkt!“
Wieder erscheint bei ihr die unsichtbare Macht,
und sie sagt:
„Es tut mir leid um Euch, denn mein Mann ist
zu Hause, er kann Euch umbringen.“
Der Unhold aber sagt:
„Nein, er kann mich nicht töten. Ich kann nur
durch seinen Verwandten den Tod leiden – von
Pjotrs Arm und einem Damaszenerschwert. Das
Schwert aber ist schwer zu holen, Wächter sind
darüber gestellt.“
„Und wo ist es denn, dieses Schwert?“
„Es ist im Kloster der Jungfrau, eingemauert, in
der Stadt Kiew“ (oder Woronesh, oder vielleicht
Jerusalem, wie ihr wollt).
Als er fortgeflogen war, sagte’s die Fürstin dem
Fürsten. Und der dachte:
„Ist vielleicht Pjotr dieser Verwandte? Er ist
sehr mächtig, schön und stark.“
Er rief Pjotr und erzählte ihm:
„Zu meiner Frau kommt eine unreine Macht ge-
flogen, und getötet kann sie nur von Euch wer-
den, mit einem Damaszenerschwert, das Schwert
aber ist im Kloster der Jungfrau eingemauert.“

476
Pjotr spannte sofort sein Pferd an und fuhr nach
Jerusalem ins Jungfrauenkloster. Brachte in Erfah-
rung, in welcher Mauer es versteckt ist, bestach
die Wächter, opferte ihnen eine Menge Gold für
ihr Kloster. Sie beschafften ihm dieses Schwert, er
stieg wieder ein und fuhr los.
Er kam mit diesem Schwert zurück und verbarg
sich im Schlafzimmer der Fürstin. Kaum war er
erschienen, die unreine Macht, da traf ihn Pjotr
mit aller Kraft, wie man Zauberer erschlägt, am
Hals. Der Kopf des Zauberers rollte unter das Hin-
tertor, sein Blut aber spritzte empor und bespritz-
te Pjotr am ganzen Leibe.
Er, dieser Teufel, wurde weggeschafft, es wurde
alles gewaschen, saubergerieben, und im Hause
wurde es still und ruhig. Niemand beunruhigt die
Fürstin.
Nach einigen Tagen – fünf oder sechs – zeigen
sich bei Pjotr an den Händen und im Gesicht Blä-
schen. Sie näßten und juckten, es war ein
schreckliches Jucken, und bald war der ganze
Körper mit Schorf bedeckt. Wohin Pjotr sich auch
wandte – alle Ärzte in seinem Fürstentum fuhr er
ab – niemand konnte ihn heilen. Nun, er wußte
nicht mehr ein noch aus. Der Fürst hatte einen
alten, steinalten Diener, der sagt zu ihm:
„Fürst, Ihr solltet Euch an die alten Frauen
wenden, vielleicht kann eine Eure Krankheit be-
sprechen oder heilen, da die Doktoren es ohne
Umschweife abgelehnt haben. Euch zu heilen.“
Dazu entschloß sich Pjotr, sie spannten vier
Pferde vor seine Kutsche und fuhren von Dorf zu

477
Dorf, eine Alte zu suchen, vielleicht, daß eine ihn
heilt. Sie fuhren einen Tag, zwei und drei, kamen
in ein Dorf und fragen in der ersten Hütte:
„Gibt es vielleicht bei euch so ein Großmütter-
chen, das heilen kann?“
„Ja, fragt hier in unserem Dorf, da ist eine
Wehmutter. Sie bringt die Kinder zur Welt, und
sie heilt auch; sie heißt Domna.“
Sie fahren durchs Dorf und fragen. Fanden sie.
Kommen zu ihr. „Domna, hier der Fürst ist krank,
die Doktoren haben’s abgelehnt.“
„Wo ist er?“
„Dort in der Kutsche.“
„Bringt ihn zu mir!“
Sie brachten ihn herein. Die Alte sah ihn an:
„Nein, das verstehe ich nicht zu heilen, diese
Krankheit. Daß sie nur nicht überhaupt unheilbar
ist!“
Sie fuhren weiter. Kommen in ein anderes Dorf.
Fragen. Man sagt ihnen:
„Wir haben einen Alten, Afanassi Pawlytsch, am
Ende des Dorfes, der heilt!“
Sie fuhren zu ihm. Kommen hin. Bitten:
„Afanassi Pawlytsch, wollt Ihr nicht versuchen,
unseren Fürsten zu heilen, alle Doktoren haben’s
abgelehnt.“
„Nein“, sagt er, „diese Krankheit verstehe ich
nicht zu heilen. Aber ich habe gehört – an die
dreißig Werst von unserem Dorf entfernt ist eine
Straße, fahrt diese Straße entlang, und ihr kommt
in ein Dorf, dort ist ein Mädchen, schön, einen
Zopf von zwei Arschin, und die Arme keine ge-

478
wöhnlichen Arme, sondern von den Fingern bis
zum Ellenbogen aus Gold. Die bittet!“
Der Diener bedankte sich bei dem Alten für den
Rat, und sie fuhren nach diesem Dorf. Kommen in
dieses Dorf und fragen.
„Ja“, sagen die Leute, „es gibt ein solches Mäd-
chen. Fahrt weiter, da steht eine Hütte, bis zur
Hälfte in die Erde versunken, und Fenster und Tür
ganz schief. Dort wohnt sie. Dieses Mädchen hat
manchen geheilt. Nun, sie ist eine Schönheit, die
Brauen schwarz, die Haare voll Locken wie bei ei-
nem Lamm, das Gesicht weiß, die Brust hoch, und
der Mutter flink zur Hand; bei uns im Dorf haben
wir ihr den Namen Semidelka10 gegeben. Sie kann
drei Dinge auf einmal tun.“
„Wie denn das?“
„Nun so: mit dem einen Fuß schaukelt sie ein
Kind in der Wiege, mit dem anderen dreht sie das
Spinnrad, hält die Spule unter den Arm geklemmt
und dreht die Fäden, in der Schürze aber hat sie
ein Knäuel und in den Händen einen Strumpf, den
strickt sie. Das haben wir selber viele Male gese-
hen, mit eigenen Augen.“
Nun, sie fuhren weiter. Sie fahren und halten
die Augen offen. Und sahen: dort ist sie, die Hüt-
te, zur Hälfte in die Erde versunken; sie hielten
das Pferd an, und der Diener ging hinein. Tritt
ein:
„Sei gegrüßt, schönes Mädchen!“

10
Semidelka – etwa: „die Siebenerlei machen kann“.
(Anm. d. Übers.)

479
„Sei gegrüßt, guter Mann!“
„Habt Ihr nicht davon gehört, Fürst Pjotr (sei-
nen Familiennamen habe ich vergessen) ist
krank.“
„Und wo ist er?“
„Dort, im Wagen!“
„Ruf ihn herein, ich will mal sehen, was für eine
Krankheit er hat!“
Als der Fürst eintrat, wurde ihm gleich warm,
und das Jucken hörte auf. Ihm wurde gleich leich-
ter. Als er eintrat, saß sie da und spann Flachs.
Sie richtete sich auf und sah sich’s an:
„Ja, das werde ich heilen, aber unter folgender
Bedingung: wenn ich es geheilt habe, daß du mich
zur Frau nimmst; wenn aber nicht, dann werde
ich von Euch nichts mehr nehmen und Euch nicht
heilen.“
Der Fürst betrachtete sie, und sie gefiel ihm
sehr. Sie erschien ihm so besonders lieb. Er sag-
te:
„Gut, wenn du mich geheilt hast, heirate ich
dich!“
Das Mädchen nahm ein Glas, legte ein Klümp-
chen Butter und ein Kügelchen Quecksilber hinein
und ließ den Fürsten die Butter mit dem Quecksil-
ber vermischen, bis das Quecksilber sich ganz in
der Butter verteilt hat. Er verreibt die Butter mit
dem Quecksilber, und sie spinnt. Sie kam zu ihm,
sah nach: „Nein, reibt weiter, es sind noch glän-
zende Pünktchen zu sehen!“
Als er es so vermischt hatte, daß das Quecksil-
ber mit dem bloßen Auge nicht zu sehen war, ging

480
sie zum Geschirrschrank und goß oder schüttete
noch etwas hinzu. Er hatte es nicht bemerkt. Sie
rührte um, gab’s ihm und sagte:
„Hier könnt Ihr nicht behandelt werden; wenn
Ihr zu Hause angekommen seid, dann wascht
Euch mit warmem Wasser, wascht und trocknet
alles ab, streicht die ganze Salbe auf und laßt nur
den Nabel auf dem Bauch frei; das Glas aber
werft über den Fluß!“
Was ihm gesagt worden war, das machte Pjotr
alles, und nach drei Tagen blätterte alles von ihm
ab, wie Schale, als sei überhaupt nichts gewesen.
Da begann Pjotr zu überlegen, wie er sich nun
verhalten sollte – heiraten oder nicht heiraten. Sie
gefiel ihm ja gar zu sehr, aber würden seine Höf-
linge zufrieden sein, würden sie sie als Fürstin an-
erkennen? Er beschloß, ihr Geschenke zu schik-
ken.
Zwölf Fuhren ließ er beladen und Samt, Seide
und Manchester darauflegen (sie würde sich sehr
freuen, denn sie ist ein armes Bauernmädchen).
Und er schickte einen Brief.
„Lest ihr vor, daß ich sie nicht heiraten kann,
weil sie von Bauernstand ist!“
Sie bringen ihr diese Geschenke, einer geht zu
ihr hinein und sagt:
„Hier, Mädchen, haben wir Euch Geschenke ge-
bracht, zwölf Fuhren, was Euer Herz begehrt, da-
für, daß Ihr den Fürsten Pjotr geheilt habt; aber
heiraten kann er Euch nicht. Ihr seid ein einfaches
Mädchen, ein Bauermädchen, er aber ist ein
Fürst.“

481
Sie sagt:
„Und welcher Unterschied ist zwischen einem
Bauernmädchen und einem Fürsten? Sie sollen
zwei Herzen sein und ein Geist.“
„Aber unser Väterchen Fürst ist gelehrt, und du
hast nichts gelernt.“
„Kennt ihr denn nicht das alte Sprichwort: ‚Der
Gelehrten sind viele, aber der Klugen wenige?’
Sag dem Fürsten Dank, aber ich nehme nichts.
Ein Versprechen ist teurer als Geld.“
Sie drehten um und brachten die Fuhren zu-
rück. Kaum hatten sie die Pferde gewendet, da
begann beim Fürsten das Jucken, und er wurde
krank, und wieder begann es zu nässen. Als sie
ankamen, war er wieder genauso, fast verfault.
Der Fürst ließ die Kutsche anspannen, sie spann-
ten sechs Pferde vor und fuhren wieder zu ihr.
Kamen zu ihr, der Fürst faßte sie gleich bei der
Hand, fiel auf die Knie und sagt:
„Ihr sollt meine Gemahlin sein, und ich will fürs
ganze Leben Euer treuer Gemahl sein. Nun heilt
mich!“
Und sie antwortete:
„Und ich will dir fürs ganze Leben eine treue
Gemahlin sein. Wir wollen unser ganzes Leben
zusammensein, einander lieben und noch bei Leb-
zeiten unseren Sarg bestellen: wenn wir sterben
müssen, legen wir uns zusammen hin.“
Und er nahm sie auf der Stelle und fuhr mit ihr
nach Hause: wenn er geheilt ist, soll’s gleich an
die Hochzeit gehen. Er brachte sie in sein Fürsten-
tum. Nach drei Tagen war er gesund, geheilt, und

482
befahl ihr, sich zur Trauung zu rüsten. Sie hielten
Gottesdienst in der Nikon-Kathedrale, empfingen
die goldenen Ringe und lebten nun in Liebe und
Eintracht.
Die Frauen der Höflinge liebten Jefrossinja Niki-
tischna nicht. Sie flüstern und tuscheln miteinan-
der und sagen zu ihren Männern:
„Wir werden uns ihr nicht unterordnen, sie ist
eine einfache Bäuerin.“
„Aber sie ist schön und klug.“
„Was heißt das schon, daß sie schön ist: Dem
schönen Gesicht soll man nicht nachlaufen – das
ist nicht ziemlich.“
Die Männer aber sagen:
„Und Klugheit und Verstand kann man nicht
kaufen, er ist nicht käuflich. Seht doch, wie klug
sie ist!“
Und die Frauen wieder:
„Was denn, trägt man seinen Verstand etwa vor
sich auf einem Teller her?“
Die Höflinge begannen auf Pjotr einzureden, sie
solle fort.
„Wir können sie nicht ansehen – das Bauern-
weib!“
Die Männer gingen zum Fürsten, kommen hin
und bitten ihn:
„Du unser Fürst Pjotr, Väterchen, wir sind mit
einer Bitte zu Euch gekommen. Unsere Frauen
wollen Jefrossinja auf keine Weise mehr sehen.
Im Schloß wollen sie sich ihr nicht unterordnen.
Kann sie nicht zurückgebracht werden, wo sie
war? Kannst du denn etwa keine reiche, adlige,

483
belesene Frau finden? Sie ist doch nur eine unwis-
sende Bäuerin.“
Und Pjotr sagt:
„Ich kann ihr das nicht sagen, sprecht selber
mit ihr. Wenn sie einverstanden ist, soll es sein,
wie ihr wollt.“
Sie freuten sich. Kamen zu ihren Frauen und
sagen:
„Pjotr ist einverstanden, nur, sagt er, sprecht
selber mit ihr.“
Die Frauen freuten sich. Sie beschlossen, sich
am Abend zu versammeln: „Wir werden schöne
Sachen kochen, das Volk einladen, uns schön an-
ziehen und Pjotr mit Jefrossinja einladen.“
Alle tanzen, sind fröhlich, dann aber bildeten sie
einen Kreis um sie und sagen:
„Gnädige Fürstin Jefrossinja Nikolajewna, wor-
um wir dich bitten werden, das schlag uns nicht
ab!“
Und sie sagte:
„Ich werde’s nicht abschlagen, was wollt ihr?“
„Verlag unser Fürstentum, fahr in dein Dorf zu-
rück und nimm dir, was du willst. Denn für uns ist
es kränkend, dich Fürstin zu nennen. Du bist von
bäuerlicher Geburt, wir aber sind adlig. Und wir
schenken dir, was du dir wünschst.“
Sie sagt:
„Schön! Nur müßt ihr mir geben, worum ich bit-
te!“
„Schön, nimm, was du willst!“

484
„Ich bitte nicht Gold oder Silber von euch, nicht
Seide oder Samt, ich brauche nichts. Nur gebt mir
Fürst Pjotr mit!“
Sie sagten:
„Nimm ihn nur, Hauptsache, daß du nicht hier-
bleibst.“
Pjotr war einverstanden, wollte zwölf Gespanne
mitnehmen und losfahren. Aber Jefrossinja sagt:
„Laß, Pjotr, nimm nichts mit, spann nur einen
Wagen an, dann fahren wir los, werden leben und
es gut haben.“
Sie spannten ein Ackerpferd vor einen Erntewa-
gen, setzten sich drauf und fuhren los. Sie waren
noch keine fünf Werst gefahren, da kam ein Bote
angesprengt und schrie Fürst Pjotr zu:
„Krieg ist ausgebrochen, die Feinde kommen,
erschlagen jung und alt, brennen Dörfer und
Städte!“
Die Bojaren kamen angesprengt und drängten:
„Du unser Väterchen, Fürst Pjotr, und Fürstin
Jefrossinja, verlaßt uns nicht in dieser Not, die
Feinde kommen, erschlagen jung und alt, brennen
Dörfer und Städte!“
Pjotr wollte nicht umkehren, aber Jefrossinja
sagte:
„Das darf man nicht tun. Die Heimat läßt nie-
mand im Stich!“
Sie kehrten zurück. Pjotr sammelte sein starkes
Heer, und alle zogen aus – Alte und Junge, Män-
ner und Frauen, und sie schlugen den Feind aufs
Haupt. Und von nun an lebten sie in Frieden. Sie
waren schon alt geworden und grau. Pjotr wurde

485
krank. Sie hatten sich schon in jungen Jahren ge-
lobt, zusammen zu sterben, an einem Tag und zu
einer Stunde. Er lag krank, sie aber stickte an ei-
ner Abendmahlsdecke. Er schickt einen Diener zu
ihr ins andere Zimmer:
„Sagt Jefrossinja, daß ich gleich sterbe.“
Sie sagt:
„Sagt Pjotr, er soll ein wenig warten, ich nähe
gerade eine Abendmahlsdecke, bin gleich fertig.
Aber wenn ich nicht mehr da bin, stickt sie keiner
zu Ende.“
Der treue Diener kam zurück und sagte’s Pjotr.
Der wartet eine Weile, dann sagt er:
„Geh, sag Jefrossinja, daß ich das Zeitliche se-
gne. Ich hauche mein Leben aus, atme nicht mehr
ein.“
Der Diener ging und sagt:
„Jefrossinja Nikolajewna, Väterchen Pjotr seg-
net schon das Zeitliche.“ Jefrossinja stand auf,
steckte die Nadel in die Abendmahlsdecke und
wickelte die Seide darum. Legte sie auf den Tisch
und ging. Kam zu ihm und verneigte sich bis zum
Gürtel:
„Nun, Pjotr, ich bin bereit!“
Sie legte sich neben ihn, und sie starben.
Alle trauerten um sie. Pjotr hatte hinterlassen,
man solle sie in einem Sarg begraben, aber die
Bojaren machten zwei Särge und stellten sie ne-
beneinander in der Kirche auf. Am Morgen kom-
men sie, aber sie sind in einem Sarg, und der an-
dere ist leer. Zweimal war das so, beim drittenmal
aber sagte der Bischof:

486
„Also soll es so sein!“
Er ließ einen breiten Sarg machen, man legte
sie nebeneinander und begrub sie.
Und auf das Grab pflanzten sie einen Faulbeer-
baum. Dieser Faulbeerbaum wächst und blüht
noch heute.

487
44
Schwesterchen Aljonuschka und
Brüderchen Iwanuschka
Es lebten einmal ein Zar und eine Zarin; die hat-
ten einen Sohn und eine Tochter, der Sohn hieß
Iwanuschka und die Tochter Aljonuschka. Da star-
ben der Zar und die Zarin; die Kinder blieben
allein zurück und zogen durch die weite Welt. Sie
gingen und gingen und gingen…; sie gehen und
sehen einen Teich, und an dem Teich weidet eine
Herde Kühe. „Ich habe Durst“, sagt Iwanuschka.
„Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Kälb-
chen“, sagt Aljonuschka. Er gehorchte, und sie
gingen weiter; sie gingen und gingen und sehen
einen Fluß, und daneben eine Herde Pferde. „Ach,
Schwesterchen! Wenn du wüßtest, wie mich dür-
stet!“

„Trink nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Fül-


len!“ Iwanuschka gehorchte, und sie gingen wei-
ter; sie gingen und gingen und sehen einen See,
und an seinem Ufer tummelt sich eine Herde
Schafe. „Ach, Schwesterchen! Ich habe fürchterli-
chen Durst l“ – „Trink nicht, Brüderchen, sonst
wirst du ein Schafböckchen!“ Iwanuschka ge-
horchte, und sie gingen weiter; sie gingen und
gingen und sehen ein Flüßchen, daneben aber
werden Schweine gehütet. „Ach, Schwesterchen,

488
ich trinke; ich habe schrecklichen Durst!“ – „Trink
nicht, Brüderchen, sonst wirst du ein Ferkelchen!“
Iwanuschka gehorchte wieder, und sie gingen
weiter; sie gingen und gingen und sehen: am
Wasser weidet eine Herde Ziegen. „Ach, Schwe-
sterchen, ich trinke!“ – „Trink nicht, Brüderchen,
sonst wirst du ein Böckchen!“ Er hielt’s nicht aus,
gehorchte der Schwester nicht, trank und wurde
ein Böckchen, springt vor Aljonuschka her und
schreit: „Mek-mek-mek! Mek-mek-mek!“
Aljonuschka band ihm einen seidenen Gürtel
um und führte es daran, und sie weinte und wein-
te bitterlich… Das Böckchen lief und lief und lief in
den Garten zu einem Zaren. Die Leute sahen’s
und meldeten sogleich dem Zaren: „Bei uns, Eure
Kaiserliche Majestät, ist im Garten ein Böckchen,
ein Mädchen hält es an einem Gürtel, das ist aber
ein schönes Kind!“ Der Zar befahl zu fragen, wer
sie ist. Die Leute fragen sie: woher sie ist und
welcher Herkunft? „So und so“, sagt Aljonuschka,
„es war ein Zar und eine Zarin, die starben, wir
Kinder blieben zurück, ich, die Zarentochter, und
mein Brüderchen hier, der Zarewitsch; er hielt’s
nicht aus, hat Wasser getrunken und ist ein Böck-
chen geworden.“ Die Leute meldeten das dem Za-
ren. Der Zar rief Aljonuschka und befragte sie
über alles; sie gefiel ihm, und der Zar wollte sie
heiraten. Bald machten sie Hochzeit, lebten mit-
einander, und das Böckchen mit ihnen – tummelt
sich im Garten und trinkt und ißt zusammen mit
dem Zaren und der Zarin.

489
Einmal ritt der Zar auf die Jagd. Zu dieser Zeit
kam eine Zauberin und behexte die Zarin; Aljo-
nuschka wurde krank, so elend und so bleich. Am
Hofe des Zaren wurde alles traurig; die Blumen im
Garten welkten, die Bäume vertrockneten, und
das Gras wurde dürr. Der Zar kehrte zurück und
fragt die Zarin: „Bist du krank?“ – „Ja, ich bin
krank“, sagt die Zarin. Am anderen Tag ritt der
Zar wieder auf die Jagd. Aljonuschka liegt krank;
da kommt die Zauberin zu ihr und sagt: „Willst
du, daß ich dich heile? Geh zu dem und dem Meer
um die und die Zeit und trink dort Wasser!“ Die
Zarin gehorchte und ging in der Dämmerung zum
Meer, die Zauberin aber wartet schon auf sie,
packte sie, band ihr einen Stein um den Hals und
warf sie ins Meer. Aljonuschka sank auf den
Grund; das Böckchen kam gelaufen und weinte
bitterlich. Die Zauberin aber nahm die Gestalt der
Zarin an und ging ins Schloß. Der Zar kam zurück
und freute sich, daß die Zarin wieder gesund war.
Sie deckten den Tisch und setzten sich zum Es-
sen. „Und wo ist das Böckchen?“ fragt der Zar.
„Ich will es nicht haben“, sagt die Zauberin, „ich
habe verboten, es einzulassen; es riecht so nach
Bock.“ Am anderen Tag, kaum daß der Zar auf die
Jagd gefahren war, schlug die Zauberin das Böck-
chen, prügelte und prügelte’s und droht ihm:
„Warte nur, wenn der Zar zurückkommt, bitte ich,
dich zu schlachten.“ Der Zar kam; die Zauberin
bedrängt ihn: Befiehl doch nur, das Böckchen zu
schlachten; es ist mir über, ist mir ganz zuwider
geworden! Dem Zar tat das Böckchen leid, aber

490
was wollte er machen, sie läßt ihm keine Ruhe,
bittet so, daß der Zar schließlich einverstanden
war und erlaubte, es zu schlachten.
Das Böckchen sieht: schon schliffen sie die
stählernen Messer, und es begann zu weinen, lief
zum Zaren und bettelt: „Zar! Laß mich ans Meer
gehen, Wasser trinken und meine Därme spülen!“
Der Zar ließ es gehen. Da lief das Böckchen
zum Meer, stellte sich ans Ufer und schrie kläg-
lich:

Aljonuschka, mein Schwesterchen!


Komm doch, komm ans Ufer her.
Es brennen die Feuer, die brennenden,
Es kochen die Kessel, die kochenden.
Sie schleifen die Messer, die stählernen.
Und wollen, ach wollen mich schlachten!

Sie antwortet ihm:

Iwanuschka, mein Brüderchen!


Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde,
Eine grimmige Schlange hat’s Herz
ausgesaugt!

Das Böckchen weinte und lief zurück. Zur Mittags-


zeit bettelt es den Zaren wieder: „Zar! Laß mich
ans Meer gehen, Wasser trinken und meine Där-
me spülen!“ Der Zar ließ es gehen. Da lief das
Böckchen zum Meer und schrie kläglich:

Aljonuschka, mein Schwesterchen!

491
Komm doch, komm ans Ufer her.
Es brennen die Feuer, die brennenden.
Es kochen die Kessel, die kochenden.
Sie schleifen die Messer, die stählernen,
Und wollen, ach wollen mich schlachten!

Sie antwortet ihm:

Iwanuschka, mein Brüderchen!


Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde,
Eine grimmige Schlange hat’s Herz
ausgesaugt!

Das Böckchen weinte und lief wieder nach Hause.


Der Zar denkt: Was bedeutet das wohl, das Böck-
chen läuft immer zum Meer? Da bettelte das
Böckchen zum drittenmal: „Zar! Laß mich ans
Meer gehen, Wasser trinken und meine Därme
spülen!“ Der Zar ließ es fort und ging ihm nach;
kommt zum Meer und hört – das Böckchen ruft
sein Schwesterchen:

Aljonuschka, mein Schwesterchen!


Komm doch, komm ans Ufer her.
Es brennen die Feuer, die brennenden.
Es kochen die Kessel, die kochenden.
Sie schleifen die Messer, die stählernen.
Und wollen, ach wollen mich schlachten!

Sie antwortet ihm:

Iwanuschka, mein Brüderchen!

492
Ein schwerer Stein zieht mich zum Grunde,
Eine grimmige Schlange hat’s Herz
ausgesaugt!

Das Böckchen rief sein Schwesterchen nochmals.


Aljonuschka kam nach oben geschwommen und
zeigte sich über dem Wasser. Der Zar ergriff sie,
riß den Stein von ihrem Hals, zog Aljonuschka ans
Ufer und fragt: „Wie ist das geschehen?“ Sie er-
zählte ihm alles. Der Zar freute sich, und das
Böckchen auch – es springt umher, und im Garten
wurde alles grün und begann zu blühen. Die Zau-
berin aber befahl der Zar hinzurichten: sie errich-
teten auf dem Hof einen Scheiterhaufen und ver-
brannten sie. Danach lebten Zar und Zarin mit
dem Böckchen herrlich und in Freuden, wurden
reiche Leute und tranken und aßen zusammen wie
früher.

493
45
Junker Frost
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Der
Mann und die Frau hatten drei Töchter. Ihre älte-
ste Tochter liebte die Frau nicht (es war ihre Stief-
tochter), sie schalt sie oft, weckte sie frühzeitig
und lud die ganze Arbeit auf sie ab. Das Mädchen
tränkte und fütterte das Vieh, trug Holz und Was-
ser in die Hütte, heizte den Ofen, verrichtete ihre
Gebete, fegte die Hütte und räumte noch vor Ta-
ge alles auf. Doch die Alte war auch dann nicht
zufrieden und brummte über Marfuscha: „So ein
faules Ding, so eine Schlampe! Und der Besen ist
nicht an seinem Platz, und das steht nicht richtig
da, und schmutzig ist’s in der Hütte…l“ Das Mäd-
chen schwieg und weinte; sie bemühte sich auf
alle Weise, es der Stiefmutter recht zu machen
und ihren Töchtern gefällig zu sein; aber die
Schwestern sahen’s von der Mutter ab und setz-
ten Marfuschka in allem hintenan, suchten Zank
mit ihr und brachten sie zum Weinen: das war ih-
nen ein Vergnügen! Sie selber standen immer
spät auf, wuschen sich mit dem bereitstehenden
Wasser, trockneten sich mit einem sauberen
Handtuch ab und setzten sich an die Arbeit, nach-
dem sie zu Mittag gegessen hatten. So wuchsen
nun unsere Mädchen heran, wurden groß und ka-
men ins Brautalter. Ein Märchen ist bald erzählt,

494
aber eine Tat nicht so bald getan. Dem Alten tat
seine älteste Tochter leid; er liebte sie, weil sie
gehorsam und arbeitsam war, nie eigensinnig,
was man ihr sagte, auch machte, und nie auch
nur mit einem Wort widersprach; aber der Alte
wußte nicht, wie er dem Kummer abhelfen sollte.
Er selber war krank, die Alte ein Zankteufel, und
ihre Töchter waren faul und widerspenstig.
Nun begannen unsere Alten zu überlegen: der
Alte, wie er seine Töchter unter die Haube bringen
kann, und die Alte, wie sie die Älteste loswerden
kann. Einmal sagt die Alte zu ihrem Alten: „Nun,
Alter, wir wollen Marfuscha verheiraten!“ – „Ist
gut“, sagte der Alte und trollte sich auf den Ofen;
die Alte aber ruft ihm nach: „Alter, steh morgen
frühzeitig auf, spann die Stute vor den Schlitten
und fahr mit Marfuscha los; und du, Marfuscha,
pack deine Sachen in den Reisekorb und zieh ein
weißes Hemd an; du fährst morgen zu Besuch!“
Die gutmütige Marfuscha freute sich über das
Glück, daß man sie zu Besuch fährt, und schlief
süß die ganze Nacht; am Morgen stand sie zeitig
auf, wusch sich, betete zu Gott, holte alles zu-
sammen und packte es ordentlich ein, zog sich
selbst festlich an und war ein Mädchen – nun, ei-
ne Braut, wie sie sich einer nur wünschen kann!
Die Geschichte war aber im Winter, und draußen
war eine beißende Kälte.
Der Alte spannte früh, ehe es noch tagte oder
dämmerte, die Stute vor den Schlitten und führte
sie bis an die Tür; er selber kam in die Hütte,
setzte sich auf die Türbank und sagte: „Nun, ich

495
habe alles vorbereitet!“ – „Setzt euch an den
Tisch und freßt!“ sagte die Alte. Der Alte setzte
sich an den Tisch und ließ auch die Tochter sich
hinsetzen; der Brotteller stand auf dem Tisch, er
nahm einen Laib und schnitt für sich und die
Tochter ab. Die Alte aber brachte unterdessen in
einer Schüssel alte Krautsuppe und sagte: „Nun,
mein Täubchen, iß und scher dich dann fort, ich
habe dich lange genug hier gesehen! Alter, bring
Marfuschka zu ihrem Bräutigam; paß aber auf,
alter Tropf, fahr geradeaus den Weg entlang und
biege dann rechts vom Wege ab, in den Wald hin-
ein, du weißt schon, gerade zu der großen Fichte,
die auf dem Hügel steht, und gib Marfuschka dort
dem Junker Frost zur Frau!“ Der Alte riß Augen
und Maul auf und hörte auf zu löffeln, das Mäd-
chen aber begann zu heulen. „Nun, was plärrst du
hier herum! Das ist doch ein schöner und reicher
Bräutigam! Sieh nur, was er alles besitzt: alle
Tannen, Fichten und Birken tragen einen Pelz; ein
beneidenswertes Leben, und er selber ist ein
Prachtkerl!“
Der Alte verpackte schweigend die Habseligkei-
ten, hieß die Tochter einen Schafspelz überwerfen
und machte sich auf den Weg. Fuhr er nun lange,
kam er bald an – ich weiß es nicht; ein Märchen
ist bald erzählt, eine Tat aber nicht so bald getan.
Schließlich kam er zum Wald, bog vom Wege ab
und fuhr einfach über den verharschten Schnee;
als er tief in den Wald hineingefahren war, hielt er
an und hieß die Tochter heruntersteigen, er selber
stellte den Reisekorb unter eine riesige Fichte und

496
sagte: „Bleib hier sitzen und warte auf den Bräu-
tigam; paß aber auf, empfang ihn recht zärtlich!“
Und er wendete das Pferd und fuhr nach Hause.
Das Mädchen sitzt und zittert: es schüttelte sie
am ganzen Leibe. Sie wollte jammern, aber die
Kräfte reichten nicht aus: nur ihre Zahne klapper-
ten in einem fort. Auf einmal hört sie: nicht weit
von ihr knallt Junker Frost auf einer Tanne,
springt von einer Tanne auf die andere und kni-
stert. Plötzlich war er auf der Fichte, unter der das
Mädchen sitzt, und sagt zu ihr von oben: „Ist dir
warm, Mädchen?“ – „Warm, Väterchen, warm
Junker Frost!“ Junker Frost ließ sich weiter herab,
knallte und knisterte noch mehr. Der Frost fragte
das Mädchen: „Ist dir warm, Mädchen? Ist dir
warm, du Schöne?“ Dem Mädchen verschlägt es
bald den Atem, aber es sagt noch: „Warm, Junker
Frost, warm, Väterchen!“ Der Frost knallte noch
mehr, knisterte noch stärker und sagte zu dem
Mädchen: „Ist dir warm, Mädchen, ist dir warm,
du Schöne, ist dir warm, mein Herzchen?“ Das
Mädchen war schon ganz erstarrt und sagte kaum
hörbar: „Oj, so warm, liebster Junker Frost!“ Da
empfand der Junker Frost Mitleid, hüllte das Mäd-
chen in Pelze und wärmte es mit Decken.
Am Morgen sagt die Alte zu ihrem Alten: „Fahr
los, alter Trottel, und wecke das junge Paar!“ Der
Alte spannte das Pferd ein und fuhr los. Als er bei
der Tochter ankam, fand er sie noch am Leben;
sie hatte einen schönen Pelz an, ein kostbares
Seidentuch um und einen Korb mit reichen Ge-
schenken. Ohne ein Wort zu sagen, lud der Alte

497
alles auf den Schlitten, stieg mit der Tochter auf
und fuhr nach Hause. Sie kamen zu Haus an, und
das Mädchen fiel der Stiefmutter zu Füßen. Die
Alte war höchst verwundert, wie sie das Mädchen
noch am Leben sah, dazu den neuen Pelz und den
Korb Wäsche. „Ach, du Hündin! Du sollst mich
nicht zum besten haben!“
Nach einer kleinen Weile sagt die Alte zu ihrem
Alten: „Bring nun auch meine Töchter zum Bräuti-
gam; der wird sie noch ganz anders beschenken!“
Eine Tat ist nicht so bald getan, aber ein Märchen
ist bald erzählt. Früh am Morgen also gab die Alte
ihren Kindern reichlich zu essen, schmückte sie,
wie sich’s gehört, für die Hochzeit und schickte sie
auf den Weg. Der Alte brachte die Mädchen auf
dem gleichen Wege unter die Fichte. Unsere Mäd-
chen sitzen dort und spotten: „Was hat sich Mut-
ter da ausgedacht – beide auf einmal in die Ehe
wegzugeben? Gibt’s etwa in unserem Dorfe keine
Burschen? Will’s das Unglück, kommt irgendein
Teufel, und du weißt nicht wer!“
Die Mädchen waren in Schafspelzen, und doch
war ihnen kalt. „Wie geht’s, Paracha? Mich kneift
der Frost schon auf der Haut. Nun, wenn unser
Auserwählter nicht kommt, können wir hier erfrie-
ren!“ – „Hör auf, Maschka, und erzähl keinen Un-
sinn! Ist es etwa üblich, daß sich die Bräutigame
so zeitig einfinden? Jetzt ist draußen erst Mittag.“
– „Nun, Paracha, wenn nur einer kommt, wen
wird er nehmen?“ – „Na, vielleicht dich, du När-
rin?“ – „Aber dich ganz bestimmt!“ – Natürlich,
mich!“ – „Dich? Hör auf, mich zu foppen und Mär-

498
chen zu erzählen!“ Junker Frost hatte ihnen die
Hände erstarren lassen; unsere Mädchen wärmten
ihre Hände an der Brust und fingen wieder an:
„Ach du, Schlafmütze, Zankteufel, Schmutzfink!
Zu spinnen verstehst du nicht, und vom Weben
hast du gleich gar keine Ahnung!“ – „Och, du
Prahlerin! Und was kannst du? Dich in den Lauben
herumtreiben und dich abschlecken lassen. Wir
werden ja sehen, wen er zuerst nimmt!“ So un-
terhielten sich die Mädchen und froren ganz
schrecklich; auf einmal sagten sie wie aus einem
Munde: „Warum kommt er so lange nicht? Du bist
schon ganz blau!“
Da begann in der Ferne Junker Frost zu knallen,
von Tanne zu Tanne zu springen und zu knistern.
Den Mädchen schien es, daß jemand gefahren
kommt. „Horch, Paracha! Er kommt schon, und
dazu noch mit Schellen.“ – „Scher dich fort, Hün-
din! Ich höre nichts, mich zwickt der Frost!“ –
„Und du willst heiraten!“ Und sie begannen, auf
ihre Finger zu hauchen. Junker Frost kommt im-
mer näher und näher; schließlich war er auf der
Fichte, über den Mädchen. Er sagt zu den Mäd-
chen: „Ist euch warm, ihr Mädchen? Ist euch
warm, ihr Schönen? Ist euch warm, meine Täub-
chen?“ – „Oj, Junker Frost, uns ist sehr kalt! Wir
sind ganz erfroren, warten auf den Auserwählten,
aber der verfluchte Kerl läßt sich nicht blicken!“
Junker Frost ließ sich weiter herab, knallte noch
mehr und knisterte noch häufiger. „Ist euch
warm, ihr Mädchen? Ist euch warm, ihr Schönen?“
– „Geh zum Teufel! Bist du vielleicht blind, du

499
siehst doch, daß uns Hände und Füße abgefroren
sind.“ Junker Frost ließ sich noch weiter herab,
gab ihnen einen harten Schlag und sagte: „Ist
euch warm, ihr Mädchen?“ – „Scher dich zu allen
Teufeln, verrecke im Moor, verfluchter Kerl!“ –
und die Mädchen waren starr und steif.
Am Morgen sagt die Alte zu ihrem Mann:
„Spann den Stadtschlitten an, Alter; leg einen
Armvoll Heu darauf und nimm eine Pelzdecke mit.
Die Mädchen werden wohl durchfroren sein, es ist
ein schrecklicher Frost draußen! Und mach
schnell, alter Trottel!“ Der Alte kam nicht einmal
dazu, ein paar Bissen zu essen, da war er schon
draußen und auf dem Wege. Fährt, die Töchter zu
holen, und findet sie tot. Er lud seine Kinder auf,
hüllte sie in die Decke und legte eine Bastmatte
darüber. Die Alte sah den Alten schon von wei-
tem, kam ihm entgegengelaufen und fragte: „Was
ist mit den Kindern?“ – „Im Schlitten!“ Die Alte
hob die Bastmatte auf, nahm die Decke weg und
fand ihre Kinder tot.
Da fuhr die Alte los wie ein Gewitter und
schimpfte auf den Alten: „Was hast du angerich-
tet, alter Hund? Hast meine Töchter zugrunde ge-
richtet, meine, meine Kinder, meine lieben, meine
schönen, meinen Augentrost. Ich werde dich mit
der Ofengabel prügeln, mit dem Schürhaken er-
schlagen!“ – „Hör auf, altes Weibsstück! Das hast
du davon, daß du so versessen auf Reichtum
warst und daß deine Kinder so eigensinnig waren!
Bin ich vielleicht schuld? Du hast’s nicht anders
gewollt!“ Die Alte war eine Weile böse, schimpfte

500
eine Weile, danach aber söhnte sie sich mit der
Stieftochter aus, und von nun an lebten sie herr-
lich und in Freuden, wurden reiche Leute und ge-
dachten des Bösen nicht mehr. Der Nachbar kam
als Freier, sie feierten Hochzeit, und Marfuscha
führt ein glückliches Leben. Der Alte drohte den
Enkeln mit dem Junker Frost und ließ keinen Ei-
gensinn zu. Auch mich luden sie zur Hochzeit ein,
ich trank Bier und Wein; ‘s ist alles um den Bart
geronnen, der Mund hat nichts abbekommen.

501
46
Iwaschko und die Hexe
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hat-
ten ein einziges Söhnchen, Iwaschetschko; sie
hatten es so lieb, daß es gar nicht zu sagen ist.
Einmal bittet Iwaschetschko Vater und Mutter:
„Laßt mich gehen, ich will fahren und Fische fan-
gen!“ – „Ach du lieber Gott! Du bist noch zu klein,
könntest vielleicht ertrinken und wer weiß was
noch!“ – „Nein, ich werde nicht ertrinken, ich
werde euch Fische fangen; laßt mich!“ Die Frau
zog ihm ein weißes Hemdchen an, band ihm ein
rotes Gürtelchen um und ließ Iwaschetschko ge-
hen.
Da stieg er ins Boot und sagt:

Boot, Boot, schwimm recht weit!


Boot, Boot, schwimm recht weit!

Das Boot schwamm weit, weit weg, und Iwaschko


fing Fische. War nun wenig Zeit vergangen oder
viel – die Frau schleppte sich ans Ufer und ruft ihr
Söhnchen:

Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein


Söhnchen!
Komm, komm ans Ufer gefahren,
Ich habe dir Essen und Trinken gebracht.

502
Und Iwaschetschko sagt:

Boot, Boot, schwimm ans Ufer hin:


Das ist die Mutter, die ruft.

Das Boot kam ans Ufer; die Frau nahm die Fische,
gab ihrem Sohn zu essen und zu trinken, wechsel-
te ihm Hemdchen und Gürtelchen und ließ ihn
wieder fort, Fische zu fangen.
Da stieg er ins Boot und sagt:

Boot, Boot, schwimm recht weit!


Boot, Boot, schwimm recht weit!

Das Boot schwamm weit, weit weg, und Iwaschko


fing Fische. War nun wenig Zeit vergangen oder
viel – der Mann schleppte sich ans Ufer und ruft
sein Söhnchen:

Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein


Söhnchen!
Komm, komm ans Ufer gefahren.
Ich habe dir Essen und Trinken gebracht.

Und Iwaschko:

Boot, Boot, schwimm ans Ufer hin:


Das ist der Vater, der ruft.

Das Boot kam ans Ufer; der Mann nahm die Fi-
sche, gab seinem Sohn zu essen und zu trinken,

503
wechselte ihm Hemdchen und Gürtelchen und ließ
ihn wieder fort, Fische zu fangen.
Eine Hexe hörte, wie der Mann und die Frau
Iwaschko riefen, und sie wollte den Knaben in ihre
Gewalt bringen. Sie kommt also ans Ufer und
schreit mit heiserer Stimme:

Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein


Söhnchen!
Komm, komm ans Ufer gefahren;
Ich habe dir Essen und Trinken gebracht.

Iwaschko hört, daß das nicht die Stimme seiner


Mutter ist, sondern die der Hexe, und singt:

Boot, Boot, schwimm recht weit,


Boot, Boot, schwimm recht weit:
Das ist nicht die Mutter, die ruft,
das ist die Hexe, die ruft.

Die Hexe sah, daß sie Iwaschko mit der gleichen


Stimme rufen muß, mit der seine Mutter ihn ruft;
sie lief zum Schmied und bittet ihn: „Schmied,
Schmied! Schmiede mir ein so feines Stimmchen,
wie Iwaschkos Mutter es hat; sonst fresse ich
dich!“ Der Schmied schmiedete ihr ein solches
Stimmchen, wie Iwaschkos Mutter es hatte. Da
kam die Hexe nachts ans Ufer und singt:

Iwaschetschko, Iwaschetschko, mein


Söhnchen!
Komm, komm ans Ufer gefahren;

504
Ich habe dir Essen und Trinken gebracht.

Iwaschko kam; sie nahm die Fische, packte ihn


und trug ihn davon zu sich. Sie kam nach Hause
und gebietet ihrer Tochter Aljonka: „Heiz den
Ofen recht heiß und brate Iwaschko recht schön,
ich will gehen, die Gäste – meine Freunde – zu-
sammenzuholen!“ Aljonka heizte also den Ofen
heiß und sagt zu Iwaschko: „Los, setz dich auf die
Schaufel!“ – „Ich bin noch zu klein und dumm“,
antwortet Iwaschko, „ich weiß und verstehe noch
gar nichts; zeige mir, wie ich mich auf die Schau-
fel setzen muß!“ – „Schön“, sagt Aljonka, „da
gibt’s nicht viel zu zeigen!“ Und kaum hatte sie
sich auf die Schaufel gesetzt, da warf Iwaschko
sie in den Ofen, machte die Ofenklappe zu, ging
aus der Hütte, versperrte die Tür und kletterte auf
eine hohe, hohe Eiche.
Die Hexe kommt mit den Gästen und klopft an
die Hütte; niemand macht ihr die Tür auf. „Ach,
verfluchte Aljonka! Sicher ist sie irgendwohin
spielen gegangen.“ Die Hexe kletterte durchs Fen-
ster, öffnete die Tür und ließ die Gäste ein; alle
setzten sich an den Tisch, die Hexe öffnete die
Ofenklappe, holte die gebratene Aljonka heraus –
und auf den Tisch: sie aßen und aßen, tranken
und tranken, gingen hinaus und wälzten sich im
Grase. „Ich kugle mich, ich wälze mich, voll von
Iwaschkos Fleisch“, schreit die Hexe, „ich kugle
mich, ich wälze mich, voll von Iwaschkos Fleisch!“
Iwaschko aber äfft ihr von der Eiche herunter
nach: „Kugle dich nur, wälze dich nur, voll von

505
Aljonkas Fleisch!“ – „Ich habe irgend etwas ge-
hört“, sagt die Hexe. „Das sind die Blätter, die
rauschen.“ Wieder sagt die Hexe: „Ich kugle mich,
ich wälze mich, voll von Iwaschkos Fleisch!“ Und
Iwaschko wieder: „Kugle dich, wälze dich, voll von
Aljonkas Fleisch!“ Die Hexe guckte nach oben und
sah Iwaschko; sie sprang auf und begann, die Ei-
che durchzunagen – eben die Eiche, wo Iwaschko
saß, sie nagte und nagte – brach sich die zwei
vorderen Zähne aus und lief zur Schmiede. Kam
hin und sagt: „Schmied, Schmied, schmiede mir
eiserne Zähne, sonst fresse ich dich!“ Der
Schmied schmiedete ihr zwei Eisenzähne.
Die Hexe kam zurück und begann wieder, die
Eiche durchzunagen; nagte und nagte und hatte
sie gerade durchgenagt, da sprang Iwaschko
schnell auf eine andere, benachbarte Eiche hin-
über, die aber, die die Hexe durchgenagt hatte,
stürzte zu Boden. Die Hexe sieht, daß Iwaschko
schon auf der anderen Eiche sitzt, knirschte vor
Wut mit den Zähnen und machte sich von neuem
daran, den Baum durchzunagen; nagte und nagte
– brach sich die zwei unteren Zähne aus und lief
zur Schmiede. Kam hin und sagt: „Schmied,
Schmied! Schmiede mir eiserne Zähne, sonst
fresse ich dich!“ Der Schmied schmiedete ihr noch
zwei Eisenzähne. Die Hexe kam zurück und be-
gann wieder, die Eiche durchzunagen. Iwaschko
weiß nicht, was er jetzt tun soll; da sieht er wilde
Schwäne fliegen, und er bittet sie:

Schwäne ihr, meine weißen!

506
Nehmt mich auf eure Flügel,
Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen;
Bei Väterchen, bei Mütterchen,
Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut!

„Die mittleren sollen dich nehmen“, sagen die Vö-


gel. Iwaschko wartet; es kommt eine andere Her-
de geflogen, er bittet wieder.

Schwäne ihr, meine weißen!


Nehmt mich auf eure Flügel,
Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen;
Bei Väterchen, bei Mütterchen,
Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut!

„Die hinteren sollen dich nehmen.“ Iwaschko war-


tet wieder; es kommt eine dritte Herde geflogen,
er bittet:

Schwäne ihr, meine weißen!


Nehmt mich auf eure Flügel,
Tragt mich zu Väterchen, zu Mütterchen;
Bei Väterchen, bei Mütterchen,
Gibt’s Trinken und Essen, ist’s gut!

Die wilden Schwäne ergriffen ihn und trugen ihn


nach Hause, kamen zur Hütte und setzten
Iwaschko auf dem Dachboden ab.
Die Frau stand frühzeitig auf, um Pfannkuchen
zu backen; bäckt und denkt dabei an ihr Söhn-
chen: „Wo mag nur mein Iwaschetschko sein?
Wenn ich ihn doch wenigstens einmal im Traum

507
sähe!“ Der Mann aber sagt: „Ich habe geträumt,
wilde Schwäne hätten unseren Iwaschko auf ihren
Flügeln hergetragen.“ Die Frau hatte ihre Pfann-
kuchen gebacken und sagt: „Nun, Alter, wollen
wir die Pfannkuchen teilen: das – für dich, Mann!
Das – für mich; das – für dich, Mann! das – für
mich…“ – „Und für mich nichts?“ ließ Iwaschko
sich hören. „Das – für dich, Mann! Das – für
mich…“ – „Und für mich nichts?“ – „Nanu, Alter!“
sagt die Frau, „sieh doch mal nach, was das ist!“
Der Mann kletterte auf den Dachboden und holte
Iwaschko von dort herunter. Der Mann und die
Frau freuten sich, ließen sich alles, alles von ih-
rem Sohn erzählen und lebten von nun an herrlich
und in Freuden und wurden reiche Leute.

508
47
Die wilden Schwäne
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau; die hatten ein Töchterchen und ein kleines
Söhnchen. „Töchterchen, Töchterchen!“ sagte die
Mutter, „wir gehen auf Arbeit, bringen dir eine
Semmel mit, nähen dir ein Kleid, kaufen dir ein
Tüchlein; sei klug, paß aufs Brüderchen auf, und
geh nicht vom Hof!“ Die Eltern gingen, das Töch-
terchen aber vergaß, was ihr befohlen worden
war: sie setzte das Brüderchen aufs Gras unter
dem Fenster und lief hinaus auf die Straße, spielte
und tummelte sich. Da kamen wilde Schwäne ge-
flogen, ergriffen den Kleinen und trugen ihn auf
ihren Flügeln davon.
Das Mädchen kam, – da war das Brüderchen
nicht da! Sie erschrak, stürzte hierhin und dorthin
– nichts! Sie rief, zerfloß in Tränen, jammerte, es
würde etwas setzen von Vater und Mutter, – das
Brüderchen gab keine Antwort! Sie lief hinaus
aufs freie Feld; in der Ferne flogen wilde Schwäne
und verschwanden hinter dem dunklen Wald. Die
wilden Schwäne hatten sich schon lange einen
üblen Ruf erworben, hatten viel Unheil angerichtet
und kleine Kinder gestohlen; das Mädchen erriet,
daß sie ihr Brüderchen entführt hatten, und stürz-
te ihnen nach. Sie lief und lief, da steht ein Ofen:
„Ofen, Ofen! Sag mir, wohin die wilden Schwäne

509
geflogen sind!“ – „Wenn du von meiner Roggenpi-
rogge ißt, sag ich’s.“ – „Oh, bei meinem Väter-
chen werden nicht einmal welche aus Weizen ge-
gessen!“ Der Ofen sagte’s nicht. Sie lief weiter, da
steht ein Apfelbaum. „Apfelbaum, Apfelbaum!
Sag, wohin die wilden Schwäne geflogen sind!“ –
„Wenn du von meinen Holzäpfeln ißt, sag ich’s.“ –
„Oh, bei meinem Väterchen werden nicht einmal
Gartenäpfel gegessen!“ Sie lief weiter, da fließt
ein Flüßchen aus Milch, hat Ufer aus Brei. „Milch-
flüßchen, Breiufer! Wohin sind die wilden Schwäne
geflogen?“ – „Wenn du von meinem einfachen
Brei mit Milch ißt, sag ich’s.“ – „Oh, bei meinem
Väterchen wird nicht einmal Sahne gegessen!“
Und lange hätte sie über die Felder laufen und
durch den Wald streifen müssen, aber zum Glück
lief ihr ein Igel in den Weg; sie wollte ihm einen
Stoß versetzen, fürchtete aber, sich zu stechen,
und fragt: „Igelchen, Igelchen, hast du nicht ge-
sehen, wohin die wilden Schwäne geflogen sind?“
– „Dorthin!“ zeigte er. Sie lief weiter – da steht
eine Hütte auf Hühnerbeinen, steht und dreht sich
im Kreise. In der Hütte sitzt eine Baba-Jagá, die
Fratze wie Leder, die Beine aus Lehm; da sitzt
auch das Brüderchen auf einer Bank und spielt
mit goldenen Äpfelchen: Die Schwester sah ihn,
stahl sich heran, nahm ihn auf den Arm und trug
ihn fort – die wilden Schwäne aber hinter ihr her!
Sie holen sie gleich ein, die Bösewichter, wo soll
sie sich verstecken? Da eilt das Milchflüßchen mit
den Breiufern dahin. „Flüßchen, Mütterchen, ver-
steck mich!“ – „Iß von meinem Brei!“ Es blieb ihr

510
nichts anderes übrig, sie aß. Das Flüßchen setzte
sie unters Ufer, und die wilden Schwäne flogen
vorbei. Sie kam hervor, sagte: „Danke!“ und läuft
mit dem Brüderchen weiter; die wilden Schwäne
aber waren umgekehrt und fliegen ihr entgegen.
Was tun? Unglück! Da steht der Apfelbaum! „Ap-
felbaum, Mütterchen Apfelbaum, versteck mich!“
– „Iß meinen Holzapfel!“ Schnell aß sie ihn. Der
Apfelbaum breitete seine Zweige über sie und
deckte sie mit seinen Blättern zu; die wilden
Schwäne flogen vorbei. Sie kam hervor und läuft
mit dem Brüderchen weiter, die wilden Schwäne
aber sahen sie – und ihr nach. Sie sind ganz nah,
schon schlagen sie sie mit ihren Flügeln; ehe du
dich’s versiehst, werden sie ihr’s aus den Händen
reißen. Zum Glück steht der Ofen auf dem Wege.
„Ofen, gnädiger Herr, versteck mich!“ – „Iß von
meiner Roggenpirogge!“ Das Mädchen steckte
schnell die Pirogge in den Mund, und dann in den
Ofen hinein und ins Ofenloch gesetzt. Die wilden
Schwäne flogen und flogen, schrien und schrien
und flogen ohne Beute davon. Sie aber lief nach
Hause, und es war nur gut, daß sie rechtzeitig
kam, denn Vater und Mutter kamen auch gerade.

511
48
Daumengroß
In einem Zarenreich, in einem Staat lebten einmal
ein alter Mann und eine alte Frau. Sie waren arm
und hatten nur ein elendes Pferdchen. Der Alte
fuhr pflügen. Die Alte packte ihm Brot und Salz in
einen Beutel, etwas Hirse in ein Säckchen und ei-
nen Krug mit Wasser. Der Alte fuhr los. Der Alte
kam aufs Feld, spannte das Pferd vor den Pflug
und begann zu pflügen. Pflügte und pflügte und
war ganz ermattet. Er ließ das Pferd in einer Fur-
che stehen, setzte sich hin, brach sich ein Stück
Brot ab, salzte es und ißt. Nun, und nahm einen
Schluck aus dem Krug.
Er aß und aß, und wie er einmal niest und die
Äugen wieder aufgemacht hat, steht ein kleiner
Junge vor ihm, so groß wie ein Finger, in einem
goldenen Mützchen, und sagt:
„Väterchen, ruh ein wenig aus, ich will pflügen
gehen!“
„Wie denn, du kleines Kerlchen?“
„Sehr einfach, ich krieche dem Pferd ins Ohr
und werde pflügen.“
„Nun, geh!“
Er ging los, aber da war ein Wasser.
„Väterchen, ich komme hier nicht drüber.“
Nun, er trug ihn über die Pfütze.

512
Er kam zum Pferd, kletterte ins Ohr und pflügt.
Da kommt auf einmal ein vornehmer Herr in einer
Troika gefahren. Der sieht: der Alte sitzt, und das
Pferd pflügt allein. Er befahl dem Kutscher, zu
dem Alten hinzulenken. Sie hielten an, und der
Herr fragt:
„Dein Pferd?“
„Meins!“
„Wie pflügt es denn allein?“
„Mein Sohn ist dort.“
„Wo?“
„Im rechten Ohr des Pferdes sitzt er.“
Der Herr ging nachsehen, und im Ohr des Pfer-
des sitzt der Kleine im goldenen Mützchen. Dem
Herren gefiel das goldene Mützchen, und er sagt:
„Junge, gib mir das goldene Mützchen zum Hei-
raten!“
„Ich geb’ dir’s und du gibst’s nicht zurück!“
„Doch, ich geb’s zurück!“
„Nein, du gibst’s nicht zurück!“
„Doch, ich geb’s zurück; in zwei Tagen bring’
ich’s wieder!“
Der Junge gab das Mützchen hin, der Herr
nahm’s, stieg ein und fuhr davon.
Der Junge hat den Acker zu Ende gepflügt,
kommt nach Hause und sagt:
„Nun, Mütterchen, Väterchen, bleibt ihr zu Hau-
se, ich aber will zu dem Herrn nach dem goldenen
Mützchen gehen. Ich sehe, er ist ein Spitzbube
und gibt’s im guten nicht zurück.“ Und er ging los.
Ging und ging durch den Wald, da steht auf ein-
mal ein Fuchs:

513
„Daumengroß, gehst du weit?“
„Zum Herrn nach dem goldenen Mützchen.“
„Nimm mich mit!“
„Du kommst ja doch nicht bis hin.“
„Doch, ich komme bis hin!“
„Nun, komm mit!“
Sie gingen und gingen; der Fuchs sagt:
„Daumengroß, ich bin ganz matt.“
„Kriech in meinen Sack.“
Er geht weiter, da steht auf dem Wege ein
Wolf.
„Daumengroß, gehst du weit?“
„Ich – zum Herrn nach dem goldenen Mütz-
chen.“
„Nimm mich mit!“
„Du kommst ja doch nicht bis hin.“
„Ich komme bis hin!“
„Nun, komm mit!“
Sie gingen und gingen, da sagt der Wolf:
„Junge, ich bin ganz matt!“
„Kriech in meinen Sack!“
Er geht weiter durch den tiefen Wald und trägt
seinen Sack auf den Schultern. Da steht auf dem
Wege ein Bär.
„Daumengroß, gehst du weit?“
„Zum Herrn nach dem goldenen Mützchen, Mi-
chail Iwanowitsch.“
Der Bär brummte:
„Nimm mich mit!“
„Du kommst ja doch nicht bis hin.“
„Doch, ich komme bis hin!“
„Nun, komm mit!“

514
Sie gingen und gingen; der Bär sagt:
„Junge, ich bin fast ganz matt!“
„Nun, kriech in meinen Sack!“
Sie gingen weiter. Da ist auch schon der Kauf-
mannshof. Ein hohes Haus.
Der Junge kletterte aufs Tor und schreit:
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es deiner Herrin leid
tun wird!“
Der Herr befahl den Dienern:
„Werft ihn den Gänsen vor, sollen sie ihn zu
Tode zwicken!“
Sie taten’s, aber er ließ den Fuchs aus dem
Sack. Der Fuchs lief, erwürgte eine nach der an-
deren, alle Gänse, und jagte davon in den Wald.
Er kommt aus dem Hof, klettert aufs Tor und
schreit:
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es euch beiden leid tun
wird!“
Der Herr befiehlt den Dienern:
„Packt den Jungen und werft ihn unter die Pfer-
de!“
Sie taten’s. Aber er ließ aus seinem Sack den
Wolf heraus, der biß einem nach dem anderen die
Gurgel durch und rannte davon in den Wald.
Er kam aus dem Hof, kletterte aufs Tor und
schreit:
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es dir und der Herrin
leid tun wird!“
Der Herr befiehlt:

515
„Werft ihn auf den Viehhof!“
Sie warfen ihn auf den Viehhof, unter die Och-
sen, aber er ließ aus seinem Sack den Bären her-
aus, der Bär erschlug alle mit seiner Tatze und
rannte davon in den Wald.
Der Junge kam aus dem Hof, kletterte aufs Tor
und schreit:
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es dir und der Herrin
leid tun wird!“
Der Herr befiehlt:
„Werft ihn in den Brunnen!“
Sie warfen den Jungen in den Brunnen, da sagt
er:
„Sack, Sack, nimm das Wasser! Sack, Sack,
nimm das Wasser!“
Der Sack nahm das ganze Wasser.
Der Junge kletterte aufs Tor und schreit:
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es allen Herren leid tun
wird!“
„Werft ihn in den Ofen, er wird im Feuer
verbrennen!“
Sie stießen ihn in den Ofen, aber der Junge
konnte noch sagen:
„Sack, Sack, gieß das Wasser auf die Ziegel!
Sack, Sack, gieß das Wasser auf die Ziegel!“
Das Wasser floß heraus, und das Feuer erlosch
auf der Stelle.
Der Junge kam heraus, kletterte aufs Tor und
schreit:

516
„Herr, Herr, gib das goldene Mützchen zurück,
sonst schaffe ich Leid, daß es allen Adligen und
großen und kleinen Herren leid tun wird!“
„Steckt ihn in einen Kasten und schüttet ihn mit
Geld zu. daß er dort erstickt, der Nichtsnutz!“
Der Junge aber sagt:
„Sack, Sack, nimm das Geld! Sack, Sack, nimm
das Geld!“
Der Sack steckte alles ein. Der Junge kam her-
aus, machte sich auf den Heimweg und brachte
den Sack voll Gold mit.
„Nun, Großvater, Großmutter, macht einen
Dreschplatz zurecht, breitet Sackleinwand aus, wir
wollen den Sack dreschen.“
Sie machten einen Dreschplatz zurecht. Der Al-
te schlägt einmal mit dem Dreschflegel zu, da roll-
te das Geld wie die Erbsen klirrend in alle Rich-
tungen.
Der Herr aber sagt:
„Werft den Jungen heraus, sonst fängt er noch
an zu riechen!“
Sie öffneten den Kasten, aber dort war weder
Junge noch Geld.
Er jagte hinterher. Kam zu dem Dreschplatz ge-
sprengt, und das Geld machte ding, ding, ding.
Der Herr stürzte hinzu, aber der Alte, ob nun
aus Versehen oder mit Absicht, versetzte dem
Herrn mit dem Dreschflegel eins vor den Kopf,
daß er gleich tot umfiel.
So lebten der Alte und die Alte bis an ihr Ende.
Die Enkel aber leben gewiß noch heute.

517
Jetzt, ohne Herrn, sind bessere Tage, jetzt darf
keiner ‘nen Jungen schlagen.

518
49
Der Soldat und der Teufel
Ein Soldat stand auf Wache, und er wollte gern
einmal für eine Weile in der Heimat sein.
„Und wenn mich“, sagt er, „der Teufel dorthin
trüge!“
Der war sogleich zur Stelle.
„Du hast mich gerufen?“ sagt er.
„Ja.“
„Erlaube“, sagt er, „gib dafür deine Seele!“
„Aber wie kann ich denn den Dienst verlassen,
von Wache weglaufen?“
„Ich werde für dich Wache stehen.“
Sie beschlossen, daß der Soldat ein Jahr in der
Heimat bleibt und der Teufel die ganze Zeit den
Dienst macht.
„Nun, runter das Zeug!“
Der Soldat warf alles ab, und ehe er sich’s ver-
sah, war er zu Hause.
Der Teufel aber steht auf Wache. Kommt der
General und sieht, daß alles an ihm nach Vor-
schrift ist, aber eines nicht: Die Riemen auf der
Brust sind nicht über Kreuz, sondern alle auf einer
Schulter.
„Was ist das?“
Der Teufel zieht hier und zupft dort, er kann sie
nicht anlegen. Einer gibt ihm einen Nasenstüber,
und dann setzt’s Prügel. Und sie prügelten den

519
Teufel jeden Tag. Sonst – in allem ein guter Sol-
dat, aber die Riemen immer auf einer Schulter.
„Was ist mit diesem Soldaten passiert?“ sagen
die Vorgesetzten. „Zu nichts mehr zu gebrauchen,
und früher war alles in Ordnung.“
Sie prügelten den Teufel das ganze Jahr. Das
Jahr war herum, der Soldat kommt den Teufel ab-
lösen. Der hat sogar die Seele vergessen: kaum
hatte er ihn gesehen, warf er alles von sich.
„Bleib mir vom Leibe“, sagt er, „mit eurem Sol-
datendienst! Wie haltet ihr das bloß aus?“
Und rannte davon.

520
50
Der Hexenmeister
In einem Zarenreich, in einem Staat lebte einmal
ein Matrose; er diente dem Zaren in Treue, führte
sich ordentlich, und deswegen kannten ihn auch
die Vorgesetzten. Einmal bat er um Landurlaub,
um ein wenig in der Stadt umherzugehen, zog
seine Matrosenbluse an und ging in ein Gasthaus;
setzte sich an den Tisch und verlangte Wein und
etwas zu essen; ißt, trinkt, und läßt sich’s gut
sein! Schon hat er für etwa zehn Rubel auffahren
lassen, aber er gibt noch immer keine Ruhe: bald
bestellt er das, bald etwas anderes.
„Hör mal, Matrose“, sagt der Kellner zu ihm,
„bestellen tust du viel, aber hast du auch genug
zum Bezahlen?“ – „Ach, Bruderherz! Am Geld
zweifelst du? Geld hab ich mehr als genug!“
Sogleich holte er ein Goldstück aus der Tasche,
warf’s auf den Tisch und sagt: „Hier, zahlen!“ Der
Kellner nahm das Goldstück, zog alles richtig ab
und bringt ihm den Rest zurück.
Aber der Matrose sagt zu ihm: „Nichts da zu-
rück, Bruderherz! Behalt’s als Trinkgeld!“
Am anderen Tag bat der Matrose wieder um Ur-
laub, kehrte im gleichen Gasthaus ein und verju-
belte noch ein Goldstück; am dritten Tag dassel-
be, und er kam von nun an fast jeden Tag,
bezahlte immer mit Goldstücken, nimmt aber

521
nichts zurück, sondern schenkt’s dem Kellner als
Trinkgeld. Da wurde der Gastwirt selber aufmerk-
sam auf ihn, und es kamen ihm Zweifel: „Was hat
das zu bedeuten? Ein lumpiger Matrose – nichts
Besonderes, aber mit dem Gelde wirft er um sich,
Donnerwetter! Eine ganze Schatulle voll Gold hat
er schon hergetragen!… Ihren Sold kenne ich,
keine Angst – damit kann man keine großen
Sprünge machen! Sicher hat er irgendwo die
Staatskasse bestohlen; man muß den Vorgesetz-
ten Meldung davon machen; will’s das Unglück,
gerät man noch in eine so böse Geschichte hinein,
daß man hinterher nicht mehr ein noch aus weiß
und womöglich noch nach Sibirien kommt.“ Also
erstattete der Gastwirt einem Offizier Meldung,
und der brachte es bis vor den General. Der Ge-
neral ließ den Matrosen zu sich kommen: „Gib’s
ehrlich zu“, sagt er, „wo hast du das Gold her?“ –
„Ha, von diesem Gold gibt’s in jeder Müllgrube
genug!“ – „Was erzählst du für Märchen?“ – „Kei-
ne, Euer Exzellenz! Nicht ich erzähle Märchen,
sondern der Gastwirt; soll er doch mal das Gold
zeigen, das er von mir bekommen hat!“
Sogleich wurde die Schatulle gebracht; sie ma-
chen sie auf, aber sie war mit lauter Knöpfen voll-
gestopft. „Wie denn das, mein Freund: Bezahlt
hast du mit Gold, und jetzt liegen Knöpfe drin?
Zeig, wie hast du das gemacht?“ – „Ach, Euer Ex-
zellenz! Seht dort, unser letztes Stündlein ist ge-
kommen…“ Sie sehen auf, da strömte durch Fen-
ster und Türen das Wasser nur so herein; immer
höher und höher, es reicht schon bis zum Hals.

522
„Herrgott! Was sollen wir jetzt tun? Wohin können
wir uns retten?“ fragt erschrocken der General.
Und der Matrose gibt zur Antwort: „Wenn Ihr
nicht ertrinken wollt. Euer Exzellenz, dann kriecht
mir in den Schornstein nach.“ Sie krochen also
hinein, kletterten bis aufs Dach, stehen da und
sehen nach allen Richtungen: die ganze Stadt un-
ter Wasser! Eine solche Überschwemmung, daß
an niedrigen Stellen überhaupt keine Häuser zu
sehen sind; und das Wasser steigt und steigt.
„Nun, mein Freund“, sagt der General, „da werden
wir beide wohl nicht heil davonkommen!“ – „Weiß
nicht; was sein soll, wird sein!“ – „Mein letztes
Stündlein ist gekommen!“ denkt der General,
steht da, ist gar nicht mehr er selbst und betet zu
Gott.
Auf einmal kommt irgendwoher eine Jolle vor-
beigeschwommen, verfängt sich am Dach und
bleibt an eben der Stelle stehen. „Euer Exzellenz“,
sagt der Matrose, „steigt schnell in die Jolle, wir
wollen abfahren; kann sein, wir kommen davon,
vielleicht fällt das Wasser.“ Sie setzten sich beide
in die Jolle, und der Wind trieb sie über das Was-
ser hin; sie treiben einen Tag, treiben einen zwei-
ten, und am dritten begann das Wasser zu fallen,
und zwar so schnell – wohin war es nur geraten?
Ringsum wurde es trocken; sie stiegen aus der
Jolle und fragten gute Menschen: Wie heißt das
Land, und hat es sie weit getrieben? Es hatte sie
aber durch dreimal neun Länder getrieben, ins
dreimal zehnte Zarenreich; ein ganz fremdes,
unbekanntes Volk. Was nun tun, wie wieder in die

523
Heimat kommen? Geld haben sie keinen Groschen
bei sich, nichts, um sich fortzuhelfen. Der Matrose
sagt: „Wir müssen uns als Knechte verdingen und
etwas Geld zusammenkratzen; ohne das ist an
eine Heimkehr nicht einmal zu denken.“ – „Das ist
gut für dich, mein Freund! Du bist seit je an Arbeit
gewöhnt, aber ich? Du weißt doch, daß ich Gene-
ral bin, zu arbeiten verstehe ich nicht.“ – „Macht
nichts, ich werde eine Arbeit finden, bei der man
nichts zu verstehen braucht.“
Sie machten sich auf ins Dorf und boten sich als
Hirten an, – die Gemeinde war einverstanden und
stellte sie für einen ganzen Sommer ein; der Ma-
trose ging als Oberhirt, der General als Hirtenjun-
ge. So hüteten sie immerhin bis zum Herbst das
Vieh des Dorfes; danach sammelten sie von den
Bauern ihr Geld ein und begannen zu teilen. Der
Matrose teilte das Geld in zwei gleiche Hälften:
wieviel für sich, soviel auch für den General. Wie
der General sieht, daß der Matrose ihn sich gleich-
stellt, war er gekränkt und sagt: „Was stellst du
mich denn dir gleich? Ich bin doch General, und
du – immerhin nur einfacher Matrose!“ – „Sieh
mal an! Ich müßte drei Teile machen: zwei mir
nehmen, und für Euch ist einer genug: denn ich
war ein richtiger Hirte, Ihr aber – der Hirten-
junge.“ Der General wurde böse und fing an, den
Matrosen auf jede erdenkliche Weise zu be-
schimpfen; der Matrose aber hielt an sich und
nochmal an sich, dann holte er aus und stieß ihm
die Faust in die Seite: „Kommt zu Euch, Euer Ex-
zellenz!“ Der General kam zu sich und sieht: alles

524
ist wie vorher; wie er in seinem Zimmer gewesen
war, so hatte er es auch nicht verlassen! Er spürte
kein Verlangen mehr, den Matrosen zu richten,
entließ ihn, und der Gastwirt stand mit leeren
Händen da.

525
51
Der Soldat im Jenseits
In vergangenen Zeiten nämlich dienten die Solda-
ten fünfundzwanzig Jahre. Es ging einer als Jun-
ger fort und kam erst als Alter wieder. Nun, wie
man so sagt, in fünfundzwanzig Jahren hat der
Soldat mancherlei gelernt und nicht wenig hinter
sich gebracht. Und nun kommt also für ihn die
Zeit, nach Hause zu gehen. Da sagt der Offizier
zum Soldaten:
„Du hast dem Zaren treu gedient“, sagt er,
„und jetzt ist die Zeit herum, und es ist Befehl,
dich nach Hause zu entlassen. Der Kaiser gibt dir
einen leeren Brotbeutel und fünfundzwanzig Ko-
peken Reisegeld.“
Der Soldat denkt bei sich: „Nun, da habe ich al-
so in fünfundzwanzig Jahren fünfundzwanzig Ko-
peken und einen leeren Brotbeutel verdient. Was
werde ich nun unterwegs anfangen? Ich werde
um Gotteslohn betteln müssen.“ Nun, als der Sol-
dat seine Papiere schon bekommen hatte, die
fünfundzwanzig Kopeken und einen alten, uralten
Brotbeutel, nur noch zum Wegwerfen, nun, auch
das ist ein Verdienst, hing er ihn kurzerhand um,
legte zweimal Wäsche in seinen Tornister und
machte sich auf den Weg. Er geht einen Tag, geht
zwei, geht drei – da ist er mit allem am Ende und
hat auch das Geld ausgegeben. Was ist das schon

526
für Geld? Er hat Tabak gekauft, Seife, und damit
Schluß. „Was soll ich jetzt anfangen?“ denkt er.
„Bis nach Hause ist es noch weit.“ Früher gab es
keine Züge und auch keine Autos – nichts. Nun,
er mußte also zu Fuß gehen, zu Fuß aber sind es
mindestens an die sechs Monate bis nach Hause.
Der Soldat dachte nach und dachte nach und
denkt: „Ein lebender Mensch geht nicht unter, ich
werde schön langsam gehen.“ Hier und da erbet-
telt er einen Bissen, geht eine Woche, geht eine
zweite, gelangt so in ein Dorf und kommt in eine
Hütte. Dort ist ein alter Mann und eine alte Frau.
Er sagt:
„Großväterchen“, sagt er, „laß mich bitte über-
nachten!“
„Och“, sagt er, „bitte, bitte, mein Bester, über-
nachte!“
Der Soldat nahm den Brotbeutel und den leeren
Tornister ab. – Und nun setzte er sich also hin,
um sich mit dem Alten und der Alten zu unterhal-
ten, sie aßen zu Abend, und er legte sich auf den
Hängeboden schlafen. Der Alte aber wurde in der
Nacht munter, und es kam ihm in den Sinn, ein-
mal nachzusehen, was der Soldat in Brotbeutel
und Tornister hat. Er macht den Tornister auf,
sieht hinein – leer. „Hm“, denkt er, „was ißt er
denn?“ Er begann den leeren Brotbeutel zu öff-
nen. Und kaum hatte er ihn offen, da sprang
plötzlich ein Teufelchen heraus.
„Was mußt du mich behelligen, Alter?“ sagt es.
„Mich“, sagt es, „behelligt mein Herr nicht, wievie-
le Tage und wieviele Wochen er schon unterwegs

527
ist, und du“, sagt er, „hergelaufener Kerl, behel-
ligst mich!“
Nun, unser Alter machte den Brotbeutel wieder
zu, legte sich schlafen und spricht ein Gebet.
„Nein so was“, sagt er, „Herrgott, der Soldat hat
mit dem Teufel Umgang.“
Nun, am Morgen also wird der Soldat munter,
steht auf, wäscht sich, geht, wie er’s gewöhnt ist,
zum Heiligenbild und betet zu Gott. Der Alte sieht,
daß der Soldat nach Christenart sein Morgengebet
spricht. Er fragt den Soldaten:
„Soldat?“
„Was, Großväterchen?“
„Was hast du in dem Brotbeutel?“
„Nichts“, sagt er, „Großväterchen. Der Brotbeu-
tel ist leer.“
„Ach, du lügst, Soldat, in deinem Brotbeutel ist
der Teufel.“
Da erriet der Soldat, was los war.
„Nun“, sagt er, „das hat dir nur geträumt.“
„Ich weiß nicht“, sagt er, „aber ich habe den
Teufel genau gesehen.“
Da hatte die Alte Pfannkuchen gebacken und
setzte den Soldaten an den Tisch.
Er aß, warf Tornister und Brotbeutel über und
machte sich auf den Weg. Nun, er war etwas ge-
gangen, da überraschte ihn die Nacht. Er versuch-
te nicht erst, ein Dorf zu erreichen, sondern blieb
über Nacht im Wald. Als er über Nacht im Wald
war, kam ihm in den Sinn, den Brotbeutel zu öff-
nen und sich zu überzeugen, ob es mit dieser Ge-
schichte seine Richtigkeit hatte oder nicht. Als er

528
den Brotbeutel geöffnet hatte, sprang das Teufel-
chen heraus und sagt:
„Nun höre, Soldat, du bist mein Herr, und ich
bin dein Diener. Was möchtest du jetzt haben?“
Der Soldat sagt:
„Bring mir irgend etwas zu essen!“
Das Teufelchen schoß sogleich wie eine Kugel
ins Dorf, beschaffte ihm Brot, beschaffte Fleisch,
einen Topf, einen Löffel und alles, was sonst noch
dazugehört. Der Soldat machte schnell ein Feuer
und beginnt das Fleisch zu kochen. Als das Fleisch
gekocht war, sagt er:
„Nun, Teufelchen, komm, setz dich und iß!“
Das Teufelchen setzte sich, und die beiden
aßen. Der Soldat machte den Brotbeutel zu, und
das Teufelchen legte sich hinein. Jetzt, in aller
Herrgottsfrühe, macht der Soldat den Brotbeutel
auf, und das Teufelchen kam herausgesprungen.
„Was steht zu Diensten, Soldat?“
„Höre, Teufelchen“, sagt er, „ich habe mich
müde gelaufen, ich brauche ein Pferd.“
„Schön“, sagt es, „das Pferd wird sofort da
sein.“
Er ging zum Pfarrer, stahl ein Pferd mit Sattel
und bringt’s zum Soldaten: „Steig auf, Soldat!“
Der Soldat stieg auf, umritt auf einem anderen
Wege dieses Dorf und reitet gemächlich seine
Straße. Ritten sie nun lange oder kurze Zeit, je-
denfalls machten sie schließlich halt, und er sagt
zum Teufelchen:
„Teufelchen, Teufelchen, ich hätte Lust, in jener
Welt zu sein und ins Paradies zu kommen.“

529
Als das Teufelchen diese Worte hörte:
„Nun, warum nicht“, sagt es, „wenn du Lust
hast, wirst du gleich dort sein. Setz dich auf
mich!“ sagt es.
Der Soldat setzte sich auf den Teufel, der Teufel
stieg zum Himmel empor und sagt:
„Dort“, sagt er, „geh zu diesem Tor, dort steht
der Erzengel, sag ihm, daß deine Seele ins Para-
dies will.“
Nun, er kommt also ans Tor, da steht der Erz-
engel. Der Soldat sagt:
„Höre, Erzengel, meine Seele will ins Paradies!“
Das Tor wurde natürlich aufgemacht, und der
Soldat betritt das Paradies.
Sieht, dort ist es sehr schön, einfach großartig
– Blumen, verschiedene Früchte. Nun, fürs erste
gefiel es dem Soldaten. Wie schön ist es doch im
Paradies! Als er sich aber zwei, drei Tage dort
aufgehalten hatte, war es ihm dort so zuwider,
daß er dieses Paradies schon nicht einmal mehr
ansehen mochte. Er setzte sich also auf eine Bank
und denkt: ja, lustig und schön ist’s hier, aber ei-
nes ist schlecht – keine Wirtshäuser sind hier und
kein Tabak. Er dachte nach und dachte nach und
sagt: „Warte!“ Nimmt seine Schnüre ab und be-
ginnt den Platz zu vermessen. Da kommt der En-
gel zu ihm:
„Was willst du machen, Soldat?“ sagt er.
„Ach“, sagt er, „in eurem Reich ist es zwar sehr
schön und lustig, aber“, sagt er, „ich möchte noch
etwas Lustigkeit hinzufügen: an dieser Stelle will

530
ich Tabak säen, und an dieser Stelle ein Wirtshaus
bauen.“
„Oh, Soldat, wenn das der Herrgott hört, jagt er
dich aus dem Paradies.“
Nun, der Soldat ließ sich natürlich nicht beirren
und begann Bäume zu fällen; er versteht zu bau-
en.
Der Erzengel hatte ihn eingelassen und muß
dem Herrgott darüber Meldung machen. Er geht
also und sagt:
„Herr“, sagt er, „ich habe einen Soldaten ins
Paradies aufgenommen, und dem“, sagt er, „hat
es wahrscheinlich nicht gefallen in unserem Para-
dies, er hat angefangen, ein Wirtshaus zu bauen,
und hat Tabak gesät.“
Gott wurde natürlich böse. „Hinaus mit ihm aus
dem Paradies“, sagt er, „und das Tor verschlie-
ßen!“ Der Soldat ging auf der Stelle aus dem Pa-
radies. Jetzt, da er das Paradies verlassen hat und
sich – ich weiß nicht wo – befindet, denkt er:
warum ist’s mir im Paradies nicht gut genug ge-
wesen, wohin soll ich jetzt gehen!? Da ist schon
das Teufelchen mit seinem Tornister zur Stelle,
setzt ihn wieder auf und sagt:
„Nun, Soldat, so in Gedanken?“
Jetzt, nachdem das Teufelchen ihm den Torni-
ster wieder aufgesetzt hat, sagt es zu ihm:
„Willst du vielleicht in die Hölle, Soldat?“
Der Soldat erschrak zwar vor der Hölle, aber
immerhin ist es doch interessant, sich auch die
Hölle mal anzusehen. „Ich will“, sagt er. „Nun,
dann komm mit!“

531
Nun, als sie am Höllentor waren, stürzte das
Teufelchen zum Satan:
„Herr“, sagt er, „Satan, ich habe einen Soldaten
in die Hölle gebracht!“
„Nun“, sagt der, „bring ihn mir mal her!“
Nun, der Soldat wurde gebracht. Satan besah
ihn sich von allen Seiten.
„Na schön, führ ihn hinein!“
Das Teufelchen führt ihn in die Hölle. Der Sol-
dat geht und sieht: manche sind an der Zunge
aufgehangen, andere kochen in einem Kessel.
Dem Soldaten wurde ängstlich zumute: och,
denkt er, wenn ich nur nicht auf einem heißen
Brattiegel tanzen muß.
Nun, schön. Er sagt zu dem Teufelchen:
„Nun, hör mal. Teufelchen, ruf sofort alle Teufel
zusammen!“
Alle Teufel sind jetzt versammelt. Der Soldat
sagt also zu den Teufeln:
„Nun“, sagt er, „seid ihr meine Untergebenen,
und ich bin euer Vorgesetzter.“
Er stellte alle Teufel in Reih und Glied auf und
sagt:
„Ich werde euch jetzt Kommandos geben, und
ihr führt sie aus.“
Die Teufel waren hiermit einverstanden. Da
kommandierte er:
„Rechts – um!“
Sie drehen sich nicht nach rechts um. Der Sol-
dat ergriff einen Knüppel und begann, sie mit die-
sem Knüppel zu bearbeiten.

532
„Was fällt euch ein“, sagt er, „das Wort des
Kommandeurs nicht zu beachten und dem Kom-
mando nicht zu gehorchen!“
Die Teufel heulten auf. Das Teufelchen kam zu
ihm gesprungen:
„Höre“, sagt es, „Soldat, hör auf, sie zu schla-
gen, sie werden sich nicht nach rechts drehen, sie
können es gar nicht; gib ihnen das Kommando
,Linksum!’“
Er gab ihnen das Kommando „Links – um!“ Sie
drehten sich, er kommandierte: „Im Gleichschritt
Marsch!“ und begann sie zu jagen. Jagte und jag-
te sie also; sie waren schon so matt, daß sie den
Soldaten zu betteln begannen:
„Soldat, entlaß uns, wir sind sehr müde!“
„Nun, schön“, sagt er, „geht und ruht euch bis
morgen früh aus!“
Jetzt brachte der Soldat noch einige Tage in
dieser Hölle zu, sah sich alles an und überlegte,
wie er die Menschen von solcher Qual befreien
könnte. Da begann er, die Teufel jeden Tag zu
jagen. Und dann sagt er zu ihnen:
„Nun, wie steht’s, gefällt euch das?“
„Ach, Soldat, wir haben das alles über.“
„Dann will ich euch mal was sagen.“
„Sprich!“
„Und ihr werdet’s ausführen?“
„Ja, nur jag uns nicht mehr!“
„Geht also zum Satan und sagt, der Soldat bit-
tet den Satan, alle Sünder aus der Hölle freizulas-
sen. Dann werde ich euch nicht mehr jagen. Wenn
er aber“, sagt er, „das nicht ausführt, dann“, sagt

533
er, „werde ich eure Gegend, die ganze Hölle, auf
der Stelle weihen“, sagt er, „und hier eine Kirche
bauen.“
Sprach’s und schickte die Teufel fort.
Die Teufel rennen einer schneller als der andere
zum Satan. Kommen hin und sagen:
„Oj, Satan, Satan“, sagen sie, „was für ein Sol-
dat ist zu uns geraten, niemandem“, sagen sie,
„gönnt er Ruhe. Wir sind gekommen“, sagen sie,
„dich zu bitten, alle Sünder aus der Hölle freizu-
lassen.“
Der Satan sagt:
„Das“, sagt er, „kann ich nicht machen, wer
bleibt denn dann noch bei uns?“
Da sagen die Teufel zu ihm:
„Dann will er“, sagen sie, „unsere Hölle weihen
und eine Kirche bauen.“
Der Satan, versteht sich, erschrak.
„Schön“, sagt er, „mag er alle seine Leute mit-
nehmen und von hier fortführen.“
Als der Soldat also diese Anweisung erhalten
hatte, machte er das Höllentor auf und beginnt zu
rufen:
„Das ganze sündige Volk, ‘raustreten aus der
Hölle!“
Nun, das gab ein Gedränge, einer stößt den an-
deren, und sie freuten sich, daß man sie aus der
Hölle entließ. Alle bis auf den letzten Mann gingen
aus der Hölle. Die Hölle war leer geworden. Nun,
jetzt hatte der Soldat die Hölle verlassen und hat-
te das Paradies verlassen. Was sollte er jetzt tun?
Er setzte sich hin und überlegte: wie kann ich auf

534
die Erde und nach Hause kommen? Er überlegte
und überlegte und ging dann zum Satan.
„Satan“, sagt er, „wie könnte ich wohl auf die
Erde kommen, – ich möchte“, sagt er, „gern mal
nach Hause.“
Der Satan sagt zu ihm:
„Du hast mir“, sagt er, „keinen einzigen Men-
schen in der Hölle gelassen. Gib mir wenigstens
ein paar“, sagt er, „dann schicke ich dich auf die
Erde.“
Der Soldat überlegte: jeder einzelne tut ihm
leid, jeder einzelne ist ihm teuer. Jetzt setzte er
sich hin und denkt nach. Da sieht er auf einmal
einen Mönch kommen, und hinter ihm kommt ein
Pope. „Das freilich“, sagt er, „sind überflüssige
Menschen!“ Er stellte alle in Reih und Glied auf
und schickte sie in die Hölle. Der Satan freute sich
auch hierüber, sandte das Teufelchen zu ihm, und
das schickte ihn auf die Erde und nach Hause. Der
Soldat lebte von nun an herrlich und in Freuden.
Die Popen und Mönche nämlich konnte er nicht
leiden.

535
52
Der Schmied und der Teufel
Wenn ein Schmied an den Frischfeuern arbeitete,
sich vierzehn Stunden lang abgeschunden und am
Feuer gestanden hatte und ganz mit schwarzem
Ruß beschmiert war, sah er wirklich dem Teufel
ähnlich.
Nun, und was wollte ein Schmied danach an-
fangen, wohin konnte man gehen außer ins Wirts-
haus? Und wer trank schon nicht? Damals trank
jeder.
Kam der Schmied ins Wirtshaus, betrank er sich
auf Kredit und fing an zu krakeelen.
Dann packte ihn der Wirt am Kragen und setzte
ihn auf die Straße:
„Geh, dreckiger Teufel!“ Und er kreidete ihm
einen halben Rubel zuviel an.
Der Schmied ging nach Hause. Elend war ihm
zumute, und er zog, wie es ihm gerade einfiel,
über die Aufseher, den Fabrikherrn, das Wirts-
haus, alle Teufel, nun, mit einem Wort: über alle
her, die ihm das Blut aus den Adern sogen.
Es hat viele „Geschichtchen“ über dieses Leben
gegeben. Erzählen durfte man sie ja nicht: woll-
te’s das Unglück, dann hörte es irgendein Schwei-
nehund und hinterbrachte es dem Aufseher. Dann
konnte man sehen, wie man die Sache wieder in
Ordnung brachte.

536
An eine erinnre ich mich vielleicht noch so eini-
germaßen, habe nur dieses oder jenes Wort ver-
gessen.
Einmal hatten sie einen Schmied aus dem
Wirtshaus geworfen. „Geh, Teufel, Leuteschreck!“
Der Schmied ging die Straße entlang, geht und
denkt bei sich: „Der Teufel bin ich zwar nicht, wä-
re aber mit größtem Vergnügen bereit, der Teufel
zu sein und in der Hölle zu leben. Soll doch der
Teufel mal an meiner Stelle leben und erfahren,
wie es uns geht.“
Der Teufel aber ist bekanntlich der Teufel. Du
sprichst von ihm, und er ist gleich zur Stelle. Er
hörte, wie der Schmied den Teufel im Munde führ-
te, und denkt: „Warte, mein Freund, du kennst
anscheinend mein Leben nicht; ich werde dich mal
in die Hölle führen, du wirst daran denken!“
Der Teufel kommt zum Schmied und sagt:
„Sei gegrüßt, Schmied, ich habe dich schon
lange mal besuchen wollen!“
„Wer bist du denn?“ fragt der Schmied.
Der Teufel ringelte seinen Schwanz, zwinkerte
mit dem Auge und sagt:
„Erkennst mich nicht, was? Du wolltest doch
mit mir tauschen. Ich bin der Teufel in eigener
Person.“
Auf den Schmied machte das keinen Eindruck –
der Teufel, dann eben der Teufel. Der Schmied
liebte es nicht, lange Reden zu halten, und sagt:
„Los, tauschen wir: ich gehe zu dir, das heißt in
die Hölle, und du zu mir – an die Frischfeuer. Bei
dir ist’s besser!“

537
Der Teufel sagt:.
„Du warst noch nicht in der Hölle, hast den Tod
noch nicht kennengelernt, deswegen sprichst du
so.“
Mit einem Wort, der Teufel beharrte auf seinem
Standpunkt, der Schmied auf seinem.
Da wurde der Teufel böse auf den Schmied we-
gen seiner Querköpfigkeit und zerrte ihn in die
Hölle: ihm die Gefolterten und die Sünder zu zei-
gen, die in den Pechkesseln sieden.
Sie kamen in die Hölle, und der Teufel führte
den Schmied durch die Feuerhölle, zeigt ihm alles
und denkt, daß der Schmied sich entsetzt und
umkehrt; der Schmied aber bleibt völlig gelassen
und fühlt sich wie zu Hause. „Für manchen die
Hölle, für mich ein Paradies“, sagt er. Sie gingen
und gingen, und der Teufel fragt den Schmied:
„Nun, wie ist’s… schrecklich? Siehst du die Sün-
der, wie sie leben – in Pechkesseln sieden?“
Da wurde der Schmied böse und sagt zum Teu-
fel:
„Mach’s mit deiner Mutter“, das heißt mit der
Teufelsmutter, „und erzähle mir keine Märchen.
Komm mit, ich will dir eine Hölle zeigen. Etwas
Reelles, während wir hier nur die Zeit vergeuden,
und es kommt nichts heraus dabei.“
Der Schmied schleppte den Teufel zu den
Frischfeuern. Sie kommen also hin. Gehen durch
die Herdhalle, in der ist aber schwarze Nacht vor
Staub und Ruß: hundert Frischfeuer brennen;
vierhundert Hämmer dröhnen. Die Arbeiter gehen

538
umher, haben Gesichter, wie nicht anders zu er-
warten – keine Haut auf dem Gesicht.
Der Schmied geht voran, der Teufel hinterher.
Da begannen sie gerade, die Frischstücke einzu-
bringen und dem Meister auf der Schaufel zu rei-
chen. Die Funken sprühten aus den Augen, der
Teufel kriegt schon keine Luft mehr.
Da geschieht vollends ein Unglück: der Fabrik-
herr hatte den Schmied gesehen und schrie:
„Was spazierst du untätig herum, du Teufel, ich
werde dir die Fresse einschlagen!“
Der Teufel erschrak und fragt den Schmied:
„Was macht der hier, he?“
„Die Fressen will er allen einschlagen, und dir
wird er sie auch einschlagen“, sagte der Schmied
und wollte dabei einen Blick auf den Teufel wer-
fen. Kaum hatte er über die Schulter geschielt, da
machte der Teufel schon kehrt, um zu verschwin-
den.
Da sagt der Schmied zum Teufel:
„Wohin willst du, Teufel, das ist noch nicht alles
– du solltest dir wenigstens einmal ansehen, wie’s
der Fabrikherr uns heimzahlen wird. Lerne“, sagt
er, „wie man mit den Sündern in der Hölle umge-
hen muß!“
„Nein“, sagt der Teufel, schlug mit seinem
Schwanz einen Kreis und war nicht mehr zu se-
hen.
Der Schmied aber dachte noch lange daran, wie
er den Teufel zu den Frischherden geführt hatte,
und schwor sich, mit Teufeln kein Wort mehr zu
wechseln.

539
53
Vom Hammerschmied und dem Teufel
In Bilimbai in der Fabrik hat der Mann gearbeitet,
von dem ich erzählen will. Sah man ihn an – ein
ganz gewöhnlicher Mensch, aber er war der beste
Meister. Wo war er nicht überall gewesen: am
Hochofen hatte er gearbeitet, am Frischeisen-
hammer hatte er gestanden. Besser als er konnte
keiner das Frischeisen packen; und was ganz selt-
sam war – er hatte dauernd mit Feuer zu tun,
aber im Gesicht hatte er auch nicht einen einzigen
Fleck.
Kein Zweifel, er verkehrte mit dem Teufel. So
sagten die Leute.
Dann ging er weg von der Fabrik – wurde ent-
lassen. Wieder eine unklare Sache. Er war ein
Mann in vollem Saft, unverbraucht, aber er wurde
entlassen. Wieder eine unsaubere Sache. Und was
denkt ihr? Er befaßte sich mit der Goldsucherei,
fand eine reiche Stelle, wo – das sagte er nicht.
Kehrte zurück und ging wieder auf Arbeit. Baute
sich ein Häuschen – ein schönes, von zwei Stock-
werken. Mit seiner Frau lebte er einträchtig, gut
lebte er. Einen Sohn hatte er, der arbeitete als
Schmied in der Fabrik. So ein Kräftiger, Lustiger.
Bei Prügeleien der erste. Den Vater liebten die Ar-
beiter nicht, hinter dem Sohn aber standen sie;
wenn nötig, deckten sie ihn sogar gegenüber den

540
Vorgesetzten. Der Sohn war nicht abgeneigt, eine
halbe Flasche oder ein Achtel auszutrinken, der
Vater aber – um nichts in der Welt ging er auch
nur in ein Wirtshaus. Und daß er einmal den Teu-
fel erwähnt hätte – Gott behüte! Ein komischer
Kerl. Sagte ihm einer: „Mach’s mit des Teufels
Mutter“, antwortete er: „Das würde ich gern, aber
sie läßt mich nicht zu sich. Sie ist eine hochgebo-
rene Frau.“
Er war schon hoch in den Jahren, da stellten sie
den Alten an den Wasserhammer. Die Leute wur-
den aufmerksam. Am Feiertag deckte er das Rad
zu, aber der Hammer geht von selber. Verständ-
lich, „Er“ arbeitete für ihn. So kam es auch her-
aus.
Der Alte hatte in seinem neuen Hause, das er
von seiner Goldsucherei gebaut hatte, einen Teu-
fel an die Wand gemalt, einen ganz richtigen:
kleine Hörner, Hufe an den Füßen und ein
Schwänzchen – alles wie es sich gehört. Und je-
den Tag, wenn der Meister auf Arbeit ging, holte
er sein ganzes Werkzeug zusammen und vergaß
nicht – trat vor den Teufel, vor den, der an der
Wand war, verneigte sich und schwang den
Hammer. So ging das die ganze Zeit.
Als der Alte völlig von Kräften gekommen war,
ruft er seinen Sohn und sagte zu ihm:
„Es ist wohl jetzt die Zeit zu sterben für mich
gekommen – so höre, mein lieber Sohn; viel zu
sagen habe ich dir nicht, eines nur bitte ich dich:
Wenn ich gestorben bin, vergiß nicht das Väter-
chen Teufel; ehe du auf Arbeit gehst, verneige

541
dich vor ihm und schwinge den Hammer. Ohne
das wirst du im Leben kein Glück haben.“
Der Sohn sieht – der Alte ist schon im Hinschei-
den. Er wollte dem Alten Achtung erweisen und
versprach ihm, den Teufel nicht zu vergessen.
Damit starb der Alte.
Seit jener Zeit, wenn der Sohn dieses Meisters
auf Arbeit ging, nahm er sein Werkzeug zusam-
men, ging an dem Teufel vorbei, gab ihm eins mit
dem Hammer in die Fratze und ging. So wurde
jene Stelle an der Wand mit jedem Mal mehr ab-
geschlagen. Eines Tages hatte er dem Teufel an
der Wand eins mit dem Hammer versetzt, da war
an der Stelle ein Loch in der Mauer – an der Stelle
des Portraits. Aus dem Loch kam der Teufel her-
aus.
„So und so“, sagt er, „weswegen peinigst du
mich so? Erweist mir keine Achtung? Ich werde
dir dafür kein Glück geben. Dein ganzes Leben
wirst du Not leiden!“ Der Meister aber lacht den
Teufel aus. „Nichts kannst du“, sagt er. „Das ist
alles leeres Gerede!“ Der Teufel sagt ihm seines;
er dem Teufel seines. So stritten sie. „Ehe du he-
rumstreitest“, sagt der Meister, „mach das, was
ich nicht machen kann, dann will ich dir glauben.
Siehst du dort die Alte mit dem Stock humpeln?
Mach, daß sie wie eine Junge rennt!“
Der Teufel ist gleich bereit. Er sammelt schnell
Kräuter, kocht eine Suppe, gibt sie der Alten zu
trinken und so weiter.

542
Die Alte trank’s aus, klatschte in die Hände,
warf den Stock beiseite und rannte los. Der Teufel
frohlockte:
„Nun, wie ist’s – glaubst du jetzt, daß ich alles
kann?“
Der Meister schüttelte den Kopf:
„Die hat von deiner Suppe das Laufen gekriegt.
So etwas bringe ich auch zustande. Ich will dir
etwas zu trinken geben, und du wirst rennen. Und
wenn du auch nicht willst. Aber mache jetzt, daß
unser Gastwirt mir Bücklinge machen kommt und
um ein Stück Brot bittet.“
Der Teufel hörte nicht zu Ende und rannte da-
von. Am Morgen, kaum daß der Meister auf die
Straße getreten war, sagen sie ihm, daß der
Gastwirt völlig zum Bettler geworden ist. „Alle
Habe, die er besaß, ist hin. Sie haben den Wirt
ratzekahl ausgeplündert. In seinem Wirtshaus ist
eine Prügelei angefangen worden, und sie haben
eine Suppe eingerührt, daß Gott behüte! Während
er hierhin und dorthin rannte und die Obrigkeit
zusammenrief, haben sie ihn so ausgeplündert,
daß nur die nackten Wände übrig geblieben sind.
Alles haben sie fortgetragen. Und wer – weiß man
nicht, haben sie nicht herausbekommen.“
Der Meister brach in Lachen aus und sagt zum
Teufel: „Mach mir keinen blauen Dunst vor, im
Prügeln bin ich auch Meister, und nicht der letzte,
und einen solchen Hundsfott auszuplündern finden
sich immer viele bereit. Ein solches Wunder kann
ich auch vollbringen und ohne den Teufel. Aber
bring es fertig, aus unserem Herrn“, dem Fabrik-

543
herrn nämlich, aus Bilimbai, „einen Menschen zu
machen – dann will ich dir glauben.“
Dem Teufel wurde etwas flau, er begann zu
winseln und rannte los. Lange machte er sich am
Herrenhaus zu schaffen, versuchte alle Teufels-
kunststückchen – ohne Erfolg. Er kam zu dem
Meister zurück und ließ den Schwanz hängen.
„Nein“, sagt er, „ich will tun, was du willst; aber
aus eurem Herrn einen Menschen machen kann
ich nicht.“
Und damit verschwand er.

544
54
Die Sorge
In einem kleinen Dorf lebten einmal zwei Bauern,
zwei leibliche Brüder; der eine war arm, der ande-
re reich. Der reiche zog in die Stadt, baute sich
ein großes Haus und wurde ein Kaufmann; der
arme aber hat bisweilen nicht einmal ein Stück
Brot, und seine Kinder – eines kleiner als das an-
dere – weinen und betteln um etwas zu essen. Es
geht ihm wie den Fischen unter der Eisdecke:
vom Morgen bis zum Abend plagt er sich nach
oben zu kommen, aber immer vergebens. Einmal
sagt er zu seiner Frau: „Ich will doch in die Stadt
gehen und den Bruder bitten, ob er uns nicht ein
wenig helfen will.“ Er kam zu dem Reichen: „Ach,
lieber Bruder! Hilf mir ein wenig in meiner Not:
Weib und Kinder sitzen ohne Brot und haben ta-
gelang nichts zu essen!“ – „Arbeite diese Woche
bei mir, dann will ich dir helfen.“ Was tun? Der
Arme machte sich an die Arbeit, fegt den Hof,
striegelt die Pferde, fährt Wasser und hackt Holz.
Nach einer Woche gibt ihm der Reiche einen Laib
Brot. „Hier, das ist für deine Arbeit!“ – „Auch da-
für Dank!“ sagte der Arme, verneigte sich und
wollte schon nach Hause gehen. „Warte noch! Be-
suche mich doch morgen mal und bring deine
Frau mit: morgen ist doch mein Namenstag.“ –
„Ach, Brüderchen, was soll ich da? Du weißt ja

545
selbst: zu dir kommen Kaufherren in Lederstiefeln
und Pelzen, ich aber gehe in Bastschuhen und ei-
nem schäbigen grauen Rock.“ – „Das macht
nichts, komm nur! Auch für dich wird Platz sein.“
– „Gut, Brüderchen, ich werde kommen!“
Der Arme kam nach Hause, gab seiner Frau den
Laib Brot und sagt: „Höre, Weib! Für morgen sind
wir beide eingeladen.“ – „Was heißt eingeladen?
Von wem?“ – „Von meinem Bruder. Er hat morgen
Namenstag.“ – „Warum nicht, gehen wir!“ Am
Morgen standen sie auf und gingen in die Stadt,
kamen zum Reichen, wünschten ihm Glück und
Gesundheit und setzten sich auf eine Bank. Am
Tisch saßen schon viele vornehme Gäste; der
Hausherr bewirtet sie aufs beste, seinen armen
Bruder aber und seine Frau hat er völlig verges-
sen – gibt ihnen nichts; sie sitzen da und sehen
nur zu, wie die anderen trinken und essen. Das
Mahl war zu Ende; die Gäste kamen hinter dem
Tisch hervor und bedankten sich beim Hausherrn
und der Hausfrau, und der Arme gleichfalls –
stand auf von seiner Bank und verneigt sich vor
dem Bruder bis zum Gürtel. Die Gäste machten
sich betrunken auf die Heimfahrt, sind lustig, lär-
men und singen Lieder. Der Arme aber geht mit
leerem Magen zurück. „Komm“, sagt er zu seiner
Frau, „auch wir wollen ein Lied singen!“ – „Ach du
Dummkopf! Die anderen singen, weil sie gut ge-
gessen und viel getrunken haben; und was hast
du für Grund zu singen?“ – „Nun, immerhin bin
ich bei meinem Bruder zum Namenstag gewesen;
ich schäme mich, ohne ein Lied nach Hause zu

546
gehen. Wenn ich singe, wird jeder denken, ich bin
auch bewirtet worden…“ – „Dann singe, wenn du
willst; ich tue nicht mit!“ Der Bauer stimmte ein
Lied an, da schien ihm, er hört zwei Stimmen. Er
hört auf und fragt seine Frau: „Hast du eben leise
mitgesungen?“ – „Was fällt dir ein? Nicht einmal
in Gedanken!“ – „Ja, wer denn dann?“ – „Ich weiß
nicht“, sagte die Frau. „Sing mal weiter, ich will
aufpassen!“ Er fing wieder zu singen an; singt al-
lein, und doch hört man zwei Stimmen; er blieb
stehen und fragt: „Bist du es, Sorge, die mit-
singt?“ Die Sorge ließ sich vernehmen: „Ja, Bau-
er! Ich bin es, die mitsingt.“ – „Nun, Sorge, dann
wollen wir zusammengehen!“ – „Gehen wir, Bau-
er! Ich weiche jetzt nicht mehr von dir.“
Der Bauer kam nach Hause, da ruft ihn die Sor-
ge ins Wirtshaus. Er sagt: „Ich habe kein Geld!“ –
„Ach du einfältiger Bauer! Wozu brauchst du denn
Geld? Sieh doch, du hast einen Schafspelz an, und
wozu ist der nütze? Bald ist Sommer, dann trägst
du ihn sowieso nicht mehr! Komm, wir gehen ins
Wirtshaus und lassen den Schafspelz dort…“ Bau-
er und Sorge gingen ins Wirtshaus und vertranken
den Schafspelz. Am anderen Tage jammerte die
Sorge, vom Rausch tut ihr der Kopf weh, und wie-
der ruft sie den Bauern zum Branntwein. „Kein
Geld“, sagt der Bauer. „Aber wozu brauchen wir
Geld? Nimm Schlitten und Wagen, das reicht für
uns!“ Es ist nichts zu machen, der Bauer kann die
Sorge nicht loswerden: er nahm Schlitten und
Wagen, zog sie zum Wirtshaus und vertrank sie
zusammen mit der Sorge. Am Morgen jammerte

547
die Sorge noch mehr und ruft den Bauern zu ei-
nem Katertrunk, der Bauer vertrank auch Egge
und Pflug. Noch war kein Monat vergangen, da
hatte er alles durchgebracht: sogar seine Hütte
hatte er dem Nachbarn verpfändet und das Geld
ins Wirtshaus getragen. Die Sorge macht sich
wieder an ihn heran: „Komm mit, komm mit ins
Wirtshaus!“ – „Nein, Sorge, mach was du willst,
aber ich habe nichts mehr, was ich forttragen
kann.“ – „Was heißt nichts? Deine Frau hat zwei
Sarafane: einen läßt du ihr, der andere aber muß
vertrunken sein!“ Der Bauer nahm den Sarafan,
vertrank ihn und denkt: „Jetzt ist gar nichts mehr
da. Weder Haus noch Hof, weder Schafspelz noch
Sarafan!“
Am Morgen wachte die Sorge auf, sieht, daß
beim Bauern nichts mehr zu holen ist, und sagt:
„Bauer!“ – „Was, Sorge?“ – „Hör zu: Geh zum
Nachbarn und bitte ihn um Ochsen und Wagen.“
Der Bauer ging zum Nachbarn und bittet: „Gib mir
für eine Weile ein Paar Ochsen und einen Wagen:
ich will dafür, wenn’s sein muß, eine ganze Woche
für dich arbeiten!“ – „Was willst du damit?“ – „In
den Wald nach Holz fahren!“ – „Dann nimm; aber
lade nicht zu schwer auf!“ – „Wie kannst du das
nur denken, mein Ernährer!“ Er brachte das
Ochsengespann an, setzte sich zusammen mit der
Sorge auf den Wagen und fuhr aufs freie Feld.
„Bauer“, fragt die Sorge, „kennst du auf diesem
Felde den großen Stein?“ – „Wie sollte ich ihn
nicht kennen!“ – „Wenn du ihn also kennst, dann
fahr geradewegs zu ihm!“ Sie kamen an die Stel-

548
le, hielten an und kletterten vom Wagen. Die Sor-
ge befiehlt dem Bauern, den Stein hochzuheben;
der Bauer hebt an, die Sorge faßt mit zu; jetzt
haben sie ihn oben, unter dem Stein aber ist eine
Grube ganz voll Gold. „Nun, was guckst du?“ sagt
die Sorge zum Bauern, „trag’s nur schnell auf den
Wagen!“
Der Bauer machte sich an die Arbeit und schüt-
tete das Gold auf den Wagen, auch den letzten
Dukaten holte er aus der Grube heraus; sieht, daß
nichts mehr darin ist, und sagt: „Sieh doch einmal
nach, Sorge, ist wirklich kein Geld mehr dringe-
blieben?“ Die Sorge beugte sich vor: „Wo? Ich
kann nichts sehen!“ – „Dort hinten in der Ecke
glänzt etwas!“ – „Nein, ich sehe nichts!“ – „Klette-
re in die Grube, dann wirst du’s sehen!“ Die Sorge
kletterte in die Grube; kaum war sie unten, da
wälzte der Bauer den Stein darauf. „So wird’s
besser sein!“ sagte der Bauer. „Nehme ich dich
mit, bittere Sorge, dann vertrinkst du, wenn auch
nicht so bald, sogar dieses Geld!“ Der Bauer kam
nach Hause, schüttete das Geld in den Keller,
brachte dem Nachbarn die Ochsen zurück und
überlegte, wie er sein Leben einrichten könnte; er
kaufte Holz, baute sich ein großes Haus und lebte
zweimal so reich wie sein Bruder.
War nun lange oder kurze Zeit vergangen, – je-
denfalls fuhr er in die Stadt, den Bruder mit seiner
Frau zum Namenstag einzuladen. „Da hast du was
Rechtes ausgedacht!“ sagte der reiche Bruder zu
ihm. „Hast selber nichts zu essen und willst noch
Namenstag feiern!“ – „Nun, es gab eine Zeit, da

549
hatte ich nichts zu essen, aber jetzt – Gott sei’s
gedankt! Ich habe nicht weniger als du; komm
nur und sieh selbst!“ – „Nun gut, ich komme!“ Am
andern Tag machte sich der reiche Bruder mit
seiner Frau auf den Weg und fuhr zum Na-
menstag; da sehen sie: der arme Habenichts hat
ein neues Haus, hoch, wie mancher Kaufmann es
nicht besitzt! Der Bauer lud sie an seinen Tisch,
bewirtete sie mit allen erdenklichen Leckerbissen
und gab ihnen alle erdenklichen süßen Schnäpse
und Weine zu trinken. Der Reiche fragt den Bru-
der: „Sag mir doch, wie bist du so reich gewor-
den?“ Der Bauer erzählte ihm treuherzig, wie sich
die bittere Sorge an ihn herangemacht und wie er
mit ihr all sein Hab und Gut bis auf den letzten
Rock im Wirtshaus vertrunken hatte: nur Leib und
Seele waren noch sein eigen; wie ihm die Sorge
schließlich den Schatz auf dem Felde gezeigt, wie
er diesen Schatz genommen hat und die Sorge
losgeworden war.
Der Reiche wurde neidisch: „Ich will doch aufs
freie Feld fahren“, denkt er, „den Stein hochheben
und die Sorge herauslassen – soll sie den Bruder
an den Bettelstab bringen, damit er sich nicht er-
dreistet, vor mir mit seinem Reichtum zu prah-
len.“ Er schickte seine Frau nach Hause und jagte
selbst aufs Feld; kam an den großen Stein, wälzte
ihn zur Seite und beugt sich vor, um nachzuse-
hen, was dort unter dem Stein ist. Er hatte den
Kopf noch nicht richtig vorgebeugt – da war die
Sorge schon herausgesprungen und saß ihm auf
dem Nacken: „Ah“, schreit sie, „du hast mich hier

550
umbringen wollen! Nein, jetzt weiche ich um
nichts in der Welt mehr von dir!“ – „Höre, Sorge!“
sagte der Kaufmann, „das war ja nicht ich, der
dich unter den Stein gesteckt hat…“ – „Und wer
denn, wenn nicht du?“ – „Mein Bruder hat dich
druntergesteckt, und ich bin gerade deswegen
hergekommen, um dich herauszulassen!“ – „Nein,
du lügst! Einmal hast du mich betrogen, ein zwei-
tesmal sollst du mich nicht betrügen!“ Die Sorge
setzte sich dem reichen Kaufmann fest auf den
Nacken; er brachte sie nach Hause, und in seiner
Wirtschaft ging nun alles drunter und drüber. Die
Sorge machte sich schon am frühen Morgen an ihr
Werk; jeden Tag ruft sie den Kaufmann zum Ka-
tertrunk; viel Hab und Gut ging den Weg ins
Wirtshaus. „Das ist ein kostspieliges Leben“,
denkt der Kaufmann bei sich, „mir scheint, die
Sorge hat sich genug mit mir vergnügt; es wäre
an der Zeit, sich von ihr zu trennen, aber wie?“
Er dachte nach und dachte nach und hatte ei-
nen Einfall: er ging auf den weiten Hof, schnitzte
zwei Eichenkeile zurecht, nahm ein neues Rad und
trieb von der einen Seite her einen Keil fest in die
Nabe hinein. Er kommt zur Sorge: „Warum liegst
du immer auf der faulen Haut, Sorge?“ – „Was
soll ich denn sonst anfangen?“ – „Was anfangen!
Komm mit auf den Hof, Blindekuh spielen!“ Der
Sorge war’s nur recht; sie gingen auf den Hof hin-
aus. Zuerst versteckte sich der Kaufmann – die
Sorge hatte ihn gleich gefunden; danach war die
Sorge an der Reihe, sich zu verstecken: „Nun“,
sagt sie, „mich wirst du nicht so bald finden. Ich

551
zwänge mich in jeden Spalt hinein!“ – „Was re-
dest du da!“ antwortet der Kaufmann. „Du kannst
nicht einmal in dieses Rad hineinkriechen, ge-
schweige denn in einen Spalt!“ – „Ich kann nicht
in das Rad hineinkriechen? Paß mal auf, wie ich
mich verstecke!“ Die Sorge kroch in das Rad; der
Kaufmann, nicht faul, trieb von der anderen Seite
her einen Eichenkeil in die Nabe, hob das Rad
empor und warf’s zusammen mit der Sorge in den
Fluß. Die Sorge ertrank, und der Kaufmann lebte
von da an wieder wie früher.

552
Heldenmärchen – Historische
Märchen – Abenteuermärchen

55
Nikita der Gerber
In der Nähe von Kiew war ein Drache aufge-
taucht, der nahm von den Leuten keinen geringen
Tribut: von jedem Hof ein schönes Mädchen;
nahm das Mädchen und fraß es. Die Reihe, zu die-
sem Drachen zu gehen, kam an die Tochter des
Zaren. Der Drache packte die Zarentochter und
schleppte sie zu sich in die Höhle, fraß sie aber
nicht: sie war sehr schön, so nahm er sie zur
Frau. Flog der Drache auf seine Beutezüge, dann
häufte er rings um die Zarentochter Baumstämme
auf, damit sie nicht fortginge. Diese Zarentochter
hatte ein Hündchen, das hatte schon zu Hause
sehr an ihr gehangen. Bisweilen schrieb die Za-
rentochter ein Briefchen an Vater und Mutter und
band es dem Hündchen an den Hals; und es rann-
te an den richtigen Ort und brachte sogar Antwort
wieder. Einmal nun schreiben Zar und Zarin an
die Zarentochter: Bring in Erfahrung: wer ist stär-
ker als der Drache? Die Zarentochter wurde
freundlicher zu ihrem Drachen und versuchte, von
ihm herauszubekommen, wer stärker ist als er. Er
sagte lange nichts, einmal aber versprach er sich,
daß in der Stadt Kiew ein Gerber wohnt – und der

553
ist stärker als er. Die Zarentochter hörte’s und
schrieb an ihren Vater: sucht in der Stadt Kiew
Nikita den Gerber und schickt ihn, mich aus der
Gefangenschaft zu erlösen.
Der Zar, nachdem er diese Nachricht erhalten
hatte, ließ Nikita den Gerber suchen und ging
dann selber, ihn zu bitten, er solle sein Land von
dem grimmigen Drachen befreien und die Zaren-
tochter erlösen. Nikita gerbte gerade Häute, zwölf
Häute hielt er in den Händen; wie er sah, daß der
Zar selber zu ihm gekommen war, begann er vor
Furcht zu zittern, die Hände begannen ihm zu
fliegen, – und er zerriß die zwölf Häute. Aber wie
sehr der Zar und die Zarin den Gerber auch ba-
ten, er zog nicht gegen den Drachen. Da kamen
sie auf den Einfall, fünftausend kleine Kinder zu-
sammenzuholen, und die ließen sie den Gerber
bitten; vielleicht würde er sich von ihren Tränen
rühren lassen! Die Kleinen kamen zu Nikita und
baten ihn unter Tränen, er solle gegen den Dra-
chen ziehen. Nikita brach selber in Tränen aus, als
er ihre Tränen sah. Er nahm dreihundert Pud
Hanf, tränkte ihn in Pech, wickelte sich ganz hin-
ein, damit der Drache ihn nicht fressen konnte,
und machte sich auf den Weg zu ihm.
Nikita kommt zur Drachenhöhle, aber der Dra-
che hat sich eingeschlossen und kommt nicht zu
ihm heraus. „Komm lieber heraus aufs freie Feld,
sonst schlage ich deine Höhle kurz und klein!“
sagte der Gerber und fing schon an, die Türen
einzuschlagen. Der Drache sah das unausweichli-
che Unglück und kam heraus zu ihm aufs freie

554
Feld. Kämpfte Nikita der Gerber nun lange oder
kurze Zeit mit dem Drachen, jedenfalls warf er
den Drachen zu Boden. Da begann der Drache Ni-
kita zu betteln: „Schlag mich nicht tot, Nikita!
Stärker als wir beide ist keiner auf der Welt; laß
uns die ganze Erde teilen, die ganze Welt in zwei
gleiche Teile: du sollst in der einen Hälfte leben
und ich in der anderen.“ – „Schön“, sagte der
Gerber, „wir müssen eine Grenze ziehen!“
Nikita machte einen Hakenpflug von dreihun-
dert Pud, spannte den Drachen davor und begann
von Kiew aus eine Grenzfurche zu pflügen; Nikita
zog die Furche von Kiew bis zum Kaustrichen
[Kaspischen?] Meer. „Nun“, sagte der Drache,
„jetzt haben wir die ganze Erde geteilt!“ – „Die
Erde haben wir geteilt“, sagte Nikita, „jetzt wollen
wir das Meer teilen, sonst sagst du noch, man
nimmt dein Wasser.“ Der Drache fuhr auf die Mit-
te des Meeres hinaus, Nikita der Gerber erschlug
ihn und versenkte ihn im Meer. Diese Furche ist
noch jetzt zu sehen; eine Höhe hat die Furche von
zwei Saschen. Um sie herum pflügen die Leute,
aber die Furche rühren sie nicht an; und die nicht
wissen, woher diese Furche stammt, nennen sie
Erdwall. Nikita der Gerber, nachdem er seine Hel-
dentat getan hatte, nahm für die Arbeit nichts und
ging wieder Leder gerben.

555
56
Die Mär von Ilja Muromez
Das war in der Stadt Muron, im Dorf Karatscha-
rowo. Da lebte einmal ein Bauer namens Iwan
Timofejewitsch mit seiner Gemahlin Jefrossinja
Jakowlewna. Sie hatten fünfzig Jahre miteinander
gelebt, aber Kinder hatten sie nicht.
Oft waren die Alten traurig, daß niemand da
war, im Alter für sie zu sorgen.
Endlich wurde ihnen ein Sohn geschenkt. Sie
gaben ihm den Namen Ilja.
Und sie leben nun mit ihrem Sohn Ilja, leben
und können sich gar nicht genug freuen.
Es verging ein Jahr, es verging ein zweites. Da
erlebten die Alten einen großen Kummer: der
Sohn müßte anfangen zu laufen, aber er sitzt da
wie ein Klotz. Seine Beine waren wie Stricke: die
Arme gebraucht er, aber die Beine kann er auf
keine Weise bewegen.
Es verging ein drittes Jahr, aber mit Ilja wurde
es nicht im geringsten besser. Die Beine sind wie
Stricke, bewegen sich überhaupt nicht.
Die Alten jammerten noch mehr: haben einen
Sohn, aber er ist zu nichts zu gebrauchen – sie
müssen für ihn sorgen.
Und Ilja lebte lange Zeit als ein solcher Klotz
und konnte kein Bein bewegen.

556
Dreißig Jahre hatte er so gelebt. Und da mußte
Iwan Timofejewitsch eines schönen Tages Stub-
ben roden, um Weizen säen zu können.
Die Alten gingen in die Wälder und ließen Ilja
allein im Hause zurück. Ilja war das schon ge-
wöhnt – dazusitzen und das Haus zu bewachen.
Es war ein sehr heißer Tag. Ilja sitzt schweiß-
gebadet da. Und auf einmal hört er – jemand ist
ans Fenster getreten und klopft ans Fenster.
Irgendwie reckte sich Ilja Muromez in die Höhe,
öffnete das Fenster und sieht – zwei Wanderer
stehen da, beide sehr alt.
Ilja betrachtete sie und sagt:
„Was wollt ihr, Wanderer?“
Und sie sagen:
„Gib uns doch etwas Hopfenbier zu trinken. Wir
wissen, du hast Hopfenbier im Keller. Und bring
uns eine Schale, anderthalb Eimer11 groß!“
Ilja gibt ihnen zur Antwort:
„Ich würde euch ja gern Hopfenbier bringen,
aber ich kann nicht laufen: meine Beine können
nicht gehen.“
Und sie sagen:
„Laß das, Ilja, uns zu belügen! Erst versuch’s,
und dann rede!“
Ilja bewegte das eine Bein – es läßt sich bewe-
gen. Er bewegte das andere – es läßt sich bewe-
gen. Er sprang von der Bank, ergriff eine Schale
von anderthalb Eimern und rannte, als hätte er

11
Eimer – Flüssigkeitsmaß, etwa 12 Liter. (Anm. d.
Übers.)

557
schon immer rennen können, in des Vaters tiefen
Keller. Ließ aus dem Faß die Schale vollaufen,
bringt sie den Greisen und sagt zu ihnen:
„Nehmt und laßt’s euch wohl bekommen, Wan-
derer. Ich freue mich sehr – ihr habt mich laufen
gelehrt.“
Und sie sagen:
„Komm, Ilja, trink zuerst selber.“
Ilja Muromez widersprach nicht, ergreift die
Schale von anderthalb Eimern und trinkt sie auf
der Stelle in einem Zug aus.
„Und jetzt, wackerer Held, Ilja Muromez, sage,
wieviel Kraft fühlst du in dir?“
„Ich fühle sehr viel Kraft in mir“, antwortet Ilja.
„Kraft genug!“
Die Greise beratschlagten miteinander und sa-
gen:
„Nein, es ist doch noch zu wenig Kraft. Geh, Il-
ja, und bring noch eine Schale!“
Ilja ergriff die Schale von anderthalb Eimern
und stürzte davon in seinen Keller. Ließ die zweite
Schale vollaufen und bringt sie den Greisen. Er
wollte sie ihnen reichen, da sagen sie:
„Nun, wackerer Held, trink selber!“
Ilja Muromez widersprach nicht, nimmt die
Schale und trinkt sie in einem Zug aus.
„Und nun, Ilja, kühner Recke, sage, fühlst du
viel Kraft in dir?“
Und er antwortet den Wanderern:
„Ach, viel Kraft fühle ich!“
„Und wie mißt du die Kraft?“

558
„Nun, wenn eine Säule am Himmel wäre, und
an dieser Säule wäre ein Ring – ich ergriffe diesen
Ring und würde das ganze russische Land um und
umkehren.“
Die Wanderer beratschlagten miteinander und
sagen:
„Ach nein, zuviel Kraft haben wir ihm gegeben.
Es könnte nichts schaden, etwas wegzunehmen.
Ilja! Lauf in den Keller, bring noch eine Schale von
anderthalb Eimern.“
Ilja widersprach nicht und lief sogleich in den
Keller. Als er die Schale brachte, sagen die Grei-
se:
„Nun, Ilja Muromez, trink zuerst selber.“
Ilja Muromez widerspricht nicht und trinkt die
Schale aus.
Als er ausgetrunken hatte, fragen die Wanderer
wieder:
„Nun, kühner Recke, sage, fühlst du viel Kraft
in dir?“
Da antwortet Ilja Muromez wie folgt:
„Ich fühle – meine Kraft hat um die Hälfte ab-
genommen.“
Da beratschlagten die Wanderer miteinander
und sagen:
„Das ist genug Kraft für dich, Ilja Muromez.“
Und sie schicken ihn nicht mehr nach Hopfen-
bier, sondern sprachen zu ihm wie folgt:
„Höre, wackerer Held, Ilja Muromez! Wir haben
dir Beine gegeben, wir haben dir Reckenkraft ge-
geben – nichts hindert dich, durchs russische
Land zu reiten. Aber merke dir: Kränke nicht die

559
Schutzlosen, sondern schlage den Dieb und Räu-
ber, und kämpfe nicht gegen das Geschlecht Mi-
kulow: die kühle Mutter Erde liebt es. Und kämpfe
auch nicht gegen Swjatogor den Recken: ihn trägt
die kühle Mutter Erde nur mit Mühe. Und jetzt,
Ilja Muromez, brauchst du ein Reckenpferd. Aber
das Reckenpferd mußt du dir selbst heranziehen,
weil die Pferde dich nicht ertragen.“
„Und wo kann ich ein solches Pferd bekommen,
das mich erträgt?“ sagt Ilja Muromez.
„Wir werden’s dich gleich lehren. An eurem
Haus wird eines schönen Tages ein Bauer ein
grindiges, jämmerliches Füllen am Halfter vorbei-
führen, um es zu erschlagen. Du aber laß es nicht
aus den Augen und erbitte von dem Bauern dieses
Füllen, stell’s in den Stall und füttre’s mit Weizen.
Und führe es jeden Morgen hinaus in den Tau –
soll es sich im Tau wälzen. Und wenn es drei Jah-
re alt ist, dann führ’s hinaus aufs Feld und lehre
es, über große Gräben und über hohe Zäune
springen!“
Ilja Muromez hörte das alles aufmerksam an
und wollte sich kein einziges Wort entgehen las-
sen.
„Nun“, sagen die Wanderer, „was wir wußten,
haben wir alles gesagt. Denke daran, die Schutz-
losen sollst du nicht kränken, den Dieb und Räu-
ber nicht laufen lassen. Und denke daran, dir ist
vom Schicksal beschieden – getötet kannst du
nicht werden. Du wirst eines natürlichen Todes
sterben.“

560
Ilja Muromez dankte ihnen, lud sie ein, etwas
zu essen, doch sie schlugen alles ab und gingen
fort.
Er blieb mutterseelenallein zurück und wollte
nach Vater und Mutter sehen, ihnen bei der Arbeit
helfen. Er kommt zum Vater, aber dort sind nach
der schweren Arbeit alle eingeschlafen. Er wollte
sein Beil versuchen und begann Holz zu schlagen.
Jedesmal, wenn er mit dem Beil zugeschlagen
hatte, fuhr es bis zum Beilrücken hinein. Ilja hatte
Riesenkräfte. Ilja Muromez fällte den Wald und
schlug das Beil in einen Baumstumpf. Und das
Beil verschwand bis zum Beilrücken. Da schlug er
nacheinander alle Beile in Baumstümpfe und ver-
steckte sich dann hinter einem Baum. Als die
Männer ausgeruht hatten und kamen, wollten sie
ihre Beile nehmen, aber wie sehr sie auch zogen,
sie konnten sie aus den Baumstümpfen nicht he-
rausziehen. Er hatte sie vielleicht nur so zum
Scherz hineingeschlagen, die Beile, aber er hatte
eben zu viel Kraft. Ilja sieht, sie schaffen es nicht,
kam aus seinem Versteck hervor und geht zu Va-
ter und Mutter. Und die trauen ihren Augen nicht:
Muromez war ein Krüppel und ist gesund gewor-
den.
Ilja Muromez zog alle Beile heraus und begann
den Eltern zur Hand zu gehen.
Der Vater kann sich gar nicht genug freuen, wie
er ihn arbeiten sieht.
Sie beendeten die Arbeit, kamen nach Hause
und lebten von nun an zufrieden.

561
Doch Ilja Muromez paßte immer auf, wann der
Bauer das grindige Füllen vorbeiführt. Und einmal
sieht er – richtig, der Bauer kommt.
Ilja läuft hinaus und fragt:
„Wohin führst du das Füllen?“
Und er antwortet:
„Es ist sehr schlecht geraten, ich muß es er-
schlagen.“
Da bat Ilja Muromez den Bauer dringend, er
solle ihm das Füllen abtreten, es nicht erschlagen.
Und der Bauer fragt:
„Was willst du mit einem solchen Füllen, ein so
starker Held? Es ist nicht einmal für einen Bauern
zu gebrauchen.“
Ilja Muromez ließ nicht nach und bat wieder:
„Verkauf mir das Füllen!“
Der Bauer trat Ilja Muromez das Füllen ab und
nahm von Ilja nicht einmal irgendeine Bezahlung.
Ilja Muromez führte das Füllen nach Hause,
stellte es in den Stall und begann es zu tränken
und zu füttern, wie die Wanderer ihn gelehrt hat-
ten.
Bald machte sich Ilja Muromez’ Pflege an dem
Füllen bemerkbar, und es begann sehr schnell zu
wachsen. Und als es drei Jahre alt war, war es ein
starkes Pferd geworden. Ilja Muromez führte es
nun aufs freie Feld und lehrte es, über breite Grä-
ben, Schluchten und Zäune zu springen. Und er
wunderte sich selber, wie stark und tüchtig sein
Pferd war.
Nun suchte er sich einen Panzer, auch einen
Köcher mit Pfeilen, einen straffen Bogen und ein

562
Schwert. Was immer er haben wollte, er fand alles
nach seiner Stärke. Und als alles fertig war, ging
Ilja Muromez zu Vater und Mutter und sagt:
„Teuerster Vater Iwan Timofejewitsch, teuerste
Mutter Jefrossinja Jakowlewna! Schon lange wollte
ich die weite Welt durchstreifen, mir die Menschen
ansehen und mich hervortun! Segnet mich, ich
reite!“
„Und wohin willst du reiten?“ fragt ihn der Va-
ter.
„In die Thronstadt Kiew, dem Fürsten Wladimir-
Strahlende-Sonne zu dienen.“
Vater und Mutter jammerten:
„Ach, lieber Sohn, wir haben geglaubt, dich uns
zum Trost aufzuziehen. Aber wir sehen – den Fal-
ken kann man nicht im engen Käfig zurückhalten.
Da läßt sich nichts machen, reite zum Fürsten
Wladimir und denke daran, tritt ein für die Schwa-
chen, kränke nicht die Schutzlosen und schlage
den Dieb und Räuber!“
Ilja Muromez legte den Reckenpanzer an, setzte
den gefiederten Helm auf und gürtete sich mit
dem Schwert. Darauf sattelte er sein Pferd, stieg
auf und ritt davon.
Er ritt und ritt und kam zur Stadt Tschernigow.
Er sieht und traut seinen Augen nicht: rings um
die Stadt Tschernigow steht ein unübersehbares
Heer. Drei Zarewitsche der Ungläubigen waren
vor die Stadt Tschernigow gezogen, und jeder Za-
rewitsch hatte dreihunderttausend Mann.
Ilja Muromez sah – die Stadt ist eingeschlos-
sen, und die Männer von Tschernigow werden

563
durch die Ungläubigen mit dem Hungertod be-
droht. Ilja hatte Mitleid mit den Männern von
Tschernigow. Straffer zog er seinen Sattel an, er-
griff das stählerne Schwert und fiel wie ein Sturm-
wind über die ungläubigen Feinde her. Er hieb auf
sie ein, so schnell, als haue er Gras. Sie sehen –
die Kräfte sind ungleich, und stürzten sich in die
Flucht. Der eine hierhin, der andere dorthin flohen
sie durcheinander.
Von der Mauer aus sehen Tschernigows Männer
– irgendein Recke hat sich auf ihre Seite geschla-
gen. Ilja aber fand keinen mehr, den er nieder-
hauen konnte. Er ritt zu den weißen Leinenzelten
– da stehen die drei Zarewitsche der Ungläubigen,
mehr tot als lebendig, bleich wie Leinen und zit-
tern wie Espenlaub. Ilja ritt zu ihnen – sie fielen
auf die Knie und baten um Gnade. Da sprach Ilja
Muromez zu ihnen wie folgt:
„Warum bedroht ihr die Männer? Wäret ihr äl-
ter, ich schlüge euch die übermütigen Häupter ab.
Aber ihr seid gar zu jung! Kehrt heim und sagt
euren Eltern: noch gibt es in Rußland Männer, für
die russische Erde zu kämpfen.“
Er nahm ihnen einen Eid ab, daß sie nie mehr
gegen das russische Land reiten wollten. Und sie
waren froh, daß sie begnadigt wurden, bestiegen
ihre Pferde und machten sich aus dem Staube,
ihrem Heere nach.
Es sahen all dies von den Stadtmauern aus die
Männer von Tschernigow. Sie sehen – sie sind
frei. Sie öffnen die Tore, bringen dem Recken die

564
Schlüssel auf goldenem Teller und bieten ihm an,
was er will.
Doch Ilja Muromez war nicht gierig auf Schätze:
alle diese schlug er ab.
Tschernigows Männer baten ihn, zu ihnen zu
kommen und mit ihnen zu sprechen.
Aber auch das schlug Ilja Muromez ab, weil sei-
ne Seele sich nach Weite sehnte.
Da fragen die Männer von Tschernigow:
„Wohin reitest du, kühner Recke?“
„Ich reite in die Thronstadt Kiew“, sagt Ilja Mu-
romez, „zum Fürsten Wladimir-Strahlende-
Sonne.“
Und Tschernigows Männer sagen:
„Höre, reite nicht den geraden Weg!“
„Und warum soll ich nicht den geraden Weg rei-
ten?“
„Weil hier seit langem Nachtigall der Räuber im
Hinterhalt liegt. Er tötet nicht mit der Kraft der
Waffe, sondern mit seinen verwegenen Pfeilen.
Wenn er brüllt wie ein Tier und zischt wie eine
Schlange, dann stürzen alle Menschen zu Boden.“
Da verabschiedete sich Ilja Muromez von den
Männern und ritt den geraden Weg, beachtete
nicht, was sie ihm gesagt hatten.
Er reitet seinen Weg und hält immer Ausschau,
wo des Räubers Nachtigall Hof ist.
Auf einmal sieht er zwölf Eichen stehen, die
Wipfel zu einem verflochten. Und ihre Wurzeln
sind mit dickem Eisen beschlagen. Noch war Ilja
drei Werst entfernt, da hörte er auf einmal das
Pfeifen einer Nachtigall, das Brüllen eines Tieres,

565
und all das wurde überdeckt vom Zischen einer
Schlange. Und von diesem Pfeifen der Nachtigall,
diesem Brüllen des Tieres und diesem Zischen der
Schlange stürzte Ilja Muromez’ Pferd auf die vor-
deren Knie.
Da sagt Ilja Muromez zu seinem Pferd:
„Warum stürzt du auf die Knie, flinkes Roß? Bist
du denn noch nicht geritten durch die Wälder, die
tiefen? Hast du denn noch nicht gehört das Brül-
len des Tieres? Hast du denn noch nicht gehört
das Zischen der Schlange? Hast du denn noch
nicht gehört das Pfeifen der Nachtigall?“
Das Pferd schämte sich vor seinem Herrn und
erhob sich auf die flinken Beine. Und Ilja Muromez
nimmt seinen stählernen Bogen von der Schulter,
legt einen stählernen Pfeil auf die Sehne und
schießt ihn auf Nachtigall den Räuber. Aufstieg
der Pfeil und traf Nachtigall den Räuber gerade ins
rechte Auge, so, daß Nachtigall der Räuber aus
seinem Nest herausflog wie eine Garbe Hafer.
Ilja Muromez ritt zu Nachtigall dem Räuber,
packte ihn und band ihn an seinen Steigbügel.
Und ritt weiter.
Er mußte gerade am Hof Nachtigalls des Räu-
bers vorbeireiten, wo die Töchter des Räubers mit
ihren Männern lebten. Sie traten auf den Balkon
hinaus und sehen – es kommt jemand geritten.
Die älteste Tochter sagt:
„Seht, liebe Schwestern, unser Vater kommt
geritten, und er zieht noch einen Recken hinter
sich her, der an den Steigbügel gebunden ist!“

566
Die jüngste Tochter sah hin und begann
sogleich zu jammern:
„Ach, liebe Schwestern, nicht unser Vater
kommt geritten, sondern irgendein Recke zieht
unseren Vater am Steigbügel hinter sich her!“
Die Schwestern brachen in Jammern aus und
stürzten davon, ihrem Vater zu helfen.
Sie liefen vom Balkon nach unten, die Schwie-
gersöhne aber bewaffneten sich und zogen los,
ihren Schwiegervater zu befreien.
Kaum sah Nachtigall der Räuber seine Schwie-
gersöhne, rief er ihnen zu:
„Habt Dank, liebe Schwiegersöhne, daß ihr
mich befreien wollt, aber reizt den Recken lieber
nicht – ihr könnt ihn nicht überwinden. Doch bittet
ihn in die Stube, bewirtet ihn mit Wein und Spei-
sen und fragt ihn, ob er nicht von euch Lösegeld
für mich nehmen will!“
Aber Ilja Muromez, als er all das hörte, dachte:
„Sie locken mich noch in eine Falle.“ Er wies alles
zurück, bog nach links ab und ritt nach der Thron-
stadt Kiew.
Als er angekommen war, betrat er den weißen
steinernen Palast und sieht: Fürst Wladimir-
Strahlende-Sonne und seine Fürstin sitzen mit ih-
ren Recken zusammen und bewirten die Recken.
Ilja Muromez verneigte sich tief vor Fürst Wla-
dimir. Und die Fürstin sagt:
„Ich sehe noch einen Gast!“
Alle wandten sich um und erblickten den star-
ken Recken Ilja Muromez.
Und Fürst Wladimir fragt:

567
„Wer seid Ihr, wackerer Mann? Woher kommt
Ihr, und wohin führt Euch der Weg?“
Ilja Muromez antwortet:
„Ich komme aus der Stadt Muron, aus dem Dorf
Karatscharowo, und will in die Thronstadt Kiew,
zu Wladimir-Strahlende-Sonne.“
Und Fürst Wladimir fragt:
„Und auf welchen Wegen seid Ihr geritten, und
wieviel Zeit habt Ihr gebraucht?“
Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte:
„Die Morgenmesse habe ich im Dorf Karatscha-
rowo gehört, die Mittagsmesse aber bei Euch in
der Stadt Kiew.“
„Und welchen Weg seid ihr geritten?“
„Den geraden Weg bin ich geritten.“
Kaum hatten das die Recken gehört, sagen sie
zu Fürst Wladimir:
„Glaub diesem Burschen nicht; er schneidet
wirklich gar zu sehr auf. Kann man denn auf die-
sem Wege reiten? Dort liegt doch schon dreißig
Jahre Nachtigall der Räuber im Hinterhalt und läßt
weder Reiter noch Fußwanderer durch. Dort
kommt kein Tier vorbeigerannt und kein Vogel
vorbeigeflogen. Wie hat denn der an Nachtigall
dem Räuber vorbeireiten können?“
Fürst Strahlende-Sonne wendet sich Ilja Muro-
mez zu und spricht die folgenden Worte:
„Ach, man kann dir nicht glauben, wackerer
Recke! Schon dreißig Jahre liegt dort Nachtigall
der Räuber im Hinterhalt, niemand kann an ihm
vorbeigehen oder vorbeireiten. Es ist deutlich zu
sehen, daß du gelogen hast.“

568
Da ließ sich Ilja Muromez nicht auf langes Re-
den ein und sagte nur:
„Aber willst du dir nicht gleich einmal Nachtigall
den Räuber ansehen? Ich habe ihn auf unseren
Hof gebracht, und er hängt jetzt festgebunden an
meinem Steigbügel.“
Das hörten die Recken und waren alle gleich
entsetzt. Daß dieser Recke es vermocht hatte, ei-
nen solchen Räuber herzubringen – das konnten
sie nicht glauben.
Da sagt Fürst Strahlende-Sonne zu Ilja Muro-
mez:
„Aber sage, kühner Recke, wie heißt du?“
„Ich heiße Ilja Muromez.“
Und der Fürst sagt wieder:
„Und könnten wir uns Nachtigall den Räuber
nicht einmal ansehen?“
„Es ist mir eine Ehre“, erklärte sich Ilja Muro-
mez bereit und führte sie alle auf den weiten wei-
ßen Hof, wo sein flinkes Pferd graste. Und an den
Steigbügel des Pferdes war ein Quersack gebun-
den, in dem sich Nachtigall der Räuber befand.
Ilja Muromez kommt mit dem ganzen Gefolge,
mit allen Recken heraus, bindet den Sack vom
Steigbügel los und zieht Nachtigall den Räuber
heraus. Kaum hatten die Recken ihn erblickt, da
entsetzten sie sich; kaum hatten der Fürst und
seine Gemahlin ihn erblickt, da verwunderten sie
sich.
Und Fürst Wladimir spricht die folgenden Wor-
te:

569
„Nun, Dieb Rachmatowitsch, Räuber Nachtigall,
pfeife wie eine Nachtigall, unterhalte mich und
meine Frau, unterhalte meine starken Recken!“
Da sprach Nachtigall der Räuber die folgenden
Worte:
„Nicht dir diene ich, Fürst Wladimir, sondern ich
habe meinen Recken, – niemanden sonst erkenne
ich an!“
Da wendet sich Fürst Wladimir an Ilja Muromez
und sagt:
„Nun, kühner Recke, zwinge diesen Räuber, wie
eine Nachtigall zu pfeifen, mich und meine Fürstin
und meine starken Recken zu unterhalten!“
Ilja Muromez befielt Nachtigall dem Räuber, mit
halber Stärke wie eine Nachtigall zu pfeifen, mit
halber Stärke wie ein Tier zu brüllen, mit halber
Stärke wie eine Schlange zu zischen, er selbst
aber faßt den Fürsten und die Fürstin unter die
Arme.
Nachtigall der Räuber nahm alle Kraft zusam-
men und pfiff wie eine Nachtigall, aber nicht mit
halber Stärke, sondern mit ganzer. Und von die-
sem Nachtigallenpfiff hingen Fürst und Fürstin in
Iljas Armen, von den Recken aber war nicht einer
auf den Füßen geblieben, sie fielen alle der Reihe
nach um, und von dem steinernen Palast rollten
durch diesen Nachtigallenpfiff alle goldenen Kup-
peln herunter. Da schrie der Fürst Strahlende-
Sonne:
„Nun, Ilja Muromez, bändige diesen Dieb und
Räuber! Solche Späße brauchen wir nicht!“

570
Da ergriff Ilja Nachtigall den Räuber und warf
ihn mit seiner starken Hand so hoch, daß Nachti-
gall der Räuber fast bis zu den ziehenden Wolken
flog, auf den weißen Hof prallte und seinen Geist
aushauchte.
Und Ilja Muromez befahl einen Scheiterhaufen
anzuzünden, Nachtigall den Räuber zu verbrennen
und die Asche in den Wind zu streuen.
Wieder gehen sie in den weißen steinernen Pa-
last, setzen sich an die Eichentische und machen
sich über die süßen Speisen und die honigsüßen
Getränke her.
Ilja Muromez setzte sich auf ein Bänkchen am
äußersten Ende. Aber wie er ein wenig schob und
stark nachdrückte, fielen alle Recken der Reihe
nach auf den Fußboden, und Ilja saß auf einmal
an der Mitte des Tisches. Alle Recken sehen, daß
Ilja Muromez sehr viel Kraft hat, und nicht einem
fiel es ein, sich ihm zu widersetzen.
Die Recken hatten ein wenig getrunken und fin-
gen an zu prahlen, was ein jeder konnte. Und
wieder gefiel dies Ilja Muromez nicht. Er dachte
einen kühnen Gedanken – durch die weite Welt zu
ziehen. Und er gedachte, Swjatogor dem Recken
zu begegnen.
Ilja verabschiedete sich von Fürst Wladimir und
den Recken und ritt los durch die weite Welt,
Swjatogor den Recken zu suchen.
Er ritt lange. Reitet und hält Ausschau, ob er
nicht irgendwo Swjatogor den Recken sieht. Und
auf einmal sieht er ein großes braunes Pferd. Er
reitet näher – da liegt dort ein schlafender Recke.

571
Und es war das Swjatogor der Recke. Ilja stieg
vom Pferd, ging zu Swjatogor und stellte sich ne-
ben sein Haupt. Und er erschien gegen diesen
Recken wie ein kleines Kind.
Der Recke lag in tiefem Schlaf, und Ilja konnte
es nicht erwarten, daß Swjatogor aufwacht. Da
gab ihm Ilja einen leichten Schlag.
Der Recke wachte auf und sagt:
„Wer wirft da mit Steinchen nach mir?“
Da trat Ilja Muromez noch näher und sagt:
„Ich bin aus der Stadt Muron, aus dem Dorf Ka-
ratscharowo gekommen, man nennt mich Ilja Mu-
romez. Ich wollte Euch einmal sehen, aber konnte
es nicht erwarten. Da habe ich Euch geweckt.“
Swjatogor der Recke sagt:
„Warum brauchst du mich so dringend?“
Und Ilja antwortet:
„Ich habe von Eurer großen Stärke gehört, da
wollte ich Euch einmal sehen.“
„Vielleicht hast du Lust, deine Kräfte mit mir zu
messen?“ fragt Swjatogor.
„Nein“, antwortet Ilja, „ich weiß wohl, daß ich
meine Kräfte nicht mit Euch messen kann!“
„Wenn das so ist“, sagt Swjatogor12, „dann wol-
len wir einen Spazierritt durch die heiligen Berge
machen!“
Er pfiff seinem Pferd, das Pferd kam gelaufen
und blieb wie angewurzelt vor ihm stehen.

12
Swjatogor – etwa „der von den heiligen Bergen“.
(Anm. d. Übers.)

572
Ilja Muromez rief gleichfalls sein Pferd herbei,
und sie ritten zusammen los.
Ilja erzählte, wie er in der Thronstadt Kiew war.
Aufmerksam hörte Swjatogor diesen Bericht an.
Und danach fragt Ilja Muromez Swjatogor:
„Warum habe ich dich in ganz Rußland gesucht,
aber dich nicht finden können?“
„Deswegen“, sagt Swjatogor, „weil ich nicht
mehr durch Rußland reite, seit ich von den heili-
gen Bergen gekommen bin. Ich sehe – die Erde
beugt sich unter mir wie unterwürfig. Und die
Menschen laufen vor mir nach allen Seiten davon
wie vor einem schrecklichen Tier. Es war mir sehr
zuwider, daß sie mich so fürchten. Ich ritt und ritt
und verfiel ins Nachdenken: ‚Ach, zuviel unüber-
windliche Kraft habe ich in mir! Gäbe es eine Säu-
le, und in der Säule wäre ein Ring, ich würde den
Ring drehen und das ganze russische Land um
und umkehren!’ Kaum hatte ich’s gedacht, da
blieb mein Pferd stehen. Ich sehe – gerade vor
mir liegt ein kleiner Quersack, so klein, daß man
nicht einmal darauf spucken kann. Ich sprang
vom Pferd, wollte diesen kleinen Sack aufheben,
griff mit der rechten Hand zu, und wie ich zog –
bewegte er sich nicht. Ich griff mit der linken
Hand zu, zog – er bewegte sich nicht. Ich griff mit
beiden Händen zu, und wie ich zog, versank ich
bis zu den Knien in die Erde. Da begriff ich: die
Mutter, die kühle Erde, will mich nicht auf sich
tragen. Daher reite ich nicht durch das russische
Land, sondern reite durch die heiligen Berge.“

573
Sie ritten beide in diese Berge, Ilja und Swjato-
gor. Sie ritten und ritten und sehen – auf dem
höchsten Bergesgipfel steht ein riesiger Sarg. Sie
ritten zu diesem Sarg, und Swjatogor sagt:
„Nun, Ilja Muromez, miß diesen Sarg. Vielleicht
ist er für dich gemacht?“
Ilja Muromez legte sich in den Sarg, und er er-
schien darin wie eine kleine Fliege. Da sagt Swja-
togor:
„Nein, Ilja, dieser Sarg ist wohl nicht für dich
gebaut.“
Jetzt steigt Swjatogor vom Pferd und will den
Sarg selber messen.
Er streckte sich im Sarg aus – der Sarg war wie
für ihn gemacht. Swjatogor der Recke wollte sich
aus dem Sarg erheben. Aber auf einmal war er
ganz schwach geworden und flehte zu Ilja Muro-
mez:
„Nun, Ilja Muromez, mein kleiner Bruder, hilf
mir aus dem Sarg steigen! Ich bin ganz schwach
geworden.“
Ilja Muromez sprang hinzu, gerade wollte er
Swjatogor den Recken aufrichten, da hatte sich
der Deckel des Sarges dicht geschlossen. Ilja Mu-
romez packte den Deckel, wollte ihn mit seiner
gewaltigen Kraft abreißen, aber wie sehr er auch
zog – der Deckel bewegte sich nicht von der Stel-
le. Vor Wut ergriff Ilja Muromez sein Schwert und
begann auf den Sarg einzuhauen. Wie er das er-
stemal zugeschlagen hatte, erschien ein eiserner
Reif und schloß sich rings um den Sarg. Das zwei-
temal schlug er zu – da erschien ein zweiter Ei-

574
senreif. Wieviele Male er auch zuschlug, immer
erschienen eiserne Reifen. Und Ilja Muromez hört
– aus dem Sarg dringen dumpfe Worte zu ihm:
„Leb wohl, Ilja Muromez, ich bin wohl das letzte
Mal mit dir durch die heiligen Berge geritten!“
Ilja Muromez war weh ums Herz wegen Swja-
togor, er sieht – er kann den großen Bruder nicht
befreien. Und er hört, wie Swjatogor zum letz-
tenmal leicht aufseufzt und keinen Laut mehr von
sich gab.
Ilja brach in Tränen aus und ritt fort aus den
heiligen Bergen in die Thronstadt Kiew. Er war
dort nicht lange. Da kommt ein Ungläubiger mit
einem Brief geritten und überreicht diesen Brief
dem Fürsten Wladimir. Der Fürst begriff – hier ist
etwas Unerfreuliches. Er erbrach das Siegel und
beginnt, den Brief zu lesen, im Brief aber ist ge-
schrieben:
„Es kommt Batu mit seinen großen Scharen,
der Goldenen Horde, gezogen, und mit ihm zieht
Heidengötze, der starke Recke.“
Da war bei allen Recken der Rausch verflogen,
und sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie sol-
len sie reiten, wie solch großer Feindesmacht be-
gegnen?
Das sagt Ilja Muromez:
„Ach, starke Helden, feige seid ihr wie die Ha-
sen! Ihr möchtet nur immer Feste feiern und ze-
chen. Wozu seid ihr nütze? Wenn die feindlichen
Heere kommen, dann zittert ihr wie die Blätter an
der Espe. Auf, zieht mit mir, laßt uns reiten, der
Tatarenmacht zu begegnen!“

575
Die Recken erschraken, aber da war nichts zu
machen: sie mußten Ilja Muromez folgen. Sie ka-
men an ihre Grenze. An der Grenze aber steht ei-
ne Feldwache. Und in dieser Feldwache waren
Recken als Grenzwächter. Hier war als Ältester
Samson Samsonowitsch, hier war auch sein Gehil-
fe Dobrynja Nikititsch, und es war noch der Feld-
hauptmann Aljoscha Popowitsch da…
Ilja Muromez kam zu dem weißen Leinenzelt
geritten und sieht – es stehen drei Recken an der
Feldwache. Der Recke Samson erblickte Ilja Mu-
romez und verneigte sich tief vor ihm:
„Sei mir gegrüßt, Ilja Muromez, wie lange habe
ich dich nicht gesehen! Und weswegen hast du
dich hierher bemüht zu unserer Feldwache?“
Und Ilja Muromez sagt:
„Habt ihr denn nicht gehört, Grenzwächter, daß
eine große Streitmacht gegen unseren Fürsten
Wladimir gezogen kommt?“
Da erschrak Samson Samsonowitsch, und er-
schrak Dobrynja Nikititsch, und erschrak noch
mehr der Feldhauptmann Aljoscha Popowitsch.
Da sagt Ilja Muromez:
„Habt ihr denn nicht gehört, Samson Samsono-
witsch, wie hier ein Ungläubiger mit seinem Brief
nach der Thronstadt durchgekommen ist? Wie
habt ihr das nicht gesehen von eurer Feldwache
aus?“
Da begann Samson Samsonowitsch zu spre-
chen:

576
„Vergib uns Ilja Muromez, irgendwie haben wir
zu dieser Zeit gerade geschlafen, und so haben
wir diesen Ungläubigen eben nicht gesehen.“
Hier sagte Ilja Muromez:
„Wir müssen die große Streitmacht, die ungläu-
bige, erwarten, wir müssen, wie es sich gehört,
für unser russisches Land kämpfen. Stellt noch
jemanden vorn auf“ (als vorgeschobenen Beob-
achtungsposten, ganz genauso).
Und die Recken hielten Rat, wen sie als Wache
aufstellen sollten. Samson Samsonowitsch wollte
Aljoscha Popowitsch aufstellen.
Da sprach Ilja Muromez die folgenden Worte:
„Nein, Samson Samsonowitsch, Aljoscha Popo-
witsch dürfen wir nicht bestimmen, dem sind die
Rockschöße schon so zu lang. Wir müssen Do-
brynja Nikititsch bestimmen.“
Dobrynja Nikititsch ritt nach vorn und stellte ei-
ne besondere Wache an der Stelle auf, wo die
Streitmacht der Ungläubigen durchziehen mußte.
Sie warteten und warteten auf das Heer der Un-
gläubigen, aber vergebens. Es verging ein Tag, es
verging der zweite, aber von der Streitmacht der
Ungläubigen ist noch nichts zu sehen.
Am dritten Tag, kaum daß die Sonne aufgegan-
gen war, bemerkten sie am Horizont ein großes
Heer. Von diesem Heer wurde die Sonne durch
dichten Staub verdunkelt. Dobrynja Nikititsch hält
Ausschau und sieht – voran reitet ein starker Rek-
ke, und das Pferd unter ihm ist ganz in goldenem
Zaumzeug, er selber aber ist wie ein großer Ge-
treideschober. Er kam auf Dobrynja Nikititsch zu-

577
geritten, und der weiß nicht, was er tun soll. Und
er sieht – der Recke wirft seine lange Lanze bis
unter die ziehenden Wolken, bis über den ragen-
den Wald. Und der Recke fängt die Lanze mit der
anderen Hand auf und sagt dabei:
„So leicht ich die Lanze werfe, so leicht werde
ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.“
Dobrynja Nikititsch erschrak vor diesem Recken
und jagte auf seinem Pferd zu der Feldwache, wo
Samson Samsonowitsch und Ilja Muromez waren.
Und er betet, sein Pferd möge nicht straucheln. Er
kam zur Feldwache, fiel vor Samson Samsono-
witsch auf die Knie und spricht die folgenden Wor-
te:
„Vergib mir, Samson Samsonowitsch, daß ich
keine Heidenköpfe zu eurer Feldwache bringen
konnte. Und solch ein Ritter ist dort zu uns ge-
kommen, daß er eine lange Lanze fast bis unter
die ziehenden Wolken, fast bis über den ragenden
Wald wirft und dabei die folgenden Worte sagt:
‚So leicht ich die Lanze schleudere, so leicht wer-
de ich mit Dobrynja Nikititsch fertigwerden.’ So
bin ich eben mit leeren Händen zu euch zur Feld-
wache gekommen.“
Ilja Muromez und alle Recken hielten Rat, wer
reiten soll, dem Ungläubigen zu begegnen. Sie
dachten nach und wollten einen wählen. Doch
wen immer sie vorsahen, Ilja Muromez hinderte’s.
Da bestimmten sie Aljoscha Popowitsch, aber Ilja
Muromez widersetzte sich auch hier.
„Wir dürfen Aljoscha Popowitsch nicht schicken:
er wird auf das goldene Zaumzeug schielen, und

578
in diesem Augenblick werden die Feinde seine Po-
penseele aus dem Sattel werfen.“
Sie wollten raten, Samson Samsonowitsch solle
reiten. Aber auch hier sprach Ilja Muromez die
folgenden Worte:
„Nein, schon gar zu alt ist Samson Samsono-
witsch, wir müssen einen anderen wählen.“
Aber die Recken konnten auf keine Weise eine
Wahl treffen. Und sie wollten nun das Los werfen
– wer dem ungläubigen Heiden begegnen solle.
Wie sie das Los warfen, fiel es auf Ilja Muro-
mez. Da sattelte Ilja Muromez sein Pferd, bestieg
es, nahm Abschied von seinen Recken und ritt
dem ungläubigen Heiden entgegen.
Als er bis auf eine Werst an ihn herangekom-
men war, sah er den bösen Ungläubigen; der warf
mit der rechten Hand eine lange Lanze und brü-
stete sich sogleich:
„So leicht ich mit meiner Lanze umgehe, so
leicht werde ich auch mit Ilja Muromez fertigwer-
den!“
Ilja Muromez dachte nicht lange nach, gab sei-
nem Pferd die Sporen und stürzte gegen den bö-
sen Tataren. Der Kampf begann am frühen Mor-
gen. Ihre Pferde wurden müde, ihre Schwerter
wurden stumpf; aber die Recken sitzen im Sattel,
und keiner von ihnen schwankt auch nur.
Es war schon zwölf Uhr mittags. Die Pferde der
Recken strauchelten, und die Recken fielen
sogleich zu Boden. Sie hatten ihre langen Lanzen
zerbrochen und hatten ihre stählernen Schwerter
zerbrochen. Sie hatten nichts mehr, aufeinander

579
einzuhauen. Da gingen sie mit den bloßen Händen
aufeinander los. Sie kämpften so heftig, daß der
Staub von ihren Füßen wie eine Säule aufgewir-
belt wurde.
Schon neigte sich die Sonne zum Untergang, da
glitt Ilja Muromez aus und fiel auf den Rücken,
und der ungläubige Heide setzte sich auf ihn. Er
zog sein Messer aus dem Gürtel und wollte Ilja
Muromez die Kehle durchschneiden. Da fielen Ilja
seine beiden greisen Wanderer ein und er dachte:
„Da haben die Greise wohl nicht die Wahrheit
gesagt, daß mir kein Tod im Kampf beschieden
ist: ich muß von der Hand eines ungläubigen Hei-
den sterben.“
Kaum hatte er das gedacht, da fühlte er in sich
so große Kraft wie damals, als er die drei Glas
Hopfenbier getrunken hatte. Er machte seine
rechte Hand frei und versetzte dem Ungläubigen
einen gewaltigen Stoß gegen seine Heidenbrust.
Da flog der Ungläubige bis über den ragenden
Wald, bis unter die ziehenden Wolken und fuhr bis
zur Brust in die Erde hinein. Ilja Muromez entreißt
dem Ungläubigen das stählerne Messer und
schlägt ihm den Kopf bis zu den Schultern ab. Er
nahm diesen Kopf, steckte ihn auf ein Stück Lanze
und ritt los, geradenwegs zur Feldwache.
Er kam zurück zur Feldwache – da wunderten
sich alle Recken, wie Ilja Muromez den Ungläubi-
gen überwältigt hatte. Sie warteten und warteten
und glaubten, das feindliche Heer werde gleich
kommen. Aber von dem Heer war nichts zu se-
hen. Sie zogen die Recken wieder von der Feldwa-

580
che ab und ritten zum Fürsten Wladimir-
Strahlende-Sonne. Nur die Grenzwächter blieben
zurück.
Ilja Muromez brachte dem Fürsten Wladimir ein
Geschenk in die Thronstadt Kiew – den Kopf des
ungläubigen Heiden.
Fürst Wladimir rief alle Recken zusammen, lud
sie ein und bewirtete sie. Und alle Recken bewir-
tete er reichlich und belohnte alle mit Geschen-
ken.
Alle hatte er belohnt, Ilja Muromez aber, den
Wichtigsten, hatte er vergessen.
Ilja Muromez wurde darüber sehr zornig. Er lief
hinaus auf den weißen Hof und rief alles betrun-
kene Volk zu sich. Und er sprach zu ihnen die fol-
genden Worte:
„Es ziemt mir, einem Bauernrecken, nicht, hier
zu schmausen und zu zechen, aber es ziemt mir,
mit euch zu feiern.“
Er nimmt einen straffen Bogen und legt einen
stählernen Pfeil auf die Sehne. Und er sendet die-
sen Pfeil gegen das goldgedeckte Schloß. Da traf
der Pfeil die goldenen Kuppeln, und die Kuppeln
fielen herunter auf den weißen Hof. Ilja Muromez
aber befahl dem Volk, die Kuppeln zu sammeln
und dafür Branntwein zu kaufen.
Von der Wucht dieses Pfeiles erzitterte das
Schloß Fürst Wladimirs und waren die Recken
mehr tot als lebendig. Und Fürst Strahlende-
Sonne wurde sehr zornig auf Ilja. Aber ein Recke
spricht zu ihm die folgenden Worte:

581
„Nicht recht tust du, Fürst Strahlende-Sonne:
alle Recken hast du bewirtet und beschenkt, Ilja
Muromez aber hast du mit nichts beschenkt!“
Da begriff Fürst Strahlende-Sonne, daß er nicht
richtig gehandelt hatte. Er nahm seinen Zobelpelz,
trägt ihn hinaus auf den weißen Hof, reicht ihn Ilja
Muromez und spricht die folgenden Worte:
„Nimm’s nicht übel, Ilja Muromez, daß ich dich
mit nichts beschenkt habe! Hier schenke ich dir
meinen Zobelpelz.“
Ilja Muromez wurde zornig und ergriff den Zo-
belpelz, ergriff den einen Ärmel, ergriff den ande-
ren Ärmel und riß den Pelz entzwei.
Reißt ihn entzwei und sagt dabei:
„Wie ich die ungläubigen Heiden zerrissen habe,
Fürst Wladimir, so zerreiße ich auch deinen Zo-
belpelz!“
Fürst Wladimir wagte nicht, ihm zu widerspre-
chen. Er kannte seine große Stärke.
Ilja Muromez ging zu seinen Gesellen, kaufte
für die goldenen Kuppeln Branntwein und bewirte-
te das betrunkene Volk. Bald aber gefielen ihm
auch diese Gesellen nicht. Er sattelte sein Pferd
und brach auf aus der Thronstadt Kiew, verab-
schiedete sich nicht von den Recken und verab-
schiedete sich nicht von Fürst Wladimir. Er
sprengte los durch das russische Land.
Als Ilja Muromez aus Kiew weggeritten war,
kam Khan Heidengötze nach Kiew, vertrieb alle
Recken, brachte das ganze Zarenreich Fürst Wla-
dimirs in seine Gewalt und machte den Fürsten
selber zu seinem Diener.

582
Schwer war es für Fürst Wladimir, das von Hei-
dengötze zu erdulden, aber es war nichts zu ma-
chen. Oft dachte er an Ilja Muromez: „Wäre Ilja
Muromez hier gewesen, das wäre nicht gesche-
hen, und ich brauchte Heidengötze nicht zu die-
nen.“
Lange mußte Fürst Wladimir so dienen, aber Il-
ja Muromez wußte nichts davon. Einmal war er
unterwegs, da begegnete ihm ein Wanderer. Die-
ser Wanderer trug einen Hut von zehn Pud, und
einen Wanderstab hatte dieser Wanderer von
vierzig Pud. Er begegnete Ilja Muromez und
sprach die folgenden Worte:
„Ach, wackerer Recke Ilja Muromez! Warum
streifst du durchs russische Land und reitest nicht
in die Thronstadt Kiew? In der Stadt Kiew ist gro-
ßes Unheil geschehen. Khan Heidengötze ist über
Kiew gekommen. Alle Recken hat er einen nach
dem anderen aus dem Zarenreich hinausgejagt,
das Zarenreich Fürst Wladimirs in seine Gewalt
gebracht, und der Fürst selbst ist jetzt sein Die-
ner.“
Ilja Muromez sagte zu dem Greis:
„Und wie kann ich dich nennen, Greis?“
Der Greis antwortete:
„Man nennt mich Iwanistsche. Mein Hut wiegt
zehn Pud. Mein Wanderstab wiegt vierzig Pud.“
Da sagte Ilja Muromez zu Iwanistsche:
„Tritt mir deinen Wanderstab von vierzig Pud
ab! Ich will in die Stadt Kiew reiten und ihn Hei-
dengötze zu kosten geben.“
Iwanistsche gab ihm freudig den Stab.

583
Ilja nahm den Stab und ritt zur Thronstadt
Kiew. Als Ilja in den weißen Hof geritten war,
suchte er aus erster Pflicht Fürst Wladimir auf. Als
der Fürst Ilja Muromez sah, freute er sich gleich
und spricht zu ihm die folgenden Worte:
„Wie lange, Ilja Muromez, bist du nicht zu uns
gekommen! Sieh, was sich bei uns zugetragen
hat! Auf dem Thron sitzt Khan Heidengötze, und
ich diene ihm als sein Diener.“
Da sagt Ilja Muromez:
„Warte noch, Fürst Strahlende-Sonne, mir Vor-
würfe zu machen! Heidengötze wird nicht einmal
bis zum Abend auf deinem Throne sitzen!“
Ilja Muromez ging in den weißen steinernen Pa-
last, wo Heidengötze saß. Kam zu Heidengötze
und bat ihn um ein Almosen:
„Zar, gib mir Bettler ein Almosen – ich leide
wirklich große Not!“
„Lauf in die Küche“, sagt Heidengötze, „dort
wird den Bettlern gegeben!“
Aber Ilja Muromez sagte:
„Ich will, daß Ihr mir hier ein Almosen gebt!“
Da sprach Heidengötze wie folgt:
„Du ziehst viel durch die weite Welt, Greis; hast
du nicht irgendeinmal Ilja Muromez gesehen?“
„Wie soll ich Ilja Muromez nicht gesehen haben,
wenn wir beide uns sehr oft sehen?“
„Und was für einer ist Ilja Muromez?“ fragt Hei-
dengötze.
„Wenn du Ilja Muromez sehen willst, dann sieh
mich an, wir sind beide aus dem gleichen Holz ge-
schnitzt!“

584
Da sagt Heidengötze:
„Und ißt Ilja Muromez viel?“
„Ilja Muromez ißt nur eine Semmel und trinkt
nur ein Gläschen.“
Da lachte Heidengötze und sagte:
„Warum ist denn Euer Recke Ilja Muromez so
berühmt? Nimm mich, ich esse sehr viel. An Brot
esse ich drei Laibe, an Fleisch esse ich beinah ei-
nen ganzen Hammel, und ich trinke drei große
Gläser.“
Und Ilja Muromez spricht die folgenden Worte:
„Ach, mein Onkel hatte eine Kuh, die trank und
fraß viel. Einmal hatte sie so gefressen, daß sie
platzte. Paß auf, daß mit dir nicht einmal das glei-
che geschieht!“
Da wurde Heidengötze wütend, ergriff sein
stählernes Schwert und warf es mit aller Kraft
nach Ilja Muromez. Ilja Muromez wich ihm aus,
und das Schwert durchschlug die Wand und flog
ins Freie. Da ergriff Ilja Muromez seinerseits den
Wanderstab von vierzig Pud und traf Heidengötze
mit Macht auf den Scheitel. Er zerschmetterte
Heidengötze den Schädel. Ilja trat hinaus auf den
Hof zu Fürst Wladimir und sagte zu ihm die fol-
genden Worte:
„Schafft Heidengötze weg und richtet das ganze
Reich wie früher ein!“
Und Fürst Wladimir Strahlende-Sonne bestieg
wieder den Thron seines Zarenreiches. Wieder
herrschte er als Zar. Und danach gab er ein Fest
für alle Welt.

585
Zu dieser Zeit aber wollte ein junger Bojar,
Djuk Stepanowitsch mit Namen, in den Dienst des
Fürsten treten und nahm Abschied von seiner
Mutter. Er kam zu Fürst Wladimir. Fürst Wladimir
nahm ihn auf und setzte ihn an seinen Tisch, mit
den Recken zu feiern. Er bewirtete Djuk Stepano-
witsch. Aber Djuk Stepanowitsch trank so: ein
Gläschen trank er aus, und das andere goß er un-
ter den Tisch, eine Semmel aß er, und die andere
warf er unter den Tisch.
Das bemerkte der Fürst Strahlende-Sonne, und
er sagte zu Djuk Stepanowitsch:
„Warum, junger Bojar, trinkst du ein Gläschen
aus und gießt das andere unter den Tisch, ißt eine
Semmel und wirfst die andere unter den Tisch?
Gefällt dir vielleicht etwas nicht?“
Djuk Stepanowitsch antwortet dem Fürsten:
„Ja, Wladimir Strahlende-Sonne, deine Sem-
meln sind schon etwas hart, und das Bier riecht
schon sehr muffig… Bei meiner lieben Mutter wer-
den die Semmeln in der Backstube alle honigsüß
gebacken: die eine ißt du, nach der zweiten
streckt sich die Hand aus, die zweite ißt du, die
dritte weicht dir nicht aus dem Sinn. Und das Bier
steht bei Euch wohl ungepflegt in Fässern und
Kellern. Bei meiner Mutter aber ist das Bier in den
Fässern aufgehängt, an hohen Ketten. Die Winde
kühlen die hohen Fässer, und das Bier kann nicht
muffig werden. Ein Gläschen trinkst du, nach dem
zweiten streckt sich die Hand von selber aus, das
zweite trinkst du – das dritte weicht dir nicht aus
dem Sinn. Bei Euch, Fürst Wladimir, hat auch der

586
Ofen die Farbe verloren. Bei uns aber in der Stube
sind die Öfen mit Glasur überzogen. Und die Klei-
der bei Euch, Fürst Wladimir Strahlende-Sonne,
sind dunkel und abgetragen, bei meiner Mutter
aber sind die Kleider jeden Tag neu.“
Es war da ein Recke, saß am Tisch, mit Namen
Tschurila Plenkowitsch. Tschurila Plenkowitsch
hörte diese Worte und war sehr gekränkt. Und er
sagt zu Fürst Wladimir:
„Fürst Wladimir Strahlende-Sonne, laß mich mit
ihm eine Wette abschließen. Daß wir beide jeden
Tag in neuen Kleidern erscheinen. Ob er wohl für
ein ganzes Jahr genügend neue Kleider hat?“
Da hielten die Bojaren Rat und erlaubten ihnen,
eine Wette abzuschließen. Und sie wetteten –
wenn bei einem die Kleider nicht für ein Jahr rei-
chen, dem soll es den Kopf kosten. Djuk Stepa-
nowitsch wollte nach Hause reiten, um Kleider für
ein ganzes Jahr zu holen. Aber Tschurila Plenko-
witsch widersetzte sich dem. Er spricht die fol-
genden Worte:
„Ich bin nicht einverstanden damit, Djuk Stepa-
nowitsch nach Hause zu beurlauben. Er könnte die
Kleider nicht zu Hause, sondern an anderen Stel-
len beschaffen. Mag er der Mutter einen Brief
nach Hause schreiben, und die wird ihm die Klei-
der schicken.“
Djuk Stepanowitsch mußte sich fügen. Er setzt
sich an die eichenen Tische, nimmt Tintenfaß und
Feder und beginnt, der Mutter einen Brief zu
schreiben. Und er steckte diesen Brief in einen

587
Sack und band den Sack seinem klugen Braunen
an den Sattel. Und er trug ihm folgendes auf:
„Kluger Brauner, bringe den Brief zu meiner
Mutter. Sie soll mir dicke Ballen schicken, damit
ich für jeden Tag ein ganzes Jahr lang genügend
Kleider habe.“
Und er führte den klugen Braunen hinaus und
zeigte ihm den Weg nach Hause.
Der Braune lief schnell, wie ein stählerner Pfeil,
der vom Bogen geschossen wurde. Der Braune
kam auf den weiten Hof, zu Djuk Stepanowitschs
Mutter.
Die Mutter erschrak sehr – das Pferd kam allein
angerannt, und vom Sohn nirgends eine Spur. Sie
nahm den Mantelsack herunter, wickelte ihn auf
und sieht – auf einem Papier ist etwas geschrie-
ben. Als sie’s durchgelesen hatte, da ahnte sie:
der Sohn hat irgend etwas Dummes angestellt.
Sie trug alle Kleider zusammen und bemaß sie
genau für ein ganzes Jahr. Sie steckte die Kleider
in Säcke, band die Säcke dem klugen Braunen auf
und schickte ihn zu ihrem Sohn Djuk Stepano-
witsch.
Der kluge Braune kehrte bald zu seinem Herrn
Djuk Stepanowitsch zurück.
Djuk Stepanowitsch wurde der Tag genannt, an
dem die Recken in neuen Kleidern erscheinen
mußten. Und ein ganzes Jahr gingen sie immer in
anderen Kleidern.
Und am letzten Tag traten beide – Djuk Stepa-
nowitsch und Tschurila Plenkowitsch – in kostba-
ren Kleidern ein, aus Zobelfell. Tschurila Plenko-

588
witsch hatte ein sehr kostbares Gewand an, aber
Djuk Stepanowitsch ein noch viel besseres: auf
dem Rock Djuk Stepanowitschs war ein Ritter mit
einem Fräulein. Wenn er seinen Rock zuknöpfte,
dann umarmten sich Fräulein und Ritter, wenn er
ihn aufknöpfte, küßten sich Fräulein und Ritter.
Tschurila Plenkowitsch hielt Rat:
„Urteilt, gute Leute! Wer von uns hat seinen
Kopf verspielt?“
Und sie fällten ihnen das Urteil und entschie-
den, daß Tschurila Plenkowitsch seinen Kopf ver-
wettet hatte.
Sie wollten ihn auf den Richtplatz hinausführen,
aber da trat Ilja Muromez für ihn ein:
„Es ist nicht nötig, daß wir Christenblut vergie-
ßen, aber es ist nötig, Tschurila Plenkowitsch ei-
nen starken Verweis zu geben.“
Tschurila Plenkowitsch gab aber keine Ruhe,
begann wieder Streit anzuzetteln, wollte eine
neue Wette abschließen. Man beriet – Djuk und
Tschurila sollen wieder miteinander wetten.
Tschurila Plenkowitsch sagt:
„Wer von uns wird auf seinem Pferd den
Dneprfluß überspringen? Wer ihn nicht über-
springt, dem soll der Kopf abgeschlagen werden.“
Aber auch hier zeigte sich Djuk Stepanowitsch
nicht feige, wenn er auch jung war. Und sie ritten
auf ihren Pferden, den Dnepr zu überspringen. Da
sagt Tschurila Plenkowitsch:
„Spring du zuerst, Djuk Stepanowitsch!“
Aber hier widersetzte sich Ilja Muromez:

589
„Verloren hast du deinen Kopf, Tschurila, also
spring du zuerst!“
Tschurila Plenkowitsch hatte keine Zeit zu wi-
dersprechen. Er trieb sein schnelles Pferd an und
bohrte seinem Pferd die Sporen in die Weichen.
Da machte sein Pferd einen hohen Sprung und
schlug mitten auf dem Dnepr auf. Der schnelle
Fluß trug das Pferd davon.
Da sprang auch Djuk Stepanowitsch. Wie
schlug er seinem Pferd in die Weichen! Sein klu-
ger Brauner warf sich auf die andere Seite. Djuk
Stepanowitsch packte Tschurila an seinen schwar-
zen Locken und zog ihn auf die andere Seite.
Da sagten alle Recken gleichzeitig:
„Djuk Stepanowitsch, schlag Tschurila den Kopf
ab, zweimal hat er ihn verspielt!“
Aber Djuk Stepanowitsch wollte dies nicht tun.
So blieb Tschurila Plenkowitsch am Leben.
Alle Recken kehrten in die Thronstadt Kiew zu
Fürst Wladimir zurück und setzten sich wieder an
die eichenen Tische. Sie tranken wieder honigsüße
Getränke und aßen süße Speisen.
Seit jener Zeit wurde es in Kiew immer ruhiger.
Keine ungläubigen Feinde wagten es, die Stadt
Kiew zu bekriegen. Und Ilja Muromez beschloß,
fortzureiten und das russische Land zu durchstrei-
fen.
Er ritt weit weg von der Stadt Kiew. Auf einmal
kommt er an drei Wege. Und an der Wegkreuzung
lag ein riesiger Stein. Und auf dem Stein waren
drei Aufschriften:

590
„Wer nach rechts reitet – der wird erschlagen
werden, und wer nach links reitet – der wird reich
werden, und wer geradeaus reitet – der wird ver-
heiratet werden.“
Da überlegte Ilja Muromez:
„Zum Heiraten bin ich schon gar zu alt, und
Reichtum brauche ich überhaupt nicht. Ich will
dorthin reiten, wo man erschlagen werden soll,
mir ist vom Schicksal der Tod nicht beschieden.“
Er wendete sein starkes Pferd und sprengte den
rechten Weg entlang.
Er kommt auf eine breite Lichtung, und auf die-
ser Lichtung stand eine mächtige Eiche. Unter
dieser Eiche saßen vierzig Räuber. Als sie Ilja Mu-
romez sahen, machten sie untereinander aus, ihn
zu umringen und zu erschlagen.
Aber Ilja Muromez sagte zu ihnen:
„Und weswegen wollt ihr mich erschlagen?
Reichtümer habe ich nicht bei mir. Mein Pferd ko-
stet fünfhundert Rubel, das Zaumzeug am Pferd
kostet hundert Rubel.“
Und er nimmt den straffen Bogen von der
Schulter und holt einen stählernen Pfeil aus dem
Köcher. Und er legt den Pfeil auf die Sehne. Und
er schießt den Pfeil nach der grünen Eiche. Und
der Pfeil traf die grüne Eiche, und die Eiche flog
splitternd auseinander. Sehr viele Räuber wurden
da verwundet. Die übrigen Räuber stürzten nach
allen Seiten davon, so daß Ilja Muromez nieman-
den mehr fand, den er erschlagen konnte.
Ilja Muromez kehrte wieder zu dem weißen
Stein zurück und löschte hier die alte Aufschrift.

591
Er schrieb eine neue Aufschrift: „Ilja Muromez ist
den rechten Weg geritten, aber nicht erschlagen
worden.“
Jetzt denkt Ilja Muromez: „Ich muß den Weg
reiten, wo man verheiratet wird, denn Reichtum
brauche ich nicht.“ Und er ritt den Weg gerade-
aus.
Er kommt zu einem großen Schloß, und in die-
sem Schloß lebte eine Zarentochter, die lockte
immer Freier zu sich. Sie lud sie ein in ihr neues
Schlafzimmer und legte die Freier auf ein gefeder-
tes Bett.
Ilja Muromez ging in das neue Gemach, und die
Zarentochter faßte ihn an seinen weißen Händen
und forderte ihn auf, sich auf das gefederte Bett
zu legen. Aber Ilja Muromez packte die Zaren-
tochter und legte sie auf das gefederte Bett. Und
wie er sie hingelegt hatte – da brach das gefeder-
te Bett durch den Fußboden. Ilja Muromez sah
nach unten und sieht – da sind tiefe Keller, und in
den Kellern waren viele Menschen. Ilja Muromez
lief auf den weiten Hof, suchte die Tür zu den tie-
fen Kellern, schlug die Tür schnell ab und ließ die
Menschen aus den dunklen Kellern. Da bedankten
sich alle demütig bei Ilja:
„Du unser Retter, Ilja Muromez! Du hast uns
vor einem schrecklichen Tode bewahrt!“
Da packte Ilja Muromez die Zarentochter am
Zopf und zog sie auf den weiten Hof hinaus; er
befahl, auf der Stelle einen Scheiterhaufen
anzuzünden, die Zarentochter ins Feuer zu werfen
und zu verbrennen.

592
Ilja Muromez ritt wieder zu dem gleichen wei-
ßen Stein. Er löscht hier die alte Aufschrift und
schreibt eine neue Aufschrift:
„Ilja Muromez ist jenen Weg geritten, aber
nicht verheiratet worden.“
Jetzt bekam Ilja Muromez Spaß an der Sache:
sollte er nicht den dritten Weg reiten? Wird es
dort nicht irgendeinen Betrug geben?
Und Ilja Muromez ritt den dritten Weg entlang.
Ilja Muromez erblickte riesige Keller. Und an
diesen Kellern hingen Glocken. Wer Reichtum
braucht, der muß am Strick ziehen. Ilja schlug
kurzerhand an eine Glocke. Irgendwoher kommt
ein Mann mit einem goldenen Stab. Der Mann
sperrt die tiefen Keller auf und sagt die folgenden
Worte:
„Nimm Reichtum, wackerer Held, soviel du
brauchst!“
Da ging Ilja in die tiefen Keller, sah sich um und
wunderte sich: überall liegt in Unordnung Gold
herum. Ilja Muromez hatte sich nie von Gold ver-
locken lassen. Er nahm auch kein bißchen Gold
und ritt wieder zu dem weißen Stein. Er löschte
hier die alte Aufschrift und schrieb eine neue Auf-
schrift:
„Ilja Muromez ist hier geritten, aber nicht reich
geworden.“
Damit endeten die Taten Ilja Muromez’.
Und insgesamt hat Ilja Muromez einhundert-
fünfzig Jahre gelebt.

593
57
Jeruslan Lasarewitsch
In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in
dem, in dem wir leben, lebten einmal zwölf Rek-
ken. Das ist noch nicht das Märchen, sondern erst
die Einleitung. Das Märchen kommt noch, nach
dem Mittagessen, nach dem weichen Vesperbrot.
Also gut, es lebten einmal zwölf Recken. Und
der stärkste von ihnen war ein Recke namens La-
sar Lasarewitsch.
Als Lasar Lasarewitsch zwanzig Jahre alt war,
begannen Vater und Mutter, ihm eine Braut zu
suchen. Aber da gab es bei ihnen folgenden
Streit: Fand Lasar Lasarewitsch eine Braut für sich
– gefällt sie Vater und Mutter nicht; fanden Vater
und Mutter eine – sagt sie Lasar Lasarewitsch
nicht zu. Daher verzichtete Lasar Lasarewitsch
aufs Heiraten. Und so bat er Vater und Mutter, er
wolle durch die weite Welt reiten, sich die Men-
schen ansehen und sich hervortun.
Er ritt und ritt durch verschiedene Länder und
kam in ein Zarenreich. Und er hört in diesem
Reich heftiges Jammern von Menschen. Aber als
er in die Stadt kam, hatte sich das Jammern
schon entfernt. Er fragte die ersten Leute, die ihm
begegneten: „Was ist hier los, warum haben sie
so heftig gejammert?“

594
Da erklärten sie ihm: Eine Jungfrau ist zum
Fraß für einen Drachen weggeführt worden. Und
wegen dieser Jungfrau haben sie so heftig ge-
jammert.
Lasar Lasarewitsch fragte:
„Warum ist diese Jungfrau zum Fraß wegge-
führt worden? Vielleicht für ein Verbrechen?“
„Nein, ein Drache hatte es sich zur Gewohnheit
gemacht, bei uns herumzufliegen, und er fraß je-
den Tag sechs bis sieben Menschen. Und da ist
mit dem Drachen ein Vertrag gemacht worden, sie
wollten ihm jeden Tag einen Menschen geben.
Und nun ist das Los heute auf sie gefallen.“
Lasar Lasarewitsch gab seinem Pferd die Spo-
ren und ritt zu dem Ort, wo sich der riesige Dra-
che befand. Und dort stand eine Hütte, wohin die
zum Fraß Bestimmten geführt wurden. Lasar La-
sarewitsch blickte in diese Hütte und sieht – da
sitzt eine schöne Jungfrau mit verweinten Augen.
Lasar Lasarewitsch trat in die Hütte, aber die
schöne Jungfrau bemerkte ihn nicht.
Da begann Lasar Lasarewitsch zu sprechen:
„Warum, schöne Jungfrau, weinst du?“
Die schöne Jungfrau hob die Augen, erblickte
den schönen Recken und antwortete wie folgt:
„Wie soll ich nicht weinen, wackerer Held?
Gleich wird aus dem See ein riesiger Drache
kommen und mich fressen. Geh im guten von hier
weg, ehe es zu spät ist, sonst frißt er uns beide!
Auf mich ist wenigstens das Los gefallen, aber du
würdest unschuldig verderben.“
Aber Lasar Lasarewitsch sagte zu ihr:

595
„Weine nicht, schöne Jungfrau! Hab keine
Angst! Bleibe nur ich am Leben, dann bleibst auch
du am Leben!“
Er trat zu ihr und bat, sie möge ihm den Kopf
kraulen und ihn, sobald das Meer zu schäumen
beginnt, wecken.
Sie begann ihm den Kopf zu kraulen, und Lasar
Lasarewitsch versank in kürzester Zeit in einen
tiefen Schlaf. Die schöne Jungfrau aber blickt aufs
Meer und sieht – das Meer schäumte und schlug
Wellen. Sie erschrak und begann Lasar Lasare-
witsch zu wecken. Doch wie sehr sie ihn auch zu
wecken suchte, den tiefen Schlaf konnte sie nicht
stören. Und auf einmal sah sie den Drachen, wie
er ans Ufer stieg, ganz voll Schaum. Da zerfloß
die Jungfrau in bitteren Tränen. Und der Strom
ihrer Tränen traf gerade auf das weiße Antlitz La-
sar Lasarewitschs. Von den brennenden Tränen
erwachte Lasar Lasarewitsch und sagt:
„Ach, wie lange hast du mit dem Wecken ge-
wartet!“
Er blickte auf die Jungfrau, aber sie lag schon in
Ohnmacht.
Der Drache aber, als er zwei Menschen sah,
sprach mit Menschenstimme:
„Aha, anscheinend sind die Menschen hier rei-
cher geworden: statt eines haben sie zwei ge-
schickt!“
Darauf sagte Lasar Lasarewitsch folgendes:
„Wie denn, du gedenkst uns aufzufressen, ja?“
Der Drache antwortet:

596
„Ich habe nicht nur zwei auf einmal gefressen,
sondern schon sieben auf einmal gefressen!“
Da rief Lasar Lasarewitsch:
„Und jetzt wirst du wohl schon an einem erstik-
ken!“
Und mit aller Reckenkraft stürzte er sich auf
den Drachen, und es entbrannte zwischen ihnen
ein heftiger Kampf.
Wie lange sie kämpften – wir wissen es nicht.
Nur, wie sehr der Drache auch über Lasar Lasare-
witsch herfiel – er konnte ihn nicht überwinden.
Und auf einmal wurde der Drache ganz schwach
und konnte sich nur noch mit Mühe auf Lasar La-
sarewitsch werfen. Das bemerkte Lasar Lasare-
witsch, nahm all seine Reckenkraft zusammen
und schlug dem Drachen mit dem Schwert den
Kopf ab. So verendete der Drache unter heftigen
Krämpfen.
Lasar Lasarewitsch sieht – der Drache liegt ent-
seelt; er kehrte wieder zu der schönen Jungfrau
zurück. Aber die lag noch immer in Ohnmacht. Er
besprengte sie mit Wasser. Die schöne Jungfrau
kam zu sich. Sie sieht – vor ihr steht ein Recke.
Sie fragt Lasar Lasarewitsch:
„Sage, wunderbarer Recke, wohin ist denn der
Drache geraten?“
Und Lasar Lasarewitsch antwortet:
„Ich habe dir doch gesagt, schöne Jungfrau:
bleibe nur ich am Leben, dann bleibst auch du am
Leben. Sieh nur – der Drache liegt entseelt!“
Als die schöne Jungfrau auf den Drachen blick-
te, entsetzte sie sich und sprach:

597
„Lieber Recke, komm mit zu meinem Vater!
Meine Augen wollen dieses Ungeheuer nicht se-
hen!“
Sie kamen zur ersten Wegkreuzung, und Lasar
Lasarewitsch wollte nach rechts abbiegen. Da bat
die schöne Jungfrau:
„Warum gehst du fort, wunderbarer Recke? Laß
uns zu meinem Vater reiten. Er wird dich mit al-
lem belohnen, was du dir nur wünschst.“
Lasar Lasarewitsch entschloß sich, mit der
Jungfrau zu reiten. Und als sie zu ihrem Hause
kamen, stürzte der Vater ihnen entgegen und
fragte die Tochter:
„Was ist das, liebes Töchterchen? Ist denn der
Drache zu unserem Glück heute nicht herausge-
kommen?“
„Doch, Vater, der Drache ist herausgekommen,
aber es hat sich hier dieser Recke gefunden und
den Drachen erschlagen.“
Der Vater lud Lasar Lasarewitsch zu sich ein,
und als sie am Tisch saßen, bewirtete er ihn mit
dem, was Gott beschert hatte, wie man so sagt.
Und danach fragt er:
„Wie kann ich Euch danken, wackerer Ritter, für
die Rettung unserer Tochter?“
Lasar Lasarewitsch blickte auf die schöne Jung-
frau und sagt:
„Erlaubt mir, ein Wort zu sagen, und werdet
nicht zornig. Ich habe großen Gefallen an Eurer
Tochter. Segnet uns zur Ehe, wenn ihr nicht wi-
dersprechen wollt!“

598
Der Vater widersprach Lasar Lasarewitsch nicht.
Er segnete ihn zur Ehe mit seiner Tochter. Und
Lasar Lasarewitsch brachte seine junge Frau nach
Hause zu seinen Eltern.
Lasar Lasarewitsch hatte mit seiner Gemahlin
ein Jahr gelebt, da wurde ihnen ein Sohn geboren.
Sie gaben ihm den Namen Jeruslan. Als Jeruslan
anderthalb Jahre alt war, sah er aus wie ein gro-
ßer Junge und war so eigenwillig, daß die Mutter
ihm nur irgend etwas nicht recht zu machen
brauchte, und gleich riß er die Seidenvorhänge
und Seidenschnüre der Wiege in Fetzen.
Jeruslan wuchs heran und begann auf den wei-
ßen Hof zu gehen und sich mit den Bojarenkin-
dern, seinen Altersgenossen, zu tummeln. Und
folgendes Unglück trug sich immer wieder mit ihm
zu: Wen er an den Arm faßte – dem wurde der
Arm abgerissen, wen er mit der Hand schlug – der
fiel um und rührte sich nicht mehr, und wen er
am Kopf ergriff – der stand ohne Kopf da. Die Al-
tersgenossen aber waren alle Bojarenkinder.
Da gingen die Bojaren zu Lasar Lasarewitsch.
Sie sagen zu ihm:
„Wir sind zu dir mit einer Bitte gekommen. Du
hast einen Sohn Jeruslan. Er kommt zu unseren
Kindern auf den weißen Hof zum Spielen. Aber er
ist gar zu stark: wen er am Arm faßt – dem wird
der Arm abgerissen, wen er mit der Hand schlägt
– der stürzt zu Boden, und wen er am Kopf packt
– der steht ohne Kopf da. Viel Kraft hat Jeruslan,
viel! Nur daß bei uns wegen seiner Kraft die Trä-

599
nen fließen. Wir bitten dich, erweise uns die Gna-
de, schick ihn von hier fort!“
Lasar Lasarewitsch kam zu seiner Frau. Seine
Frau fragte ihn:
„Was ist mit Euch, mein lieber Mann? Ihr seid
so sehr bekümmert.“
„Wie soll ich nicht bekümmert sein, mein liebes
Weib“, antwortet Lasar Lasarewitsch; „bei guten
Menschen werden die Söhne geboren, in der Ju-
gend zur Freude, im Alter zur Stütze und nach
dem Tode zum Gedenken. Aber uns bereitet mein
Sohn Jeruslan nur großen Kummer. Die Bojaren
beschweren sich über ihn, bitten, ihn von Hause
wegzuschicken. Sie sagen, er verfährt ungebühr-
lich mit den Bojarenkindern.“
So sagte er, und seine Frau weinte. Und Jerus-
lan hörte, wie Vater und Mutter ihr Schicksal ver-
fluchten.
Da trat er in ihr Gemach, verneigte sich tief bis
zur Erde und sagte:
„Teure Eltern, scheltet mich nicht und murrt
nicht über euer Schicksal. Ich weiß, daß die Boja-
ren zornig auf euch sind, und ich selbst werde
meiner Kraft nicht froh. Es scheint, ich muß durch
die weite Welt streifen, mir die Menschen ansehen
und mich hervortun. Nur brauche ich ein stähler-
nes Schwert und eine Reckenrüstung, und dann
kann ich mich auf den Weg machen.“
Das hörte die Mutter und begann noch mehr als
vorher zu weinen. Aber Jeruslan trat zu seiner
Mutter und redete ihr gut zu.

600
„Weine nicht, liebes Mütterchen, all das ist zum
besten. Mir ist gar nicht weh ums Herz. Ich reite
mit großer Lust, nur schade, daß es mir an einem
Reckenpferd fehlt!“
Da wunderte sich Lasar Lasarewitsch:
.Was heißt das? Pferde habe ich viele in mei-
nem Stall. Du kannst dir aussuchen, welches du
willst!“
Aber Jeruslan Lasarewitsch widersprach ihm:
.Mein lieber Vater! Schon längst habe ich die
Pferde in unserem Pferdestall geprüft. Sobald ich
meine Hand auf ein Pferd lege, hört dieses Pferd
auf zu atmen. Das eben ist mein Kummer, daß in
unserem Stall kein schnelles Pferd für mich ist!“
„Nun gut, Jeruslan! Wenn diese für dich nicht
taugen, dann reite in die Bannwiesen. Ein Wächter
ist dort, Iwaschka mit Namen. Mein Pferdeknecht
ist er, hütet die Pferde schon dreißig Jahre. Bei
ihm kannst du dir ein gutes Pferd aussuchen.“
Jeruslan Lasarewitsch machte sich fertig zur
Reise. Er nahm einen türkischen Sattel mit, eine
Riemenpeitsche und eine Pferdedecke, dazu eine
lange Lanze und ein stählernes Schwert. Nahm
Abschied von Vater und Mutter und trat froh aus
dem weißen, steinernen Palast.
Ging er nun lange oder kurze Zeit, nah oder
fern – ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat
wird nur mühsam getan.
Er ging und ging und stieß plötzlich auf eine
breite Straße. Die Straße war von Pferdehufen
zerstampft. Der Recke sah’s und wunderte sich:
Was heißt das? Wer reitet auf dieser Straße? Eine

601
große Streitmacht, oder hat ein Recke die Straße
so zerstampft? Aber er brauchte nicht lange zu
überlegen: er sah eine Pferdeherde gerade auf
sich zukommen. Die Pferde jagten im Galopp vor-
bei. Jeruslan Lasarewitsch weidete sich am An-
blick der Pferde, aber zu fangen wagte er sie
nicht. Und wieder sieht er: hinter der Herde
kommt ein Recke geritten, und das Pferd unter
ihm ist ein starker Schecke. Der Recke ritt neben
Jeruslan Lasarewitsch, hielt sein Pferd an und
verneigte sich tief vor ihm: „Viele Jahre Gesund-
heit wünsche ich dir, Jeruslan Lasarewitsch!“
Jeruslan Lasarewitsch wunderte sich:
„Woher weißt du denn, wackerer Recke, wer ich
bin?“
„Wie soll ich das nicht wissen?“ antwortet der
Recke. „Ich habe dich doch schon von klein auf
gesehen. Wußte, wie du in der Wiege gelegen und
die Seidenvorhänge zerrissen hast. Ich bin der
treue Wächter deines Vaters, man nennt mich
Iwaschka, mein Pferd aber – Siw Alotjagilej. Und
nun, Jeruslan Lasarewitsch, sage, aus welchem
Grunde bist du hier? Hat der Vater dich geschickt,
oder bist du von selber gekommen?“
Da sagte Jeruslan Lasarewitsch:
„Nicht der Vater hat mich geschickt, und nicht
von selber bin ich gekommen. Ich will durch die
weite Welt streifen, mir die Menschen ansehen
und mich hervortun. Nur die eine Sorge habe ich,
daß ich kein Reckenpferd habe.“
Darauf sagte Iwaschka das folgende:

602
„Sei nicht traurig, Jeruslan Lasarewitsch, das
läßt sich in Ordnung bringen. Ich werde dir helfen,
ein Pferd zu finden. Es wird ein gutes Pferd sein.
Warte bis morgen: mit Sonnenaufgang werde ich
meine Herde zur Tränke treiben. Versteck dich in
einem Hinterhalt nahe der Straße. Es wird ein
schwarzes Pferd gerannt kommen – Schwarzer
Sturmwind mit Namen –, das mußt du fangen.
Vermagst du’s zu fangen, wird es dein Pferd.
Vermagst du’s nicht, wirst du das Pferd nicht zu
sehen bekommen.“
Am Morgen versteckte sich Jeruslan vor Son-
nenaufgang in einem Hinterhalt nahe der Straße.
Als sich am Horizont die rote Sonne zeigte, er-
blickte er eine ganze Herde Pferde. Die Pferde
kamen an ihm vorbei.
Jeruslan hält Ausschau: wo ist denn hier das
Reckenpferd Schwarzer Sturmwind?
„Aha, dort läuft es!“
Der Schwarze Sturmwind lief zum Fluß und
trank das kalte Wasser. Als er sich satt getrunken
hatte, schlug er mit seinem Huf die Erde. Unter
seinen Hufen sprühten die Funken, und eine große
Flamme fuhr empor. Und vor diesem Hufschlag
verbargen sich alle Tiere in ihren Höhlen, und die
Vögel flogen zum Himmel empor. Das Pferd wand-
te sich um und jagte dorthin, wo Jeruslan Lasare-
witsch ihm im Hinterhalt auflauerte.
Sobald es auf gleicher Höhe mit Jeruslan Lasa-
rewitsch war, kam Jeruslan aus seinem Hinterhalt
hervorgeflogen wie ein schneller Pfeil vom straffen
Bogen, packte das Pferd an der langen Mähne und

603
zog mit seiner mächtigen Hand so stark, daß das
Pferd nicht standhielt und auf die Vorderbeine
stürzte. Es ließ zu, daß Jeruslan Lasarewitsch ihm
den geflochtenen Zügel anlegte, den türkischen
Sattel und die Decke, und ließ Jeruslan Lasare-
witsch gefügig aufsitzen.
Jeruslan Lasarewitsch bestieg das Pferd, und
sein Herz begann zu schlagen, und seine Seele
drängte in die unüberschaubare Ferne. Gerade
wollte Jeruslan Lasarewitsch reiten, da erschien
Iwaschka auf seinem Siw Alotjagilej. Jeruslan La-
sarewitsch hielt sein Pferd zurück und wartete auf
Iwaschka. Der kam, und Jeruslan Lasarewitsch
dankte ihm für seinen Rat und sagte:
„Dieses Pferd wird für mich das richtige sein!“
Und er sagte noch:
„Sobald du zum Vater kommst, Iwaschka, –
überbringe ihm meinen ergebenen Gruß und sa-
ge: ‚Dein Sohn hat ein herrliches Pferd gefunden
und ist in ferne Länder geritten, das Glück zu su-
chen.’“
Iwaschka sah sich um, aber Jeruslan Lasare-
witsch war schon längst nicht mehr zu sehen.
Jeruslan Lasarewitsch ritt lange Zeit, kommt
auf ein weites Feld und sieht – auf dem Felde liegt
eine große Streitmacht, völlig geschlagen. Er ritt
in die Mitte des Feldes und rief:
„Nun, ist keiner in diesem Heer am Leben?“
Und aus dem Berg toter Körper erhebt sich ein
Krieger und fragt:
„Was willst du, wackerer Recke?“

604
„Sage mir doch, wackerer Mann, wem gehört
diese große Streitmacht?“
„Diese große Streitmacht gehört dem Fürsten
Fedoul Smejewitsch13.
„Und wer hat sie geschlagen?“
„Geschlagen hat sie Iwan der russische Recke.“
„Und in welche Richtung ist Iwan der russische
Recke geritten?“ fragt Jeruslan Lasarewitsch.
„Reite rings um dieses Feld, und du wirst die
Spuren Iwans des russischen Recken sehen. Denn
sein Pferd wühlt mit den Hufen ganze Hügel auf.
Nur wirst du ihn wohl nicht einholen: sein Pferd –
Wunder über Wunder, Staunen über Staunen –
steigt beinahe höher als der ragende Wald und
streift beinahe die ziehenden Wolken.“
Jeruslan Lasarewitsch wendete sein Pferd und
stieß bald auf die Spuren Iwans des russischen
Recken. Er ließ seinem Pferd die Zügel schießen,
ritt und ritt und stieß auf eine andere große
Streitmacht. Und die lag gleichfalls geschlagen.
Jeruslan Lasarewitsch ritt in die Mitte und rief
laut:
„Ist einer am Leben in der großen Streitmacht?“
Da erhebt sich aus dem Berg toter Körper ein
Krieger und sagt:
„Was willst du, wunderbarer Recke?“
„Ich möchte gern wissen, wem diese große
Streitmacht gehört und wer sie geschlagen hat.“

13
Smejewitsch – etwa „Schlangensohn“ oder „Drachen-
sohn“. (Anm. d. Übers.)

605
„Diese große Streitmacht gehört dem Fürsten
Fedoul Smejewitsch, und geschlagen hat sie Iwan
der russische Recke.“
„Und in welche Richtung ist Iwan der russische
Recke geritten?“
„Reite rings um das Feld und du wirst bald sei-
ne Spur finden. Denn er hat ein Wunderpferd.
Ganze Hügel wühlt sein Pferd mit den Hufen auf.
Du wirst ihn wohl bald einholen, denn ich sehe –
das eine Pferd ist besser als das andere, und der
eine Held ist kühner als der andere.“
Jeruslan Lasarewitsch ritt um das Feld herum,
stieß bald auf die Spur Iwans des russischen Rek-
ken und jagte seinen Schwarzen Sturmwind in
vollem Galopp der Spur nach.
Er ritt und ritt lange Zeit, und endlich sieht er –
auf einer Wiese ist ein weißes Leinenzelt aufge-
schlagen. Und an diesem Zelt steht ein Pferd an-
gebunden und frißt Mais. Jeruslan Lasarewitsch
stieg von seinem Pferd, ließ es laufen, und der
Schwarze Sturmwind ging zu dem Mais. Das an-
dere Pferd witterte das starke Pferd und ging weg
von dem Mais. Und Jeruslan Lasarewitsch betritt
das weiße Leinenzelt und sieht: da liegt ein Recke
und ruht in tiefem Schlaf. Jeruslan betrachtete
ihn, wollte ihn wecken, besann sich aber und woll-
te den süßen Schlaf des Recken nicht unterbre-
chen. Er streckte sich in seiner ganzen Größe aus
und sank gleichfalls in tiefen Schlaf. Und als er
aufwachte, sieht er – vor ihm steht ein Recke.
Und das war Iwan der russische Recke.

606
Iwan der russische Recke sieht, daß der unbe-
kannte Gast aufgewacht ist, nimmt einen Becher,
füllt ihn mit funkelndem Wein und sagt:
„Nach unserer russischen Sitte möchte ich dich
bewirten, wunderbarer Recke. Wer bist du und
woher kommst du?“
Jeruslan Lasarewitsch dankte Iwan dem russi-
schen Recken für das freundliche Wort und den
berauschenden Wein, leerte den Becher und be-
gann, alles der Reihe nach von sich zu erzählen.
Und folgendes sagte zu Iwan dem russischen
Recken Jeruslan Lasarewitsch:
„Ich habe geglaubt, ich werde keinen in der
Welt finden, der mir gleich ist, aber jetzt sehe ich,
es gibt auf der Welt einen viel Stärkeren als mich.
Vergib mir und laß uns beide Brüderschaft schlie-
ßen. Sei du mir der ältere Bruder, und ich will dir
der jüngere Bruder sein!“
Sie schlossen Brüderschaft und begannen wie-
der zusammen zu essen und einander mit fun-
kelndem Wein zu bewirten. Und als sie getrunken
hatten, fragte Jeruslan Lasarewitsch Iwan den
russischen Recken:
„Warum hast du auf dem Felde die zwei großen
Heere geschlagen?“
Iwan der russische Recke antwortet:
„Wie hätte ich denn handeln sollen, lieber Bru-
der? Ich liebe Kandaula, die Tochter Fedoul Sme-
jewitschs mehr als die helle Sonne und bin gerit-
ten, um sie zu freien; aber ihr Vater hat mich mit
einem unzählbaren Heer empfangen. Da haben
wir gekämpft – und du siehst, wieviele Krieger bei

607
Zar Fedoul gefallen sind. Und jetzt habe ich be-
schlossen, ihm folgendes zu sagen: ,Hör auf, Fe-
doul Smejewitsch, das Leben unschuldiger Men-
schen zu opfern, gib mir Kandaula Fedoulowna zur
Frau und laß uns im guten auseinandergehen!’“
Iwan der russische Recke ritt zurück zum Za-
renreich Fedoul Smejewitschs, bei Fedoul um die
Hand seiner Tochter zu bitten. Und Jeruslan Lasa-
rewitsch ritt zusammen mit ihm, um zu sehen,
wie das Freien Iwans des russischen Recken en-
den würde.
Ein kleines Stück vor der Stadt blieb Jeruslan
Lasarewitsch unter einer breitastigen Eiche zu-
rück. Iwan der russische Recke aber ritt bis an die
Stadt heran, wo Fedoul Smejewitsch mit seinem
Heer stand.
Iwan der russische Recke stieß in sein Kriegs-
horn. Und Fedoul Smejewitsch, als er die Töne
des Horns gehört hatte, sammelte sein Heer. Er
führte das Heer aus dem Stadttor und stellte es in
Kampfordnung auf. Aber Iwan der russische Rek-
ke gab Zeichen, daß er friedliche Verhandlungen
führen will. Dagegen hatte Fedoul Smejewitsch
nichts einzuwenden, er erinnerte sich, wie Iwan
der russische Recke ihm zwei große Heere ge-
schlagen hatte.
Iwan der russische Recke kam zu ihm und sag-
te:
„Warum, Fedoul Smejewitsch, vergießt du das
Blut unschuldiger Menschen? Warum willst du mir
deine Tochter Kandaula Fedoulowna nicht zur Frau
geben? Weißt du denn nicht: ich werde sowieso

608
die Oberhand über dich behalten, und die wun-
derschöne Kandaula wird meine Frau werden. Ma-
chen wir es doch lieber so: gib mir deine Tochter
Kandaula Fedoulowna zur Frau – und wir kommen
ohne Blutvergießen aus!“
Wie Fedoul Smejewitsch auf Iwan den russi-
schen Recken und auf sein Heer blickte, dachte
er: zu stark ist dieser Recke, man kann ihn nicht
bezwingen.
Und er war auf der Stelle einverstanden, ohne
den Kampf zu eröffnen.
Und alle ritten als Gäste zu Fedoul Smeje-
witsch.
Fedoul Smejewitsch gab ein Fest und bewirtete
Iwan den russischen Recken – seinen künftigen
Schwiegersohn – und Jeruslan Lasarewitsch.
Sie tranken aus und begannen ein Gespräch:
wie kann Iwan der russische Recke möglichst
schnell mit Kandaula Fedoulowna getraut werden?
Fürst Fedoul war nun mit allem einverstanden,
und bald fand die Hochzeit seiner Tochter mit
Iwan dem russischen Recken statt.
Nach der Trauung setzten sich alle zu Tisch und
begannen wieder zu feiern. Und Jeruslan Lasare-
witsch wandte sich mit den folgenden Worten an
die Fürstin Kandaula Fedoulowna:
„Teure Kandaula Fedoulowna! Sage, gibt es in
der Welt eine, die schöner ist als du?“
Kandaula Fedoulowna sagte:
„Was bin ich schon für eine Schönheit? Aber im
Debrischen Zarenreich – dort gibt es eine Schön-
heit. Es steht auf dem Felde ein weißes Leinen-

609
zelt. Und in diesem Zelt wohnen drei Schwestern.
Von diesen drei Schwestern die jüngste – die ist
schöner als ich.“
„Und sage, Fürstin, gibt es in der Welt einen,
der stärker ist als ich, außer Iwan dem russischen
Recken?“
Da sagte die Fürstin zu ihm:
„Ich habe gehört, im Zarenreich Dalmatien gibt
es einen Wächter Iwaschka, genannt Weißer Man-
tel, Sorotschinsker Mütze. An dem kann kein ein-
ziges Tier vorbeilaufen, kein einziger Vogel vorbei-
fliegen und kein einziger Recke vorbeireiten. Alle
besiegt er. Aber ich kann nicht sagen, wer von
euch stärker ist – Iwaschka oder du!“
Da sagt Jeruslan Lasarewitsch:
„Ich danke dir, Fürstin, für den guten Rat!“
Und begann sich zu verabschieden.
Sie wollten ihn überreden, wenigstens noch ei-
nen Tag zu bleiben. Aber Jeruslan Lasarewitsch
blieb bei seinem Entschluß und ritt nach dem De-
brischen Zarenreich zu den drei Schwestern.
Er reitet auf dem Wege, von dem ihm die Für-
stin gesprochen hat. Er ritt sehr lange und erblick-
te schon von ferne das weiße Leinenzelt. Er kam
zu diesem Zelt, stieg vom Pferd und trat ins Zelt.
Die drei schönen Schwestern saßen an ihrer
Handarbeit: die eine nähte, die andere schnitt die
kostbaren Kleider zu. Sie erblickten den teuren
Gast, wurden verwirrt, begannen hin und her zu
laufen und wußten nicht, was sie tun sollten. Da
sagte Jeruslan Lasarewitsch:

610
„Habt keine Angst, ihr Schönen! Ich bin nicht
als Feind zu euch gekommen. Im Gegenteil, ich
habe von euch viel Gutes gehört und wollte euch
kennenlernen!“
Da erröteten die Jungfrauen und betrachteten
den Recken. Er aber trat zur jüngsten, Leila mit
Namen, und sagte folgendes:
„Liebe Leila, sag doch, gibt es auf der Welt ei-
ne, die schöner ist als du?“
Da sagte Leila:
„Was bin ich schon für eine Schönheit! Aber
Fürst Wachramej hat eine Tochter, Nastasja
Wachramejewna, das ist eine Schönheit: auf der
Stirn brennt ihr ein Stern, unter dem Zopf glänzt
ein Mond, und wenn sie zu sprechen beginnt, ist’s,
als ob ein Bächlein rauscht, und wenn sie blickt –
als ob sie einen Silberrubel schenkt.“
„Und sage, teure Leila, gibt es auf der Welt ei-
nen, der stärker ist als ich, außer Iwan dem russi-
schen Recken?“
„Ich habe gehört“, sagt Leila, „im Zarenreich
Dalmatien gibt es einen Recken, genannt Iwasch-
ka Weißer Mantel, Sorotschinsker Mütze. An dem,
sagt man, ist noch kein Tier vorbeigelaufen, noch
kein Vogel vorbeigeflogen und noch kein Recke
vorbeigeritten. Doch wer von euch stärker ist,
kann ich nicht sagen: ihr habt eure Kräfte noch
nicht miteinander gemessen.’
Jeruslan Lasarewitsch unterhielt sich noch ein
wenig und verabschiedete sich dann.
Er trat hinter das weiße Leinenzelt, wo ihn das
Pferd Schwarzer Sturmwind erwartete, sprang auf

611
sein Pferd und sprengte rasch davon wie ein stäh-
lerner Pfeil, der vom straffen Bogen geschossen
wurde.
Die wunderschöne Leila aber blickte ihm lange
nach, und die Tränen rollten ihr über die Wangen:
gar zu sehr hatte ihr Jeruslan der Recke gefallen.
Jeruslan Lasarewitsch ritt und ritt und wollte ins
Zarenreich Dalmatien reiten, dann aber änderte er
seinen Sinn und dachte an Zar Wachramej und an
Nastasja Wachramejewna.
Und was ist, wenn ich zum Zaren Wachramej
reite und Nastasja Wachramejewna mir gefällt?
Aber ich habe meine Eltern nicht um den Segen
gebeten! Ich will doch lieber zu meinen Eltern rei-
ten und ihren Segen erbitten.
Das tat er auch. Er wendete sein Pferd und
sprengte davon in seine Stadt.
Es war nicht mehr sehr weit bis zu seiner Stadt,
da sieht er auf einmal und traut seinen Augen
nicht: rings um seine Stadt steht ein unüberseh-
bares feindliches Heer. Und er erfuhr, daß Fürst
Danilo Bely vor die Stadt gezogen ist. Und er will
ihr Zarenreich zerschlagen, keinen Stein auf dem
anderen lassen und alle Recken in die Gefangen-
schaft führen.
Sobald Jeruslan Lasarewitsch das erfahren hat-
te, wurde er sehr zornig, zog seinen Sattel fester
an, nahm die lange Lanze, das stählerne Schwert
und stürzte sich in das feindliche Heer.
Die Krieger der Horde schrien auf, ließen ihren
Kriegsruf erschallen, umringten Jeruslan Lasare-

612
witsch von allen Seiten und begannen auf ihn ein-
zudringen.
Jeruslan Lasarewitsch nahm sein Schwert und
begann rechts und links ein Gemetzel. Und doch
erschlug er mit seinem Schwert nicht so viel Fein-
de, wie sein Pferd mit dem Huf zertrat.
Lange gaben sich die Feinde nicht geschlagen,
aber endlich wurden sie matt und begannen zu
weichen.
Aber Jeruslan Lasarewitsch schonte keinen ein-
zigen Feind, sondern schlug immer stärker und
stärker zu.
Und auf einmal sieht er den Fürsten Danilo Be-
ly. Er setzte ihm nach, holte ihn ein und warf ihn
aus dem Sattel.
Fürst Danilo Bely bat um Gnade, und Jeruslan
Lasarewitsch nahm ihm einen Eid ab – nie mehr
gegen die Stadt zu ziehen, wo Lasar Lasarewitsch
lebte.
Und zum Zeichen des Eides aß Danilo Bely eine
Handvoll Erde. Und Jeruslan Lasarewitsch ließ Da-
nilo Bely frei.
Das alles aber hatten sie von der Stadt aus ge-
sehen, doch wußten sie nicht, wer die feindlichen
Horden vernichtet hatte.
Als Jeruslan Lasarewitsch ans Tor geritten kam,
sperrten sie es auf und ließen den Recken mit
großen Ehren ein.
Er trat ein und begrüßte seine Eltern. Vater und
Mutter freuten sich sehr über ihn, daß sie nicht
imstande waren, die Tränen zurückzuhalten. Und
zu Ehren der Ankunft des Sohnes gaben sie ein

613
Fest, daß die ganze Stadt drei Tage lang fröhlich
war.
Nach dem Fest aber sagte Jeruslan Lasare-
witsch folgendes:
„Ich danke euch, Vater und Mutter, für das Fest
– ich habe schön gefeiert. Nur bitte ich, mir zu
vergeben. Ich habe noch nicht genug gefeiert.
Mein ungestümes Herz gebietet mir, durch die
weite Welt zu streifen, mir die Menschen anzuse-
hen und mich hervorzutun.“
Da sagt der Vater:
„Man kann den Falken nicht im engen Käfig zu-
rückhalten!“
Sie segneten ihn und rüsteten ihn aus für die
Reise.
Und Jeruslan Lasarewitsch ritt fort ins dalmati-
sche Zarenreich mit der Absicht, danach Nastasja
Wachramejewna zu besuchen.
Er ritt und ritt, und das dalmatische Reich war
schon zu sehen. Er sieht sich um: und wo ist der
Wächter Iwaschka Weißer Mantel? Hat jemand ihn
erschlagen, oder ist er eines natürlichen Todes
gestorben?
Er sah sich noch weiter um und sagt:
„Ach, da ist ja Iwaschka! Ich erkenne ihn am
weißen Mantel und der Sorotschinsker Mütze.“
Er ritt zu Iwaschka und sieht: Iwaschka hat sich
auf seinen langen Speer gestützt und schläft fest.
Und in diesem Augenblick nimmt Jeruslan Lasa-
rewitsch seine Peitsche, schlägt Iwaschka auf sei-
ne Sorotschinsker Mütze und sagt dazu:

614
„Warum schlaft Ihr im Stehen? Wackere Recken
schlafen nicht im Stehen!“
Iwaschka wachte auf und begann mit grober
Stimme zu sprechen:
„Was bist du denn für ein Recke? Was hast du
hier zu suchen? Weißt du nicht, daß an meiner
Grenzwache kein Tier vorbeirennt, kein Vogel vor-
beifliegt und kein Recke vorbeireitet? Und du hast
dich erdreistet, mich mit der Peitsche zu schlagen.
Was bist du eigentlich für ein Naseweis?“
Jeruslan Lasarewitsch sagt:
„Ich will Euer dalmatisches Zarenreich besu-
chen, aber ohne deine Genehmigung kann ich das
nicht.“
Und Iwaschka sagt:
„Nein, so lasse ich dich nicht fort. Wir wollen
unsere Kräfte messen. Wenn du siegst – lasse ich
dich vorbei. Wenn du nicht siegst, hast du am
längsten gelebt.“
Jeruslan Lasarewitsch beschloß zu versuchen,
wer stärker ist. Sie ritten auseinander und flogen
dann aufeinander zu.
Jeruslan traf Iwaschka mit dem stumpfen Lan-
zenende. Und von diesem Stoß flog Iwaschka
ohnmächtig aus dem Sattel. Und das Pferd Jerus-
lan Lasarewitschs trat Iwaschka auf den Hals-
schutz der Rüstung und drückte ihn gegen die Er-
de. Da setzt Jeruslan Lasarewitsch seine Lanze
auf Iwaschkas Brust und sagt:
„Nun, wie ist’s, Iwaschka, läßt du mich ein ins
dalmatische Zarenreich oder nicht?“
Iwaschka sagte:

615
„Du kannst gehen, wohin du willst.“
Jeruslan Lasarewitsch ritt nun geradewegs in
die Hauptstadt zum dalmatischen Zaren. Kam in
die Stadt und bat, ihn vorzulassen. Der Zar be-
fahl, Jeruslan Lasarewitsch vorzulassen, und
fragt:
„Sage, wackerer Held, wie heißt du?“
„Ich heiße Jeruslan Lasarewitsch.“
„Und wie bist du denn, wunderbarer Recke, an
meiner Grenzwache vorbeigekommen, und wie
hat sich mein treuer Wächter Iwaschka Weißer
Mantel, Sorotschinsker Mütze, erdreistet, dich
vorbeizulassen? An ihm ist noch kein Tier vorbei-
gerannt, noch kein Vogel vorbeigeflogen und noch
kein Mensch vorbeigeritten!“
Jeruslan Lasarewitsch antwortet:
„Es ist richtig, dein Wächter hat mich nicht vor-
beilassen wollen. Aber wir haben unsere Kräfte
gemessen, und er war schwächer als ich, da muß-
te er mich vorbeilassen.“
Der dalmatische Zar erschrak und sagte zu
sich:
„Es ist da ein Recke angekommen, ich weiß
nicht warum und weswegen. Gewiß will er sich
mein Zarenreich aneignen. Wenn er schon
Iwaschka besiegt hat, dann wird er mein Heer wie
Krautköpfe zusammenhauen und sich mein Zaren-
reich aneignen.“
Er sprach freundlich mit Jeruslan Lasarewitsch
und bewirtete ihn mit allen erdenklichen Weinen.
Jeruslan Lasarewitsch läßt sich bewirten und
sieht, daß der dalmatische Zar ihn fürchtet. Er

616
dankte ihm für die Gastfreundschaft und ritt
sogleich aus dem dalmatischen Zarenreich.
Jeruslan Lasarewitsch ritt mit der Absicht, Na-
stasja Wachramejewna aufzusuchen, und auf
einmal begegnet ihm ein Wanderer.
Dieser Wanderer verneigte sich tief vor Jeruslan
Lasarewitsch und sagte:
„Viele Jahre Gesundheit, Jeruslan Lasare-
witsch!“
Jeruslan Lasarewitsch hörte diese Worte, hielt
sein Pferd an und fragte:
„Woher kennst du mich denn, Greis?“
„Wie soll ich dich nicht kennen? Du bist doch
aus einer Stadt mit mir.“
„Und bist du schon lange von dort fort, Alter?“
„Schon einen Monat.“
„Und was geht dort vor sich?“
„Ach, Jeruslan Lasarewitsch! Ich sehe, du hast
keine Ahnung. Ein solches Unglück ist über unsere
Stadt hereingebrochen! Fürst Danilo Bely ist vor
die Stadt gezogen und hat sie ganz zerstört, kei-
nen Stein auf dem anderen gelassen. Alle Recken
hatte er in die Gefangenschaft geführt, deinem
Vater und den Recken die Augen ausgestochen!“
Als Jeruslan Lasarewitsch das gehört hatte, war
ihm, als würde ihm das ungestüme Herz heraus-
gerissen. Er wendete sein Pferd und jagte ins Za-
renreich des Fürsten Danilo Bely. Er kam zu dem
Gefängnis, in dem sein Vater, seine Mutter und
alle Recken eingeschlossen waren. Aber die Wäch-
ter ließen ihn nicht heran.
Da sagt er von ferne:

617
„Viele Jahre Gesundheit dir, liebe Mutter, und
dir, lieber Vater, und allen Recken!“
Das hörte Lasar Lasarewitsch und sagt:
„Treibe nicht deinen Spott, guter Mann. Du bist
nicht mein Sohn. Wenn mein Sohn hier wäre,
dann säßen wir nicht in diesem Gefängnis und er-
litten nicht solche Qualen.“
„Glaube mir, teurer Vater, ich bin in Wahrheit
Euer Sohn. Einen Eid hatte mir Danilo Bely ge-
schworen, unsere Stadt nicht anzutasten. Und da-
nach ist er gegen Euch gezogen und hat Euch die
Augen ausgestochen. Lieber Vater, ich bin bereit,
alles auf der Welt zu opfern, um Euch die Augen
zurückzugeben, aber ich bin nur ein schwacher
Mensch.“
„Es scheint, ich erkenne ihn: das ist mein Sohn,
Jeruslan Lasarewitsch! Das bist du, mein lieber
Sohn“, schrie Lasar Lasarewitsch. „Reite nach der
Stadt Stschetin, in dieser Stadt regiert ein Zar mit
Namen Feuerschild-Flammenspeer. Wer diesen
Zaren erschlägt und seine Galle nimmt und in den
Bergen noch das Wasser des Lebens findet und
mit diesem Wasser des Lebens die Augen wäscht,
der gibt uns das Augenlicht wieder.“
Sobald Jeruslan Lasarewitsch das gehört hatte,
beschloß er, sogleich nach der Stadt Stschetin zu
reiten. Er ging weg vom Gefängnis, bestieg sein
Pferd und sprengte davon.
Er ritt und ritt und stieß plötzlich auf eine große
geschlagene Streitmacht. In ihrer Mitte aber lag
ein Kopf von gewaltiger Größe, wie ein Heuscho-
ber, und dieser Kopf schnarchte in allen Tonarten.

618
Jeruslan Lasarewitsch rief:
„Wie steht’s, ist auf diesem Schlachtfeld noch
einer am Leben oder nicht?“
Der Kopf öffnete die Augen und gähnte:
„Was willst du, starker Recke?“
„Sage doch bitte, wem gehört diese große
Streitmacht?“
„Diese große Streitmacht gehört einem Zaren
mit Namen Feuerschild-Flammenspeer.“
„Und wer hat diese große Streitmacht geschla-
gen?“
„Geschlagen habe ich sie, Roslanja der Recke“,
antwortet der Kopf.
„Ja, wie hat sich denn das zugetragen? Die gro-
ße Streitmacht hast du geschlagen und liegst jetzt
selber hier?“
„Das hat sich wie folgt zugetragen“, antwortet
der Kopf. „Mein Vater hatte früher einen heftigen
Kampf mit dem Vater des Zaren Feuerschild-
Flammenspeer. Er schlug meinen Vater. Ich war
noch zu klein. Aber als ich herangewachsen war,
wollte ich am Mörder meines Vaters Rache neh-
men und wollte Feuerschild mit Krieg überziehen.
Mein Bruder sagte mir folgendes: ‚Überziehe Feu-
erschild nicht mit Krieg. Wenn du auch tüchtig
bist, aber Feuerschild wird dich besiegen, weil ihm
kein Schwert etwas anhaben kann. Wenn du aber
siegen willst, dann reite zuerst durch dreimal
neun Länder auf die Insel Bujan. Dort liegt in ei-
nem Keller ein stählernes Schwert. Hast du dieses
Schwert geholt, kannst du Feuerschild besiegen.’
Ich überlegte nicht lange, machte mich auf nach

619
dieser Insel Bujan, suchte dort den Keller, riß ihn
ein und fand das stählerne Schwert. Ich nahm
diese Waffe voll Freude und dachte – der Sieg
wird auf meiner Seite sein.
Ich ritt vor die Stadt Stschetin und stieß in
mein Kriegshorn. Als Feuerschild erfuhr, was los
war, sammelte er sein Heer und zog selbst gegen
mich zu Felde. Aber sie sind alle auf dem
Schlachtfeld geblieben. Feuerschild sah, daß sein
ganzes Heer geschlagen war, und flog ungestüm
auf mich zu. Er hoffte, kein Schwert werde ihm
etwas anhaben können. Doch ich traf ihn mit dem
Schwert, und er stürzte aus dem Sattel.
Da begannen die Diener Feuerschilds zu spre-
chen:
‚Auf, Held! Schlag nur noch einmal zu, damit er
merkt, mit wem er es zu tun hat!’
Ich schlug kurzerhand noch einmal zu. Wie ich
zugeschlagen hatte, geschah ein großes Wunder:
das Schwert sprang von selbst zurück und schlug
mir den Kopf ab. Da merkte ich, daß ich nicht
mehrmals schlagen durfte. Mein Bruder sprang
rechtzeitig herzu, riß mir das Schwert aus den
Händen und legte es mir unter den Kopf. Viele
vorbeiziehende Recken wollten das Schwert unter
meinem Kopf hervorholen. Doch niemandem habe
ich dieses Schwert überlassen. Auch jetzt ist es
unter meinem Kopf verwahrt.“
All das erzählte der Kopf Roslanjas des Recken
dem Jeruslan und fragte ihn:
„Und wohin reitest du?“
Jeruslan Lasarewitsch sagte:

620
„Ich reite gerade zu diesem Feuerschild-
Flammenspeer.“
„Und weswegen reitest du dorthin?“
„Unsere Stadt hat Fürst Danilo Bely überfallen,
hat Vater, Mutter und alle Recken in die Gefan-
genschaft geführt und ihnen die Augen ausgesto-
chen. Da haben sie mir gesagt: du mußt in die
Stadt Stschetin reiten, dort Wasser holen und
damit die Augen bestreichen. Dann werden mein
Vater, meine Mutter und alle Recken wieder se-
hen. Deswegen also reite ich.“
„Nein, Jeruslan Lasarewitsch, wenn du auch rei-
test, so erreichst du doch nichts.“
„Und warum?“
„Darum, weil dieser Feuerschild freiwillig nie-
mals etwas gibt. Er hat die Gewohnheit, seine
Kräfte zu messen. Siegst du – gibt er, siegst du
nicht – gibt er nicht. Besiegen aber kannst du ihn
nicht, weil ein einfaches Schwert ihm nicht einmal
eine kleine Schramme zufügt. Ich werde dir mein
Schwert überlassen. Ohne dieses Schwert kannst
du Feuerschild auf keine Weise bezwingen. Aber
leiste mir einen Dienst: wenn du ihn erschlagen
hast, nimm ihm die Galle heraus, bestreiche mit
ihr meinen Hals, füge meinen Kopf daran – und
ich werde wieder aufstehen.“
Jeruslan Lasarewitsch gab Roslanja dem Recken
das eidliche Versprechen, Wasser des Lebens zu
bringen und auch die Galle Feuerschilds zu holen.
Sogleich fuhr der Kopf Roslanjas des Recken
von dem Schwert herunter, und Jeruslan Lasare-
witsch erblickte dieses kostbare, unbezwingbare

621
Schwert. Jeruslan Lasarewitsch nahm das Schwert
und ritt zur Stadt Stschetin.
Er ritt bis zur Grenze, doch hier wollten sie ihn
nicht durchlassen. Jeruslan Lasarewitsch bat, sie
sollten ihn vor Feuerschild lassen. Sobald die Die-
ner ihrem Zaren von ihm berichtet hatten, kam
der Zar selber an der Spitze eines kleinen Heeres
zur Grenze geritten. Sie begannen miteinander zu
verhandeln. Aber wie sehr Jeruslan Lasarewitsch
ihn auch bat, er konnte keinen Tropfen Wasser
von ihm erbitten.
Es blieb Jeruslan Lasarewitsch nichts anderes
übrig, als mit Feuerschild-Flammenspeer zu
kämpfen. Sie stellten ihre schnellen Pferde einan-
der gegenüber auf und jagten aufeinander los.
Wie Jeruslan Lasarewitsch mit seinem Schwert
zuschlug, wurde es Feuerschild schwarz vor Au-
gen, und er sank ohnmächtig zu Boden. Die Krie-
ger Feuerschild-Flammenspeers aber schrien
sogleich:
„Drauf, Held, drauf! Schlag noch einmal zu,
damit er merkt, mit wem er es zu tun hat!“
Aber Jeruslan Lasarewitsch dachte an die Leh-
ren Roslanjas des Recken und sagte:
„Ein wackerer Recke schlägt einmal zu, aber
richtig!“
Und steckte das Schwert in die Scheide.
Die Krieger warfen sich auf Jeruslan Lasare-
witsch und wollten ihn überwinden. Aber sie fielen
alle von seiner Hand.
Jeruslan Lasarewitsch sieht – auf keiner Seite
gibt es noch Widerstand; er nahm Feuerschild die

622
Galle heraus und ritt danach in die Berge nach
dem Wasser des Lebens. Schöpfte ein Fläschchen
voll Wasser des Lebens, verschloß es fest, legte
es in seinen Mantelsack und ritt zurück zur Haupt-
stadt des Fürsten Bely.
Er kam zum Kopf Roslanjas, bestrich ihm den
Hals mit der Galle, rollte den Kopf zum Rumpf,
fügte beides dicht zusammen und sprengte aus
dem Fläschchen Wasser des Lebens darauf. Ros-
lanja der Recke begann zu atmen und stand bald
wieder auf den Füßen. Er dankte Jeruslan Lasare-
witsch dafür, daß er ihn wieder lebendig gemacht
hatte. Und Jeruslan Lasarewitsch dankte ihm für
das stählerne Schwert. Er wollte Roslanja das
Schwert zurückgeben, aber Roslanja schenkte Je-
ruslan Lasarewitsch dieses Schwert als Zeichen
des Dankes. Und Jeruslan Lasarewitsch sprengte
auf seinem Pferd davon nach dem Reich Danilo
Belys.
Als er ankam, ging er sogleich in den Kerker zu
den Gefangenen. Er betrat den Kerker, bestrich
allen die Augen mit der Galle und besprengte sie
mit dem Wasser. Bald konnten sein Vater, seine
Mutter und alle Recken wieder sehen. Da übergab
Jeruslan Lasarewitsch den Danilo Bely wegen sei-
nes Eidbruchs dem Tode, er selber aber ritt nach
dem Zarenreich des Zaren Wachramej.
Jeruslan Lasarewitsch trat vor den Zaren Wach-
ramej. Aber der Zar war in großer Bestürzung und
sagte folgendes:
„Warum, wackerer Recke, seid Ihr zu uns ins
Zarenreich gekommen, und wie seid Ihr nicht in

623
Gefahr geraten? Wir können nicht vor das Stadt-
tor gehen.“
„Warum könnt Ihr nicht vor das Stadttor ge-
hen?“ fragte Jeruslan Lasarewitsch.
„Deswegen“, sagte Wachramej, „weil ein drei-
köpfiger Drache unser Zarenreich überfallen hat
und jeden Tag drei Menschen frißt. Schon viele
Menschen hat er in meinem Reich gefressen. Wir
haben uns eingeschlossen und gehen nicht mehr
aus der Stadt heraus. Und es erwartet uns der
Hungertod.“
Jeruslan Lasarewitsch fragt:
„Wo befindet sich denn bei Euch dieser Drache?
Ist irgendwo sein Pfuhl?“
„Und wozu braucht Ihr diesen Pfuhl, wackerer
Recke?“
„Ich möchte den Drachen sehen, und vielleicht
wage ich es, mit ihm zu kämpfen.“
Zar Wachramej freute sich:
„Wenn Ihr den Drachen erschlüget, belohnte ich
Euch mit dem halben Zarenreich!“
Jeruslan Lasarewitsch ritt durch das Stadttor,
geradewegs zu einem See, der von der Stadt vier
Werst entfernt war, und stieß in sein Kriegshorn.
Diesen Ruf hörte das Ungeheuer, erschien an der
Oberfläche des Sees und schwamm zum Ufer. Und
als es ans Ufer sprang, erschrak das Pferd Jerus-
lan Lasarewitschs und scheute. Jeruslan Lasare-
witsch zog die Zügel an, und das Pferd ging wi-
derwillig dem Drachen entgegen. Das Pferd kam
näher, Jeruslan Lasarewitsch zog sein stählernes
Schwert, stürzte sich auf den Drachen und schlug

624
nach ihm. Doch der Drache war dem Hieb ausge-
wichen, packte Jeruslan Lasarewitsch mit den
Zähnen am Bein, zerrte ihn aus dem Sattel und
schleppte ihn nach dem See.
Groß war die Kraft des Drachen, doch Jeruslan
Lasarewitschs Kraft war größer. Jeruslan Lasare-
witsch sprang auf einem Bein heran, packte mit
beiden Händen die Kiefer des Drachen und zog sie
so weit auseinander, daß sein Bein freikam; dann
sprang er dem Drachen auf den Rücken, holte mit
seinem Schwert aus und wollte dem Drachen den
Kopf abschlagen.
Da begann der Drache mit Menschenstimme zu
sprechen und bat Jeruslan Lasarewitsch, er solle
ihn nicht dem Tode übergeben und ihm nicht den
Kopf abschlagen. Aber Jeruslan Lasarewitsch holte
mit dem Schwert aus und wollte ihm wieder den
Kopf abschlagen. Da versprach der Drache Jerus-
lan Lasarewitsch verschiedene Geschenke und so-
gar einen kostbaren Ring, das Wertvollste, was es
auf der ganzen Welt gab.
Da befahl Jeruslan Lasarewitsch:
„Gib erst das Geschenk, dann können wir über
dich sprechen!“
Aber er klettert nicht von dem Drachen herun-
ter.
Der Drache tauchte mit Jeruslan Lasarewitsch
geradewegs in den See, und Jeruslan Lasare-
witsch fand sich im Neste des Drachen. Der Dra-
che holte einen herrlichen Ring hervor und bot ihn
Jeruslan Lasarewitsch an.

625
Jeruslan Lasarewitsch gefiel dieses kostbare
Geschenk, und er befahl dem Drachen, ihn ans
Ufer zu tragen. Und der Drache war unter Jerus-
lan Lasarewitsch schon gefügiger als ein Hühner-
hund geworden, und was immer Jeruslan Lasare-
witsch befahl, das machte er alles.
Schnell brachte er den Recken ans Ufer. Er hat-
te ihn ans Ufer gebracht, da fragte Jeruslan Lasa-
rewitsch den Drachen:
„Wirst du wieder ins Zarenreich Wachramejs
gehen und Menschen fressen?“
„Nein, wunderbarer Recke, ich schwöre jeden
Eid, den du willst, daß ich nicht einen einzigen
Menschen im Zarenreich Wachramejs anrühren
werde.“
„Und wovon willst du dich dann ernähren?“
Der Drache antwortet:
„Ich werde mich allein von Fischen ernähren.“
Da sagte Jeruslan Lasarewitsch:
„Ich glaube nicht, daß du keinen einzigen Men-
schen mehr anrührst.“
Er holte mit dem Schwert aus, und die Köpfe
flogen vom Drachen wie die Kapseln vom Mohn.
Jeruslan Lasarewitsch nahm diese Köpfe, steck-
te sie an seine Lanze und ritt in die Hauptstadt
des Zaren Wachramej. Mit großem Triumph wurde
Jeruslan Lasarewitsch begrüßt, und von allen Sei-
ten schrien sie „Hurra!“
Und dem Zaren Wachramej wurde mitgeteilt,
irgendein Recke hat den Drachen erschlagen und
trägt alle drei Köpfe auf seiner Lanze.

626
Zar Wachramej ging Jeruslan Lasarewitsch ent-
gegen und führte ihn ins schönste Zimmer, wo
Tische mit allen möglichen Speisen und herrlichen
Getränken gedeckt waren.
Sie setzten Jeruslan Lasarewitsch an einen
Tisch, trugen ihm auf und bemühten sich, ihn aufs
beste zu bewirten.
Sie bewirteten Jeruslan Lasarewitsch, aber er
sah immer auf Nastasja Wachramejewna.
Als eine günstige Stunde gekommen war,
sprach Zar Wachramej die folgenden Worte:
„Was willst du dafür, wunderbarer Recke, daß
du uns vom unvermeidlichen Verderben gerettet
und den Drachen erschlagen hast? Sprich ohne
Scheu, alles, was du willst, wird ausgeführt wer-
den!“
Jeruslan Lasarewitsch blickte auf Nastasja
Wachramejewna und erkühnte sich, die folgenden
Worte auszusprechen.
„Ich habe gehört, Ihr hättet dem, der den Dra-
chen tötet, das halbe Reich angeboten. Versagt
mir nicht die Hand Eurer Tochter!“
Zar Wachramej blickte auf seine Tochter und
erkannte, daß sie mit einem solchen Antrag ein-
verstanden war. Es wurde der Tag der Trauung
festgesetzt, und am ändern Tag zwölf Uhr mittags
wurden Jeruslan Lasarewitsch und Nastasja Wach-
ramejewna miteinander getraut. Da gaben sie ein
Fest, wie man so sagt, für alle Welt. Kein einziger
in der Stadt blieb ohne Bewirtung oder wurde
übergangen. Alle wurden aufs beste bewirtet.

627
Jeruslan Lasarewitsch lebte gut mit seiner jun-
gen Gemahlin Nastasja Wachramejewna. Und als
er ein Jahr so gelebt hatte, bekam er Sehnsucht
nach Vater und Mutter. Er wollte hinreiten und
sehen, wie es ihnen geht. Er forderte Nastasja
Wachramejewna auf mitzukommen.
Aber sie antwortete wie folgt:
„Froh wäre ich, mich nicht von dir zu trennen,
Jeruslan Lasarewitsch, aber du siehst ja, was für
eine Zeit jetzt für mich kommt!“
Da holte Jeruslan Lasarewitsch den kostbaren
Ring hervor, den ihm der Drache gegeben hatte,
und sagte:
„Hier, mein liebes Weib: wird dir eine Tochter
geboren, dann heb ihr den Ring bis zur Hochzeit
auf. Wird aber ein Sohn geboren, dem kannst du
diesen Ring sogleich schenken.“
Er nahm Abschied von seiner Frau, sattelte sein
Pferd und ritt davon.
Nastasja Wachramejewna blickte ihm nach, er
verneigte sich zum letztenmal vor ihr und ent-
schwand ihren Augen.
Jeruslan Lasarewitsch ritt lange Zeit und kam
schließlich auf eine weite Lichtung. Und inmitten
dieser weiten Lichtung war ein herrliches Schloß,
und rings um das Schloß ein herrlicher Park. Es
war schon spät, und als Jeruslan Lasarewitsch das
Schloß betrachtete, erblickte er eine schöne Jung-
frau, Pulichurija mit Namen. Und er hört, die
Jungfrau singt mit wunderbarer Stimme irgendein
Lied.

628
Jeruslan Lasarewitsch wendet sein Pferd und
reitet zum Schloß. Kaum war er angekommen,
band er sein Pferd an den Ehrenpfahl und wurde
von Pulichurija begrüßt, die den Gast in ihr herrli-
ches Schloß führte, an einen Tisch setzte und ihn
mit den kostbarsten Speisen bewirtete. Und diese
Pulichurija verstand es, Jeruslan Lasarewitsch so
zu umgarnen, daß er ein Jahr bei ihr blieb, und
das Jahr war ihm wie ein Tag vorgekommen. Im
zweiten Jahr wollte er weiterreiten, ihm aber
schien es der zweite Tag zu sein. Pulichurija
verstand es wieder, ihn zu umgarnen, und sagt:
„Warum bleibt Ihr nicht noch für einen Tag? Ihr
kommt schon noch zu Vater und Mutter – Ihr habt
genügend Zeit!“
Jeruslan Lasarewitsch erklärte sich einverstan-
den, noch einen Tag ihr Gast zu sein, und als er
den zweiten Tag geblieben war, hatte er selbst
nicht gemerkt, daß schon zwei Jahre vergangen
waren. Er entschloß sich, am dritten Tag zu rei-
ten, aber Pulichurija zog sich so prächtig an und
war so zärtlich zu ihm, daß Jeruslan Lasarewitsch
sich einverstanden erklärte, einen dritten Tag bei
ihr zu bleiben. Und weiß selber nicht, daß er
schon das dritte Jahr bei ihr lebt. So lebte nun Je-
ruslan Lasarewitsch einen Tag um den anderen
bei der wunderschönen Pulichurija. Und es schien
ihm, er lebt bei ihr neun Tage, in Wirklichkeit aber
sind es neun Jahre. Er entschloß sich, den zehn-
ten Tag zu bleiben. Und da erschien in Pulichurijas
Bannwiesen plötzlich ein junger schöner Recke.

629
Als Pulichurija sah, daß irgendein Recke auf und
ab durch ihre Bannwiesen reitet, schickt sie ihre
Leibwächter, dem Jüngling eine Lehre zu erteilen.
Ihr Leibwächter ritt hinaus, doch kaum war er zu
dem Jüngling gekommen, da lag er schon tot auf
der Erde. Pulichurija erschrak und schickte einen
zweiten Recken. Und den zweiten Recken ereilte
das gleiche Geschick. Da schickte Pulichurija den
dritten Recken. Und der dritte fiel gleichfalls von
der Hand des Jünglings. Pulichurija hatte keine
Recken als Leibwächter mehr. Sie kam zu Jeruslan
Lasarewitsch und bat ihn, er solle reiten und dem
Jüngling eine Lehre erteilen.
Jeruslan Lasarewitsch sattelte sein Pferd, nahm
seine Lanze und ritt auf die Wiese.
Kaum war er bei dem Jüngling und wollte ihm
einen Schlag versetzen, da erhielt er im gleichen
Augenblick einen so heftigen Stoß gegen die
Brust, daß er im Sattel schwankte. Doch der
Jüngling konnte sich gleichfalls nicht halten und
flog aus dem Sattel wie eine Garbe Hafer. Jerus-
lan Lasarewitschs Pferd aber trat dem Jüngling
auf den Halsschutz der Rüstung und drücke ihn
gegen die Erde.
Jeruslan Lasarewitsch wendet seine Lanze, setzt
sie mit dem stumpfen Ende dem Jüngling auf die
Brust und sieht plötzlich, Wunder über Wunder,
Staunen über Staunen, an der Hand des Jünglings
einen Ring glänzen.
Jeruslan Lasarewitsch nahm die Lanze von der
Brust des Jünglings und fragt ihn: „Sage, Jüng-
ling, wie heißt du?“

630
„Ich heiße Jeruslan Jeruslanowitsch.“
„Und aus welchem Zarenreich bist du?“
„Aus dem Zarenreich Wachramejs.“
Jeruslan Lasarewitsch springt vom Pferd, um-
armt den jungen Recken und sagt:
„Bist du’s, mein lieber Sohn? Beinahe wäre ich
dein Mörder geworden!“
Jeruslan Lasarewitsch und sein Sohn küßten
sich, und erst da begriff er, daß er bei Pulichurija
nicht neun Tage, sondern neun Jahre gelebt hat-
te. Von einer solchen Verführerin wollte er sich
nicht einmal verabschieden und ritt mit Jeruslan
Jeruslanowitsch zu seiner jungen Frau.
Er kam nach Hause und sieht: seine Frau Na-
stasja Wachramejewna ist ganz abgehärmt, und
ihre Haare sind weiß geworden. Er bekannte ihr
reuig sein Vergehen. Und seit der Zeit gab Jerus-
lan Lasarewitsch sich selbst das Wort, niemals
von seiner Frau Anastasija Wachramejewna fort-
zureiten, ihr keinen Kummer zu bereiten.
Und nun setzt sich Jeruslan Lasarewitsch an
den Tisch, nimmt Feder und Papier und beginnt,
drei Briefe zu schreiben.
Den ersten Brief schrieb er an Vater und Mut-
ter, den zweiten Brief an Iwan den russischen
Recken, seinen älteren Wahlbruder, und den drit-
ten an den Recken Roslanja, der ihm das kostbare
stählerne Schwert geschenkt hatte. Und er rüstete
seinen Sohn zur Reise und sagt ihm folgendes:
„Bringe diesen Brief meinem Vater Lasar Lasa-
rewitsch, deinem Großvater, und übergib ihn per-
sönlich. Und wenn du eine Weile bei ihnen zu Gast

631
gewesen bist, dann bringe den zweiten Brief mei-
nem Wahlbruder Iwan dem russischen Recken.
Und den dritten Brief bringe ins bragilsche Zaren-
reich und übergib ihn Roslanja dem Recken!“
Jeruslan Jeruslanowitsch sattelte sein Pferd,
nahm Abschied von Vater und Mutter und machte
sich auf den Weg.
Er ritt und ritt und sah endlich die Stadt, wo La-
sar Lasarewitsch lebte.
Jeruslan kam zum Hof Lasar Lasarewitschs und
bat, sie sollten ihn einlassen. Obwohl er noch sehr
jung war, ließ man ihn trotzdem ein.
Jeruslan Jeruslanowitsch überreichte Lasar La-
sarewitsch den Brief, und Lasar Lasarewitsch sieht
vor sich einen Enkel, nicht schlechter als der Vater
Jeruslan Lasarewitsch. Er bewirtete ihn nicht mit
Kornbranntwein, sondern nur mit süßen Geträn-
ken.
Jeruslan Jeruslanowitsch blieb eine Weile zu
Gast bei seinem Großvater und ritt dann zu Iwan
dem russischen Recken.
Er überreichte Iwan dem russischen Recken den
Brief, und als Iwan der Recke ihn gelesen hatte,
schrieb er auf der Stelle auch seinerseits einen
Brief und befahl, ihn Jeruslan Lasarewitsch zu
übergeben.
Jeruslan Jeruslanowitsch ritt weiter und kam zu
Roslanja dem Recken. Er blieb eine Weile bei ihm
zu Gast, und als er sich zur Heimreise rüstete, bat
Roslanja der Recke, er möge seinen Brief Jeruslan
Lasarewitsch übergeben.

632
Jeruslan Jeruslanowitsch brachte seinem Vater
alle drei Briefe. Seine Eltern setzten sich an den
Tisch und begannen die Briefe zu lesen.
Zuerst von Lasar Lasarewitsch. Und in diesem
Brief war folgendes geschrieben:
„Gesundheit wünschen wir dir für viele Jahre,
unser lieber Sohn! Wir sind sehr froh, daß wir ei-
nen solchen Recken zum Enkel haben und daß wir
ihn vor unserem Ende gesehen haben.“
Sie nahmen den zweiten Brief. Und darin war
folgendes geschrieben:
„Viele Jahre Gesundheit dir, Jeruslan Lasare-
witsch. Dein Bruder, Iwan der russische Recke,
schickt dir seinen Gruß und wünscht dir alles Gu-
te! Und über Euer Söhnchen sage ich das folgen-
de: ,Ich bin sehr froh, daß du einen solchen Sohn
hast.’“
Als sie den dritten Brief ansahen, war darin fol-
gendes geschrieben:
„Viele Jahre Gesundheit Euch, Jeruslan Lasare-
witsch! Ich, der Recke Roslanja, schicke Euch
meinen ergebenen Gruß! Ich wünsche Euch das
Allerbeste auf dieser Welt. Euer Recke Roslanja.“
Damit waren die Heldentaten Jeruslan Lasare-
witschs zu Ende. Und nie mehr hat er sich von
seiner Nastasja Wachramejewna getrennt und mit
ihr in Liebe und Eintracht bis zum Tode gelebt.

633
58
Erzählung von Bowa dem Königssohn,
dem ruhmreichen und starken Recken
Weit weg von uns war es, nicht zu sehen, sondern
nur von den Alten zu hören.
In alten Zeiten lebte einmal ein Zar Kirbidon,
der hatte eine einzige Tochter, die Militrissa Kir-
bitjewna hieß und die ihr Vater mehr als alles an-
dere liebte. Sie war im vollen Alter, und um sie
freite ein König, der hieß Gwidon. Ihr Vater hatte
nicht gezögert, sie dem König Gwidon zu geben,
sie aber wurde nicht gar zu gern Gwidons Frau,
sie schrieb sich mit einem anderen König, der Do-
don hieß, doch das väterliche Wort konnte sie
nicht ändern; und sie wurde Gwidons Frau. Aber
sie liebte ihn nicht so wie Dodon. Und sie lebten
ein Jahr zusammen, da wurde sie schwanger und
bekam einen Knaben, den nannten sie Bowa Kö-
nigssohn. Ihr Vater Kirbidon starb bald nach ihrer
Hochzeit. Den Staat regierte nun Gwidon, ihr
Sohn Bowa Königssohn aber war ein sehr schöner
Knabe.
Es ist mit Worten nicht zu sagen und mit der
Feder nicht zu beschreiben – er wuchs nicht von
Jahr zu Jahr, sondern von Stunde zu Stunde, wie
ein Hefeteig aufgeht. Aber eines schönen Tages
nun brachte Militrissa Kirbitjewna es fertig, einen
Brief zu schreiben und an Dodon zu schicken, er

634
solle mit einem Heer ausziehen und an einer an-
gegebenen Stelle ihren Mann Gwidon erwarten.
„Ich werde es einrichten und ihn allein ausschik-
ken, und Ihr tötet Gwidon, dann werde ich Eure
Frau.“ Und so wurde es auch gemacht.
Militrissa Kirbitjewna kam eines schönen Tages
hinterhältig zu ihrem Mann und sagte: „Mein teu-
rer Mann, ich fühle mich schwanger, und mein
Zustand quält mich so: ich hätte gern etwas, von
Eurer Hand zu essen und daß Ihr selber einen wil-
den Eber tötet und ihn nach Hause bringt!“ Ihr
Mann antwortete nichts, ging in den Pferdestall,
befahl sein Pferd zu satteln, und ritt davon. Kaum
war er aus der Stadt heraus, da befahl seine Frau
den Dienern, die Zugbrücke über den Fluß hoch-
zuziehen und das Stadttor zu schließen, sie selber
aber beobachtete ihren Mann vom Balkon aus.
Gwidon war gerade an den Waldrand gekommen
und bemerkte, ein gewaltiges Heer warf sich ihm
entgegen. Gwidon wendete sein Pferd zum Rück-
weg, die Verfolger waren nahe, Gwidon wußte
nicht wohin, die Zugbrücke über den Fluß war
hochgezogen. Er gab seinem Pferd die Sporen und
sprang in den Fluß, doch der Fluß war sehr breit
und reißend. Sein Pferd konnte nicht hinüber-
schwimmen und ertrank zusammen mit Gwidon.
Da befahl Militrissa Kirbitjewna den Dienern, die
Zugbrücke herunterzulassen und das Stadttor zu
öffnen: alles wurde getan, und Zar Dodon reitet
mit seinem Heer in die Stadt ein. Militrissa Kirbit-
jewna begrüßt ihn und führt ihn in den Zarenpa-
last, setzt ihn an die Eichentische, vor süße Ge-

635
tränke, und sie begannen zu trinken, zu feiern
und lustig zu sein drei Tage lang. Feierten, waren
lustig, setzten nach dem Feiern die Hochzeit an,
und bald heirateten Dodon und Militrissa, und den
Staat regiert von nun an Dodon. Und so leben sie
ein Jahr, und ein zweites und so weiter. Die Zeit
fließt dahin, eilt wie ein Fluß.
Bowa Königssohn aber wächst und wächst, wird
von Tag zu Tag immer schöner und schöner.
Ein Zuhause hatte Bowa nicht mehr – der Vater
ist ein Fremder. Nur ein einziger Mensch hatte
Mitleid mit Bowa und liebte ihn, der Onkel seines
Vaters. Immer wenn er Bowa sah, sagte er zu
Bowa: „Mein liebes Kind, die Mutter und der Stief-
vater werden dich verderben!“
Aber eines schönen Tages sah der Onkel nur ei-
nen Ausweg – in eine fremde Stadt zu reiten und
dadurch Bowas Leben zu retten. So beschloß er es
auch, ging mit Bowa auf den Pferdehof und befahl
den Pferdeknechten, Pferde zu satteln: für Bowa
einen Paßgänger, für sich selber einen Renner;
und sie stiegen auf und ritten weg, unbekannt
wohin. Am anderen Tage wurden Dodon und Mili-
trissa stutzig – Bowa ist nicht da! Sie begannen
Bowa zu suchen, gingen auf den Pferdehof und
fragten, ob Bowa nicht hier gewesen sei. „Sie sind
fortgeritten“, erklärten die Pferdeknechte, „es ist
der Onkel seines Vaters gekommen, hat befohlen,
Pferde zu satteln, für Bowa einen Paßgänger, und
für sich selber einen Renner, und dann sind sie
losgeritten, unbekannt wohin.“

636
Jetzt befahl Dodon, hundert Reiter zu nehmen,
Bowa einzuholen und wieder nach Hause zu brin-
gen. Die Verfolger hatten sich bald versammelt
und machten sich an die Verfolgung. Am dritten
Tage bemerkte der Onkel die Verfolger hinter sich
und spornte die Pferde zum vollen Galopp an,
aber Bowa war noch zu klein – neun Jahre, er
konnte sich auf dem Paßgänger nicht halten und
fiel herunter. Die Kanoniere hoben Bowa auf, dem
Onkel setzten sie nicht nach, weil sie merkten,
daß er nicht einzuholen war, kehrten wieder um,
brachten Bowa mit und übergaben ihn dem Stief-
vater. Es verging eine Zeit, da hatte Dodon einen
Traum, Bowa sei erwachsen und griffe ihn zu
Pferde an, zöge sein Schwert und schlüge ihm den
Kopf ab für den Tod des Vaters. Am Morgen stand
Dodon auf, versammelte die Senatoren und erläu-
terte ihnen seinen Traum. Einige sagen, das ist
ein bedeutungsloser Traum, man braucht dem
Traum nicht zu glauben, er geht auch so vorüber.
Aber einer der Höflinge sagte, daß der Traum
wahr sei. Wenn Bowa erwachsen ist, kann er für
den Tod des Vaters Rache nehmen. Seit der Zeit
wurde Dodon unfroh, war immer in Gedanken;
aber seine Frau Militrissa Kirbitjewna wurde auf-
merksam auf ihren Mann und fragte eines schö-
nen Tages ihren Mann: „Warum, mein teurer
Mann, seid Ihr traurig?“ Er antwortet ihr auf ihre
Frage: „Ich habe einen Traum gehabt: Bowa war
erwachsen und kam auf einem stattlichen Roß ge-
ritten und schlug mir für den Tod seines Vaters
den Kopf ab; ich habe die Senatoren versammelt,

637
sie haben mir gesagt, daß das von Bowa aus
durchaus geschehen kann: Euer Traum ist wahr.
Daher kann ich nicht mehr mit Euch zusammen
leben.“ Seine Frau versuchte ihn zu überzeugen,
daß all dies Unsinn sei, aber er sagte zu ihr:
„Wenn Ihr mit mir leben wollt, so tötet Euern
Sohn! Dann bleibe ich für immer, aber sonst kann
ich nicht weiter hier leben.“ Militrissa Kirbitjewna
dachte über diese Frage nach und antwortete ih-
rem Manne: „Überlegt doch selbst, mein lieber
Mann, die Schlange sticht ihr eigenes Fleisch
nicht, wie kann ich denn Hand an meinen eigenen
Sohn legen und ihn töten! Wenn du willst, kann
ich ihn nur ins Gefängnis stecken und dem Hun-
gertod preisgeben, aber mehr kann ich nicht tun.“
Doch Dodon war mit diesem Vorschlag einver-
standen: „Gut, führe ihn hin und stecke ihn ins
Gefängnis!“ Nun, natürlich, das mütterliche Herz –
sie zog es immer von einem Tag zum andern hin,
hatte immer Mitleid mit ihrem Sohn, doch Dodon
beharrte auf seinem Verlangen: „Wenn du Bowa
heute nicht ins Gefängnis führst, dann reite ich
von dir weg!“ Aber Militrissa liebte ihren Mann
sehr und verriet ihren Sohn Bowa. Sie befahl den
Dienern, Bowa ins Gefängnis zu bringen und dort
zurückzulassen. Die Diener führten Bowa fort,
versperrten die Tür mit einem Schloß und gaben
den Schlüssel der Mutter; aber Dodon war miß-
trauisch, nach einiger Zeit prüfte er selber nach
und überzeugte sich, daß Bowa wirklich dem Hun-
gertod preisgegeben war.

638
Nach einiger Zeit zog Militrissa Kirbitjewna ein
schönes Kleid an und ging im Schloß spazieren,
und sie mußte an dem Gefängnis vorbei, in dem
Bowa saß – dem Hungertod preisgegeben. Und
dort war ein kleines Fenster, durch das Bowa sei-
ne Mutter sah, und er sagte traurig: „Liebe Mut-
ter, erbarme dich meiner, gib mir ein Stück Brot
und ein Glas Wasser!“ Die Mutter hörte das klägli-
che Stöhnen, ihr Herz begann zu klopfen, sie
kehrte schnell um und brach in Tränen aus: kam
nach Hause, gab der Dienerin ein Stück Brot und
etwas Wasser und sagte: „Nimm, bring dies ins
Gefängnis, übergib es Bowa, aber sag niemandem
etwas!“ Der Tag neigte sich gegen Abend, die
Dienerin nahm alles und brachte es ins Gefängnis
zu Bowa.
Sie öffnete die Tür und reichte es Bowa, Bowa
nahm alles und dankte der Mutter. Aber er aß
noch nicht, weil er es nicht hinterschlucken konn-
te, nur einige Schluck Wasser nahm er und bat
die Dienerin, sie solle die Tür nicht mit dem
Schloß versperren; doch sie fürchtete sich, die Tür
offenzulassen, hatte aber auch Mitleid mit Bowa.
Da tat sie’s doch, schloß die Tür nicht dicht zu,
kehrte um und ging zurück. Sie kam zu Militrissa
Kirbitjewna und erfand noch selbst einige Worte
hinzu: „Bowa hat Euch nach jedem Bissen Brot
gedankt.“ Da brach die Mutter in Tränen aus und
sagte der Dienerin nichts mehr, ging hinaus. Bowa
aber merkte, daß die Tür nicht dicht geschlossen
war, ein kleiner Spalt leuchtete, er sprang aus
dem Gefängnis und floh aus der Stadt. Bowa wur-

639
de von der dunklen Nacht überfallen, er ging wei-
ter und stieß auf eine Bande von Räubern, die ihn
fingen und sich sehr freuten, weil der Knabe sehr
schön war. „Etwas Besseres als diese Beute hät-
ten wir nicht finden können.“ Die Räuber fragten
den Knaben: „Wie heißt du und welchen Ge-
schlechtes und Stammes bist du?“ Er antwortete
ihnen: „Ich bin einfachen Geschlechtes und
Stammes: meine Mutter ist Wäscherin, mein Va-
ter Musikant, und ich heiße Bowa.“ Doch sie be-
rieten untereinander, man müsse Bowa auf ein
Schiff bringen und ihn an Schiffsleute verkaufen.
So machten sie es auch: sie brachten Bowa in der
gleichen Nacht noch auf ein Schiff und verkauften
Bowa den Schiffsleuten, die bezahlten viel Geld
wegen seiner Schönheit. Die Räuber waren über
diesen Gewinn sehr froh. Und das Schiff trat seine
Reise an. Sie fragten Bowa: „Welchen Geschlech-
tes und Stammes bist du und wie heißt du?“ Er
antwortete ihnen dasselbe, was er den Räubern
gesagt hatte: „Ich bin einfachen Geschlechtes und
Stammes, meine Mutter ist Wäscherin, mein Vater
Musikant; ich heiße Bowa.“ Sie fahren übers Meer,
nicht einen Tag, nicht zwei, sondern Wochen und
Monate; und Bowa kleideten sie in ein schönes
Gewand, und er wurde noch um viele Male schö-
ner, sie können sich an seiner Schönheit nicht satt
sehen. Bowa war sehr diensteifrig und darauf be-
dacht, es jedem recht zu machen. Und eines
schönen Tages nun hatten sich die Schiffsleute
betrunken. Und Bowa tat zu dieser Zeit, als sei er
eingeschlafen, lauschte aber auf ihr Gespräch.

640
Und sie, betrunken, hatten einen Streit wegen
Bowa: der eine sagt: „Bowa muß mir dienen“, und
der zweite: „Nein, mir muß er dienen“, und der
dritte sagt dasselbe und so weiter: es war ein
großer Streit. In diesem Augenblick streckte sich
Bowa, tat, als wache er auf, schob die Decke zu-
rück und fragte sie: „Worüber streitet ihr, Freun-
de?“ Sie antworteten ihm, daß „um dich der Streit
geht“; er antwortete ihnen höflich: „Das ist kein
Grund zum Streiten, Freunde, ich muß euch allen
gefällig sein, soviel ich kann.“ Nun, sie hörten auf
zu streiten und gewannen Bowa noch mehr lieb
als vorher. So lebt Bowa bei den Schiffsleuten,
wie der Käse in der Butter schwimmt. Es verging
ein Jahr, das zweite begann, und seine Schönheit
wurde mit jedem Tag größer. Eines schönen Ta-
ges kamen die Schiffsleute in der Hauptstadt des
Zaren Sensewej Andronowitsch an.
Sie machten ihr Schiff im Hafen fest. Vom Ha-
fen aus wurde dem Zaren Sensewej Androno-
witsch gemeldet, daß ein fremdes Schiff ange-
kommen ist. Der Zar schickt seinen Diener, zu
fragen, was es Neues gibt, und sich die Waren an-
zusehen. Der Diener setzte sich in eine Kutsche
und fuhr zum Hafen. Als er das Schiff betrat, er-
blickte er den schönen Knaben und war auf der
Stelle vor Staunen stumm. Als der Diener wieder
zur Besinnung kam, hatte er keine Zeit zu fragen,
womit handelt ihr, er ging schnell vom Schiff, be-
stieg seine Kutsche und fuhr mit seiner Meldung
zum Zaren Sensewej Andronowitsch. Er kam in
den Zarenpalast, und der Zar fragte ihn, was es

641
Schönes auf dem Schiff gäbe. Der Diener antwor-
tete: „Väterchen Zar, befiehl nicht, mich hinzu-
richten, sondern befiehl zu berichten. Als ich aufs
Schiff kam, habe ich bei ihnen einen schönen
Knaben gesehen und bin vor Staunen so ver-
stummt, daß ich nichts gefragt habe.“ Da setzten
sie sich zu zweit in die Kutsche und fuhren zum
Hafen; Zar Sensewej betrat das Schiff, erblickte
den Knaben und war von seiner Schönheit gleich-
falls von Sinnen. Als er wieder zu sich kam, fragte
er nicht, womit handelt ihr, sondern begann in
erster Linie um den Knaben zu handeln. „Verkauft
ihn mir, ich will euch viel für ihn bezahlen und
euch zollfreien Handel in meinem Staat geben!“
Die Schiffsleute aber liebten Bowa sehr, und es
tat ihnen leid, Bowa zu verkaufen, doch der Zar
erklärte ihnen: „Wenn ihr ihn nicht verkauft, dann
nehme ich euch den Knaben im bösen weg und
verbiete euch, Handel zu treiben.“ Sie wußten,
daß der Zar Sensewej sehr streng war, ihnen den
Handel in seinem Staat verbieten kann, und er-
klärten sich einverstanden, Bowa zu verkaufen.
Der Zar bezahlte ihnen dreißig Pfund Gold für ihn
und gab ihnen die Erlaubnis, ohne Abgaben Han-
del zu treiben, und das ist für sie ein großer Vor-
teil Abgaben Handel zu treiben. Da setzte Sense-
wej Andronowitsch den Knaben zu sich in die
Kutsche, und sie fuhren zu dritt los. Als sie zu-
rückkamen, führte der Zar Bowa in den Zarenpa-
last, bewirtete ihn, zog ihm schöne Kleider an und
fragte: „Wessen Geschlechts und Stammes seid
Ihr, und wie heißt Ihr? Wenn ihr nicht einfachen

642
Geschlechts seid, dann bleibt Ihr am Hof bei mir,
wenn aber einfachen Geschlechtes, dann gehst du
in den Pferdestall und sollst oberster Pferdeknecht
sein.“ Aber der Knabe antwortete dem Zaren-.
„Ich bin einfachen Geschlechtes, meine Mutter ist
Wäscherin und mein Vater Musikant, ich heiße
Bowa.“ Da befahl der Zar dem Diener, Bowa in
den Pferdestall zu führen und ihn dort zu lassen,
soll er dort oberster Pferdeknecht sein! Der Diener
führte Bowa in den Pferdestall, und er mußte ihn
gerade an Drushewna Sensewejewna vorbeifüh-
ren, und sie sah durchs Fenster, daß ein Knabe
auf den Pferdehof gebracht wurde, und sie wandte
sich sogleich an ihren Vater. Der Diener aber hat-
te Bowa im Pferdestall gelassen und gesagt: „Da
habt ihr einen Jungen, er soll oberster Pferde-
knecht sein!“ Drushewna verneigte sich tief vor
ihrem Vater und sagte: „Liebes Väterchen, ich ha-
be heute gesehen – ein schöner Knabe ist in den
Pferdestall geführt worden, ich bin zu Euch ge-
kommen, ihn für mich zu erbitten, daß er bei mir
bleibt, und ich werde ihn erziehen. Wozu einen so
schönen Knaben verderben? Ich denke, Ihr wer-
det einverstanden sein mit meinen Worten.“
Sensewej Andronowitsch liebte seine Tochter
mehr als alles und war einverstanden mit ihrer
Rede und befahl ihr, Bowa zu sich zurückzuholen,
und sie verneigte sich tief vor ihrem Vater und
ging in ihr Zimmer und befahl dem Diener, Bowa
zu ihr zurückzubringen. Der Diener brachte Bowa
zu Drushewna Sensewejewna. Nicht einmal drei
Tage hatte Bowa auf dem Pferdehof zugebracht.

643
Drushewna Sensewejewna wusch Bowa, kleide-
te ihn schön, und er wurde ein so schöner Bur-
sche, daß sie sich an seiner Schönheit gar nicht
satt sehen konnte. Sie fragte ihn, wessen Ge-
schlechtes und Stammes er sei und wie er heißt:
aber er antwortet immer ein und dasselbe: einfa-
chen Geschlechtes, meine Mutter ist Wäscherin,
der Vater Musikant, ich heiße Bowa. So verbringt
Bowa seine Tage, ist lustig und froh. Seine
Schönheit wird immer größer, und er bemüht
sich, Drushewna gefällig zu sein, so gut er’s ir-
gend kann. Und er war hierzu sehr geschickt. Hat-
ten sie nun lange oder kurze Zeit so gelebt, ein-
mal jedenfalls rief der Zar die Tochter zu sich und
sagte ihr, daß „morgen abend bei mir im Palast
ein Ball sein wird, alle Generale, Admirale, Mini-
ster und Kaufleute werden sich versammeln, und
du und Bowa, ihr sollt in erster Linie bei mir sein!“
Drushewna sagte: „Ist gut, liebes Väterchen“,
verneigte sich tief und ging hinaus. Sie ging in ein
Geschäft, kaufte Stoff, ging in eine Werkstatt und
gab Auftrag, ein Gewand für Bowa zu nähen. Am
Morgen stand Drushewna Sensewejewna auf, ging
selbst in die Werkstatt, brachte das kostbare Ge-
wand und gab es Bowa. „Hier dieses Gewand
müßt Ihr heute anziehen, mein Vater hat am
Abend einen Ball, und wir müssen dort auf dem
Ball sein!“ Bowa nahm das Gewand, verneigte
sich tief vor Drushewna und sagte: „Ist gut, ich
werde am Abend kommen.“ Der Abend kam,
Drushewna Sensewejewna zog Bowa an und ging
selber voraus. Die Zeit kam heran, die Gäste wa-

644
ren zum Ball beim Zaren versammelt, und bald
kam Bowa, verneigte sich tief vor Väterchen Zar
Sensewej Andronowitsch und vor den Gästen be-
sonders. Da befahl Drushewna Sensewejewna,
Bowa solle den Gästen ausländischen Wein rei-
chen; Bowa brachte jedem ein Glas Wein, ver-
beugte sich tief vor Väterchen Zar und den Gä-
sten. Alle blickten auf Bowa und konnten sich an
seiner Schönheit nicht satt sehen. Der Ball dauer-
te bis über Mitternacht hinaus, und Bowa bemüh-
te sich, jedem General gefällig zu sein. Die Gäste
gingen auseinander. Und Drushewna ging mit Bo-
wa auch nach Hause, und sie liebte Bowa von nun
an noch mehr als früher. Es vergingen einige Jah-
re, Bowa war im vollen Alter, ist von Wohlleben
umgeben und kennt keine Sorgen. Die Zeit ver-
ging, da kam eine traurige Stunde für Väterchen
Zar Sensewej Andronowitsch. Zar Markobrun zog
mit einem gewaltigen Heer ins Feld, lagerte sich
in den Bannwiesen nahe der Stadt des Zaren
Sensewej, schrieb einen Brief und sandte einen
Boten mit dem Brief an Zar Sensewej, im guten
zu bitten, er solle seine Tochter Drushewna
Sensewejewna dem Markobrun zur Frau geben:
„Wenn du sie im guten nicht gibst, dann überzie-
he ich dich mit Krieg.“ Sensewej Andronowitsch
las den Brief und überlegte: die Tochter dem Mar-
kobrun zu geben tat ihm leid. Er gebot, ins
Kriegshorn zu blasen, ein Heer von hunderttau-
send Mann zu sammeln und den Krieg zu eröff-
nen. „Vielleicht werde ich den Feind so los.“ Das
Heer von hunderttausend Mann war versammelt,

645
und das Blutvergießen begann. Der Kampf ging
viele Tage. Aber Markobrun schlug das Heer
Sensewejs, nur eine kleine Zahl blieb übrig, und
sie kehrten zurück. Das Stadttor befahl Sensewej
zu schließen.
Rings um die Stadt war eine Festungsmauer
gezogen, so daß es schwierig war, hineinzukom-
men. Markobrun lagerte sich mit seinem Heer na-
he der Stadt, Sensewej Andronowitsch aber sitzt
in seiner Festung. Bowa hörte, daß das ganze
Heer Sensewejs erschlagen worden ist, da begann
das Heldenblut in der jungen Brust sich zu regen,
da begann die Reckenhand zu zucken, so daß Bo-
wa Kraft in sich spürte und ins Zimmer zu Drus-
hewna Sensewejewna ging: „Mein Mütterchen,
Drushewna Sensewejewna, erlaube mir, mit die-
sem Schurken abzurechnen wegen unseres Väter-
chens Zar Sensewej Andronowitsch!“ Drushewna
Sensewejewna antwortete Bowa: „Ihr seid noch
zu jung, es ist noch nicht an der Zeit für Euch,
Krieg zu führen, ich kann Euch keineswegs gehen
lassen, mein lieber Bowa.“ Drushewna begann
ihm gut zuzureden, aber Bowa wurde zornig, sag-
te nichts, machte kehrt und ging geradewegs in
den Pferdestall, wählte sich ein Pferd, sattelte es,
ergriff einen eisernen Besen, setzte über die Fe-
stungsmauer, jagte geradewegs gegen das Heer
und begann, nach links und rechts mit seinem Be-
sen zu schlagen. Zu dieser Zeit beobachtete
Drushewna Sensewejewna vom Balkon aus durch
ein Fernrohr die Heldentat Bowas. Das ganze Heer
wurde von Bowa zusammengeschlagen. Nur eine

646
kleine Zahl war übrig geblieben, die flohen heim-
wärts. Nach dem Sieg kehrte Bowa ins Zarenreich
Sensewejs zurück, das Tor wurde aufgemacht, der
Zar und Drushewna faßten Bowa an den Händen
und führten ihn in den Zarenpalast, an die Eichen-
tische, zu den berauschenden Getränken, und sie
tranken, feierten und gratulierten Bowa zu seinem
Sieg.
Nach dem Fest gingen alle Gäste nach Hause,
und auch Bowa und Drushewna gingen in ihre
Zimmer; Bowa lebt so dahin und kennt keine Sor-
gen, Drushewna aber liebt ihn immer mehr. So
verging ein Jahr, vielleicht auch zwei oder drei,
und wieder kam ein trauriger Tag: gegen Zar
Sensewej Andronowitsch zog ein anderer Zar,
Sultan Sultanowitsch, zu Felde, mit einem gewal-
tigen Heer und mit drei Recken, und er selbst war
der vierte. Sein Kopf war wie ein riesiger Heu-
schober, und zwischen den Augen hatte eine ge-
spreizte Hand Platz. Und er lagerte sich nahe der
Stadt Sensewejews und sendet einen Boten mit
einem Brief und bittet den Zaren, er soll Sultan
Sultanowitsch seine Tochter Drushewna Sensewe-
jewna zur Frau geben: „Gibst du sie nicht im gu-
ten, überziehe ich dich mit Krieg und zerschlage
Euer ganzes Zarenreich, nehme Drushewna ge-
fangen, entführe sie in meinen Staat und heirate
sie!“
Zar Sensewej las den Brief und überlegte, doch
die Tochter herzugeben tat ihm leid, und er gebot,
ins Kriegshorn zu blasen, ein Heer von hundert-
tausend Mann zu sammeln und gegen Sultan aus-

647
zurücken. Und so wurde das Heer gesammelt.
„Vielleicht kann ich den Feind zurückschlagen.“ Es
entbrannte ein schrecklicher Kampf, sie schlugen
sich eine Weile, doch Sultan Sultanowitsch besieg-
te das Heer Sensewejews, nur eine kleine Zahl
blieb übrig und warf sich in die Flucht. Da befahl
der Zar, das Stadttor zu schließen und in der Fe-
stung zu bleiben. Sultan aber lagerte sich mit sei-
nem Heer in den Bannwiesen und droht und
höhnt. Doch Bowa wußte wieder nichts, und
Drushewna sagt ihm nichts. Und einmal mußte er
irgendwie in die Stadt, und dort erfuhr er alles,
und er kam zu Drushewna und bat sie: „Mütter-
chen Drushewna Sensewejewna, laß mich ziehen
und mit diesem Schurken abrechnen. Wie lange
soll er noch höhnen, und wollt Ihr etwa die Ehe
mit ihm eingehen, mit dieser Satansbrut!“ Da be-
gann Drushewna Sensewejewna Bowa zuzureden:
„Ihr könnt ihm nicht standhalten, er hat ein ge-
waltiges Heer und drei Recken, und er ist selber
ein gewaltiger Recke, sein Kopf ist so groß wie ein
Heuschober, und zwischen den Augen hat eine
gespreizte Hand Platz.“ Bowa wurde zornig und
sagte: „Ich bin damals auf Väterchen Zar zornig
gewesen, daß er mir nichts erklärt hat, und jetzt
soll ich ihn im Stich lassen? Väterchen Zar hat für
mich dreißig Pfund Gold bezahlt, als ich ein Jüng-
ling war. Und es hat ihm nicht leid getan, und er
hat sie nur für meine Schönheit gegeben. Nein,
ich kann’s nicht dulden, mach, was du willst, mei-
ne Brust drängt sowieso nach dem Schlachtfeld.“
Da sagte Drushewna Sensewejewna: „Nun gut,

648
reise mit Gott, weil ich damals Eure Heldentat
beobachtet habe!“ Da gingen sie zusammen hin-
aus – Bowa und Drushewna. Sie führte ihn in den
Keller und legte selbst Bowa die Reckenrüstung
an, gürtete ihn und setzte ihm einen gefiederten
Helm auf, der war sehr alt, und das stählerne
Schwert war noch vom Urgroßvater verzaubert
worden.
Als sie Bowa gerüstet hatte, war er noch zwei-
mal schöner geworden, und Drushewna Sensewe-
jewna konnte sich nicht bezwingen, sie küßte ihn
und weinte und fragte Bowa: „Sage mir die ganze
Wahrheit, mein lieber Bowa, welchen Geschlech-
tes und Stammes du bist; Gott weiß, ob du vom
Schlachtfeld zurückkehrst oder nicht.“ Da erzählte
Bowa alles, wie es gewesen war: „Ich bin nicht
einfachen Geschlechtes. Meine Mutter ist Militrissa
Kirbitjewna, und mein Vater war der Zar Gwidon,
ich bin Bowa Königsohn.“ – „Das habe ich ge-
spürt, daß du nicht einfachen Geschlechtes bist,
aber herausbekommen habe ich es bis heute nicht
können, doch jetzt werde ich’s wissen und war-
ten.“ Dann zeigte sie ihm rechts einen Keller und
sagte: „Geh dorthin, dort steht ein Rappe, ein
Reckenhengst, hinter zwölf Türen und an zwölf
Ketten – sollen die Pferdeknechte ihn herausfüh-
ren!“ Da verabschiedeten sich Drushewna und
Bowa und gingen auseinander. Bowa ging zu je-
nem Keller, wo das Pferd stand, kam hin und sag-
te zu den Pferdeknechten: „Steht hier der Rap-
pe?“ Sie antworteten: „Hier! Wozu braucht Ihr
ihn? Willst du ihn dir ansehen?“ Bowa sagte grob:

649
„Nein, nicht ansehen, sondern reiten will ich!“ –
„Wie wollt Ihr auf ihm reiten, bis jetzt hat ihn
noch keiner geritten, alle fürchten ihn. Was fällt
Euch ein, ihr könnt Euch auf ihm nicht halten!“ –
„Ich habe gesagt, führt das Pferd heraus, wieder-
holen kann ich es nicht, oder ich schlage Euch die
Köpfe ab!“ Da gingen die Pferdeknechte, nahmen
die Schlösser ab und öffneten die Tür; das Pferd
aber spürte das Klirren und Klopfen und begann
an den Ketten zu reißen. Sechs Mann führen das
Pferd, drei Mann auf jeder Seite, sie führten das
Pferd heraus, sein Hals geht im Kreise, aus den
Ohren steigt Rauch wie eine Säule, aus den Nü-
stern strömt Dampf, und es will sich losreißen,
doch sie halten es fest, warfen ihm einen Tscher-
kessensattel auf und legten ihm zwölf Gurte an
wegen seiner Reckenstärke. Und Bowa trat heran,
klopfte ihm mit der Hand den Hals und sagte:
„Bist ein gutes Pferd, doch auch der Reiter auf dir
wird nicht schlecht sein!“ Hatte es kaum gesagt,
aufs Pferd hinauf – und schon sitzt er. Die Pferde-
knechte hatten noch nicht mit den Augen gezwin-
kert, da sagte er: „Zügel loslassen“, und das Pferd
machte drei Sätze, konnte den Reiter nicht abwer-
fen und jagte davon wie ein Sturmwind, die Pfer-
deknechte schlugen nur die Hände zusammen und
wunderten sich, so ein Reiter war das! Es hatte
niemand geglaubt, niemand geahnt, daß er oben-
bleiben würde.
Bowa aber gab seinem Pferd die Sporen, setzte
über die Mauer und flog wie ein Pfeil davon, von
den Hufen blieben tiefe Gräben zurück, und er

650
stürmte dem Heer Sultans entgegen. Sultan Sul-
tanowitsch erblickte Bowa und lachte: „Einen bes-
seren Recken hat Sensewej nicht – hat einen
Knaben geschickt“, sagte Sultan zu seinem klein-
sten Recken. „Reite du und gib’s diesem Milch-
bart!“ Der Recke sprang aufs Pferd und jagte auf
Bowa los, doch Bowa ließ ihn nicht nahe heran-
kommen und erschlug den Recken. Sultan schick-
te den zweiten – auch den zweiten tötete Bowa.
Sultan wurde wütend, daß der Milchbart zwei er-
schlagen hatte, schickt vor Wut den dritten Rek-
ken, und den ereilte das gleiche Schicksal wie je-
ne zwei. Da wurde Sultan noch wütender als
vorher und ritt selbst gegen Bowa, doch es waren
nicht zwei Wolken, die sich treffen, sondern zwei
Recken, die sich schlagen, und Sultan versetzte
Bowa mit der Lanze einen Stoß vor die Brust, und
es klang wie ein starker Donnerschlag. Aber Bowa
hielt sich auf dem Pferde und stöhnte nur schwer
von dem schweren Stoß, aber weil der Stahlpan-
zer stark war, konnte Sultan ihn nicht durchschla-
gen. Dann stieß Bowa den Sultan Sultanowitsch
mit seiner Lanze gegen die Brust, und Sultan
wurde ohnmächtig und stürzte vom Sattel, und
Bowa zog sein Schwert und trennte den Leichnam
bis zum Sattelkissen mitten durch, und Sultan
stürzte zu beiden Seiten des Pferdes auf die kühle
Erde. Bowa hatte den Kampf mit den vier Recken
beendet und warf sich auf das gewaltige Heer Sul-
tans und begann mit dem Schwert dreinzuhauen:
schlug rechts, und es entstand eine Gasse, schlug
links, und es entstand eine zweite Gasse. Wieviele

651
Krieger Bowa erschlug, soviele hilft ihm auch sein
Pferd mit den Beinen zertrampeln: so hatte Bowa
Königssohn das ganze Heer zusammengeschla-
gen. Nur eine kleine Zahl war übriggeblieben, sie
konnte gerade noch zurückfliehen in Sultans
Staat. Als sie ankamen, erklärten sie dem Sultan,
daß irgendein junger Recke gekommen ist und hat
die drei Recken erschlagen und Sultan Sultano-
witsch selber in zwei Teile zerhackt, sich auf das
Heer geworfen und alles erschlagen, „wir konnten
nur noch fliehen!“ Da wurde Zar Sultan traurig,
aber er sagte: „Da kann man nichts machen, wir
haben niemanden mehr, mit dem wir angreifen
könnten.“ Als Bowa gekämpft hatte, da hatte
Drushewna Sensewejewna vom Balkon aus durch
ein Fernrohr zugesehen und war sehr froh, daß
Bowa so gut zurechtkam, daß er die drei Recken
und als vierten Sultan selbst erschlagen hatte und
rechts und links das Heer hinmähte. Nach dieser
Schlacht kehrte Bowa zurück in die Stadt des Za-
ren Sensewej. Da wurde das Stadttor aufge-
macht, Bowa ritt in die Stadt ein, Zar Sensewej
und Drushewna begrüßten Bowa Königssohn mit
großer Freude, nahmen ihn bei den Händen und
führten ihn in den Zarenpalast. Zar Sensewej
setzte Bowa neben sich an den Tisch. Es wurde
ein Abend veranstaltet, Generale und Kaufleute
kamen, und man trank, feierte und war lustig. Al-
le gratulierten Bowa Königssohn zu seinem Sieg,
und einzig Neid und Bosheit trank nicht, sondern
ging umher, spann Pläne und knirschte mit den
Zähnen. Zar Sensewej Andronowitsch hatte einen

652
Günstling gehabt, der hatte immer an einem Tisch
mit ihm geplaudert, und erst jetzt war er entfernt
worden und mußte die Gäste und Bowa bedienen,
aber das war nicht nach seinem Geschmack. Und
der ging den ganzen Abend umher und überlegte
immer, wie er Bowa einen Streich spielen könnte,
und sagt zu sich: „Warte nur, ich werde mein
Mütchen noch kühlen dafür, daß ich Bowa bedie-
nen mußte, diesen Milchbart!“ Und das Fest ging
zu Ende, die Gäste gingen alle nach Hause, auch
Zar Sensewej ging in sein Schlafzimmer, und Bo-
wa und Drushewna gingen in ihre Zimmer. Bowa
hatte sich noch nicht ausgezogen, er saß und
dachte an die schwere Schlacht mit den Recken,
wie er hatte kämpfen müssen; Bosheit und Haß
aber hatten es fertig gebracht, ins Schlafzimmer
des Zaren einzudringen. Er legte dessen Gewand
an, schrieb eine Depesche, versiegelte sie und
schickte einen Diener: „Da, übergib’s Bowa, daß
er es gleich zu Sultan bringt und ihm selbst in die
Hand gibt!“ Bowa liebte es nicht, fremde Briefe zu
lesen und zu entsiegeln, auch Depeschen nicht, er
nahm die Depesche, steckte sie in die Tasche und
sagte: „Ist gut, ich reite sofort!“ Legte sein
Schwert an, erhob sich und ging in den Pferde-
stall, sattelte sein Reckenpferd, ließ sich bei Dru-
shewna Sensewejewna nicht melden, sondern ritt
in der gleichen Nacht los. Am Morgen standen Zar
Sensewej und Drushewna auf und stutzten – wo
ist Bowa und wohin ist er geraten? Niemand
konnte es wissen, nur der Höfling allein wußte es,
der früher mit dem Zaren zusammen an einem

653
Tisch gesessen hatte, und er sagte es nieman-
dem. Der Zar und Drushewna trauerten um Bowa:
wohin war Bowa geraten, worüber war er erzürnt?
Sie waren traurig und bekümmert, und damit lie-
ßen sie es bewenden.
Bowa ritt eine Nacht und einen Tag und war
schon weit. Am dritten Tag war es sehr heiß, und
er hatte heftigen Durst, aber nirgends war eine
Quelle zu sehen; und auf einmal sieht er rechts in
der Ferne eine große Eiche stehen, und unter der
Eiche bemerkte er einen grauhaarigen Alten, der
trinkt Wasser. Und Bowa wendete sein Pferd, ritt
zu dem Greis, begrüßte ihn freundlich und sagte:
„Ich sehe, daß Ihr Wasser trinkt, und mich quält
der Durst, ich möchte auch gern trinken. Erbarm
dich und gib mir zu trinken, sei so gut, Alter!“
Aber der Alte antwortete nichts, goß das Wasser
aus, schöpfte frisches Wasser, wandte sich ab,
schüttete Schlafpulver in den Krug und reichte
Bowa den Krug voll Wasser. Und Bowa trank gie-
rig das ganze Wasser aus, verneigte sich tief vor
dem Alten, sagte Dank, lenkte sein Pferd wieder
auf den Weg und ritt weiter; doch es waren noch
keine fünf Minuten vergangen, als Bowa der
Schlaf überwältigte, und er stieg vom Pferd, legte
sich ins Gras und fiel in einen tiefen Schlaf. Zu
dieser Zeit aber, als Bowa schlief, kam zu ihm
derselbe Alte, der Bowa Wasser gegeben hatte,
und nahm ihm das stählerne Schwert ab, führte
das Pferd von Bowa weg, übergab das Pferd Mar-
kobrun, das Schwert aber gab er ihm nicht, be-
hielt es selber und sagte zu Markobrun: „Du

654
kannst den Staat Sensewejews wieder mit Krieg
überziehen, ich habe den Recken Bowa entwaff-
net, er hat jetzt nichts mehr, womit er kämpfen
kann!“ Und damit verschwand der Alte. Bowa aber
erwachte und weiß selber nicht, hat er lange oder
kurze Zeit geschlafen, nur merkte er plötzlich, daß
sein stählernes Schwert nicht bei ihm ist, und das
Pferd ist auch nicht da; da begriff Bowa, was los
war, daß der Alte ihm nicht bloß so zu trinken ge-
geben hatte, und er sagte: „Was für ein alter Teu-
fel, wie hat er mich angeführt; wenn er mir in den
Weg käme, ich würde ihn in Stücke reißen!“
Bowa grämte sich, war traurig, aber es war
nichts zu machen, er mußte seinen Weg fortset-
zen. Bowa erhob sich und ging zu Fuß weiter.
Ging nicht einen Tag, nicht zwei, sondern einen
Monat, kam durch viele Dörfer und Städte, ge-
langte aber schließlich zu Sultans Zarenreich, ging
in die Stadt und fragte den ersten, der ihm be-
gegnete: „Sage, wem gehört diese Stadt?“ Der
Mann antwortete: „Diese Stadt gehört Sultan sel-
ber.“ Bowa sagte: „Den brauche ich gerade. Habt
Dank, daß Ihr’s gesagt habt!“ Bowa ging weiter,
kam zum Schloß und fragte den Wachposten:
„Laßt mich ein zu Zar Sultan, ich bringe ihm eine
Depesche vom Zaren Sensewej!“ Der Wachposten
ließ Bowa ein, und Bowa ging ins Arbeitszimmer
des Zaren Sultan, verneigte sich und überreichte
ihm die Depesche. Sultan saß auf einem goldenen
Sessel hinter einem Tisch, nahm von Bowa die
Depesche, erbrach das Siegel und las sie. Und
dort stand geschrieben: „Das ist derselbe Recke,

655
er heißt Bowa, der Eure drei Recken und Euren
Sohn Sultan Sultanowitsch getötet und das ganze
Heer zusammengeschlagen hat.“
Und Bowa steht vor ihm wie eine Kerze und
wartet auf Antwort von Sultan. Sultan las die De-
pesche durch, und seine Augen füllten sich mit
Blut, die Haare standen ihm zu Berge, und er
schrie: „Diener, hierher!“ Die Diener kamen
sogleich gerannt, und Sultan schrie Bowa an: „Er
ist selber gekommen, dieser Schurke, packt ihn,
dieser Schurke hat meinen Sohn und die drei Rek-
ken getötet und das ganze Heer erschlagen, führt
ihn ins Gefängnis, steckt ihn hinein, und morgen
werden wir ihn zusammen zum Galgen führen!“
Die Diener ergriffen Bowa, führten ihn ins Ge-
fängnis, ließen Bowa dort hinter einer Eisentür
zurück und legten ein Schloß davor. Da kamen
Bowa trübe Gedanken, er wurde traurig, und die
Tränen schüttelten Bowa. Als Bowa sich etwas be-
ruhigt hatte, sagte er: „Warum nur ist Väterchen
Zar Sensewej zornig auf mich? Ich habe ihn
zweimal aus dem Unglück gerettet, und er hat
mich in den sicheren Tod geschickt. Es wird mir
leicht werden, in der Luft zu tanzen.“ Bowa blickte
nach allen vier Himmelsrichtungen, ob nicht ir-
gendwo ein Stück Eisen liegt – nirgends etwas zu
sehen. Bowa wurde traurig: „Wenn ich wenigstens
mein Schwert bei mir hätte, dann wäre es noch
gut, aber man kann nichts machen, ich habe Ar-
me und Beine, irgendwie werden wir’s versu-
chen.“ Die Nacht war vorbei. Sultan schickte
sechzig Mann, mit Säbeln ausgerüstet: „Bringt

656
Bowa zu mir, wir wollen ihn zum Galgen führen!“
Die Eskorte nahm Aufstellung, und sie gingen,
Bowa zu holen; sie kamen ins Gefängnis, nahmen
das Schloß ab, rissen die Tür auf, und einer von
ihnen schrie: „Komm ‘raus!“ Bowa war nicht
ängstlich, er sprang aus dem Gefängnis, entriß
dem ersten den Säbel und ließ ihn nach links und
rechts niedersausen. Schnell war die ganze Eskor-
te bis auf den letzten Mann niedergehauen, er
ging vor die Stadt und gedenkt, so schnell wie
möglich zu entfliehen.
Sultan wartet auf die Eskorte mit Bowa und
kann es nicht erwarten, schickt einen Boten: „Lauf
schnell zum Gefängnis, sie bringen Bowa so lange
nicht!“ Der Bote kam hin, aber dort lag die ganze
Abteilung auf der Erde. Er rannte wieder zurück
zum Sultan und sagte: „Alle Soldaten sind totge-
schlagen!“ Da ergrimmte Sultan noch mehr als
vorher und befahl, ins Horn zu stoßen und das
Heer zu versammeln. Es wurde ins Horn gesto-
ßen, und das Heer versammelte sich. Sultan be-
stimmte einhundert Mann Reiterei, Bowa, koste
es, was es wolle, einzuholen und lebendig zu ihm
zurückzubringen. Die Reiterei eilte schnell davon,
sie holten Bowa, der zu Fuß war, bald ein, um-
ringten ihn und brachten ihn zurück.
Bowa wurde zum Sultan gebracht. Sultan sag-
te: „Du wirst mir nicht davonlaufen, du Schurke,
du entgehst dem Galgen nicht!“ Und er befahl,
Bowa ins Gefängnis zu führen. „Und morgen hän-
gen wir ihn auf!“ sagte Sultan. Die Diener brach-
ten Bowa nach dem Gefängnis und führten Bowa

657
gerade an seiner Tochter vorbei. Die erblickte Bo-
wa durchs Fenster, seine Schönheit gefiel ihr, und
Bowa tat ihr leid. Sie ging zu ihrem Vater und
sagte: „Liebes Väterchen, ich bin zu dir mit einer
Bitte gekommen: töte diesen Recken nicht, jetzt
kannst du deinen Sohn nicht wieder lebendig ma-
chen, und die drei Recken kannst du auch nicht
zurückholen, die er getötet hat. Ich denke, er wird
mich zur Frau nehmen und mein Mann sein. Euer
Schwiegersohn, und er wird auch unseren Staat
schützen. Er ist weit stärker als sie, und er muß
sich mit meinen Worten einverstanden erklären,
weil ihm morgen der Tod droht. Und für mich ist
es an der Zeit, jemanden zu heiraten.“ Sultan
liebte seine Tochter sehr und sagte: „Du kannst
die Ehe eingehen. Ich gebe meinen Segen, wenn
er sich einverstanden erklärt.“ Sie verneigte sich
tief vor ihrem Vater und ging. Bowa war im Ge-
fängnis gelassen worden. Die Tochter Sultans kam
in ihr Zimmer, schickte Diener nach Bowa und
trug den Dienern auf: „Sagt Bowa, die Zarentoch-
ter verlangt nach Euch!“ Die Diener gingen zu
Bowa, erklärten ihm, daß „die Zarentochter nach
Euch geschickt hat.“ Bowa war einverstanden, mit
ihnen zu gehen. Als sie Bowa zu ihr geführt hat-
ten, verneigte er sich tief vor ihr, sie setzte Bowa
an einen Tisch und bewirtete ihn. Und seine
Schönheit zog sie so an, daß sie zu ihm zu spre-
chen begann: „Ich bin heute bei meinem Vater
gewesen und habe Euch vor der Todesstrafe be-
wahrt, und ich denke, daß ihr einverstanden sein
werdet mit meinen Worten: ehe Ihr Eure Jugend

658
verderbt, Euer kühnes Haupt in die Schlinge
steckt, wenn Ihr also mich zur Frau nehmt, wer-
den wir in Freiheit leben.“ Bowa überlegte ein we-
nig und antwortete: „Zarentochter, ich bin noch
zu jung und habe nicht die Absicht zu heiraten.“
Lange redete die Zarentochter Bowa zu, aber sie
konnte es auf keine Weise erreichen, daß Bowa
sie heiratet. Bowa sagte: „Lieber sterben als hei-
raten!“ Da befahl die Zarentochter den Dienern,
Bowa wieder ins Gefängnis zu führen. Die Diener
führten Bowa ins Gefängnis und ließen ihn dort.
Die Zarentochter aber ging mit ihrem Bericht zum
Väterchen Sultan und sagte: „Liebes Väterchen,
ich habe Bowa zu mir bringen lassen und ihm zu-
geredet, daß er mich heiratet, aber ich habe ihn
auf keine Weise dazu bringen können. Jetzt ge-
schehe Euer Wille, was ihr wollt, das tut mit Bo-
wa!“ Sultan hörte die Rede seiner Tochter, wurde
noch wütender als vorher und sagte zu ihr: „Mor-
gen hängen wir ihn auf!“ Die Zarentochter ver-
neigte sich tief vor ihrem Vater, drehte sich um
und ging in ihr Zimmer. Die Nacht ging vorbei,
der Morgen kam, Zar Sultan befahl, eine Hundert-
schaft Soldaten zusammenzuholen, mit Säbeln
bewaffnet, und Bowa zu ihm zu bringen. Die Es-
korte nahm Aufstellung und ging wieder, Bowa zu
holen. Bowa aber hörte das Geräusch der Schritte
und sah von einer Ecke in die andere, irgendein
Türband zu suchen oder ein schweres Stück Ei-
sen. Und plötzlich sah er: in der Ecke steht dieses
sein stählernes Schwert, das er in den Kämpfen
gebraucht hatte. Mit großer Freude ergriff Bowa

659
seinen treuen Freund, preßte es an die Brust und
küßte es. Die Eskorte kam an, sie nahmen das
Schloß ab, öffneten die Tür und schrien: „Komm
raus ins Freie!“ Aber Bowa kam herausgesprun-
gen, und wie er sein Schwert schwang, hatte er
eine Gasse gemacht, und er streckte alle bis auf
den letzten Mann zu Boden, er selber aber ging
vor die Stadt und rannte schnell davon. Er hält
gerade auf den Hafen zu. Sultan wartet auf die
Eskorte und kann’s nicht erwarten, er schickt ei-
nen Diener: „Geh zum Gefängnis, warum die Die-
ner Bowa noch immer nicht bringen!“ Der Diener
kam zum Gefängnis, da liegt die ganze Abteilung
dort tot am Boden. Er kehrte zurück und meldet
Sultan: „Dort ist keiner mehr am Leben, alle er-
schlagen!“ Da wurde Sultan noch wütender als
vorher und befahl, ins Kriegshorn zu stoßen, das
Heer zu versammeln und Bowa nachzueilen. Sie
stießen ins Horn, versammelten fünfhundert Sol-
daten Reiterei, und Sultan gab Befehl, Bowa, ko-
ste es, was es wolle, einzuholen und lebendig vor
Gericht zu bringen. Aber Bowa hatte unterdessen
auch nicht geschlafen, sondern sich angestrengt,
zum Hafen zu kommen, und er war gerade zum
Hafen gekommen, und in derselben Minute legte
ein Schiff vom Ufer ab. Bowa konnte noch auf das
Schiff springen und bat die Kapitäne und Matrosen
höflich: „Nehmt mich mit!“ Die Kapitäne sagten:
„Schön, wir nehmen dich mit.“ Als das Schiff eini-
ge Saschen vom Ufer entfernt war, strömte das
Heer zum Meere, und sie schrien: „Lenkt das
Schiff zurück und gebt uns diesen Mann heraus!“

660
Der Kapitän wollte das Schiff schon zurücklenken,
aber Bowa zog sein Schwert aus der Scheide und
schlug dem Kapitän den Kopf ab, dem zweiten be-
fahl er: „Fahr weiter: wer nicht gehorcht, dem ge-
schieht das gleiche!“ Da bekamen alle Angst und
unterwarfen sich Bowa; sie lenkten das Schiff in
die Mitte des Meeres, zogen die Segel hoch,
brachten das Schiff auf volle Fahrt, zum Glück
wehte günstiger Wind, und sie fuhren weiter. Das
Heer aber stand eine Weile am Ufer, sah dem
Schiff nach und ritt zurück zu Sultan. Sie kamen
an und erklärten, wie die Sache war. Sultan kratz-
te sich am Hinterkopf und sagte: „Da kann man
nichts machen. Der Feind hat entkommen kön-
nen.“ Und dabei blieb es. Bowa aber setzte sich in
den Besitz des ganzen Schiffes, und sie fahren
einen Tag, einen zweiten und mehrere Monate:
viele Dörfer und Städte sahen sie auf ihrer Fahrt
an der Küste. Und nun näherten sie sich einer
Stadt; Bowa befahl, das Schiff auf die Stadt zuzu-
lenken, die sie in der Ferne sahen, und das wurde
vom Kapitän auch getan. Und es begegneten ih-
nen schon Fischer in ihren Booten. Bowa befahl,
das Schiff anzuhalten. Der Kapitän gab den Ma-
trosen Anweisung, Anker zu werfen. Und als sie
den Anker geworfen hatten und das Schiff hielt,
rief Bowa die Fischer heran, kaufte ihnen ihre Fi-
sche ab, gab die Fische den Schiffsleuten und sag-
te: „Da, kocht die Fische und eßt sie!“ Bowa sel-
ber aber fragte die Fischer, wem diese Stadt
gehört: „Markobrun!“ Bowa fragte noch einmal:
„Und was hört man Schönes in der Stadt?“ Die

661
Fischer gaben ihm zur Antwort: „Schönes das,
daß morgen der Zar heiratet.“ Bowa fragte: „Und
wen?“ Sie antworten: „Drushewna Sensewejew-
na!“ Als Bowa diese Worte hörte, krampfte es ihm
das Herz zusammen, und in seiner Brust kochte
das Reckenblut. Da bat Bowa die Fischer, ihn zu
jenem Ufer zu bringen, zur Stadt. Sie waren ein-
verstanden, ihn überzusetzen. Und da verab-
schiedete sich Bowa von dem Kapitän und den
Matrosen und setzte sich zu den Fischern ins
Boot. Das Schiff aber fuhr weiter. Als Bowa mit
den Fischern fuhr, fragte er, wie es in der Stadt
zugehe. Sie erklärten ihm, daß Markobrun einen
Befehl erlassen hatte, Bowa nicht zu erwähnen.
„Und warum?“ – „Er hat Drushewna gewaltsam
entführt, und sie jammert um irgendeinen Bowa,
und wer ihn nur erwähnt, den kostet es den
Kopf.“ Sie brachten Bowa ans Ufer, er bedankte
sich bei den Fischern und ging näher an die Stadt
heran. Geht so dahin und denkt, wie er die Sache
anfangen soll und wie er Drushewna sehen kann.
Und auf einmal kommt Bowa derselbe Greis in
den Weg, der ihm unterwegs Wasser zu trinken
gegeben und ihn eingeschläfert hatte. Bowa be-
grüßte ihn und sagte zu ihm: „Jetzt habe ich dich
erwischt, Alter, jetzt werde ich dich in zwei Hälf-
ten zerreißen!“ Der Alte fiel auf die Knie und sag-
te: „Vergib mir, um Gottes willen, meinen bösen
Streich. Ich will dich unterweisen, wie du Dru-
shewna bekommen kannst, sie lebt hier bei Mar-
kobrun; er hat nach Eurer Abreise gehört, daß Ihr
nicht mehr bei Sensewej Andronowitsch seid, ist

662
mit seinem Heer ausgezogen, hat den Staat
Sensewejs zerstört und Drushewna entführt, mor-
gen werden sie getraut. Aber du sollst sie heute
sehen!“ – „Und wie kann ich sie sehen?“ fragte
Bowa den Alten. Der Alte holte drei Pulver hervor,
gab sie Bowa und sagte: „Dieses eine Pulver hier
schütte in Wasser und wasche dich, da wirst du
alt, die Haare werden weiß, das Gesicht runzlig,
aber deine Kraft und die Zähne verlierst du nicht.
Nach diesem Pulver schütte von diesem hier in
reines Wasser und wasche dich – du wirst wieder
der gleiche Held wie vorher.“ Da nahm Bowa die-
se Pulver, führte alles aus, überzeugte sich von
den Worten des Alten und sagte: „Ist gut, Alter,
ich vergebe dir alles!“ Bowa hatte ein weiches
Herz und war gutmütig. Er verabschiedete sich
von dem Alten, und der Alte rief ihm nach: „Dein
Pferd steht im Pferdestall bei Markobrun. Kannst
es nehmen!“ – drehte sich um, ging und war bald
verschwunden. Bowa aber ging in die Stadt und
hatte bald einen Mann eingeholt, der eine Bürde
Holz trug und einen alten Bauernkittel anhatte.
Bowa sagte zu ihm: „Gib mir zum Tausch deinen
Kittel und nimm mein Gewand, ich brauche deinen
Kittel!“ Da drehte sich der Mann zu Bowa um und
sagte: „Ihr seht aus wie ein guter Mensch, aber
einen armen Mann verspottet Ihr. Wie könnt Ihr
einverstanden sein, ein solches Gewand gegen
solche Lumpen herzugeben.“ Bowa sagte zu ihm:
„Wenn du ihn im guten nicht gibst, nehme ich ihn
im bösen!“ Der Mann zog seinen Bauernkittel aus
und gab ihn Bowa: „Wenn Ihr meinen Bauernkittel

663
braucht, nehmt ihn!“ Bowa nahm den Kittel, zog
sein Gewand aus und gab es ihm: „Hier nimm,
guter Mann, und trag es zu deinem Besten, und
willst du’s nicht tragen, dann verkauf’s wenig-
stens.“ Der Bauer freute sich, sagte Bowa viele
Male Dank, und sie gingen auseinander. Bowa nä-
herte sich der Stadt, da stieß er unterwegs auf
eine Wasserquelle; er schöpfte reines Wasser in
den Krug, schüttete das Pulver in das Wasser,
wusch sich mit diesem Wasser und sah aus wie
ein grauhaariger Alter. Sein Gesicht hatte Runzeln
bekommen, der Hals auch, und an den Händen
waren die Knochen zu sehen; danach geriet aus
Versehen ein Wassertropfen auf das Schwert, das
wurde alt und ganz verrostet, aber seine Kraft
hatte Bowa nicht verloren. Er zog den Bauernkittel
an, verdeckte sein Schwert unter den Rockschö-
ßen und ging in die Stadt Markobruns. Auf dem
Wege war eine Bäckerei, dort buken sie Brot für
Markobruns Hochzeit. Bowa ging hinein und bat
um ein Almosen, aber nicht um des Essens willen,
sondern Bowa wollte etwas erfahren, und er sag-
te: „Habt Erbarmen, gebt mir ein Almosen, nicht
um meinetwillen, sondern um Bowa des Königs-
sohns willen!“ Da hörte der Meister der Bäckerei
diese Worte und schrie ihn an: „Bist du verrückt
geworden, Alter, bist du etwa des Lebens über-
drüssig, erwähnst Bowa, hier ist ein Befehl vom
Zaren erlassen, keinesfalls Bowa zu erwähnen.
Wer ihn erwähnt, den kostet es den Kopf!“ Da tat
Bowa, als wüßte er von nichts, und bat um Ver-
gebung: „Vergebt, um Gottes willen, einem alten

664
Mann, ich habe diese Anweisung nicht gekannt
und habe das so hingeschwatzt!“ – „Nun gut,
Großväterchen, weil Ihr sehr alt seid, werde ich es
dem Zaren nicht melden. Ich bitte Euch aber,
paßt auf und erwähnt nirgends mehr Bowa, sonst
schlagen sie dir den Kopf ab.“ Und nun zeigte ihm
der Meister der Bäckerei den Weg: „Geh, heute
gibt Drushewna den Bettlern Almosen!“ Der Alte
sagte für alles Dank und ging dorthin zur Vertei-
lung der Almosen. Kam hin, aber da stand eine
lange Reihe, einer hinter dem anderen; er fragte:
„Worauf wartet ihr hier?“ Die Bettler antworteten
ihm: „Drushewna gibt zu Ehren ihrer Hochzeit Al-
mosen, manchen drei Rubel, manchen fünf Ru-
bel.“ Bei Bowa kocht das Blut in der Brust, er be-
gann sich zunächst behutsam durchzudrängen, da
schreit die Bettlerschar: „Was drängst du dich vor,
stell dich in die Reihe!“ Aber Bowa stößt mit dem
Ellenbogen in die eine Richtung, und fünf Mann
liegen auf der Erde, stößt in die andere Richtung,
noch mehr wälzen sich auf der Erde, und so war
es nicht schwer für ihn, bis zu Drushewna durch-
zukommen. Die Bettler aber schimpfen: „Der Teu-
fel hole ihn, ist selber klapprig, aber wenn er mit
dem Ellbogen stößt, dann liegt ein ganzer Haufen
auf der Erde, woher kommt ihm nur solche Stär-
ke?“ Er drängte sich schnell zu Drushewna durch
und sagte: „Mütterchen Drushewna Sensewejew-
na, gib mir ein Almosen, nicht um meinetwillen,
sondern um Bowa des Königssohns willen!“ Sie
hörte diese Worte, stellte die Verteilung der Almo-
sen ein, nahm den Bettler bei der Hand und rief

665
ihn in ihr Zimmer. Die Bettler aber begannen zu
schimpfen: „Der Teufel soll diesen Alten holen,
was hat er hier zu suchen, jetzt ist alles hin, ein
solches Almosen bekommt man in Ewigkeit nicht
mehr. Nein, denkt nur, manchen drei Rubel und
manchen sogar fünf Rubel. Aber jetzt hat’s keinen
Sinn zu warten, wir müssen auseinandergehen.“
Und so ging die Menge bald auseinander.
Drushewna Sensewejewna aber fragte den
Bettler: „Kennt Ihr denn etwa Bowa, Großväter-
chen?“ Er gab ihr zur Antwort: „Wie denn, ich
kenne ihn gut, wir haben zusammen im Gefängnis
gesessen.“ – „Was sagt Ihr da, ist er denn noch
am Leben! Ich denke schon nicht mehr, daß Bowa
noch lebt!“ sagte sie und begann um ihn zu jam-
mern; und in diesem Augenblick trat Markobrun
ein und fragte Drushewna: „Worüber weinst du,
meine Liebe?“ Sie gab ihm zur Antwort: „Dieser
Alte hier ist aus unserer Stadt und hat mir die
Nachricht gebracht, daß mein lieber Vater gestor-
ben ist.“ Da sagte Markobrun zu ihr: „Weine nicht,
wozu weinen und die Augen naß machen, er war
schon alt, hat seine Zeit gelebt, jetzt kannst du
ihn nicht zurückholen. Nun gut, besprich mit dem
Alten, was nötig ist!“ Und er ging von ihnen weg.
Da fragte sie der Alte: „Wie ist’s denn, liebt Ihr
Bowa oder nicht? Er hat Euch oft erwähnt.“ Dru-
shewna brach wieder in Tränen aus und sagte zu
dem Alten: „Wenn ich wüßte, daß Bowa lebt, ich
liefe durch dreimal neun Länder ins dreimal zehn-
te Zarenreich zu ihm.“ Der Alte hörte sich die
Worte Drushewnas an und sagte zu ihr: „Bowa

666
befindet sich hier in der Stadt, aber er hat Angst,
sich zu zeigen, und hat mich zu Euch geschickt.“
Drushewna sagte: „Wie kann ich ihn denn sehen?“
Der Alte sagte zu ihr: „Ich will Euch in dieser Sa-
che helfen, ich gebe Euch ein Schlafpulver; geht
Ihr gleich heute in den Garten, pflückt die schön-
ste Rose und steckt sie an das Hemd, in dem Euer
Bräutigam mit Euch zur Trauung gehen soll, und
streut von dem Pulver auf die Rose und mach das
gleich heute, zieh ihm das Hemd an und laß ihn
an der Rose riechen! Wenn er an der Rose gero-
chen hat, wird er schlafen wollen und drei Tage
und drei Nächte schlafen.“ Und der Alte holte das
Pulver aus der Tasche und gab es Drushewna.
Und er wiederholte, sie müsse es unbedingt heute
tun, ihn vor der Trauung einschläfern. Dann sagte
er zu ihr: „Nun gut, inzwischen viel Glück! Ich ge-
he jetzt zu Bowa, am Morgen aber erwartet
mich.“ Und er verließ Drushewna. Sie ging
sogleich in den Garten, pflückte die am stärksten
duftende Rose, steckte sie an das Hemd, streute
das Schlafpulver hinein, rief ihren Bräutigam, zog
ihm das Hemd an und sagte: „Morgen werdet Ihr
darin zur Trauung gehen, seht, wie schön Ihr dar-
in ausseht und was für eine hübsche und duftende
Rose das ist, versucht mal daran zu riechen!“ Und
er sog den Duft durch alle Nasenlöcher, und der
Duft der Rose gefiel ihm sehr, und er sagte: „Sehr
schöner Duft!“ Und Markobrun hatte noch keine
fünf Minuten bei Drushewna gesessen, da sagte
er: „Schön, schlaft ein wenig, ich will auch etwas
ruhen gehen!“ Stand auf, ging in sein Schlafzim-

667
mer und fiel in einen festen Schlaf. Nach einer
kleinen Weile ging Drushewna und sah nach ihrem
Bräutigam. Markobrun war fest eingeschlafen,
Drushewna aber konnte keine Ruhe finden. Sie
verbringt die Nacht auf den Knien und sieht zum
Fenster hinaus, ob es nicht bald zu tagen beginnt.
Mit großer Mühe erwartete sie den Tag, und die
Sonne war schon aufgegangen, aber der Alte will
nicht kommen. Und endlich nun kam der Alte.
Drushewna freute sich, und er fragte sie: „Hast du
getan, was ich dir aufgetragen habe?“ Sie gibt
ihm zur Antwort: „Gleich gestern habe ich’s ge-
tan, Markobrun schläft.“ – „Das ist schön, daß er
schläft, er wird drei Tage und Nächte schlafen; wir
haben keine Zeit zu verlieren, komm, mach dich
fertig!“ sagte der Alte, „ich führe Euch zu Bowa!“
Drushewna war schnell bereit, sie nahm nichts
mit, nur ein kleines Kästchen ergriff sie und ging
mit dem Alten. Ehe sie zum Pferdestall kamen,
blieb der Alte stehen und fragte Drushewna:
„Liebt Ihr Bowa sehr?“ Sie gab ihm zur Antwort:
„Wenn ich ihn nicht liebte, wäre ich nicht mitge-
kommen.“ Er sagte zu ihr: „Vielleicht könnt Ihr
mich an Stelle Bowas lieben?“ Sie wich vor ihm
zurück und sagte: „Was fällt Euch ein, Euern Spaß
mit mir zu treiben, Alter, Bowa war ein schöner
junger Bursche, Ihr aber seid schlohweiß.“ Und sie
brach in Tränen aus. Der Alte sagte: „Schon gut,
weint nicht!“ Er nahm einen Krug und sagte ihr:
„Schöpft Wasser!“ Sie schöpfte Wasser und gab
es dem Alten, der streute ein Pulver ins Wasser,
wusch sich mit dem Wasser, ging beiseite und

668
wurde, was er früher gewesen war, ein schöner
junger Held; und er wusch sein Schwert, und es
wurde wie früher. Da erkannte Drushewna, daß
wirklich Bowa-Königssohn vor ihr steht, und sie
hing sich an seinen Hals und umarmte Bowa und
küßte ihn und sagte: „Mein lieber Bowa-
Königssohn, ich habe nicht geglaubt, daß wir uns
wiedersehen.“ Jetzt sagte Bowa: „Wir haben keine
Zeit zu verlieren, wir müssen zum Pferdestall ge-
hen.“ Als sie hinkamen, befahl Bowa den Pferde-
knechten: „Sattelt den besten Paßgänger für
Drushewna, gehorcht meiner Anweisung, sonst
kostet es Euch den Kopf!“ Er selber aber ging und
holte sein treues Pferd. Das Pferd erkannte Bowa
und fing kläglich zu wiehern an. Bowa sattelte
sein Pferd, und auch für Drushewna war das Pferd
fertig; sie stiegen auf und ritten los. Sie reiten ei-
nen Tag, den zweiten, und am dritten Tag mach-
ten sie Rast an einer Quelle, schlugen ein Zelt auf
und ruhten sich aus, tauschten ihre Ringe, wurden
wie Mann und Frau und erzählten einander ihre
Erlebnisse.
Markobrun aber wurde am dritten Tag abends
munter, die Sonne war im Untergehen, und er
dachte im Halbschlaf, daß sie aufgeht, und sagte:
„Ich muß aufstehen, heute muß ich zur Trauung
gehen.“ Die Diener sagten zu ihm: „Zu spät, die
Sonne ist im Untergehen!“ – „Und warum habt ihr
mich nicht früher geweckt?“ Sein Diener sagte zu
ihm: „Wir haben’s versucht, konnten Euch aber
nicht munter bekommen. Ihr seid am dritten Tag
aufgewacht.“ Er fragte: „Und wo ist Drushewna?“

669
Der Diener antwortete Markobrun: „Sie ist mit
Bowa fortgeritten!“ Da griff er sich an den Kopf
und sagte: „Jener Alte hat mir einen Streich ge-
spielt, der mit ihr im Zimmer gestanden hat. Aber
nun ist nichts mehr zu machen, ich muß ein Heer
von hunderttausend Mann sammeln und ihnen
nachschicken.“ Und er befahl den Dienern, ins
Kriegshorn zu stoßen und das Heer zu sammeln.
Und sie stießen ins Horn, sammelten ein gewalti-
ges Heer, und Markobrun befahl, Bowa und Drus-
hewna, koste es, was es wolle, einzuholen und
lebendig zu ihm zu bringen. Das Heer machte sich
an die Verfolgung Bowas, Bowa aber und Drus-
hewna hatten sich drei Tage ausgeruht. Bowa
stützte sich mit dem Ellenbogen auf die Erde, und
es war der Hufschlag von Pferden zu hören, und
er sagte zu Drushewna: „Sicher kommen Verfol-
ger hinter uns her, bleibt Ihr ein wenig hier, ich
will reiten und mit ihnen abrechnen.“ Stand auf,
ging, fing sein Reckenpferd ein, sattelte es,
sprang aufs Pferd und jagte wie ein Sturmwind
den Feinden entgegen, zog sein Schwert und
schlug nach rechts und links und erschlug alle,
nur eine kleine Zahl blieb übrig und floh. Als sie
zu Hause ankamen, erklärten sie Markobrun:
„Bowa hat alle erschlagen, nur wir konnten ent-
kommen.“ Nach der Schlacht kehrte Bowa zu
Drushewna zurück, sattelte ihr das Pferd, sie stie-
gen auf und ritten weiter. Auf ihrem Wege kamen
sie zu einer Stadt, ritten hinein, gingen in die Kir-
che, ließen sich trauen und ritten weiter, dem Za-
renreich Sensewejs entgegen. Lange Zeit waren

670
Mann und Frau geritten, und wieder wollten sie
ausruhen, schlugen ihr Zelt auf, ließen die Pferde
im grünen Gras weiden und ruhten sich aus. Mar-
kobrun aber hatte die Senatoren versammelt und
beriet mit ihnen: „Wir müssen ein Heer sammeln
und Bowa nachschicken!“ Da sagte ein alter Die-
ner zu Markobrun: „Bei dir sitzt wegen eines Ver-
gehens schon viele Jahr ein Recke im Gefängnis,
man nennt ihn Polkan: seine eine Hälfte ist ein
Pferd, die andere Mensch.“ Markobrun befahl, Pol-
kan den Recken zu ihm zu bringen. Die Diener
gingen und brachten Polkan zu Markobrun. Der
sagte zu ihm: „Ich hebe die Haft auf, hole, koste
es, was es wolle, Bowa und Drushewna ein und
bring sie zu mir!“ Polkan sagte: „Gut, zu Befehl!“
Er war froh, daß sie ihn freiließen, und jagte Bowa
nach, wie der Sturmwind fliegt. Bowa aber und
Drushewna ruhten zu dieser Zeit wieder aus und
hörten wieder Hufschlag. Bowa sagte zu Dru-
shewna: „Sicher sind wieder Verfolger hinter uns
her. Bleibt ein wenig hier, ich will ihnen entgegen-
reiten und mir ansehen, was für Verfolger das
sind.“ Und er stand auf, ging, fing sein treues
Pferd ein, sattelte es und ritt den Verfolgern ent-
gegen. Als Polkan Bowa erblickte, riß er eine hun-
dertjährige Eiche heraus und warf sie auf Bowa,
doch Bowa hatte sich rechtzeitig gebückt, und die
Eiche flog über Bowa hinweg, weit fort, und grub
sich in die Erde ein. Bowa aber richtete sich auf,
stürzte sich auf Polkan und stieß ihn mit der Lanze
so heftig vor die Brust, daß Polkan sich auf keine
Weise auf den Füßen halten konnte und zu Boden

671
fiel. Da drehte Bowa die Lanze mit dem spitzen
Ende nach unten und wollte Polkan erstechen,
doch der erhaschte die Lanze mit der Hand und
flehte: „Erstich mich nicht, Bowa, sondern laß
mich leben, wozu soll ich Markobrun schützen, laß
lieber uns wie zwei leibliche Brüder sein, zwei
Recken, die auf dem ganzen Erdball unbesiegbar
sind.“ Bowa war sehr gutherzig und hatte Mitleid
mit Polkan. Er sprang vom Pferd, half Polkan auf
die Füße, küßte ihn und sagte: „Schön, ich verzei-
he Euch. Ich will mit dir Brüderschaft schließen.“
Bowa bestieg sein Pferd und ritt zusammen mit
Polkan zu Drushewna ins Zelt. Als sie hinkamen,
sagte Bowa: „Drushewna, ich habe einen Bruder
gewonnen. Jetzt wollen wir weiterreiten, es wird
uns niemand mehr verfolgen.“ Er sattelte ihr das
Pferd, und sie machten sich wieder auf den Weg.
Waren Bowa, Drushewna und mit ihnen Polkan
nun lange oder kurze Zeit geritten, jedenfalls
wollten sie an einem steilen Gebirge am Waldrand
rasten und schlugen ihr Zelt auf. Sie ruhten sich
aus; Bowa hatte sich ein wenig ausgeruht und
wollte in den Wald reiten, sich das Waldinnere an-
sehen, und er sagte zu Polkan und Drushewna:
„Bleibt ihr ein wenig hier, ich will etwas im Wald
spazierenreiten und bin bald zurück.“ Stieg auf,
ritt davon und blieb lange im Wald. Unterdessen
aber erschien irgendwoher ein riesiges Tier, ein
Löwe, und fiel über sie her. Polkan begann mit
ihm zu kämpfen, sie packten sich gegenseitig, der
Löwe schlug ihm die Krallen in die Kehle, und Pol-
kan riß ihm mit den Händen das Maul auf; beide

672
versanken bis zu den Knien in die Erde, stürzten
dann zu Boden und verendeten beide. Bowa aber
war noch immer nicht zurück; da wurde Drushew-
na besorgt und konnte es gar nicht erwarten, daß
ihr Mann zurückkommt, und vor Furcht machte
sie sich auf und ritt davon. Nicht weit war eine
Stadt, sie machte dort halt, um auf ihren Mann zu
warten. Nun kam Bowa aus dem Waldinneren
zum Zelt zurück, aber dort ist alles leer. Da über-
legte Bowa, ob etwa Polkan Drushewna bedroht
hatte und sie, unbekannt wohin, fortgeritten wä-
ren. Er ritt einen kleinen Kreis und sah seinen
Wahlbruder Polkan zusammen mit dem Löwen tot
daliegen. Da begriff er, was geschehen war. Bowa
trauerte um seinen treuen Kameraden, nahm Ab-
schied von dem Leichnam und ritt los, seine Frau
zu suchen, kam in die Stadt, wo sich Drushewna
befand, und fragte Stadtbewohner, ob nicht je-
mand so und so eine gesehen hätte. Man erklärte
ihm, sie ist hier, seht, dort wohnt sie. Bowa kam
zu seiner Gemahlin, und sie freute sich sehr über
ihren Mann: „Ich habe geglaubt. Ihr seid schon
nicht mehr unter den Lebenden“, und sie erklärte,
wie Polkan und der Löwe den Tod fanden, wie sie
Angst bekommen hatte, in die Stadt geritten war
und beschlossen hatte, auf ihn zu warten. Bowa
antwortete ihr: „Ich bin gar zu lange im Wald ge-
blieben, ich hätte nicht zugelassen, daß Polkan
etwas geschieht.“ Drushewna spürte, daß sie bald
gebären würde, und sie blieben noch einige Zeit,
und sie gebar einen Knaben, den tauften sie, und
der Vater gab ihm auch den Namen Bowa. Als

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Drushewna wieder genesen war, ritten sie ohne
Aufenthalt in ihren Staat und kamen bald nach
Hause zu Väterchen Zar Sensewej Andronowitsch.
Hier empfing sie Zar Sensewej mit großer Freude,
es gab Feste und frohe Feiern. Dieser Bosheit und
Haß aber, der Bowa zu Sultan geschickt hatte,
hörte, daß Bowa wieder nach Hause gekommen
war, und verschwand, unbekannt wohin. Zar
Sensewej wurde alt, konnte das Zarenreich nicht
mehr regieren und übergab es Bowa-Königssohn.
Da begann Bowa-Königssohn das Reich zu lenken.
Und Zar Sensewej Andronowitsch lebte nicht lan-
ge mehr und starb. Ihr Sohn aber wuchs nicht von
Jahr zu Jahr, sondern von Stunde zu Stunde und
war genauso schön und stark wie sein Vater. Nach
einer Weile entbrannte Bowa-Königssohn das
Herz, und er beschloß, in seine Heimat zu reiten,
seine Mutter Militrissa Kirbitjewna und seinen
Stiefvater Dodon aufzusuchen und Rache zu neh-
men für den Tod seines Vaters; und er sagte zu
seiner Gemahlin: „Bleibt Ihr solange mit unserem
Sohn Bowa zu Hause und regiert zusammen den
Staat, ich aber will in meine Heimat reiten, meine
Mutter besuchen und mit dem Stiefvater abrech-
nen wegen Vaters Tod.“ Und Bowa-Königssohn
befahl den Dienern, ihm sein treues Pferd zu sat-
teln, legte seine Reckenrüstung an, nahm das
stählerne Schwert, verabschiedete sich von seiner
Frau und seinem Sohn Bowa, stieg auf und trat
seine lange Reise an. War Bowa-Königssohn nun
lange oder kurze Zeit geritten, jedenfalls kam er
endlich in seine Heimatstadt, überlegte nicht lan-

674
ge, sondern schlug dem Stiefvater sogleich den
Kopf ab. Die Mutter aber begrüßte er freundlich.
Einige Zeit blieb Bowa im väterlichen Zarenpalast,
dann nahm er seine frühere Mutter Militrissa Kir-
bitjewna mit sich. Der Bevölkerung der Stadt aber
sagte er: „Euch wird mein Sohn regieren, der Bo-
wa heißt“, und sie saßen auf und ritten davon zu
seiner Gattin und seinem Sohn. Als Bowa-
Königssohn mit seiner Mutter zurückkam, gab es
ein Fest für alle Welt, drei Tage und drei Nächte
feierten sie. Nach dem Fest aber schickte er sei-
nen Sohn Bowa in Großmutters Staat, dort den
Staat zu regieren. Bowa-Königssohn aber regierte
bis zum hohen Alter das Zarenreich Sensewejews.
Ich ging von ihrem Feste heim, stolperte und
brach mir’s Bein, nun fällt mir leider nichts mehr
ein, bin im Kopf ganz verworr’n, hab den Faden
verlor’n.

675
59
Wie eine Löwin einen Zarensohn
aufzog
Ein Zar hatte ein großes Zarenreich. Der Zar re-
gierte sein reiches Land nicht gar zu lange. Und
zum Glück hatten sie nur einen Sohn (für einen
zweiten war nichts zu tun). Der Zar lebte bis zu
seinem vierzigsten Jahr und starb. Sein Sohn
blieb unmündig zurück. An Stelle des Zaren re-
gierte da seine Mutter den Staat (es war sonst
keiner da), bis der junge Zar herangewachsen
war. Der junge Zar war neunzehn Jahre alt ge-
worden. Die Mutter übergab ihm alle Zarenge-
schäfte, ließ sich aber trotzdem um Rat fragen,
denn sie vertraute dem Sohn noch nicht: er war
noch zu jung; der Zar regierte sein Reich nach
den Ratschlägen seiner Mutter.
Und einmal gedachte er, in den Nachbarstaat zu
reisen und sich anzusehen, was dort vor sich
geht. Lange Zeit reiste er durch mehrere Zaren-
reiche. Bei einem Zar lebte er drei Monate. Dieser
Zar aber hatte eine Tochter, und die gefiel ihm.
Da wollte er sie heiraten.
Aus diesem Zarenreich kehrte er heim zu seiner
Mutter und sagte: „Mutter, ich will heiraten, es ist
Zeit für mich!“ Der Mutter behagte es nicht, daß
der Sohn heiratet: wenn er heiratet, dann wird er
sich mit seiner Frau beraten und nicht mit der

676
Mutter. Deswegen wollte die Mutter nicht, daß er
heiratet.
Da machte sich der Zar über diese Sache trüb-
sinnige Gedanken, wurde traurig und unwirsch.
Da bemerkten die Diener, daß der Zar schwermü-
tig und unzufrieden ist, und beschlossen, daß eine
Versammlung einberufen und er befragt werden
soll, womit er unzufrieden ist in unserem so
mächtigen Staate, und worüber er traurig ist.
Der Zar wollte es geheimhalten und nichts sa-
gen, und er sagt: „Alles ist schön, mit allem bin
ich zufrieden, aber etwas fehlt mir in meinem Le-
ben.“ Da fragen ihn die Diener: „Was fehlt dir,
sag’s uns, wir beschaffen dir alles und wollen alles
tun, damit du alles hast.“ Da antwortet der Zar:
„Ich will euch über diese Sache nichts sagen, will
es nur allein wissen.“ – „Sage, wer dich mit Krieg
bedroht oder etwas anderem. Wir sind bereit, für
dich unser Leben hinzugeben.“
Der Zar überlegte eine Weile und beschloß, ih-
nen seine ganze Not zu erzählen und zu sagen,
was ihm fehlt. Und er erzählte ihnen: „Ich war im
Nachbarreich, und die Tochter des Zaren hat mir
gefallen. Und ich möchte sie nun heiraten, aber
die Mutter erlaubt es mir nicht und gibt mir nicht
ihre Einwilligung.“
Da beschlossen die Diener, die Mutter auf ihre
Versammlung zu rufen und zu fragen, was los ist,
warum sie diese Einwilligung nicht gibt, den Sohn
zu verheiraten. Sie riefen die Mutter auf die Ver-
sammlung und begannen zu fragen. Die Mutter
sagte, daß er doch den Staat noch nicht regieren

677
kann und daher nicht heiraten darf. Die Diener
antworten, da er schon regiert, ist es für ihn
schon an der Zeit zu heiraten.
Endlich gab die Mutter ihr volles Einverständnis,
ihren Sohn zu verheiraten. Und da schickten sie
einen Boten, um die Braut im Nachbarreich zu
freien. Der Bote ritt mit einem Brief zu dem Za-
ren, und der Zar freute sich sehr, daß ein so rei-
cher Zar um seine Tochter freit. Als der Zar den
Brief gelesen hatte, fragt er seine Tochter, ob sie
die Frau dieses Zaren werden will. Die Tochter
antwortet: „Ich will!“ Gibt gleichfalls ihr volles
Einverständnis.
Da schrieben sie einen Brief an den Bräutigam
und übergeben die Antwort dem Boten, der die
Antwort seinem Zaren bringt. Der junge Zar emp-
fängt seinen Boten mit großer Freude, weil ihm
der Bote den Brief bringt, und er begann, den
Brautzug zu rüsten, um die Braut zu holen. Nun
fuhr der junge Zar zu dem Zaren, seine Braut zu
holen. Der junge Zar wurde sehr gut empfangen,
und sie hatten eine großartige Hochzeit.
Die Hochzeit hatten sie gefeiert, und nun leben
die jungen Leute in ihrem Reich. Und einmal ging
der junge Zar allein im Garten spazieren. Und auf
einem hohen Baum war das Nest eines kleinen
Vogels. In diesem Nest aber waren zwei kleine
Vogeljunge, und auf einmal kam ein Habicht ge-
flogen und entführte das eine. Der Zar hatte die-
sen ganzen Vorgang gesehen. Und er fiel in tiefes
Nachdenken hierüber. Und er versammelte seine

678
Diener und erzählte ihnen die Erscheinung, und
was das ihm für die Zukunft wohl voraussage.
Keiner der Diener konnte diese Sache deuten
oder entscheiden, wozu und weswegen er diese
Erscheinung hatte. Nur ein alter Diener sagt zu
ihm: „Eure Kaiserliche Majestät, bei uns im Wald
ist ein alter Einsiedler, der kann es sagen.“ Da
schickten sie nach diesem alten Einsiedler in den
Wald. Sie brachten den Alten aus dem Wald, und
der Zar erzählte ihm diese ganze Erscheinung.
Der Einsiedler nun erklärte ihm, daß ihn in der
Zukunft ein großes Unglück erwartet, danach aber
Glück. Aber alles erklären und sagen, was es ge-
nau bedeutet, konnte er nicht.
Nun zu der alten Zarin. Paßt auf, was unterdes-
sen mit der alten Zarin geschieht.
Die alte Zarin war schrecklich wütend auf diese
Geschichte, daß der Sohn nur wenig zu ihr kam,
um sich mit ihr zu beraten, aber um so mehr zu
seiner Frau. Sie hatte eine schreckliche Wut. Die
alte Zarin sann darauf, ihre Schwiegertochter,
gleich wie, aus dem Wege zu räumen. Die hatte
ihm aber schon zwei Söhne geboren.
Was für Verleumdungen die alte Zarin auch
immer vorbrachte, der Sohn glaubte ihr nicht. Die
alte Zarin sieht, daß er ihr nicht vertraut, seine
junge Frau aber liebt und mit ihr ins Zimmer geht,
sich an ihren Kindern erfreut und Spaß mit ihnen
macht. Und er war in dieser Zeit schrecklich lu-
stig. Für die Mutter war das alles schrecklich
kränkend, und eine große Wut ergriff sie.

679
Da dachte die Mutter bei sich: „Warte nur, ich
werde das alles schon machen!“ Einmal steht sie
früh von ihrem Bett auf, geht zur Schwiegertoch-
ter ins Schlafzimmer, nimmt ihren Rock mit und
zeigt ihn dem jungen Zaren, ihrem Sohn: „Wie oft
habe ich dir gesagt, daß sie dich nicht liebt und
daß das nicht deine Kinder sind. Gerade war ich
bei ihr im Schlafzimmer, und auf ihrem Bett saß
irgendein junger Mann. Sicher einer von deinen
vertrautesten Würdenträgern. Und aus diesem
Rock hier, aus der Tasche, habe ich ein Fläsch-
chen mit Gift genommen, mit dem sie dich vergif-
ten wollte.“
Da glaubte der junge Zar seiner Mutter, wurde
sehr, sehr böse auf seine Frau und übergab sie
dem Gericht. Ohne auch nur mit seinen Würden-
trägern zu sprechen, wollte er seine Frau bestra-
fen, und er steckte sie sogar ins Gefängnis. Da
kommt die Polizei zu seiner jungen Frau und sagt:
„Mach dich fertig, nimm deine Kinder und kommt,
wir bringen euch ins Gefängnis!“
Die Zarin weint bitterlich und sagt zu den Polizi-
sten: „Geht und sagt eurem jungen Zaren, daß
ich mich von ihm verabschieden will und daß er
mich ohne jeden Grund so ‚freigebig’ bestraft!“
Doch der Zar hörte sich diese Worte nicht ein-
mal an, daß sie sich von ihm verabschieden will,
und er jagte den Diener fort und schrie den Die-
ner laut an: „Bring sie unverzüglich fort, ich will
sie nicht einmal mehr sehen wegen ihrer gemei-
nen Tat!“ Sie aber weiß von nichts.

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Die Mutter des jungen Zaren aber freute sich
sehr über diese Sache, daß der Zar seine Frau so
hart bestraft, und sie gab sich Mühe, ihm um so
mehr Respekt zu erweisen, damit der Sohn kein
Mitleid mit seiner Frau bekommt. Und sie begann,
ihm noch schlimmere Verleumdungen einzuflü-
stern. Die Würdenträger indessen rissen alle die
Augen auf. Was ist denn das, warum bestraft der
Zar seine Frau?
Da versammelte der Zar seine Würdenträger
und hielt Gericht über seine Frau. Und der Zar er-
zählte, sie hätte ihn vergiften wollen. Doch die
Diener glaubten ihm nicht und sagten, das ist Lü-
ge, das ist Verleumdung.
Aber der Zar führte die Sache zu dem Ende,
daß er befahl, sie mit ihren Kindern unverzüglich
in eine ferne Gegend zu bringen. Und die Diener
wagten es nicht, sich dem Willen des Zaren zu wi-
dersetzen, und entschieden, die Zarin an den be-
stimmten Ort bringen zu lassen. Am festgesetzten
Tag versammelten sich die Diener und das ganze
Volk, der Zarin das Geleit zu geben. Das ganze
Volk und die Diener waren versammelt, und sie
weint bitterlich, und auf ihren beiden Armen hat
sie die Kinder. Und sie wollte sich gern vom Zaren
verabschieden, aber der Zar ließ sie nicht einmal
vor und wollte keinen Abschied.
Da führten sie die Zarin mit ihren Kindern in die
Einöde. Sie brachten sie ein Stück vor die Stadt,
das Volk begleitete sie, aber dann ging sie schon
nur noch mit der Polizei weiter, das Volk kehrte
zurück. Die Polizei bringt sie zur bestimmten Stel-

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le, verabschiedet sich von ihr und läßt sie mit ih-
ren Kindern allein im tiefen Wald zurück. Und die
Zarin weinte bitterlich, ging in den tiefen Wald
und denkt bei sich, wo sie nicht für sich, aber für
ihre Kinder einen Unterschlupf finden kann. Und
um so schwerer war es für die Zarin, allein durch
den Wald, durch die Einöde zu ziehen.
Nirgends fand sie eine Hütte oder sonst etwas.
Sie mußte im Wald unter einem Baum übernach-
ten. Sie pflückte Gras, legte ihre Kinder darauf,
sie selber aber sitzt und hält Wache. Und in die-
sem einsamen Wald waren Löwen und Tiger. Die
ganze Nacht streiften die wilden Tiere an ihr vor-
bei und fletschten die Zahne. Schrecklich war es
für die Zarin, solche Not zu erleiden, und es fiel
ihr schwer, diesen schwierigen Augenblick zu
überstehen. Und eine Weile lebte sie in dieser
Einöde und nährte sich nur von Wurzeln zur Stär-
kung für ihre Kinder, damit Milch in den Brüsten
war, ihre Kinder zu säugen.
Und in einer dunklen Nacht zog ein heftiges
Gewitter herauf. Die wilden Tiere brüllten und
rannten umher, fauchten an der Zarin vorbei, und
sie war mehr tot als lebendig. Der Donner krach-
te, der Regen strömte. Das Gewitter ging vorüber,
der Wind legte sich, und es begann hell zu wer-
den. Die wilden Tiere hatten sich alle beruhigt.
In diesem Augenblick wandte sich die Zarin von
ihren Kleinen ab, um Wurzeln als Nahrung zu su-
chen. Auf einmal kam irgendwoher eine riesige
Löwin und packte ein Kleines. Die Zarin stürzte
dieser riesigen Löwin nach und weinte bitterlich,

682
aber sie konnte nichts tun, denn die Löwin war im
Gebüsch verschwunden. Da nahm die unglückli-
che Mutter ihr Kind, drückte es heftig an die
Brust, küßte es und sagt: „Nun siehst du, wie eu-
er Vater, dieser Bösewicht, mich bestraft hat: ein
Kind hat die Löwin geraubt!“
Und sie ging weiter durch den Wald. Ging und
ging und kommt schließlich zu einer Stadt; da er-
kennt sie, daß das eine Stadt ist, die ihrem Mann
gehört. Die Zarin wollte keinen Verrat begehen,
weinte bitterlich, ging zurück in den Wald und
stieß auf einen alten Einsiedler, der schon einige
Jahre im Walde lebte. Sie bat ihn, er soll sie über-
nachten lassen. Und er ließ sie gern ein.
Sie bleibt einen Tag bei ihm, bleibt zwei Tage
und denkt bei sich: „Ich muß aufbrechen und
fortgehen, ich tu’s nicht gern, aber es bleibt mir
nichts anderes übrig.“ Sie beginnt aufzubrechen
und weint. Der Alte aber sieht, daß die junge Frau
aufbricht und so bitterlich weint, und er sagt zu
ihr: „Warum weinst du so bitterlich?“ – „Wie soll
ich nicht weinen, Großvater? Ich weiß nicht, wohin
ich mein Haupt legen soll.“ Da sagt der Großvater
zu ihr: „Nun schön, bleib bei mir als meine Toch-
ter. Wenn ich sterbe, begräbst du mich.“ Die Za-
rin war’s gern einverstanden und blieb eine Weile
bei dem Alten. Jetzt lebt also die Zarin bei dem
Alten.
Nun wollen wir von dem Sohn sprechen, den
die Löwin der Zarin geraubt hatte.
In dieser Zeit hatte die Löwin ein Löwenjunges
gehabt, aber das war gestorben, und die Löwin

683
hatte das Kind davongeschleppt und begann, es
mit ihren Brüsten zu säugen. Und sie säugte es
bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr.
Und die Löwin war mit ihm nicht an der Stelle
geblieben, wo sie der Mutter das Kind geraubt
hatte, sondern war auf eine andere Insel gegan-
gen und hatte es auf dieser Insel aufgezogen.
Und als es siebzehn Jahre alt war, kamen Aus-
länder auf einem Schiff gefahren und machten an
dieser Insel halt. Sie stiegen vom Schiff und gin-
gen umher. Da sehen sie einen jungen Mann ste-
hen. Und er steht nackt, keinerlei Gewand hat er
an, und bei ihm liegt eine riesige Löwin. Da be-
gannen die Ausländer zu rufen: „Komm her zu
uns!“ Doch er verstand diese Sprache nicht. Nun
begannen sie, ihn mit den Händen heranzuwin-
ken, und endlich verstand er die russische Spra-
che und begann zu sprechen. „Ich kann unmög-
lich zu euch kommen.“ Da reißt einer von ihnen
sein Obergewand herunter und wirft es ihm zu. Er
nimmt das Gewand und kommt zu ihnen, und sie
beginnen, ihn zu fragen: „Wer bist du?“ Er ant-
wortet ihnen: „Ich kenne weder meine Heimat
noch sonst etwas, ich erinnere mich nur, daß die
Löwin mich mit ihrer Brust säugte.“ Die Ausländer
fordern ihn auf, zu ihnen aufs Schiff zu kommen.
Und er war’s gern einverstanden, mit ihnen zu
fahren, und fuhr davon.
Er kommt in das Zarenreich, wo sein Vater
wohnt, doch der Vater weiß nicht, daß er einen
Sohn hat. Als die Ausländer in seiner Stadt anka-
men, interessiert sich der Zar dafür, womit sie

684
gekommen sind und was sie mitgebracht haben.
Er schickt seinen Boten, um zu erfahren, was die
Ausländer mitgebracht haben. Der Bote ging zum
Hafen und sah nach diesem Schiff. Und er sieht:
ein Jüngling geht auf dem Schiff umher, und hin-
ter ihm eine riesige Löwin, und sie hat keine
Angst vor den Menschen. Und die Leute gehen an
ihm vorbei und haben auch keine Angst. Nur daß
er sie warnt, verbietet, sie anzurühren. Sonst
kann sie sich auf einen stürzen und ihn zerreißen.
Der Bote kommt zum Zaren und erzählt die
ganze Geschichte, was er gesehen hat. Der Zar
macht sich selbst auf den Weg, kommt zum Hafen
und kauft diesen Jüngling und die Löwin. Der
Jüngling lebt nun mit der Löwin bei seinem Vater,
doch der Zar weiß nicht, daß es sein Sohn ist.
Nun, und jetzt wollen wir von dem Zaren spre-
chen, was inzwischen mit ihm geschehen ist.
Der Zar war niedergeschlagen, als er seine Za-
rin in die Einöde geschickt hatte. Und er beschloß,
auf die Jagd zu reiten, und ließ sein Pferd satteln.
Man sattelte ihm sein Pferd, und der Zar ritt mit
seinen Vertrauten in den Wald auf die Jagd. Sie
kommen in den Wald und sehen auf einmal ein
Menschenungeheuer, das brüllt wie ein Affe und
ist ganz mit Haaren bedeckt. Da wurde der Zar
neugierig, was das für ein Ungeheuer ist, und sie
riefen es an. Nun reitet der Zar zu ihm hin und
fragt, was das für ein Mensch ist und warum er
mit Haaren bewachsen ist.
Da setzte sich das Menschenungeheuer hin und
begann, von seinem Schicksal und seinem Leben

685
zu erzählen; wie er, den Worten seiner Mutter fol-
gend, seine Frau verhöhnt und mißhandelt und sie
ins Grab getrieben hatte. Der Zar hörte sich das
aufmerksam an, die Worte dieses Menschen. Und
das Ungeheuer erzählte:
„Wenn meine Mutter bei mir war, erzählte sie
mir alle möglichen Verleumdungen. Ich hörte auf
die Mutter, schlug meine Frau, jagte sie vom Hof,
und nun wurde meine Frau davon krank und ist
schließlich gestorben. Und ich begrub sie und
fühlte, daß ich meine Frau ohne Grund verjagt
habe, und ich begann, an alle möglichen Gräber
zu gehen und zu weinen. Und so ist diese Ge-
schichte mit mir passiert. Ich bin ganz mit Haaren
bewachsen und so ein Mensch geworden.“ In die-
sem Augenblick sprang das Menschenungeheuer
auf und rannte davon durch den Wald und schrie
mit durchdringender Stimme.
Das erschien dem Zaren schrecklich, und der
Zar denkt bei sich: „Also habe auch ich meine
Frau grundlos in die Einöde geschickt.“ Und der
Zar konnte sich nicht von der Stelle erheben, in
den Sattel steigen und in sein Zarenreich zurück-
reiten, wegen dieser Erschütterung.
Jetzt heben die Diener den Zaren in die Höhe,
setzen ihn in den Sattel, und er reitet unverzüg-
lich in sein Reich. Der Zar kommt nach Hause und
befiehlt unverzüglich, die Diener zu versammeln,
in die Einöde zu reiten und seine Frau zu suchen.
Doch es war schon zu spät. Eine Abteilung ritt
in die Einöde, ritt ganze zwei Monate umher, und
sie konnten nichts finden. Sie kehren zurück und

686
berichten dies. Dem Zar wurde elend zumute, weil
er seine Frau nicht gefunden hatte. Und er ver-
sank wegen dieser Geschichte oft in trübsinnige
schwere Gedanken. Es war ihm nicht so sehr we-
gen seiner Frau elend zumute wie wegen der un-
mündigen Kinder.
Mit dem Zaren sind wir jetzt fertig. Kehren wir
zurück zu der Zarin, die mit ihrem einzigen Sohn
bei dem Einsiedler in einer Erdhütte wohnt.
Sie lebt eine Weile dort. Der Alte starb, der Ein-
siedler. Sie blieb allein zurück. Der Sohn ist jetzt
siebzehn Jahre alt, hat sich einen Bogen herge-
richtet und geht auf die Jagd. Die Mutter blieb
dann immer allein zurück, und in diesem Falle
hatte sie einen Ring seines Vaters, den sie noch
von ihrem Mann hatte. Und wenn sie den Sohn
auf die Jagd ziehen läßt, nimmt sie diesen Ring,
betrachtet ihn und weint. Und einigemal hatte der
Sohn sie dabei überrascht. Und er wurde auf-
merksam, was das ist, daß die Mutter ständig mit
diesem Ring weint. Da fragt er die Mutter, warum
das so ist. „Warum sagst du mir nicht, Mutter,
wer mein Vater ist?“ Die Mutter sagt zu ihm:
„Dein Vater ist im Meer ertrunken, als wir auf ei-
nem Schiffe fuhren. Und es hatte sich ein starker
Sturm erhoben und das Schiff zerschellen lassen,
uns beide aber hat es ans Ufer geworfen. Und so
leben wir nun in dieser Not.“
Der Sohn kennt ja seinen Vater nicht und
glaubt der Mutter sein ganzes Schicksal. Und wie-
der lebt er unbekümmert und behütet seine Mut-
ter. Einmal ging der Sohn auf die Jagd und sieht

687
in der Nähe eine Stadt liegen. Vor der Stadt ver-
sammelte sich ein Heer, und es begegnet ihm ein
älterer Mann. Da fragt er diesen Mann, wem diese
Stadt gehört. Und er erzählte vom Zaren, daß
sein Zarenreich von einem anderen Zarenreich
angegriffen und mit Krieg überzogen wird.
Aber der Zar sucht kühne Männer zur Verteidi-
gung seines Reiches. Und dieser Jüngling wollte
gern mitziehen, dieses Zarenreich zu verteidigen.
Jetzt kommt der Jüngling zu seiner Mutter und
bittet sie, ihn gehen zu lassen, diesen Zaren zu
schützen. Die Mutter beginnt ihren Sohn mit Trä-
nen in den Augen zu bitten: „Wie kannst du mich
in meinem Alter allein lassen?“ Doch der Sohn
antwortet der Mutter: „Mutter, sei unbesorgt, ich
komme dich besuchen!“ Und er begann seine Mut-
ter zu bitten, aber die Mutter läßt ihn nicht fort.
„Wenn du mich nicht freiwillig gehen läßt, dann
gehe ich so fort.“
Da dachte die Mutter bei sich: „Nun, was ist da
zu tun, ich muß den Sohn freiwillig ziehen lassen,
sonst geht er so fort“, und sie ließ ihn ziehen.
Statt des Segens schenkte sie ihm diesen Ring.
Da nahm der Jüngling Abschied von seiner Mutter
und zog los, den Zaren zu schützen. Der Jüngling
wußte nicht, daß das sein Vater ist. Der Jüngling
kommt zum Zaren und erklärt, daß er ausziehen
will, den Zaren zu schützen. Der Zar wurde neu-
gierig: kommt da irgendwoher ein junger Mann
und will sein Zarenreich verteidigen. Da gab er
ihm eine Reckenrüstung, ein Pferd – alles, was er
zum Kriegsdienst brauchte.

688
Der Jüngling rüstete sich zum Aufbruch, und
mit ihm ritt der, den die Löwin aufgezogen hatte.
Und so brachen die beiden Jünglinge auf und zo-
gen aus gegen den Feind. Die Löwin aber wich
keinen Schritt von dem anderen Jüngling. Und die
beiden Jünglinge stürmen durch die Reihen des
Feindes wie zwei edle Falken. Der Jüngling über-
wand noch weniger, als die Löwin zerriß. Und der
Sieg war auf ihrer Seite.
Sie hatten den Gegner besiegt und sich zur Sie-
gesfeier im Zarenschloß versammelt. Sie feierten
den Sieg, und der Zar reichte diesen Jünglingen
Gläser mit Wein.
Nun war der Jüngling, der bei der Mutter gewe-
sen war, schon lange auf dem Fest und denkt bei
sich: „Nun, ich bin hier am Leben geblieben und
prasse, aber wie es meiner Mutter geht, weiß ich
nicht. Ich muß zu ihr reiten und sie besuchen, in
meiner vollen Kriegsuniform.“ Da fragt der Zar:
„Und wo befindet sich deine Mutter?“ – „Meine
Mutter befindet sich in der Erdhütte eines verstor-
benen alten Einsiedlers.“ – „Erzähle, wie du in den
Wald geraten bist, in die Erdhütte zu dem Einsied-
ler.“ Er antwortet ihm: „Ich kann es dir nicht er-
zählen, das weiß nur meine Mutter, ich kann mich
nicht erinnern.“
Der Zar denkt bei sich: „Ob das zufällig meine
Frau ist?“ Da zieht der Sohn den Ring von seinem
Finger, gibt ihn dem Zaren und sagt: „Die Mutter
hat mir einen goldenen Ring zum Geschenk ge-
macht.“ Da sagt der Zar: „Ich will mir den Ring
doch mal ansehen.“ Der Zar sieht ihn an: „Das ist

689
doch mein Ring! Wo ist denn deine Mutter? Ich
möchte sie besuchen, und ich will fahren, sie zu
besuchen.“
Jetzt gibt der Zar Anweisung: eine großartige
Equipage! Der Sohn aber weiß noch nicht, daß der
Zar fahren will. Sein Sohn legt seine Kriegsuni-
form an, besteigt sein Pferd und reitet hinter ihm
her.
Sie fahren und reiten und kommen in den Wald,
wohin sie der Sohn führt. Sie kommen zu der
Erdhütte, er steigt vor Pferd, und die Mutter be-
grüßt schon mit großer Freude den Sohn, wirft
sich an seinen Hals und beginnt ihn zu küssen.
(Sie starb fast vor Freude, daß ihr Sohn noch leb-
te.)
Der Zar betrachtet sich dieses Bild und erkennt
seine Frau. Und mit großer Ungeduld springt er
aus seiner Kutsche, kniet nieder und bittet sie:
„Vergib mir, daß ich ein solches Verbrechen be-
gangen und dich ganz ohne Grund bestraft und in
die Einöde geschickt habe. Und mach dich gleich
bereit, wir fahren in mein Zarenreich!“ Da machte
sich die Zarin reisefertig, stieg ein und fuhr in sein
Zarenreich.
Sie kommen an. Der Zar gab ein großartiges
Gastmahl, ein großes Fest für das ganze Reich.
Sie hatten ein fröhliches Mahl. Zu dritt feierten
sie: Vater, Mutter und Sohn. Und noch der Jüng-
ling war bei ihnen, den die Löwin aufgezogen hat-
te, und er wurde sehr traurig. Und er sagt zu sei-
nem Kameraden: „Nun sieh nur, was für ein
Glück! Du hast Vater und Mutter gefunden; bei

690
mir aber sieht alles nach wilden Tieren aus, von
meiner Mutter her.“
Nun, die Mutter sah sich trotzdem diesen Jüng-
ling etwas näher an und glaubte ihn zu erkennen.
Und sie fragten ihn, wie diese Geschichte war.
Doch er konnte es nicht erzählen, und für ihn er-
zählte der Vater, wie er ihn von ausländischen
Reisenden auf einem Schiff gekauft hatte, zu-
sammen mit der Löwin. Da erkannte die Mutter
auch diesen Sohn, warf sich in seine Arme und
küßte ihn. Und da nun war die Freude wirklich
groß bei ihnen, daß die ganze Familie beisammen
war. Die Schwiegermutter aber war schon im
Grab, war gestorben. Und von nun an lebte er
sorglos bis ins hohe Alter. Sie verheirateten ihre
Kinder und legten das Reich in ihre Hände. Und
jetzt regieren die Kinder dieses Zarenreich.

691
60
Die zwei Kaufleute
In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in
dem, in dem wir wohnen, lebten einmal in der
Hauptstadt zwei Kaufleute. Der eine hieß Iwanow,
der andere Kowaljow. Kowaljow war viel reicher
als Iwanow. Alle großen Geschäfte in der Haupt-
stadt und auch die Hotels und Restaurants gehör-
ten Kowaljow. Aber Kowaljow und Iwanow waren
Freunde. Sie reisten oft zusammen ins Ausland,
um Waren einzukaufen, und Kowaljow lieh Iwa-
now nicht selten Geld. Dieser Kowaljow nun hatte
einen einzigen Sohn, der gerade das letzte Jahr
studierte. Die Eltern sagten oft zu ihm: „Du soll-
test ein wenig ausgehen, Sohn, irgendwohin fah-
ren, dich vergnügen. Aber du sitzt die ganze Zeit
zu Hause, liest, schreibst oder zeichnest irgend
etwas.“ Doch Kolja antwortete seinen Eltern im-
mer, daß „noch nicht die Zeit fürs Ausgehen ge-
kommen ist, weil ich studieren muß.“ Insbesonde-
re sagte die Mutter oft, er solle sich vergnügen.
Weil er in einem anderen Zimmer als die Eltern
wohnte, interessierte sich die Mutter dafür, zu
welcher Stunde er morgens aufsteht und ob er
immer bis in die späte Nacht hinein lernt. Und
einmal stand sie früh am Morgen auf und ging
nachzusehen, wie ihr lieber Sohn schläft, aber der
Sohn schlief nicht mehr, er kroch im bloßen Hemd

692
auf den Knien über den Fußboden und zeichnete
irgend etwas auf Papier. Die Mutter begann vor
Erbarmen sogar zu weinen und sagte: „Kolja,
warum mühst du dich so ab, du kannst doch
krank werden! Laß dein Studieren, heirate lieber!“
Doch Kolja lächelte und sagte der Mutter: „Ehe ich
mein Studium nicht beendet habe, gehe ich nicht
aus und werde nicht heiraten.“
Als er sein Studium beendet hatte, drängte ihn
die Mutter, er solle sich vergnügen. Er sagt:
„Schön, gib mir zehntausend Rubel, ich will heute
ausgehen.“ Und er hielt sich nun hier und da im
Kreise junger Leute auf und ging sehr oft aus.
Einmal fragt ihn die Mutter: „Sage, Söhnchen,
wieviel Geld hast du heute verjubelt?“ – „Hundert-
tausend!“ Die Mutter bekreuzigte sich vor Freude:
„Gepriesen seist du, Gott, das Söhnchen ist zur
Vernunft gekommen!“ Aber sie hatten Geld – sie
wußten selber nicht wieviel. Und als Kolja nun alle
großen Etablissements und Restaurants besucht
hat, wo das junge Volk verkehrte, besonders die
Fräuleins – aber ihm gefielen sie alle nicht –, da
beginnt er, durch die Außenviertel der Stadt zu
fahren, und fuhr in die allerschmutzigste Straße
hinein. Auf einmal sieht er in einer Gasse eine
Bettlerin gehen, mit einem Korb in der Hand und
ganz in Lumpen.
Sie war so schön, daß Kolja sie sofort liebge-
wann und zu ihr sagt: „He, du, Bettlerin, warte!“
Die Bettlerin blieb stehen und dachte, sie werde
von ihm ein Almosen bekommen, aber er sagt zu
ihr: „Willst du meine Frau werden?“ Die Bettlerin

693
antwortet ihm: „Hört auf, Euren Spott zu treiben,
Nikolaj Iwanowitsch, ich bin zwar eine arme Bett-
lerin, aber ich habe meine Ehre!“ Die Kowaljows
waren der Bettlerin bekannt. Und augenblicklich
war sie in einem Haus verschwunden. Kolja war-
tete und wartete und hatte nicht bemerkt, wohin
sie verschwunden war. Am nächsten Tag fährt er
wieder an diese Stelle. Und auf einmal, nachdem
er einige Stunden gestanden hatte, sieht er sie
wieder kommen. Er sagt zu ihr: „Nun, wie ist’s,
schönes Mädchen, hast du dir’s nicht überlegt,
meine Frau zu werden?“ Sie antwortet ihm: „Treib
nicht deinen Spott, Nikolaj Iwanowitsch, ich wäre
nicht nur froh, Eure Frau zu werden, ich wäre
schon glücklich, wenn Ihr mich als Gehilfin für Eu-
re letzte Köchin nähmt.“ Er aber sagt zu ihr: „Wo
wohnst du denn? Ich will mit meinem Heiratsan-
trag zu deinem Vater gehen.“ – „Dort diese kleine
Hütte, ganz mit Lehm beschmiert – das ist unser
Haus.“ Da fährt der Kaufmannssohn zu dieser
Hütte und geht mit dem Mädchen in diese kleine
Hütte. Und dort lag mitten auf dem Fußboden ihr
Vater mit einem tüchtigen Rausch. Ihr Vater war
an sich ein schöner Mann mit einem großen Bart,
rundem Gesicht, blauen Augen und schwarzen
Brauen. Er sagt: „Ich bin zu Euch mit einem Hei-
ratsantrag gekommen, daß Ihr mir Eure Tochter
zur Frau gebt!“ – „Hört auf zu spotten! Wenn
meine Tochter auch nur eine arme Bettlerin ist, so
ist sie doch ein gehorsames und anständiges Mäd-
chen. Sie leidet nämlich und geht Almosen betteln
nur wegen meiner Trunksucht, denn wenn ich an-

694
fange zu zechen, dann vertrinke ich alles, nicht
nur das Meine, sondern auch, was sie nach Hause
bringt. Sieh nur, jetzt liege ich auf dem Fußboden
und sterbe bald, so betrunken bin ich.“ Da holt
Kolja zehntausend hervor und gibt sie dem
Schmied. „Nimm, geh und kauf Schnaps, um ei-
nen auf deinen Rausch zu trinken! Und wenn du
einverstanden bist, dann machen wir ein kleines
Trinkgelage, und ich trinke mit Euch ein Glä-
schen.“ Als der Schmied eine so große Summe
Geld bekommen hatte, wie er sie sich im ganzen
Leben nie hatte träumen lassen, rannte er augen-
blicklich davon, kaufte teuren Schnaps und etwas
Schönes zu essen dazu. Und er denkt bei sich:
„Mag er meine Tochter nur schänden, wenn sie
erst einmal schön angezogen ist, dann findet sich
mit Geld auch ein anderer Bräutigam.“ Der
Schmied trank natürlich einen auf seinen Rausch,
Nikolaj Iwanowitsch aber goß sich und seiner ver-
lobten Braut Mascha nur ein kleines Gläschen ein.
Und darauf gibt er ihr noch fünfundzwanzigtau-
send Rubel und sagt: „Geht mit Eurem Vater in
unser Geschäft Nummer soundso und kauft die
und die Kleider, Euch und auch für sie. Und wenn
sie die Kleider hat, dann wollen wir beide mit ihr
fahren, und ich werde ihr nach meinem Ermessen
schöne Kleider auswählen.“ Er verabschiedete sich
von ihnen und fuhr nach Hause.
Nach drei Tagen kommt er wieder und sieht
seine Mascha angeputzt wie eine Puppe. Und der
Schmied hatte schon sein schmutziges Gesicht
gewaschen und war auch anständig angezogen

695
und sitzt vor einer Karaffe Schnaps und trinkt. Da
nimmt er den Schmied und bringt ihn ins Hotel
„Rossija“, das in der Hauptstadt das erste Hotel
war. Er mietet dieses Hotel ganz für den Grafen
Scheremetjew, der aus dem Ausland zurückge-
kommen ist. Und er ging selber aufs Amt und be-
zahlte dort viel Geld, damit sie in den Zeitungen
veröffentlichten, daß aus dem Ausland Graf Sche-
remetjew gekommen ist und das größte Hotel
„Rossija“ bezieht. Das wurde gegen wahnsinniges
Geld alles für sie gemacht. Und da zog der
Schmied mit seiner Tochter in dieses elegante Ho-
tel, wo sie eine Menge des verschiedensten Be-
dienungspersonals hatten. Und Mascha wurden
zwei Lehrer beigegeben. Sie konnte zwar lesen
und schreiben, aber nicht besonders viel. Und ein
anderer Lehrer brachte ihr die verschiedenen Tän-
ze bei, und er kam täglich zu ihnen gefahren. Als
Mascha sich davon überzeugt hatte, daß er sie
nicht nur zum Spaß liebgewonnen hatte, sondern
wirklich, da liebte sie ihn von ganzer Seele und
mit ihrem ganzen reinen Herzen. Aber anfangs
hatte sie ihm nie geglaubt. Und ein Jahr nun,
nachdem sie sich kennengelernt hatten, sagt Ni-
kolaj zu seinen Eltern: „Ihr müßt heute einen
Abend veranstalten und alle unsere Bekannten zu
diesem Abend einladen. Sonst fahre nur immer
ich zu allen anderen, feiere und bin bei ihnen zu
Gast, zu mir aber lade ich nie ein!“ Die Mutter
sagt: „Das hättest du schon lange tun sollen,
Sohn“, sagt sie, „wir freuen uns sehr, wenn du
dich vergnügst.“ Und sie trafen alle möglichen

696
Vorbereitungen. Der Vater aber fragt Kolja:
„Kommt zu unserem heutigen Abend irgend je-
mand ganz besonderes? Vielleicht stellen wir den
vergoldeten Sessel mit den Goldrädern hinein?“ –
„Nein, so besonders hervorragende Leute werden
nicht kommen.“ Und seiner Mascha hatte er ge-
sagt: „Du kommst erst, wenn ich einen Boten mit
einem Brief zu dir geschickt habe!“ Als sich alle
Gäste versammelt hatten und das Fest schon auf
dem Höhepunkt war, kommt plötzlich in einer ra-
senden Troika die Grafentochter Manja an. Als sie
aus der Kutsche stieg, hielten ihr sechs schöne
Mädchen die Toiletten und Kleider. Da kam der
alte Kowaljow zur Begrünung herausgerannt, und
auch sein Sohn Kolja kam heraus. Als er eine so
schöne Gräfin erblickte, stieß er den Sohn sogar
in die Seite: „Ich habe dich doch gefragt! Jetzt ist
sie gekommen, und der vergoldete Sessel steht
nicht da! Und ihn vor den Leuten hineinzufahren
ist unschicklich.“ Der Sohn aber antwortet: „Laß
nur, Vater, sie wird sitzen, wo alle sitzen, auf ge-
wöhnlichen Möbeln.“ Als sie hereinkam, wo sich
die Gäste befanden, standen alle auf und verneig-
ten sich tief vor ihr. Als die Musik zu spielen an-
fing, forderten die Offiziere und Generale und die
verschiedenen Beamten, bald der eine, bald der
andere, sie zum Tanz auf, sogar um die Wette.
Und Kolja sitzt da und denkt: „Als sie eine Bettle-
rin war, hat sie keiner beachtet. Und jetzt, da ich
sie angezogen und ein wenig unterrichtet habe,
wollen alle sie haben“ (wie Tatjana). Als der
Abend zu Ende war, trat sie zu Kolja und heftete

697
ihm einen Strauß Rosen an die Brust. Zu jener
Zeit aber bedeuteten diese Sträuße das Zeichen
heißer Liebe. Der Vater erbleichte sogar vor
Schreck. „Wohin verirrst du dich, mein lieber
Sohn; nicht zu hoch hinaus!“ Die Gäste waren ab-
gefahren, und Vater und Mutter sagen: „Das führt
zu nichts, Sohn, daß du dich mit der Tochter des
Grafen Scheremetjew einläßt. Er wird doch nie-
mals zustimmen, sie dir zu geben. Wenn wir auch
vielleicht mehr Reichtum besitzen als er, so sind
wir doch einfache Kaufleute, haben keinen Ehren-
titel und Rang.“ Er aber sagt: „Nun, was soll ich
mit ihr anfangen, wenn sie mir den Strauß ange-
steckt hat, ich habe sie doch nicht darum gebe-
ten!“
Einmal kam Kolja zum Grafen Scheremetjew
und sagt zu ihm: „Wir kommen bald zu Euch, um
meine liebe Manja zu freien. Paß auf, daß du nicht
alles verpatzt. Aber geh mit meinen Eltern auch
nicht allzu streng um!“ – „Nein, der Vater geniert
sich sehr vor Euch, aber er hält sich wie ein Graf.“
Und der Graf sitzt da, trinkt und wirft seinen
schönen Vollbart zur Seite. „Keine Angst, Nikolaj
Iwanowitsch, alles wird erledigt werden. Wenn es
ernst wird, verpatze ich nichts.“ Er ging wenig aus
dem Haus. Saß immer in seinem Zimmer bei einer
Karaffe der verschiedensten teuren Schnäpse.
Aber er betrank sich schon nicht mehr, trank
mehr mit Maß. Als Kolja wieder zu Hause war,
sagt er zu seinen Eltern: „Ich habe beschlossen zu
heiraten; fahrt mit mir zum Grafen Scheremetjew
und freit um seine Tochter!“ – „Was fällt dir ein.

698
Söhnchen, bist du übergeschnappt? Er kann uns
für eine solche Beleidigung ins Gefängnis stek-
ken.“ – „Die Liebe fragt nach nichts und kennt
keine Furcht. Ihr habt mir doch selber mehr als
einmal gesagt, vergnüge dich und such dir eine
Braut. Und da ich eine nach meinem Sinn gefun-
den habe, wollt ihr nicht um sie freien.“ – „Wir
freuen uns von ganzem Herzen, dich zu verheira-
ten, aber wir fürchten nur und haben Angst, daß
du zu hoch hinaus willst.“ Trotzdem aber be-
schlossen sie zu fahren. Als sie mit der Brautwer-
berin ins Hotel „Rossija“ kamen, meldete der Por-
tier dem Grafen, ob der Kaufmann Kowaljow den
Grafen Scheremetjew sprechen kann. „Bitte sie
herein!“ Als sie hereingekommen waren und sich
ein wenig umgesehen hatten, sagt der Kaufmann
Kowaljow zum Grafen Scheremetjew: „Ich ent-
schuldige mich in aller Öffentlichkeit bei Euch,
vielleicht beleidige ich Euch und kränke außerdem
noch Eure Ehre, aber mein lieber einziger Sohn
Kolja hat mir keine Ruhe gelassen, wir sollten mit
einem Heiratsantrag zu Euch fahren.“ Da warf der
Graf seinen Bart nach beiden Seiten. „Nun sieh
mal einer an, darum also handelt es sich!“ Und
man führt sie ins Gästezimmer und setzte ihnen
teure Weine und schöne Leckerbissen vor. Und
dann sagte er: „Nun ja, Liebe nimmt auf nichts
Rücksicht. Ich persönlich habe nichts dagegen.
Alles hängt von meiner Tochter ab.“ Da war dem
Kaufmann Kowaljow gleichsam ein Mühlstein vom
Herzen gefallen, und er denkt bei sich: „Dank dir,
Herrgott, das hatte ich vom Grafen Scheremetjew

699
nicht erwartet. Ich weiß, daß seine Tochter mei-
nen Sohn schon lange liebt.“ Und als sie die jun-
gen Leute nebeneinander gestellt hatten, fragt der
Graf seine Tochter: „Nun, wie ist’s, Manja? Willst
du oder willst du nicht?“ – „Ja, gib mich ihm, Va-
ter, mir gefällt der Bräutigam!“ – „Nun, was soll
man da machen! Zwar waren sie dem Rang nach
unser nicht würdig und haben vielleicht auch we-
niger Kapital als wir, aber da er nach deinem Sinn
ist, so habe ich nichts dagegen.“ Und da setzten
sie sich zu einem Festmahl, und dann feierten sie
auch bald Hochzeit.
So hatten sie zwei Jahre gelebt, da wurde plötz-
lich der alte Kowaljow schwer krank und starb,
und die Mutter nahm das so mit, und sie härmte
sich so, daß sie bald seinem Beispiel folgte. Nun
war dieses junge verliebte Paar allein zurückge-
blieben. Und sie führten ihr Handelsgeschäft ge-
nauso.
Einmal kommt der Kaufmann Iwanow und sagt:
„Nun, wie führst du deine Geschäfte, junger Chef?
Und wie steht’s mit den Vorräten an Auslandswa-
ren? Dein seliger Vater und ich sind früher fast
immer zusammen ins Ausland gefahren, um aus-
ländische Waren einzukaufen. Ich will nun jetzt
gerade fahren und bin deswegen gekommen, dich
davon in Kenntnis zu setzen. Wenn du willst, kön-
nen wir zusammen fahren. Ich kann dich mit den
ausländischen Kaufleuten bekannt machen.“ Kolja
sagt: „Ja, ich muß fahren, denn die Ware geht
schon zu Ende.“ Sie brachen also auf und fuhren
davon. Als sie an die dreißig Werst von ihrer

700
Hauptstadt entfernt waren, hatte es sie in der
Kutsche tüchtig durchgerüttelt. Iwanow sagt zu
Kowaljow: „Wir wollen uns in dieser Stadt etwas
ausruhen und danach weiterfahren.“ Sie mieteten
im Gasthof ein Zimmer und ruhten sich aus. Iwa-
now aber hänselte die ganze Zeit den jungen Ko-
waljow: „Du bist wirklich kein ängstlicher Bur-
sche; warum nur hast du deine junge schöne Frau
allein unter den vielen Handelsdienern und vielen
anderen jungen Leuten zurückgelassen? Wenn sie
sich nun plötzlich in deiner Abwesenheit in einen
anderen verliebt?“ Doch Kolja sagt: „Ich bürge für
meine Frau, daß sie das nicht zuläßt.“ Der Kauf-
mann aber antwortet mit hämischem Lächeln:
„Man kann sich für seine Frau nicht verbürgen.“ –
„Mancher kann’s nicht, aber ich kann’s!“ – „Ver-
bürg dich lieber nicht. Ich glaube, wenn ich in der
Nähe deiner Frau wäre, obwohl ich schon ein
ziemlich alter Kerl bin, ich könnte sie, glaube ich,
verführen!“ Kowaljow konnte die Späße Iwanows
nicht länger ertragen und sagt: „Wir wollen für
einen Monat wetten: wenn du meine Frau verfüh-
ren kannst, dann geb ich dir all meinen Reichtum:
Häuser, Geschäfte und alles Geld bis auf die letzte
Kopeke. Kannst du sie aber nicht verführen, dann
nehme ich deinen Besitz.“ Und sie setzten ein Pa-
pier auf, unterschrieben es und ließen es von ei-
nem Notar beglaubigen. Und als Beweis sollte ihr
Verlobungsring dienen. Als Nikolaj Iwanowitsch
ihr diesen Ring geschenkt hatte, hatte er ihr ge-
sagt, daß „dieser Ring nie auf einer fremden Hand
sein darf. Nur dann wirst du mir treu sein.“ Iwa-

701
now fährt in seine Stadt zurück, und Kowaljow
bleibt in der Kreisstadt.
Als Iwanow angekommen ist, geht er gerade-
wegs zu dem Haus, wo Manja wohnt, läßt ihr sei-
ne Ankunft melden und sie bitten, ihn zu empfan-
gen. Manja war sehr erschrocken und dachte:
„Gewiß ist meinem lieben Mann ein Unglück zuge-
stoßen.“ Als er ins Haus kam, bewirtete sie ihn
und fragte, warum er zurückgekommen sei. Und
er sagte zu ihr: „Ich bin deswegen zurückgekehrt,
weil ich kein Geld hatte, und Nikolaj Iwanowitsch
hatte auch keine überflüssigen Beträge mitge-
nommen, und ich schämte mich, Schulden zu ma-
chen, und bin deshalb umgekehrt. Er läßt dir
durch mich einen Gruß senden und dir befehlen,
mich aufzunehmen wie ihn selbst.“ – „Nun, so re-
de doch, Iwanow, was wünschst du, für dich wird
alles getan werden.“ Er aber sitzt und trinkt die
ganze Zeit und beginnt, ihr eine Liebeserklärung
zu machen. Doch sie sagt zu ihm: „Meine Seele
gehört mir, aber mein Leib gehört ganz allein
meinem lieben und teuren Kolja, über ihn kann
ich nicht verfügen.“ Da wurde der Kaufmann zu-
dringlich, und sie rief die Diener, und die hätten
ihn um ein Haar vom zweiten Stock die Treppe
hinuntergeworfen. Und wie oft er auch kam, es
war immer dasselbe. Beim letztenmal kam er mit
einer Entschuldigung: „Verzeih, ich habe immer
so viel getrunken, und betrunken bin ich ekel-
haft.“ Aber als er sich vollgetrunken hatte, begann
er wieder, sie zu bedrängen. Da rief sie die Han-
delsdiener herein und sagt: „Werft diesen Schur-

702
ken hinaus und laßt ihn nie mehr zu mir ins
Haus!“ Und da stießen ihn die Handelsdiener die
steile Treppe hinab, daß er jede Stufe der zwei
Stockwerke mit dem Kopf zählte. Als er nach Hau-
se kam, lief ihm als erster der Hofknecht über den
Weg. Der war an nichts schuld. Da fängt er an,
ihn zu beschimpfen, ihm alle möglichen Namen an
den Kopf zu werfen, und er beschimpfte sogar
seine eigene Familie. Dann ging er vor Kummer in
den Garten spazieren. Sitzt da und sinnt: „Was
habe ich angerichtet! Dank meiner Dummheit ha-
be ich aus einem Kaufmann einen Bettler aus mir
gemacht.“ Auf einmal kommt ein altes Weib zu
ihm und bittet ihn um ein Almosen. Er dachte:
„Ich habe sowieso alles verloren“ – holt ein Gold-
stück hervor und gab es der Alten. Als die Alte ein
so großes Almosen erhielt, bedankte sie sich bei
Kaufmann Iwanow: „Möge dir der Herrgott alles
schicken, was du dir wünschst und worum du den
Herrgott bittest.“ Und noch vieles, vieles sagte
ihm die Alte. Als der Kaufmann Iwanow die Worte
der Alten gehört hatte, sagte er: „Großmütter-
chen, wenn mein Wunsch in Erfüllung ginge, den
ich habe, dann würde ich dich höher achten als
meine eigene Mutter, würde dir zu trinken und zu
essen geben, was dein Herz nur immer begehrt,
und dich anputzen wie eine Puppe. Aber das geht
nie in Erfüllung, Großmütterchen.“ – „So erzähle
mir doch, was für Kummer und Sorgen du hast!“
– „Das hat keinen Zweck, du kannst mir in meiner
Not nicht helfen.“ – „Aber vielleicht kann ich dir
doch helfen. Es kommt doch vor, daß auch arme

703
alte Frauen helfen.“ – Der Kaufmann sagt zu ihr:
„Kennst du Maria Iwanowna Kowaljowa?“ – „Wie
soll ich sie nicht kennen! Sie ist eine entfernte
Verwandte von mir, eine Nichte! Wir haben zu-
sammen früher Abfälle gesammelt. Sie ist doch
die Tochter eines versoffenen Schmiedes.“ – „Nun
hör mal, Alte, rede mir keinen Unsinn: sie war
niemals so eine, sie ist eine Gräfin.“ – „Na schön,
ich will mit dir nicht streiten, aber erkläre mir,
worum es geht.“ – „Ich muß ihren Verlobungsring
haben!“ – „Da ist nichts dabei, den beschaffe ich
dir. Kaufe einen großen geflochtenen Korb, in den
mußt du dich setzen; und gib mir irgendwelche
alten Kleider und Lumpen, ich decke dich damit
zu; da sie mich kennt, werde ich mich ihr zu Fü-
ßen werfen, mich vor ihr verneigen, mit bitteren
Tränen, daß sie mich bei sich übernachten läßt
und diesen Korb in ihr Schlafzimmer stellt. Und
wenn sie schläft, nimmt sie wahrscheinlich alle
diese kostbaren Dinge ab. Du nimmst dann ihren
Ring und gehst leise hinaus. Dann gehen wir aus
dem Haus und fahren davon.“ Iwanow gab au-
genblicklich Anweisung, einen solchen Korb zu
kaufen und einen Fuhrmann kommen zu lassen,
mit dem schlechtesten Pferd. Als alles vorbereitet
ist, setzt sich Iwanow in den Korb, und die Alte
deckt ihn mit abgetragenen Lumpen zu. Den Korb
stellten sie auf den Wagen des Fuhrmanns und
fuhren zur Frau des Kaufmanns Kowaljow. Als sie
ankamen, brannten schon die Laternen. Sie hoben
den Korb herunter und stellten ihn auf den Hof.
Die Alte aber ging in Manjas Gemächer, warf sich

704
ihr zu Füßen, verneigte sich und bittet unter Trä-
nen: „Maria Iwanowna, verlaß mich arme alte
Frau nicht, sei so barmherzig und gut und laß
mich bei dir übernachten!“ – „Aber warum bittest
du denn so, Großmütterchen? Habe ich dich denn
jemals nicht eingelassen? Immer habe ich dich
eingelassen und dir nichts abgeschlagen, wozu
also mußt du dich mir zu Füßen werfen und mich
so bitten?“ – „Siehst du, ich besitze ein paar Hab-
seligkeiten, die sind auf dem Hof in einem Korb;
ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt und
gesammelt und habe nun einiges an abgetrage-
nen Kleidern in diesem Korb. Aber ich habe be-
schlossen, aufs Dorf zu ziehen, und habe diesen
Korb mitgenommen. Sei also so gut, gestatte mir,
ihn in Euer Schlafzimmer zu stellen.“ – „Aber
Großmütterchen, auch auf dem Speicher oder in
den Lagern wird dir niemand dein Gut wegneh-
men. Dort wird doch abgeschlossen.“ – „Ich kann
die ganze Nacht nicht einschlafen. Sieh nur diese
Flegel an, deine Handelsdiener: einer hat schon
an den Korb gestoßen und eine Ecke vom Boden
abgeschlagen. Erinnere dich, als du betteln ge-
gangen bist, wie wertvoll jede erbettelte Kopeke
war.“ Und die Alte weinte noch mehr als vorher
und wälzte sich zu Manjas Füßen.
Manja aber argwöhnte nichts von ihrer heim-
tückischen Absicht und dachte: „Kinder und alte
Leute sind töricht!“ Und sie gab Anweisung, man
solle ihren Korb in ihr Schlafzimmer stellen. Und
Arbeiter schleppten ihn hinein und stellten ihn hin.
Die Alte legte sich in der Küche schlafen, Maria

705
Iwanowna aber nahm, als es Schlafenszeit war,
ohne Hast ihre Armbänder, die teure Halskette
und alle wertvollen Dinge und den Fingerring ab
und legte alles auf ein Tischchen. Und sie zog sich
aus und legte sich ins Bett. Als sie im ersten tie-
fen Schlaf lag, kletterte Iwanow behutsam aus
dem Korb, nahm ihren Ring und ging leise hinaus
zu der Alten. Und die Alte flüsterte: „Hast du ihn?“
Er antwortete: „Ja!“ Und diese alte Kröte wurde
gleichsam wieder jung und rannte die steile Trep-
pe hinunter, als sei sie ein junges Mädchen, und
vor Freude liefen ihre Beine wie von selbst. Drau-
ßen aber wartete schon ein Kutscher auf ihn. Und
als er nach Hause gekommen war, zog er der Al-
ten die teuersten Seidenkleider an und gab ihr die
allerbesten Mäntel und sagte: „Sorgt für dieses
Großmütterchen besser als für eure leibliche Mut-
ter. Was immer sie auch wünscht und bittet, er-
füllt ihr alles!“ Und als er sich von allen Verwand-
ten verabschiedet hatte, jagte er zu Kowaljow,
weil die Frist ablief. Als er zu Kowaljow kam, sag-
te er mit hämischem Lächeln: „Na also, gar zu
sehr hast du dich für deine Frau verbürgt! Ist das
der Ring deiner Frau?“ Kowaljow sah ihn sich an,
wurde weiß wie ein Toter und antwortete: „Ja, er
ist’s! Nie im Leben hätte ich geglaubt, daß sie mir
untreu wird!“ Und er übergab ihm alles Geld, das
er bei sich hatte, und gab ihm auch alle seine
Kleider. Aber Iwanow nahm seine Kleider nicht
und gab ihm dreitausend Rubel. Dann gingen sie
zum Notar und machten alles fest. Iwanow jagte
in seine Hauptstadt, Kowaljow aber ging, wohin

706
der Weg ihn führte. Als Iwanow in seiner Stadt
ankam, ging er zum Gouverneur und zeigte ihm
die Dokumente, und der Gouverneur gibt seinen
Untergebenen von der Polizei Anweisung, überall
alle Schilder mit der Aufschrift „Kowaljow“ abzu-
nehmen und durch „Iwanow“ zu ersetzen. Und
schließlich gingen sie zu dem Haus, wo die junge
Kaufmannsfrau Kowaljowa wohnte, und baten sie,
das Haus zu verlassen. Sie sagt: „Habe ich denn
jemandem etwas Schlimmes angetan, daß ihr
mich verhaften wollt?“ Und die Polizei sagt zu ihr:
„Da du deinem Mann die Treue gebrochen hast,
mußt du hinausgehen wie du bist, und darfst we-
der Geld noch sonst etwas mitnehmen. Das ist
jetzt alles an den Kaufmann Iwanow übergegan-
gen.“ Da erst begriff sie seinen heimtückischen
Plan, und sie fiel in eine Ohnmacht, man trug sie
ohne Umstände auf den Händen hinaus auf die
Straße und legte sie auf die Erde. Doch an der fri-
schen Luft kam sie zu sich und weiß nicht, ob sie
lange gelegen hat. Da geht sie zu ihrem Vater,
dem Grafen, erklärte ihm alles, und beide weinten
lange Zeit bitterlich. Und sie sannen auf einen
Plan, wie sie Kowaljow finden und retten könnten.
Kowaljow aber war in der Hauptstadt ins schlech-
teste Restaurant gegangen und hatte alles Geld,
das er besaß, in einer Nacht verjubelt und auch
seine ganze Kleidung verjubelt; er hatte jetzt nur
noch ein Paar schäbige Stiefel und einen schäbi-
gen Rock, und er verfluchte die Stadt und beson-
ders den Ort, wo sie haltgemacht hatten, um sich
auszuruhen. Und er zog weiter, wohin der Weg

707
ihn führte. Und so ging er einen Tag, ging einen
zweiten und einen dritten, ohne zu trinken und
ohne zu essen. Und er war so müde und hatte
solchen Hunger, daß er keine Kraft mehr hatte,
weiterzugehen. Aber um einen Bissen betteln
mochte er nicht. „Eher will ich Hungers sterben
als mich zum Betteln entschließen.“ Er geht durch
die Felder und sieht, Soldaten haben ein Lager
aufgeschlagen. Und die Soldaten saßen gerade
am Tisch und aßen Mittag. Und er sah mit solcher
Gier zu ihnen hin, daß sogar die Soldaten es
merkten und zu ihm sagen: „Komm, Landsmann,
iß zur Gesellschaft mit!“ Er war natürlich sehr froh
und setzte sich, um mit ihnen zu essen. Sie gos-
sen ihm eine Schüssel Krautsuppe ein und gaben
ihm ein Kochgeschirr Grütze, und wie lange er
auch schon auf der Welt gelebt hatte, noch nie im
Leben hatte ihm ein Essen so gut geschmeckt wie
bei diesen Soldaten. Als er satt war, sagt er:
„Habt ihr nicht irgendeine Arbeit? Ich würde bei
euch arbeiten nur für dieses Essen, dafür, daß ihr
mich verpflegt und mir vielleicht noch irgendwel-
che alten Sachen von euch gebt zum Anziehen.“
Hiervon machte der Zugführer dem Kompaniefüh-
rer Meldung. Und der Kompanieführer kam und
sagt: „Wir haben etwas, und ich kann dich neh-
men, dir zu trinken, zu essen, Schuhwerk und Be-
kleidung geben. Nur weiß ich nicht, ob du das
kannst.“ – „Und was ist’s?“ – „In unseren Winter-
quartieren in der Kaserne taugen die Öfen alle
nichts, einige müssen repariert, einige ganz neu
gesetzt werden.“ Kowaljow antwortet: „Ich werde

708
das übernehmen und machen. Nur besorgt mir
bitte Papier und einen Bleistift, zeigt mir diese Ka-
serne und gebt mir die Werkzeuge, die ich brau-
che.“ Was er forderte, wurde alles erledigt. Als er
allein war, besah er sich sorgfältig einen Ofen,
nahm ihn, wo es nötig war, auseinander, machte
sich auf dem Papier eine Zeichnung und trug alle
Rauchzüge ein. Dann grub er Lehm, zog seine
schäbigen Stiefel aus, krempelte die Hosen bis zu
den Knien hoch, fühlte sich zum erstenmal im Le-
ben er selber und begann, diesen Lehm zu stamp-
fen. Dann fing er an, die Öfen auseinanderzuneh-
men und wiederherzurichten. Erst machte er
kleine Reparaturen, und als er das gut beherrsch-
te, begann er auch neue zu setzen. Weil er aber
die Zeichnungen gut kannte, war das für ihn nicht
schwer. Schlecht war nur das, daß seine zarten
Hände im Lehm schmutzig wurden und mit den
schweren Ziegeln umgehen mußten. Graf Sche-
remetjew aber hatte sich entschlossen, mit seiner
Tochter das Hotel „Rossija“ zu verlassen und in
ein einfaches Gasthauszimmer zu ziehen; sie
dingten einige Detektive, koste es, was es wolle,
herauszubekommen, wo sich Kowaljow befindet.
Und nach geraumer Weile erscheint der eine De-
tektiv und meldet dem Grafen, daß sich Kowaljow
in der und der Stadt bei dem und dem Regiment
befindet und die Öfen in den Kasernen instand-
setzt. Da begann seine wunderschöne Frau Manja
noch mehr als vorher zu jammern: „Aber das ist
doch unmöglich – ein so zarter Mensch, der in
seinem ganzen Leben nicht einmal einen schmut-

709
zigen Gegenstand in die Hand genommen hat,
und jetzt kratzt er Ruß und Lehm zusammen!
Immer schmutzig und voll Staub, gewiß ist sein
ganzer Körper von Schmutz zerfressen.“ Als sie
sich satt geweint und wieder beruhigt hatte, ging
sie zu einem Friseur, ließ sich ihren wunderschö-
nen langen Zopf abschneiden und auf eine Perük-
ke kleben, kaufte sich Männerkleider, meldete
sich bei der Polizei und sagt: „Nehmt mich als
Freiwilligen für den Militärdienst!“ Da sie schon
Bildung hatte, wurde sie als Freiwilliger ange-
nommen und sofort auf eine Offiziersschule ge-
schickt.
Die beendete sie und erhielt den untersten Offi-
ziersrang. Darauf aber wurde bald ein Krieg er-
klärt. Und im Kriege schonte sie ihr Leben nicht,
sondern meldete sich immer freiwillig, an die ge-
fährlichsten Stellen zu gehen. Und immer war der
Sieg auf ihrer Seite. Und sie wurde mit mehreren
Orden für Tapferkeit ausgezeichnet und bekam
den Rang eines Obersten des Regiments Seiner
Majestät verliehen. Der Krieg war zu Ende, sie
kehrte in die Hauptstadt zurück und nahm einen
dreimonatigen Urlaub. Noch einmal schickte sie
einen Detektiv, um sich davon zu überzeugen,
daß Kowaljow noch lebt und wo er sich befindet.
Die Detektive kamen zurück und sagen: „Er repa-
riert noch immer in dem gleichen Regiment über-
all die Öfen.“ Da schreibt sie einen Brief an den
Kommandeur jenes Regiments und bittet ihn um
unverzügliche Entsendung: „Der Ofensetzmeister
ist zwecks Reparierens von Öfen zum Regiment

710
Seiner Majestät zu entsenden. Oberst des Re-
giments Seiner Majestät, Jermolajew.“ Als der
Oberst den Brief bekommen hatte, gibt er dem
Kompanieführer sofort Anweisung, Kowaljow eine
Uniform auszuhändigen und ihn sogleich in die
Hauptstadt zum Kommandeur des Regiments Sei-
ner Majestät zu schicken. Als man Kowaljow das
erklärte, hatte er gar keine Lust, und er bat: „Ich
habe gar keine Lust, dorthin zu fahren, kann ich
nicht bei euch bleiben?“ Aber man antwortete
ihm: „Du kennst doch die militärische Disziplin,
und wir müssen einen Befehl von Vorgesetzten
unbedingt ausführen.“ Doch er dachte: „Ganz
gleich, es ist schon viel Zeit vergangen, vielleicht
erkennt mich keiner. Aber es wird sehr schwer für
mich sein, wenn ich alles wiedersehe, was mir lieb
war.“ Wenn auch ungern, so fuhr er doch los. Als
er ankam, suchte er den Kommandeur auf und
meldete seinem Burschen, daß der Ofensetzer aus
dem und dem Regiment eingetroffen ist. Der
Kommandeur des Regiments befahl ihm augen-
blicklich, zu ihm ins Zimmer zu kommen. Kowal-
jow aber hatte schon militärische Schulung. Er
legte die Hand an die Mütze und sagt: „Habe die
Ehre, mich zu melden. Euer Hochwohlgeboren:
Ofensetzer aus dem und dem Regiment!“ – „Nun
gut, setz dich her, iß zu Mittag und trink Tee!“ Der
Regimentskommandeur setzte sich auch mit hin.
Es wurde eine Karaffe mit Schnaps auf den Tisch
gestellt und etwas Schönes zu essen dazu. Er sel-
ber trinkt ein winziges Gläschen, man braucht nur
mit dem kleinen Finger hineinzustippen, und der

711
ganze Schnaps fließt aus dem Glas; dem Ofenset-
zer aber gießt er ein Weinglas voll ein. Der Ofen-
setzer denkt: „Da bin ich anscheinend an einen
gutmütigen Kommandeur geraten, obwohl er noch
sehr jung ist.“ Und so lebt er einen Monat, lebt
auch den zweiten, aber Öfen setzt er nicht. Und
der Kommandeur gibt ihm zu trinken, zu essen,
bewirtet ihn mit Schnaps und gibt ihm außerdem
noch Trinkgelder. Ihm aber wird es peinlich, und
er bittet: „Gib mir Arbeit!“ – „Nun, du wirst noch
zeitig genug zu tun bekommen.“ Als er sich gut
erholt hatte, begann sich in ihm sein junges Blut
zu regen, und er bittet eines Abends den Re-
gimentskommandeur, er möge ihm Ausgang ge-
ben. Der sagt zu ihm: „Wohin willst du denn?“ –
„Und wenn ich mich wenigstens mit den hiesigen
Mädchen bekanntmache.“ – „Bist du denn ledig?“
– „Ich weiß selber nicht, was ich jetzt bin“ (er hat-
te etwas getrunken). „Was heißt, du weißt es
nicht? Woher bist du?“ – „Ach, frag nicht! Die
Wahrheit zu sagen ist für mich schwerer als Öfen
zu setzen und Lehm zu kneten.“ – „Warum? Sage
mir die Wahrheit! Wenn es ein Geheimnis ist, so
sag ich’s nicht weiter.“ – „Ich will’s sagen, aber
unter der Bedingung, daß es weiter niemand er-
fährt, nur du allein, und wenn ich danach über
mich reden höre, dann nehme ich mir das Leben
und werde nicht mehr bei euch sein. Siehst du,
überall und allerorts in der Stadt tragen die Re-
staurants und Hotels und die allerbesten Handels-
unternehmen den Namen Iwanow, und das hat
alles mir gehört.“ – „Wie ist denn das gekom-

712
men?“ – „Das hat alles meine Frau, die treulose,
fertiggebracht.“ – „Und was würdest du machen,
wenn du sie wiedersähest?“ – „Ich würde sie er-
schlagen wie einen tollen Hund!“ – „Aber vielleicht
ist sie schuldlos?“ – „Wenn sie schuldlos gewesen
wäre, hätte sie nicht einem anderen ihren Verlo-
bungsring gegeben!“ Er ging aus, sie aber weinte
bitterlich und ging in ein anderes Zimmer, damit
niemand sie bemerkt. Und er bummelte die ganze
Nacht durch und übertrat seinen Urlaub. Als er
zurückkam, fragt ihn der Kommandeur: „Wo bist
du denn gewesen?“ – „Verzeiht, ich habe mir bei
den Mädchen die Zeit vertrieben. Ihr seid ja sel-
ber schuld, warum habt ihr mir immer Trinkgeld
gegeben. Ich habe früher fast überhaupt keinen
Schnaps getrunken, und wenn – nur eine kleine
Dosis. Wenn ich aber jetzt Geld habe, dann er-
tränke ich meinen Kummer nur in Branntwein,
und deswegen bitte ich Euch um Verzeihung.“ Der
Kommandeur verzieh ihm und gab ihm noch einen
Schnaps auf seinen Rausch, damit er keine Kopf-
schmerzen bekommt.
Und einige Tage danach sagt er zum Ofenset-
zer: „Kowaljow, du mußt heute dort und dort sein
und den Gästen die Mäntel abnehmen. Bei mir
wird heute ein großer Ball sein. Und zu diesem
großen Ball laden wir vornehme Gäste ein und
werden sogar den Zaren selber bitten. Auch alle
reichen Kaufleute werden bei mir sein und auch
dein Rivale Iwanow.“ – „Dann zwing mich lieber
nicht dazu, soll ich etwa einem mir so verhaßten
Menschen den Mantel abnehmen? Schlag mir lie-

713
ber den Kopf ab, das wird leichter für mich sein,
als ihm den Mantel abzunehmen!“ – „Nun, ihn
kannst du unter irgendeinem Vorwand auslassen
und brauchst dich ihm nicht zu zeigen, und hinter
den Garderobeständern wird er dich nicht erken-
nen. Du wirst aber dafür viele Trinkgelder be-
kommen, und mit dem Geld kannst du wieder
ausgehen.“ Und da erklärte sich Kowaljow, wenn
auch nicht sehr gern, doch einverstanden, den
Befehl des Regimentskommandeurs auszuführen.
Als alles für den Ball bereit war und auch die Visi-
tenkarten versendet waren, wurde auch zum Za-
ren geschickt, den der Regimentskommandeur
wegen einer wichtigen Sache bittet. Zur angege-
benen Stunde begannen die Gäste zusammenzu-
strömen, unter ihnen auch der Zar. Kowaljow
nahm allen die Mäntel ab und hängte sie an die
Haken. Aber sobald er Iwanow erblickte, lief er
fort auf die Toilette und nahm ihm den Mantel
nicht ab. Als die Gäste schön getrunken hatten,
begannen sie, die verschiedensten Geschichten zu
erzählen und die verschiedensten Fragen zu erör-
tern. Der Regimentskommandeur bat seinerseits
den Zaren um die Erlaubnis, ihm eine interessante
Geschichte zu erzählen unter der Bedingung, daß
niemand ihn unterbricht, wozu der Zar seine Ein-
willigung gab. Er sprach lange über dies und das,
und schließlich bat er den Kaufmann Iwanow, al-
len Gästen zu erklären, wie er den ganzen Besitz
Kowaljows gewonnen habe. Kowaljow aber hört,
daß von ihm die Rede ist, und er stand wie auf
Nadeln, es stach ihn am ganzen Körper. Und Iwa-

714
now antwortete mit einem Lächeln: „Sehr einfach.
Wir hatten gewettet: wenn ich seine Frau verfüh-
re, dann übergibt er mir seinen ganzen Besitz,
und wenn nicht, ich ihm den meinen. Und die
Wette hat dieser ihr Verlobungsring entschieden.“
Und er zeigte seine Hand, an der der Ring steckte.
„Und du hast es auch bestimmt fertiggebracht?“ –
„Ja, bestimmt!“ Da bittet der Oberst Jermolajew
den Zaren, er möge ihm erlauben hinauszugehen.
Der erlaubte es. Und der Oberst geht in sein An-
kleidezimmer, zieht alle seine Kleider aus, nimmt
die Maske vom Gesicht, zieht sein Frauengewand
über, heftet den schönen langen Zopf an, die
ruhmreiche Uniform aber nimmt er über den Arm
und geht wieder hinein zum Zaren. „Seht, Eure
Kaiserliche Majestät, was für ein Oberst ich bin
und wie schwer es mir geworden ist, diese
Kriegsuniform und den von Euch verliehenen Rang
zu erwerben. Doch es ist für mich vielleicht noch
leichter, das alles zu tun, wenn ich auch jede Mi-
nute mein Leben aufs Spiel gesetzt habe – aber
wie war meinem Manne zumute, der keinerlei
Schuld hat, Ruß zusammenzukratzen und Lehm
zu kneten und Öfen zu setzen und zu reparieren.
Schäme dich, Kaufmann Iwanow, so frech zu lü-
gen: er hat mir meinen Verlobungsring nämlich
gestohlen, mit Hilfe eines alten Weibes, das mich
gebeten hatte, ihren Korb in mein Schlafzimmer
zu stellen, und du hast darin gesessen! Als ich
eingeschlafen war, hast du meinen Verlobungsring
gestohlen. Sag dem Zaren und allen Anwesenden
die ganze Wahrheit ins Gesicht, daß du mich nicht

715
verführt, sondern den Ring gestohlen hast!“ Da
warf sich der Kaufmann Iwanow ihr zu Füßen und
bat um Vergebung: „Ich bin schuldig!“ Als er zu
ihren Füßen lag, rief sie ihren lieben Kolja. Kolja
kam und hatte natürlich alles gehört, wie dieser
Schuft Iwanow sie beide betrogen hatte. Und er
konnte sich nicht zurückhalten, er warf sich in die
Arme seiner lieben Frau und überschüttete sie mit
brennenden, heißen Küssen. Der Zar aber befahl,
die ruhmreiche Uniform des Obersten, weil sie ei-
ne Frau war, dem Ofensetzer Kowaljow anzuzie-
hen; und diesen Kaufmann und die Alte hinrichten
zu lassen. Das Urteil wurde vollstreckt. Die Alte
wurde in kleine Stücke zerhackt, die übergossen
sie mit Pech und verbrannten sie auf der Richt-
stätte zusammen mit dem Kaufmann. Alle Schil-
der mit der Aufschrift „Iwanow“ wurden überall
und allerorts abgenommen und überall „Kowal-
jow“ angebracht. Da sagt Kowaljow: „Seht nun
alle, die auf diesem Ball anwesend sind, ich habe
mir eine Bettlerin zur Frau gewählt, und aus ihr ist
eine gute und liebe Frau geworden. Wenn ich eine
aus der reichen Klasse und mit großer Bildung ge-
nommen hätte, dann hätte die es gewiß nicht für
nötig befunden, mich zu retten, denn es war für
sie schrecklich und schwer, und sie hätte ihr Le-
ben nicht aufs Spiel gesetzt. Aber weil sie arm
war und gewohnt, allen schweren Kummer zu er-
tragen, hat sie mich, wie ihr seht, ganz im Gegen-
teil gerettet, die Liebe.“ Die Gäste lobten alle ih-
ren Heldenmut und gingen nach Hause; da trug
der Zar Kowaljow auf, ein zweites Fest für das

716
arme Volk zu geben, und belohnte alle aufs frei-
giebigste.
Auch mich luden sie zu dem Feste ein, ich trank
Bier und Wein, es ist alles um den Bart geronnen,
der Mund hat nichts abbekommen.

717
61
Des Zaren Handwerksmeister
In einem Zarenreich, nicht in unserem Königreich,
lebte einmal ein großer Zar, der hatte zwei Hand-
werksmeister: der erste war, sagen wir mal –
Goldschmied, und der zweite, sagen wir mal –
Tischler. Die arbeiteten Sachen für den Zaren und
meldeten ihm jeden Morgen, was jeder gemacht
hatte. Der Goldschmied meldete:
„Ich habe soundsoviel gemacht.“
Und der Tischler meldete:
„Und ich soundsoviel.“
Einmal kamen sie zur gleichen Zeit hin und hat-
ten beide einen kleinen Rausch. Kamen zum Za-
ren zum Rapport und gerieten einander in die
Haare. Der Goldschmied sagt zum Tischler:
„Mich, Bruder, hat der Zar lieber: ich mache ja
goldene Sachen!“
Der Tischler aber sagte genauso:
„Aus Gold kann auch ein Narr etwas machen:
Gold ist schon so schön; aber mach du mal etwas
aus Holz und dazu noch etwas Schönes! Dann
wirst du sehen, wer dem Zaren lieber ist!“
Der Goldschmied sagte, „daß mich der Zar
mehr liebt“, und der Tischler sagte:
„Das ist gelogen! Mich liebt er mehr!“

718
Sie schrien und schrien, gingen aufeinander los,
und schon war eine Prügelei im Gange. Der Zar
hörte auf dem Korridor Lärm und fragte:
„Was ist da los?“
Da ergriffen die Wächter die beiden, ergriffen
sie, packten sie am Kragen und schleppten sie
zum Zaren. Der Zar fragte sie:
„Was macht ihr für einen Lärm bei mir?“
Sie drucksten und drucksten und sagen:
„Wer von uns ist dir der liebste?“
„Nun, wer mir das schönste Ding macht, der
wird mir auch der liebste sein!“
Der Goldschmied kehrte in seine Goldschmiede
zurück und begann nachzudenken, was für ein
schönes Ding er machen könnte. Der eine sagt
dies, der andere das (die Lehrjungen nämlich).
Und unter den jungen Burschen war ein Lehrling,
ein junger Kerl, aber gewaltig flink bei der Arbeit
– der dachte nach und sagte:
„Hört, Herr Meister, was für ein prächtiges Ding
ich mir ausgedacht habe: wir wollen einen golde-
nen Enterich gießen – er soll auf dem Wasser
schwimmen und auf dem Hof des Zaren umher-
fliegen können.“
Der Tischler war in seine Tischlerei gekommen,
hatte sich griesgrämig an den Tisch gesetzt, ließ
seinen Brausekopf hängen und denkt:
„Was für ein auserlesenes und unübertreffliches
Ding kann ich dem Zaren nur machen?“
Er ruft seine Lehrjungen:

719
„Hört, Burschen, denkt einmal nach, was für ein
schönes Ding können wir aus Holz machen und
dem Zaren als Geschenk bringen?“
Alle dachten nach, es fiel ihnen nichts ein, und
sie sagten:
„Was sollen wir schon aus Holz machen? Neh-
men wir lieber Gold: Gold ist schon so schön.“
Ein Junge war da, der war mit siebzehn Jahren
Lehrling geworden, der sagte sogleich:
„Hört, Onkel Meister, wir wollen ein Paar Flügel
machen, so, daß sie an Drähten durch die weite
Welt fliegen können.“
Da begannen sie kleine Federn zurechtzu-
schneiden und auf einen Draht zu ziehen. Sie
schnitten die Flügel zurecht, zogen sie auf einen
Draht und gaben sie dem Meister. Der Meister zog
sich aus, band sich die Flügel um, warf einen Sol-
datenmantel darüber, und dann ging er los in des
Zaren Schloß. Kam zum Schloß, stieg keck die
Schloßtreppe zum Zaren hinauf, steht da und
wartet. Da kommt der Goldschmied und bringt ein
Ding aus Gold. Dem Zaren wird gemeldet:
„Die Meister sind zu Euch gekommen und ha-
ben Euch ein Geschenk mitgebracht!“
Der Zar tritt auf die Schloßtreppe hinaus:
„Seid gegrüßt, Kinder!“
„Unseren Gruß Euch, Kaiserliche Majestät!“
„Nun, seid ihr da?“
„Wir sind da!“
„Habt ihr’s mit?“
„Wir haben’s mit!“
Der Goldschmied sagt:

720
„Kaiserliche Majestät, befehlt, diesen Zuber hier
mit Wasser zu füllen!“
Und auf der Stelle wurde Wasser in den Zuber
gegossen. Der Goldschmied schlug die Rockschö-
ße auseinander, holte den goldenen Enterich un-
ter den Schößen hervor und setzte ihn aufs Was-
ser in den Zuber. Der Enterich schwamm ein
Weilchen hin und her, dann hob er sich in die Lüf-
te und kam an einem Draht wieder in den Zuber
zurück. Und die junge Zarentochter war da, die
strampelte mit den Füßen und klatschte in die
Hände!
„Das kann nicht sein! Einer aus Gold kann nicht
fliegen! Du hast einen lebendigen Enterich vergol-
det!“
Der Goldschmied sagte:
„Eure Kaiserliche Majestät! Laßt mich nicht rich-
ten und hängen, sondern laßt mich ein Wort sa-
gen! Er kann auseinandergenommen werden und
wird dann wieder durch die Luft fliegen.“
Der Zar sagte:
„Habe Dank, Goldschmied! Sehr schön, sehr
gut! Und du, Tischler, was hast du gemacht?“
Der Tischler sagt:
„Eure Kaiserliche Majestät! Befehlt, im höchsten
Stockwerk zwei Fenster zu öffnen!“
Die zwei Fenster wurden aufgemacht, da warf
der Tischler seinen Soldatenmantel ab und flog
hoch ins oberste Stockwerk. Flog zum einen Fen-
ster hinein, zum anderen heraus und ließ sich
wieder auf der gleichen Schloßtreppe nieder, wo
er vorher gestanden hatte. Da dankte Väterchen

721
Zar ihnen, schenkte ihnen einen Wodka ein,
schickte sie nach Hause und sagte:
„Ihr seid mir beide lieb!“
Die Dinge nahm er an sich; sie zogen mit lan-
gen Gesichtern ab. Den gegossenen Enterich
nahm die Zarentochter und verschloß ihn in einem
Kästchen, die Flügel aber nahm Väterchen Zar
und verschloß sie in einer Truhe. Unser Väterchen
Zar hatte einen einzigen Sohn; der nahm die Flü-
gel heimlich weg, band sie um, erhob sich in die
Lüfte, flog davon und flog weit weg in ein anderes
Land. Die Flügel band er sich unters Hemd und
lief in der Stadt umher, und niemand konnte ihn
erkennen. Er geht über den Markt, und die wacke-
ren Kaufleute blicken auf ihn.
„Wer bist du, kühner Bursche?“ fragen sie ihn.
Sie betrachten ihn und sehen, daß er guter
Herkunft und seine Rede anmutig und schön ist.
„Ich bin von weit her!“
Ein vornehmer reicher Kaufmann hatte keine
Kinder, besaß aber ein großes Kapital:
„Kommt doch hierher, junger Bursche! Wir wol-
len ein Glas Tee miteinander trinken und gute
Worte voneinander hören. Wer bist du?“
„Ich bin ein Landstreicher!“
Diese seine Worte glaubt er ihm nicht und dingt
ihn als Gehilfen. Als Gehilfe verdingte er sich für
ein Jahr und wird ein guter Verkäufer. Alle Kauf-
leute kennen ihn und schätzen ihn als guten Han-
delsdiener. Die Käufer strömen in Massen zu ihm,
er kann ihnen die Ware gar nicht schnell genug

722
geben. Sein Herr aber sitzt in seinem Laden, hat
seine Freude daran und betrachtet ihn:
„Ach, du tüchtiger Verkäufer! Komm doch zu
mir und sei mein Sohn!“
Und von da an lebten sie zusammen und wur-
den immer reicher.
In der gleichen Stadt nun hatte ein anderer Zar
ein Töchterchen, die war von unermeßlicher
Schönheit, nur im Kopf etwas schwach. Die mach-
te sich auf zum Markt, ging in den Laden zu dem
jungen Handelsdiener und sagte:
„Junger Handelsdiener! Begleite mich nach
Hause!“
Der Handelsdiener überlegt und sagt:
„Schönes Fräulein! Ich kann dich nicht nach
Hause begleiten, aber wenn Ihr mich zu sehen
wünscht, dann macht Euer Fenster auf.“
In der gleichen Nacht nun band sich der Junge
in tiefer Mitternacht die Flügel um, schwang sich
in die Luft und flog los, kam zum Fenster geflogen
und flog hinein. Und da tranken und feierten sie,
spielten Karten, knackten Walnüsse und warfen
die Schalen zum Fenster hinaus.
Nun, ein Märchen ist bald erzählt, eine Tat aber
nicht so bald getan – es ging viel Zeit dahin. Und
dieses vornehme Fräulein, die Zarentochter, wur-
de von ihm schwanger; und die Leute sagen, un-
ser Zar hat eine schwangere Tochter. Das Gerede
kam vor den Zaren. Die Zarentochter weiß es ja,
sagt aber dem Zaren nichts.
Der Zar verlangte nun nach zwei Doktoren, ei-
nem Hauptdoktor und seinem Gehilfen. Die Za-

723
rentochter nun, nicht dumm, bestach den Doktor,
dem Gehilfen aber bot sie nicht einmal ein Glä-
schen an. Der Doktor nun befühlte und betastete
sie und sagte zum Zaren:
„Sie ist jung, und dick wird sie davon, daß sie
ins heiratsfähige Alter kommt.“
(Ins heiratsfähige Alter! Dabei ist sie schon im
sechsten Monat!)
Der Doktor und sein Gehilfe waren auf dem
Heimweg, kehrten in einer Schenke ein und tran-
ken einen über den Durst; tranken sich einen
Rausch an, machten sich auf den Heimweg und
begannen unterwegs eine Prügelei. Der Doktor
warf den Gehilfen zu Boden und hämmerte mit
den Fäusten auf seiner Visage herum. Der Gehilfe
wurde böse auf ihn, rannte zu Väterchen Zar und
sagt:
„Ich habe etwas für Euch, Väterchen Zar. Eure
Tochter wird nicht dick, sondern ist im sechsten
Monat schwanger. Ich kann auch den Übeltäter
angeben!“
Väterchen Zar war’s einverstanden:
„Und wo ist er?“
„Er klettert zum Fenster hinein!“
Er machte aus giftigen Kräutern einen Leim;
wenn er sich mit den Knien aufstützt, reißt er sich
Stoffetzen von der Hose; und er sagte zum Zaren:
„Morgen fangen wir ihn!“
Der Tochter sagten sie nichts; sie machten das
Fenster auf und bestrichen es mit den Giftkräu-
tern. Er nun, der wackere Bursche, kommt in tie-
fer Mitternacht zum Fenster geflogen; klopfte –

724
sie machte ihm ein wenig auf. Er kletterte zum
Fenster hinein, küßte sie dreimal, drückte sie fest
an sein Herz und sagt:
„Sei gegrüßt und leb wohl! Ich habe heute kei-
ne Zeit, es mir gut sein zu lassen: muß sogleich
auf den Markt fahren.“
Und flog davon. Der Morgen graute – da ließ
der Zar den Doktorgehilfen rufen. Der Gehilfe öff-
nete ihm das Fenster und wies auf zwei Stoffet-
zen.
„Hier, Väterchen Zar, Ihr könnt ihn suchen und
mit ihm machen, was ihr wollt!“
Da ließ der Zar ins Horn stoßen, die Becken
schlagen, alle auf den Hof rufen und ihnen die Ho-
sen ausziehen: er suchte den Schuldigen. Der
wackere Bursche war aber nicht an der Schloß-
treppe. Schließlich aber, nach allen anderen,
kommt dieser kühne Bursche: Die Rockschöße
wehen ihm nach beiden Seiten, und an den Hosen
sind kleine Löcher zu sehen. Sie ergriffen ihn kur-
zerhand und schleppten ihn zum Galgen. Der Zar
befahl, seine Tochter neben ihn zu stellen und zu-
sammen mit ihm zu erdrosseln. Es wurden seide-
ne Schlingen und eine hohe Leiter gemacht ; man
führte die beiden auf die hohe Leiter. Der wackere
Bursche rief mit lauter Stimme:
„Väterchen Zar! Laßt mich nicht richten und
hängen, laßt mich ein Wort sagen und vor dem
endgültigen Ende von der Zarentochter Abschied
nehmen!“
Der erlaubte es zuerst nicht, aber einige waren
bestochen und überredeten ihn. Er küßte die Za-

725
rentochter und drückte sie fest an sein Herz; er
entfaltete die Flügel, schwang sich in die Luft und
flog mit ihr davon. Da sagte Väterchen Zar:
„Ladet vierzig Kanonen und schießt nach ih-
nen!“
Aber es gab nur ein heilloses Durcheinander. Er
kam zu seinem Vater ins Schloß geflogen und lebt
nun dort mit seiner Gemahlin.

726
62
Der Töpfer
Ein Töpfer fährt und träumt bei seinen Töpfen vor
sich hin. Zar Iwan Wassiljewitsch holte ihn ein.
„Friede dem Reisenden!“
Der Töpfer sah sich um.
„Wir danken in Demut!“
„Hast wohl geträumt?“
„Hab geträumt, großer Zar! Fürchte nicht den,
der Lieder singt, doch fürchte den, der träumt!“
„Was bist du kühn, Töpfer! Solche habe ich
gern, Kutscher, fahr langsamer! Wie ist’s, Töpfer,
lebst du schon lange von diesem Handwerk?“
„Von Jugend auf, und jetzt bin ich schon in den
mittleren Jahren.“
„Hast du Kinder zu versorgen?“
„Ja, Eure Kaiserliche Majestät! Ich pflüge nicht,
ich mähe nicht, ich ernte nicht, und der Frost
schlägt mich nicht.“
„Schon gut, Töpfer, aber trotzdem geht’s auf
der Welt nicht ohne Übel ab.“
„Ja, Eure Kaiserliche Majestät! Drei Übel gibt’s
auf der Welt.“
„Und welche drei Übel sind das, Töpfer?“
„Das erste Übel ist ein schlimmer Nachbar, das
zweite Übel – ein schlimmes Weib, und das dritte
Übel ein schlimmer Verstand.“

727
„Aber sag mir, welches Übel ist das schlimm-
ste?“
„Einem schlimmen Nachbar kann ich entfliehen,
einem schlimmen Weib auch, wenn Kinder da
sind; einem schlimmen Verstand aber kannst du
nicht entfliehen, er bleibt immer bei dir.“
„So ist’s, Töpfer! Du hast einen gescheiten
Kopf. Höre! Du für mich, und ich für dich. Wenn
die Gänse aus Rußland geflogen kommen, sollst
du sie rupfen, doch eine Schwanzfeder übriglas-
sen!“
„Wenn’s taugt, laß ich sie übrig, wie’s kommt.
Vielleicht aber auch ratzekahl.“
„Nun Töpfer, warte einen Augenblick! Ich will
mir dein Geschirr ansehen!“
Der Töpfer hielt an; begann die Ware auszu-
breiten. Der Zar betrachtete sie, und drei Tontel-
ler gefielen ihm.
„Machst du mir solche?“
„Wieviel sind Eurer Kaiserlichen Majestät gefäl-
lig?“
„An die zehn Fuhren brauche ich!“
„Wieviel Zeit gibst du?“
„Einen Monat.“
„Ich kann sie auch in zwei Wochen liefern, auch
in die Stadt. Ich für dich und du für mich!“
„Danke, Töpfer!“
„Und wo wirst du sein, Zar, wenn ich die Ware
in die Stadt bringe?“
„Ich werde im Haus des Kaufmanns zu Gast
sein.“

728
Der Zar kam in die Stadt und befahl, es dürfe
auf allen Festen kein silbernes, kein zinnernes,
kein kupfernes noch auch hölzernes Geschirr ge-
ben, sondern alles sollte aus Ton sein.
Der Töpfer beendete den Auftrag des Zaren und
brachte die Ware in die Stadt. Ein Bojar kam auf
den Markt zum Töpfer gefahren und sagt zu ihm:
„Gott mit deinen Waren, Töpfer!“
„Untertänigsten Dank!“
„Verkauf mir deine Ware l“
„Das geht nicht, sie ist bestellt!“
„Was kümmert’s dich, du bekommst dein Geld
– man wird dich deswegen nicht schelten, wenn
du kein Handgeld für die Arbeit bekommen hast.
Nun, wieviel willst du?“
„Soviel: jedes Gefäß mit Geld vollschütten!“
„Nun hör aber auf, Töpfer, das ist zuviel!“
„Na schön: eins vollschütten, zwei bekommen –
willst du?“
Und sie wurden handelseinig.
„Du für mich, und ich für dich.“
Sie schütten ein und schütten aus. Schütten
und schütten – das Geld war alle, Geschirr aber
war noch viel da. Der Bojar, Schlimmes ahnend,
fuhr nach Hause und brachte neues Geld. Wieder
schütten und schütten sie – noch immer ist viel
Ware da.
„Was soll ich tun, Töpfer?“
„Nun, reicht’s nicht? Das macht nichts, du
bleibst für mich ein Ehrenmann, nur weißt du
was? Zieh mich auf dem Wagen zu diesem Hof da
– dann will ich dir die Ware und alles Geld geben.“

729
Der Bojar wandt sich hin und wandt sich her:
das Geld tat ihm leid, und er selbst tat sich leid;
doch es blieb ihm nichts übrig – sie wurden han-
delseinig. Das Pferd wurde ausgespannt, der Bau-
er stieg auf, der Bojar zog ihn: das war gelungen.
Der Töpfer stimmte ein Lied an, der Bojar zieht
und zieht.
„Wie weit soll ich dich denn ziehen?“
„Dort bis zu jenem Hof und zu jenem Haus.“
Der Töpfer singt lustig, und vor dem Haus sang
er ganz laut. Der Zar hört’s kam vor die Tür ge-
laufen und erkannte den Töpfer.
„Da sieh mal an! Sei gegrüßt, Töpfer, und will-
kommen!“
„Danke, Eure Kaiserliche Majestät.“
„Womit kommst du denn da gefahren?“
„Mit einem schlimmen Verstand, Zar!“
„Nun, hast einen gescheiten Kopf, Töpfer, hast
es wohl verstanden, deine Ware zu verkaufen. Bo-
jar, zieh deine Uniform und deine Stiefel aus, und
du, Töpfer, zieh deinen Rock und deine Bastschu-
he aus; die ziehst du an, Bojar, und du, Töpfer,
zieh seine Uniform an. Hast’s verstanden, deine
Ware zu verkaufen! Nur kurze Zeit hast du ge-
dient, aber schon große Verdienste. Und du hast
es nicht verstanden, dein Bojarentum zu wahren.
Nun, Töpfer, sind die Gänse aus Rußland geflogen
gekommen?“
„Sind geflogen gekommen!“
„Hast du sie gerupft, aber eine Schwanzfeder
übriggelassen?“

730
„Nein, großer Zar, ratzekahl hab ich sie ge-
rupft!“

731
63
Peter der Große und der Soldat
Peter der Große ritt auf Jagd. Er ritt und ritt – und
hatte sich verirrt. Nun, solange er zu Pferde war,
war ihm leicht zumute. Aber dann im Wald war es
schwierig zu reiten, er kletterte vom Pferd und
begann das Pferd zu führen. Und das Pferd folgt
ihm. Das Wetter war trübe, die Sonne schien
nicht. Er sagt:
„Mein seliger Vater hat mir gesagt, man kann
nach bestimmten Merkzeichen aus einem Wald
herauskommen. Auf der Nordseite wachsen weni-
ger Äste, auf der Südseite aber sind mehr Äste.“
Er begann, nach diesen väterlichen Zeichen
Ausschau zu halten. Er sah, daß „ich also so ge-
hen muß, in diese Richtung. Wo weniger Äste
sind, komme ich auf den Weg, denn als ich in den
Wald hineinritt, war die Sonne vor mir. Nun, und
jetzt muß ich vorwärts gehen.“
Und er ging los. Lief und lief – und war wieder
abgekommen.
Da sieht er auf einem Baumstumpf einen Mann
sitzen. Er geht zu diesem Mann. Dort sitzt aber
ein Soldat.
„Was sitzt du hier, Soldat?“ sagt er.
„Hab mich verirrt. Weiß nicht, in welche Rich-
tung ich gehen muß. Schon zwei Tage laufe ich

732
umher und kann mich auf keine Weise herausfin-
den.“
Und er sagt:
„Auch ich habe mich verirrt. Komm, wir wollen
den Weg suchen!“
„Für Euch“, sagt der Soldat, „ist das einfach,
den Weg zu suchen. Gehst ein Stück, setzt dich
auf dein Pferd, und es wird wieder leichter.“
Der Soldat fragt:
„Was bis du für einer?“
Peter der Große antwortet:
„Ich bin ein Jäger des Zaren.“
„Aha, deswegen sprichst du auch so dreist. Also
schön, wenn du ein Jäger bist, ein guter, dann
klettre mal auf diesen Baum und sieh dich um,
vielleicht ist irgendein Licht zu sehen, dann wollen
wir auf dieses Licht zugehen. Ist aber nichts zu
sehen, dann müssen wir unter diesem Baum
übernachten.“
Der Jäger des Zaren kletterte los (da der Soldat
es befiehlt, muß er klettern).
Er kletterte hoch.
Der Soldat aber denkt: „Der Jäger ist nicht oh-
ne etwas losgeritten, er hat Proviant mitgenom-
men.“
Und schnell langte er in die Satteltasche. Dort
ist zu essen und zu trinken.
„Aha, das ist gut! Jetzt will ich mich ein wenig
stärken. Kommst du herunter, wirst du nichts
merken, und wenn wir übernachten, sollst du mir
noch etwas geben.“

733
Er trank und aß ein wenig, stillte seinen ersten
Hunger – zwei Tage war er umhergestreift und
hatte sich von Beeren ernährt –, und es wurde
ihm wohler zumute. Peter aber klettert höher.
Kletterte bis zum höchsten Wipfel. Der Soldat ruft
ihm zu:
„Wie ist’s? Ist was zu sehen oder nicht?“
„Ich bin noch nicht ganz oben!“
„Nun, klettre nur schnell weiter“, sagt er.
„Wenn ich geklettert wäre, ich wäre schon längst
wieder unten!“
Peter der Große kletterte bis zum Gipfel und
hält ringsum Ausschau. Sieht irgendwo dort ein
Licht brennen. Er sagt zu dem Soldaten:
„Da sieh, wie mein Pferd steht, aufs Hinterteil
des Pferdes – dort brennt in gerader Richtung ir-
gendwo ein Licht!“
„Nun, so komm herunter, ich habe schon einen
Zielpunkt gewählt“, sagt der Soldat.
Der Jäger des Zaren kletterte herunter und sagt
zu ihm:
„Nun los, Soldat, führe nach Soldatenart!“
„Ich werde dich schon führen“, antwortet ihm
der Soldat. „Wir machen es nicht so wie ihr – an-
dere anstellen und sich selber drücken! Der Sol-
dat, wenn er sich irrt, wird bestraft, für einen Jä-
ger aber setzt sich der Zar selber ein, mag er sich
auch geirrt haben.“
Der Jäger des Zaren antwortete:
„Nun, führ nur zu, mach schnell!“ (Er ahnte
schon, daß der Soldat in seiner Satteltasche ge-
wesen war.)

734
Sie gehen also. Der Soldat ging voran, der Jä-
ger mit seinem Pferd hinterher. Sie kommen auf
eine Lichtung. Da steht ein Haus, mit einem gro-
ßen Zaun umgeben, so daß das Licht nicht mehr
zu sehen ist. Sie stellten sich ans Tor und klopften
um Einlaß. Eine Alte kommt heraus, macht ihnen
das Tor auf und sagt zu ihnen:
„Da sind die Gäste ja selber gekommen!“
Peter der Große hatte nichts bemerkt, dem Sol-
daten aber kam es irgendwie verdächtig vor, was
sie von Gästen gesagt hatte: das Haus steht mit-
ten im Wald, das ist ein guter Platz. Er schweigt
und sagt dem Jäger nichts. Die Alte sagt:
„Nun, kommt herein, werte Gäste!“
Die Gäste traten ein. Der Soldat sagt:
„Großmütterchen, du könntest deinen Gästen
etwas zu essen geben!“
„Es ist nichts da, mein Bester. Geht auf den Bo-
den, ruht euch aus, ich will euch etwas zurecht-
machen, und dann rufe ich euch.“
Sie ließen ihr Pferd stehen und stiegen auf den
Boden.
Der Soldat sagt zu Peter dem Großen:
„Du, als Jäger des Zaren, bist auf dem Pferd
geritten, bist also nicht sehr müde, zieh du jetzt
auf Wache und paß auf, ich will mich ausruhen.
Hast du eine Stunde gestanden, weckst du mich,
dann werde ich Wache stehen.“
Der Jäger des Zaren hielt also Wache, und der
Soldat legte sich hin, um auszuruhen. Der Soldat
sieht, daß der Jäger des Zaren auf Posten sitzt
und träumt (der Soldat schläft nicht), er steht auf.

735
„Nein“, sagt er, „Jäger, so hält man nicht Wa-
che. Wenn du mal beim Zaren Wache gestanden
hättest, hättest du’s gelernt. Wir haben auf Wa-
che gestanden und nicht geträumt, sondern die
Wachhabenden sind uns immer kontrollieren ge-
kommen, da war es nichts mit Träumen. Du aber
brauchst nur eine halbe Stunde zu stehen, und
schon fängst du zu träumen an. Leg dich also
schlafen, ich will selbst Wache halten!“
Der kaiserliche Jäger gibt ihm seinen Säbel und
legt sich schlafen, der Soldat aber paßt sogleich
scharf auf und lauscht, was sich tut.
Auf einmal wird geklopft. Da kommen drei Kerle
geritten. Sie (die Alte) macht ihnen das Tor auf
und sagt zu ihnen:
„Wir haben schon zwei Gäste, ich habe sie auf
den Boden geschickt, sie sollen sich ausruhen.“
„Nun, dann sind diese Gäste schon in unserer
Hand“, antworten sie.
Und der Soldat hört das alles, weckt aber den
Jäger des Zaren nicht. Nach einer Viertelstunde
klopft es wieder. Wieder geht die Alte und macht
das Tor auf. Jetzt erscheinen schon vier Kerle. Sie
erstattet ihnen Meldung:
„Wir haben zwei Gäste, sie schlafen auf dem
Dachboden.“
„Sollen sie schlafen. Wir essen etwas, dann
werden wir uns ihrer annehmen.“
Diese gehen in die Hütte hinein. Sie aßen zu
Abend. Die Alte sagt zu ihnen: „Sie haben mich
um Essen gebeten. Der eine ist gewiß ein Soldat,

736
der andere anscheinend ein Herr. Von dem Herrn
steht das Pferd dort.“
„Nun, das ist einfach, sie zu kriegen. Sollen sie
noch etwas schlafen!“
Sie aßen. Der Hauptmann sagt:
„Nun, klettre auf den Boden, erledige sie!“
Der Soldat aber belauscht das alles.
Einer kletterte nun die Leiter hoch. Kaum hatte
er den Kopf hereingesteckt, da schlug ihm der
Soldat den Kopf ab. Und der Jäger des Zaren
schläft und hört nichts.
Nach einer Weile sagt der eine: „Was macht er
sich dort so lange zu schaffen? Gewiß unterhält er
sich mit ihnen oder so etwas. Sieh mal schnell
nach!“
Der zweite klettert auf den Boden. Er fertigt ihn
genauso ab: der Kopf bleibt auf dem Dachboden,
und der Rumpf fällt unter die Leiter.
Der Hauptmann schickt den dritten:
„Geh du mal! Was schaffen sie nur so lange
dort?“
Auch der dritte geht. Er empfängt auch den
dritten so. Die Zeit verstreicht, und vom dritten
keine Spur. Er schickt den vierten:
„Geh schnell, erledigt ihn und kommt dann wie-
der her!“
Auch der vierte geht. Der Soldat trennt auch
dem vierten den Kopf ab. Er schickt den fünften.
Der Soldat schlägt auch dem fünften den Kopf ab.
Er brüllt dem sechsten zu:

737
„Geh du, Wanka, rechne mit ihnen ab! Was ma-
chen sie nur dort; haben wohl einen Freund ge-
troffen und sind ins Schwatzen gekommen!“
Auch Wanka rannte los. Der Soldat schlug auch
diesem den Kopf ab. Auch der flog herunter. Nun
war er allein noch übrig. Er sagt:
„Ich will gleich mal gehen! Was sitzen sie so-
lange dort. Als könnten sechs Mann nicht mit
zweien fertigwerden!“
Auch dieser kletterte hoch. Und er schlug auch
diesem den Kopf herunter, und auch dieser Rumpf
fiel unter die Leiter. Und er denkt bei sich: „Jetzt
heißt es warten. Heraus können wir nicht, ehe es
nicht Tag wird. Und auch den Jäger kann ich nicht
wecken, den einfältigen Kerl; mag er noch schla-
fen, vielleicht ist gar noch einer dort.“
Es wurde schon hell. Er weckte den Jäger des
Zaren:
„Nun, steh auf, Jäger!“
Der Jäger wacht auf. Er sagt zu ihm:
„Zähle mal, wieviel Köpfe hier sind!“
Der fuhr in die Höhe:
„Sieben. – Was ist denn los?“ sagt er.
„Das ist los“, sagt er, „daß unser beider Köpfe
hier lägen, wenn du Posten gestanden hättest und
nicht ich!“
Der Zar sagt:
„Weil ich ein Jäger bin, lebe ich eben so dahin,
und nichts geht mich etwas an. Nun aber hab
Dank, Soldat, du wenigstens weißt, was Disziplin
ist!“

738
„Nun, Jäger des Zaren, jetzt wollen wir nach
unten gehen, es ist hell geworden. Es scheint kei-
ner von denen mehr da zu sein, und mit der Alten
kommen wir schon zurecht.“
Die Alte aber hatte sich schon umgetan und ge-
sehen, daß alle unter der Leiter liegen. Sie kom-
men vom Boden herunter und gehen in die Stube.
Der Soldat sagt:
„Nun los, alter Satan, zeig uns mal deine Schät-
ze! Wieviel Menschen habt ihr hier umgebracht?“
Die Alte sagt:
„Niemanden, Väterchen, niemanden!“
Er sagt:
„Was heißt ‚niemanden’? Uns hast du ja auch
aufgelauert Wir haben dich um etwas zu essen
gebeten, aber du hast uns gesagt, daß ,nichts da
ist, steigt auf den Dachboden, in einer halben
Stunde habe ich etwas zurechtgemacht und rufe
euch’. Und wir sind auf dem Dachboden einge-
schlafen. Da höre ich, wie es klopft. Du hast das
Tor aufgemacht und gesagt: ,Wir haben zwei Gä-
ste hier.’ Sie haben dir geantwortet, daß ,sie
schon in unserer Hand sind’. Da war es nichts
damit, nach Soldatenart zu schlafen. Ich habe ge-
lauscht. Da schickt der Hauptmann den ersten.
Ich habe ihm den Kopf abgeschlagen. Er schickt
den zweiten, ich habe auch dem zweiten den Kopf
abgeschlagen. Nun, und habe sie bis auf den letz-
ten Mann erledigt. Nun, und jetzt zeig uns, alte
Hexe, was du besitzt!“
„Aber nichts, mein Bester, nichts!“
„Was heißt hier ‚nichts’? Auch zu essen nichts?“

739
„Zu essen werde ich etwas finden.“
„Nun, dann nur zu!“
Sie gab ihnen zu essen, rannte ins Zimmer und
kommt mit einem Revolver wieder herausge-
sprungen. Der Soldat sagt:
„Sieh mal einer an, diese alte Hexe! Einen
kannst du so umbringen, der andere aber bleibt
übrig und wird dich umbringen.“
Holt seinen Revolver heraus und legt auf sie an:
„Zeig, was du hast!“
Sie sieht, daß sie nichts machen kann, der Tod
aber ist etwas Fürchterliches. So führte sie die
beiden und zeigte ihnen, was sie hatte.
Sie kommt in den Keller. Da liegt ein Haufen
Goldstücke.
„Jetzt habe ich euch alles gezeigt, mehr gibt es
nicht zu zeigen.“
„Nun, dann zeig uns den Weg, wie wir hier he-
rauskommen!“
„Geht dort diesen Weg, und ihr kommt auf die
Poststraße, und dort könnt ihr in jeder Richtung
gehen, wie ihr’s braucht.“
Der Soldat sagt:
„Nun los, Jäger des Zaren, nimm Geld, soviel
du kannst. Wenn wir in die Stadt kommen, wer-
den wir etwas haben, es uns gut sein zu lassen.
Und wenn wir auf der Poststraße sind, machen wir
ein Zeichen auf dem Weg zur Hütte und sagen’s
dem Zaren. Wir führen ihn her und nehmen, was
hier übriggeblieben ist!“
Der Soldat nimmt Geld, soviel er kann, alle Ta-
schen voll. Der Jäger aber sagt:

740
„Ich nehme nur ein wenig, für mich langt’s.“
Und sie gingen diesen Weg. Ein wenig waren sie
gegangen – da war schon die Poststraße. Der Jä-
ger sagt zum Soldaten:
„Nun Soldat, laß dir Zeit, hier am Wege ist ein
Wirtshaus. Kehre in dieses Wirtshaus ein, iß und
ruh dich aus, ich will dem Zaren sagen, er soll dir
ein Zweigespann schicken.“
Der Soldat antwortet:
„Wie kann ich dich denn dort erkennen?“
„Wenn du dorthin zum Zaren kommst, werden
alle die Mütze abnehmen, ich aber werde die Müt-
ze aufbehalten, dann kannst du mich erkennen.“
Hier gab Peter der Große seinem Pferd die Spo-
ren.
Er kommt zu diesem Wirtshaus und sagt dem
Wirt:
„Paß auf, es wird ein Soldat kommen und hier
einkehren, um sich zu stärken; gib ihm ruhig, das
Geld bezahle ich.“
Nun, der Wirt wußte, daß es der Zar war, der
das befahl.
Bis zur Stadt ist es noch weit zu laufen. Der
Soldat kehrt in diesem Wirtshaus ein. Dort erwar-
tet man den Soldaten schon.
„Was Ihr braucht, was Ihr essen wollt – wir tra-
gen’s sogleich auf.“
Der Soldat sagt:
„Die wissen wohl, daß ich viel Geld habe, drum
sind sie so gefällig. Nun, dann dies her und das“,
verlangte der Soldat.

741
Der Soldat trank und aß ordentlich. Greift in die
Tasche und hält das Geld hin, der Wirt aber
nimmt es nicht.
„Warum nimmst du denn kein Geld von mir,
Wirt?“
Der Wirt antwortet dem Soldaten:
„Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß der
Zar gesagt hat: einem durchziehenden Soldaten
muß überall umsonst gegeben werden, und wir
dürfen nicht abändern, was der Zar gesagt hat.“
Der Soldat ging von diesem Wirtshaus weiter
nach der Stadt. Unterwegs begegnet ihm ein
Zweigespann, und man fragt ihn:
„Bist du das, der mit dem Jäger des Zaren zu-
sammengewesen ist?“
„Ja!“
„Nun, dann steig ein, wir fahren dich zu dem
Jäger!“
Der Soldat stieg ein. Der Soldat hatte Lust,
auch im zweiten Wirtshaus einzukehren.
„Komm, Kutscher, ich will in diesem Wirtshaus
einkehren!“
„Es sind ja nur noch fünf Werst bis zur Stadt.
Wozu noch einkehren?“
Nun, der Kutscher schlug’s nicht ab. Er trank
selber eins und gab auch dem Kutscher zu trin-
ken. Der Wirt aber nimmt kein Geld, antwortet,
daß von durchziehenden Soldaten kein Geld ge-
nommen wird.
Er sagt:
„Die wissen, daß der Soldat Geld hat, drum ha-
ben sie eine solche Anordnung erlassen.“

742
Nun, der Kutscher trieb die Pferde heftiger,
denn er hatte einen Rausch.
Der Zar aber hatte zu seiner Begrüßung zwei
Regimenter Soldaten aufstellen lassen. Kaum kam
er angefahren, rief der Zar:
„Mützen ‘runter!“
Alle warfen die Mützen herunter, er aber steht
in seiner Mütze da. Und der Soldat meldet sich bei
dem, der seine Mütze aufhat, und sagt zu ihm:
„Verzeiht, Eure Kaiserliche Majestät, daß ich so
grob mit Euch umgegangen bin.“
„Nichts da“, sagt der, „du bist nicht grob gewe-
sen, du hast deine Disziplin gehalten. Wäre nicht
deine Disziplin gewesen, dann schliefen wir beide
jetzt dort. Aber dem Soldaten hat seine Disziplin
herausgeholfen, sie hat dich gerettet und mich.
Dafür gebe ich dir den ganzen Platz dort und das
Geld, das dort geblieben ist, es gehört alles dir.
Und ich werde dir eine große Leibwache geben,
und wir bauen ein Schloß an der Stelle, und du
wirst dort herrlich und in Freuden leben und ein
reicher Mann werden. Und du wirst alle kennen,
und alle werden sich vor dir verbeugen!“
Da habt ihr ‘nen Soldaten ohne Furcht und
Graus! Und das Märchen ist aus.

743
Satirische Alltagsmärchen

64
Das Hühnchen Tataruschka
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau: die hatten ein Hühnchen Tataruschka. Das
legte ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau, sie leg-
ten es in der Vorratskammer auf ein gerades
Wandbrett auf Stroh. Die Katz’ machte einen
Satz, wedelte mit dem Schwanz, stieß ans Brett
dabei, schlug das Ei entzwei.
Der Alte begann zu weinen, die Alte begann zu
greinen; sie heizten die Stube, machten die Türen
auf, und die Mühlsteine begannen zu mahlen. Eine
Frau geht Wasser holen und sagt zu dem Großvä-
terchen:
„Warum weinst du, Großväterchen?“
„Weißt du nichts von meinem Leid, Töchter-
chen?“
„Was hast du für Leid?“
„Ich hatte ein einziges Hühnchen Tataruschka,
es legte mir ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau;
die Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem
Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei ent-
zwei; da fing ich an zu weinen, die Alte fing an zu
greinen, wir haben die Stube geheizt, die Türen
aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu
mahlen.“

744
Die Frau begann vor Kummer ihre Eimer zu
zerschlagen. Kommt der Küster und fragt:
„Warum weinst du, Großväterchen?“
„Weißt du nichts von meinem großen Leid?“
„Was hast du für großes Leid?“
„Ich hatte doch ein einziges Hühnchen Tata-
ruschka, es legte mir ein Ei, schwarz, bunt, rot
und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte
mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug
ein Ei entzwei; ich fing an zu weinen, die Alte fing
an zu greinen, wir haben die Stube geheizt, die
Türen aufgemacht, und die Mühlsteine begannen
zu mahlen; die Frau ist gekommen, Wasser zu
holen, und hat angefangen ihre Eimer zu zer-
schlagen.“
Der Küster rannte davon und fing an, wegen
des Großväterchens Kummer die Glocke zu schla-
gen. Kommt der Diakon gerannt.
„Was machst du da, du Dummkopf, warum
schlägst du die Glocke?“
Der Küster sagt:
„Du kennst unser großes Leid nicht: das Groß-
väterchen hier hat ein einziges Hühnchen Tata-
ruschka gehabt, es legte ein Ei, schwarz, bunt, rot
und blau; die Katz’ machte einen Satz, wedelte
mit dem Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug
das Ei entzwei, der Alte fing an zu weinen, die Al-
te fing an zu greinen, sie haben die Stube geheizt,
die Türen aufgemacht, und die Mühlsteine began-
nen zu mahlen; die Frau ist Wasser holen ge-
kommen, hat angefangen ihre Eimer zu zerschla-
gen, und ich schlage die Glocke!“

745
Und der Diakon sagt:
„Ich will wegen des Großväterchens Kummer al-
le Bücher zerreißen!“
Kommt der Pope, geht zum Küster.
„Was machst du da, Küster?“
„Väterchen, sag nichts, sei still, – du weißt
nichts von unserem großen Leid. Das Großväter-
chen hatte ein einziges Hühnchen Tataruschka,
das legte ein Ei, schwarz, bunt, rot und blau; die
Katz’ machte einen Satz, wedelte mit dem
Schwanz, stieß ans Brett dabei, schlug das Ei ent-
zwei; der Alte fing an zu weinen, die Alte fing an
zu greinen, sie haben die Stube geheizt, die Türen
aufgemacht, und die Mühlsteine begannen zu
mahlen; die Frau ist Wasser holen gekommen und
fing an ihre Eimer zu zerschlagen, ich schlage die
Glocke, und der Vater Diakon zerreißt seine Bü-
cher!“
Da fing der Pope an sie zu prügeln, was das
Zeug hielt, den Küster mit einem Eichenknüppel,
den Diakon mit einem aus Ulmenholz. – Das Mär-
chen ist aus!

746
65
Das besprochene Wasser
Wie ist’s, meine Lieben, wird bei euch in der Stadt
auch Wasser besprochen? Habt ihr davon gehört
oder nicht? Besprochenes Wasser heißt es, und es
ist wer weiß wie heilkräftig, dieses liebe Wässer-
chen! Hilft gegen alles. Halt mal, warte – ich
brauche nicht weit zu gehen, von mir selber kann
ich erzählen, wie mir dieses Wasser geholfen hat…
Und wie es geholfen hat!… Besser kann es gar
nicht sein. Hört also, wie die Sache gewesen ist…
Ich hatte mit meinem Alten von Jugend an in
bester Eintracht gelebt… Wie er aber nun ins Alter
kam, passierte doch etwas Schlimmes mit ihm: er
wurde ein so widerspenstiger alter Querkopf, Gott
bewahre mich. Du sagst ihm dies, und er dir das…
Du gibst ihm ein Wort, und er dir zwei… Nun, und
ich, meine Besten, war keine von den Schüchter-
nen: er mir zwei… ich fünf… er fünf… und ich
zehn… Und so war bei uns manchmal ein Sturm,
daß es selbst die Heiligen aus der Stube fegen
konnte… Und wenn wir anfingen, der Sache auf
den Grund zu gehen – keiner war schuld! „Woher
kommt das bloß bei uns. Alte?“ – „Das bist doch
immer du, du Zankteufel, querköpfiger… immer
du!“ – „Nun hör aber auf! Ich!?? Und du?! Mit dei-
ner bösen Zunge…“ – „Nicht ich, du bist’s!“ – „Du,

747
und nicht ich!“ Und nun ging es wieder von vorne
los, daß es in allen Ecken nur so krachte.
Und es war so weit gekommen, meine Lieben,
daß der Alte morgens nur seine Beine vom Ofen
herunterzuhängen brauchte, und es ging los… und
ging los, daß es zum Davonlaufen war.
Ja, Gott sei Dank – ein altes Weiblein hat mich
auf das Richtige gebracht… Eine Tagelöhnersfrau,
sie wohnte nur drei Häuser weiter… Die hörte das,
hörte’s und sagt: „Liebe Maremja, was hast du
mit deinem Alten immer Zank und Streit? Du soll-
test einmal zu dem Einsiedler auf den Berg gehen,
Mütterchen! – Der Einsiedler bespricht Wasser…
hilft so den Menschen… Vielleicht kann er auch dir
helfen!“
„Ja, wirklich“, denke ich, „ich will mal hingehen,
mir kann keiner helfen, wenn nicht der liebe
Gott.“
Ich ging also zu diesem alten Einsiedler. Kom-
me hin – da steht mutterseelenallein ein kleines
Hüttchen. Ich klopfe ans Fenster, und der Einsied-
ler kam heraus. So ein kleiner… verhutzelt, mit
einem kleinen spitzen Bärtchen…
„Was willst du, Magd Gottes?“ sagt er.
„Ach, Väterchen“, sage ich, „hilf mir!… Mein Al-
ter und ich zanken uns immer…“
„Warte ein Weilchen“, sagt er.
Und, was meint ihr, meine Lieben, er brachte
mir in einer Schöpfkelle etwas Wasser heraus und
flüsterte vor mir darauf… Ich will mich nicht von
der Stelle rühren können, ich lüge nicht… Er

748
schlug ein Kreuz darüber, goß das Wasser in ein
Fläschchen und sagt:
„Hier, Magd Gottes, wenn du nach Hause
kommst und dein Alter zu brummen anfängt,
dann nimm etwas von dem Wasser in den Mund,
spuck’s aber nicht aus und verschluck’s auch
nicht, sondern behalte’s mit einem Gebet zum
Herrn Jesus im Mund, bis er sich beruhigt hat…
Alles wird aufs beste gehen…“
Ich verbeugte mich vor dem alten Einsiedler,
nahm das Fläschchen und machte mich auf nach
Hause. Kaum habe ich diesen Fuß hier über die
Schwelle gesetzt, da ist mein Alter wie aus dem
Häuschen… Er war nämlich, mein Seliger, ganz
versessen auf Tee… Man brauchte es nur um eine
Minute mit dem Samowar verpassen… und ich
hatte mich bei dem Einsiedler ganz ordentlich ver-
spätet… Er also vom Ofen herunter:
„Och, dieses Weibervolk, diese verfluchten
Klatschweiber!… Gehen fort und sind wie vom
Erdboden verschwunden…“
Ich aber, meine Besten, nahm etwas Wasser in
den Mund und – wie’s der Einsiedler gesagt hatte
– spucke es nicht aus, schluckte es nicht hinter,
sondern behalte es mit einem Gebet zum Herrn
Jesus im Mund… Und richtig – mein Alter wurde
still! Dem Himmel sei Dank – so heilkräftig ist das
Wasser. Ich steckte das Fläschchen hinter die
Gottesmutter und machte mich an den Samowar,
da fällt mir doch das Röhrchen herunter… Meinem
Alten sprangen fast die Augen aus dem Kopf… er
ist ganz außer sich:

749
„Ach, du Unglücksweib… dir haben sie die Arme
verkehrt eingesetzt…“
Ich aber schnell wieder zum Wasser… nahm et-
was in den Mund… behalte es drin… und mein Al-
ter wurde still…
Und was soll ich sagen, meine Lieben, es zog
Ruhe und Frieden bei uns ein und Gottes Segen!…
Er will schimpfen, und ich nehme mein Wasser…
Ja, dem Himmel sei Dank! Alles ging, wie es im
Buche steht.
Das also macht dieses Wasser, meine Besten.
Mein Alter aber, mein Seliger, war einen Klafter
breit in den Schultern und fürchterlich groß… Hier
den Querbalken über der Tür hätte er mit der
Stirn herausgestoßen… Und so ein kleines
Schlückchen hat ein solches Ungeheuer gezähmt…
Da sieht man, was für eine Kraft dieses bespro-
chene Wasser hat…“

750
66
Der Topf
Du sagst, die Leute bei uns sind faul… Da hör
einmal, was bei uns so vorkommt. So faules Volk
kannst du suchen und nochmal suchen. Sind nur
darauf aus, die Arbeit auf fremde Schultern abzu-
wälzen – nur nichts selber machen… So faul sind
sie… und so faul waren sie im ganzen Kreis… Nicht
einmal die Haustür sperrten sie mit dem Haken
zu: „Hol der und jener den Haken! Steht man
morgens auf, heißt es die Hände ausstrecken und
ihn wieder aushaken… Wir leben auch so…“
So eine kochte einmal Brei. Und der Brei war
gut geraten! Braun und locker, die Körnchen fie-
len nur so auseinander. Die Frau holte den Brei
aus dem Ofen, stellte ihn auf den Tisch, goß But-
ter drauf; sie aßen den Brei und leckten sich die
Lippen. Im Topf aber war so an der Seite und am
Boden etwas Brei angebacken, der Topf mußte
ausgewaschen werden.
Die Frau sagt zum Mann:
„Nun, Mann, ich habe das meine getan, hab den
Brei gekocht, den Topf auswaschen ist deine Sa-
che!“
„Nun hör aber auf! Ist Aufwaschen etwa Män-
nersache? Wasch ihn nur selber aus!“
„Ich denke nicht daran!’
„Ich auch nicht!“

751
„Wenn du’s nicht machst, mag er so stehen
bleiben!“
Sprach’s, schob den Topf auf die Herdplatte und
legte sich auf die Ofenbank.
Der Topf steht unaufgewaschen da.
„Frau, Frau! Der Topf steht doch noch unaufge-
waschen da!“
„Wer an der Reihe ist, der soll ihn aufwaschen,
ich mach’s nicht!“
Der Topf blieb bis zur Nacht stehen. Der Mann
will sich schlafen legen, klettert auf den Ofen,
aber der Topf steht noch immer da.
„Frau, Frau! Der Topf muß ausgewaschen wer-
den!“
Die Frau legte los wie ein Sturmgewitter:
„Ich hab’s gesagt – das ist deine Sache, du
mußt ihn aufwaschen!“
„Nun hör zu, Frau! Vorrede ist besser als Nach-
rede: wer morgen zuerst aufsteht und das erste
Wort sagt, der soll auch den Topf auswaschen.“
„Schön, klettre auf deinen Ofen, wir werden ja
sehen!“
Sie legten sich hin. Der Mann auf den Ofen, die
Frau auf die Ofenbank. Die dunkle Nacht kam.
Am Morgen steht keiner auf. Er rührt sich nicht,
sie rührt sich auch nicht – keiner will den Topf
auswaschen. Die Frau müßte die Kuh tränken,
melken und auf die Weide treiben, doch sie rührt
sich nicht von ihrer Bank. Die Nachbarinnen hat-
ten ihre Kühe auf die Weide getrieben.
„Du lieber Gott! Malania ist ja gar nicht zu se-
hen. Ob jemand krank ist?“

752
„Ach, sie ist schon manchmal zu spät gekom-
men. Gehen wir zurück, vielleicht treffen wir sie.“
Sie gehen zurück – von Malania keine Spur.
„Nein, aber wirklich! Sicher ist etwas passiert!“
Die nächste Nachbarin guckte in die Stube. Da
hat man’s! Nicht einmal die Tür ist zugesperrt.
Irgend etwas stimmt nicht. Sie ging hinein und
bekreuzigte sich.
„Malania, Mütterchen!“
Doch die Frau liegt auf der Ofenbank, hat die
Augen aufgerissen, rührt sich aber nicht.
„Warum hast du deine Kuh nicht auf die Weide
getrieben? Bist du krank?“
Die Frau schweigt.
„Ja, was ist denn mit dir los? Warum sagst du
nichts?“
Die Frau ist stumm wie eine Tote.
„Herr, erbarme dich! Wo ist denn dein Mann!
Wassili, he, Wassili!“
Sie sah auf den Ofen, da liegt Wassili, die Au-
gen offen, und rührt sich nicht.
„Was ist mit deiner Frau? Ist sie krank?“
Der Mann schweigt, als hätte er Wasser im
Mund. Es hatte doch, verstehst du wohl, keiner
Lust, den Topf auszuwaschen, keiner will das er-
ste Wort sagen. Die Nachbarin wurde ganz aufge-
regt.
„Gott behüte, sind sie vielleicht behext? Ich will
doch gehen und es den Frauen sagen.“
Sie rannte durchs Dorf.
„Ach, Frauen! Bei Malania und Wassili stimmt
etwas nicht. Geht nur hin und seht’s euch an – sie

753
liegen und rühren sich nicht, sie auf der Ofenbank
und er auf dem Ofen. Mit den Augen sehen sie
umher, sprechen aber kein Wort. Ob sie behext
worden sind?“
Die Frauen kamen gelaufen, fast alle versam-
melten sich und lamentieren um Malania und
Wassili herum:
„Mütterchen! Was ist nur mit euch los? Malania!
Wassili! Malania! Warum sagt ihr nichts? Was ist
passiert?“
Beide schweigen und schweigen wie zwei Tote.
„Lauft doch zum Popen, Frauen! Er muß sie ge-
sund beten. Die Sache sieht ja schlimm aus!“
Einige rannten los. Der Pope kam. „Was gibt’s.
Rechtgläubige?“
„Sieh nur, Väterchen, irgend etwas ist passiert.
Beide liegen da, rühren sich nicht, haben die Au-
gen offen, bringen aber kein Wort über die Lip-
pen. Ob sie behext sind? Müssen sie nicht ge-
sundgebetet werden?“
Der Pope strich seinen Bart und ging zum Ofen.
„Wassili, Knecht Gottes! Was ist passiert?“
Der Mann bleibt stumm. Der Pope geht zur
Ofenbank.
„Magd Gottes! Was ist mit deinem Mann?“
Die Frau bleibt stumm.
„Müßte nicht das Sterbegebet gesprochen wer-
den? Sollen wir nicht nach dem Sarg schicken?“
Beide sind stumm wie Tote. Die Frauen nun
hatten lamentiert und lamentiert und sich davon-
gemacht. Das lohnte sich ja nicht – eine mußte

754
den Ofen heizen, eine die Kinder füttern, die hatte
Kücken, jene hatte Ferkel: Der Pope aber sagt:
„Nun, Rechtgläubige, sie so alleinzulassen ist
gefährlich. Es muß schon jemand dabeibleiben.“
Die hat zu tun, jene hat zu tun, und die dritte
hat keine Zeit.
„Soll doch Stepanida dableiben, bei der weinen
keine Kinder, sie ist allein!“
Diese Stepanida aber stemmt die Hand in die
Hüfte und verneigt sich:
„Nur, heutzutage, Väterchen, arbeitet niemand
umsonst; setzt mir ein Gehalt aus, dann will ich
hierbleiben.“
„Ja, was soll ich dir denn für ein Gehalt ausset-
zen?“ fragt der Pope und ließ die Augen durch die
Stube schweifen. An der Tür aber hängt an der
Wand Malanias alte zerrissene Jacke, die Watte
hängt in Fetzen herunter.
„Dort“, sagt der Pope, „nimm die Jacke.
Schlecht hin, schlecht her – um die Beine zuzu-
decken, taugt sie noch immer!“
Nun, meine Besten, kaum hatte der Pope das
gesagt, da sprang die Frau von der Bank, als hät-
te man sie mit kochendem Wasser übergossen,
stellte sich mitten in die Stube und stemmte die
Hände in die Seiten:
„Was soll denn das heißen“, sagt sie, „das ge-
hört schließlich mir, und ich bin noch nicht am
Sterben! Ich kann sie noch selber tragen, und
wenn ich sie aus meinen warmen Händen lasse,
dann kriegt sie der, dem ich sie gebe!“

755
Alle waren erstarrt. Der Mann aber ließ vorsich-
tig die Beine vom Ofen herunterbaumeln, beugte
sich herab und sagt:
„Na also, Frau, du hast das erste Wort gesagt,
du mußt auch den Topf auswaschen.“
Da spie der Pope aus und ging seines Wegs.
Da seht ihr, meine Lieben, was für Leute es auf
der weiten Welt gibt. Und nirgends solche wie hier
um Ustjushnaja.

756
67
Das zanksüchtige Weib
Ein Mann hatte eine Frau, die war so zanksüchtig,
daß sie ihm immer widersprach. Sagte er zum
Beispiel „Bart scheren!“ schon schrie sie unbe-
dingt „Haare schneiden!“ Jeden Tag hatten sie
Zank miteinander! Der Mann bekam die Frau
über, und so begann er nachzudenken, wie er sie
loswerden könnte. Sie kommen einmal an einen
Fluß, und statt einer Brücke liegt ein Brett über
dem Wehr. Warte, denkt er, jetzt muß sie dran
glauben. Kaum hatte sie die ersten Schritte auf
dem Brett gemacht, sagt er: „Paß auf, Frau,
wackle nicht, sonst ertrinkst du!“ – „Nun werde
ich gerade wackeln!“ Sie wackelte und wackelte,
und plumps war sie ins Wasser gefallen.
Dem Manne tat seine Frau leid: er stieg ins
Wasser, begann sie zu suchen, und geht im Was-
ser flußaufwärts. „Was suchst du hier?“ sagen die
vorübergehenden Bauern zu ihm. „Meine Frau ist
ertrunken, hier von dem Brett ist sie herunterge-
fallen!“ – „Dummkopf, Dummkopf! Flußabwärts
hättest du gehen müssen, nicht aufwärts; jetzt
hat es sie sicher schon davongetragen!“
„Ach, Brüder seid still; sie hat mir immer alles
zum Trotz gemacht, bestimmt ist sie auch jetzt
gegen den Strom geschwommen.“

757
68
Das geschwätzige Weib
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau. Die Frau
war furchtbar schwatzsüchtig, immer hatte sie
etwas zu plappern. Er ging in den Wald, fand dort
einen Schatz und fürchtet sich, es seiner Alten zu
erzählen: die plappert es allen aus. Schließlich
sagt er zu seiner Frau:
„Frau, ich habe einen Schatz gefunden. Nur sag
es niemandem sonst setzt es für mich und für
dich etwas von unserem Herrn!“
„Nein“, sagt sie, „ich werde niemandem etwas
sagen.“
In der Nacht nahmen sie einen Spaten und gin-
gen, den Schatz ausgraben.
Sie kamen hinaus aufs Feld. Die Frau hebt ei-
nen Pfannkuchen auf.
„Mann! Was ist denn das?“
„Halt den Mund! Heute hat es Pfannkuchen und
Piroggen geregnet.“
Sie gehen weiter. Nun mußten sie eine Brücke
überqueren; sie gehen über die Brücke. Im Fluß
windet sich ein Hase im Fischnetz. Sie fragt ihn:
„Mann, was ist das?“
„Die Fischer unseres Herrn haben im Fluß einen
Hasen gefangen!“
Sie gehen weiter. In einem Fuchseisen auf dem
Felde windet sich ein Hecht.

758
„Mann, was ist das?“
„Die Jäger unseres Herrn haben einen Hecht im
Fuchseisen gefangen!“
Sie gehen weiter und kommen zum Wald; dort
meckerte ein Ziegenbock.
„Mann, was ist das?“
„Die Teufel scheren unserem Herrn im Walde
den Bart!“
Er hatte das aber alles nur so gemacht, um sie
hinters Licht zu führen. Sie kamen an die Stelle,
gruben den Schatz aus, trugen ihn nach Hause
und legten ihn unter den Ofen. Von nun an führ-
ten sie ein schönes Leben. Die Nachbarn fingen an
zu fragen, woher sie so reich geworden wären.
Da verplapperte sie sich, daß sie einen Schatz
gefunden hatten. Der Vogt erfuhr davon und er-
zählte’s dem Herrn. Der Bauer erfuhr, daß der
Herr weiß, daß er einen Schatz gefunden hat, hol-
te den Schatz unter dem Ofen hervor und ver-
steckte ihn im Keller. Nun läßt der Herr ihn rufen
und fragt:
„Du hast einen Schatz gefunden? Deine Frau
erzählt, daß du einen gefunden hast!“
Er sagt:
„Sie ist nicht ganz bei Troste; geruht nur sie zu
rufen und sie zu fragen.“
Der Herr befahl, die Frau zu rufen. Sie kam.
Der Herr fragt:
„Ist es wahr, daß dein Mann einen Schatz ge-
funden hat?“
„Die reine Wahrheit, Väterchen!“
„Wo hat er ihn denn?“

759
„Zuerst hat er in einer Schüssel unter dem Ofen
gelegen, aber jetzt weiß ich nicht, wo er ist.“
„Wann hat er ihn denn gefunden?“
„Erinnert Euch nur, Herr, als es Pfannkuchen
und Piroggen geregnet hat!“
Der Herr denkt: „Vielleicht ist sie wirklich nicht
ganz bei Troste?“
„Erinnert Euch doch, als Eure Fischer im Fluß
den Hasen gefangen haben!“
Der Herr schweigt und sieht sie nur immer an.
„Erinnert Euch doch, als Eure Jäger den Fisch
im Fuchseisen gefangen haben!“
„Was erzählst du da für Unsinn?“
„Ja, erinnern sich Euer Gnaden nicht, wie die
Teufel im Walde Euer Gnaden den Bart geschoren
haben?“
Der Herr wurde böse auf sie und ließ sie aus-
peitschen. Und von der Zeit an war der Mann mit
seiner Frau zufrieden.

760
69
Lutonjuschka14
Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hat-
ten ein Söhnchen Lutonja. Einmal nun hatten der
Mann und Lutonja auf dem Hofe etwas zu tun, die
Alte aber war im Haus. Sie nahm ein Scheit vom
Holzstoß, es fiel ihr aus der Hand und gerade auf
den Reisighaufen vor dem Ofen; da fing sie an
laut zu schreien und zu jammern. Der Alte hörte
das Geschrei, kam eilig ins Haus gerannt und
fragte die Alte, warum sie schreit. Die Alte sagte
zu ihm unter Tränen:
„Denk nur, wenn wir unseren Lutonja verheira-
tet hätten, und wenn er ein Söhnchen hätte, und
wenn das gerade hier auf dem Reisig gesessen
hätte – ich hätte es ja mit dem Scheit hier er-
schlagen!“
Da jammerte der Alte mit ihr zusammen und
sagte:
„Ja freilich. Alte! Du hättest es erschlagen!…“
Beide schreien, was das Zeug hält. Da kommt
Lutonja vom Hof gelaufen und fragt:
„Warum schreit ihr so?“
Sie sagten warum:

14
Der Name Lutonjuschka enthält eine Anspielung auf ein
Wort, das etwa als „der Findige“ wiedergegeben werden
kann. (Anm. d. Übers.)

761
„Wenn wir dich verheiratet hätten, und du ein
Söhnchen hättest, und wenn das gerade hier ge-
sessen hätte, dann hätte die Alte es mit dem
Holzscheit erschlagen: es ist gerade hierhin gefal-
len, und wie!“
„Nun“, sagte Lutonja, „dann prost Mahlzeit!“
Darauf nahm er seine Mütze in beide Hände
und sagt:
„Lebt wohl! Wenn ich jemanden finde, der
dümmer ist als ihr, dann komme ich zu euch zu-
rück, wenn aber nicht, dann braucht ihr nicht auf
mich zu warten!“
Und ging fort. Ging, ging und sieht: Bauern zer-
ren eine Kuh auf ein Haus hinauf.
„Warum zerrt ihr die Kuh hinauf?“ fragte Luton-
ja.
Sie sagten zu ihm:
„Sieh doch, wieviel Gras dort gewachsen ist!“
„Ach, ihr Erznarren!“ sagte Lutonja, kletterte
kurzerhand auf das Haus, rupfte das Gras und
warf es der Kuh vor. Die Bauern waren fürchter-
lich verwundert hierüber und baten Lutonja, er
solle bei ihnen bleiben und sie unterweisen.
„Nein“, sagte Lutonja, „ich habe noch viel sol-
che Dummköpfe auf der weiten Welt!“
Und zog weiter. In einem Dorf sah er einen
Haufen Bauern an einem Haus: die hatten ein
Kumt ans Tor gebunden und trieben mit Stöcken
ein Pferd in dieses Kumt hinein, quälten es halb
zu Tode.
„Was macht ihr hier?“ fragte Lutonja.

762
„Sieh nur, Väterchen, wir wollen das Pferd an-
schirren.“
„Ach, ihr Erznarren! Laßt mich mal machen!“
Er legte dem Pferd kurzerhand das Kumt an.
Auch diese Bauern waren über ihn höchst ver-
wundert, hielten ihn fest und baten ihn inständig,
er solle wenigstens für eine kurze Woche bei ih-
nen bleiben. Nein, Lutonja zog weiter.
Er ging, ging, wurde müde und kehrte in einem
Gasthaus ein. Dort sah er: die Wirtin hatte Mehl-
brei gekocht, ihn ihren Kindern auf den Tisch ge-
stellt, geht aber selber in einem fort mit dem Löf-
fel nach Sahne in den Keller.
„Warum reißt du für nichts und wieder nichts
deine Bastschuhe herunter, Alte?“ sagte Lutonja.
„Was heißt warum?“ wandte die Alte mit heise-
rer Stimme ein. „Du siehst doch, Väterchen, der
Mehlbrei steht auf dem Tisch, die Sahne aber ist
im Keller!“
„Du solltest die Sahne ganz einfach hierher
bringen. Alte, und die Sache ginge wie ge-
schmiert!“
„Na aber natürlich, mein Bester!“
Sie brachte die Sahne in die Stube und setzte
Lutonja neben sich. Lutonja aß sich satt, kletterte
auf den Hängeboden und schlief ein. Wenn er
wieder munter wird, geht auch mein Märchen wei-
ter, für jetzt ist es erst einmal aus.

763
70
Mikola Duplenski
Ein Bauer liebte die Jagd, und seine Frau liebte
den Diakon; er merkte’s und sagte:
„Frau, ich habe im Walde einen Mikola Du-
plenski15 gefunden, worum man ihn bittet, das
gibt er einem.“
Zum nächsten Tag hatte die Frau Kuchen und
Brötchen gebacken und ging auf einem weiten
Umweg in den Wald; ihr Mann aber ging den ge-
raden Weg; dort stand ein großer Baum – er klet-
terte in den hohlen Stamm.
Sie kam und begann zu beten:
„Mikola Duplenski, wenn doch mein Mann taub
würde!“
Und ihr Mann im Baum:
„Lege Brötchen und Kuchen hierher! Wenn du
nach Hause kommst, ist er taub.“
Die Frau legte die Sachen hin und ging nach
Hause, wieder auf dem Umweg; der Bauer ging
den geraden Weg und kletterte auf den Hängebo-
gen. Die Frau kam – er ist auf dem Hängeboden.
Sie fing irgend etwas zu reden an.
„Was sagst du, Frau? Ich höre nichts!“
15
Ein auf wunderbare Weise „in einem hohlen Baum-
stamm“ erschienenes Heiligenbild „Mikolas“ des Wundertä-
ters. (Anm. d. Übers.: „Duplenski“ von duplo, „hohle Stelle
im Baumstamm“ abgeleitet.)

764
„Bleib nur immer liegen, wenn du nichts hörst,
hast ja, was du brauchst!“
Zum nächsten Tag buk sie wieder Brötchen und
Kuchen und zog wieder auf dem Umweg los, ihr
Mann aber auf dem geraden Weg und kletterte in
den hohlen Stamm.
Die Frau kam und begann wieder zu beten:
„Mikola Duplenski, wenn doch mein Mann blind
würde!“
„Leg Brötchen und Kuchen her! Wenn du nach
Hause kommst, ist er blind.“
Die Frau legte die Sachen hin. Der Mann nahm
Brötchen und Kuchen, ging geradenwegs nach
Hause und kletterte auf den Hängeboden. Die
Frau kam, er sagt:
„Frau, wie kommt es, daß ich heute nichts höre
und sehe?“
„Bleib nur immer liegen, wenn du nichts hörst
und siehst, hast ja, was du brauchst!“
Nun, und jetzt lud sie den Diakon ein; kochte
fleißig, buk Pfannkuchen, holte Wein – und bewir-
tete ihn.
„Diakon“, sagt sie, „iß die Pfannkuchen schön
langsam – du erstickst sonst!“
Und ihr Mann auf dem Hängeboden:
„Frau, gib mir mal mein Gewehr! Wenn ich’s
ansehe, ist mir nicht mehr so langweilig.“
Sie gab’s ihm.
Der Wein ging ihr aus – es war zu wenig; sie
rannte fort. Wein zu holen. Der Bauer zielte auf
den Diakon – bautz! Der Diakon fiel vom Stuhl. Er
kletterte herunter, schnell zum Tisch, besah ihn

765
sich – und setzte ihn hin; stopfte ihm den Mund
voller Pfannkuchen und kletterte wieder auf den
Hängeboden. Der sitzt da und hat sein großes
Maul offen! Die Frau kam:
„Was ist dir, Diakon! Ich habe dir doch gleich
gesagt: iß die Pfannkuchen schön langsam, du
erstickst sonst – nun ist er erstickt!“
Der Bauer sprang vom Hängeboden herunter
und begann seine Frau zu verprügeln: prügelte sie
mit dem Riemen und was ihm in die Hände kam…
Den Diakon packte er – trug ihn zum Popen… die
Arme zwängte er ihm in den Ring am Tor und
band einen Strick an den Ring; dann stellte er
sich in einen Winkel und zog an dem Strick, um
Einlaß zu klopfen; der Pope kam heraus: „Welcher
Christenmensch ist da?“ Er schweigt. Der Pope
ging weg, machte das Tor nicht auf.
Der Jäger zieht wieder am Strick – klopft wieder
um Einlaß… Der Pope kam mit einem Buch her-
aus: las und las, machte das Tor auf, und der Dia-
kon fiel dem Popen zu Füßen.
Der Bauer kam hervorgesprungen:
„Du hast den Diakon umgebracht!“
„Hier hast du hundert Rubel und schaff ihn fort,
sag niemandem etwas!“
Der Bauer packte den Diakon und trug ihn ans
Ufer; Bauern fischen gerade mit Netzen, und er
trug ihn etwas höher flußaufwärts. Fand ein Boot,
setzte den Diakon in das Boot und schob ihm das
Ruder unters Hemd… Der Diakon zieht das Ruder,
die Bauern schreien:
„Diakon fahre nicht in die Netze…“

766
Der Diakon mitten in die Netze hinein… Die
Bauern fluchen gottsjämmerlich, aber der Diakon
fährt mitten in die Netze hinein… Ein Bauer setzte
sich in ein Boot und fuhr los. Wie er den Diakon
mit dem Ruder auf die Backe schlägt, fällt der
gleich ins Wasser… Unser Bauer kam hervorge-
sprungen:
„Was hast du gemacht“, sagt er, „hast den Dia-
kon ertränkt!“
„Hier hast du zweihundert Rubel, aber sag’s
niemandem!“
So hatte der Bauer dreihundert Rubel verdient
und ging heim zu seiner Frau. Und von nun an
lebte er herrlich und in Freuden. Sie sind noch
heute am Leben und werden uns überleben.

767
71
Die Alte
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau. Sie konnten nichts, und so hatten sie auch
nichts. Die Alte sitzt da und sagt: „Alter, ich habe
etwas ausgedacht! Die anderen gehen waschen
und helfen Kinder zur Welt bringen, aber ich tau-
ge zu nichts etwas!“ – „Was ist denn mit dir los.
Alte?“ – „Ich habe etwas ausgedacht, weiß nicht,
ob es dir gefällt oder nicht.“ – „Nun, ob mir’s nun
gefällt oder nicht – ich werde doch zuhören.“ –
„Jetzt kommt ein Feiertag – ein Sonntag; wir wol-
len Piroggen backen, einen Hammel schlachten.
Schnaps holen und die jungen Burschen einladen
– ihnen zu trinken und zu essen geben!“
Das machten sie auch. Buken Piroggen, holten
Schnaps und luden die jungen Burschen ein. Sie
hatten getrunken und gegessen und fingen an
Musik zu machen. „Burschen, setzt euch in einen
Kreis, ich will euch was erzählen! Spielt nur immer
zu, aber geht und haltet die Augen offen, wo bei
jemandem etwas schlecht verwahrt ist! Einer soll
spielen und lustig sein, die anderen aber nehmen
und verstecken! Dann kommt ihr und sagt es mir,
und ich werde wahrsagen. Und ich werde Geld
von den Bestohlenen nehmen, und wir können
wieder Schnaps trinken!“ Das war so recht nach
dem Geschmack der Burschen. Sie hatten schön

768
getrunken und gegessen, aber sie wollten noch
mehr. „Was denn“, sagen sie, „es ist doch nicht so
schlimm, sie nehmen’s ja nicht ganz weg!“
So ziehen sie also durchs Dorf und singen Lie-
der, sie lassen aber Säcke mitgehen. Sie kommen
hin. „Nun, Großmütterchen, wir haben sieben
Säcke gestohlen und zwei Kummete!“ – „Und wo-
hin habt ihr sie gelegt?“ – „Dort in das Brachfeld!“
Am Morgen nun erhoben die Weiber ein Geschrei,
und die Männer waren ganz aus dem Häuschen:
„Nein so etwas, ein Diebstahl – Säcke sind ge-
stohlen worden!“ Da kommen die Burschen: „Was
ist los?“ – „Seht nur, Burschen, jemand hat ge-
stohlen!“ – „Wißt ihr, daß hier die alte Salmoneja
ist? Die sagt heimlich wahr und zaubert ein biß-
chen!“ – „Ist das wirklich wahr?“ – „Wirklich wahr!
Ich habe sie wegen meiner Braut wahrsagen las-
sen, es ist haargenau eingetroffen!“
Da rennt der Bauer ins Haus. „Frau, geh mal
zur Salmoneja, sie soll gut wahrsagen!“ Die nahm
ihr Kind und rannte los. „Bei uns haben sie die
Kummete mit den Beschlägen gestohlen und sie-
ben Sack dazu!“ – „Ach, Kindchen, ich habe keine
Lust wahrzusagen!“ – „Ach, Großmütterchen, tu’s
nur, ich zahl dir auch für die Mühe!“ – „Nun, drei
Rubel und ein Pud Getreide, dann will ich dir’s sa-
gen und nicht lügen!“ – „Wenn wir’s nur finden,
dann soll mir nichts zu teuer sein!“
Sie goß Wasser in eine Schüssel, geht hin und
her, sieht immer darauf und sagt: „Eure Säcke
und Kummete liegen in diesem Brachfeld!“ Die
Bäuerin rannte nach Hause: „Großmütterchen

769
Salmoneja sagt, unsere Säcke liegen unversehrt
dort und dort!“ Der Bauer rannte hin, alle sind
unversehrt, liegen noch da. Er kommt gerannt,
das Pferd holen. „Es ist wahr, sie hat’s richtig ge-
sagt! Nun, Frau, halt den Mund, erzähle nieman-
dem etwas!“
Er holte die Säcke zurück und brachte ihr ein
Pud Mehl und drei Rubel.
Die jungen Kerle kommen am anderen Sonntag
wieder, trinken und haben auch etwas Schönes zu
essen. Sie singen und spielen, tanzen und führen
nichts im Schilde. Ein Bauernlümmel band sein
Pferd vorn am Hause an, die aber zogen’s weg
und führten’s in den Wald. Später rennt der hin
und her, das Pferd ist fort. Das tat dem leid, bei
dem sie schon gestohlen hatten – er kam gerannt
und erzählte: „Iwan, Iwan, ich habe dort wahrsa-
gen lassen. Ach, wie gut Großmütterchen Salmo-
nida wahrsagt.“
Der Bauer rennt gleich zu diesem Großmütter-
chen Salmonida. Kommt hin. „Großmütterchen
Salmonida, kennst du schon mein ganzes Un-
glück?“ – „Ich weiß, ich weiß, habe davon ge-
hört!“
„Hilf!“ – „Ja, ich kann helfen!“ – „Was willst du
von mir haben?“ – „Einen Hammel!“ – „Ach, wenn
ich nur das Pferd finde, um einen Hammel ist
mir’s nicht leid, ich lege noch für einen Schnaps
drauf!“ Sie gießt Wasser in die Schüssel, geht im
Kreis herum und sieht auf die Schüssel. Sie sagt:
„Sie wollen das Pferd dir stehlen, und kriegen sich
an die Kehlen – du wirst sie gleich erwischen!“ Er

770
rennt dorthin, dort waren aber Schafhirten auf der
Weide, die rannten ihren Schafen nach, er aber
dachte, sie rennen zu seinem Pferd. Kam hin, sein
Pferd steht angebunden da. Er band das Pferd los
und ritt heim. „Ach, Frau, das ist eine Wahrsage-
rin! Wie kommt’s, daß wir nichts von ihr wußten?“
– „Ja, eine Wahrsagerin, ich habe so etwas läuten
hören, daß sie heimlich zaubert.“
„Ja, Frau, man darf nicht allen die Wahrheit sa-
gen – sie könnten sie ja erschlagen!“
Die Alte wurde eine große Wahrsagerin und
wurde in allen Gouvernements berühmt. Einmal
nun wurde beim Zaren gestohlen. Da sagen die
Leute: „Diese Alte wahrsagt doch!“ Sogleich ließ
der Zar das Pferd einspannen und schickt den
Kutscher nach ihr.
Sein Geld aber hatten das Stubenmädchen und
der Lakai fortgeschafft, dazu der Koch. Und sie
hatten’s kurzerhand im Pferdestall versteckt.
Sie kommt zum Zaren. „Wie steht’s. Alte,
bürgst du dafür, daß du’s herausbekommst?“ –
„Mal sehen, was die Bücher sagen, ich lese doch
in den Büchern nach.“ – „Und wann wird es soweit
sein?“ – „Ich werde in der Nacht nachlesen.“ Die
Alte konnte nirgendshin entfliehen, sie mußte sich
irgendwie herauslügen. Der Lakai und die Köchin
ließen den Kopf hängen und jammerten: „Wo ha-
ben sie diesen Satan her?“ Die Köchin sagt: „Ach
warte nur, was Gott uns beschert. Können wir
nicht vorher mit ihr ins reine kommen?“ Nun, der
Lakai sagt: „Warte noch, dich zu verraten, wir
wollen sie uns morgen früh einmal ansehen!“

771
Sie machte ihr Buch auf und betete. „Ich will
wenigstens kurz vor meinem Tode noch einmal
beten!“ Dort aber steht einer von ihnen und
lauscht, was sie sagen wird. Auf einmal begann
der Hahn zu krähen. Sie sagte: „Das ist der er-
ste!“ Der kam zu seinen Spießgesellen gerannt:
„Sie hat’s herausbekommen, daß ich dastehe!“ Ein
anderer macht sich dorthin auf den Weg. Sie
stand und stand – der zweite Hahn fängt an zu
krähen. „Gepriesen seist du Herr, auch der zweite
ist da!“ Der machte sich auf und davon. „Nun, wie
steht’s dort?“ – „Sie hat’s herausbekommen!“
Auch den dritten plagt die Neugier zu gehen
und zu lauschen, und der Hahn schreit zum drit-
tenmal. „Nun, gepriesen seist du, Herr, der dritte
ist da – jetzt ist es für mich an der Zeit, schlafen
zu gehen!“ Sie sieht sie nicht, hat aber bis zur
dritten Stunde zu Gott gebetet, und die dachten:
sie hat’s herausbekommen.
„Nun, was sollen wir jetzt machen?“ denken sie
bei sich. „Nun, wir wollen zu ihr gehen.“ – „Nein“,
sagt der Lakai, „nicht hingehen, wir schaden uns
selber damit!“ Der Zar hatte ihnen eine Ente ge-
geben, der Lakai fing eine Krähe dazu. „Die will
ich ihr braten, ob sie’s merkt oder nicht.“ Er briet
also die Ente und die Krähe. Dann setzt er ihr die
Krähe vor. „Komm essen, gute Frau, Väterchen
Zar hat dir ein Essen kochen lassen!“
Sie ging ins Haus des Zaren und sieht sich die
Wände an, was für schön verzierte Wände dort
sind. Und der Lakai hatte ihr aufgetragen und sich
unter die Tür gestellt. Sie steht da und sagt: „Ach

772
Krähe, Krähe, in was für einen Palast bist du ge-
flogen!“ Der Lakai kam schleunigst hervorge-
sprungen: „Warte, gute Frau, ich hab mich geirrt,
habe dir nicht das richtige Essen aufgetragen!“
Und rast mit der Krähe davon. Die stehen da:
„Wie steht’s?“ – „Sie hat’s gemerkt!“
Der Lakai kommt herbeigerannt – bautz, wirft
er sich ihr zu Füßen. Die Alte reißt die Augen auf:
„Was ist los?“ – „Gute Frau, kannst du uns nicht
aus unserer Not helfen?“ – „Das kann ich!“ Die
Alte wurde lustig, lachte und machte sich guten
Mutes über den Entenbraten her. Aß ein Stück-
chen Entenbraten und wollte ein Schnäpschen ha-
ben. Der Lakai ist froh, ihr gefällig sein zu kön-
nen, und kommt mit einer Flasche angerannt.
„Trink, Großmütterchen, soviel du willst, nur hilf
uns aus der Not!“ – „Ich helfe euch, ich helfe
euch, Kindchen, es wird nichts herauskommen.
Wo ist es denn aber?“ – „Im Pferdestall!“ – „Nun,
ich will so tun, als ginge ich spazieren, du aber
geh voran und zeig mir die Stelle, damit wir uns
etwas ausdenken können, was wir sagen und wie
wir euch herausreden können!“
Der Lakai machte sich also auf den Weg, wartet
auf die Alte, hält Ausschau. Sie kommt so lange
nicht! Das Sprichwort sagt: „Dem Dieb brennt die
Mütze auf dem Kopf!“ Er denkt, sie will es vorher
dem Zaren erzählen. Der Kutscher sagt: „Was
hast du dir denn gedacht: allein zu kommen, du
hättest diese Alte mitbringen sollen!“ Auf einmal
erscheint die Alte. Dem Lakaien wurde froher zu-

773
mute – er erzählte ihr alles und zeigte ihr das
Versteck.
Am Nachmittag nun liegt sie mit vollem Bauch
da und ruht sich aus. Nun, den Zaren verläßt die
Geduld, er wartet nicht, bis sie wieder zu ihm ins
Haus kommt. Er geht zu ihr dorthin. „Nun, wie
ist’s gute Frau; hast du’s herausbekommen?“ –
„Ja, ich hab’s heraus!“ – „Und wer hat das Geld
gestohlen?“ – „Das hast du selber im Schlaf ge-
nommen und dann vergessen; mit dir ist irgend
etwas passiert, du hast es genommen, bist in den
Pferdestall gegangen und hast es im Mist vergra-
ben!“ – „Ja, gute Frau, mich überkommt es
manchmal: irgendeine Mondsucht befällt mich, ich
schlafe, und dann gehe ich im Schlaf weg – ja,
ja!“
Die Alte war froh, wie er ihr diesen Weg gesagt
hatte. „Siehst du, du hast’s dorthin gelegt und
vergessen!“ – „Ach, du meine Güte, wieviele Leu-
te habe ich verdächtigt, und wie haben sie ge-
weint!“ Der Lakai aber steht und lauscht. Rennt
und sagt zu den anderen: „Die Alte hat uns her-
ausgeredet!“ Nein, die Diener haben keine Hoff-
nung, sondern erwarten alle den Tod: sie leben ja
nicht bei einem Bauern, sondern ja beim Zaren.
Und die Zarin schimpft auch auf den Zaren. Die
Diener tun ihr leid, sie hat sie dorthin gerufen.
Der Koch sagt: „Jetzt ist für uns Amen!“ Nein, der
Lakai hatte gelauscht und sagt: „Sie hat uns her-
ausgeredet!“ Sie kommen ins Haus, und sie steht
bei ihm. Die Zarin sagt: „Los, prügelt den Zaren!“
Die Diener schrien: „Was? Weswegen!?“ – „Unse-

774
ren Zaren hat die Mondsucht befallen. Wir haben
ihm doch die Wahrheit gesagt, daß bei uns nie-
mand stiehlt; ist das denn überhaupt denkbar,
dem Zaren etwas unter dem Kopfkissen wegzu-
nehmen und fortzutragen? Es ist doch ganz klar,
daß er selber es fortgetragen hat!“ Der Kutscher
sagt: „Und die Herrin hat es gleich gesagt!“
Danach begibt sich die Alte nach Hause, er hat
ihr alles mögliche für ihre Arbeit gegeben. Ihr Al-
ter aber erwartete sie schon nicht mehr lebend
zurück. Begrüßt sie, freut sich. „Wie war’s dort,
Alte?“ – „Habe alle herausgeredet!“ – “Alle, und
bist selber noch am Leben?“ – „Und bin selber
noch am Leben. Aber das ist eine üble Sache. Was
können wir aussinnen, diese Arbeit aufzugeben?“
Der Alte sagt: „Wenn du dich nur dort herausge-
redet hast, hier habe ich etwas ausgedacht.“ –
„Und was brauchen wir jetzt noch, wir sind auch
so schon reich geworden.“ – „Ja, komm. Alte, wir
wollen unser altes Zeug verbrennen und alle
Schuld darauf schieben.“ Weil sie das Wahrsagen
überhatte, sagte sie: „Das Wahrsagebuch ist ver-
brannt!“ Die Alte sagt dann: „Ich brauche jetzt
nicht wahrzusagen, ich kann jetzt von diesem
Reichtum leben.“ Und so schlugen sie alles ab. Sie
leben noch heute, herrlich und in Freuden. Ich
war bei ihm und ihr, trank Honigbier, es ist auf die
Brust geronnen, der Mund hat nichts abbekom-
men. Und der Alte ist so geradezu! Lustige Leute.
Jetzt ist die Geschichte aus!

775
72
Das kluge Mädchen
Es lebten einmal zwei Brüder: der eine arm, der
andere angesehen und reich; jeder von beiden
hatte ein Pferd: der Arme eine Stute, der Angese-
hene und Reiche einen Wallach. Einmal hatten sie
zur Nacht nebeneinander haltgemacht. Die Stute
des Armen warf in der Nacht ein Füllen; das Füllen
rollte unter den Wagen des Reichen. Der weckt
am Morgen den Armen: „Steh auf, Bruder, mein
Wagen hat in der Nacht ein Füllen geboren!“ Der
Bruder steht auf und sagt: „Wie kann ein Wagen
ein Füllen gebären! Das hat meine Stute gewor-
fen!“ Der Reiche sagt: „Wenn deine Stute es ge-
worfen hätte, wäre das Füllen bei ihr!“ Sie stritten
eine Weile und gingen dann zum Gericht; der An-
gesehene und Reiche besticht die Richter mit
Geld, der Arme aber rechtfertigt sich mit Worten.
Die Sache kam bis vor den Zaren. Der ließ die
beiden Brüder kommen und gab ihnen vier Rätsel
auf: „Was ist am stärksten und schnellsten auf
der Welt? Was ist am fettesten auf der Welt? Was
am weichsten? Und was am lieblichsten?“ Und er
gab ihnen drei Tage Zeit: „Kommt am vierten Tag
wieder und gebt Antwort!“
Der Reiche überlegte und überlegte, er erinner-
te sich seiner Gevatterin und ging zu ihr, sie um
Rat zu bitten. Sie setzte ihn an den Tisch, bewir-

776
tete ihn und fragt: „Warum so traurig, Gevatter-
chen?“ – „Der Zar hat mir vier Rätsel aufgegeben
und nur drei Tage Zeit gelassen.“ – „Was ist es
denn? Sag mir’s!“ – „Folgendes, Gevatterin: das
erste Rätsel – was ist am stärksten und schnell-
sten auf der Welt?“ – „Was für ein Rätsel! Mein
Mann hat eine braune Stute; nichts ist schneller
als die: versetzt du ihr eins mit der Knute, holt sie
einen Hasen ein.“ – „Das zweite Rätsel, was ist
am fettesten?“ – „Wir füttern das zweite Jahr ei-
nen verschnittenen Eber; der ist so fett geworden,
daß er sich nicht mehr auf seine Beine stellen
kann!“ – „Das dritte Rätsel: was ist am weichsten
auf der Welt?“ – „Das ist doch klar – ein Daunen-
bett, etwas Weicheres kann man sich nicht aus-
denken!“ – „Viertes Rätsel: was ist am lieblichsten
auf der Welt?“ – „Am lieblichsten ist mein Enkel
Iwanuschka!“ – „Habe Dank, Gevatterin! Du hast
mir gut geraten, ich werde’s mein Lebtag nicht
vergessen.“
Der arme Bruder aber vergoß bittere Tränen,
ging nach Hause, da begegnet ihm seine sieben-
jährige Tochter (das war die ganze Familie, daß er
die eine Tochter hatte). „Warum seufzt du so, Vä-
terchen, und vergießt Tränen?“ – „Wie soll ich
nicht seufzen, wie soll ich nicht Tränen vergießen?
Der Zar hat mir vier Rätsel aufgegeben, die ich im
ganzen Leben nicht herausbekomme.“ – „Sag mir,
was sind es für Rätsel?“ – „Folgende, Töchter-
chen: Was ist am stärksten und schnellsten auf
der ganzen Welt, was am fettesten, was am
weichsten und was am lieblichsten?“ – „Geh, Vä-

777
terchen, und sag dem Zaren: Am stärksten und
schnellsten ist der Wind; am fettesten die Erde:
was auch immer wächst, was auch immer lebt –
die Erde nährt’s! Am weichsten ist die Hand: wor-
auf sich der Mensch auch legt, immer legt er seine
Hand unter den Kopf; und etwas Lieblicheres als
den Schlaf gibt es auf der ganzen Welt nicht!“
Beide Brüder kamen wieder zum Zaren: der rei-
che und der arme. Der Zar hörte sie an und fragt
den Armen: „Bist du selber draufgekommen, oder
hat’s dich jemand gelehrt?“ Der Arme antwortet:
„Eure Kaiserliche Majestät! Ich habe eine sieben-
jährige Tochter, die hat’s mich gelehrt.“ – „Wenn
deine Tochter so klug ist, so habe ich hier einen
Seidenfaden für sie; sie soll mir bis morgen früh
ein gemustertes Handtuch draus weben!“ Der
Bauer nahm den Seidenfaden und kommt traurig
und bekümmert nach Hause: „Wir haben kein
Glück!“ sagt er zu seiner Tochter, „der Zar hat be-
fohlen, aus diesem Faden ein Handtuch zu we-
ben.“ – „Sei nicht traurig, Väterchen“, antwortete
die Siebenjährige, brach eine Rute aus dem Be-
sen, gibt sie dem Vater und trägt ihm auf: „Geh
zum Zaren und sage, er soll einen Meister finden,
der aus dieser Rute einen Webstuhl machen kann:
damit man weiß, worauf man das Handtuch we-
ben soll!“ Der Bauer meldete dies dem Zar. Der
Zar gibt ihm anderthalbhundert Eier: „Gib sie dei-
ner Tochter“, sagt er, „sie soll mir zum Morgen
anderthalbhundert Kücken ausbrüten!“
Der Bauer kehrte noch trauriger, noch beküm-
merter nach Hause zurück: „Ach, Töchterchen!

778
Einem Unglück weicht man aus, das andere sitzt
einem schon auf dem Nacken!“ – „Sei nicht trau-
rig, Väterchen!“, antwortete die Siebenjährige,
buk die Eier und hob sie fürs Mittagessen und fürs
Abendbrot auf, den Vater aber schickt sie zum Za-
ren: „Sage ihm, die Kücken brauchen Eintagshirse
zum Futter: es muß an einem Tag das Feld ge-
pflügt, die Hirse gesät, geschnitten und gedro-
schen werden; andere Hirse werden unsere Kük-
ken nicht einmal anpicken!“ Der Zar hörte zu und
sagt: „Wenn deine Tochter so klug ist, soll sie
morgen früh selber bei mir erscheinen – nicht zu
Fuß und nicht zu Pferd, nicht nackt und nicht an-
gezogen, nicht mit einem Geschenk und doch
nicht mit leeren Händen!“ – „Nun“, denkt der
Bauer, „eine so schwere Aufgabe kann auch mei-
ne Tochter nicht lösen; jetzt sind wir ganz verlo-
ren!“ – „Sei nicht traurig, Väterchen!“ sagte die
siebenjährige Tochter zu ihm, „geh zu den Jägern
und kauf mir einen lebenden Hasen und eine le-
bende Wachtel.“ Der Vater ging und kaufte ihr ei-
nen Hasen und eine Wachtel.
Am anderen Morgen warf die Siebenjährige alle
ihre Kleider ab, zog sich ein Netz über, nahm die
Wachtel in die Hand, setzte sich rittlings auf den
Hasen und ritt zum Schloß. Der Zar erwartet sie
am Tor. Sie verneigte sich vor dem Zaren: „Da
hast du ein Geschenk, Zar!“ Und sie hält ihm die
Wachtel hin. Der Zar streckte schon die Hand aus:
die Wachtel schlug mit den Flügeln – und war da-
vongeflogen! „Schön“, sagt der Zar, „wie ich’s be-
fohlen habe, so hast du’s getan. Sage mir nun:

779
dein Vater ist doch arm, was habt ihr denn da zu
essen?“ – „Mein Vater tut auf dem Trocknen Fi-
sche fangen, er läßt die Reuse nicht ins Wasser
hängen, ich trage die Fische im Rocksaum nach
Haus, koche Fischsuppe draus!“ – „Was redest du
da, Närrin! Seit wann leben die Fische auf dem
Trocknen? Fische schwimmen im Wasser!“ – „Und
bist du vielleicht klüger? Wo hat man das gese-
hen, daß ein Wagen ein Füllen geworfen hat?
Nicht der Wagen, die Stute wirft!“ Der Zar sprach
das Füllen dem armen Bauern zu, seine Tochter
aber nahm er zu sich; als die Siebenjährige er-
wachsen war, heiratete er sie, und sie wurde Za-
rin.

780
73
Das vergnügte Kloster
An einer guten Straße stand ein Kloster. Dieses
Kloster wurde von vielen Leuten aufgesucht. Kei-
ner fuhr an diesem Kloster vorbei. Eines schönen
Tages mußte ein Bauer dort entlangfahren. Als
frommer Mann wollte er hineingehen und ein Ge-
bet sprechen. Aber daraus wurde nichts. Das Klo-
stertor war fest verschlossen. Also klopfte er ans
Tor. Er dachte, sie schlafen fest im Kloster. Nun,
wie er auch wartete, es kam niemand.
Da begann er zu lauschen. Es klang bald wie
Kirchenlieder, bald wie Verse oder einfache Lie-
der. „Was soll denn das heißen, die haben ein
Zechgelage? Das ist mir ein vergnügtes Kloster!“
Der Bauer nimmt sein Merkbüchlein aus der Ta-
sche, reißt ein Blatt heraus und schreibt in großen
Buchstaben: „Das vergnügte Kloster.“ Klebte das
Blatt an und fuhr davon.
Nach einer kleinen Weile mußte der Zar diese
Straße entlangfahren. Und er wollte auch im Klo-
ster ein Gebet sprechen. Nur daß ihm dieser Zet-
tel vor Augen kam. „Nanu?“ Erstaunt liest er:
„Das vergnügte Kloster.“ Wie geht das zu, daß sie
keinen Kummer haben? Wo ich den ganzen Staat
regiere, und doch bis zum Hals in Kummer und
Sorgen stecke!“

781
Er geht ins Kloster hinein. Der Pater Abt kommt
ihm mit dem Kreuz entgegen. Der Zar küßte das
Kreuz. „Was heißt denn das, ihr habt also hier ein
vergnügtes Kloster?“ Der Abt wich etwas zurück.
„Was sollen diese Worte des Zaren bedeuten?“ Er
weiß nicht, was er denken soll. Der Zar wiederholt
ihm noch einmal: „Ihr habt also ein vergnügtes
Kloster?“ – „Woher wißt Ihr das?“ fragt der Abt
demütig. „Kommt nur mit und seht’s Euch an:
draußen hängt ein Schild: ,Das vergnügte Klo-
ster’.“
Als der Abt das gesehen hatte, entschuldigte er
sich, irgend jemand hat sich einen gemeinen
Scherz geleistet. „Wir im Kloster können nicht
vergnügt sein.“ Der Zar sagte, das wird schon ei-
nen Grund haben, „gewiß kennt jemand eure Ver-
gnügtheit! Also hör zu, Abt, ich will euch einen
Kummer auferlegen!“ – „Und welchen Kummer
wollt Ihr uns auferlegen?“ – „Ich gebe euch eine
Aufgabe, die ihr mir lösen sollt. Und so sollen alle
Mönche in dieser Woche etwas Kummer haben.
Die erste Aufgabe ist: die Sterne am Himmel zäh-
len; die zweite Aufgabe – ist der Himmel höher
oder das Jenseits weiter, wie man es nennt? Und
dann -schätzt mich, wieviel ich wert bin.“ Damit
stieg er ein und fuhr davon.
Der Abt trägt diesen Kummer zu allen Mönchen.
„Hört, Brüder, der Zar ist gekommen, ein Gebet
zu verrichten, und hat uns statt eines Gebets
Kummer zurückgelassen.“ Die Mönche verstanden
rein gar nichts. „Was ist los, der Pater Abt redet
so unverständliche Dinge! Sag uns doch, Pater

782
Abt, sprichst du die Wahrheit oder nicht?“ – „Hört
zu Brüder, es hat jemand seinen Spott mit uns
getrieben, hat einen Zettel angeklebt. In fetten
Buchstaben ist darauf geschrieben: ‚Das vergnüg-
te Kloster’. Und wegen dieser Aufschrift hat er uns
Kummer zurückgelassen.“ – „Was für welchen
denn?“ – „Er hat uns eine Woche Frist gegeben.
Die Sterne am Himmel zählen ist die erste Aufga-
be, die zweite Aufgabe: feststellen, ob der Himmel
höher oder das Jenseits weiter ist, und die dritte
Aufgabe: den Zaren selber schätzen, was er wert
ist!“ – „Ach du liebe Güte!“ Alle stießen einen
Seufzer aus. „Wie soll denn ein sterblicher Mensch
solche Aufgaben lösen können?“ – „Da gibt’s kein
Aber, denkt nach! Vielleicht findet einer die Lö-
sung!“
Die Zeit war aber kurz. Niemand denkt daran,
die Lösung zu suchen. Sie denken nur daran, daß
der Zar alle hinrichten läßt. Ein Mönch denkt: „Es
ist hin wie her, das Leben ist kurz, da will ich
schon lieber zechen und lustig sein. Ich will doch
ins Wirtshaus gehen, ordentlich eins trinken, da-
mit nur die Zeit recht schnell vergeht, statt mich
zu ängstigen.“
Und er kommt ins Wirtshaus und bestellt eine
Riesenmenge Sachen; der Wirt wundert sich,
„wozu denn eine solche Menge?“ – „Aus Sorge
und Kummer“, sagt der Mönch. Nun saß dort ge-
rade ein ausgemachter Trunkenbold: „Aber, aber,
Pater, was habt Ihr denn für Kummer?“
„Ach sei still, Bruder, ich habe keine Zeit, mit
dir die Zeit zu verschwatzen!“ – „Aber Pater, viel-

783
leicht kann ich dir helfen!“ – „Du wirst mir mit
deiner Wirtshauskunst kaum helfen können. Also
hör zu, Bruder, der Zar hat heute auf der Durch-
fahrt dem Abt und den Mönchen Kummer aufer-
legt. Drei Aufgaben hat er gestellt, und keiner
kann sie lösen.“ – „Und was für Aufgaben waren
das?“ fragt der Trunkenbold. Und der erzählte es
ihm spaßeshalber. „Aber das ist doch eine Kleinig-
keit“, sagt der Trunkenbold. „Das ist sehr einfach,
die kann ich erraten!“
Der Mönch ließ sogar seine Zecherei sein. Er
führte ihn zum Abt, „der wird dich reich beloh-
nen!“ Als er zum Pater Abt kommt, berichtet er
ihm von diesem Trunkenbold. „Hört, Pater Abt, es
hat sich da einer gefunden, der uns aus der Pat-
sche hilft!“ – „Ist das wahr?“ sagt der Pater Abt.
„Ihr könnt ja persönlich mit ihm sprechen.“
Der Pater Abt nimmt diesen Trunkenbold und
führt ihn in sein Zimmer. „Nun also, Bruder, der
Novize hat dir die ganze Geschichte erzählt?“ –
„Ja, ich habe sie mir sehr gut gemerkt!“ – „Nun
also, Bruder, versuch’s, was es kostet, werden wir
bezahlen.“ – „Wozu Bezahlung, ich brauche sie
nicht so dringend. Zuallererst muß ich Eure Abts-
gewänder und Euren Ornat anziehen. Muß mich
doch inzwischen daran gewöhnen, wie ein Abt zu
gehen, denn ich bin – wie Ihr ja wißt – bloß ein
Trunkenbold.“ – „So komm, laß uns beide sogleich
die Kleider wechseln!“
Der Trunkenbold zieht die Kleider des Abts an
und gibt ihm seine abgerissenen. Es hilft nichts,
wenn’s ihm auch unangenehm ist, er muß sie an-

784
ziehen. Als sie sich umgezogen haben, sagt der
Trunkenbold zu ihm: „Pater Abt, laßt mir einige
Lagen Papier bringen!“ – „Und wozu?“ fragt der
Pater Abt. „Das ist meine persönliche Angelegen-
heit. Ich muß doch irgendwie eine Rechnung ma-
chen, die Sterne aufführen, und die Frist ist schon
nah.“
Der Pater Abt trug dem Novizen auf, Papier zu
bringen. Es wurden einige Lagen Papier gebracht,
und er nahm nun den Bleistift und fängt an zu
schreiben. Es gab schon etwas zu schreiben. Er
setzte erst die Überschrift drüber: Berechnung der
Sterne. Und dann schrieb er Zahlen, keine
schwierigen. Hier eine Zwanzig, dort eine Dreißig,
hin und wieder schrieb er auch eine Hundert und
eine Tausend hin, bisweilen auch eine Zwei und
eine Drei. Und so beschrieb er das ganze Papier
mit Zahlen.
Da kommt der Pater Abt zu ihm. „Nun, gelangst
du zum Ende oder nicht?“ fragt er ihn. „Bin schon
fertig“, sagt er. „Und wie hast du das andere aus-
gemessen? Wie weit ist es bis zum Himmel und
bis zum Jenseits?“ – „Das weiß ich schon längst“,
sagt der Trunkenbold. Nun bitte, da war nichts zu
machen.
Die Zeit kommt heran – der festgesetzte Tag
war da. Alle Mönche erwarten voll Ungeduld den
Zaren. Nur der Abt macht sich keinerlei Gedan-
ken; als ginge ihn das alles nichts an. Und plötz-
lich taucht die Kutsche auf. Der Zar kommt mit
aller Pracht gefahren. Der Abt begrüßt ihn mit
dem Kreuz. „Nun, wie steht’s, Pater Abt“, fragt ihn

785
der Zar, „hast du herausbekommen, was ich euch
aufgegeben habe?“ – „Weiß nicht recht“, sagt der
Trunkenbold.
Er setzte den Zaren in einen Sessel, bringt sel-
ber ein paar Lagen Papier und hält sie dem Zaren
hin. „Ihr könnt’s Euch ansehen, Eure Kaiserliche
Majestät!“ Der Zar wühlt in dem Papier herum.
„Was hast du denn hier alles zusammengeschwin-
delt, Pater Abt?“ – „Aber, Eure Kaiserliche Maje-
stät, woran habt Ihr denn gemerkt, daß ich hier
geschwindelt habe?“ – „Natürlich hast du ge-
schwindelt! Nur Zahlen und nochmals Zahlen und
nichts weiter!“ – „Ja, die Summe hab ich Euch
nicht sagen können, wieviele Millionen oder Le-
gionen es dort gibt. Ich habe sie Euch zusam-
mengestellt, aber wenn Ihr’s nicht glaubt, könnt
Ihr selber nachprüfen!“ Den Zaren kam das La-
chen an, wer kann denn die Sterne am Himmel
nachprüfen? „Es stimmt“, sagt er, „die Teile sind
richtig. Ihr habt sie gezählt! Nun, und wie ist’s mit
der zweiten Aufgabe? Habt Ihr herausbekommen,
ob das Jenseits weiter oder der Himmel höher
ist?“ – „Das habe ich schon gewußt!“ – „Nun
und?“ – „Am Himmel höre ich es immer bumsen
und krachen, aber bis zum Jenseits muß es weit
sein. Mein Vater ist schon vor fünfundzwanzig
Jahren nach dem Jenseits abgefahren und ist bis
heute noch nicht dort. Also ist das Jenseits viel
weiter!“ – „Das gilt aber nicht“, sagt der Zar, „das
muß man doch alles wirklich wissen!“ – „Stellt es
nur selber fest, vielleicht glaubt Ihr mir dann“,
sagt der Pater Abt.

786
Dem Zaren machte auch das Spaß – er hatte
eine richtige Erklärung gefunden. „Nun, wie
steht’s jetzt mit der dritten Aufgabe: habt Ihr
mich geschätzt?“ – „Ja, Eure Kaiserliche Majestät,
Ihr seid neunundzwanzig Rubel wert!“ – „Was
heißt das, was fällt dir ein? Auf welche Weise hast
du mich so geschätzt? Wo doch ein einfacher Ta-
gelöhner dreißig Rubel im Monat bekommt!“ –
„Sehr einfach“, sagt dieser Abt. „Nun, und wie
beweist Ihr’s?“ – „Unser himmlischer Herr ist für
dreißig Silberlinge verkauft worden. Ihr aber seid
ein irdischer Herr – um einen Rubel müßt ihr billi-
ger sein!“
Der Zar lachte und sagte nichts. „Jetzt ratet
einmal, was ich im stillen denke?“ fragt der Zar.
„Auch das habe ich erraten!“ – „Und was?“ – „Ihr
denkt: ist doch ein tüchtiger Kerl, der Abt des
Klosters! Und da habt Ihr Euch geirrt!“ – „Wie
das?“ – „Dieser tüchtige Kerl – das ist nicht der
Abt, sondern ein Trunkenbold aus Wirtshaus und
Schenke!“
Nanu? Es gab Fragen und Verhöre. Nun, und
man bekam heraus, daß der Abt selber nichts
gemacht hatte, sondern erklärt hatte alles der
Trunkenbold in Abtskleidern. Da wurde der Trun-
kenbold als Klosterabt belassen, der Abt aber
wurde fortgeschickt in die Wirtshäuser und
Schenken.

787
74
Kirik
Es lebte einmal ein armer, alter Mann mit seiner
Frau.
Dem Alten starb die Frau.
Da ging er zum Popen:
„Väterchen, meine Frau muß begraben wer-
den!“
„Halte Geld bereit!“
Kirik ging fort, er hatte kein Geld.
„Ich werde ihr einfach selber ein Grab schaufeln
und sie heimlich begraben.“
Er schaufelte ihr ein Grab, schaufelte bis zum
Boden.
Er ist fertig mit Schaufeln, da steht ein Topf mit
Gold da. Kirik nahm das Geld und ist halbtot vor
Freude. „Jetzt hab ich Geld, die Frau zu begra-
ben!“
Er kommt zum Väterchen:
„Väterchen, wir wollen meine Alte begraben!“
„Hast du Geld?“
„Ja, Väterchen, ja!“
„Dann mach alles fertig zum Begräbnis!“
Da kaufte Kirik Bretter für den Sarg, mietete
Totengräber und Sargträger, kaufte Kerzen und
holte die Heiligenbilder und den Popen, seine Frau
hinauszutragen.

788
Und da hast du’s – die Popin wundert sich, wo-
her Kirik denn das Geld hat.
Sie sagt:
„Väterchen, er kommt zur Messe, sag ihm, er
soll beichten!“
Der sagte ihm, er soll beichten. Nun, einesteils
ist Kirik froh. Der Pope kommt mit dem Kreuz
heraus, Kirik die Beichte abzunehmen. Er beichte-
te und bereute seine Sünden. Er sagt:
„Kirik, woher hast du das Geld?“
„Väterchen, ich habe das Grab geschaufelt, fürs
Begräbnis, und habe im Grab einen Topf heraus-
geschaufelt.“
Da hast du’s – er kommt nach Hause zum Müt-
terchen und erzählt:
„Er hat im Grab einen Topf herausgeschaufelt.“
„Weißt du was, wir haben doch das Ochsenfell,
an dem ist noch alles daran, Hörner und Schwanz.
Jetzt ist gleich Abend, zieh du dieses Fell über und
geh zu ihm hin!“
Der Pope zog also das Fell über und ging zu ihm
hin. Kommt ans Fenster:
„Kirik, Kirik, gib mir mein Geld wieder!“
Kirik erschrak, kletterte auf den Ofen und ließ
sich nicht blicken. Um zwölf krähten die Hähne,
und der Pope ging fort.
Am ändern Tag zieht sich der Pope wieder ge-
nauso an, kommt zum Fenster und sagt wieder:
„Kirik, Kirik, gib mir mein Geld wieder!“
Kirik hält es nicht aus, ist erschrocken, ganz
außer sich – sieht den Teufel mit den Hörnern vor
dem Fenster. Steht da und betet zu Gott. Da hast

789
du’s – um zwölf krähten die Hähne, und der Pope
ging wieder fort.
Am dritten Tag zieht sich der Pope wieder ge-
nauso an und geht. Kirik erschrak sehr – er hält
es nicht mehr aus. Hält den Topf mit dem Geld
hin – und sah den Bösen mit den Hörnern. So
fürchterlich war ihm zumute, daß er zu Hause
keine Ruhe hatte. Der Pope kommt mit dem Geld
nach Hause, die Popin wartet schon auf ihn. Sie
nahm ihm auf dem Hof den Topf ab und schleppte
ihn ins Haus, in einen Winkel. Sie stellten ihn im
Haus auf den Tisch, da klebten ihre Hände fest.
Sie zerren hierhin und dorthin – ihre Hände gehen
nicht ab. Sie schickte den Knecht, Kirik zu holen.
„Kirik, verzeih!“
Kirik nahm den Topf und verzieh ihnen. Doch
das Fell ging von dem Popen nicht ab, war ange-
trocknet. Da kletterte der Pope auf den Ofen, liegt
einen Tag, liegt zwei und liegt schon sechs Wo-
chen. Die Leute aber verlangen immer nach dem
Popen. Sie antworten nur, er ist krank. Bekannte
kommen zu ihm, um sich zu verabschieden, man
läßt sie nicht zu ihm. Nun, es half aber nichts, wie
sehr sie es auch verheimlichen wollten, der Pope
mußte angezeigt werden. Er wurde also angezeigt
und zu zwölf Jahren verurteilt: einer mußte ihn
führen, der andere von hinten antreiben. Sechs
Jahre führten sie ihn bettelnd herum, da starb der
Pope. Geld brauchte er nun nicht mehr.

790
75
Wie ein Pope seine Knechte plagte
In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar in
dem, in dem wir wohnen, lebte einmal ein Bauer.
Der hatte drei Söhne – zwei kluge, und der dritte
war ein Dummkopf. Sie waren sehr arm. Der Va-
ter schickt seine Söhne fort: „Geht wenigstens
einer als Knecht, zu Hause ist nichts zu tun!“ Die
Söhne kamen zusammen, weder der eine noch
der andere hat Lust, als Knecht zu arbeiten. Sie
berieten und beschlossen, das Los zu werfen, wer
Knecht werden soll. Sie warfen das Los, und es
traf den ältesten Bruder, Knecht zu werden. Der
älteste Bruder fragte herum und machte sich dann
auf den Weg. Wurde Knecht bei einem Popen. Der
gab ihm fast überhaupt nichts zu essen und ließ
ihn den Winter über hungern. Der Älteste ging
fort. Im nächsten Jahr ging der mittlere Bruder zu
dem Popen und starb auch beinahe Hungers. Die
Reihe kam an den kleinsten Bruder, Iwan den
Dummkopf. Er packte seine Sachen und machte
sich auf den Weg. Kommt aus dem Haus – da be-
gegnet ihm der Pope. „Willst du weit fort, guter
Mann?“ fragt der Pope. „Ich will mir Arbeit su-
chen“, sagt er. „Nun, verdinge dich zu mir als
Knecht!“ – „Nimm mich!“ sagt er. „Wieviel gibst
du?“ – „Hundert Rubel gebe ich für den Winter!“ –
„Nun, wenn du hundert Rubel gibst, will ich bei dir

791
bleiben!“ sagt er. „Nun, wenn du bleiben willst,
dann steig auf den Schlitten, wir wollen zu mir
fahren!“ Sie stiegen auf den Schlitten und mach-
ten sich auf den Weg zum Popen. Kamen zum Po-
pen. Der Pope gab ihm Tee zu trinken und Abend-
brot zu essen. „Leg dich schlafen!“ sagt er.
„Morgen früh müssen wir nach Heu fahren.“ Am
Morgen weckt der Pope den Knecht noch mitten in
der Nacht: „Steh auf, wir müssen fahren!“ Er
selbst trank sich an Tee satt, frühstückte ordent-
lich, dem Knecht aber gibt er nichts zu essen auf
den Weg. Der Knecht spannte zwei Pferde an.
„Nun, steig auf, Väterchen! Fahren wir!“ sagt er.
Sie stiegen auf und fuhren los. Kamen hinaus aufs
freie Feld. „Väterchen“, sagt er, „ich habe die
Stricke vergessen! Wie sollen wir jetzt das Heu
festbinden!“ – „Ach, du komischer Kauz. Nur gut,
daß wir so bald dran gedacht haben! Lauf, ich
warte hier!“ Iwan der Dummkopf kam zur Popin
gerannt. „Mütterchen, gib mir schnell einen Lachs
und eine Flasche Wein! Der Pope hat’s befohlen!“
Die Popin gab’s ihm sogleich. Der Knecht rannte
wieder los. „Hier sind die Stricke, Väterchen! Jetzt
können wir das Heu festbinden.“ Sie fuhren an die
vierzig Werst, beluden den Schlitten, banden’s
fest. Machten sich auf den Heimweg – es wurde
schon dunkel, bis nach Hause waren es aber noch
an die vierzig Werst zu fahren. Iwan der Dumm-
kopf sitzt auf der Fuhre, trinkt aus der Flasche
und ißt Lachs. Der Pope sagt zu Iwan dem
Dummkopf: „Wanja, paß auf. Rechts geht ein Weg
ab, daß das Pferd nicht etwa auf diesen Weg ab-

792
biegt. Ich will ein wenig schlafen.“ – „Ist gut, Vä-
terchen, fahr nur zu! Ich werde auf diesen Weg
schon aufpassen.“ Wanja fährt und paßt auf die-
sen Weg auf. Er sah diesen Weg, sprang von der
Fuhre herunter und führte das Pferd seitwärts auf
den Weg, den sie nicht fahren durften. Sie fuhren
an die fünfzehn Werst auf diesem Weg. Dann
wachte der Pope auf. Sah sich die Gegend an und
merkt, daß sie in der falschen Richtung fahren!
„Wanja, wir fahren doch falsch!“ – „Woher soll ich
wissen“, sagt der, „was richtig und was falsch ist!
Du sitzt doch vorn, und ich hinter dir!“ – „Ach,
Wanja! Ich habe dir doch aufgetragen, paß auf,
rechts geht ein Weg ab, und du bist gerade in ihn
eingebogen!“ – „So ist’s richtig, sitzt selber vorn,
und ich bin eingebogen!“ – „Nun läßt sich ja nichts
mehr ändern, Wanja! Jetzt müssen wir schon die-
sen Weg fahren. Nicht weit von hier muß ein Dorf
sein, darin müssen wir übernachten.“ So fuhren
sie also in der gleichen Richtung weiter. Sie kom-
men in ein Dorf. Der Pope schickt den Knecht:
„Geh und bitte den und den Bauern um ein Nacht-
lager!“
Der Knecht lief zur Tür. Sieht, die Tür ist ver-
schlossen. Sogleich kam die Frau heraus und
machte die Tür auf. Der Knecht trat ein und bittet
den Bauern: „Laß uns bitte übernachten, den Po-
pen und mich!“ – „Herzlich gern“, sagen sie,
„bleibt nur!“ – „Ich wollte euch noch bitten, gebt
dem Popen kein Abendessen; gebt ihr ihm etwas,
treibt er es noch weit schlimmer. Laßt ein Wort
davon fallen, aber fordert ihn nicht weiter zum

793
Setzen auf, wenn ihr ihn aber an den Tisch setzt,
dann beschwert euch nicht, wenn er es schlimm
treibt!“ – „Nun, es ist gut!“ Der Knecht spannte
die Pferde aus und stellte sie neben den Schlitten.
Sie gingen hinein und zogen sich aus, der Pope
und der Knecht. „Ihr wollt wohl nichts zu Abend
essen, Väterchen!“ Der Pope gibt nichts zur Ant-
wort, der Knecht aber, nicht faul, setzt sich
sogleich an den Tisch. Der Knecht aß zu Abend,
wie es sich gehörte, dem Popen aber war es pein-
lich, sich hinzuzusetzen, sie hatten nur so dahin-
geredet, fordern ihn aber nicht weiter zum Setzen
auf; und er hat solchen Hunger. Der Knecht hatte
also gegessen und kletterte auf den Hängeboden,
und der Pope ihm nach. Der Knecht fing an zu
schnarchen, der Pope aber kann nicht schlafen. Er
stößt den Knecht in die Seite: „Knecht, ich habe
doch Hunger!“ – „Ach, da soll doch gleich, du zot-
tiges Gespenst! Sie haben dich aufgefordert, dich
an den Tisch zu setzen, und du hast dich nicht ge-
setzt. Bist doch nicht zu Hause, wo die Popin dich
an den Händen zum Tisch führt. Geh, ich habe bei
der Bäuerin einen Topf mit Brei stehen sehen, geh
und iß!“ Der Pope kletterte vom Hängeboden her-
unter und fand den Topf. „Knecht“, sagt er, womit
soll ich den Brei essen? Ich kann keinen Löffel fin-
den“, sagt er. „Ach du zottiger Teufel, was bist du
für ein Quälgeist! Zu essen hat man ihm gegeben,
und auch dann gibt er noch keine Ruhe! Kremple
die Ärmel hoch und iß so!“ Der Pope fuhr mit den
Händen hinein und verbrannte sich; dort war aber
kein Brei drin, sondern Pech. Und so kam er wie-

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der mit dem Topf gerannt: „Knecht ich kriege die
Hände nicht wieder heraus!“ Der Knecht sagt:
„Ach, da hat man mir aber ein zottiges Gespenst
aufgebunden! Die ganze Nacht gibst du keine Ru-
he mit deinem Brei!“ Die Nacht war mondhell.
„Dort“, sagt er, „an der Schwelle liegt ein Wetz-
stein, schlag mit dem Topf dagegen, dann kannst
du die Hände herausziehen!“ Der Pope nahm An-
lauf und wuchtete gegen diesen Wetzstein. Es war
aber kein Wetzstein, was dort lag, sondern der
kahlköpfige Bauer schlief dort. Der Pope hatte ge-
gen seine Glatze geschlagen. Der Bauer brüllte
auf, der Pope sprang zurück und heraus aus dem
Haus: er war erschrocken. Da sprang die ganze
Familie auf und rannte nach Licht. Der Bauer
schreit etwas, und der Knecht schreit: „Wohin ist
der Pope geraten?“ Ich weiß nicht, was alles ge-
schah. Die Bauersleute schrien den Knecht an:
„Warum habt ihr den Alten erschlagen?“ Und der
Knecht schrie sie an: „Wohin habt ihr den Popen
gebracht? Den Popen her! Wenn nicht, gehe ich
auf der Stelle zum Ortspolizisten: hole das ganze
Dorf zusammen! Bringt mir den Popen, gleich wo-
her!“ Da stutzten die Bauersleute: „Wohin ist der
Pope geraten?“ – „Gebt mir dreihundert Rubel“,
sagt der Knecht, „und ich will die ganze Sache
vertuschen, wenn nicht, gehe ich zum Ortspolizi-
sten!“ Die Bauersleute drucksten hin und druck-
sten her und gaben die dreihundert Rubel. „Nur
erzähl niemandem, was geschehen ist!“ Nun
spannte der Knecht die Pferde ein und fuhr mit
seinem Heu nach Hause. Der Pope war also nicht

795
da. Er fährt durchs Dorf, da steht der Pope an ei-
ner Scheune, steht da, guckt hinter einer Ecke
hervor und sieht, daß der Knecht mit dem Heu
gefahren kommt. Der Pope fragt: „Bist du’s, Wan-
ja, der gefahren kommt?“ – „Ich bin’s, zottiger
Schurke!“ sagt der. „Du wirst bald im Gefängnis
sitzen! Hast den Bauern erschlagen!“ – „Hab ich
ihn denn wirklich totgeschlagen, Wanja?“ – „Gib
dreihundert Rubel, dann vertusche ich’s, wenn
nicht, wirst du im Gefängnis sitzen!“ Da erklärte
sich der Pope einverstanden, dem Knecht drei-
hundert Rubel zu bezahlen, wenn er die Geschich-
te bloß vertuschte. Der Knecht kehrte ins Dorf zu-
rück, stand ein Weilchen hinter der Ecke, stand
ein Weilchen und kehrte wieder um. „Fahr zu, Vä-
terchen! Jetzt wird nichts mehr geschehen. Fah-
ren wir heim!“
Sie kamen zu Hause an. Der Pope wurde die
Güte selber: hatte ein Herz für die Knechte. Wenn
er sich hinsetzte, um Tee zu trinken, dann ließ er
auch den Knecht hinsetzen. Wanja blieb den Win-
ter über dort und hatte siebenhundert Rubel be-
kommen statt nur hundert. Kommt nach Hause zu
seinem Vater und sagt: „Hier, Vater, nimm, das
ist Geld! Sieh nur, wieviel ich verdient habe! Nicht
wie deine zwei klugen Söhne!“
Danach lebten sie herrlich und in Freuden und
wurden reiche Leute. Es geht ihnen auch jetzt
noch gut.

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76
Der alte Ossip und die drei Popen
In einem Dorf also lebte einmal ein altes Bäuerlein
Ossip. Das lebte mit seiner Alten zusammen. Sie
hatten zwei Kühe und ein Pferdchen, einen klei-
nen Speicher, eine Getreidescheuer und was sonst
noch so dazugehört. Einmal unterhielt er sich mit
seiner Alten. Die Alte sagte: „Es geht uns Gott sei
Dank gut, aber es wäre doch schön, irgendwann
einmal aus dem Dorf herauszuziehen und ganz für
sich zu wohnen.“ Der Alte gibt zur Antwort: „Das
wäre nicht übel. Alte, einmal für sich zu wohnen.
Vielleicht geht’s. Weißt du was. Alte, bald ist Dorf-
versammlung, da kommen die Nachbarn zusam-
men, ich will davon sprechen.“ Sobald die Dorf-
versammlung zusammen war, kam der alte Ossip
auf die Versammlung. „Guten Tag, Nachbarn!“
sagt er. „Guten Tag, Ossip!“ sagen sie. „Da ist
doch eine kleine Viehweide. Für einen reicht’s.“
Sie berieten und sagten zu ihm: „Nun, mit Gott,
nur nimm niemandem Land weg, bleib auf deiner
Viehweide!“ Sie sprachen das Stück dem alten
Ossip zu. Der Alte bereitete sich in aller Seelenru-
he auf das Leben dort draußen vor. Der Alte fuhr
vorsichtig und bedächtig sein Häuschen dorthin,
stellte es auf, brachte die Getreidescheuer hin,
den kleinen Speicher, ganz auf Bauernart. Und
von nun an lebten sie herrlich und in Freuden, es

797
ging ihnen gut, sie bestellten ihr Stückchen Land,
pflügten und brachten das Heu ein. Hatten das
Stückchen Land gepflügt, säten Hafer, und der
Hafer geriet im ersten Jahr sehr gut. Sie warte-
ten, bis es soweit war, ihn zu ernten. Sie dra-
schen so viel Hafer, daß sie die ganze Scheune
voll Hafer hatten. Und so kam schon das zweite
Jahr, sie säten Roggen in die Erde, danach säten
sie Hafer. Das Getreide gedieh bei ihnen wer weiß
wie gut! Sehr viel! Und nun lebten sie herrlich und
in Freuden und hatten drei Scheuern voll Getrei-
de. Eines schönen Tags legten sich der Alte und
die Alte schlafen. Die Alte sagt zu ihm: „Jetzt geht
es uns, Gott sei’s gedankt, gut, wir haben alles
reichlich, es ist ein wahrer Gottessegen. Wenn wir
doch Geld bekommen könnten, dann wäre das
Leben herrlich und ganz wunderbar!“ Der alte Os-
sip aber sagt zu seiner Frau: „Ach, Frau, du När-
rin, aus Getreide kann man im Handumdrehen
Geld machen!“ – „Wie willst du denn Geld daraus
machen, Väterchen?“ – „Wie willst du’s machen?!
Eine oder zwei Fuhren nehmen und auf den Markt
fahren, da hast du dein Geld!“ – „Na schön!“ –
„Nun, Alte, da du Geld haben wolltest, so geh in
die Scheuer und harke Roggen zusammen, eine
Fuhre so von dreißig Pud!“ Die Alte, nicht faul,
ging in die Scheuer und harkte zehn Sack Roggen
zusammen. Hat sie zusammengeharkt und kommt
nach Hause. „Nun, Väterchen, ich habe ihn zu-
sammengeharkt!“ – „Hast ihn zusammengeharkt,
ist recht!“ Der Alte wartete keine Minute länger,
lud kurzerhand auf und fuhr auf den Markt. Kam

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auf den Markt und stellte sich am Rand auf. Steht
mit seinem Getreide da, niemand kauft von ihm
Getreide, niemand nimmt welches. Er stand da,
stand bis zum Abend, keiner nimmt das Getreide.
„Nun, da kann man nichts machen! Ob ich mal ins
Wirtshaus gehe, ob sie dort Getreide nehmen?“
sagt er. Kam ins Wirtshaus und sieht den
Schankwirt hinter dem Schanktisch stehen. „Wie
ist’s, Schankwirt, brauchst du Getreide oder
nicht?“ Und der Schankwirt gibt ihm zur Antwort:
„Wie sollte ich kein Getreide brauchen?! Aber Geld
habe ich keins, alles Geld ist ausgegeben.“ –
„Nun, wenn du kein Geld hast – ich kann auch
Branntwein dafür trinken.“ Der Schankwirt schick-
te also seinen Kellner und befahl, das Getreide
abzuwiegen. Sie wogen an die dreißig Pud Getrei-
de ab. Der Alte kam ins Wirtshaus, setzte sich auf
einen Stuhl und zog seine graue, mit Tuch einge-
faßte Bauernbluse aus. Er nahm den Dreieckshut
ab, der aus eigener Wolle gemacht war. Nun fragt
ihn der Schankwirt: „Wie steht’s, Großväterchen
Ossip, brauchst du viel Branntwein?“ – „Ich brau-
che ein Viertel, das wird genügen“, sagt er. Sie
stellten dem Alten ein Viertel Schnaps auf den
Tisch und brachten ihm ein Teeglas. Der Alte sitzt
da und trinkt seinen Branntwein. Er trank nun al-
so das Viertel aus; diesem Zimmer gegenüber
aber war ein anderes, genau gegenüber, Tür ge-
gen Tür. Dort in dem Zimmer saß ein Pope, trank
Tee und betrachtet den Alten. „Nun sieh einer
an“, sagt er, „was für ein alter, steinalter Kerl –
aber sein Viertel Schnaps hat er ausgetrunken!“

799
Der Alte ruft den Schankwirt herbei: „Schankwirt,
komm, ich will meine Zeche bezahlen.“ Der
Schankwirt kommt an den Tisch. Er setzt seinen
Dreispitz aus eigener Wolle auf, nimmt ihn wieder
ab, schüttelt ihn und klopft damit auf den Tisch.
„Nun, Schankwirt, ist bezahlt?“ Der Schankwirt
sagt zu ihm: „Schon gut, Großväterchen Ossip, ‘s
ist bezahlt, ist bezahlt.“ Der Pope aber sagt im
stillen zu sich: „So ein Satan. Ich trinke eine Tas-
se, und selbst dafür nehmen sie fünf Kopeken, der
aber hat ein Viertel ausgetrunken und bezahlt
überhaupt nichts.“ Der Alte sagt: „Nun gut, ‘s ist
Zeit, nach Hause zu fahren!“ Der Schankwirt be-
fahl den Kellnern: „Geht und schirrt dem Alten
das Pferd an, wie es sich gehört.“ Sie schirrten
dem Alten das Pferd an, er stieg auf seinen Wa-
gen und fuhr nach Hause. Kommt nach Hause und
singt lustige Lieder. Die Alte hörte ihn, sperrt das
Tor auf und erwartet den Alten. Begrüßte ihn. „Oi,
Gott sei Dank! Man sieht gleich, der Alte hat Geld
mit, ja, sie haben ihm sogar Schnaps zu trinken
gegeben.“ – „Ja, Mütterchen, sie haben mich ein-
geladen“, sagt er. „Nun, Alter, hast du Geld oder
nicht?“ – „Nein, Mütterchen, hab keins mit.“ –
„Und wem hast du das Getreide verkauft?“ –
„Dem Schankwirt!“ – „Nun, laß gut sein, beim
Schankwirt ist es in guten Händen, wir können’s
bekommen, wann es uns beliebt.“ Sie leben eine
Woche, leben auch eine zweite. Der Alte sagt:
„Ach, Mütterchen, wir haben so viel Getreide, soll
ich noch eine Fuhre zum Verkauf fahren?“ – „Na
schön, ich will gehen und eine Scheuer voll Ge-

800
treide zusammenharken.“ Die Alte ging wieder
fort und harkte zehn Sack Hafer zusammen. Der
Alte lud wieder seelenruhig seine Fuhre auf,
schirrte das Pferd an und fuhr los. Kam auf den
Markt. Stellte sich am Rand des Marktes auf.
Stand und stand – keiner kauft Getreide, keiner
nimmt welches. „Ach, der Teufel soll’s holen! Ehe
ich hier herumstehe, fahre ich’s wieder zum
Schankwirt, der wird’s nehmen“, sagt er. Also
lenkte das Bäuerlein sein Pferd wieder um und
fuhr das Getreide ins Wirtshaus. Der Schankwirt
kommt herbei. „Wie ist’s, Schankwirt, brauchst du
Getreide?“ Und der Schankwirt gibt ihm zur Ant-
wort: „Wie sollte ich kein Getreide brauchen!?
Aber alles Geld ist ausgegeben!“ – „Nun, komm,
halt keine Reden, ich werde Branntwein dafür
trinken!“ Der Schankwirt befahl dem Gesinde, das
Getreide abzuwiegen. Sie hatten das Getreide ab-
gewogen, und das Bäuerlein kam in die Wirtsstu-
be. Nun, und der Schankwirt fragt ihn. „Nun, wie
ist’s, Großväterchen, brauchst du viel Brannt-
wein?“ Darauf der alte Ossip: „Ich brauche jetzt
zwei Viertel!“ Sie brachten also dem Alten zwei
Viertel Branntwein und stellten sie auf den Tisch.
Der Alte setzte sich an den Tisch, zog seine graue
Bluse aus, die selbstgemachte, und nahm den
selbstgemachten Dreispitz ab. Wie er seine zwei
Viertel ausgetrunken hat, saß im anderen Zimmer
ein Pope und trank ein Schnäpschen. Der alte Os-
sip hatte also seinen Branntwein ausgetrunken
und sagt: „Nun, Schankwirt, komm her, ich will
meine Zeche bezahlen!“ Das Bäuerlein nimmt sei-

801
nen Hut vom Kopf und klopft mit dem Dreispitz
auf den Tisch. „Ist bezahlt?“ sagt er. Der Schank-
wirt sagt: „Schon gut, schon gut, Großväterchen
Ossip, ‘s ist bezahlt, fahr mit Gott!“ Der Pope aber
saß da, trank an seinen drei Zehnteln und denkt
bei sich: „Ich trinke hier meine drei Zehntel und
muß Geld dafür bezahlen, von dem Alten aber
nehmen sie nichts.“ Der Alte zieht sich an und
macht sich mit Gott auf den Heimweg. Kommt zu
Hause an und singt lustige Lieder. Seine Alte
kommt herausgelaufen und begrüßt ihren Alten
freudig. Kam heraus und machte das Tor auf:
„Wie ist’s Alter, hast du Geld mit?“ – „Nein“, sagt
er, „Mütterchen, ich hab keins mit, der Schankwirt
hat alles Geld ausgegeben.“ Und sie gibt ihm zur
Antwort: „Na schön, beim Schankwirt ist das Geld
in guten Händen.“ Der Alte sagt zu ihr: „Auf den
und den Tag hat er versprochen, das Geld zu be-
zahlen.“ Wieder also leben sie eine Woche und
eine zweite. Wieder sagt der Alte zu seiner Alten:
„Weißt du was. Alte, wir wollen noch etwas Ge-
treide verkaufen!“ – „Na schön, Alter, verkaufen
wir noch etwas.“ Die Alte ging also wieder in die
Scheuer und harkte zehn Sack Roggen zusam-
men. Der Alte lud wieder seine Fuhre auf, schirrte
das Pferd an und fuhr wieder los auf den Markt.
Kam auf den Markt, stand und stand, und keiner
kauft Getreide, keiner nimmt welches. Wieder
stand er lange. „Ach, zum Teufel! Ich weiß einen
Ort, ich will es zu dem alten Schankwirt fahren –
hat er kein Geld, trinke ich Branntwein dafür!“
Kam zu dem alten Schankwirt und sagt: „Wie

802
ist’s, brauchst du Getreide?“ Und der Schankwirt
gibt ihm zur Antwort: „Getreide brauchen wir
wohl, Onkel Ossip, aber alles Geld“, sagt er, „ist
ausgegeben!“ – „Nun, das macht nichts, ich werde
Branntwein dafür trinken!“ Der Schankwirt befahl
dem Gesinde, das Getreide abzuwiegen. Sie wo-
gen also das Getreide ab, der Alte kommt in die
Wirtsstube und sagt: „Bringt mir drei Viertel
Branntwein. Zwei für mich und das dritte für die
Alte, weil sie sich so abgemüht hat.“ Das Bäuer-
lein zog in aller Seelenruhe seinen Bauernkittel
aus und nahm den Hut ab. Sitzt da, trinkt seinen
Branntwein und singt lustige Lieder. Wie er die
zwei Viertel ausgetrunken hat, saß da wieder im
Zimmer gegenüber ein Pope bei einem Fläschchen
Schnaps. Dieser Pope sagt bei sich: „So ein Sa-
tan: Dem glückt’s! Trinkt Branntwein und bezahlt
kein Geld.“ Der Alte hatte seine zwei Viertel aus-
getrunken. „Nun, Schankwirt, komm! Es ist Zeit,
nach Hause zu fahren, ich will meine Zeche be-
zahlen.“ Der Schankwirt kommt an den Tisch. Das
Bäuerlein Ossip nimmt seinen selbstgemachten
Hut ab und klopft damit auf den Tisch. Ossip sagt
zum Schankwirt: „Nun, ‘s ist bezahlt, Schankwirt!“
Und der Schankwirt: „Schon gut, schon gut,
Großväterchen Ossip, fahr mit Gott!“ Der
Schankwirt befahl, dem Großväterchen für die
Heimfahrt das Pferd anzuschirren. Großväterchen
setzte sich in seinen Schlitten und fing an lustige
Lieder zu singen. Kommt zu seinem Haus, die Alte
kommt herausgerannt und begrüßt ihren Alten:
„Nun, wie ist’s, Alter, hast du Geld mit?“ Er aber

803
gibt zur Antwort: „Nein, Alte, der Schankwirt hat
das Geld für den und den Tag versprochen.“ Sie
spannten das Pferdchen aus. Die Alte stellte den
Samowar auf den Tisch, und sie setzten sich und
tranken Tee. Der Alte sagt zu seiner Alten: „Geh,
Alte, auf der Diele steht ein Viertel Schnaps!“ Die
Alte ging und brachte das Viertel Schnaps. Und
sie fingen an Schnaps zu trinken und lustige Lie-
der zu singen. Sangen ihre lustigen Lieder und
gingen in aller Seelenruhe schlafen.
Einmal nun hatten die Popen eine Zusammen-
kunft. Die Popen tranken ihr Schnäpschen und
fingen dann an, sich von diesem und jenem zu
unterhalten. Der eine sagt: „Och, ich habe ein
schönes Pferd!“ Der andere aber sagt: „Du mit
deinem Pferd! Ich habe eine schöne Popin – das
ist ein Grund zu prahlen!“ Und der dritte Pope
sagt: „Was sind das für Redereien! Ich kenne ein
Kunststückchen, so wahr ich hier sitze. Einmal
war ich in die Stadt gefahren, in ein Wirtshaus
gegangen und hatte mir Tee bestellt. Der Tee
wurde gebracht, und ich sitze so und trinke mei-
nen Tee. Und das Zimmer war akkurat gegenüber
einem anderen Zimmer, dort saß ein alter Bauer
und trank Branntwein, ein Viertel. Hatte sein Vier-
tel ausgetrunken, rief plötzlich den Schankwirt
und sagt: ‚Komm her, Schankwirt, ich will meine
Zeche bezahlen!’ Und ich habe ihn die ganze Zeit
nicht aus dem Auge gelassen. Der Schankwirt
kam heran. Da nimmt er seinen Dreispitz ab und
klopft damit auf den Tisch. ‚Nun, Schankwirt, ‘s ist
bezahlt!’“ Der andere Pope sagt: „Brüste dich

804
nicht so! Dieses Kunststückchen habe ich auch
gesehen!“ Der dritte Pope darauf: „Was prahlt ihr
so! Dieses Kunststückchen habe ich auch gese-
hen, daß der Hut Geld bezahlt!“ Als die Popen sich
ordentlich vollgetrunken hatten und stern-
hagelbetrunken waren, sagt der eine Pope: „Wenn
doch wir Popen diesen Hut hätten, da könnten wir
aber trinken!“ Diese drei Popen aber waren Ver-
wandte, ein Schwiegervater und zwei Schwieger-
söhne. Die Popen machten einen Plan und sagten:
„Los, fahren wir hin und kaufen dem alten Ossip
diesen Hut ab!“ Machten’s aus, spannten das
Pferd ein und fuhren los. Sie kamen zu dem Dorf.
Fuhren hinein und fragen nach dem Weg: „Ir-
gendwo wohnt hier so ein altes Bäuerlein, Ossip
mit Namen!“ Da sagten sie ihnen im Dorfe den
Weg, wo der Alte wohnt. Dorthin fuhren sie nun
also weiter. Sie fahren durch sein einsam gelege-
nes Feld. Akkurat in dem Augenblick kommt Ossip
selber aus dem Wald gefahren, bringt eine Fuhre
Holz. Der Alte sah die Popen. „Guten Tag, liebe
Väterchen“, sagt er. Darauf die Popen: „Großvä-
terchen Ossip, wir wollen zu dir, wir haben eine
Bitte an Euch!“ – „Und was wollt ihr?“ – „Man hat
uns da erzählt daß Ihr so einen Hut habt, und wir
möchten nun diesen Hut kaufen!“ Der Großvater
sagt zu ihnen: „Was fällt Euch ein, Väterchen, ich
soll meinen Hut verkaufen? Er gibt mir zu trinken
und zu essen und denkt für mich!“ – „Aber Groß-
väterchen, wir wollen dir viel Geld für den Hut ge-
ben!“ – „Viel Geld wollt Ihr geben, Väterchen?“ –
„Wieviel willst du?“ – „Ja, unter fünfhundert kann

805
ich ihn nicht hergeben. Und auch das nur unter
der Bedingung, daß meine Alte einverstanden ist.
Ob die ihn hergibt?“ Sie fuhren mit dem Alten zu
seinem Haus. Kommen hin. Die Alte kommt her-
ausgerannt. „Ach, guten Tag, liebe Väterchen!“ –
„Guten Tag, Großmütterchen, guten Tag!“ – „Oi,
ich setze gleich den Samowar an und schenke
Euch ein Gläschen Tee ein!“ Sie aber geben ihr
zur Antwort: „Frau, wir sind nicht zum Teetrinken
hergekommen, wir kommen in Geschäften!“ –
„Und was wollt Ihr, Väterchen?“ – „Wir sind ge-
kommen, Großväterchen seinen Hut abzukaufen!
Wir haben Großväterchen den Hut abgehandelt.“
– „Und für wieviel habt Ihr den Hut abgehandelt,
Väterchen?“ – „Für fünfhundert Rubel!“ – „Was
fällt Euch ein, Väterchen! Der Großvater hat euch
den Hut zwar verkauft, aber ich verkaufe ihn
nicht!“ – „Warum willst du ihn nicht verkaufen,
Großmütterchen? Es ist doch viel Geld – fünfhun-
dert Rubel!“ – „Was denkt Ihr nur, Väterchen, der
Hut gibt uns zu trinken und zu essen und denkt
für uns!“ Nun, die Alte sagt: „Macht was Ihr wollt!
Nur, unter fünfhundertfünfzig Rubel gebe ich ihn
nicht her!“ Die drei Popen sahen einander an.
„Nun, was tut’s“, sagen sie, „fünfhundert Rubel
haben wir gegeben, die fünfzig werden uns nicht
umbringen, geben wir sie! Auf drei verteilt, was
ist das schon!“ Sie bezahlten fünfhundertfünfzig
Rubel für den Hut. Der Schwiegervater sagt nun
zu seinen Schwiegersöhnen: „Macht was ihr wollt,
ob’s euch gefällt oder nicht, aber den Hut kriegt
ihr nicht. Ich will selber ausprobieren, wie der Hut

806
funktioniert!“ Nachdem die Popen von Ossip nach
Hause gekommen waren, fuhr der Schwiegervater
zum Markt in die Stadt, zierte sich mit diesem
unansehnlichen Bauerndreispitz und fuhr in die
Stadt. Kam in die Stadt, ging in eins der besten
Gasthäuser, mietete dort zwei Gastzimmer, lud
Gäste ein und begann die verschiedensten Weine
und Speisen zu bestellen. Die Gäste feierten und
zechten, zogen sich dann an und machten sich
alle auf den Heimweg. Der Pope blieb allein zu-
rück, er muß dem Schankwirt die Zeche bezahlen.
„Nun, Schankwirt, komm her, ich will meine Ze-
che bezahlen!“ Er nimmt den dreieckigen Hut vom
Kopf und klopft damit auf den Tisch: „Nun,
Schankwirt, ist bezahlt?“ Der Schankwirt sagt:
„Was hältst du mich zum Narren, Väterchen! Geld
will ich haben, fünfzig Rubel!“ – „Ach, entschuldi-
ge, Schankwirt, gewiß habe ich nicht mit der rich-
tigen Ecke geklopft.“ Nun, er klopfte mit der an-
deren Ecke, doch ohne Erfolg: „Nun, Schankwirt,
‘s ist bezahlt!“ – „Was heißt das, Väterchen, wo ist
bezahlt? Mein Geld will ich haben!“ Nun, da war
nichts zu machen. Wie sich der Pope auch sperren
mochte, er muß fünfzig Rubel bezahlen. „Ach, der
Teufel soll dich holen! Hat mir der Hut einen
Schaden von fünfzig Rubel eingebracht!“ Da war
nichts zu machen, der Pope bezahlte das Geld.
„Nun schön, ich werde den Schwiegersöhnen
nichts sagen. Sie sind reicher – sollen sie ruhig
einen Verlust haben.“ Kam nach Hause, sagt
nichts, ist vergnügt und unbekümmert. Der älte-
ste Schwiegersohn kommt ihn besuchen. „Nun,

807
wie ist’s, Schwiegervater, wie hat sich der Hut
bewährt?“ Er bekommt zur Antwort: „Nun, der
Hut bewährt sich, und wenn es hundert Rubel
sind, er bezahlt sie!“ Und der älteste Schwieger-
sohn fuhr auch in die Stadt. Kam in die Stadt,
ging, wählte eins der besten Gasthäuser, mietete
sich zwei Zimmer und lud Gäste dorthin ein,
zweimal mehr als der Schwiegervater. Lud also
Gäste ein – Popen, Lehrer, alle lud er dorthin ein.
Die Gäste kamen, und nun ging’s ans Bewirten. Er
befahl dem Schankwirt, alle möglichen Weine und
Speisen und sonst noch alles mögliche zu bringen.
Die Gäste langten ordentlich zu, dankten für die
Gastfreundschaft und machten sich auf den
Heimweg. Der Pope muß beim Schankwirt die Ze-
che bezahlen. „Nun, Schankwirt, komm her zum
Tisch, ich will meine Zeche bezahlen!“ Der
Schankwirt kam an den Tisch. Der Pope nun nahm
den Dreieckshut vom Kopf. Klopft auf den Tisch.
„Bezahlt!“ sagt er. Der Schankwirt aber guckt,
und die Augen quellen ihm fast aus dem Kopf:
„Was fällt dir ein? Hältst du mich zum Narren? Gib
mir meine hundert Rubel! Das ist schon der zwei-
te Pope, der mir so närrisch kommt. Die Leute
zum besten haben!“ Der Pope nun sagt: „Ach,
entschuldigt, ich habe nicht mit der richtigen Ecke
geklopft.“ Klopfte wieder. „Bezahlt?“ sagt er. Der
Schankwirt: „Was soll das? Was heißt bezahlt?“ –
„Ach, entschuldigt!“ Und er klopfte mit der dritten
Ecke. Der Schankwirt sagt zu ihm: „Was fällt dir
nur ein, Väterchen? Bezahle, sonst rufe ich die
Polizei, dann hast du noch die Schande dazu!“ Es

808
blieb dem Popen nichts anderes übrig, die hundert
Rubel – er muß sie bezahlen, aber hundert Rubel
sind kein Pappenstiel! „Nun, schön, ‘s ist, wie es
ist – doch auch ich will dem Schwager nichts sa-
gen. Er hat eine schöne Gemeinde, reicher als
meine, und ich werde ihm nicht erzählen, daß ich
hundert Rubel bezahlt habe.“ Der Schwager
kommt zum Schwager gefahren und fragt: „Nun,
wie ist’s, Schwager, wie funktioniert der Hut?“
Und der gibt ihm zur Antwort: „Ja, der Hut be-
währt sich, und wenn’s hundert Rubel sind!“ Der
Schwager nahm von seinem Schwager den Hut
und fuhr auch in die Stadt. Kommt in die Stadt ins
Gasthaus und bittet um ein Zimmer für Gäste.
Nahm zwei Zimmer und lud Gäste ein, sogar noch
mehr als sein Schwager, dreimal mehr. Nun, als
die Gäste da waren, befahl der Pope dem
Schankwirt, alle möglichen Weine und Speisen zu
bringen. Die Gäste zechten eine Weile, hatten ge-
zecht und machten sich auf den Heimweg. Der
Pope blieb zurück, setzt den Hut auf und ruft den
Schankwirt. Der Schankwirt kommt. „Komm her,
ich will meine Zeche bezahlen.“ Der Pope nimmt
den Hut vom Kopf und klopft damit auf den Tisch.
„Schankwirt“, sagt er, „ist nun bezahlt?“ Der
Schankwirt aber guckte und guckte: „Ja, was ist
denn nur mit euch los, das ist der dritte Pope, der
mir so närrisch begegnet, und alle mit diesem
Hut?“ Den Schankwirt packte die Wut, er fuhr
dem Popen kurzerhand in die Haare und riß ihn
hin und her. Da war nichts zu machen, der Pope
schrie: „Schon gut, der Teufel hol’s! Ich bezahle

809
das Geld, nur laßt mich los!“ Holte seine Geldbör-
se aus der Tasche, bezahlte hundertfünfzig Rubel
und fuhr nach Hause. Kam zu Hause an, da ver-
sammelten sich die drei Popen an einem Platze:
der Schwiegervater mit den zwei Schwiegersöh-
nen. Sie hielten sich ordentlich an den Schnaps,
wurden betrunken und begannen sich zu unter-
halten. Der eine Pope sagt: „Was zuviel ist, ist zu-
viel, laßt uns fahren und den alten Ossip erschla-
gen!“ Gerade aber, als sie sich unterhielten, ging
ein Hausierer vorbei (in Petersburg nennen sie
solche Leute „Possadski“16). Der hörte diese Re-
den, daß die Popen den Alten erschlagen wollen.
Dieser Hausierer machte sich sogleich auf den
Weg zu diesem Ossip und sagt: „Großväterchen
Ossip, dich wollen die und die Popen erschlagen!“
Da lud der Alte den Hausierer zum Tee ein, gab
ihm Tee, Zucker dazu und einen Kanten Brot.
„Nun, hab Dank, daß du mir’s gesagt hast! Hör
zu, Alte, man will uns erschlagen. Und keiner da,
der uns hilft, wir sind zuwenig Leute.“ Da dachte
er sich etwas aus: „Paß auf. Alte! Ich verschaffe
mir ein Kreuz, und dann bahrst du mich auf, ich
lege mich in den Vorraum, du deckst mich mit ei-
nem Leichentuch zu, versperrst das Tor und gehst
im Speicher auf und ab, singst Sterbelieder.“ Nach
einer Weile hört er, daß die Popen gefahren kom-
men; sie klopfen ans Tor, die Alte aber geht im

16
Possadski – ursprünglich Bezeichnung für Händler, die
außerhalb des eigentlichen Stadtbereichs wohnen. (Anm. d.
Übers.)

810
Speicher auf und ab und singt Sterbelieder. Die
Popen brechen bald das Tor entzwei. „Oi, wohin
wollt Ihr, liebe Väterchen? Mein Alter ist gerade
gestorben, er muß zurechtgemacht und in den
Sarg gelegt werden. Ich gehe gerade und sammle
Zweige, damit er etwas Weiches und Zweige in
den Sarg bekommt.“ Die Popen brachen das Tor
auf und gingen ins Haus, die Alte aber geht immer
im Speicher auf und ab, singt Sterbelieder, geht
aber nicht ins Haus. Der eine Pope sagt: „Ich will
ihm, wenn er auch tot ist, für die fünfhundert Ru-
bel eins mit dem Kreuz versetzen.“ Er schlug mit
dem Kreuz zu – der Bauer aber warf den Arm zur
Seite. Und der andere Pope sagt: „Du schlägst
nicht richtig zu. Laß mich mal, ich mach’s ordent-
lich!“ Der zweite Pope nahm das Kreuz in die
Hände und schlug zu. Der Bauer warf auch das
Bein zur Seite, und der dritte Pope sagt: „Nun, ihr
schlagt nicht richtig zu, laßt mich mal, wenn ich
zuschlage, springt der ganze Kerl auf.“ Also nahm
der dritte Pope das Kreuz und schlug mit aller
Kraft zu. Der Alte fiel von der Bank herunter, dem
Popen gerade vor die Füße. „Oi, Väterchen, hab
Dank, hab Dank. Du hast mich wieder lebendig
gemacht! Das wäre ja schlimm für meine Alte ge-
wesen, ohne mich zu leben!“ Die Popen wendeten
ihr Pferd und fuhren davon. Kamen nach Hause
und trennten sich.
Da ging durch das ganze russische Zarenreich
die Kunde: in der und der Stadt ist der und der
General gestorben. Die Frau des Generals ließ in
ganz Rußland bekanntmachen: Wenn jemand ih-

811
ren Mann wieder lebendig machen könnte, den
würde sie mit einer unermeßlichen Summe beloh-
nen. Die Popen kamen zusammen und überlegten
miteinander. Der eine Pope sagt: „Wir haben den
alten Ossip mit diesem Kreuz wieder lebendig
gemacht. Nehmen wir das; wir wollen fahren und
dem Alten dieses Kreuz abkaufen!“ Die Popen
spannten das Pferd ein und fuhren dorthin zu dem
Alten. Kamen zu dem Alten und sagten: „Großvä-
terchen! Wir sind mit einer Bitte zu dir gekom-
men.“ – „Und weswegen seid Ihr gekommen,
Väterchen?“ – „Wir möchten dir das Kreuz
abkaufen!“ – „Was fällt Euch ein, Väterchen, das
Kreuz soll ich verkaufen? Es gibt mir zu trinken
und zu essen und denkt für mich. Was denkt Ihr,
wen ich damit wieder lebendig machen kann! Ich
bekomme mal fünf Rubel dafür, mal zehn. Und wir
leben und ernähren uns davon, meine Alte und
ich.“ – „Nun, was soll’s, Großvater, verkaufst du
das Kreuz?“ – „Was heißt hier verkaufen, liebe
Väterchen“! Wieviel wollt Ihr mir geben?“ – „Wie-
viel willst du denn haben, Großväterchen?“ – „Ja,
was soll ich sagen, Väterchen? Ob’s Euch nun ge-
fällt oder nicht, aber unter fünfhundert kann ich
das Kreuz nicht hergeben!“ Die Popen sahen ein-
ander an und bezahlten die fünfhundert Rubel für
das Kreuz. Stiegen ein und fuhren davon. Kamen
nach Hause und machten sich gleich dorthin auf
den Weg, wo der General gestorben war. Kamen
in diese Stadt und erfragten Haus und Wohnung.
Haus Nummer fünfzig, Wohnung dreiunddreißig.
Sie kommen dorthin in die Küche, man fragt sie:

812
„Ihr wollt den Toten wieder lebendig machen?“ –
„Jawohl, wir wollen den Toten wieder lebendig
machen!“ Sie wurden in das Zimmer gelassen, wo
der General aufgebahrt lag. Da schlossen sie sich
in diesem Zimmer ein, waren nur zu dritt darin.
Der eine sagt zum zweiten: „Los, gib ihm eins mit
dem Kreuz!“ Der eine nahm das Kreuz und schlug
zu, daß es dröhnte. Der Tote steht nicht auf. Der
eine sagt: „Du schlägst nicht richtig zu. Laß mich,
ich will nochmal zuschlagen!“ Wie er nun nochmal
zuschlägt, fiel ihnen der General bald vom Tisch
herunter, doch er steht nicht auf. Nun sagt auch
der dritte: „Laßt mich mal, ich pfeife ihm eins,
daß er gleich aufspringt!“ Der dritte schlug ihn so
derb, daß er ihm den Schädel abschlug. Da er-
schraken sie und versteckten sich unter dem
Tisch. Wenn man sie erwischte, war’s schlimm –
sie können nirgendshin entkommen. Wieder le-
bendig gemacht haben sie ihn nicht, dafür haben
sie etwas angerichtet, wofür man sie bestrafen
wird. Nun suchte einer bei dem anderen Hilfe, und
sie überlegten miteinander. Der eine Pope sagt:
„Paßt auf, wir machen zur Bedingung, daß drei
Stunden niemand zu ihm hineingeht.“ So machten
sie es auch; gingen in die Küche, gleich zur Gene-
ralin: „Ihr könnt erst in drei Stunden ins Zimmer
hineingehen, bleibt solange draußen!“ Drei Stun-
den sind eine lange Zeit. Sie mußten still und leise
aus der Stadt verschwinden. Sie mieteten also
Pferde und einen Wagen. Für ihr Geld aber hatte
der alte Ossip inzwischen eine Schenke eröffnet.
Als seine Alte gestorben war, hatte er einen lusti-

813
gen Schnapshandel begonnen. Nun kommen die
Popen gefahren. Kommen und sahen das Schild
des alten Ossip an der Schenke. Der eine Pope
sieht hin: „Uch, hier handelt Ossip mit Brannt-
wein! Seht ihr, wie er mit unserem Geld reich
wird!“ Der eine Pope sagt: „Er wird mit unserem
Gelde reich, wir aber wollen ihn erschlagen!“ Die
zwei Popen darauf: „Wie können wir ihn erschla-
gen? Laßt uns vorbeifahren!“ – „Nein, keinesfalls,
er muß erschlagen werden!“ Sie stiegen von ih-
rem Wagen herunter, der Kutscher wendete die
Pferde und fuhr davon. Früher wurden die Schen-
ken mit Fensterläden verschlossen. Der Alte hatte
alle Fensterläden zugemacht, man konnte nicht zu
ihm hinein. Der eine Pope sagt: „Ich komm hin-
ein!“ Sogleich kletterte er über den Zaun und ging
ans Fenster. Nahm ein Holzscheit, schlug das Fen-
ster ein und kletterte hinein. Kletterte hinein, der
Alte aber, nicht faul, kam gleich gerannt, nahm
eine Axt und versetzte ihm eins gegen den Kopf.
Der Pope brauchte nichts mehr. Der Alte packte
ihn an den Haaren, zerrte ihn in die Schenke hin-
ein und warf ihn hinter ein Vierzigliterfaß. Die
zwei Popen stehen draußen und sprechen mitein-
ander: „Warum dauert es bei ihm so lange, den
Alten zu erschlagen?! Geh mal hin“, schickt der
eine den anderen, „zu zweit ist es bequemer, ihr
werdet ihn schneller erschlagen!“ Der zweite Pope
kletterte über den Zaun. Kommt zum Fenster,
klettert genauso hinein wie der erste. Der Alte
versetzt ihm wieder einen Schlag mit der Axt, und
auch der war erledigt. Er packte ihn bei den Haa-

814
ren, zerrte ihn zum Fenster herein und warf auch
ihn hinter das Faß. Dann steht der dritte Pope
draußen, wartet, wartet lange Zeit. Er sagt zu
sich: „Der Teufel soll’s holen! Können die zwei ihn
wirklich nicht erschlagen? Wahrscheinlich haben
sie sich ausgesöhnt und trinken dort Branntwein.
Ich muß auch hingehen!“ Der dritte Pope kletterte
also auch über den Zaun. Ging auch zu dem Fen-
ster und will hineinklettern. Und er versetzte ihm
genauso einen Schlag mit der Axt gegen die Stirn
und erschlug ihn. Er zerrte diesen Popen an den
Haaren heraus und warf ihn im Vorraum auf die
Bank. Der Pope liegt nun da. Bei Ossip aber war
einer, der hieß Wassili oder so ähnlich. Tagsüber
ging er Abfälle sammeln, abends aber kam er zu
Ossip in die Schenke. Dieser Wassili kam und
wollte übernachten. Da sagt Ossip zu ihm: „Oi,
Wassili, Wassili, warum bist du gestern nicht
gekommen? Da war einer hier, ein Pope oder ein
Mönch, ich weiß nicht, hat sich mit Schnaps voll-
getrunken und mich verprügelt.“ Dieser Wassili
nun sagt: „Weißt du was, Onkel Ossip, gib ihn
her, ich werfe ihn ins Wasser!“ Wassili nahm also
den Mönch auf die Schulter und trug ihn zum See,
um ihn hineinzuwerfen. Auf den Weg hatte er sich
ein Fläschchen Schnaps in die Tasche gesteckt
und ging unbekümmert seinen Weg. Kam zum
See. Den Popen hatte er mit. Bautz, warf er ihn
genau ins Eisloch und paßt auf, ob er vielleicht
irgendwo wieder herauskommt. Sitzt und sitzt und
trinkt ein Gläschen nach dem anderen. Saß bis
zum Abend, da wurde es kalt. Und er machte sich

815
wieder auf zum alten Ossip. Der alte Ossip aber,
nicht faul, hatte auch diesen Popen auf die gleiche
Bank geworfen. Wassili kommt zu Ossip, macht
die Tür auf und fragt Onkel Ossip: „Nun, Onkel
Ossip, ist der Pope wiedergekommen oder nicht?“
Ossip sagt zu diesem Wassili: „Es ist noch
schlimmer geworden, er ist noch wütender wie-
dergekommen.“ – „Wie ist denn das möglich? Ich
denke, ich habe ihn ins Wasser geworfen und ins
Eisloch geguckt, ob er wieder herauskommt! Na
schön, Onkel Ossip, gib her, ich werfe ihn ins
Wasser und bleibe etwas länger sitzen, wenn du
mir ein Viertel Schnaps gibst!“ Er nahm also den
Popen auf die Schulter und steckte das Viertel
Schnaps ein. Trug ihn zum See. Warf ihn auf die
gleiche Manier – bautz – in das Eisloch hinein, daß
die Blasen nur so hochkamen. Also schön, er
bleibt sitzen. Sitzt da, trinkt sein Gläschen leer
und paßt auf das Eisloch auf, ob der Pope etwa
dort herauskommt. Wie er den ganzen Tag und
die ganze Nacht gesessen hatte, wurde es hell; er
sah sich bei Tageslicht nach allen Seiten um –
vom Popen nichts zu sehen. Also ist er fertig und
muckst nicht mehr! Wieder ging er lustig und gu-
ter Dinge zum alten Ossip in die Schenke. Kommt
in die Schenke und fragt Onkel Ossip: „Wie ist’s
denn, Onkel Ossip, ist der Pope wiedergekom-
men?“ Und Ossip gibt ihm zur Antwort: „Ach, was
denkst du, Wassili! Ist wiedergekommen, noch
wütender, hat mich fast erschlagen und noch
mehr Branntwein getrunken.“ Wassili merkte
nicht, daß in der Ecke der dritte Pope liegt. „Gib

816
mir einen halben Eimer Branntwein! Also diesen
Popen bringe ich fort, also ohne zu mucksen, der
kommt nicht wieder. Zwei Tage bleibe ich dort sit-
zen!“ Ossip gab ihm einen halben Eimer, er nahm
den halben Eimer, den Popen auf die Schulter –
und zum See. Brachte ihn an den See und warf
ihn – bautz – ins Eisloch hinein, die Blasen stiegen
nur so hoch. Wassili sitzt da, raucht und trinkt
seinen Schnaps. Er sitzt also einen Tag und eine
Nacht, sitzt auch den zweiten Tag und die zweite
Nacht, vom Popen ist die ganze Zeit nichts zu se-
hen, er kommt aus dem See nicht heraus; also
hat er ihn endlich ertränkt! Auch den zweiten Tag
und die zweite Nacht bleibt er sitzen, blieb sitzen,
bis es hell wurde. Es war aber gerade an einem
Sonntag. Die Kirche stand am See; wie es hell
wurde, läutete der Küster tatsächlich die Glocken.
Die Frühmesse muß gelesen werden. Der Pope
zog sich an und ging am Ufer entlang. Da sah
Wassili diesen Popen, sah, daß da ein Pope geht.
Sprang auf und rannte dem Popen hinterher. „Ach
du langhaariger Satan! Dreimal habe ich dich ins
Wasser geworfen, und du läufst noch immer her-
um!“ Der Pope erschrak: „Was willst du? Was
willst du? Warum mir das?“ Darauf dieser Wassili:
„Ach! Warum hast du beim alten Ossip den gan-
zen Wein ausgetrunken und ihn geschlagen?! Ich
werde dich gleich ins Wasser werfen!“ Der Pope
konnte zu keinem Gotte mehr beten, Wassili
packte ihn an den Haaren und trug ihn zum Eis-
loch. Brachte ihn hin und packte ihn an den Bei-
nen: „Bereue deine Sünden!“ Der Pope hatte kei-

817
ne Lust zu sterben. Wassili packte ihn aber an den
Beinen, und bautz – ins Wasser, die Blasen stie-
gen nur so hoch! Hatte ihn ins Wasser geworfen,
blieb eine Weile sitzen und machte sich dann auf
den Weg zum alten Ossip in die Schenke. Kam hin
und fragt: „Nun, wie ist’s Onkelchen Ossip? Ist
der Pope wiedergekommen?“ – „Nein, Väterchen,
ist nicht wiedergekommen.“ – „Nun, dann habe
ich ihn ertränkt!“ Der Küster läutete tatsächlich,
der Pope aber kommt noch immer nicht. „Was ist
los, zum Teufel!? Der Pope kommt noch immer
nicht! Ich will nach Hause gehen, will zum Popen
gehen!“ Kam hin und fragt: „Mütterchen, wo ist
das Väterchen?“ – „Das Väterchen ist doch in die
Kirche gegangen!“ – „Wieso ist er in die Kirche
gegangen, Mütterchen? Ich hätte ihn doch sehen
müssen, hab doch die Sonntagsglocken geläutet!“
– „Aber bestimmt, er ist in der Kirche!“ Der Küster
ging zurück zur Kirche, sah nach – in der Kirche
ist er nicht. Da begannen sie, den Popen zu su-
chen und zu suchen, und wissen nicht, wo sie ihn
finden sollen. Damit war die Sache zu Ende. Ich
war auch dort, habe Märchen erzählt. Die Hörer
haben die Speisen geschleckt, der Erzähler die
leeren Teller geleckt

818
77
Des Ziegenbocks Begräbnis
Es lebten einmal ein alter Mann und eine alte
Frau, die hatten kein einziges Kind, nur einen Zie-
genbock; der war ihr ganzes Hab und Gut! Der
Alte konnte keinerlei Handwerk, nur Bastschuhe
flechten – davon allein ernährte er sich. Der Zie-
genbock hatte sich an den Alten gewöhnt; wohin
der Alte auch außer Haus ging, der Ziegenbock
kam ihm nachgerannt.
Einmal mußte der Alte nach Bast in den Wald
gehen, und der Ziegenbock war ihm nachgelau-
fen. Sie kamen in den Wald: der Alte fing an, Bast
zu schneiden, der Ziegenbock aber streift umher
und rupft sich hier und da Gras; rupfte und rupf-
te, und sank plötzlich mit den Vorderbeinen im
lockeren Erdreich ein, fing an zu scharren und
scharrte einen Topf mit Gold frei. Der Alte sieht,
daß der Bock die Erde scharrt, ging hin – und sah
das Gold; er freute sich unsäglich, warf seinen
Bast weg, nahm das Geld und – nach Hause. Er-
zählte alles seiner Alten. „Nun, Alter“, sagt die Al-
te, „diesen Schatz hat uns Gott auf unsere alten
Tage geschickt, weil wir uns so viele Jahre in Ar-
mut gequält haben. Jetzt aber wollen wir uns ein
vergnügtes Leben machen!“ – „Nein, Alte“, ant-
wortete ihr der Alte, „dieses Geld haben wir nicht
durch unser Glück gefunden, sondern durch das

819
Glück des Ziegenbocks, wir müssen den Ziegen-
bock jetzt besser hegen und pflegen als uns sel-
ber.“ Von da an hegten und pflegten sie den Zie-
genbock besser als sich selber, erholten sich aber
auch selber – es konnte gar nicht besser sein! Der
Alte vergaß sogar, wie man Bastschuhe flicht; sie
leben herrlich und in Freuden und kennen keine
Sorge.
Nach einer Weile nun wurde der Bock krank und
starb. Da beratschlagte der Alte mit seiner Alten,
was sie tun sollten: „Wenn wir den Bock den Hun-
den vorwerfen, dann machen wir uns vor Gott und
den Menschen schuldig, weil wir unser ganzes
Glück durch den Bock bekommen haben. Ich will
lieber zum Popen gehen und ihn bitten, dem Bock
ein christliches Begräbnis zu geben, so wie man
auch andere Tote begräbt.“ Der Alte machte sich
auf, kam zum Popen und verneigt sich: „Sei ge-
grüßt, Väterchen!“ – „Sei gegrüßt! Was willst du?“
– „Hört, Väterchen, ich bin mit einer Bitte ge-
kommen, bei mir zu Hause ist ein großes Unglück
geschehen, unser Bock ist gestorben. Ich bin ge-
kommen, dich zum Begräbnis zu bitten.“
Als der Pope solche Reden hörte, wurde er sehr
böse, packte den Alten am Bart und schleifte ihn
durch die Stube: „Ach, du Ruchloser, was fällt dir
ein, einen stinkenden Bock beerdigen zu lassen!“
– „Aber Väterchen, dieser Bock war doch durch
und durch rechtgläubig; er hat dir zweihundert
Rubel vermacht!“ – „Höre, alter Schafskopf – ich
schlage dich nicht deswegen, weil du mich zum
Begräbnis des Ziegenbocks bittest, sondern weil

820
du mir bis jetzt nichts von seinem Hinscheiden
gesagt hast; vielleicht ist er schon lange gestor-
ben!“
Der Pope nahm dem Bauern die zweihundert
Rubel ab und sagt: „Nun geh schnell zum Vater
Diakon, er soll sich fertigmachen: wir gehen
sogleich den Bock begraben.“ Der Alte kommt
zum Diakon und bittet: „Mach dir die Mühe, Vater
Diakon, komm zu mir ins Haus, eine Leiche auf
den Friedhof zu bringen!“ – „Wer ist denn bei dir
gestorben?“ – „Ihr habt doch meinen Ziegenbock
gekannt, der ist gestorben!“ Da begann der Dia-
kon ihn links und rechts zu ohrfeigen. „Schlag
mich nicht, Vater Diakon“, sagt der Alte, „der
Bock war doch gewiß ganz rechtgläubig: als er im
Sterben lag, hat er dir hundert Rubel fürs Begra-
ben vermacht!“ – „Ach, bist so alt und doch so
dumm“, sagte der Diakon, „warum hast du mich
denn nicht schon längst von seinem seligen Hin-
scheiden verständigt! Geh schnell zum Küster; er
soll für die Bockseele die Glocken läuten!“
Der Alte kommt zum Küster gerannt und bittet:
„Komm, läute die Glocken für die Seele meines
Ziegenbocks!“ Der Küster wurde böse und fing an,
den Alten am Bart zu reißen. Der Alte schreit:
„Laß bitte los! Der Bock war doch rechtgläubig, er
hat dir fürs Begräbnis fünfzig Rubel vermacht!“ –
„Warum druckst du solange herum, das mußtest
du mir früher sagen; es hätte schon längst geläu-
tet werden müssen!“ Und der Küster stürzte sich
sogleich auf den Glockenturm und begann aus
Leibeskräften alle Glocken zu läuten. Pope und

821
Diakon kamen zu dem Alten und begannen das
Begräbnis; legten den Ziegenbock in einen Sarg,
trugen ihn auf den Friedhof und vergruben ihn in
einem Grab.
Nun begannen die Leute untereinander über
diese Sache zu reden, und es kam vor den Bi-
schof, der Pope habe einem Ziegenbock ein christ-
liches Begräbnis gegeben. Der Bischof ließ den
Alten und den Popen zur Bestrafung zu sich kom-
men: „Wie konntet ihr wagen, einen Ziegenbock
zu begraben? Ach, ihr Gottlosen!“ – „Aber dieser
Ziegenbock“, sagt der Alte, „war doch durchaus
nicht so wie andere Ziegenböcke, er hat Eurer
Eminenz vor seinem Tode tausend Rubel ver-
macht!“ – „Ach, was bist du dumm, Alter, ich ver-
urteile dich nicht, daß du den Ziegenbock begra-
ben hast, sondern weil du ihm bei Lebzeiten nicht
die heilige Ölung hast geben lassen!…“ Nahm die
tausend Rubel und entließ den Alten und den Po-
pen nach Hause.

822
78
Der gutmütige Pope
Es lebte einmal ein Pope; der dingte einen Knecht
und nahm ihn mit in sein Haus. „Nun, Knecht,
diene mir fleißig, du sollst es gut bei mir haben!“
Der Knecht war eine Woche da, da begann die
Heumahd. „Nun, Sohn“, sagt der Pope, „wenn
Gott es schickt, werden wir die Nacht gut über-
stehen, den Morgen abwarten und in der Frühe
ins Heu fahren.“ – „Ist gut, Väterchen!“
Sie warteten den Morgen ab und standen zeitig
auf. Der Pope sagt zu seiner Popin: „Gib uns zu
frühstücken, Mütterchen: wir wollen aufs Feld fah-
ren und Heu machen!“ Die Popin deckte den
Tisch, sie setzten sich zu zweit hin und frühstück-
ten, wie es sich gehört. Der Pope sagt zum
Knecht: „Komm, Sohn, wir wollen gleich zu Mittag
essen, dann können wir ohne Pause bis zum Ves-
per durcharbeiten!“ – „Wie Ihr meint, Väterchen,
wir können auch zu Mittag essen.“ – „Trag zum
Mittagessen auf, Mütterchen!“ befahl der Pope
seiner Frau. Die trug ihnen das Mittagessen auf.
Sie aßen einen Löffel, einen zweiten – und sind
satt. Der Pope sagt zu seinem Knecht: „Komm,
Sohn, wir wollen in einem Zuge auch gleich ves-
pern, dann können wir bis zum Abendessen
durcharbeiten!“ – „Wie Ihr meint, Väterchen, soll
gevespert werden, können wir auch vespern.“ Die

823
Popin trug das Vesperbrot auf den Tisch. Sie
schlürften wieder jeder einen Löffel, einen zweiten
– und sind satt. „Nun kommt’s auf eins heraus“,
sagt der Pope zum Knecht, „wir wollen nun in ei-
nem auch gleich unser Abendbrot essen, dann
können wir auf dem Felde übernachten und sind
morgen früher an der Arbeit!“ – „Immer zu, Vä-
terchen!“
Die Popin trug ihnen das Abendessen auf. Sie
löffelten ein-, zweimal und standen vom Tisch auf.
Der Knecht ergriff seine Jacke und will hinaus.
„Wohin, mein Sohn?“ fragt der Pope. „Was heißt
hier wohin? Ihr wißt doch selber, Väterchen, daß
man sich nach dem Abendbrot schlafen legen
soll!“ Ging in die Scheune und schlief bis zum
Morgen. Seit jener Zeit gab der Pope seinen
Knechten nicht mehr Frühstück, Mittagessen,
Vesper und Abendbrot zugleich.

824
79
Der Bauer und der Pope
Es ging ein Bauer den Weg entlang. Er holt einen
Popen ein.
„Guten Tag, Väterchen!“ sagt er.
„Guten Tag, mein Sohn!“, sagt der. „Wohin
gehst du, Bauer?“
„Ich will ins Dorf Chmelnoe17 *, Väterchen!“
„Und weswegen, Bauer?“
„Ach, Väterchen, dort soll ein Pferd zu Verkauf
stehen!“
„Hast du denn nicht ein Pferd gehabt?“
„Doch, aber der Wolf hat’s gefressen.“
„Das ist freilich schlecht“, sagte der Pope.
Sie gehen so – da finden sie einen Sack auf
dem Wege.
„Seht, Väterchen, da hat wohl ein armer Bauer
seinen Sack verloren.“
Sie kommen zu diesem Sack. Der Pope sagt:
„Wie ist’s, teilen wir halb und halb?“
Der Bauer sagt:
„Wie du meinst, Väterchen, teilen können wir,
wenn ein Stück Brot drin ist.“

17
Chmel’noe – abgeleitet von chmel’ – „Hopfen-Rausch“
(Anm. d. Übers.).

825
Sie binden den Sack auf. Darin ist ein gebrate-
nes Ferkel. Dem Popen gefiel dieses Ferkel, und
er sagt zum Bauern:
„Bauer!“
„Was ist, Väterchen?“
„Dieses Ferkel lohnt sich nicht zu teilen.“
„Wie dann, Väterchen? Wer’s zuerst gesehen
hat, dem gehört das Ferkel?“
Der Pope aber sagt zum Bauern:
„Wir müssen im Walde übernachten. Wir wer-
den also dieses Ferkel nicht teilen, sondern uns
schlafen legen. Wer den schöneren Traum träumt,
dem soll das Ferkel gehören.“ (Der Pope denkt,
den Bauern werde ich schon leimen.)
Die Nacht kam. Sie machten ein Feuer und le-
gen sich schlafen. Nun, der Bauer war das Laufen
gewohnt und war nicht sehr müde, der Pope aber
war sehr ermattet und schlief ein. Der Bauer
sieht, daß der Pope schon schläft, nimmt den
Sack, holt das Ferkel heraus und beginnt zu es-
sen. Aß alles auf und legte sich schlafen.
„Schön“, sagt er, „mag ich nun träumen oder
nicht, jedenfalls werde ich besser schlafen kön-
nen.“
Der Bauer schläft unbekümmert. Am Morgen
stehen sie auf. Der Pope sagt:
„Bauer, erzähle nun, was hat dir heute ge-
träumt?“
„Weiß nicht, Väterchen. Erzählt erst einmal Ihr,
was Ihr geträumt habt, dann will ich erzählen.“
Also der Pope:
„Nun, ich will meinen Traum erzählen!“

826
Der Bauer lacht:
„Dann wird wohl auch das Ferkel dir gehören,
Väterchen?“
Der Pope:
„Ja, ja! Wer den schöneren Traum hat, dem soll
auch das Ferkel gehören.“
„Nun, erzähle, Väterchen!“
Der Pope fängt nun also an:
„Ich schlafe also, Bauer. Vor mir war auf einmal
eine Leiter bis in den Himmel hinein. Auf dieser
Leiter nun kletterte und kletterte ich hoch und
kletterte bis in den Himmel hinein. Dort aber brin-
gen sie dem Herrgott gebratene Hühner, Gänse
und Ferkel, und ich habe mich bis zum Hals voll-
gegessen.“
„Ihr habt einen schönen Traum, Väterchen“,
sagt der Bauer. „Ich bin auch munter geworden“,
sagt er, „und sehe, wie du die Leiter hochklet-
terst. Ich dir leise nach. Dich hat der Herrgott
eingeladen und bewirtet. Ich guckte und guckte,
aber mir hat er nicht einmal zugenickt. Ich bin so
schnell wie möglich wieder die Leiter herunterge-
klettert, habe den Sack genommen und das Ferkel
aufgegessen.“
Da schrie der Pope:
„Ich bin ja gar nicht dort gewesen!“
„Ob du nun dort warst oder nicht, das Ferkel ist
jedenfalls nicht mehr da, Väterchen!“
Der Pope glaubte’s nicht – macht den Sack auf
– der Sack ist leer.
Der Pope stürzte sich auf den Bauern, um ihn
zu verprügeln. Der Bauer packte den Popen an

827
seinen langen Haaren, stieß ihn gegen die Erde
und sagt:
„Du hast wie ein verfluchter Drache die Men-
schen aufgefressen, und so willst du auch den
Bauern auffressen! Nein, den Bauern sollst du
nicht auffressen!“

828
80
Der lüsterne Pope
Seine Nachbarin war eine Schönheit, sie geht im-
mer vorbei, um Wasser zu holen. Er aber saß
ständig auf den Stufen vor dem Haus. Kaum geht
sie nach Wasser, macht er gleich:
„Hi-hi-hi-hi-hi!“
Sie kommt zu ihrem Mann und sagt, was der
lüsterne Pope anstellt:
„Ich brauch nur nach Wasser zu gehen, gleicht
macht er sein hi-hi!“
„Ach, du Närrin, du verstehst nicht, daß er… Er
will dich gern zur Liebsten haben.“
Und die Frau sagt zu ihrem Mann:
„Was soll ich tun?“
„Wenn du wieder gehst und er sein ,hi-hi-hi’
anfängt, sagst du: ,Nun laß schon endlich dein
Wiehern sein, Väterchen, komm in der Nacht zu
mir! Komm nur und bring recht viel zu essen
mit!’“
Und der Pope war ganz Feuer und Flamme,
brachte einen ganzen Schinken und ein Viertel
Schnaps. Der Mann aber hatte zu seiner Frau ge-
sagt:
„Wenn ich mit dem Fuß aufstampfe – wir haben
doch das Teerfaß dastehen –, dann stecke ihn in
das Faß!“

829
Er kam also, sie fingen an zu trinken und dazu
zu essen. Plötzlich klopfte ihr Mann.
„Wohin kann ich mich denn verstecken?“ sagt
er.
„Klettre ins Faß!“
Der zieht Hemd und Unterhosen aus und
schwupp – ins Faß.
Ihr Mann schimpfte:
„Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Faß
hinausrollen und ausräuchern!“ (sie simulieren
einfach so).
Sie:
„Sofort, sofort!“
Er hatte aber schon das Pferd eingespannt. Sie
rollten das Faß hinaus und stellten’s auf den Wa-
gen, und er fuhr’s aufs Feld hinaus. Da kommt ein
adliger Herr gefahren.
„Was fährst du da, Bauer?“
„Ach“, sagt er, „ich habe heute Nacht einen al-
ten Teufel gefangen.“
„Und wohin bringst du ihn?“ sagt er.
„Nach Moskau, zum Ausstellen!“
„Kann man ihn einmal ansehen?“
„Ja“, sagt er, „das kann man, hundert Rubel
fürs Angucken!“
Weil sie ihn aber gerollt hatten, hatte er sich
über und über mit Teer beschmiert, und Bart und
Haare waren ihm voller Teer.
Der Herr sah ihn sich an, der Pope aber ist ent-
setzlich froh, einmal frische Luft schnappen zu
können (es, das heißt das Fäßchen, war nämlich
eng). Als er das Fäßchen aufgemacht hatte, kam

830
er mit dem Mund an die Öffnung heran. Der Bauer
aber sagte:
„Warte, warte, vorsichtig, sonst fliegt er fort!“
Und er ließ ihn nicht ordentlich hingucken.
„Nun“, sagt er, „alter Teufel, wenn jemand dich
ansehen will, dann komm schneller heraus, sonst
muß ich dich verbrennen!“
Da überlegte sich’s der adlige Herr noch ein-
mal: er hatte den Teufel noch nicht richtig gese-
hen.
Er kehrt um:
„Warte, Bauer, nimm noch hundert Rubel, ich
möchte ihn noch einmal ansehen!“
Der Bauer griff nach seinem Pferd:
„Ich kann’s beim besten Willen nicht halten!“
Der Pope kommt hervorgekrochen. Der adlige
Herr erschrak, der Bauer aber schreit in einem
fort:
„Haltet ihn, haltet ihn!“
Der Pope sprang aus dem Faß heraus und rann-
te hast du was kannst du in den Wald. Dem Bau-
ern blieb nichts anderes übrig, er packte die Troi-
ka des adligen Herrn und ließ sie nicht aus den
Händen.
„Nun kommt nur“, sagt er, „fahrt mit nach Mos-
kau, Euch zu verantworten! Ihr habt den alten
Teufel entkommen lassen, jetzt ist er fort. Und
mir haben sie aus Moskau einen Brief geschickt,
ich soll ihn ins Theater bringen.“
„Oi, Bauer, nimm von mir, was du willst, nur
bring mich ja nicht dorthin!“

831
Der Bauer freut sich über diese Gelegenheit und
nahm ihm die drei Rappen ab. „Sieh, Frau, was
der lüsterne Pope zusammengekichert hat.“
Dieser lüsterne Pope aber sieht zum Fenster
hinaus – Iwan kommt mit einer Troika gefahren!
„Ach, Mütterchen, jetzt ist’s um mich gesche-
hen!“
Der Pope dachte, Iwan wolle ihn holen.
Die Popin fragt ihn:
„Warum hast du auch solche Augen gemacht?“
„Nein“, sagt er, „ich habe nie Augen gemacht!“
Der Pope tritt auf die Treppe vorm Haus, die
junge Frau kommt vorbei. Sie sieht ihn schnell
an:
„Hi-hi-hi-hi-hi!“
Der Pope erschrak und rannte davon. Seine
Frau merkte es, nahm ein Beil und prügelte ihn,
daß die Fetzen nur so flogen.
„Ach, vergib mir, Frau, ich will das nie wieder
tun!“
Seine Frau vergab ihm. Ich bin auch dort gewe-
sen, hab Tee getrunken, der Mund hat nichts ab-
bekommen. Das Märchen ist aus.

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81
Der musikalische Pope
Es war einmal ein Pope, der spielte schön auf der
Geige. Nun wollte das ein junger Bursche erler-
nen. Er geht zu dem Popen und sagt: „Väterchen,
bring mir das Spielen bei! Wieviel willst du dafür
haben?“ – „Dafür, daß ich dir das Spielen beibrin-
ge, hundert Rubel!“
„Schön, Väterchen, ich will dir hundert Rubel
bezahlen, nur mußt du mich zu jeder Tages- und
Nachtzeit unterrichten.“
Der Pope fängt an, ihn zu unterrichten. Einmal
ist ein hoher Feiertag. Zu dem jungen Burschen
kamen Gäste. Der Bursche sagt: „Wollt ihr, daß
der Pope am Altar zu spielen anfängt?“ – Die Gä-
ste sagen: „Ja!“ Der junge Bursche rannte los.
Der Pope hält in der Kirche Gottesdienst. Er
nimmt die Geige unter den Rockschoß und drängt
sich zum Popen an den Altar durch. „Höre, Väter-
chen, ich habe die Melodie vergessen!“ – „Ich ha-
be doch gerade Gottesdienst. Höre doch, mein
Sohn!“ – „Nun, dann gib mir nur meine hundert
Rubel zurück!“ Der Pope war aber habgierig, und
er sagt: „Warte, warte, gib her!“
Der Diakon kam mit dem Weihrauchfäßchen
heraus vor die Leute und wartet, daß der Pope
den Segen erteilen soll. Der Pope am Altar aber

833
fragt: „Welche Melodie hast du vergessen?“ –
„Vom Tanz ,Komarinskaja’!“
Da singt er den Komarinskaja-Tanz zum Gebet:
„Ei, ei, ei, und fertig ist’s Gebet schon, eins, zwei,
drei!“
Und der Diakon hört’s und tanzt dazu: „Das
Weihrauchfäßchen raucht schon, eins, zwei, drei!“
Der Pope am Altar: „Ei, ei, ei, und fertig ist’s
Gebet schon, eins, zwei, drei!“, und der Diakon:
„Das Weihrauchfäßchen raucht schon, eins, zwei,
drei!“
Der Bursche lachte aus vollem Halse und rannte
davon.
Da wurden Pope und Diakon aus dem geistli-
chen Stand ausgestoßen.

834
82
Der listige Bauer
Es lebte einmal eine Alte, die hatte zwei Söhne:
der eine war gestorben, der andere aber weit weg
über Land gefahren. Drei Tage, nachdem der
Sohn weggefahren war, kommt ein Soldat zu ihr
und bittet:
„Großmütterchen, laß mich bei dir übernach-
ten!“
„Komm herein, mein Lieber. Woher bist du
denn?“
„Ich bin Nikonez, Großmütterchen, und komme
aus dem Jenseits.“
„Ach, mein Bester, mir ist mein Söhnchen ge-
storben, hast du ihn vielleicht gesehen?“
„Natürlich habe ich ihn gesehen; ich habe mit
ihm zusammen in einem Zimmer gewohnt.“
„Was du nicht sagst!“
„Er hütet in jener Welt die Kraniche, Großmüt-
terchen!“
„Ach, mein Bester, gewiß hat er große Plage mit
ihnen?“
„Und was für eine Plage! Die Kraniche, Groß-
mütterchen, streifen doch in den Heckenrosen
umher.“
„Da sind seine Kleider sicher recht abgetra-
gen?“

835
„Und wie sie abgetragen sind! Er ist ganz zer-
lumpt!“
„Ich habe da vierzig Arschin Leinwand, mein
Lieber, und an die zehn Rubel Geld, bring das
meinem Sohn!“
„Aber gern, Großmütterchen!“
Über kurz oder lang kommt ihr anderer Sohn
wieder:
„Guten Tag, Mütterchen!“
„In deiner Abwesenheit ist zu mir ein Nikonez
gekommen, der stammt aus dem Jenseits, er hat
mir von meinem seligen Sohn erzählt; sie haben
zusammen in einem Zimmer gewohnt; ich habe
ein Stück Leinwand dort hingeschickt, dazu noch
zehn Rubel Geld.“
„Wenn’s so ist“, sagt der Sohn, „dann leb wohl,
Mütterchen! Ich will durch die weite Welt ziehen;
wenn ich jemanden finde, der noch närrischer ist
als du, will ich dir zu essen und zu trinken geben,
finde ich niemanden – jage ich dich vom Hof!“
Drehte sich um und machte sich auf den Weg.
Er kommt in ein Gutsbesitzerdorf, macht vor
dem Herrenhof halt, auf dem Hofe aber geht eine
Sau mit ihren Ferkeln umher. Da kniete der Bauer
nieder und verneigt sich vor der Sau bis zur Erde.
Das sah die Herrin durchs Fenster hindurch und
sagt zu ihrem Mädchen:
„Geh mal hin und frage, warum sich der Bauer
verneigt hat!“
Das Mädchen fragt ihn:
„Bauer, warum kniest du und machst vor der
Sau Bücklinge?“

836
„Mütterchen, melde der Herrin, Eure gescheckte
Sau ist die Schwester meiner Frau, und morgen
heiratet mein Sohn, da will ich sie zur Hochzeit
einladen. Ob sie die Sau nicht als Brautwerberin
und die Ferkel für den Brautzug beurlauben möch-
te?“
Als die Herrin diese Worte gehört hatte, sagt sie
zu dem Mädchen:
„Was für ein Dummkopf! Lädt eine Sau zur
Hochzeit ein, und dazu noch mit den Ferkeln!
Nun, warum nicht? Sollen ihn die Leute ausla-
chen. Zieh der Sau schnell meinen Pelz an und laß
zwei Pferde vor den Wagen spannen: sie soll nicht
zu Fuß zur Hochzeit gehen müssen!“
Sie spannten die Pferde vor den Wagen, setzten
die schmuck angezogene Sau mit den Ferkeln
hinein und übergaben alles dem Bauern.
Der stieg auf und fuhr zurück.
Nun kam der Herr nach Hause, er war nämlich
gerade auf der Jagd gewesen. Die Herrin begrüßt
ihn und will vor Lachen bald sterben:
„Ach, Liebster, du warst nicht da, und ich habe
mit niemandem lachen können. Hier war ein Bau-
er, der hat sich vor unserer Sau verbeugt; er sag-
te: ‚Eure gescheckte Sau ist die Schwester meiner
Frau’, und er hat sie als Brautwerberin zu seinem
Sohn eingeladen und die Ferkel für den Hochzeits-
zug.“
„Ich weiß schon“, sagt der Herr, „du hast sie
ihm gegeben.“

837
„Ich habe ihr Urlaub gegeben, Liebster. Habe
ihr meinen Pelz angezogen und ihr einen Wagen
mit zwei Pferden gegeben.“
„Woher war denn der Bauer?“
„Ich weiß nicht, mein Bester.“
„Also, ist nicht der Bauer ein Narr, du bist je-
denfalls eine Närrin!“
Der Herr wurde böse, daß man seine Frau be-
trogen hatte, lief aus dem Haus, bestieg einen
Paßgänger und jagte hinterher. Der Bauer hört,
daß der Herr ihn einholt, führte die Pferde mit
dem Wagen in den dichten Wald, er selber aber
nahm den Hut vom Kopf, legte ihn mit der Krem-
pe nach unten auf die Erde und setzte sich
daneben.
„He, du da, Alter“, schrie der Herr, „hast du
nicht einen Bauern mit zwei Pferden hier vorbei-
fahren sehen? Er hat noch eine Sau mit ihren Fer-
keln auf dem Wagen.“
„Freilich hab ich ihn gesehen! Der ist schon lan-
ge vorbeigefahren!“
„In welche Richtung? Wie kann ich ihn einho-
len?“
„Wer einholen will, der stehe nicht still, aber
der Weg teilt sich oft, und du verirrst dich, ehe du
dich’s versiehst. Du kennst ja die Wege nicht.“
„Dann reite du, Bruderherz! Fang mir diesen
Bauern!“
„Nein, Herr, das geht auf keinen Fall. Unter
meinem Hut sitzt ein Falke!“
„Das macht nichts, ich werde auf deinen Falken
aufpassen.“

838
„Sieh dich vor, daß er dir nicht entwischt. Es ist
ein wertvoller Vogel! Mein Herr würde mich tot-
schlagen!“
„Was kostet er denn?“
„Na, so an die dreihundert Rubel.“
„Nun, wenn ich ihn entwischen lasse, bezahle
ich ihn dir.“
„Nein, Herr. Jetzt versprecht ihr’s zwar, aber
was dann sein wird – das weiß ich nicht.“
„Was für ein mißtrauischer Kerl! Nun, hier hast
du für jeden Fall die dreihundert Rubel.“
Der Bauer nahm das Geld, bestieg den Paßgän-
ger und sprengte davon in den Wald hinein, der
Herr aber blieb sitzen und bewachte den leeren
Hut.
Lange wartete der Herr; schon geht die Sonne
unter, von dem Bauern aber ist noch nichts zu se-
hen.
„Warte, ich will doch nachsehen, ob ein Falke
unter dem Hut ist. Ist einer da, dann kommt er
wieder; wenn nicht, dann brauche ich nicht zu
warten.“ Hob den Hut hoch, von einem Falken
aber war keine Spur zu sehen.
„So ein Halunke! Das war gewiß derselbe Bau-
er, der die Herrin betrogen hat!“
Vor Wut spie der Herr aus und trollte sich zu
seiner Frau.
Der Bauer aber war schon längst zu Hause.
„Nun, Mütterchen“, sagt er zu der Alten, „bleib
bei mir wohnen: es gibt auf der Welt Leute, die
noch närrischer sind als du. Für nichts und wieder
nichts haben sie mir drei Pferde mit Wagen gege-

839
ben, dreihundert Rubel und dazu noch eine Sau
mit Ferkeln!“

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83
Der Herr und der Zimmermann
Ein Zimmermann ging einmal von einem Dorf zum
anderen – von Paradiesbach nach Höllenbach. Da
begegnete ihm ein Herr aus einem anderen Gou-
vernement und fragt ihn:
„Aus welchem Dorfe kommst du, Bauer?“
„Aus Paradiesbach.“
„Und wohin fahre ich?“
„Nach Höllenbach.“
„Ach du Narr! Du bist ein Bauer und willst aus
Paradiesbach kommen, und ich bin ein Herr und
soll nach Höllenbach fahren… Diener, packt ihn
und gebt es ihm ordentlich!“
Der Lakai sprang herab, packte den Zimmer-
mann und prügelte auf ihn ein; sie verprügelten
ihn ordentlich, dann fuhren sie weiter.
„Schön“, denkt der Zimmermann, „das sollst du
nicht umsonst getan haben!“
Der Bauer brachte in Erfahrung, wo der Herr
wohnt, und geht zu ihm; kommt hin. Der Herr
aber ließ gern bauen und wollte gerade ein Land-
haus bauen. Der Herr erkannte den Zimmermann
nicht und dingte ihn, das Landhaus zu bauen.
Der Zimmermann forderte ihn auf, mit in den
Wald zu kommen und die Stämme auszuwählen.
Der Herr ging mit. Sie kamen hin. Der Zimmer-

841
mann geht durch den Wald, klopft mit dem Beil-
rücken an die Bäume und legt sein Ohr daran.
„Was machst du da, wie stellst du’s fest?“
„Umfasse nur einen Baum und leg dein Ohr
daran, dann wirst du’s auch hören!“
„Meine Arme sind zu kurz!“
„Nun, ich kann dich ja festbinden.“
Der Zimmermann band den Herrn an einem
Baum fest, nahm die Zügel und fing an, ihn
durchzuprügeln. Prügelte und prügelte, der Herr
war mehr tot als lebendig. Der Bauer aber prügel-
te feste und sagte dazu:
„Noch zweimal werde ich dich vornehmen,
Hundesohn. Kränke keinen Handwerksmann!“
Nahm den Wagen des Herrn und fuhr mit ihm
davon. Den Herrn fanden sie nach drei Tagen mit
Mühe und Not im Walde, er war schon nahe am
Sterben.
Der Herr liegt krank von der Bewirtung nach
Bauernart, der Zimmermann aber verkleidete
sich, daß man ihn nicht erkennen konnte, und
kommt, den Herrn gesundzumachen. Dem Herrn
wird gemeldet, ein Arzt ist gekommen. Der Herr
freute sich, der Arzt aber befahl, das Bad zu hei-
zen. Sie gingen ins Bad. Der Arzt wusch den
Herrn, rieb ihn trocken und sagt:
„Nun, jetzt muß ich dich mit Dampf behandeln,
Herr: nur wirst du das nicht aushalten, ich muß
dich an der Bank festbinden!“
Der Herr war’s einverstanden, und wieder ver-
prügelte der Zimmermann den Herrn, und auf
dem nackten Leib war es noch schlimmer.

842
„Nun, noch einmal sollst du von mir verprügelt
werden: Kränke keinen Handwerksmann ohne
Grund!“
Der Zimmermann verabredete sich mit seinem
Bruder: er ließ den Bruder am Haus des Herren
vorbeifahren, und zwar mit den Pferden des
Herrn, die der Zimmermann aus dem Walde ent-
führt hatte. Der Herr sah’s durchs Fenster und
schickte alle seine Diener hinterher. Die Diener
jagten und jagten hinterher, holten aber den Dieb
nicht ein; während sie aber hinterherritten, war
der Herr allein zu Hause, der Zimmermann kam
zum Herrn und prügelte ihn noch einmal durch:
„Nun, Herr, präg’s dir ein und vergiß nicht, daß
man einen Handwerksmann nicht ohne Grund
kränken darf!“
Am nächsten Morgen fuhr der Herr in die Stadt,
sah den Zimmermann und fragt ihn:
„Bauer, bist du nicht der von gestern?“
„Auf keinen Fall, ich bin fünfundvierzig Jahre
alt, wie kann ich da von gestern sein!“

843
84
Der Herr als Schmied
Ein Herr war einmal auf den Schmied neidisch.
„Unsereiner lebt so dahin“, sagt er, „lebt dahin,
die Ernte ist noch wer weiß wie weit, man wartet
sehnsüchtig auf Geld, der Schmied aber klopft
einmal mit seinem Hammer – und ist bei Gelde.
Ich werde eine Schmiede aufmachen!“
Er machte eine Schmiede auf: den Lakaien ließ
er den Blasebalg ziehen. Steht da und wartet auf
Kundschaft. Ein Bauer kommt vorbeigefahren und
will Reifen für alle vier Räder bestellen (einen
ganzen Satz).
„He, Bauer, warte! Komm hierher!“
Der kam herangefahren.
„Was brauchst du?“
„Je nun, Herr, Reifen für alle vier Räder!“
„Schön, sofort, warte!“
„Und wieviel wird’s kosten?“
„Na ja, hundertfünfzig Rubel müßte ich neh-
men, nun, um Kundschaft anzulocken, will ich nur
hundert nehmen.“
„Ist gut!“
Der Herr begann das Feuer zu schüren, der La-
kai – den Blasebalg zu ziehen; er nahm Eisen und
schmiedete los, aber er verstand gar nichts vom
Schmieden. Verbrannte alles.

844
„Nun“, sagt er, „Bauer, für einen ganzen Satz
reicht’s nicht, höchstens für einen Reifen.“
„Nun gut“, sagt er, „dann wenigstens einen Rei-
fen.“
Der Herr schmiedete und schmiedete und sagt:
„Nun, Bauer, es reicht auch nicht für einen Rei-
fen, es reicht höchstens für ein Pflugeisen.“
„Nun gut“, sagt der Bauer, „dann wenigstens
ein Pflugeisen.“ Der Herr klopfte mit dem Ham-
mer, verdarb noch viel Eisen und sagt:
„Nun, Bauer, es reicht auch nicht für ein Pflug-
eisen, gebe Gott, daß es für einen Pfriemen
reicht.“
„Nun, dann wenigstens einen Pfriemen“, sagt
der Bauer.
Nur daß das Eisen beim Herrn auch für einen
Pfriemen nicht reichte: er hatte alles verbrannt.
Arbeitete und arbeitete und sagt:
„Nun, Bauer, es reicht auch nicht für einen
Pfriemen, es reicht nur für ein Zischen.“ (Wenn
man glühendes Eisen in Wasser taucht, zischt es.)
„Ist gut“, sagt der Bauer, „wieviel bekommt
Ihr?“
„Ich hab’s dir doch gesagt, du Dummkopf: hun-
dert!“
„Ich hab gerade kein Geld bei mir, ich gehe
welches holen!“
Und er ging weg.
Der Herr aber sagt zum Lakaien:
„Wenn er mit dem Geld wiederkommt, dann
bleib stehen und sage immer: leg was zu, leg was
zu!“

845
„Schön“, sagt der.
Der Bauer nun nahm zu Hause eine Peitsche,
kam wieder in die Schmiede und begann dem
Herrn einzuheizen, der Lakai aber steht dabei und
sagt immer:
„Leg noch etwas zu! Leg noch etwas zu!“
Er prügelte ihn durch und ging. Der Herr stürzte
sich auf den Lakaien:
„Was fällt dir ein, du Schurke? Ich habe dir be-
fohlen, wenn er Geld bringt, sollst du das sagen,
du aber siehst, daß er mich schlägt, und brüllst:
‚Leg noch etwas zu!’“
Der Herr verprügelte den Lakaien, schlug die
Schmiede kurz und klein und gab sich von nun an
nicht mehr mit dem Schmiedehandwerk ab und
beneidete auch den Schmied nicht mehr.

846
85
Der Herr und der Bauer
Es war einmal ein Bauer, der hatte viele Schafe.
Im Winter lammte einmal ein großes, großes
Schaf, und er nahm es mit seinem Lämmchen von
draußen ins Haus hinein. Es ist Abend. Ein Herr
kommt gefahren und bittet ihn um ein Nachtlager.
Kam ans Fenster und fragt:
„Bauer, laß mich übernachten!“
„Werdet Ihr in der Nacht auch keinen Unfug an-
stellen?“
„Ich bitte dich! Wir brauchen nur ein Plätzchen,
wo wir die dunkle Nacht verschlafen können.“
„Komm herein, Herr!“
Der Herr kam mit seinem Kutscher auf den Hof
gefahren. Der Kutscher versorgt das Pferd, der
Herr aber geht ins Haus. Der Herr hatte einen rie-
sigen Wolfspelz an. Trat in die Hütte, sprach ein
Gebet und verneigte sich vor den Bauersleuten:
„Ich wünsche euch Gesundheit, Bauer und
Bäuerin!“
„Willkommen, Herr!“
Der Herr setzte sich auf die Bank. Das Schaf
erblickte den Wolfspelz und guckt den Herrn an;
guckt und klopft dabei mit dem Fuß, einmal,
zweimal, und noch ein drittes Mal. Der Herr sagt:
„Bauer, warum klopft das Schaf mit dem Fuß?“

847
„Es glaubt, du bist ein Wolf; es wittert den
Wolfsgeruch. Es fängt nämlich bei mir Wölfe; die-
sen Winter zum Beispiel hat es an die zehn gefan-
gen.“
„Ach, da würde ich viel dafür geben! Ist es nicht
verkäuflich? Für unterwegs wäre es mir nützlich.“
„Verkäuflich ist’s, aber teuer!“
„Ach, Bauer, mehr als Geld kann’s nicht kosten;
ein Herr hat genug!“
„Na ja, überlegen kann man’s.“
„Und wieviel kostet es?“
„Fünfhundert Rubel!“
„Erbarme dich, das ist zuviel! Nimm drei Hun-
derter!“
Nun, der Bauer war’s einverstanden und ver-
kaufte. Der Herr übernachtete, stand beim Mor-
gengrauen auf und machte sich reisefertig; gab
dem Bauern die drei Hunderter, nahm das Schaf,
setzte es in den Schlitten und fuhr los. Fährt also.
Da kommen ihnen drei Wölfe entgegen. Das Schaf
sah die Wölfe und fängt gleich an, im Schlitten hin
und herzuspringen… Der Herr sagt zum Kutscher:
„Wir müssen es loslassen; sieh nur, es ist schon
ganz wild geworden. Es wird sie gleich gefangen
haben.“ (Es hatte aber Angst.) Der Kutscher sagt:
„Warte noch ein wenig, Herr, es wird noch wil-
der werden.“
Die Wölfe waren mit ihnen auf gleicher Höhe.
Der Herr ließ das Schaf los; das Schaf erschrak
vor den Wölfen, flog davon, in den Wald hinein,
und wedelte mit seinem kurzen Schwänzchen. Die
Wölfe schossen ihm nach, daß der Schnee nur so

848
stiebte, und der Kutscher will hinterher. Während
er das Pferd ausspannte und dem Schaf nachsetz-
te, hatten die Wölfe das Schaf eingeholt, ihm das
Fell heruntergerissen und waren im Wald ver-
schwunden. Der Kutscher kam heran: Das Schaf
liegt auf der Seite und das Fell daneben. Er
kommt zu seinem Herrn. Der Herr fragt ihn:
„Hast du etwas gesehen?“
„Ach Herr, das Schaf ist tüchtig! Ist über und
über zerschunden, aber den Wölfen hat es sich
nicht ergeben.“
Der Bauer hatte seine drei Hunderter bekom-
men, jetzt sitzt er da und erzählt dem Herrn Mär-
chen, die drei Hunderter aber liegen in seiner Ta-
sche.

849
86
Die böse Herrin
In einem Dorf lebte einmal eine Gutsherrin, die
war so böse, daß keiner bei ihr seines Lebens froh
wurde! Kam morgens der Dorfälteste etwas fra-
gen, welche Arbeit gemacht werden soll, – sie ließ
ihn nicht fort, ohne ihn durchgeprügelt zu haben.
Die Bauern aber wurden ihres Lebens gleich gar
nicht froh: sie peitschte sie wie die Hunde. Einmal
kam ein Soldat dort durch, der auf Urlaub nach
Hause wollte. Er mußte in diesem Dorf übernach-
ten. Dem erzählten sie alles, und er sagte: „Ich
habe Schlaftropfen!“ Sie gaben ihr Schlaftropfen.
Sie schlief ein. Der Soldat ließ Pferde anspannen.
Im Dorf war ein Schuster, der war so böse – es
war einfach fürchterlich! Zu diesem Schuster nun
brachte er sie. Der Schuster wußte es nicht, nähte
seine Schuhe, er aber legte sie aufs Bett, die Frau
des Schusters aber nahm er mit und legte sie aufs
Bett der Herrin. Nun wurde die Schustersfrau
munter und sieht das vornehme Haus. Sogleich
kommen die Dienerinnen gerannt, sind ihr zur
Hand. „Wie weit habe ich’s gebracht! Woher
kommt denn das? Was ist los!?“ Sie wusch sich,
man reichte ihr das Handtuch, sie trocknete sich
ab. Man bringt den Samowar. Sie setzte sich und
trank Tee. Der Dorfälteste kommt auf den Zehen-
spitzen herein. Sie sah auf, was da für ein Mann

850
kommt. „Was wollt Ihr?“ sagt sie. „Ich bin zu Euch
gekommen“, sagt er, „Herrin, zu fragen, welchen
Auftrag Ihr gebt, welche Arbeit!“ Sie wußte sich
zu helfen: „Wie könnt Ihr das nicht wissen! Was
Ihr gestern gemacht habt, das macht auch heu-
te!“ Der Dorfälteste ging hinaus in die Küche und
sagt: „Heute ist die Herrin aber gut, so ist sie ihr
Lebtag noch nicht gewesen!“ Nun, sie lebt dort
einen Monat und einen zweiten – und die Bauern
lobten sie so, daß man nur den Hut abnehmen
kann.
Die Herrin nun erwachte früh und schreit: „Die-
ner!“ Er aber sitzt und näht.
„Was ist denn in dich gefahren, Mutter?“ Und
sie: „Was fällt dir ein, du Dreckskerl?“ – „Ach du
Aas, du elendes!“ Er sprang vom Stuhl auf, riß
den Riemen vom Knie und bediente sie aufs
gründlichste. „Kennst du vielleicht deine Pflicht
nicht? Du hast aufzustehen und den Ofen zu hei-
zen!“ Und er walkte sie durch, soviel es ihm be-
hagte. Da begann sie zu flehen. Sie schleppte sich
hinaus, um Holz zu holen, brachte das Holz, heiz-
te den Ofen und kochte etwas. Nun, das dauerte
so an die zwei Monate. Und er prügelte sie drei-
oder viermal ordentlich durch. Dann gab der Sol-
dat Schlaftropfen und tauschte sie wieder aus.
Frühmorgens steht die Herrin leise auf, kommt
aus ihrem Zimmer – „Ich bin in meinem allen
Haus? Wie bin ich hierhergekommen?“ Sie fragte
die Dienerinnen: „Dienerinnen! Wie bin ich denn
hierhergekommen?“ – „Du bist doch nirgends ge-
wesen, Herrin!“ Und von der Zeit an war die Her-

851
rin die Milde selber. Die Schustersfrau aber lebte
wieder wie früher!

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87
Wie ein Bauer Gänse teilte
In einem Dorf lebte einmal ein reicher Gutsherr.
Zu beiden Seiten des Gutshofs lebten zwei Bau-
ern. Auf der einen Seite lebte ein reicher Bauer,
auf der anderen ein armer. Der arme Bauer hatte
eine große Familie, die Kinder eines kleiner als
das andere; das Leben war schwer; nichts reichte,
und was er auch unternahm, er kam nicht voran.
Einmal hatte sich der arme Bauer schlafen ge-
legt und sprach mit seiner Frau über ihre Not –
wie sie leben und was sie anfangen könnten. Da
sagt die Frau zu ihrem Mann: „Weißt du was,
Mann, wir haben einen Gänserich. Das ist ein un-
nützer Fresser, wir könnten ihn schlachten und
dem Gutsherrn als Geschenk bringen, vielleicht
gibt uns der Gutsherr irgend etwas für das Ge-
schenk.“
Am nächsten Morgen steht der arme Bauer auf.
Er schlachtete den Gänserich, steckte ihn in einen
Sack und trug ihn zum Gutsherrn.
Als er zum Gutsherrn kam, grüßte er, verneigte
sich und verbeugte sich nach allen Richtungen.
Der Gutsherr fragte den armen Bauern:
„Was gibt’s, Stepan, du bist noch nie zu uns
gekommen, weshalb bist du jetzt hier?“
„Ach, Herr, ich habe Euch ein Geschenk ge-
bracht!“

853
„Was für ein Geschenk? Ich nehme nie Ge-
schenke an, du sollst mir aber trotzdem zeigen,
was für ein Geschenk du mir gebracht hast.“
Der Bauer überlegte nicht lange und schüttelte
den Gänserich aus dem Sack auf den Fußboden.
Da sagt der Gutsherr zu dem armen Bauern:
„Also höre, Stepan, da du ihn mir gebracht
hast, will ich ihn schon nehmen. Nur unter der
Bedingung, daß du ihn auf unsere sechsköpfige
Familie aufteilst. Die Herrin und ich sind zwei, da-
zu zwei Söhne und zwei Töchter.“
Der arme Bauer überlegte nicht lange und bat
den Herrn um ein scharfes Messer. Der Gutsherr
ging schnell nach einem scharfen Messer und gibt
es Stepan. Stepan nahm das Messer und schlug
dem Gänserich den Kopf ab, und als er dem Gän-
serich den Kopf abgeschlagen hatte, gibt er ihn
dem Gutsherrn:
„Hier, Herr, du bist im Hause der Kopf, und so
gebe ich dir den Kopf!“
Dann schneidet er den Sterz mit dem Schwanz
ab, gibt den Sterz der Herrin und sagt zu ihr:
„Du, Herrin, sitzt immer zu Hause, siehst mit
dem Sterz zur Tür, und so habe ich für Euch den
Sterz mit dem Schwanz abgeschnitten.“
Er schnitt dem Gänserich die Beine ab und gibt
sie den Söhnen des Gutsherrn:
„Hier gebe ich jedem ein Bein, stapft nun auf
Väterchens Wegen umher!“
Darauf schnitt er die Flügel ab und gibt jeder
Tochter einen Flügel:
„Der Rumpf ist übrig und gehört mir!“

854
Für diese Teilung beschenkte ihn der Herr reich
und machte allem Mangel des armen Bauern ein
Ende. Stepan freute sich sehr. Kommt nach Hau-
se, arbeitet nicht mehr, sondern ruht sich aus.
Der reiche Bauer aber unterhält sich zu Hause
mit seiner Frau:
„Warum ist Stepan nicht zu sehen, ist er viel-
leicht krank?“
Der reiche Bauer schickt seine Frau, sie soll he-
rausbekommen, was mit Stepan los ist. Sie kam
zu dem armen Bauern und fragt seine Frau:
„Warum ist Stepan nicht zu sehen, ist er viel-
leicht krank?“
Die Frau des armen Bauern sagt zu ihr:
„Nein, er ist gesund, er ruht sich aus – darum
ist er nicht zu sehen.“
Die Frau des reichen Bauern wundert sich und
sagt zu ihr:
„Was heißt das, Onkel Stepan hat Tag und
Nacht gearbeitet, und nun ruht er sich auf einmal
aus?“
Die Frau des armen Bauern sagt zu ihr:
„Er hat dem Gutsherrn ein Geschenk gebracht,
und für das Geschenk hat der Gutsherr uns reich
belohnt, deswegen ruht er sich jetzt aus.“
Die Frau des reichen Bauern wurde neugierig:
„Was für ein Geschenk mag er ihm gebracht
haben?“
Die Frau des armen Bauern erzählte ihr:
„Mein Mann hat einen Gänserich als Geschenk
gebracht.“

855
Die blieb nicht lange stehen, geht schnell nach
Hause. Erzählte’s ihrem Mann, der sich sehr wun-
derte, daß der Gutsherr für Geschenke so freigie-
big belohnt. Der reiche Bauer und seine Frau wa-
ren sehr neidisch und begannen auch zu
überlegen, was sie dem Gutsherrn als Geschenk
bringen könnten. Die Frau des reichen Bauern
sagt zu ihrem Mann:
„Bei uns laufen doch fünf Gänseriche herum.
Sie bringen uns keinerlei Nutzen; wir wollen sie
kurzerhand schlachten und dem Herrn als Ge-
schenk bringen.“
So machten sie’s auch. Am nächsten Morgen
schlachteten sie die Gänseriche, steckten sie in
einen Sack, und er brachte sie zum Gutsherrn. Als
der reiche Bauer zum Gutsherrn kam, fing er auch
an, sich zu verneigen. Der Gutsherr fragte ihn:
„Jewdokim, du bist noch nie zu uns gekommen,
und heute besuchst du uns?“
Da sagt Jewdokim:
„Herr, ich habe Euch ein Geschenk gebracht.“
„Aber, aber, Jewdokim, ich nehme keine Ge-
schenke. Was hast du denn gebracht?“
Der reiche Bauer sagt kein Wort, sondern
schüttet die Gänseriche auf den Fußboden. Der
Gutsherr sah die Gänseriche und sagte:
„Na schön, ich will dieses Geschenk von dir an-
nehmen, nur mußt du es uns aufteilen. Siehst du,
du hast nur fünf Gänseriche, wir sind aber sechs
in unserer Familie. Und sie müssen irgendwie
gleich aufgeteilt werden. Wenn du sie teilst, neh-

856
me ich sie an, wenn du sie nicht teilst, dann jage
ich dich mit deinen Gänserichen hinaus.“
Der Bauer gab’s gleich auf und sagt:
„Nein, Herr, ich werde sie Euch nicht aufteilen
können.“
„Wenn du sie nicht aufteilen kannst, dann geh
zu deinem Nachbarn Stepan und bring ihn her. Er
kann sie uns gewiß aufteilen.“
Jewdokim freute sich, daß er das ganze Unglück
auf Stepan abwälzen kann, läuft zu Stepan und
sagt ihm, der Herr hat ihn rufen lassen. Stepan
zog sich gleich an und kam zum Gutsherrn. Der
Gutsherr sagte zu Stepan:
„Höre zu, Stepan, weswegen ich dich habe ru-
fen lassen: – Dein Nachbar Jewdokim hat uns ein
Geschenk gebracht, fünf Gänseriche. Ich habe ihn
gebeten, er soll sie uns teilen, er hat es nicht ge-
konnt, und ich habe nach dir geschickt. Am letz-
ten Mal hast du uns den Gänserich sehr schön ge-
teilt. Kannst du uns nicht auch diese fünf
Gänseriche teilen?“
„Ja, ich denke schon, daß ich auch sie teilen
kann!“
„Wie ist’s, brauchst du ein Messer“, fragt ihn
der Gutsherr, „oder nicht?“
Der arme Bauer sagt:
„Nein, ich kann sie ohne Messer teilen.“
„Nun, dann fang an l“
Stepan hob einen Gänserich vom Fußboden auf
und sagt:

857
„Der ist für Euch, Herr, du und die Herrin – Ihr
seid zwei, ich gebe Euch einen Gänserich, dann
seid ihr drei.“
Er nimmt den zweiten Gänserich, gibt ihn den
zwei Söhnen des Gutsherrn und sagt:
„Ihr seid zwei – hier gebe ich Euch einen Gän-
serich, dann seid ihr drei.“
Er nimmt den dritten Gänserich, gibt ihn den
zwei Töchtern des Gutsherrn und sagt:
„Ihr seid zwei, ich gebe euch einen Gänserich,
dann seid ihr drei.“
Er nimmt die zwei übriggebliebenen Gänseriche
und sagt:
„Diese zwei Gänseriche und ich, wir sind auch
drei.“
Dem Gutsherrn machte diese Teilung Spaß. Er
belohnte den armen Bauern reich, den reichen
aber jagte er hinaus.

858
88
Von der Not
Einmal arbeitet ein armer Bauer in seinem ärmli-
chen Rock und seinem elenden Schuhwerk im
Frost, hackt tüchtig Holz und kann sich doch nicht
erwärmen; das Gesicht brennt ihm vor Frost. Da
kommt ein Herr ins Dorf gefahren, nur zu zweit,
mit einem Kutscher; die hielten an.
„Gott helfe dir, Bauer!“
„Dank auch, Herr!“
„In solcher Kälte hackst du Holz!“
„Ach, Herr, die Not ist’s, die hackt!“
Der Herr wunderte sich hierüber und fragt sei-
nen Kutscher:
„Was heißt das, Kutscher, was für eine Not?
Kennst du sie?“
„Ich höre das erstemal davon, Herr!“
Fragt der Herr den Bauer:
„Was ist das für eine, Bauer, die Not? Ich
möchte sie mir gern einmal ansehen; wo hast du
sie?“
Der Bauer sagt:
„Wozu brauchst du sie, Herr?“
„Je nun, ich möchte sie mir gern einmal anse-
hen!“
Zu der Zeit aber stand gerade auf dem freien
Felde, auf einem Hügel, im Winter, mitten im
Schnee, ein Grashalm.

859
„Nun“, sagte der Bauer, .dort, auf dem Hügel,
Herr, steht die Not! Dort schwankt sie im Winde,
und keiner sie finde.“
Der Herr sagt:
„Hast du nicht ein wenig Zeit, sie uns zu zei-
gen?“
„Das kann ich schon, Herr!“
Sie setzten sich in die Troika und fuhren aufs
freie Feld, sich die Not anzusehen. Kamen hinaus
auf den Hügel und fuhren an diesem Grashalm
vorbei, ein anderer aber steht weiter weg. Der
Bauer zeigt mit der Hand hin:
„Dort, Herr, steht sie abseits vom Wege, wir
können nicht hinfahren: der Schnee ist zu tief.“
„Bewache doch unsere Troika“, sagte der Herr,
„ich will hingehen und sie mir ansehen.“
Der Herr kletterte herunter und ging los, der
Kutscher aber sagt:
„Herr, nehmt mich mit: ich möchte sie mir auch
gern ansehen!“
Und die zwei Dummköpfe stiegen los durch den
Schnee. An diesem Grashalm gehen sie vorbei,
finden den nächsten, die Not aber sehen sie noch
nicht. Der Bauer nun war nicht auf den Kopf gefal-
len, er schirrte die drei Pferde los, stieg auf und
jagte davon. Fort war er! Und sie wissen nicht,
wohin er geritten ist. So stiegen die zwei Dumm-
köpfe nun im Schnee herum, und da hatte die Not
sie überfallen. Sie gingen auf ihrer Spur zurück,
kamen auf den Weg, gingen zu ihrem Wagen, von
den Pferden aber war keine Spur zu sehen. Herr
und Kutscher überlegten und überlegten… Was

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tun? Die Pferde sind nicht da, und den Wagen
wollen sie auch nicht im Stich lassen. Da sagt der
Herr zum Kutscher:
„Spann dich als Deichselpferd ein, Kutscher, ich
will wenigstens als Beipferd ziehen.“
Der Kutscher sagt:
„Nein, Herr, ihr seid stattlicher und ein wenig
stärker, geht ihr als Deichselpferd, ich will als
Beipferd gehen.“
Nun, es blieb dem Herrn nichts anderes übrig,
er spannte sich als Deichselpferd ein. Und nun
ziehen und ziehen sie, haben eine Weile gezogen
und machen halt. Der Bauer aber hatte ihre Pfer-
de versteckt, andere Kleider angezogen und kam
ihnen entgegen. Der Bauer sagt:
„Was soll das, Herr, daß Ihr selber den Wagen
zieht?“ Der Herr sagt wütend:
„Verschwinde! Die Not ist’s, die zieht!“
„Was ist das für eine, die Not?“
„Geh dorthin aufs Feld, auf den Hügel!“
Er selber aber zieht und zieht. Kam bis zum
Dorf und mietete Pferde. Kam mit drei fremden
Pferden nach Hause. Die Not hatte er kennenge-
lernt: hatte drei Pferde verloren.

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89
Die Herrin und die Kücken
Es war einmal ein großer Gutshof. Dort lebte ein
reicher Herr. Der Herr starb. Die Herrin blieb al-
lein zurück.
Die Herrin nun hatte einmal einen Einfall: sie
wollte gern, daß eine Henne fünfzig Kücken aus-
brütet, lauter schwarze. Und die Herrin denkt:
„Das ist wohl unmöglich; eine Henne kann wohl
fünfzig Eier nicht wärmen.“
Und trotzdem will die Herrin durchaus fünfzig
Kücken haben, lauter schwarze.
Das Gesinde sagte:
„Ja, ist denn das überhaupt möglich?“
Und das Stubenmädchen sagt:
„Es ist unmöglich, aber sie will’s.“
Und der Kutscher sagt:
„Sag der Herrin, ich kann sie ausbrüten!“
Das Stubenmädchen meldete also der Herrin,
daß der Kutscher die fünfzig Kücken ausbrüten
kann. Die Herrin freute sich.
Die Herrin ließ den Kutscher gleich kommen
und sagt zu ihrem Kutscher:
„Nun, wie ist’s, Fjodor, kannst du fünfzig Kük-
ken ausbrüten, lauter schwarze?“
Fjodor sagt:
„Das kann ich, Herrin. Nur, Herrin, das Ausbrü-
ten ist teuer!“

862
Und die Herrin sagt:
„Wofür muß ich Ausgaben machen?“
„Seht, Herrin, ich brauche eine besondere Hüt-
te. Nun, Herrin, wir können vorläufig das Bade-
haus belegen.“
Die Herrin war einverstanden, das Badehaus für
drei Wochen zu belegen.
„Dann laßt mir einen gegerbten Halbpelz nähen,
er muß aus zwanzig Lammfellen sein, kauft einen
warmen Schal, einen roten Gürtel und warme
Stiefel. Und gutes Essen muß ich bekommen: je-
den Tag ein Viertel Branntwein, Spiegeleier, und
das, worauf ich gerade Appetit habe. Und reichlich
Kalbsbraten, und wenn er nicht reicht, bitte ich
um mehr. Und daß mir immer jemand das Essen
bringt. Und für meine Mühe bekomme ich fünfzig
Rubel, Herrin. Und die Kleider müssen in mein Ei-
gentum übergehen. Und hinterher bekomme ich
einen Monat Urlaub!“
Die Herrin ist mit allem einverstanden. Die Her-
rin denkt: „Was es auch kosten mag, er soll mir
fünfzig Kücken ausbrüten, lauter schwarze.“ Und
sie will Fjodor noch eine Belohnung geben.
Fjodor also erklärte sich einverstanden. Er bau-
te sich im Badehaus ein Nest und legte fünfzig Ei-
er hinein. Als Fjodor alles eingerichtet hatte, bat
er die Herrin, sich’s anzusehen. Die Herrin kam
ins Badehaus, sah das Nest, und die Herrin freute
sich sehr. Fjodor aber dachte gar nicht daran zu
brüten, er war im Badehaus, trank Branntwein
und Tee, aß Kalbsbraten und bewirtete seine
Freunde.

863
Fjodor aber ist kein Dummkopf, er weiß, wie er
die Herrin betrügen muß. An dem Tage, als er das
Nest gezeigt hatte, setzte er eine gewöhnliche
Glucke auf dreizehn Eier, und nicht nur eine, und
wenn’s Gott will, dann brütet irgendeine Glucke
wenigstens zwei, drei schwarze Kücken aus. Fjo-
dor aber trieb es die ganze Zeit so: trank und
trank, aß Kalbsbraten und bewirtete seine Freun-
de.
Nun reichte Fjodor auch die Schnapsportion
nicht mehr. Der Herrin wurde gemeldet, daß die
Portion nicht ausreicht. Die Herrin befahl, ihm je-
den Tag noch ein Viertel zu geben – nun bekam er
schon einen halben Eimer.
So gingen nun die drei Wochen herum. Und
Gott ist barmherzig. Zu Fjodors Glück hatte die
erste Glucke zwei schwarze Kücken ausgebrütet.
Fjodor schickt seine Dienerin zur Herrin:
„Geh, zeig sie der Herrin und bring sie mir
schnellstens wieder, denn lange kann ich’s nicht
ertragen, das Herz bricht mir.“
Die Dienerin nahm also die zwei Kücken und
brachte sie der Herrin, die Herrin aber sah die
Kücken und freute sich wer weiß wie sehr, daß
Fjodor angefangen hatte, die Kücken auszubrü-
ten. Die Herrin betrachtete neugierig die Kücken,
die Dienerin aber sagt:
„Herrin, so lange dürft Ihr die Kücken nicht an-
sehen! Die Kückenmutter hat mir aufgetragen:
behalte sie nicht zu lange, bring sie schnellstens
zurück, sonst bricht es mir das Herz, ich kann’s
nicht ertragen, hat er gesagt.“

864
Nach einiger Zeit nun:
„Angefangen habe ich die Sache“, sagt Fjodor,
„nun muß ich’s auch verstehen, sie zu Ende zu
bringen“, denkt er bei sich. „Das Essen hat doch
allen geschmeckt, nun muß einer es auf sich
nehmen, daß Fjodor vor der Herrin nicht als Tau-
genichts dasteht!“
Fjodor sagt also zu seinen Freunden:
„Kinder, ihr habt getrunken und gegessen, jetzt
habt Mitleid mit mir und helft mir! Ihr brennt jetzt
in der Nacht das Badehaus an, zerrt mich vom
Nest herunter und schleppt mich aus dem Bade-
haus heraus, wenn ich mich auch in die Flammen
stürzen will, haltet mich nur am Pelz fest, das Ba-
dehaus wird bald Feuer fangen, dann berichtet’s
schnellstens der Herrin!“
Das taten die Freunde auch für ihn. Das Bade-
haus fing bald Feuer: sie meldeten’s der Herrin,
Fjodor aber hatten sie schon aus dem Badehaus
herausgeschleppt. Und Fjodor schreit wie eine
Glucke:
„Gluck, gluck, gluck!“
Seine Freunde aber, das Gesinde, halten ihn am
Pelz fest. Und Fjodor will sich immer und immer
wieder in die Flammen stürzen, und im Badehaus
piepsen die Kücken. Und die Herrin hört das alles.
„Um Gottes willen, um Gottes willen, haltet
fest, halte die Glucke fest! Sieh nur, wie das Mut-
terherz brennt, sie schont sich selber nicht, will
sich in die Flammen stürzen!“
Seine Freunde aber halten ihn immer fest, las-
sen nicht los.

865
Das Badehaus brannte nieder, und auch Fjodors
Nest verbrannte.
Die Herrin aber war sehr traurig und beküm-
mert. Sie forderte Fjodor noch einmal auf, fünfzig
schwarze Kücken auszubrüten, aber Fjodor lehnte
ab. Fjodor sagt:
„Das Ausbrüten ist doch sehr schwer, Herrin!“
Die Herrin sagt zu Fjodor:
„Aber mager geworden bist du nicht, Fjodor.’
Fjodor sagt:
„Ja, ich bin nicht mager geworden, denn ich
habe gutes Essen bekommen.“
Und die Herrin stand trotzdem zu ihrem Wort:
für seine Mühe gab sie Fjodor fünfzig Rubel, und
den warmen Pelz gab sie ihm auch, und einen
ganzen Monat Urlaub gab sie ihm auch. Das Ge-
sinde aber, Fjodors Freunde, bedankten sich, sag-
ten ihm Dank für seinen schlauen Einfall und seine
Bewirtung.

866
90
Der Herr und der Hund
Es lebte einmal ein Herr auf einem reichen Gut.
Zu dem kam ein Bauer mit einem Anliegen. Er
kam ans Haus, vom Hause aus aber stürzte sich
der Lieblingshund des Herrn auf ihn. Der Bauer
erschrak tüchtig. Und der Bauer hatte einen
Knüppel in der Hand. Als sich der Hund auf den
Bauern warf, versetzte der Bauer dem Hund mit
voller Wucht einen Schlag und hatte den Hund
gleich erschlagen. Der Herr erfuhr davon, und der
Bauer gab’s zu und bat um Vergebung, dem Herrn
aber war es um den Hund sehr leid. Der Hund
hatte sein Gut aufs beste bewacht, und der Herr
konnte ihm nicht vergeben und verklagte den
Bauern vor Gericht.
Dann wurden sie vor Gericht gerufen. Weil der
Herr bei den Richtern in hohem Ansehen stand,
wollten sie den Bauern so richten, wie der Herr es
wünschte. Das schlugen sie dem Herrn vor.
Die Richter sagen:
„Was wollt Ihr mit ihm tun, Herr?“
Der Herr sagt:
„Ich denke mir folgendes: Weil es ein sehr gu-
ter Hund gewesen ist und er mir sehr teuer war,
mein ganzes Gut bewacht und mich behütet hat,
so möchte ich, daß er bei mir den Hund macht,
genauso auf dem Hofe lebt und nichts mehr mit

867
Menschenstimme sagen darf, sondern wie ein
Hund bellt, mein Gut bewacht und mich behütet.
Und ich will ihn schön warm anziehen und ihn gut
füttern lassen; wie ich meinen Lieblingshund habe
gut füttern lassen, will ich auch ihn gut füttern
lassen. Er darf aber nachts nicht schlafen, muß
alle Nächte bellen und mein Gut bewachen!“
Die Richter waren’s einverstanden, und der
Bauer konnte nichts dagegen tun, und so war er,
der Bauer, auch einverstanden.
So lebte nun der Bauer bei dem Herrn auf dem
Hofe und bellte wie ein Hund.
Der Bauer bellte schön, nachts schlief er nicht,
rannte auf dem ganzen Hof herum, und beim
Herrn unter dem Fenster bellte er oft besonders
laut. Der Herr war mit dem Hund zufrieden, und
der Herr befahl:
„Füttert den Hund gut!“
So hatte der Bauer ein halbes Jahr und mehr
gebellt, war mit Dieben bekannt geworden und
sagte zu den Dieben:
„Kommt in der und der Nacht und stehlt wert-
vollen Besitz meines Herrn, ich werde euch hier
aufmachen; und habt keine Angst, wenn ich auch
laut bellen werde; nehmt’s nur recht schnell und
macht euch dann schleunigst davon, und später
gebt ihr mir meinen Teil!“
So machten’s die Diebe auch. Der Hund aber
bellte in dieser Nacht lauter, rannte auf dem gan-
zen Hof herum, der Herr konnte nicht einmal ein-
schlafen, so laut bellte er. Der Herr dachte:

868
„Schön bellt der Hund. Ich muß Anweisung ge-
ben, ihn noch besser zu füttern.“
Und als am Morgen die Diener aufstanden, sa-
hen sie – die Vorratskammer war aufgebrochen,
und Gut war gestohlen worden; sie meldeten’s
dem Herrn, und der Herr war sehr wütend auf den
Hund, weil er sein Gut nicht bewacht hatte, und er
konnte ihm nicht vergeben und verklagte den
Hund vor Gericht.
Nun riefen die Richter den Herrn und den Hund
vor Gericht.
Der Herr sagt:
„Der Hund hier hat Diebe auf meinen Hof gelas-
sen!“
Die Richter aber fragen:
„Wie ist das, Herr, hat er in der Nacht gebellt?“
Der Herr sagt:
„Er hat laut gebellt, ich habe nicht einmal ein-
schlafen können; ich wollte schon Anweisung ge-
ben, ihn noch besser zu füttern.“
Da sagen die Richter:
„Seht Ihr, Herr, gerade in der Nacht hat der
Hund laut gebellt. Und Ihr, Herr, hättet irgendei-
nen Diener auf den Hof schicken müssen, der
nachsieht, warum der Hund so laut bellt. Spre-
chen ist ihm doch verboten.“
Die Richter sagen:
„Wir sind der Meinung, der Hund ist unschul-
dig!“
Der Herr aber war sehr wütend auf den Bauern.
Und nach dem damaligen Recht konnte ein Herr
einen Bauern ins Gefängnis stecken.

869
Der Herr denkt:
„Ich will ihn selber hinbringen und vor meinen
Augen ins Gefängnis stecken lassen.“
Der Herr fuhr also mit diesem Bauern los, bis
zum Gefängnis waren es aber an die fünfzig Werst
zu fahren. Und sie mußten spät abends durch ei-
nen dunklen Wald fahren. Der Herr lenkte sogar
selber. Der Bauer sah auf einmal – vor ihnen hat-
te der Wind eine Tanne mit großen Wurzeln aus-
gerissen. Die Wurzeln ragten nach oben. Kaum
hatte der Bauer diesen ausgerissenen Baum ge-
sehen, da kam ihm augenblicklich ein guter Ge-
danke. Er entriß dem Herrn plötzlich die Zügel
und schrie:
„Brrr, brrr, brrr!“
Der Herr war tüchtig erschrocken:
„Was ist denn los?“
Der Bauer aber sagt mit ängstlicher Stimme:
„Väterchen Herr, Väterchen Herr, sieh nur, sieh
nur, dort steht ein Bär auf den Hinterbeinen.“
Jetzt sah’s auch der Herr. Der Herr erschrak
tüchtig.
Der Herr sagt und drängt:
„Los, dreh um, los, dreh um!“
Der Bauer aber sagt:
„Herr, Herr, das geht nicht: wenn der Bär sieht,
daß wir Angst vor ihm haben, holt er uns gleich
ein und bricht uns alle Knochen!“
Der Herr sagt:
„Was sollen wir denn tun? Was sollen wir denn
tun?“
Der Bauer sagt:

870
„Herr, er hat große Angst vor Hundegebell.“
Da schrie der Herr:
„Dann belle doch, du Schafskopf!“
Der Bauer sagt:
„Ich kann nicht mehr bellen; ich habe auch kei-
ne Stimme.“
Und der Bauer macht dem Herrn Angst:
„Herr, Herr, der Bär kommt immer näher!“
Der Herr sieht – es hilft nichts, und er fing sel-
ber wie ein Hund zu bellen an. Der Bauer sagt:
„Herr, du mußt lauter bellen!“
Der Herr bellte noch lauter.
Der Bauer sagt:
„Der Bär hat Angst, er geht zurück.“
Der Herr war ganz matt vom Bellen und sagt:
„Jetzt belle du, du Hundsfott!“
Und der Bauer fing an zu bellen:
„Ham, ham!“
Er bringt kein Bellen zustande, und der Bauer
sagt:
„Herr, Herr, der Bär kommt immer näher!“
So bellte der Herr die ganze Nacht hindurch.
Und der Herr verlor seine ganze Stimme – er kann
nicht mehr bellen.
Es begann, hell zu werden. Der Bauer sagt:
„Herr, das ist gar kein Bär.“
„Was denn?“
„Je nun, der Wind hat eine Tanne ausgerissen.
Das sind die Wurzeln, die nach oben spießen… Ich
hab’s ja gewußt, daß es kein Bär ist.“
Der Herr sagt:

871
„Ach, du Hundsfott! Ich werde dich noch länger
im Gefängnis schmoren lassen!“
Der Bauer sagt:
„Mach was du willst Herr! Du, Herr, bist ein
Hund, denn du hast die ganze Nacht wie ein Hund
gebellt.“
Der Herr wurde noch wütender. Der Bauer
sagt:
„Ich hätte ja noch besser als du bellen können.
Ich wollte nur nicht. Und ich wollte, daß du die
ganze Nacht bellst.“
Der Bauer sagt:
.Jetzt werde ich allen erzählen, daß mein Herr
die ganze Nacht wie ein Hund gebellt hat! Daß ich
es war, der ihn hat bellen lassen!“
Der Herr wurde noch wütender auf den Bauern.
Der Herr wollte seinen Diener nicht so davon-
kommen lassen. Wie der Herr aber dem Bauern
auch drohte, der Bauer sagt nur:
„Mach was du willst, Herr, ich erzähle’s sowie-
so!“
Der Herr sieht, daß seine Sache schlecht steht,
und sagt zum Bauern:
.Was willst du haben, damit du’s nicht er-
zählst?“
Und der Bauer sagt:
„Vergib mir und stecke mich nicht ins Gefäng-
nis, und schenke mir noch eine schöne Kuh und
zwei Sack Weizen und laß mich zu Hause wohnen.
Und ich werde dir dankbar sein, Herr, und dich
loben; und werde allen sagen: ‚Nein, der Herr hat
nicht wie ein Hund gebellt!’“

872
91
Das Urteil des Schemjaka
Es waren einmal zwei Brüder: der eine war reich,
der andere arm. Der Arme kam zu dem Reichen
und bat um ein Pferd. Der Reiche gab ihm ein
Pferd, aber das Geschirr gab er ihm nicht. Nun,
was sollte der arme Bruder tun? Nun, er band den
Wagen einfach an den Schwanz. Fuhr in den Wald
und hackte eine große Fuhre Holz. Kam nach
Hause, machte das Tor auf, da blieb der Wagen
stecken. Das Pferd zog – und der Schwanz riß ab.
Er bringt das Pferd ohne Schwanz zurück, und der
Bruder wurde böse:
„Ich bringe dich vor Schemjaka den Richter!“
Sie fuhren los. Fuhren und fuhren. Bei einem
reichen Bauern kehrten sie ein. Der Reiche sitzt
beim Reichen, sie essen und trinken Schnaps, der
Arme aber liegt auf dem Ofen und wollte sehen,
was die Reichen essen. Beugte sich über den
Ofenrand, konnte sich nicht halten, fiel herunter
und erdrückte ein Kind.
Der reiche Bauer sagt:
„Ich gehe zu Schemjaka dem Richter!“
Nun fuhren sie schon zu dritt weiter. Unterwegs
ist eine große Brücke. Der arme Bruder denkt:
„Mit mir ist’s sowieso aus. Ich will von der
Brücke herabspringen und mich zu Tode stürzen.“

873
Dort aber kam gerade ein junger Bursche mit
seinem kranken Vater gefahren.
Der arme Bruder sprang von der Brücke herun-
ter und erschlug den Vater. Der Bursche sagt:
„Ich gehe zu Schemjaka dem Richter!“
Sie kommen zum Richter. Der Bruder bringt
seine Klage vor, der arme Bruder aber hatte einen
Stein in ein Tuch gewickelt und zeigt ihn dem
Richter. Schemjaka der Richter denkt, er will ihm
Geld geben, und sagt:
„Gib ihm das Pferd, bis der Schwanz nachge-
wachsen ist!“
Nun brachte der reiche Bauer seine Klage vor,
dem er das Kind erschlagen hatte, der arme Bru-
der aber zeigt wieder den Stein. Schemjaka der
Richter sagt:
„Gib ihm deine Frau, bis sie ein Kind bekommt!“
Nun brachte der Bursche seine Klage vor, der
Arme aber zeigt wieder den Stein im Tuch.
„Armer Bauer, stell du dich unter die Brücke, du
aber, Bursche, spring auf ihn herunter und er-
schlage ihn!“
Als alle gegangen waren, ruft Schemjaka den
armen Bauern: gib das Geld her, sagt er, der aber
wickelt das Tuch auf und sagt:
„Hättest du das Urteil nicht zu meinem Vorteil
gesprochen, ich hätte Schemjaka den Richter er-
schlagen!“
Schemjaka der Richter freute sich.
„Gott sei Dank, daß ich das Urteil so gespro-
chen habe!“

874
Und der Arme kommt zu seinem Bruder, um
das Pferd zu holen, der Bruder aber sagt zu ihm:
„Ich will dir eine Kuh geben und ein paar Schef-
fel Getreide, nur laß mir das Pferd!“
Der Arme nahm das alles und ging zu dem rei-
chen Bauern, um die Frau zu holen. Der erschrak
und bat ihn:
„Ich will dir ein Pferd geben und ein paar Schef-
fel Getreide, nur nimm nicht die Bäuerin!“
Der nahm’s und ging zu dem jungen Burschen.
„Nun“, sagt er, „ich will mich unter die Brücke
stellen, spring du auf mich herunter!“
Der Bursche hatte Angst, von der Brücke her-
unterzuspringen, und bittet den armen Bruder:
„Nimm eine Ziege und ein paar Scheffel Getreide,
ich kann nicht springen!“
Der arme Bruder nahm das alles und führt jetzt
ein schönes Leben.

875
92
Ein Lügenmärchen
Ich stand am Morgen auf, zog die Barfüße an,
schnallte das Bein unter die Sohlen, steckte die
Schneeschuhe in den Gürtel, band den Stock um
den Leib und stützte mich auf den Gürtel. Ich ging
keinen Weg und keine Straße; am Bast schnitt ich
den Berg; da sah ich auf der Ente einen See, warf
das Beil danach – und hatte zu kurz geworfen,
warf das zweite – und hatte zu weit geworfen,
warf das dritte – und hatte getroffen, nur
daneben; die Ente schlug Wellen, und der See flog
davon. Ich ging aufs freie Feld und sah: unter ei-
ner Eiche melkt eine Kuh die Bäuerin. Ich sage:
„Tantchen, Mütterchen! Gib mir anderthalb Krug
süße Milch!“ Sie schickte mich nach dem Dorf Un-
bekannt ins Haus Nirgendwo. Ich ging los und
kam hin: da knetet der Backtrog die Bäuerin. Ich
sage: „Tantchen, Mütterchen! Gib mir etwas
Teig!“ Sie holte den Trog aus dem Quirl und
schlug ihn mir um die Ohren. Ich auf und davon!
Kam auf die Straße hinaus: da hundet ein Bell
mich an: womit sollte ich mich wehren? Da sah
ich: auf dem Schlitten steht eine Straße, ich zog
den Schlitten aus der Deichsel, schlug ihn dem
Bell um die Ohren, ging nach Hause und legte
mich vor Kummer schlafen.

876
93
Ein Neckmärchen
(Parodie)
Es lebten einmal zwei Brüder, zwei Brüder – die
Schnepfe und der Kranich. Die mähten Heu, einen
tüchtigen Hauf’, stellten ihn mitten im Felde auf.
Sag ich’s Märchen wieder von hinten auf?

877
ANHANG

Nachwort1
I

Die russische mündliche Volkserzählung ist sehr vielseitig.


Märchen, Sagen, Legenden, sagenartige Memorate – alle
diese Arten der mündlichen Erzählung haben ihre spezifi-
schen Wesenszüge, unterscheiden sich in ihrer Thematik,
ihren Sujets, im System ihrer Gestalten und in ihrem Stil.
Andererseits sind sie häufig so sehr miteinander verwandt,
gehen so leicht ineinander über, daß eine Abgrenzung bis-
weilen schwierig ist.
Das Märchen unterscheidet sich von den anderen Arten
der mündlichen Prosa dadurch, daß es vom Erzähler als et-
was Erfundenes (вымысел), als Spiel der Phantasie darge-
boten wird, mag es nun vom unsterblichen Kostschej oder
von Peter I. handeln, von der Baba-Jagá, vom dummen
Gutsherrn oder vom habgierigen Popen. Nicht zufällig auch
definiert das Volk in seinen Sprichwörtern das Märchen als
etwas „Erdichtetes“ (складка) und unterstreicht damit seine
Verschiedenheit vom Lied und von der Erzählung wirklicher
Ereignisse (быль). Das Element des Phantastischen ist es,
wodurch das Wesen des Märchens, seine „Märchenhaftig-
keit“, die Spezifik der konkreten Gestaltung seines Ideenge-
haltes bestimmt wird.
Mit dem Wort „Märchen“ bezeichnen wir sowohl mora-
lisch-belehrende Tiererzählungen wie auch Zaubermärchen,

1
Anmerkung der Redaktion: Um die wissenschaftliche
und bibliographische Auswertung zu erleichtern, werden im
Nachwort und in den Anmerkungen alle russischen Autoren-
und Personennamen in der international gebräuchlichen „Bi-
bliotheksumschrift“ gebracht.

878
die voll von Wundern sind, kuriose Abenteuer- und satiri-
sche Schwankmärchen, obwohl doch jede dieser Arten der
mündlichen Prosa ihre charakteristischen Besonderheiten
hat.
Betrachten wir zum Beispiel das Zaubermärchen, dessen
Handlung sich im dreimalneunten Zarenreich, im dreimal-
zehnten Staat abspielt, dessen Held den Drachen mit den
drei Köpfen besiegt, auf dem fliegenden Teppich fliegt, das
Tischtuchdeckdich und die Tarnkappe in seinen Besitz
bringt, dann erhebt sich tatsächlich die Frage, was ein sol-
ches Märchen mit der Fabel vom schlauen Fuchs gemein
hat, der den dummen Wolf betrügt, oder aber mit der Er-
zählung vom schlauen Bauern, der einer dummen Gutsher-
rin eine Sau mit ihren Ferkeln entführt und den Gutsherrn
dazu bringt, unter seinem Hut einen .Falken“ zu bewachen.
Diese Märchen unterscheiden sich nicht nur durch ihre
Thematik, sondern durch das ganze System ihrer Gestalten,
die Art und Weise ihrer Komposition und ihre stilistische
Methode, das heißt durch ihren gesamten Stil.
Dennoch besitzen alle diese auf den ersten Blick so un-
terschiedlichen Arten mündlicher Prosa ein gemeinsames
Merkmal, das sie in ihrer schöpferischen Methode von den
benachbarten Arten der mündlichen Prosa – der historischen
Sage, der religiösen Legende und der phantastischen klei-
nen Geschichte – unterscheidet.
Das charakteristische Merkmal des Märchens ist, wie ge-
sagt, seine bewußte Orientierung darauf, daß es sich um
Erdichtetes handelt, ist, mit anderen Worten, der Charakter
der poetischen Erfindung, ihre Rolle, ihre Funktion.
Wie wenig wahrscheinlich auch die Ereignisse sein mö-
gen, von denen die Sage zu berichten weiß, wie töricht auch
die Erzählung von den Fährnissen der heiligen Wundertäter
sein und wie phantastisch die Erzählung von den Waldgei-
stern oder den Nixen auch anmuten mag, der Erzähler
glaubt an die Wahrheit seiner Geschichte oder tut zumindest
so, als glaube er daran, er bietet den Zuhörern seine Erzäh-
lung als Mitteilung von Ereignissen, die sich tatsächlich zu-
getragen haben, und betont ihre Glaubwürdigkeit. Für alle

879
diese Genres (Legende, Sage, phantastisches Memorat) ist
charakteristisch, daß sie auf die Logik von Tatsachen orien-
tieren. Es handelt sich bei ihnen um Berichte von außerge-
wöhnlichen Menschen, interessanten Ereignissen und er-
staunlichen Vorfällen. Im Unterschied hierzu ist die Tendenz
des Märchens ganz anderer Art, handelt es sich bei ihm
doch um eine Orientierung auf dichterisch Erfundenes, auf
ein Spiel der Phantasie. Die Frage nach der Glaubwürdigkeit
des Erzählten wird hierbei überhaupt nicht gestellt. Dies
wird unterstrichen sowohl durch den bei östlichen Märchen
beliebten Typ der Anfänge: „Ob es nun so war oder nicht –
vom Himmel fielen drei Äpfel herab“, als auch durch Schluß-
formeln des Typs: „Das Märchen ist aus – mehr gibt es nicht
zu lügen“1, durch die Verlagerung der Märchenhandlung in
ein unbestimmtes „dreimalneuntes Zarenreich“, einen
„dreimalzehnten Staat“, durch die Zwischenbemerkungen
der Erzähler und die hierauf erfolgenden Reaktionen der
Hörer: „Der lügt euch dreimal die Hucke voll“, „ein bekann-
ter Lügner“.
Orientierung auf dichterische Erfindung ist charakteri-
stisch für die Märchenarten aller Völker. Der Erzähler und
seine Zuhörer glauben keineswegs an die reale Möglichkeit
einer Reise des Helden auf dem fliegenden Teppich, an die
Existenz der Tarnkappe und des neunköpfigen Drachens
oder an die „Vernünftigkeit der Beziehungen“ zwischen Wolf
und Fuchs, ja sie glauben ebensowenig daran, daß der Ta-
gelöhner den Popen zwang, Heu zu essen, oder daß der
Zimmermann den hochmütigen Gutsherrn dreimal durchge-
prügelt hat. Die betonte, bewußte Orientierung auf die dich-
terische Erfindung bildet das Hauptmerkmal des Märchens
als Genre.
Diese Besonderheit ist schon mehrfach sowohl von russi-
schen wie auch von ausländischen Forschern festgestellt
worden, wenn auch meist nicht für das Genre insgesamt,
sondern lediglich für die Zauber- und die Tiermärchen.

1
Im Russischen mit Reim: Сказка вся – боле врать
нельзя (Anm. d. Übers.)

880
Als Arbeitsgrundlage könnte, so scheint mir, die folgende
Definition des Märchens akzeptiert werden:
Das Volksmärchen ist ein episches, im mündlichen Über-
lieferungsbereich beheimatetes Kunstwerk, vorwiegend in
Prosaform, das die Welt des Zauberhaften, des Abenteuerli-
chen oder des gewöhnlichen Alltags zum Gegenstand hat
und auf dichterischer Erfindung beruht.
Eine Orientierung auf dichterische Erfindung als Haupt-
prinzip der künstlerischen Methode des Märchens anzuer-
kennen, bedeutet jedoch keineswegs, seine Verbindung mit
der Wirklichkeit zu leugnen, jener Wirklichkeit, die den
Ideengehalt des Märchens, den Charakter seiner Sujets,
seiner Gestalten, der Details der Erzählung und seine Spra-
che bestimmt. „In jedem Märchen sind Elemente der Wirk-
lichkeit enthalten“, sagt Lenin. (W. I. Lenin, Werke, Bd. 27,
S. 79 [russisch], S. 88 [deutsch].)

Die Verbindung des Märchens mit der Wirklichkeit ist außer-


ordentlich mannigfaltig. Sie kann primär sein, d. h. die Ge-
nese des Märchens bestimmen, dieses oder jenes Sujet
schaffen, eine Gestalt, ein Motiv; oder aber sie kann sekun-
där sein, d. h. die weitere Veränderung des Märchens
bestimmen, sein Fortleben in den Jahrhunderten, sein
historisches Schicksal.
So ist beispielsweise das Zaubermärchen Produkt anderer
primärer Voraussetzungen sozialer, ökonomischer und hi-
storischer Art, einer anderen Wirklichkeit als das Alltags-
märchen, d. h. das Märchen mit Alltagsthematik (бытовая
сказка). Aber in bestimmten Abschnitten ihrer historischen
Entwicklung wurden beide den gleichen sozialen und öko-
nomischen Faktoren unterworfen, spiegelten sie die gleiche
Wirklichkeit wider und brachten sie die gleichen, dem Volk
zunächst am Herzen liegenden Gedanken zum Ausdruck.
Die historischen Wurzeln des Zaubermärchens sind –
ebenso wie die Genese der Tiermärchen – von vielen Ge-
lehrten untersucht worden. Seine Entstehung wird von ih-

881
nen unterschiedlich und mit unterschiedlicher Überzeu-
gungskraft erklärt, doch sind sie darin einig, daß das Mär-
chen ein Produkt der menschlichen Gesellschaft in einem
bestimmten Entwicklungsstadium ist, daß es von der Wirk-
lichkeit der Urgesellschaft hervorgebracht wurde. Völlig an-
dere Voraussetzungen haben wiederum das russische satiri-
sche, adelsfeindliche Märchen geschaffen, das eine Reaktion
des Volkes auf die Leibeigenschaftsverhältnisse Rußlands im
17. und 18. Jahrhundert darstellt.
Geschaffen in unvordenklichen Zeiten, nimmt dieses oder
jenes Märchen auf seinem Wege durch die Jahrhunderte
neue Züge in sich auf, büßt diese Motive und Gestalten ein,
entwickelt dafür jene und behandelt alte Gestalten auf neue
Art und Weise.
Die heute im Munde unserer Erzähler lebendigen Märchen
sind außerordentlich vielschichtig, und der Märchenforscher
muß die einzelnen, von den verschiedenen Epochen ge-
schaffenen Schichten unterscheiden, wenngleich diese
Schichtenbildung nicht mechanisch vor sich geht und das
Neue in jedem Märchentext mit dem Alten zu einem organi-
schen Ganzen verschmilzt.
Wirkt eine neue Wirklichkeit auf ein überliefertes Märchen
ein, dann hat dies eine Veränderung des Sujets zur Folge,
eine andere Interpretation der Gestalten, die Sprache des
Erzählers erneuert sich, und es entsteht somit ein neuer Stil
des Märchens.
Wollen wir ein Märchen unter sozialem Blickwinkel be-
trachten, dann müssen wir suchen und erkennen, wie sich
in ihm das Sehnen und Hoffen des Volkes in den verschie-
denen Epochen widerspiegelt, müssen wir erkennen, daß
das Märchen nicht nur die Stimmen ferner, oft vorhistori-
scher Zeiten zu uns trägt, sondern daß jede Epoche ihre
Probleme, Tendenzen und Worte in das Märchen hineinträgt.
Die Geschichte eines Märchens darf sich nicht darauf be-
schränken, seine genetischen Wurzeln aufzudecken, sie muß
auch seinen späteren Veränderungen nachgehen, die aufs
engste mit der Veränderung der Gesellschaftsordnung, mit

882
der Veränderung der Psyche und der Ideologie seiner
Schöpfer und Hörer verknüpft sind.
Im Unterschied zum literarischen Kunstwerk dauert das
gestaltbare Leben eines folkloristischen Textes so lange an,
wie er im Repertoire des Volkes lebendig ist, so lange, wie
die Erzähler, d. h. diejenigen, die ihn reproduzieren und
gleichzeitig produzieren, an ihm schaffen.
Weitergegeben von Generation zu Generation, vom Leh-
rer an den Schüler, vom Erzähler an den Zuhörer, befindet
sich das Märchen im Zustande unaufhörlicher Dynamik, in
ewiger Bewegung. Ein und dieselben Märchensujets, mögen
sie nun infolge ähnlicher sozialer und historischer Voraus-
setzungen bei verschiedenen Völkern entstanden oder aber
von einem Volk bei einem anderen entlehnt worden sein,
haben in den verschiedenen Epochen ein unterschiedliches
Fortleben in der mündlichen Tradition der verschiedenen
Völker, im Munde verschiedener Erzähler und sogar in der
Wiedergabe ein und desselben Erzählers zu verschiedenen
Zeiten oder vor unterschiedlicher Zuhörerschaft.
Daher weisen die Märchen aller Völker nicht nur enge
Verwandtschaft auf, sondern gleichzeitig auch tiefreichende
Unterschiede, spiegeln sie doch die Umwelt wider, in der sie
zu Hause sind, die jeweiligen Naturbedingungen und die
Geschichte des Volkes, das sie schuf oder bewahrte, d. h.
eine bestimmte historische Wirklichkeit.
Bei der Erforschung der Geschichte eines Märchens muß
man stets seine verschiedenen Varianten berücksichtigen,
da in den einzelnen Varianten eines für verschiedene Völker,
Epochen und Länder gemeinsamen Typs die nationalen,
klassenmäßigen und zeitlichen Unterschiede zutage treten,
die in ihrer Gesamtheit die historische Veränderung des
Märchens bewirkt haben. Jedes Märchen, oder richtiger ge-
sagt, jeder Text eines Märchens ist gleichzeitig Ergebnis
individuellen und kollektiven Schaffens. Die Varianten der
Märchen sind verschieden in ihrem Charakter, verschieden
ist daher auch ihre Bedeutung für das historische Schicksal
eines Märchens.

883
Man kann einige Haupttypen von Varianten skizzieren,
ohne dabei freilich ihre ganze Vielfalt zu erschöpfen. So be-
gegnen bekanntlich zu verschiedenen Zeiten und bei ver-
schiedenen Völkern stets die gleichen Sujets. Gleiche Sujets
können andererseits bei ein und demselben Volk in ver-
schiedenen Zeiten eine unterschiedliche Behandlung erfah-
ren. Zu ein und derselben Zeit kann bei ein und demselben
Volk das gleiche Sujet im Repertoire verschiedener Erzähler
verschieden fortleben. Ein und derselbe Erzähler kann je
nach seiner Zuhörerschaft und in Abhängigkeit von seiner
Stimmung oder der schöpferischen Aufgabe, die er sich ge-
rade im gegebenen Augenblick stellt, das gleiche Märchen
anders erzählen.
Ein Märchen ändert sich in Abhängigkeit davon, wer es
erzählt, wo, wann und wem es erzählt wird, in Abhängigkeit
von Epoche, Volk, sozialer Umwelt und Zuhörerschaft. Es
gibt keine „klassische“ Hauptvariante dieses oder jenes Su-
jets, jede einzelne befindet sich, ihr gestaltbares Weiterle-
ben vorausgesetzt, in ständiger Bewegung, in ständiger Dy-
namik.
Die Märchen der Völker berühren einander und stoßen
einander ab, indem sie auf ihrem Wege bald gewisse we-
sentliche Elemente einbüßen, bald neue in sich aufnehmen.
Es könnte scheinen, die Märchen haben sich auf ihrem
Wege durch die Jahrhunderte bei solch ewiger Bewegung
und angesichts der ständigen Veränderung so stark wandeln
müssen, daß es beispielsweise zwischen einem Märchen der
Epoche des Feudalismus und einem der Gegenwart nichts
Gemeinsames geben kann. Das ist jedoch nicht der Fall. Bei
all seiner Variabilität ist das Volksmärchen im Grunde ge-
nommen doch hinreichend stabil und in seinem Kern unver-
änderlich, was seine Ursache darin hat, daß bei der Schaf-
fung des Märchens das kollektive Prinzip gegenüber dem
individuellen den Vorrang hat, mit anderen Worten darin,
daß die schöpferische Leistung des Erzählers nicht so sehr
im Schaffen von Motiven zum Ausdruck kommt, als in der
Art und Weise, wie er die Motive aus dem bereitstehenden
Vorrat kombiniert. Denn eine jede konkrete Variante ist

884
zwar Ergebnis der individuellen schöpferischen Leistung die-
ses oder jenes Erzählers, das Märchen in seinem Sujetkern
indessen, in der Grundanlage seiner Gestalten, in der Ge-
samtheit seines Stils ist Ergebnis des kollektiven Schaffens
des Volkes. Hieraus resultiert die Stabilität seines ideellen
Kerns, der charakteristischen Merkmale seines Stils. Dies ist
der Grund dafür, daß sich nur die Variante als lebensfähig
erweist, die nicht gegen die Gesetze der Folklore als kollek-
tiver Kunst verstößt, die sich nicht in Widerspruch zu den
Grundlagen des Genres setzt. Unlogische, nicht überzeu-
gende Veränderungen einer Gestalt, eines Sujets, des Stils
eines Märchens und seiner Sprache führen zu seinem Zer-
fall, zum Tode der Gestalt, des Sujets, des Genres.
Diese Eigenart des Märchens – seine gleichzeitige Stabili-
tät und Veränderlichkeit – darf bei der Erforschung seines
späteren historischen Schicksals nie aus dem Auge gelassen
werden.
Das Studium der Geschichte eines Märchens dieses oder
jenes Volkes ist unmöglich ohne Berücksichtigung seiner
nationalen Eigenart. Die Geschichte eines Märchens in ihrer
Gesamtheit setzt sich zusammen aus der konkreten Ge-
schichte des russischen, deutschen, chinesischen Märchens
usf. von denen eine jede durch die Geschichte des jeweili-
gen Volkes, sein Leben, seine Bräuche, seine Glaubensvor-
stellungen, seine Arbeitsbedingungen und seine Sprache
bestimmt wird. Die nationale Eigenart eines Märchens ist
durch eine Vielzahl von Komponenten bedingt, die ganz den
gleichen Veränderungen durch die Zeit unterworfen sind wie
auch die anderen Eigenschaften des Märchens.
Die nationale Eigenart der Märchen eines Volkes läßt sich
durch Vergleich ermitteln und setzt sich aus einer Reihe hi-
storisch sich entwickelnder Elemente zusammen. „Nehmt
ein Märchen in seiner Gesamtheit“, sagt hierzu A. N. Vese-
lovskij, „untersucht, wie die verschiedenartigen Motive darin
verschmolzen sind, betrachtet es im Zusammenhang mit
den Märchen des gleichen Volkes, bestimmt die Besonder-
heiten seines physiologischen Baues, seine Individualität in
eben diesem Volk, und geht dann dazu über, es mit dem

885
oder den Märchen anderer Völker zu vergleichen.“ (Sobranie
sočinenij [Gesammelte Werke], Bd. XVI, S. 92.)
Jedes Volk schafft sich sein eigenes, unwiederholbares
Märchenepos, das sein nationales Antlitz, seine Geschichte,
sein Leben widerspiegelt.

II

Die Märchen eines jeden Volkes spiegeln das Leben jener


Umwelt wider, in der sie beheimatet sind, die Bedingungen,
unter denen das jeweilige Volk lebt, die Geschichte des Vol-
kes, das sie schuf und durch die Jahrhunderte getragen hat.
Anders kann es auch gar nicht sein, stellen doch die Mär-
chen jedes Volkes in erster Linie eine konkrete Widerspiege-
lung der Wirklichkeit dar.
Auch das russische Märchen hat seine Eigenart, und auch
seine Geschichte zeichnet sich durch Originalität und spezifi-
sche Eigenschaften aus. Obwohl seine historischen Wurzeln
ins graue Altertum zurückreichen, findet jede spätere Etap-
pe im Leben der russischen Gesellschaft im Märchen ihren
Niederschlag, bewirkt in ihm bestimmte gesetzmäßige und
typische Veränderungen.
Die nationale Besonderheit des russischen Märchens be-
steht in der Eigenart seiner reichen Sprache, im Charakter
seines poetischen Stils, in den rein russischen Alltagsdetails,
in den Besonderheiten der Landschaft und darin, daß in ihm
ein ganz bestimmter Bereich des russischen Lebens, vor-
wiegend des bäuerlichen, und ganz bestimmte soziale Ver-
hältnisse dargestellt werden.
Die meisten der im 18. 19. und 20. Jahrhundert aufge-
zeichneten Märchen sind von Bauern erzählt und tragen
deutlich ausgeprägten bäuerlichen Charakter. Selbst das
Leben der Zaren und das märchenhafte „dreimalzehnte
Zarenreich“ werden gewöhnlich nach dem Leben im
russischen Dorf vor der Revolution gezeichnet.
Der ideelle und künstlerische Reichtum des russischen
Märchens hat dazu beigetragen, daß es sich im mündlichen
Repertoire des Volkes erhalten hat; er bedingte auch das

886
Interesse, das ihm von den besten russischen Schriftstel-
lern, Künstlern und Komponisten entgegengebracht wurde.
Wie die Märchen anderer Völker, so sind auch die russi-
schen Volksmärchen hinsichtlich ihres Genres sehr verschie-
denartig. Wir finden im Repertoire der russischen Märchen-
erzähler mehrere Gruppen von Märchen, deren
Genremerkmale sich wesentlich voneinander unterscheiden,
für die aber immerhin die allgemeine Definition des Genres
„Märchen“ zutrifft, wie sie oben gegeben wurde.
Als Hauptgruppen des russischen Märchens können Tier-
märchen, Zaubermärchen, Abenteuermärchen und Alltags-
märchen genannt werden. Häufig ist es schwer zu entschei-
den, zu welcher dieser Gruppen ein Märchentext gehört.
Das Sujet eines Märchens kann seinen Charakter in der In-
terpretation verschiedener Märchenerzähler so verändern,
daß es schwierig ist, eine scharfe Trennungslinie zwischen
den einzelnen Märchenarten zu ziehen.
Außer den genannten Hauptarten des Märchens kennen
wir noch die Lügenmärchen (сказки-небылицы), die sich
auf mutwillige Unsinnigkeiten gründen und damit gleichsam
die Phantastik des traditionellen Märchens parodieren, fer-
ner die sogenannten Neckmärchen (докучные сказки) so-
wie zahlreiche witzige Formeln (црибаутки) und Märchen-
einleitungen (присказки). Auch viele Legenden religiösen
Inhalts und zahlreiche historische Überlieferungen berühren
sich mit den Märchen.
Der unterschiedliche Inhalt dieser Märchen, die unter-
schiedliche Art und Weise, in der sie mit der Wirklichkeit
verbunden sind, und die Unterschiedlichkeit ihrer poetischen
Sprache haben zur Folge, daß einige von ihnen in unseren
Tagen untergehen, aus dem Leben des Volkes verschwin-
den, andere dagegen zum ausschließlichen Besitz des kindli-
chen Zuhörers werden, und wieder andere, die sich mit
Anekdoten oder mit Erinnerungen an die Vergangenheit
berühren, auch weiterhin das Interesse des erwachsenen
Zuhörers finden.
Die Frage der Klassifizierung des Märchens ist bis heute
weder in der russischen noch in der Wissenschaft des Aus-

887
lands endgültig geklärt. Ein allgemeiner Mangel aller vorge-
schlagenen Klassifizierungssysteme besteht darin, daß ihnen
kein einheitliches Prinzip zugrunde liegt. Jede der genannten
Arten des Märchens umfaßt wiederum unterschiedliches Ma-
terial. So müssen bei diesem Klassifizierungssystem bei-
spielsweise den Zaubermärchen auch die legendenähnlichen
und die Heldenmärchen zugerechnet werden, den Abenteu-
ermärchen auch die historischen und die novellistischen,
den Alltagsmärchen auch die satirischen Märchen und die
Schwänke. Die vorgeschlagene Klassifizierung erschöpft
natürlich nicht alle Arten des Märchens und erhebt nicht den
Anspruch auf Endgültigkeit. Wichtig ist nicht die Klassifizie-
rung als solche, von Wichtigkeit ist es vielmehr, das eigent-
liche Wesen und die poetischen Besonderheiten einer jeden
Märchenart zu erfassen.

Die erste Erwähnung russischer Märchen findet sich in der


Kiewer Rus, doch ihre Wurzeln verlieren sich in unbekannte
Vorzeit. Wann eine bestimmte Erzählung ihren Platz im Gen-
re gefunden, wann sie ihr Leben gerade im Bereich des Mär-
chens und nicht etwa im Bereich der Legende oder der Sage
begonnen hat, läßt sich exakt schlechterdings nicht feststel-
len.
Es steht außer Zweifel, daß viele Tiermärchen sowie auch
viele Zaubermärchen, die im Repertoire des Volkes bis auf
unsere Tage lebendig sind, genetisch in die Zeit vor der
Klassengesellschaft zurückreichen. Doch haben sich diese
alten Elemente im Märchen funktionell so sehr verändert
und existieren nur in so allgemeiner Form weiter, daß man
keineswegs mehr sagen kann, als daß in den russischen
Märchen der Epoche des Feudalismus oder noch späterer
Epochen gewisse Elemente urgesellschaftlicher Vorstellun-
gen enthalten sind.
Was freilich die feudale Rus anlangt, so kann es als gesi-
chert gelten, daß Märchen in unserem Sinne in der Kiewer
Rus ein weit verbreitetes Genre des mündlichen Schaffens

888
waren. Die altrussischen Literaturdenkmäler enthalten ge-
nügend Erwähnungen von Märchenerzählern und Märchen,
die jeden Zweifel in dieser Hinsicht beseitigen.
Die frühesten Nachrichten von russischen Märchenerzäh-
lern und ihrer Rolle im täglichen Leben gehören dem 12.
Jahrhundert an. In der erbaulich-belehrenden Erzählung
Vom Reichen und Armen wird beschrieben, wie sich ein rei-
cher Mann zur Nachtruhe begibt. Unter den ihn umgeben-
den Dienern, die ihn auf die verschiedenste Weise unterhal-
ten, werden mit höchster Mißbilligung auch solche erwähnt,
die „Geschichten erzählen und lästerliche Spottreden füh-
ren“, die ihm also vor dem Einschlafen Märchen erzählen.
(S. V. Savčenko: Russkaja narodnaja skazka [Das russische
Volksmärchen], Kiew 1914, S. 37.) In dieser ersten Erwäh-
nung des Märchens hat bereits die ganze widerspruchsvolle
Einstellung zum Märchen ihren Niederschlag gefunden, die
wir im Verlauf der Jahrhunderte in der russischen Gesell-
schaft beobachten können.
Auf der einen Seite ist das Märchen beliebte Zerstreuung
und Unterhaltung und hat Zutritt zu allen Schichten der Ge-
sellschaft, auf der anderen Seite wird es gebrandmarkt und
verfolgt als etwas Teuflisches, etwas Unerlaubtes, das an
den Grundfesten der altrussischen Gesellschaft rüttelt.
All das berechtigt uns zu der Annahme, das sich das Mär-
chen in der alten Rus bereits als Genre der mündlichen Pro-
sa herausgebildet, sich von Sage, Legende und Mythos ab-
gesondert hatte. Seine Genremerkmale – Orientierung auf
die dichterische Erfindung und Unterhaltungsfunktion – wer-
den bereits sowohl von seinen Trägern wie von seinen Ver-
folgern erkannt. Schon in der alten Rus sind sie „erfundene
Geschichten“ (сказки небылые) und eben als solche leben
sie in den folgenden Jahrhunderten im Repertoire des Vol-
kes weiter.
Es kann angenommen werden, daß auch die Haupt-
merkmale der Poetik des russischen Märchens zu dieser Zeit
schon entwickelt waren. Davon zeugen die dem Märchen
verwandten Chroniküberlieferungen, in denen phantastische
Gestalten, dreimalige Wiederholungen und Situationen ver-

889
wendet werden, wie sie für das Märchen typisch sind. In die
Chroniken dringen sogar für das Märchen charakteristische
stilistische Formeln ein; so lesen wir beispielsweise in einer
Pskower Chronik aus dem Jahre 1266: „Wer alt ist, sei mein
Vater, und wer jung ist, mein Bruder.“ (Vgl. hierzu Märchen
Als sich Mücke und Fliege bekriegten S. 340.)
Wir sind also zu der Annahme berechtigt, daß im 13.
Jahrhundert auch schon das sogenannte Märchenzeremoni-
ell entwickelt war, das mit den traditionellen Märchengestal-
ten und Märchensujets untrennbar verknüpft ist.
Obgleich das Märchen in der feudalen Welt gegenüber
der Kirche und ihrer Lehre einen antagonistischen Stand-
punkt einnimmt und von Kirchenlehrern und Kirchenpredi-
gern verfolgt wird, finden seine Gestalten und Motive weit-
hin Verwendung in der Vitenliteratur. Unzweifelhaft ist der
Einfluß des Märchens auf die ursprüngliche altrussische
Chronik.
Auf die Entwicklung der traditionellen poetischen Mittel
des Märchens und vor allem des Zaubermärchens ist nicht
ohne Einfluß geblieben, daß Märchen allem Anschein nach
zum Repertoire der altrussischen Spielleute (скоморохи),
der berufsmäßigen Tänzer, Liedersänger, Erzähler gehörten,
für deren Kunst wir Belege aus der Zeit vom 11. bis 17.
Jahrhundert besitzen.
In der Geschichts- und Memoirenliteratur des 16. und 17.
Jahrhunderts kann man eine ganze Anzahl von Erwähnun-
gen des Märchens finden, die beweisen, daß das Märchen in
diesen Jahrhunderten sowohl unter den Bauern und Hand-
werkern wie auch in gleichem Maße in den sozialen Ober-
schichten zu Hause war. Zar Ivan IV. konnte ohne die Ge-
schichten eines Erzählers (бахарь) nicht einschlafen. In
seinem Schlafgemach warteten gewöhnlich drei blinde Grei-
se auf ihn, die ihm abwechselnd Märchen und Lügenge-
schichten (небылицы) erzählten. Wir kennen die Märchen-
erzähler der Zaren Vasilij Šujskij, Michail und Aleksej
Romanov. Wie aus den von Ivan Zabelin (Domašnij byt
russkich carej v XVI i XVII vv. č II, Materialy, V [Das häusli-
che Leben der russischen Zaren im 16. und 17. Jahrhundert,

890
Teil II, Materialien, V], 1915, S. 661) angeführten Bemer-
kungen, Narren, von religiösem Wahnsinn Besessene und
dgl. betreffend zu ersehen ist, wurden Märchenerzähler für
Geschichten, die sie erzählt hatten, auf persönlichen Befehl
des Zaren und Großfürsten „bald mit himmelblauem Tuch,
bald mit Kalbslederstiefeln, bald mit einem kirschroten eng-
lischen Kaftan“ belohnt.
Ausländische Reisende berichten von Märchen, mit denen
sich, ihren Beobachtungen zufolge, die Russen im 17. Jahr-
hundert bei ihren Gastereien unterhielten. (S. V. Savčenko:
Russkaja narodnaja skazka, a. a. O. S. 48-49.)
Der beträchtliche Einfluß des Märchens auf die hand-
schriftliche Chronik des 17. Jahrhunderts, die nicht nur ein-
zelne Elemente der Folklore enthält, sondern allerorts gänz-
lich auf folkloristischer Basis entsteht, zeugt gleichfalls von
der weiten Verbreitung des Märchens im alten Rußland.
Diese Chroniken und die zahlreichen Zeugnisse gestatten
es, auf das Märchenrepertoire des alten Rußland zu schlie-
ßen und anzunehmen, daß alle Hauptarten des russischen
Märchens darin vertreten waren: Zaubermärchen, Abenteu-
ermärchen, Alltagsmärchen und Tiermärchen.
Wenn in der Rus des frühen Feudalismus die Kunst des
Märchenerzählens geübt wurde, so bereitete dies gleichzei-
tig den Boden für die Übernahme, Aneignung und weite
Verbreitung von übersetzten spannenden Novellenmärchen
(сказки-повести), wie des Märchens von Bowa dem Königs-
sohn und von Jeruslan Lasarewitsch, die im 17. Jahrhundert
auf russischem Boden unter Heranziehung aller Mittel des
russischen Abenteuer- und Zaubermärchens weiterentwik-
kelt wurden. Nur auf der Grundlage einer festen Märchen-
tradition konnten solch großartige satirische Erzählungen
wie die vom Urteil des Schemjaka oder von Jorsch Jerscho-
witsch entstehen, die von dem hohen Stand des mündlich
überlieferten satirischen Märchens jener Zeit Zeugnis geben.
(S. V. Savčenko: Russkaja narodnaja skazka, a. a. O. S. 52-
53.)
Wie beliebt das Märchen als Genre im 17. Jahrhundert
gewesen ist, davon zeugt ferner, daß ein interessierter Eng-

891
länder, Collins, Leibarzt des Zaren Aleksej Michajlovič, am
Ende des Jahrhunderts Märchen über Ivan Groznyj aufge-
zeichnet hat. Das Buch Collins’ kam 1667 heraus. In russi-
scher Übersetzung erschien es zuerst im Russkij Vestnik
(Russischer Bote) 1841, Nr. 8 und 9.
Ein auf Originaltexte gestütztes Studium der Geschichte
des russischen Märchens kann erst vom 18. Jahrhundert an
begonnen werden (und selbst dies nur mit einigen Vorbehal-
ten). Erst von da an kann eine textologische Untersuchung
erfolgen, die nicht gezwungen ist, zur Rekonstruktion von
Sujets und Gestalten sowie zu Analogieschlüssen zu greifen,
wie dies bei der Behandlung des russischen Märchens frühe-
rer Perioden unerläßlich ist. Das 18. Jahrhundert liefert uns
einen ausreichenden Märchenschatz, der trotz schlechter
Qualität der Aufzeichnungen gestattet, sich ein Urteil über
die Märchenüberlieferung dieses Jahrhunderts zu bilden.
Die im 18. Jahrhundert einsetzende Publikation von Mär-
chen stützte sich auf die mündliche Überlieferung, und dies
kam sowohl in den Titeln der Sammlungen und in den An-
merkungen der Herausgeber wie auch in ihren Worten an
den Leser zum Ausdruck. Titel wie Mužik, iščuščij česti,
rasskazčik zabavnych basen (Ein Bauer, der sich die Ehre
erwerben will und unterhaltsame Geschichten erzählt), Ve-
selaja staruška, zabavnica detej, rasskazyvajuščaja starin-
nye byli i nebylicy (Eine lustige Alte, die die Kinder unterhält
und alte Geschichten und Märchen erzählt), Staričok-
vesel’čak, rasskazyvajuščij davnie moskovskie byli (Ein lu-
stiger Alter, der alte Moskauer Geschichten erzählt) oder
schließlich Lekarstvo ot zadumčivosti i bessonnicy ili nasto-
jaščie russkie skazki (Arznei gegen Trübsinn und Schlaflo-
sigkeit oder echte russische Märchen) heben die Verbindung
der Märchen mit der mündlichen Tradition hervor und sogar
die alte Sitte, Märchen vor dem Einschlafen zu erzählen. Die
Herausgeber dieser ersten Sammlungen wenden sich mit
Nachdruck an diejenigen, die Märchen gern hören, und be-
tonen daher, daß die in die Sammlungen aufgenommenen
Texte aus dem mündlichen Bereich stammen, gebrauchen
Formulierungen wie „gesammelte Märchen, die von einem

892
Erzähler gehört wurden“, „Geschichten, die in jeder Garkü-
che erzählt werden“, usw. Von den Herausgebern wird auch
darauf hingewiesen, daß sie bemüht waren, Sprache und
Stil der Erzähler zu bewahren, und sie betonen dabei, daß
die von ihnen veröffentlichten Texte aus dem Volk, genauer
gesagt, aus dem einfachen Volk stammen.
Es ist kein Zufall, daß die ersten Märchen des einfachen
Volkes von demokratischen Schriftstellern veröffentlicht
wurden, die ihren eigenen Geschmack, ihren Stil und ihre
Sprache in die Literatur mitbrachten und somit bisweilen,
wie Akad. V. N. Peretc treffend bemerkt hat, „für uns die
Perlen mündlichen Schaffens aufbewahrt haben.“ (Vystavka
massovoj russkoj literatury XVIII veka [Ausstellung der für
einen breiten Leserkreis bestimmten russischen Literatur
des 18. Jahrhunderts]. Leningrad 1934.) „Infolge der zu
ihrer Zeit herrschenden Auffassungen haben die Herausge-
ber der Sammlungen des 18. Jahrhunderts in Wirklichkeit
die Volksmärchen in all ihrer Kunstlosigkeit nicht wiederge-
geben können“ (A. N. Pypin: O russkich narodnych skaz-
kach. Otečestuennye zapiski, t. 8 [1856], nomer 4 [Über
russische Volksmärchen. Vaterländische Aufzeichnungen,
Bd. 8 (1856), Nr. 4], S. 42), doch haben sie nicht nur viele
Sujets bewahrt, sondern auch die volksgemäße Behandlung
der Gestalten und gelegentlich auch die Merkmale des
Volksstils.
So finden wir im Письмовник [pis’movnik – etwa „Litera-
risches Hausbuch“] von N. Kurganov (erstmals 1769 er-
schienen, mehrere Auflagen im 18. Jahrhundert) den
Schwank von der Beerdigung eines Hundes. Es ist dies die
erste russische Veröffentlichung eines gegen die Popen ge-
richteten satirischen Märchens. Dieses Märchen ist in zahl-
reichen Varianten bekannt und hat bis in unsere Zeit seinen
festen Platz im Repertoire russischer Märchenerzähler be-
hauptet. Das Sujet ist in der Folklore vieler Völker weitver-
breitet, doch berechtigt seine weite Verbreitung in Rußland
zu der Annahme, daß Kurganov von einer russischen Quelle
ausgegangen ist. Dasselbe kann auch für andere „kuriose
Kurzgeschichten“ des Письмовник angenommen werden,

893
wie zum Beispiel für die Erzählung vom Vater, der seinen
feindlichen Söhnen eine anschauliche Lehre erteilte, indem
er sie einen Reisigbesen zerbrechen hieß, erst den ganzen,
darauf Rute um Rute; oder für die Erzählung vom Russen
und vom Polen, die ausgemacht hatten, das strittige Gericht
solle der essen dürfen, der den schöneren Traum habe;
oder schließlich vom klugen Bauern, der es verstand, fünf
Brote zu teilen.
Ende der siebziger Jahre finden wir in der Sammlung S.
Drukovcevs, Babuškiny skazki (Großmutters Märchen), das
nicht nur in Sujet und Fabel, sondern auch in seiner Sprache
reine Volksmärchen, wie ein Mann seine faule Frau kuriert.
Nicht allein die Idee des Märchens, sein Sujet, sondern auch
seine ganze Sprachintonation und besonders die bei unse-
ren besten Erzählern so häufig begegnende humoristische
Verwendung des Reims sprechen für die folkloristische
Echtheit dieses Textes.
Derselbe Drukovcev druckt in seiner zweiten Märchen-
sammlung Sova (Die Eule) ein anderes Volksmärchen ab,
das Märchen von Lutonjuschka, und zwar in Kontamination
mit dem weithin bekannten Märchen vom Bauern, der einer
vertrauensseligen Gutsherrin, vorgeblich zu einer Hochzeit,
eine Sau mit ihren Ferkeln entführt.
Schließlich finden wir in der von V. Levšin besorgten
mehrbändigen Sammlung russischer Märchen drei echte
Volksmärchen, die sich durch ihre demokratische Tendenz
auszeichnen. Es geschah nicht von ungefähr, daß diese Mär-
chen bei der offiziellen Kritik eine äußerst unfreundliche
Aufnahme fanden.
Wenn schon das Märchen mit Alltagsthematik (Alltags-
märchen) seinen Weg ins gedruckte Buch fand, so wurde
verständlicherweise das Zaubermärchen um so bereitwilliger
und in noch größerem Umfang veröffentlicht. Es ist vertre-
ten in den Sammlungen Lekarstvo ot zadumčivosti i besso-
nicy ili nastojaščie russkie skazki (Arznei gegen Trübsinn
und Schlaflosigkeit oder echte russische Märchen), Peters-
burg 1786, und Deduškiny progulki ili prodolženie nastojaš-
čich russkich skazok (Großvaters Spaziergänge oder Fort-

894
setzung der echten russischen Märchen), Petersburg 1786,
ferner in den Skazki russkie, soderžaščie v sebe desjat’ raz-
ličnych skazok, sobrannye i izdannye Petrom Timofeevym
(Russische Märchen, enthaltend zehn verschiedene Mär-
chen, gesammelt und herausgegeben von Pjotr Timofejew),
Moskau 1767, sowie in der Sammlung Staraja pogudka na
novyj lad ili polnoe sobranie drevnich prostonarodnych ska-
zok (etwa: Alte Weisen neu dargeboten, oder Vollständige
Sammlung alter Märchen aus dem einfachen Volk), Moskau
1794-1795. Es handelt sich hierbei um die ersten, noch un-
vollkommenen Veröffentlichungen der Märchen Von den
sieben Semions, Von Iwan Zarewitsch, dem Feuervogel und
dem grauen Wolf, Von Iwanuschka dem Dummkopf und
andere.
In eben diesen Sammlungen finden wir auch die ersten
Veröffentlichungen von Tiermärchen und vor allem das be-
liebteste russische Tiermärchen, das Märchen Vom Wolf und
vom Fuchs.
Die Märchensammlungen des 18. Jahrhunderts gestatten
nicht nur ein Urteil darüber, welche Sujets und was für Mär-
chen in der mündlichen Tradition verbreitet waren, sie lie-
fern uns auch ein Porträt des Märchenerzählers, bezeugen
unmißverständlich, daß die Tradition des Märchenerzählens
weiterlebte, und machen mit Texten bekannt, die in echter
Volkssprache erzählt sind.
Die Veröffentlichungen von Alltagsmärchen aus dem 18.
Jahrhundert ermöglichen eine Vorstellung von ihrer sozialen
Zugespitztheit, von der Schärfe ihrer Satire, einer Satire,
die gegen Adel und Gerichtsbeamtenschaft, gegen Gewalt
und Erpressung gerichtet war, und sie lassen erkennen,
welch enge geistige Verwandtschaft zwischen dem Alltags-
märchen und der fortschrittlichen Literatur jener Zeit be-
stand. Die Veröffentlichungen von Zaubermärchen wieder-
um lassen die Feststellung begründet erscheinen, daß
einmal bereits im 18. Jahrhundert diejenigen Märchen be-
liebt und anerkannt waren, die auch späterhin den Charak-
ter des russischen Märchenrepertoires bestimmten, und daß
zum anderen der ausgeformte Stilkanon des Zaubermär-

895
chens, sein „Zeremoniell“, von den Schriftstellern des 18.
Jahrhunderts, die die ersten Veröffentlichungen veranstalte-
ten, als ein Merkmal des Volksmärchens begriffen wurde,
das von seinem innersten Wesen nicht getrennt werden
kann.
Obwohl der Wert der Aufzeichnungen nur begrenzt ist,
können wir uns ein Bild davon machen, was das russische
Märchen im 18. Jahrhundert darstellte. Unzweifelhaft waren
in mündlicher Wiedergabe alle jene Sujets lebendig, die uns
aus späteren Aufzeichnungen bekannt sind. Das sind zum
einen die Tiermärchen, die in jener Zeit bereits als allegori-
sche Tierfabeln aufgefaßt wurden. Das sind zum anderen
komplizierte Zaubermärchen, die durch ihre Spannung, das
Spiel der Phantasie und ihren Erfindungsreichtum fesseln.
Und das sind schließlich die Märchen von Popen und Guts-
herren, deren Rolle in dieser Epoche der verschärften Leib-
eigenschaft und ihrer verschärften Bekämpfung offensicht-
lich besonders bedeutend gewesen ist.
Die Eigenart der Folklore, die sich in ewigem Fluß und in
ewiger Veränderung befindet, macht es unmöglich, eine
scharfe Trennungslinie zwischen dem Märchen des 18. und
dem der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts zu ziehen.
Die weite Verbreitung des Märchens und die bedeutende
Rolle, die es im Leben des Volkes spielte, bieten zweifellos
auch eine Erklärung dafür, daß das Interesse der Schriftstel-
ler und Forscher für das Märchen im 19. Jahrhundert weiter
zunimmt.
Bekannt ist die großartige Märchenerzählerin ihrer Zeit,
die Kinderfrau A. S. Puškins. Von der Beschließerin Pelageja
hat S. T. Aksakov als Kind „mehrere Dutzend Male“ das
Märchen Vom roten Blümlein gehört. D. V. Grigorovič be-
richtet von seinem Kammerdiener Nikolai, der ihn durch
Felder und Haine führte und dabei die verschiedensten
Abenteuer und Märchen erzählte. Und bei L. N. Tolstojs
Großmutter lebte ein alter blinder Märchenerzähler, ein
„Überrest des alten Herrentums“.
Puškin zeichnet die Märchen seiner Kinderfrau Arina Ro-
dionovna auf und wendet sich in seinem Schaffen wiederholt

896
dem Volksmärchen zu. Allbekannt ist, welch hohen Wert er
dem Volksmärchen beimißt („Wie reizvoll sind doch diese
Märchen, jedes einzelne ist ein Poem“) und daß er den jun-
gen Schriftstellern rät, vor allem die „Märchen des einfachen
Volkes“ zu lesen, wenn sie die Eigenart der russische Spra-
che erkennen wollen. In jenen Jahren auch zeichnet der
bekannte Sprichwortsammler und Wörterbuchverfasser V. I.
Dal’ Märchen auf, die später in der berühmten Märchen-
sammlung A. N. Afanas’evs Aufnahme finden sollten.
Als Beweis für das ständig zunehmende Interesse, das
Wissenschaft und Öffentlichkeit dem Märchen entgegenbrin-
gen, können die in den dreißiger und vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts herausgegebenen Märchensammlungen
dienen, z. B. die Russkie narodnye skazki (Russischen
Volksmärchen) Bogdan Bronicyns (1838), die „nach den
Worten eines weit herumgekommenen Bauern und Mär-
chenerzählers aus dem Moskauischen“ aufgezeichnet sind,
oder auch die Russkie narodnye skazki (Russischen Volks-
märchen). I. P. Sacharovs (1841). Mag die Qualität dieser
Veröffentlichungen nun gut oder schlecht sein, allein schon
die Tatsache ihres Erscheinens zeugt von der steigenden
Nachfrage des Lesers nach Sammlungen echter Volksmär-
chen. Die Folge war, daß sich in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts Vertreter der verschiedensten politischen und
wissenschaftlichen Richtungen am Sammeln, Erforschen und
Publizieren von Märchen beteiligten.
Die von Puškin begonnene fortschrittliche Richtung in der
Märchenforschung wurde weiterentwickelt und fand in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Vertreter der verschie-
densten politischen und wissenschaftlichen Richtungen am
Sammeln, Erforschen (hier fehlt im Original mindestens eine
Zeile – Pegasus37) lichen Forderung an die Öffentlichkeit,
die vom Volk geschaffenen Märchen „nach dem Diktat des
Volkes“ aufzuzeichnen, ohne irgend etwas zu verändern
oder hinzuzufügen.
In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhun-
derts erscheint die von dem bekannten russischen Gelehrten
A. N. Afanas’ev veranstaltete erste wissenschaftliche Ausga-

897
be russischer Volksmärchen, welche den Reichtum des rus-
sischen Märchenepos breiten Leserkreisen zugänglich mach-
te. Trotz der Unzulänglichkeiten dieser Sammlung, die sich
durch den damaligen Stand der philologischen Wissenschaft
erklären lassen und die für die mythologische Schule, deren
Vertreter Afanas’ev war, kennzeichnend sind, wird das Buch
Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen) für lange
Zeit zur Hauptquelle der russischen Märchenforschung. Aus
Zensurgründen der Möglichkeit beraubt, viele weitverbreite-
te popen- und adelsfeindliche Märchen in seine Sammlung
aufzunehmen, veranstaltete Afanas’ev außer dieser Samm-
lung im Ausland eine anonyme Ausgabe Zavatnye skazki
(Heimliche Märchen).
Somit stellt das Märchen schon zu Beginn der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur eine im Alltag des
Volkes weitverbreitete Erscheinung dar, sondern auch eine
bedeutsame Tatsache des literarischen Lebens Rußlands
und einen Gegenstand sorgfältiger wissenschaftlicher
Untersuchung.
Im weiteren Verlauf der russischen Märchenforschung hat
die gesamte Entwicklung der russischen Wissenschaftstheo-
rien über das mündliche Volksschaffen ihren Niederschlag
gefunden. Für das Märchen interessieren sich nach wie vor
die Vertreter der verschiedenen folkloristischen Schulen (A.
N. Afanas’ev, F. I. Buslajev, V. F. Miller, A. N. Veselovskij
und andere), ihm wenden sich bei ihrer theoretischen und
sammlerischen Tätigkeit mehrfach auch die revolutionären
Demokraten und die ihnen nahestehenden Kreise der fort-
schrittlichen Jugend zu. Rings um das Märchen, um die Auf-
gaben und Methoden seiner Erforschung, entbrennt ein hef-
tiger Kampf zwischen den Vertretern der verschiedenen
Richtungen in Wissenschaft, Literatur und Publizistik.
Die von Puškin und Belinskij eingeschlagene fortschrittli-
che Richtung in der russischen Märchenforschung findet ihre
Fortsetzung bei N. G. Černyševskij und N. A. Dobroljubov,
besonders in Dobroljubovs Rezension zu Afanas’evs Samm-
lung Narodnye russkie skazki (Russische Volksmärchen).
Diese Rezension stellt eine neue Etappe in der Erforschung

898
nicht nur des Märchens, sondern überhaupt der gesamten
russischen Folklore dar. Dobroljubov tritt mit der präzise
und scharf formulierten Forderung an die Öffentlichkeit, auf
dem Wege über die Folklore die Weltanschauung des Volkes
zu studieren. „Märchen sind für uns vor allem als Material
zur Charakterisierung des Volkes wichtig“, schrieb er. Einen
Mangel der Afanas’evschen Sammlung sieht Dobroljubov
darin, daß das eigentlich Lebendige in ihnen völlig fehlt, daß
„man das Volk aber aus den von Herrn Afanas’ev herausge-
gebenen Märchen nicht kennenlernen kann.“ – „Jeder, der
die Schöpfungen der Volkspoesie aufzeichnet und sammelt“,
erklärt Dobroljubov, „würde etwas sehr Nützliches leisten,
wenn er sich nicht auf das bloße Aufzeichnen eines Mär-
chen- oder Liedtextes beschränkte, sondern die gesamte
Situation – sowohl die rein äußere wie auch die mehr inne-
re, moralische – wiedergäbe, in der er Gelegenheit hatte,
das betreffende Lied oder Märchen zu hören.“ (N. A. Dobrol-
jubov: Polnoe sobranie sočinenij, t. I [Gesammelte Werke,
Bd. 1], Moskau 1934, S. 432 f.)
Die Rezension Dobroljubovs hat die weitere Entwicklung
der fortschrittlichen russischen Folkloristik des ausgehenden
19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der
Märchenforschung vorgezeichnet: sie bestimmte die Metho-
den des Sammelns und die grundlegende Problematik der
Forschung. Insbesondere verdient die Sammlung I. A.
Chudjakovs Velikorusskie skazki (Großrussische Märchen),
1860-1863, hervorgehoben zu werden, ferner die Samm-
lung A. A. Erlenvejns Narodnye skazki, sobrannye sel’skimi
učiteljami (Volksmärchen, von Dorflehrern gesammelt),
1863, und die Sammlung E. A. Cudinskijs Russkie narodnye
skazki, pribautki i pobasenki (Russische Volksmärchen,
Scherzreden und Anekdoten), 1864.
Die Forderung Dobroljubovs, man müsse das Antlitz des
Volkes zeigen, führte zu sorgfältiger Untersuchung der Rol-
le, die der Märchenerzähler beim Gestalten eines Märchens
spielt. In der Memoiren- und Geschichtsliteratur sowie in
ethnographischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten
des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts begegnet man

899
häufig Erwähnungen einzelner Märchenerzähler und auch
Beschreibungen ihrer Gestaltungsweise. Schließlich er-
scheint 1884 die Sammlung D. N. Sadovnikovs Skazki i pre-
danija Samarskogo kraja (Märchen und Sagen aus dem Ge-
biet von Samara), in der das Schaffen des hervorragenden
russischen Märchenerzählers Abram Novopol’cev reich ver-
treten ist.
Somit bietet sich uns ein recht klares Bild des russischen
Märchens in den Jahren nach der „Reform“, der Aufhebung
der Leibeigenschaft von 1861.
In den auf die Reform folgenden Jahren war das Mär-
chen, nach den zur Verfügung stehenden Aufzeichnungen
und den Beobachtungen der Sammler zu urteilen, weitver-
breitet und erfreute sich eines schöpferischen Fortlebens.
Nach Zählungen, die an Hand des veröffentlichten Materials
vorgenommen wurden, überwiegen in diesen Jahren die
Zaubermärchen im russischen Repertoire, aber sie beginnen
schon, den Alltagsmärchen Platz zu machen. Wir können
sehen, daß die Zaubermärchen in diesen Jahren Episoden
und Details aus dem Alltag aktiv in sich aufnehmen.
In den Jahren nach der Reform waren die Erinnerungen
an die Leibeigenschaft im Gedächtnis der Bauern noch frisch
und lebendig, und es ist daher nicht zu verwundern, daß
sich auch in den Märchen dieser Jahre oft Erwähnungen der
erst unlängst aufgehobenen Fronherrschaft finden. Im Alltag
wie auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit
gab es noch genügend Erscheinungen, die die Bewahrung
und das schöpferische Weiterleben des leibeigenschafts-
feindlichen Märchens begünstigten. Der Gutsbesitzer war für
die Bauern auch nach der Reform der gleiche Feind und
Ausbeuter geblieben, und so erklärt sich die Aktualität und
Lebenskraft der Märchen vom Gutsherrn, der erfahren woll-
te, was Not ist (Nr. 88), von der dummen Gutsherrin, die
ein schlauer Bauer geschickt übertölpelte (Nr. 89), und an-
derer mehr.
Ein charakteristisches Merkmal der Zeit nach der Reform
sind die Verarmung der Bauernwirtschaften, die Ruinierung
und Verelendung der Bauernmassen. Dieses Merkmal hat

900
einen nicht zu übersehenden Niederschlag auch in den Mär-
chentexten gefunden, die in den Jahren nach der Reform
aufgezeichnet wurden. Die Märchenerzähler sprechen immer
wieder von der übermäßigen, auswegslosen Armut ihres
Helden, der des Elends auf keine Weise Herr werden kann.
Zum Haupthelden des Märchens der Zeit nach der Re-
form werden der Landarbeiter und der Handwerker, wobei
die Märchen hervorheben, wie schwer das unfreie Leben des
arbeitenden Menschen ist.
Die Märchen der Nachreformzeit sprechen nicht nur im-
mer wieder von der Armut und Zerstörung des Dorfes, sie
bieten auch ein klares Bild von der Aufspaltung der Bauern-
schaft. Wir sehen, wie in ihnen ständig der arme Held dem
Reichen gegenübergestellt wird und wie es meist die Ge-
genüberstellung vom reichen und armen Bruder ist, die dem
sozialen Konflikt noch größere Schärfe verleiht.
Das Märchen aus der Nachreformzeit kennzeichnet tref-
fend die zwei Seiten des gleichen Prozesses: wie einerseits
die Dorfarmut ruiniert und proletarisiert wird, wie anderer-
seits die Geldsäcke des Dorfes sich bereichern und in den
Kaufmannsstand aufsteigen. Das Problem des Geldes, des
Kapitals und der Möglichkeit des Reichwerdens bewegte so-
wohl die Vertreter der Dorfbourgeoisie als auch das Dorfpro-
letariat, und so ist es nur allzu natürlich, daß diese Fragen
auch die Märchenerzähler jener Zeit und ihre ländliche Zu-
hörerschaft beschäftigten.
Die Satire des Märchens richtet sich in der Nachreform-
zeit auch gegen die Geistlichkeit, wobei die Einheit der In-
teressen von Gutsherren und Geistlichkeit hervorgehoben
wird.
Anders ist die Einstellung des Märchens jener Zeit zum
Kaufmann: seine Gestalt wird in der Regel außerhalb der
Klassengebundenheit gezeichnet, ohne Begreifen seiner
Ausbeuternatur. Das Bewußtsein der Bauernschaft, die Er-
kenntnis ihrer eigenen Rolle und Stellung sind in jener Zeit
noch begrenzt und voller Widersprüche, und dies führt dazu,
daß das reiche Kaufmannsleben als eine Idylle dargestellt
wird, als ein unerreichbares Ideal, wie es die Phantasie dem

901
hungrigen Bauern vorgaukelt, der unter dem Ansturm des
Kapitals zugrunde geht.
Für die Nachreformzeit ist nicht nur ein verstärktes Inter-
esse der Erzähler und ihrer Zuhörer für das Alltagsmärchen
kennzeichnend, sondern auch unverkennbar eine Durchset-
zung der Zaubermärchen mit Details aus dem Alltag, eine
Wendung vom traditionellen zauberhaften Zeremoniell zur
Wirklichkeit. Das Zaubermärchen wird von den Märchener-
zählern häufig in solchem Maße mit Alltagsdetails ausgestat-
tet, daß es gleichsam zu einer Erzählung aus dem Alltag
wird.
Die Epoche nach der Reform ist die Epoche der Entwick-
lung des Kapitalismus und gleichzeitig die Epoche des An-
wachsens der revolutionären Bewegung.
Das hat seinen Niederschlag auch im Märchen gefunden:
es tauchen darin Haft und Gefängnis, Verbannung und
Zwangsansiedlung und der harte Polizeihauptmann auf.
Im Märchen jener Zeit klingt auch die Erkenntnis durch,
daß die Macht des Zaren wankt, daß das Zarentum zum
Untergang verurteilt ist. Ein Zar heilt einen Bauern von der
neidvollen Bewunderung des Zarenlebens, indem er ein
Messer über ihm aufhängt: „Genauso steht’s mit unserem
Zarenleben, es hängt von einer Stunde zur anderen an ei-
nem Fädchen.“
Während also das Märchen mit Alltagsthematik und ins-
besondere das adelsfeindliche und antiklerikale Märchen in
den Jahren nach der Reform alle seine Genremerkmale ohne
Einschränkung bewahrt, bricht das Zaubermärchen unver-
kennbar mit den epischen und ästhetischen Normen, die in
der Epoche des Feudalismus entwickelt worden waren, wird
gleichsam in eine andere Ebene versetzt und nähert sich
dem Alltagsmärchen. Die ersten Merkmale des Zerfalls und
Niedergangs der epischen Märchentradition zeigen sich in
eben dieser Periode des Zusammenbruchs der feudalen
Welt.
Die neue Erkenntnis, daß das Märchen Ausdruck der
Weltanschauung des Volkes und daß der Märchenerzähler
Märchenschöpfer sei, brachte notwendigerweise auch Ver-

902
änderungen in der Praxis des Sammelns und Veröffentli-
chens von Märchentexten mit sich. Eine Sammlung ganz
neuer Art waren die Severnye skazki (Märchen des Nor-
dens), die 1908 von N. E. Ončukov herausgegeben wurden.
Im Vorwort werden Angaben über Natur und Lebensverhält-
nisse gemacht, werden das Märchenrepertoire und die Ein-
stellung des Volkes zur „Wahrheit des Märchens“ gekenn-
zeichnet; ausführlich wird beschrieben, wo die Märchen
erzählt werden, zu Hause, unterwegs, bei der Arbeit, im
Walde oder auf dem Meer, und es wird die Frage behandelt,
inwieweit die örtliche Natur und die für das Dorf des Nor-
dens typische Lebensweise im Märchen ihren Niederschlag
gefunden haben. N. E. Ončukov gibt eine Charakteristik der
Erzähler – dieser (wie er sich ausdrückt) geistigen Aristokra-
tie des Dorfes – und geht ausführlich auf die Frage ein, in
welcher Weise sich die persönlichen, individuellen Züge des
Märchenerzählers im Märchen äußern. Es ist kein Zufall,
wenn Lenin nach der Lektüre dieser, viele sozial pointierte
Märchen enthaltenden Sammlung äußerte, man könne an
Hand der Märchen eine Untersuchung über die Psychologie
des Volkes in unseren Tagen schreiben.
Unmittelbar an die Sammlung Ončukovs schließt sich ei-
ne ganze Reihe von Märchensammlungen an, die diese Rich-
tung in der Märchenforschung fortsetzen und vertiefen. Es
erscheinen zwei Sammlungen D. K. Zelenins: Velikorusskie
skazki Permskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem
Gouvernement Perm), 1914, und Velikorusskie skazki
Vjatskoj gubernii (Großrussische Märchen aus dem Gouver-
nement Wjatka), 1915. Wie schon Ončukov so ordnet auch
Zelenin die Märchen in seiner Ausgabe nicht nach dem the-
matischen Prinzip, sondern nach den Erzählern, bei denen
sie aufgezeichnet wurden, wobei er jeweils biographische
Angaben macht. Interessant sind die Beobachtungen Zele-
nins darüber, welche Bedeutung für ein Märchen der Beruf
seines Trägers hat. Er analysiert die Besonderheiten der
Märchen von Handwerkern, Soldaten, Burlaken usw.
Aus der Reihe der zahlreichen Sammlungen, die mit der
Ausgabe N. E. Ončukovs begonnen wurde, verdient beson-

903
dere Beachtung die einprägsame und interessante Samm-
lung der Brüder B. und Ju. Sokolov Skazki i pesni Belo-
zerskogo kraja (Märchen und Lieder aus dem Gebiet von
Belosersk), die 1915 erschien und Material enthält, das die
Brüder Sokolov in den Jahren 1908 und 1909 im Gouver-
nement Nowgorod gesammelt haben.
Den Hauptinhalt des Buches bilden Märchen. Die theore-
tischen Aufsätze der Sammlung sind von heißer Liebe zur
werktätigen Bauernschaft durchdrungen und zeugen von
dem lebhaften Interesse, das die jungen Verfasser der
Volkspoesie, insbesondere dem Volksmärchen, dem leben-
digen mündlich-poetischen Schaffen ihrer Zeit entgegen-
bringen. Der tiefwurzelnde Demokratismus der Brüder So-
kolov, ein Erbe der fortschrittlichen russischen Wissenschaft
des 19. Jahrhunderts, bietet die Erklärung für die außerge-
wöhnliche Beachtung, die sie der schöpferischen Persönlich-
keit aus dem Volke, der individuellen Leistung des Erzählers
und Sängers schenken. In einem Beitrag Skazočniki i ich
skazki (Die Märchenerzähler und ihre Märchen) werfen sie
die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit im Leben eines
folkloristischen Werkes auf und gelangen zu der Schlußfol-
gerung, daß sich die Persönlichkeit des Erzählers in der
Auswahl seines Märchenrepertoires äußert, darin, welche
persönlichen Bemerkungen und Ansichten er in die Erzäh-
lung einflicht und wie er ein überliefertes Sujet abwandelt.

Die Große Oktoberrevolution eröffnet eine neue Etappe im


Leben des Märchens und in der Wissenschaft vom Märchen.
Eckpfeiler der sowjetischen Märchenforschung wurde die
Feststellung Lenins, daß Märchen Ausdruck des Hoffens und
Sehnens des Volkes sind und unter sozialem Blickwinkel
erforscht werden müssen. In sowjetischer Zeit erfuhr die
russische Märchenforschung wertvolle Bereicherung durch
die Arbeiten M. K. Azadovskijs, A. I. Nikiforovs, V. Ja.
Propps, E. M. Meletinskijs und anderer Forscher. Das Mate-
rial zur Geschichte der russischen Märchenforschung ist in

904
V. P. Anikins Buch Russkaja skazka (Das russische Mär-
chen), Moskau 1960, zusammengefaßt.
In Werken von Ethnographen und Folkloristen finden wir
interessante Beobachtungen und Aufzeichnungen, die eine
Vorstellung vom Leben der Folklore und insbesondere des
Märchens in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts
vermitteln, d. h. in den Jahren, die auf die Oktoberrevoluti-
on folgten.
Jener feste Bestand an Volksmärchen, der von den
Sammlern in den letzten Jahrzehnten vor der Revolution
registriert worden war, lebt auch im mündlich-poetischen
Repertoire der ersten Jahre nach der Großen Oktoberrevolu-
tion weiter. Die Beobachtungen der meisten Sammler besa-
gen zwar, daß das Interesse für Zaubermärchen im sowjeti-
schen Dorf erloschen ist und daß das Märchen mit
Alltagsthematik im Repertoire der Bauern überwiegt. Offen-
sichtlich ist es aber in den zwanziger Jahren bei weitem
nicht überall zum Erlöschen der Märchentradition gekom-
men; werden doch neben der Beobachtung unverkennbarer
Anzeichen hierfür auch Stimmen dafür laut, daß das Mär-
chen lebt, daß man sich für Märchen interessiert, sie gern
erzählt und gern hört. An mehreren Stellen ist es gelungen,
reiches Märchenmaterial zu sammeln.
In den Aufzeichnungen vieler Sammler finden wir Bewei-
se für die Modernisierung der Märchen, dafür, daß die Ge-
genwart in sie eingedrungen ist. „Man kann erkennen“,
schrieb Ju. M. Sokolov in diesem Zusammenhang, „wie die
neue Bearbeitung eines Märchens in stets charakteristi-
scher, häufig höchst augenfälliger Weise jene Veränderun-
gen widerspiegelt, die im sozialen Leben und in der Ideolo-
gie der Massen vor sich gegangen sind oder gerade vor sich
gehen.“ (Ju. M. Sokolov: Material po narodnoj slovesnosti v
obščem masštabe kraevedčeskich rabot. Voprosy kraeve-
demja [Beiträge zur Volksliteratur im Gesamtrahmen hei-
matkundlicher Arbeiten. Fragen der Heimatkunde], 1923, S.
113.)
So bleibt das Märchen auch in den zwanziger Jahren sei-
ner jahrhundertealten Tradition treu, bringt aber gleichzeitig

905
die neue Wirklichkeit in der ihm eigenen Art und Weise zum
Ausdruck. Zum Topos wird die Konfrontierung des alten Le-
bens, von der das Märchen spricht, mit der Wirklichkeit, in
der der Erzähler und seine Zuhörer leben. Gleichzeitig findet
in das Märchen ein neuer Wortschatz Eingang, der unlöslich
mit den neuen Begriffen verbunden ist, z. B. субботники,
воскресники, непрерывки1, und es kommt zur Modernisie-
rung der traditionellen Märchenmotive.
Absolut unverkennbar sind in den Märchen der zwanziger
Jahre die zarenfeindlichen Tendenzen: es ist darin von Ver-
geltung an Nikolaj dem Blutigen die Rede, davon, daß „das
Volk sich besonnen und den Zaren davongejagt hat“ und
daß der Held es ablehnt, eine Zarentochter zu heiraten. All
das zeugt von der neuen Weltauffassung der Bauernschaft,
die sich vom Glauben an den „guten Zaren“ befreit hat. In
gleicher Schärfe und auf neue Weise erklingt im Märchen
der zwanziger Jahre auch das popenfeindliche Thema: außer
der satirischen Zeichnung des Popen, wie sie schon vor der
Revolution üblich war, läßt das Märchen der zwanziger Jahre
auch das Bewußtsein des Sieges über den Popen erkennen.
Somit beginnt also in den zwanziger Jahren im Leben des
traditionellen Märchengutes ein neuer Abschnitt, obwohl
freilich die von uns festgestellten neuen Qualitätsmerkmale
nur in einem kleinen Teil der Märchen zutage treten. Das
traditionelle Märchen erwies sich als viel widerstandsfähiger
und lebenskräftiger als z. B. die Byline.
Die dreißiger Jahre sind Jahre intensiver Sammel- und
Publikationstätigkeit. Es erscheinen monographische Mär-
chensammlungen, die dem Schaffen so hervorragender so-
wjetischer Märchenerzähler und -erzählerinnen wie F. P.
Gospodarev, M. M. Korguev, A. K. Baryšnikova, E. I. Soro-
kovikov und I. F. Kovalev gewidmet sind, Erzähler, in deren
Schaffen die Tendenzen des Gegenwartsmärchens beson-

1
субботники, воскресники, непрерывки – freiwillige
Arbeitseinsätze an Sonnabenden und Sonntagen; fließende
Arbeitswoche, in der die freien Tage nicht auf den Sonntag
zu fallen brauchen. (Anm. d. Übers.)

906
ders prägnant zutage treten. Bei aller Verschiedenheit im
Repertoire und in der Art ihrer Meisterschaft weisen die Er-
zähler der dreißiger Jahre, die das traditionelle russische
Märchen gleichzeitig bewahren und erneuern, in ihrem
schöpferischen Gepräge viele Gemeinsamkeiten auf.
Unabhängig vom Genre des erzählten Märchens trachten
sie alle, das phantastische Sujet realistisch zu begründen,
das Märchen mit Details aus dem Alltagsleben anzufüllen,
die Gestalten psychologisch zu erschließen, dem Märchen
den Charakter einer Belehrung zu geben, es in sozialkriti-
scher Hinsicht weitestgehend zuzuspitzen und ihm einen
politischen Ton zu verleihen. Für das Fortleben des Mär-
chens in den dreißiger Jahren ist nicht nur seine Erneuerung
und die Anpassung an die Gegenwart kennzeichnend, son-
dern auch das Bemühen der Erzähler, neue Märchen zu so-
wjetischen Themen zu schaffen.
Nicht weniger kennzeichnend als die Anfüllung mit reali-
stischen Details ist für das Märchen der dreißiger Jahre sein
„literarischer“ Zug, der in der Benutzung eines literarischen
Sujets zum Ausdruck kommen kann, in einer bewußt litera-
risch anmutenden Märchenüberschrift, in einer literarischen
Reminiszenz oder in typisch literarischen Redewendungen.
Die neue Idee des Märchens wird durch die Erläuterun-
gen und Sentenzen der Erzähler gestützt, in denen deutlich
wird, wie sie die traditionellen Sujets und Gestalten begrei-
fen. Die Auffassung vom Märchen als einer Belehrung führt
auch dazu, daß die Erzähler ein altes Märchen allegorisch
umdeuten. So schließt beispielsweise Poljanskij, ein Mär-
chenerzähler aus Tambow, sein Märchen von der Sorge (Nr.
54 in diesem Band) mit der folgenden allegorischen Inter-
pretation: „Der Sinn dieses Märchens ist also folgender:
unter den Brüdern sind die Klassen der Reichen und der
Armen zu verstehen.“ (Tambovskij fol’klor [Tambower Folk-
lore.] Redaktion É Gofman und Ju. M. Sokolov, Tambow
1941, S. 57.) Eine ähnliche Deutung überlieferter Märchen-
gestalten und Märchensujets ist bei vielen sowjetischen Er-
zählern zu beobachten und führt naturgemäß zu Versuchen,
neue Märchen zu schaffen. Die meisten großen Märchener-

907
zähler der dreißiger Jahre bemühen sich um die Neuschöp-
fung von Märchen über die neuen Menschen und das neue
Leben. Allerdings müssen diese Versuche mit sehr wenigen
Ausnahmen als mißglückt bezeichnet werden. Das Mißver-
hältnis zwischen neuem Inhalt und archaischer, traditionel-
ler Form läßt diese Neuschöpfungen als kunstwidrige Pseu-
domärchen erscheinen.
Das durch den Krieg unterbrochene Sammeln von Mär-
chen wird in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre wieder
aufgenommen. In den letzten Jahren sind zahlreiche volks-
kundliche Expeditionen in die verschiedensten Teile der So-
wjetunion veranstaltet worden, und alle haben sie, unab-
hängig von ihren sonstigen Aufgaben, auch Märchen
aufgezeichnet.
Die Märchentexte, die in den Nachkriegsjahren und ins-
besondere in der allerjüngsten Vergangenheit aufgezeichnet
wurden, tragen unverkennbar den Stempel des Erlöschens
und des künstlerischen Zerfalls dieses Genres. Das gilt in
gleicher Weise für die Produktion des Durchschnittserzählers
(in dieser Hinsicht sind sehr aufschlußreich die in den Jahren
1956 bis 1960 gemachten Aufzeichnungen aus dem Gebiet
jenseits des Onegasees) wie auch für die Märchen einzelner
hervorragender Märchenerzähler.
Der Weg, den das russische Märchen durch viele Jahr-
hunderte zurückgelegt hat, ist – natürlich mit gewissen Ab-
weichungen – für alle Märchenarten der gleiche. Der Cha-
rakter der Märchen dieses oder jenes Typs, die Art und
Weise, wie sich die Wirklichkeit in ihnen widerspiegelt, der
Grad ihrer Biegsamkeit und ihrer Fähigkeit, sich an die neu-
en Lebensbedingungen anzupassen, haben ihr Fortleben im
Repertoire des Volkes und ihre Bedeutung für die Kultur der
Gegenwart bestimmt, haben bestimmt, welchen Platz sie in
der mündlichen oder literarischen Tradition einnehmen.
Am lebenskräftigsten haben sich unter allen Arten die
Märchen mit Alltagsthematik erwiesen, die bis auf den heu-
tigen Tag nicht nur in der Welt des Kindes, sondern auch in
der des Erwachsenen weitverbreitet sind.

908
III

In unsere Sammlung wurden nur die Hauptgruppen des rus-


sischen Märchens aufgenommen: Tiermärchen, Zaubermär-
chen, Abenteuer- und Heldenmärchen sowie satirische All-
tagsmärchen.
T i e r m ä r c h e n nehmen im russischen Märchenreper-
toire nur einen verhältnismäßig kleinen Raum ein. Sie leben
heute fast ausschließlich als „Kindermärchen“ weiter, meist
von Frauen erzählt, die Kinder betreuen, oder von Kindern
selbst.
Die Tiermärchen haben jedoch bekanntlich nicht seit je-
her das ausschließliche Ziel verfolgt, Kinder zu belehren und
zu unterhalten. Ursprünglich handelt es sich bei ihnen um
Erzählungen von Tieren, denen in der Produktion und in den
magischen Vorstellungen der Jägergesellschaft eine be-
stimmte Bedeutung zukam. Tiermärchen, die mit den Le-
bensinteressen des Menschen der Vergangenheit verknüpft
waren, entstanden zweifellos auf einer sehr frühen Entwick-
lungsstufe der menschlichen Gesellschaft. In der Folklore
von Völkern, die noch vor kurzem Jäger waren, finden wir
zahlreiche, als wirklich geschehen aufgefaßte Erzählungen
über Tiere, über ihre wunderbare Herkunft, ihre Besonder-
heiten, phantastische Erzählungen über eheliche Beziehun-
gen zwischen Tieren und Menschen, über die Verwandlung
von Menschen in Tiere und über Tiere, die Menschengestalt
angenommen haben. Viele Tiererzählungen sind wohl ur-
sprünglich Erzählungen mythologischen Charakters gewe-
sen.
In der russischen Folklore haben sich Reste einer animi-
stischen Weltanschauung und des Glaubens an das Tier als
Beschützer der Sippe besonders deutlich in den Märchen
vom Bären erhalten: im Märchen von Iwan Bärenohr, vom
Mädchen Mascha, das ein Bär in den Wald entführt, von den
habgierigen Alten, die in Bären verwandelt wurden, und im
Märchen vom Bären mit dem Stelzfuß.
Mit dem Verschwinden der historischen Voraussetzungen,
die das Entstehen und Fortleben dieser mythologischen Er-

909
zählungen begünstigten, verloren die Tiermärchen ihren
mythologischen und magischen Charakter, näherten sich
der moralischen Fabel und entstanden von nun an auf ande-
rer Grundlage. Die Tiermärchen wurden nun zu allegori-
schen Erzählungen, deren Helden eigentlich nicht mehr Tie-
re sind, sondern Menschen, auf die die Moral des Märchens
bezogen wird.
Die Genese des Tiermärchens, seine Verbindung mit dem
alten Mythenschaffen sowie gleichzeitig sein Fortleben als
Kindermärchen haben nicht nur seinen Inhalt, sondern auch
seinen Stil bestimmt. Die Komposition der russischen Tier-
märchen ist einfach und dabei außerordentlich zielstrebig.
Eine große Rolle spielt darin die Wiederholung der Hauptepi-
sode. Auf der bewußten Betonung dieses Mittels sind die
sogenannten Kettenmärchen (цепевидные) vom Typ der
Ziege mit den Nüssen aufgebaut, in denen die Wiederholung
unter ständiger Anreihung analoger Motive erfolgt. Auf dem
gleichen Prinzip beruhen auch die Märchen vom Hähnchen,
vom Schweinchen und viele andere.
Der Dialog spielt in den Tiermärchen eine große Rolle, so
daß sie in der Interpretation eines guten Erzählers, der „mit
verteilten Rollen“ vorträgt, bisweilen sogar einem Volks-
schauspiel nahekommen. Nicht selten hat der Dialog im
Tiermärchen liedartig gereimte Form, wie z. B. im Märchen
vom Pfannkuchen, vom Kater, vom Hahn und Fuchs, von
der Ziege und ihren Zicklein usw. Die Stabilität der liedarti-
gen Einschübe erklärt sich dadurch, daß die Tiermärchen
vorzugsweise in der Welt des Kindes zu Hause sind. Die Ge-
stalten der Tiermärchen sind sehr ausdrucksvoll, sehr mar-
kant und vom Volk bis in die kleinsten Einzelheiten ausge-
bildet worden.
Besonders beliebt sind in der russischen Folklore die Mär-
chen vom Fuchs bzw. der Füchsin: wie sich der Fuchs tot-
stellt, Fische vom Wagen stiehlt, den Wolf lehrt, mit dem
Schwanz Fische zu fangen, ihn dazu bringt, ihn auf seinem
Rücken zu tragen, und dabei vor sich hin trällert: „Der Ge-
prügelte trägt den Nichtgeprügelten“ usw. – Weitverbreitet
sind die Märchen, wie die Füchsin die Wehmutter und das

910
Klageweib spielt und dem Hahn die Beichte abnimmt. In all
diesen Märchen wird der Fuchs als der schlaue, schmeichle-
rische Betrüger gezeichnet, mag er nun als Schwiegertoch-
ter oder als Gevatterin auftreten, als Füchsin Patrikejevna,
als schöne Jungfer oder als Füchsin Honiglippe, die süße
Reden und zärtliche Worte im Munde führt. Der Wolf wird im
Märchen gewöhnlich als Tölpel gezeichnet, als der „graue
Dummkopf“, der stets der Hereingefallene ist; der Bär ist
der „Beherrscher des Waldes“, der flinke Hase immer feige.
Tiermärchen, als allegorische Erzählungen über menschli-
che Verhältnisse dargeboten und aufgefaßt, kennen auch
das soziale Motiv. Das ist z. B. eindeutig im russischen Mär-
chen vom Kater (Nr. 5), dem „Amtmann aus den sibirischen
Wäldern“, der Fall, wo in satirischer Form die Furcht der
Waldbewohner vor der „Obrigkeit“ dargestellt wird, sowie im
Märchen vom Hund und Specht, das die Beziehungen zwi-
schen Herrn und Knecht aufdeckt. Besonders aufschlußreich
sind in dieser Beziehung satirische Tiermärchen, wie die
Geschichte vom Hecht mit den riesigen Zähnen, das Mär-
chen von Jorsch Jerschowitsch, dem Sohn des Stschetinnik1
und das Märchen vom Gericht der Vögel. Die Tiermärchen,
in ferner Vergangenheit entstanden, bewahren also ihre
Aktualität auch in den folgenden Epochen.
Die Möglichkeit der allegorischen Auslegung war die Ur-
sache dafür, daß sich der berühmte russische Fabeldichter I.
A. Krylov, der große russische Satiriker M. E. Saltykov-
Ščedrin und der bekannte sowjetische Dichter Sergej Mi-
chalkov dem Tiermärchen zuwandten.

Ebenso wie viele Tiermärchen reichen auch einige russische


Z a u b e r m ä r c h e n in die Zeit vor der Klassengesellschaft
zurück. Es ist sehr wahrscheinlich, daß viele von ihnen ur-
sprünglich Mythen gewesen sind. Solche Gestalten des Zau-

1
Übersetzt etwa „Barsch Barschsohn, der Sohn des
Stachligen“. (Anm. d. Übers.)

911
bermärchens wie Morosko, der Meereszar, oder die magi-
schen Schwäger und helfenden Tiere sind unzweifelhaft sehr
alten Ursprungs und tragen Elemente animistischer Weltan-
schauung. Mythologische Züge haben sich auch in der Ge-
stalt der Baba-Jagá erhalten, die untrennbar mit dem Wald
verbunden ist, in der Gestalt Kostschejs des Unsterblichen
und anderer dunkler Kräfte des Märchenreiches.
Ebenso wie die Tiermärchen die Wirklichkeit in der ihnen
eigenen Art widerspiegeln, sind auch die Zaubermärchen in
erster Linie ein Produkt der realen Lebensbedingungen des
Volkes. Diese reale Grundlage der Phantastik des Zauber-
märchens und seiner Wunder hat in überzeugender Weise A.
M. Gor’kij vor Augen geführt. „Schon im tiefen Altertum“,
sagt Gor’kij, „träumten die Menschen von der Möglichkeit,
durch die Luft zu fliegen – davon zeugen die Legenden von
Phaeton, von Daidalos und seinem Sohn Ikaros sowie das
Märchen vom ‚Fliegenden Teppich’. Sie träumten von
schnellerer Fortbewegung auf der Erde – man denke an das
Märchen von den ‚Siebenmeilenstiefeln’ – und machten sich
das Pferd dienstbar… Sie dachten an die Möglichkeit, in ei-
ner einzigen Nacht eine riesige Menge Stoff zu spinnen und
zu weben, an die Möglichkeit, in einer einzigen Nacht ein
schönes Haus zu bauen oder sogar ein ‚Schloß’, das heißt
ein Haus, das gegen den Feind befestigt ist; sie schufen das
Spinnrad, eins der ältesten Arbeitsgeräte, den primitiven
Handwebstuhl, und sie schufen das Märchen von der klugen
Wassilissa.“ (O literature. Literaturno-kritičeskie stat’i [Über
Literatur. Literaturkritische Aufsätze], Moskau 1953, S.
693.)
Die Zaubermärchen haben Züge längst untergegangener
sozialer Lebensformen bewahrt. Wir erkennen in ihnen die
Spuren der Exogamie, des Ahnenkults und des Matriarchats,
erhalten gebliebene Züge des Kannibalismus, des Opfer-
kults, des „Gottesgerichts“ und grausamer Bestrafungen.
Diese Züge einer realen Wirklichkeit längst vergangener
Epochen, die sich im Märchen der Neuzeit erhalten haben,
werden von den heutigen Erzählern und Zuhörern als Phan-
tastik, als dichterische Erfindung aufgefaßt.

912
Elemente des realen Lebens haben sich zu allen Zeiten
Eingang ins Zaubermärchen verschafft, das im Laufe der
Jahrhunderte von Mund zu Mund und von Generation an
Generation weitergegeben wird. Die Zaubermärchen, in der
Zeit vor der Klassengesellschaft entstanden, leben im Laufe
der Jahrhunderte aktiv und schöpferisch fort. Daher kann
man neben Überbleibseln aus den Zeiten vor der Klassenge-
sellschaft auch Reflexe feudaler Verhältnisse und gleichzeitig
Züge feststellen, die die Epoche des Kapitalismus zum Mär-
chen beigetragen hat, und schließlich vernehmen wir in den
überlieferten Texten, die in unseren Tagen aufgezeichnet
wurden, auch den Widerhall der sowjetischen Wirklichkeit.
So finden die ständige Erwähnung von Zaren, Zarentöch-
tern und Zarensöhnen, die naiven Vorstellungen von den
Beziehungen benachbarter Zarenreiche, die Belohnung mit
einem halben Zarenreich usw. ihre Erklärung in der Wirk-
lichkeit des frühen Feudalismus, während die konkrete Dar-
stellung der Beziehungen zwischen Zar, Ministern und son-
stigen Höflingen, die Erwähnung von Grafen und
Grafentöchtern auf die Epoche des späten Feudalismus zu-
rückgeht.
Auch die Epoche der kapitalistischen Verhältnisse hat
dem Inhalt der Zaubermärchen ihren Stempel aufgedrückt:
sie erhöhte das Interesse der Erzähler und ihrer Zuhörer für
die Motive des Reichtums, des Geldes und des Kapitals so-
wie für auch dem feudalen Märchen bekannte Helden wie
den Kaufmann, den Kaufmannssohn und den Kaufmannsge-
hilfen. Gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhun-
derts sind es die mit der Klassendifferenzierung des Dorfes
zusammenhängenden Motive, die im Zaubermärchen be-
sonders vernehmlich erklingen.
Sich ständig erneuernd und umformend, lebt das tradi-
tionelle Zaubermärchen auch in unseren Tagen fort. Sowje-
tischen Sammlern ist es gelungen, viele hervorragende Mär-
chenerzähler zu „entdecken“, die das traditionelle
Zaubermärchen sorgsam bewahren und meisterhaft erzäh-
len. Der Zuhörerkreis des Zaubermärchens freilich wird klei-
ner, es wird mehr und mehr zum Märchen für Kinder. Wenn

913
die heutigen Erzähler das Zaubermärchen erneuern, es mo-
dernisieren, zerstören sie, ohne es zu wollen, seinen über-
lieferten Stil und tragen somit zu seinem Absterben bei.
Doch stellt das Absterben des Zaubermärchens einen au-
ßergewöhnlich langsamen Prozeß dar: das Geheimnis seiner
Lebenskraft ist in seinem hohen ideellen und ästhetischen
Wert zu suchen.
Die Zaubermärchen sind Ausdruck der Weltanschauung
des Volkes, seiner Vorstellungen von Gut und Böse, Aus-
druck der Ideale des Volkes, seines Hoffens und Sehnens.
Sie künden vom Kampf zwischen den Kräften des Lichts und
der Finsternis. Für das Erkennen der Anschauungen des
Volkes sind sehr wichtig die Märchen von Los und Schicksal,
von der Sorge, von Wahrheit und Falschheit, weil in ihnen
die Frage nach den sozialen, den gesellschaftlichen Verhält-
nissen besonders klar gestellt wird. In all diesen Märchen ist
die Sympathie des Erzählers immer auf seiten des Entrech-
teten, des armen Bauern, und immer wieder wird der Ge-
danke laut, daß die Gerechtigkeit am Ende triumphieren
wird, daß der Sieg über Not und Sorge nicht ausbleiben
kann; der Streit zwischen Wahrheit und Falschheit wird in
diesen Märchen unverändert zugunsten der Wahrheit ent-
schieden.
Das Zaubermärchen ist von Optimismus durchdrungen:
das Böse wird stets vom Guten besiegt, der positive Held
geht aus allen seinen Abenteuern als Sieger hervor, löst alle
schweren Aufgaben mit Erfolg; meist endet das Märchen mit
der glücklichen Rückkehr des Helden und einem Hochzeits-
schmaus für alle Welt.
Die Tatsache, daß das Zaubermärchen die Sehnsucht des
Volkes nach dem Triumph der Wahrheit, nach einem licht-
vollen Leben zum Ausdruck bringt, bestimmt auch seine
Thematik und den Charakter seiner Sujets und Gestalten.
Die populärsten russischen Zaubermärchen sind die von
den drei Zarenreichen, vom Zauberring, von der magischen
Flucht, vom Zar Saltan, von der schönen Jelena, von Siwka-
Burka und von Kostschej. All diese Sujets werden nicht sel-

914
ten kombiniert und bilden so immer neue und neue Märchen
dieses Genres.
Hauptheld des Zaubermärchens ist der Iwan-Zarewitsch,
der Bauernsohn, Bärenohr, der Soldatensohn, Roll-Erbschen
(Покати горошек) und Andrej der Jäger. Der Held ist Träger
einer hohen menschlichen Moral, die Verkörperung der
Ideale des Volkes: er ist schön, ehrenhaft, tapfer, stark und
menschlich, er vollbringt Heldentaten, führt schwierige Auf-
gaben aus, befreit die in Gefangenschaft schmachtende Za-
rentochter, fängt den Feuervogel, tötet Kostschej und tritt
nicht selten als Drachentöter auf. Die hohe Moral des positi-
ven Helden, insbesondere sein menschliches Verhalten ge-
genüber Menschen und Tieren, wird noch dadurch unterstri-
chen, daß gleichzeitig gewöhnlich die Treulosigkeit seiner
Brüder oder Gefährten gezeigt wird.
Bisweilen ist der positive Held zu Beginn des Märchens
als abstoßend und häßlich gezeichnet; er wird von allen
verachtet, sitzt auf dem Ofen und kratzt den Ruß zusam-
men. So ist es bei den Dummköpfen Jemelja und Iwan, die
später unter Mitwirkung eines magischen Helfers zum klu-
gen und schönen Jemelja Iwanowitsch beziehungsweise zu
Iwan dem Bauernsohn werden, der mit allen Zügen eines
positiven Helden ausgestattet ist; so ist es auch bei Nesnaj-
ka1, der sich als unbesiegbarer Held erweist. – Den tiefen
Sinn der Gestalt Iwan des Dummkopfs, ihren optimistischen
Charakter hat M. Gor’kij in seinem Referat auf dem Ersten
sowjetischen Schriftstellerkongreß wie folgt erläutert: „Dem
Kollektiv ist gleichsam bewußt, daß er unsterblich ist, und
es glaubt fest an seinen Sieg über alle feindlichen Kräfte.
Der Held der Folklore, der ‚Dummkopf’, der sogar von Vater
und Brüdern verachtet wird, erweist sich immer als der Klü-
gere, ist immer Sieger über alle Unbilden des Lebens, über-
windet sie genauso, wie dies die kluge Wassilissa tut.“ (O
literature. Literaturno-kriticeskie stat’i [Über Literatur. Lite-
raturkritische Aufsätze], Moskau 1953, S. 698.)

1
Etwa „Dummerchen“, „Nichtwisser“. (Anm. d. Übers.)

915
Vielfältig sind die positiven Frauengestalten des russi-
schen Zaubermärchens. Es sind das kluge Jungfrauen, die
über wunderbare Kräfte verfügen und so schön, „daß es sich
mit Worten nicht sagen, mit der Feder nicht beschreiben
läßt“. Nicht selten ist die Heldin sogar stärker, klüger und
findiger als der Held des Märchens. Das ist der Fall bei der
schönen Jelena (Nr. 33), bei der klugen Wassilissa (Nr. 29)
und bei Maria Morewna (Nr. 30). Das Zaubermärchen zeich-
net liebevoll die Gestalt der zärtlichen und treuen Geliebten
Finists, des edlen Falken (Nr. 28), die drei Paar Eisenschuhe
durchlief, drei Eisenstäbe zerbrach und drei eiserne Weih-
brote verzehrte, um ihren Liebsten zu finden. Von bezau-
berndem Reiz sind auch die Gestalten der unschuldig um-
hergestoßenen Stieftochter, der verleumdeten Gattin „ohne
Arme“ (Nr. 42) und die poetische Gestalt des Schneekindes
(Nr. 19).
Eine große Rolle spielen im Zaubermärchen die magi-
schen Helfer des Helden: Opiwalo und Objedalo, Gorynja,
Dubynja und Ussynja1, die Alte am Stadtrand und, beson-
ders häufig, magische Tiere wie das Pferd Siwka-Burka, der
graue Wolf, der Vogel Nogaj, der Kater, der Hund und ande-
re.
Keine geringe Rollen spielen weiterhin auch magische
Gegenstände, zum Beispiel das Tischtuchdeckdich, der flie-
gende Teppich, die Tarnkappe, die schnellaufenden Stiefel
und andere, die dem Helden bei seinem Kampf gegen das
Böse helfen.
Der lichten Welt der positiven Märchenhelden und ihrer
Helfer stehen die ihnen feindlichen finsteren Kräfte des Mär-
chenreichs gegenüber: der unsterbliche Kostschej, die Ba-
ba-Jagá, die einäugige Bosheit, der Drache mit den drei,
neun oder zwölf Köpfen – Gestalten, die die Vorstellungen
des Volkes von Gewalt, Bosheit und Tücke verkörpern. Un-

1
Opiwalo – etwa „der alles wegtrinkt“, Objedalo – „der
alles wegißt“, Gorynja – „der Berge tragen kann“, Dubynja –
„der Eichbäume ausreißt“, Ussynja – „der mit dem gewalti-
gen Bart“. (Anm. d. Übers.)

916
ter ihnen ist es lediglich die Baba-Jagá, die in einigen Mär-
chen dem positiven Helden hilft, nachdem er sie durch sein
geschicktes Auftreten entwaffnet hat.
Das im Zaubermärchen berichtete wunderbare Gesche-
hen bestimmte auch seine Form, das typische Zeremoniell
des Zaubermärchens und seine reiche Wortornamentik.
Viele Zaubermärchen, besonders wenn sie von Meisterer-
zählern geboten werden, beginnen mit einer Einleitung
(присказка), die den Hörer einstimmt, ihn in die wunderba-
re Märchenwelt versetzt. „Das ist auf dem Meer gewesen,
auf dem Ozean“, beginnt der Märchenerzähler Semenov aus
Beloserje sein Märchen von der Heldenjungfrau Blauäuglein
(Nr. 31), „auf der Insel Kidan, da steht ein Baum, der hat
goldene Wipfel, und auf diesem Baum geht der Kater Bajun
umher; geht er nach oben, singt er ein Lied, und geht er
nach unten, erzählt er Märchen. Das wäre ein Spaß und ein
Vergnügen, da zuzusehen! Das ist noch nicht das Märchen,
sondern erst die Einleitung; das Märchen kommt erst noch.“
Das gleiche Ziel – den Hörer in die besondere Märchenat-
mosphäre zu versetzen – verfolgt auch der weitverbreitete
Anfang: „Im dreimalneunten Zarenreich, im dreimalzehnten
Staat“. Bisweilen wird diese Formel in ironisierender Form
verwendet: „In einem Zarenreich, in einem Staat, und zwar
in dem, in dem wir leben, auf einem ebenen Platze, wie auf
einer Egge“, oder „unter Zimmer Nummer sieben, wo wir
sitzen“.1
Der Einleitung und dem Märchenanfang entsprechen Mär-
chenausgang und Schlußformel. Gewöhnlich haben Zauber-
märchen, die von guten Erzählern geboten werden, einen
sehr prägnanten, ausgeformten Schluß, der das Märchen
gleichsam von der Wirklichkeit abgrenzt. Besonders häufig
endet es mit der Beschreibung eines Festmahls: „Sie veran-
stalteten ein Fest für alle Welt, auch ich bin dort gewesen,
habe Honigbier getrunken, es ist mir um den Bart geflossen,

1
Im Russischen mit Reim: под номером седьмым, где
мы сидим

917
aber nicht in den Mund geraten.“1 Nicht selten wird in der
Schlußformel eine Andeutung gemacht, daß es erwünscht
ist, dem Erzähler etwas vorzusetzen oder ihm eine Beloh-
nung zu geben, was wohl auf die Tradition der berufsmäßi-
gen Erzähler zurückgeht. „Für euch das Märchen, für mich
ein Bündel Brezeln“ oder „Hier ist das Märchen zu Ende,
erzählt hat’s ein wackerer Bursche, und uns wackeren Bur-
schen jedem ein Gläschen Bier, für das Ende des Märchens
ein Gläschen Schnaps“.2
Zur Eigenart des Stils der Zaubermärchen tragen auch
die vielen sich wiederholenden traditionellen Märchenfor-
meln bei. z. B. „ein Märchen ist bald erzählt, aber eine Tat
nicht so bald getan“, „man kann es mit Worten nicht sagen,
mit der Feder nicht beschreiben“ oder auch Topoi wie „Siw-
ka-Burka“, die weise Kaúrka, rennt, die Erde zittert, aus den
Nüstern kommt Rauch, aus den Ohren Feuer“ oder „Die Ba-
ba-Jagá, das Knochenbein, fährt in einem Mörser, mit dem
Stößel treibt sie ihn, und mit einem Ofenbesen verwischt sie
ihre Spur“.3
All diese spezifischen Merkmale des Zaubermärchens ha-
ben ihm im Verein mit den mannigfaltigen Mitteln der Re-
tardierung, der traditionellen Verwendung der Dreizahl und
den ständigen Epitheta ein außergewöhnlich farbenfrohes, in
ganz typischer Weise verziertes Gewand verliehen, das sei-

1
Im Russischen mit Reim: Устроили пир на весь мир, и
я там был, мед-пиво пил, по усам текло, а в рот не
попало. (Zwecks Nachahmung des Reims in den Texten
etwas freier übersetzt. – Anm. d. Übers.)
2
Im Russischen mit Reim: Вот вам сказка, а мне
бубликов связка. – Тут и сказке конец, сказал ее
молодец, а нам, молодцам, по стаканчику пивца, за
окончание сказки по рюмочке винца.
3
Im Russischen mit Reim: Сивка-бурка – вещая каурка
бежит, земля дрожит, из ноздрей дым, из ушей пламя
пышет; – Баба-Яга, костяная нога в ступе едет, пестом
погоняет, помелом след заметает.

918
nem Inhalt entspricht, so daß eine organische Einheit von
Form und Inhalt erzielt, ein Werk von hohem poetischen
Wert geschaffen wurde.
Andererseits fügen die Erzähler, besonders die Erzähler
unserer Gegenwart, nicht selten überaus realistische Episo-
den ins Zaubermärchen ein, zum Beispiel die Beschreibung
der freudlosen Atmosphäre im Dorf vor der Revolution, des
schweren Lebens der armen Bauern, die Beschreibung der
schweren Bauernarbeit sowie pointierte, nicht selten drama-
tisierte Dialoge, in denen das Innenleben der Helden psy-
chologisch erschlossen wird. Derartige Details aus dem All-
tagsleben haben das phantastische Märchen
wirklichkeitsnäher gemacht, die Zuhörer immer wieder von
neuem veranlaßt, noch aufmerksamer in die wundersame,
farbenfrohe Erzählung einzudringen, haben die soziale Ten-
denz des Zaubermärchens verstärkt.

Einen beträchtlichen Raum nehmen im Repertoire der russi-


schen Märchenerzähler auch die sogenannten A b e n t e u -
e r m ä r c h e n ein, in denen das Element des Zauberhaften
fehlt und deren Phantastik ganz anderer Art ist. Es sind
spannende Erzählungen von ungewöhnlichen Abenteuern
des Helden, von wunderbaren Reisen, schwierigen Aufga-
ben, die der Held dank seiner Findigkeit und Klugheit löst,
von Gefahren, die er dank seinem Geschick und seinem er-
finderischen Geist überwindet. Held des Abenteuermärchens
ist der Soldat, der Kaufmannssohn, der Kaufmannsgehilfe,
der Narr, bisweilen auch der geschickte Dieb. Abenteuer-
märchen lassen sich häufig nur schwer gegen die weitver-
breiteten N o v e l l e n m ä r c h e n von der treuen Gattin, von
der Jungfrau im Soldatenrock, von der Zähmung der wider-
spenstigen Gattin usw. abgrenzen. Die Handlung des Aben-
teuermärchens und des Novellenmärchens spielt im Dorf
oder in der „Residenzstadt“. Nicht selten sind die handeln-
den Personen derjenigen Abenteuermärchen, deren Quelle
im Kolportageroman zu suchen ist, Grafen, Grafentöchter,

919
Generale, Oberste oder reiche Kaufleute, die „in eleganten
Hotels Feste feiern“ und Besitzer „reicher Geschäfte“ sind.
Auch in diesen Märchen versteht es der Meistererzähler aus
dem Volk, überaus realistische Gestalten zu bieten, soziale
Ungerechtigkeit zu zeigen und zu verurteilen und vom Tri-
umph des Guten über das Böse, der Gerechtigkeit über die
Lüge zu erzählen.
Keinen geringen Raum unter den novellenartigen Mär-
chen nehmen die Märchen von klugen Antworten ein, z. B.
das vom siebenjährigen Mädchen (Nr. 72) oder von der
kurzhaarigen Jungfrau, die durch ihren Witz den Gutsherrn
oder den Zaren bloßstellen. Eine ganz besondere Interpreta-
tion des Sujets von den klugen Antworten stellen die Mär-
chen vom vergnügten Kloster (Nr. 73) dar, in denen das
Klosterleben, die dummen Mönche und zugleich auch der
Zar verspottet werden. Novellenartige Märchen dieses Typs
stehen gewöhnlich dem Märchen mit Alltagsthematik nahe.
Dem Abenteuermärchen verwandt sind auch die soge-
nannten h i s t o r i s c h e n M ä r c h e n , deren Helden Gestal-
ten aus der Geschichte sind. Im russischen Repertoire sind
besonders Märchen von Ivan IV. und Peter I. verbreitet. Das
Gedächtnis des Volkes bewahrt mit gleicher Liebe die Ge-
stalt des sagenhaften Helden Nikita des Gerbers (Nr. 55),
der nach der Überlieferung einen Drachen tötete, wie die
des historischen Ivan IV. Grosnyj, der im Kampf gegen die
Bojaren auf der Seite des Volkes stand. Die Gestalten Ivans
IV. und Peters I. lösen einander häufig in ein und demsel-
ben Sujet ab. In den Märchen vom Töpfer (Nr. 62), vom
Zaren und Dieb und vom Zaren und Soldaten (Nr. 63) wer-
den sie als demokratische Herrscher gezeichnet, die für die
einfachen Menschen ein offenes Ohr haben.
Die historischen Märchen nehmen gleichsam eine Mittel-
stellung zwischen zwei Genres ein: zwischen dem Märchen
und der Sage. Sobald der Erzähler auf tatsächlich Gesche-
henes orientiert, sobald er beginnt, seine Erzählung als Be-
richt von historischen Ereignissen darzubieten, die sich tat-
sächlich zugetragen haben, geht die Märchenhaftigkeit der
Erzählung verloren, wechselt der Charakter der Gestalten,

920
und wir haben ein anderes Genre der mündlichen Prosa vor
uns – die Sage.

Besonders verbreitet sind im russischen Repertoire die dem


Schwank nahestehenden s a t i r i s c h e n A l l t a g s m ä r -
c h e n бытовые сказки. Den Wert der Märchen mit Alltags-
thematik hat bereits V. G. Belinskij hervorgehoben: „In ih-
nen können wir das Leben des Volkes kennenlernen, sein
Zuhause, seine sittlichen Begriffe und jenen schelmischen
russischen Witz, der so zur Ironie neigt und dessen Schel-
menhaftigkeit von so gutherziger Einfalt ist.“ (Sočinenija. č.
V [Werke, Teil V], Moskau 1865, S. 220.)
In diesen Märchen, die sich durch besondere soziale
Schärfe auszeichnen, sehen wir den Helden, sei er nun Bau-
er oder Soldat, in der dem Erzähler gut bekannten Atmo-
sphäre des russischen Dorfes vor der Revolution. Gewöhn-
lich wird im Alltagsmärchen die soziale und wirtschaftliche
Lage des Helden hervorgehoben; meist ist er ein armer
Bauer oder Landarbeiter. Beliebter Held des Alltagsmär-
chens ist auch der weit herumgekommene Soldat.
Im satirischen Alltagsmärchen werden zielsicher und un-
nachsichtig die menschlichen Schwächen verspottet: Faul-
heit und Dummheit, Trotz und Geiz. Es zeichnet die lächerli-
che Gestalt des faulen und dummen Eheweibs, des Tölpels,
der immer entgegen dem gesunden Menschenverstand han-
delt, es verspottet das dickköpfige Eheweib, das lieber er-
trinkt, als daß es dem Ehemann gehorcht, und die törichten
Taten der Poschechonier, der russischen „Schildbürger“. Die
witzigen und spottlustigen Alltagsmärchen haben große er-
zieherische Bedeutung und sind bei Kindern wie bei Erwach-
senen sehr beliebt.
Im Märchen mit Alltagsthematik haben die Epochen des
späten Feudalismus und des Kapitalismus ihren deutlichsten
Niederschlag gefunden. – Durch und durch negativ zeichnet
das satirische Alltagsmärchen die Gestalten des Gutsherrn
und des Popen, der in den Augen des Bauern auch nichts

921
anderes als ein Kulak und Ausbeuter ist, nur mit größerer
Macht ausgestattet und mit größeren Möglichkeiten, sich auf
Kosten der Armen des Dorfes zu bereichern.
Es ist bemerkenswert, daß die Märchenerzähler der so-
wjetischen Epoche, die die Tradition des Alltagsmärchens
fortsetzen, dieses als Erzählung von einer freudlosen Ver-
gangenheit bieten, was in zahlreichen erläuternden Bemer-
kungen und in den Märchenanfängen und Märchenschlüssen
zum Ausdruck kommt, in denen „früher“ und „jetzt“ einan-
der gegenübergestellt werden.
Das Alltagsmärchen hat sehr bestimmt und sehr ent-
schieden die Sehnsucht der unterdrückten Bauern nach
Oberwindung des Klassenfeindes zum Ausdruck gebracht.
Es verfocht das Recht des Volkes auf ein freies und glückli-
ches Leben. Sein freudiger Optimismus kontrastierte mit
jener freudlosen Wirklichkeit, in der es entstand und die es
schilderte.
Das Alltagsmärchen spielt im Dorf, im Haus des Popen, in
der Bauernhütte oder auf dem Herrenhof. Seine Helden
sprechen die gewöhnliche Sprache des Alltags, seine Kom-
position ist einfach und dem Aufbau des Schwanks ver-
wandt. – Das russische Alltagsmärchen ist sehr lakonisch.
Seine Gestalten werden in ihren Hauptzügen typisiert, und
seine Helden werden vorwiegend durch ihre Taten erschlos-
sen. Da wir in ihm keine Alltagserzählung vor uns haben,
sondern eben ein Märchen, das seine spezifische Eigenart
bewahrt, sind Hauptmittel zur Schaffung einer Gestalt die
Zuspitzung und Hyperbolisierung. Auf diese Weise werden
Eigenschaften und Taten, die in der realen Wirklichkeit mög-
lich wären, ins Märchenhafte gesteigert und den Gesetzen
der Phantastik unterworfen, werden zur dichterischen Erfin-
dung, d. h. eben zum Märchen.

Russische und besonders sowjetische Märchenforscher ha-


ben sehr viel getan, um die besten E r z ä h l e r von Volks-
märchen ausfindig zu machen. Die Namen der besten Er-

922
zähler des 19. und 20. Jahrhunderts, die für die Entwicklung
des Märchengenres besonders viel geleistet haben, sind in
die wissenschaftliche Literatur eingegangen und genießen
einen verdienten Ruf.
Ein sehr eindruckvolles Bild der großartigen Märchener-
zählerin und Kinderfrau Jevgenia gibt M. Gor’kij in seinem
Aufsatz Über die Märchen, wo er auch von der Bedeutung
spricht, die Jevgenias und der Großmutter Märchen in seiner
Kindheit für ihn besessen haben: sie flößten die „vage Ge-
wißheit“ ein, „daß es jemanden gibt, der alles Törichte, Böse
und Lächerliche gesehen hat und auch weiterhin sieht, je-
manden, der Göttern, Teufeln, Zaren und Popen abhold, der
sehr klug und sehr kühn ist“. (O literature. Literaturno-
kritičeskie stat’i [Über Literatur. Literaturkritische Aufsätze],
Moskau 1953, S. 763.)
Einer der besten Märchenerzähler des alten Rußland war
der schon erwähnte Abram Novopol’cev, ein Bauer aus dem
Dorf Pomrjaskin im Gouvernement Samara, von dem der
Dichter D. N. Sadovnikov in den siebziger Jahren des 19.
Jahrhunderts 72 Märchen aufgezeichnet hat. Unter den rus-
sischen Märchenerzählern ist er der markanteste Vertreter
der alten Spielmannstradition: diese zeigt sich in der star-
ken Verwendung des Reims, in den von ihm bevorzugten
Märchenformeln, besonders in seinen witzigen Märchen-
schlüssen, und in seiner Vorliebe für volkssprachliche Wör-
ter und Wendungen.
Viele Märchen Abram Novopol’cevs, z. B. Iwan Zare-
witsch und die schöne Maria, mit dem schwarzen Zopf (Nr.
32) und Von der Not (Nr. 88) sowie viele seiner Tiermär-
chen gehören zum festen Bestand des russischen Märchen-
repertoires. – All das hat uns bewogen, eine ganze Reihe
von Märchen Abram Novopol’cevs in unsere Sammlung auf-
zunehmen (Nr. 11, 15, 32, 61, 64, 84, 85, 88).
Ganz anders geartet ist das Schaffen des Permer Mär-
chenerzählers A. D. Lomtev, dessen Märchen im Jahre 1903
von D. K. Zelenin aufgezeichnet worden sind. Lomtev ist ein
Meister des komplizierten, aus mehreren Sujets zusammen-
gesetzten Märchens; in seinem Repertoire überwiegen die

923
Zaubermärchen. „In jedem seiner Märchen“, schreibt Zele-
nin, „sieht Lomtev das geschlossene Ganze, und er hütet
diese Ganzheit der Märchen, d. h. er wahrt die Überlieferung
auf das gewissenhafteste und verändert oder ergänzt nur
geringfügige Details aus dem Alltag.“ Eines der besten Mär-
chen Lomtevs, Wanjuschka, ist in die vorliegende Ausgabe
aufgenommen worden (Nr. 25).
Ein Märchenerzähler, der es außerordentlich geschickt
verstand, in seinem Schaffen die Formen des traditionellen
Märchenzeremoniells mit durchaus individueller Meister-
schaft zu vereinigen, war P. Bogdanov, von dem die Brüder
B. M. und Ju. M. Sokolov einige Märchen aufgezeichnet ha-
ben. In seinem Märchen Das goldene Ei, das in unsere
Sammlung aufgenommen wurde (Nr. 40), spielt sich auf
dem Hintergrund des überlieferten Märchens eine Tragödie
ab, wie sie für das Dorf vor der Revolution charakteristisch
war: Teilung, Familienzwistigkeiten, hilflose Lage des Bau-
ern, der weder Land noch Wirtschaft besitzt. Eine ausge-
zeichnete Bearbeitung eines überlieferten Sujets haben wir
auch in seinem Märchen Wie ein Pope seine Knechte plagte
(Nr. 75).
Es sind sehr viele und in ihrer Art sehr unterschiedliche
Erzähler, deren Märchen seit Ende des 19. Jahrhunderts
aufgezeichnet wurden. Wir finden unter ihnen Epiker, die
von den Heldentaten, den Kämpfen und Abenteuern ihrer
Märchenhelden erzählen, Moralisten, die die erzieherische
Rolle des Märchens betonen und den Kampf für den Sieg der
Wahrheit und des Guten in den Vordergrund rücken, und
schließlich Erzähler, die das Alltagsmärchen, die Novelle und
den Schwank bevorzugen.
Es gibt Märchenerzähler, die am liebsten Späße machen
und Possen reißen und ihre Zuhörer durch spaßige Sprüche
und Wortspiele (прибаутки), erfundene Geschichten
(россказни) und Anekdoten unterhalten. Und groß ist unter
den besten Erzählern auch die Zahl der scharfen Satiriker,
deren Märchen zielsicher die menschlichen Schwächen ver-
spotten und die Klassenfeinde – Popen und Gutsherren –
brandmarken.

924
Einige besonders begabte Meister des Märchens sind in
sowjetischer Zeit bekannt geworden. Es sind das unter an-
deren die sibirische Erzählerin N. O. Vinokurova, deren Mär-
chen sich durch Realistik und psychologische Tiefe aus-
zeichnen (M. K. Azadovskij: Skazki verchnelenskogo kraja
[Märchen vom Oberlauf der Lena], 1924 und 1938; Eine
sibirische Märchenerzählerin, Helsinki 1926 = FFC 68); die
ausgezeichnete Woronesher Erzählerin und Meisterin des
humoristischen Märchens A. K. Baryšnikova (A. M. Novikova
i I. A. Ossoveckij: Skazki Kuprijanichi [Die Märchen der Ku-
prijanicha), 1937); der Weißmeerfischer M. M. Korguev (A.
N. Netčaev: Skazki M. M. Korgueva [Die Märchen M. M.
Korguevs], Petrozavodsk 1939), der durch seine monumen-
talen Zaubermärchen bekannt geworden ist; der Kolchos-
bauer I. F. Kovalev aus dem Gebiet Gorki (Ė. Gofman i S.
Minc: Skazki I. F. Kovaleva [Die Märchen I. F. Kovalevs],
1941), ein Meister des Abenteuermärchens; und der sehr
belesene sibirische Märchenerzähler E. I. Sorokovikov-Magaj
(M. K. Azadovskij i L. Eliasov: Skazki Magaja (Die Märchen
Magajs], 1940). Außerordentlich interessant sind auch die
Märchen des Fabrikarbeiters aus Onega, F. P. Gospodarev,
die sich durch ihre satirische Darstellung der Zeit vor der
Revolution auszeichnen und sehr viele Motive aus dem so-
zialen Kampf enthalten (N. Novikov: Skazki F. P. Gospoda-
reva [Die Märchen F. P. Gospodarevs], 1941).
Alle diese in ihrer schöpferischen Gestaltungsweise so
verschiedenen Meister des Volksmärchens haben für die
Entwicklung des kollektiven Schaffens des Volkes, der Kunst
des mündlichen Wortes, eine große Rolle gespielt.

925
In der vorliegenden Sammlung sind – vorwiegend in Va-
rianten, die von den besten Erzählern geboten wurden – die
für das russische Märchenepos charakteristischsten Sujets
vertreten. Am Schluß des Buches sind Hinweise auf die
Quellen der abgedruckten Texte zu finden sowie die wichtig-
sten Angaben über Sammlungen russischer Märchen und
über die Erzähler, nach deren Worten die hier veröffentlich-
ten Texte aufgezeichnet wurden.

Moskau 1962
ERNA POMERANCEVA

926
Verzeichnis der in den Anmerkungen
genannten Literatur
Abkürzungen
AT = Antti Aarne – Stith Thompson: The
Types of the Folk-Tale. FFC 184,
Helsinki 1961.
Andreev = N. P. Andreev: Ukazatel’ skazočnych
sjužetov po sisteme Aarne (Index der
Märchensujets nach dem System
Aarnes). Leningrad 1929.
BP = Johannes Bolte – Georg Polivka: An-
merkungen zu den Kinder- und
Hausmärchen der Brüder Grimm, Bd.
I-V. Leipzig 1913-1932.

Quellen
Afanas’ev, A. N.: Narodnye russkie skazki (Russische
Volksmärchen). Moskau 1957.
Akimova, T. M.: Fol’klor Saratovskoj oblasti (Die Folklore
des Gebiets Saratow). Saratow 1946.
Astachova, A. M.: Il’ja Muromec (Ilja Muromez). Moskau-
Leningrad 1958.
Azadovskij, M. K.: Russkaja skazka (Das russische Mär-
chen). Moskau 1932.
Chudjakov, A. J.: Velikorusskie skazki (Großrussische Mär-
chen). Moskau 1860-1862.
Dorevoljucionnyj fol’klor na Urale. Sost. V. P. Birjukov (Die
Folklore im Ural vor der Revolution. Herausgeber V. P.
Birjukov). Swerdlowsk 1936.

927
Gofman, Ė i Minc, S.: Skazki I. F. Kovaleva (Die Märchen I.
F. Kovalevs). Moskau 1941.
Komovskaja, N. D.: Skazki M. A. Skazkina (Die Märchen M.
A. Skazkins). Gorki 1952.
Krasnoženova, M. V.: Skazki našego kraja (Die Märchen
unserer engeren Heimat). Krasnojarsk 1940.
Nečaev, A. N.: Skazki M. M. Korgueva (Die Märchen M. M.
Korguevs). Petrosawodsk 1939.
Novikov, N. V.: Skazki F. P. Gospodareva (Die Märchen F. P.
Gospodarevs). Petrosawodsk 1941.
Ončukov, N. E.: Severnye skazki (Die Märchen des Nor-
dens). Petersburg 1908.
Roždestvenskaja, N. L: Skazy i skazki Belomor’ja i Pinež’ja
(Geschichten und Märchen aus dem Weißmeergebiet und
der Gegend von Pinega). Archangelsk 1941.
Russkie narodnye skazki. Sost. E. V. Pomeranceva (Russi-
sche Volksmärchen. Herausgeber E. V. Pomeranceva).
Moskau 1957.
Russkoe narodnoe tvorčestvo v Baškirii. Sost. S. J. Minc, N.
S. Poliščuk, E. V. Pomeranceva (Russische Volksdichtung
in Baschkirien. Herausgeber S. I. Minc, N. S. Poliščuk, E.
V. Pomeranceva). Ufa 1957.
Serova, M.: Novgorodskie skazki (Nowgoroder Märchen).
Leningrad-Moskau 1924.
Skazki i predanija Samarskogo kraja. Sobr. i zapis. D. N.
Sadovnikovym (Märchen und Überlieferungen aus der
Gegend von Samara. Gesammelt und aufgezeichnet von
D. N. Sadovnikov). Petersburg 1884.
Skazki Kuprijanichy. Sost. A. M. Novikova i I. A. Ossoveckij
(Die Märchen der Kuprijanicha. Herausgeber A. M. Novi-
kova und I. A. Ossoveckij). Woronesh 1937.
Skazki Magaja. Sost. M. K. Azadovskij i L. Eliasov (Die
Märchen Magajs. Herausgeber M. K. Azadovskij und L.
Eliasov). Leningrad 1940.
Sokolov, Ju. M.: Barin i mužik (Gutsherr und Bauer). Mos-
kau 1932.

928
Sokolov, B. i Sokolov, Ju.: Skazki i pesni Belozerskogo kraja
(Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk).
Moskau 1915.
Tambovskij fol’klor. Red. Ju. M. Sokolov i E. V. Gofman (Die
Folklore von Tambow. Redaktion Ju. M. Sokolov und E. V.
Gofman). Tambow 1941.
Zelenin, D. K.: Velikorusskie skazki Permskoj gubernii
(Großrussische Märchen aus dem Gouvernement Perm).
Petrograd 1914.
–, –: Velikorusskie skazki Vjatskoj gubernii (Großrussische
Märchen aus dem Gouvernement Wjatka), Petrograd
1915.

929
Anmerkungen
Tiermärchen

1. Fuchs und Wolf


(AT 1 + 2 + 3 + 4; BP 73 + 74)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 1, entnommen.
Das Buch Afanas’evs – eines hervorragenden russischen
Gelehrten und gleichzeitig eines der markantesten Vertreter
der mythologischen Schule in der russischen Wissenschaft –
stellt die größte Sammlung russischer Volksmärchen dar.
Die Sammlung ist in den Jahren 1855-1864 zunächst in ein-
zelnen Lieferungen erschienen und hat seitdem mehrere
Neuauflagen erfahren. – Die letzten wissenschaftlichen Aus-
gaben, jeweils dreibändig, sind 1936-1940 (redigiert und
kommentiert von M. K. Azadovskij, N. P. Andreev und Ju. M.
Sokolov) sowie 1957 (redigiert und kommentiert von V. Ja.
Propp) erschienen. Diese Sammlung ist bis heute Haupt-
quelle für jeden, der sich mit dem Studium des russischen
Märchens befaßt, und gehört gleichzeitig zu den Lieblings-
büchern eines breiten Kreises von Lesern aller Altersstufen.
Der vorliegende Text ist von A. N. Afanas’ev in der Mitte
des 19. Jahrhunderts im Gouvernement Woronesh aufge-
zeichnet worden. Er vereint mehrere Episoden, die in russi-
schen Fuchsmärchen in verschiedenen Kombinationen be-
gegnen. Diese Märchen sind besonders bei Kindern sehr
beliebt, wozu auch ihre zahllosen Veröffentlichungen in Kin-
der- und Lehrbüchern beitragen.

2. Wie die Füchsin die Wehmutter gemacht hat


(AT 15; BP I,2)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 9, entnommen (s. Anm. zu Nr. 1).

930
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Perejaslawl – Salesski
von N. Nazarov.
Obwohl die hauptsächlichen Episoden dieses Märchens
heute veraltet sind, begegnet es im Repertoire russischer
Märchenerzähler recht häufig.

3. Wie die Füchsin das Klageweib gemacht hat


(AT 37)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 21, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Gewöhnlich wird dieses weitverbreitete Märchen des rus-
sischen Repertoires von seinen Interpreten „mit verteilten
Rollen“ erzählt, gleichsam vorgespielt. Die Erzähler ahmen
das Brüllen des Bären nach, die Stimme des Wolfes und den
schmeichlerisch-rührenden Klagegesang der Füchsin. – Die
abschließende Episode des Märchens, das Gespräch der
Füchsin mit ihren Augen, ihren Beinen und ihrem Schwanz,
begegnet nicht nur in diesem Märchen, sondern bildet den
Ausgang einer ganzen Reihe anderer russischer Märchen
vom Fuchs und seinen Abenteuern (s. Nr. 7 unserer Samm-
lung).

4. Fuchs und Kranich


(AT 60)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 33, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Twer.
Das Märchen trägt den Charakter einer Fabel und schließt
nicht zufällig mit dem moralisierenden Sprichwort: „Wie
man in den Wald hineinruft, so schallt es wieder heraus.“ Es
erfreut sich großer Beliebtheit und wird, allegorisch interpre-
tiert, in lebendiger Rede oft herangezogen.

931
5. Kater und Füchsin
(AT 103; BP I,48)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 40, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Es ist eins jener russischen Tiermärchen, in denen Ele-
mente der sozialen Satire besonders deutlich zutage treten.

6. Fuchs, Hase und Hahn


(AT 43)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 14, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Perejaslawl-Salesski
von N. Bodrov.
Das Märchen gehört zu den meistverbreiteten russischen
Tiermärchen. Nicht selten tritt darin an Stelle des Fuchses
die Ziege auf, wobei es zur Kontamination mit dem Märchen
von der „Geschundenen Ziege“ (vgl. Nr. 15 unserer Samm-
lung) kommen kann.

7. Bauer, Bär und Fuchs


(AT 1030 + 154; BP III,189)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 24, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Tambow und
von Afanas’ev literarisch überarbeitet.

8. Undank ist der Welt Lohn


(AT 155; BP 11,99)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 27, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).

932
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Tschorny Jar, Gouver-
nement Astrachan, durch den Schriftsteller Volkonidin und
von Afanas’ev literarisch überarbeitet.

9. Der dumme Wolf


(AT 122A; BP 11,86)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 55, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Die in diesem Text enthaltenen Episoden begegnen in
russischen Märchen vom Wolf in verschiedenen Kombinatio-
nen.

10. Kranich und Reiher


(Andreev *244 I; AT 244 A*)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 72, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Wologda.
Dieses Märchen ist nur in wenigen ostslawischen Varian-
ten bekannt.

11. Der Hahn und die Bohne


(AT 2032; Andreev 241 I*; BP II,80)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara (gesammelt und aufge-
zeichnet von D. N. Sadovnikov), Nr. 49, entnommen.
Der Name des russischen Dichters aus der zweiten Hälfte
des 19. Jhs. D. N. Sadovnikov ist nicht nur in die Geschichte
der russischen Dichtung, sondern auch in die Geschichte der
russischen Folkloristik eingegangen. Er hat die erste große
Sammlung russischer Volksrätsel herausgegeben: Zagadki
russkogo naroda (Rätsel des russischen Volkes), 1876, so-
wie diese ausgezeichnete Sammlung von Märchen, die von
ihm im Wolgagebiet aufgezeichnet wurden.

933
Der vorliegende Text stammt von einem der besten rus-
sischen Märchenerzähler, Abram Novopol’cev, von dem Sa-
dovnikov insgesamt 72 Märchen aufzeichnen konnte, die in
der obengenannten Sammlung erstmals veröffentlicht wur-
den. – Das Repertoire Abram Novopol’cevs ist außerordent-
lich reich und mannigfaltig. Mit der gleichen Meisterschaft
erzählt er Zaubermärchen wie Alltagsmärchen, Tiermärchen,
Legenden und Sagen. Das Schaffen Novopol’cevs hat die
Beachtung sowohl sowjetischer Wissenschaftler (B. M. So-
kolovs, M. K. Azadovskijs, V. Ju. Krupjanskas, E. V. Pome-
ranzevas) wie auch Gelehrter aus dem Ausland (L. Kopez-
kis) auf sich gezogen. Einzelne seiner Märchen wurden
mehrfach in Anthologien und Lehrbüchern abgedruckt. Sei-
ne besten Märchen (insges. 41) sind 1952 zusammen mit
einem Aufsatz über sein Schaffen als Einzelausgabe in Kui-
byschew erschienen.
Das vorliegende Märchen mit seiner kettenähnlichen
Komposition ist im russischen Repertoire – vorwiegend als
Kindermärchen – weitverbreitet.

12. Die Ziege


(AT 2015; BP II,72a)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 60, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gebiet Wologda.
Ein bei Kindern beliebtes Kettenmärchen.

13. Wie das Schwein zu Tanze ging


(AT 20+ 20A; vgl. BP I,10-S.77)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien (Herausgeber S. I. Minc, N. S. Poliščuk, E. V.
Pomeranceva), Nr. 8, entnommen. Das in dieser Sammlung
enthaltene Material wurde durch Studentenexpeditionen der
Moskauer Universität in den Jahren 1948 und 1949 in russi-
schen Dörfern der Baschkirischen ASSR zusammengetragen.
Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch E. V. Pomeranceva
von der Märchenerzählerin U. I. Peskova, 65 Jahre, im Dorf

934
Wladimir, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR). – U. I.
Peskova genießt nicht nur in ihrem Dorf, sondern auch in
den umliegenden Dörfern den Ruf einer guten Märchener-
zählerin. Ihre Zuhörerschaft besteht ausschließlich aus Kin-
dern, wodurch der Charakter ihres Repertoires bestimmt
wird. Interessant ist, daß U. I. Peskova Mädchen, die Kinder
zu betreuen haben, im Märchenerzählen unterweist. Auch
Märchen einiger ihrer „Schülerinnen“ wurden aufgezeichnet.
Der vorliegende Text – eine Variante des traditionellen
Sujets „Die Tiere in der Grube“ – ist sehr schlüssig und lo-
gisch erzählt und zeigt den für die Erzählerin typischen Witz
und milden Humor.

14. Das Schlößchen


(Andreev ‘282)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 84, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Gouvernement Moskau.
Dieses Märchen ist außerordentlich beliebt bei Kindern
und wird immer wieder in Kindermärchenbüchern abge-
druckt. Es ist in einer ganzen Reihe literarischer Bearbeitun-
gen bekannt (S. Ja. Maršak u. a.) und wurde ins Repertoire
des Kindertheaters und des Kinderfilms aufgenommen.

15. Die Ziege Naseweis


(AT 212; BP I,36)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 55, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
Das Märchen von der lügnerischen Ziege ist bei Novo-
pol’cev mit dem von der geschundenen Ziege kontaminiert
(Märchen Nr. 6 der zitierten Sammlung).

16. Das Schweinchen


(Andreev *61 II; AT 61 B)

935
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch E. V. Pomeranceva
von der Kolchosbäuerin E. I. Kon’kova, 45 Jahre, im Dorf
Achlystino, Kreis Pokrowskoje (Baschkirische ASSR).
Es handelt sich um eine Variante des beliebten Kinder-
märchens „Der Hahn und der Kater“. Außer den gewöhnlich
in diesem Märchen vorkommenden Gestalten sind noch der
Sperling und das Schweinchen eingeführt. Möglicherweise
ist dieser ungewöhnliche Sachverhalt die Ursache dafür, daß
die Erzählerin dem Märchen gerade diese Überschrift gege-
ben hat.

17. Der Pfannkuchen


(AT 2025; Andreev 296*)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 36, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
In allen russischen Varianten ist dieses Märchen mit dem
gesungenen Lied verbunden, was zu seiner ganz außerge-
wöhnlichen Beliebtheit bei Kindern beiträgt. Es gibt zahlrei-
che literarische Bearbeitungen des Märchens, das auch in
Kindertheater und Kinderfilm Eingang gefunden hat und als
Kinderspielzeug sowie als Maskenkostüm für Kinder begeg-
net. Auch die bildende Volkskunst, besonders Knochen-
schnitzer und Holzschnitzer, haben sich ihm mehrfach zu-
gewandt.

Zaubermärchen

18. Der Kater mit dem Goldschwanz


(AT 311; BP I,46 + 66, III,169)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien, Nr. 28, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).

936
Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von der
Märchenerzählerin E. I. Kon’kova im Dorf Achlystino, Kreis
Pokrowskoje (Baschkirische ASSR) (s. Anm. zu Nr. 16).
Es handelt sich hier um eine ganz eigentümliche Konta-
mination des beliebten Kindermärchens vom „Mädchen, das
ein Bär entführte“, mit einem dem Märchen vom „Blaubart“
verwandten Sujet. Eine derartige kompositorische Lösung
dieses Märchens begegnet im russischen Repertoire verhält-
nismäßig selten.

19. Das Schneekind


(Andreev *703; AT 703*+ 780; vgl. BP I,28)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien, Nr. 27, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von der
Märchenerzählerin E. I. Kon’kova im Dorf Achlystino, Kreis
Pokrowskoje (Baschkirische ASSR).
Es handelt sich um eine Kontamination des im russischen
Folklore-Repertoire verhältnismäßig seltenen Märchens von
dem „aus Schnee geformten Mädchen“ mit dem beliebten
Märchen vom „Knochenpfeifchen“, das ein Verbrechen an
den Tag bringt.

20. Die habgierige Alte


(AT 555; BP I, 19)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 76, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben. – Es handelt sich um eine inter-
essante Parallele zu Puškins Märchen „Vom Fischer und dem
Fischlein“ sowie zu Grimms Märchen „Von dem Fischer un
syner Fru“.

937
21. Das bucklige Pferdchen
(AT 531; BP III,126)
Der Text ist der Sammlung: Die Folklore von Tambow
(Redaktion Ju. M. Sokolov und E. V. Gofman), Nr. 7, ent-
nommen.
Diese Sammlung umfaßt Material, das Studenten des
Moskauer Staatlichen Instituts für Philosophie, Literatur und
Geschichte im Sommer 1939 im Gebiet Tambow aufzeichne-
ten.
Unser Text wurde durch S. G. Lazutin von dem Kolchos-
bauern V. I. Golovašin aufgezeichnet, einem begabten Mär-
chenerzähler, der über ein großes Repertoire verfügt.
Das Märchen vom buckligen Pferdchen ist im russischen
Märchen-Repertoire sehr beliebt, wozu die Bearbeitung die-
ses Sujets durch P. Eršov zweifellos beigetragen hat. Eršovs
Märchen „Das bucklige Pferdchen“, das 1831 erschien und
seitdem unzählige Neuauflagen erfahren hat, ist zu einem
Lieblingsbuch russischer Kinder geworden. Es gehört zum
festen Repertoire von Theater und Film, und auch Künstler
wie Meister der Volkskunst haben sich ihm mehrfach zuge-
wandt. In den meisten Volksmärchen vom buckligen Pferd-
chen, die im 19. und 20. Jh. aufgezeichnet wurden, finden
wir Folkloremotive mit Elementen aus Eršovs Märchen ver-
knüpft.

22. Der Wildwolf und Iwan Zarewitsch


(Andreev 550; AT 519; BP I, 57)
Der Text ist der Sammlung: Die Märchen Magajs (Her-
ausgeber M. K. Azadovskij und L. Eliasov), Nr. l, entnom-
men.
E. I. Sorokovikov-Magaj (1868-1948) war ein hervorra-
gender sowjetischer Märchenerzähler und verfügte über ein
riesiges Repertoire. Entdeckt wurde er 1925 von dem gro-
ßen sowjetischen Folkloresammler und -forscher M. K. Aza-
dovskij. Seine Märchen sind von verschiedenen Sammlern
aufgezeichnet und mehrfach veröffentlicht worden (M. K.
Azadovskij, A. V. Gurevič, L. Eliasov). – E. I. Sorokovikov
gehört zum interessanten Typ des „belesenen“ Märchener-

938
zählers; in seinen Märchen kommt unverkennbar seine Be-
lesenheit, seine Liebe zum Buch zum Ausdruck.
Den vorliegenden Text hat Azadovskij im Jahre 1925 von
Sorokovikov aufgezeichnet. Es handelt sich um einen der
besten aus dem großen Repertoire des Erzählers. Die Eigen-
art des Schaffens Sorokovikos, seine Sympathien und Lieb-
lingsgedanken kommen darin besonders deutlich zum Aus-
druck.

23. Iwan-Wassersohn und Michail-Wassersohn


(AT 300 + 303 + 554; BP I, 17 + 60 + II, 62 + 85)
Der Text ist der Sammlung: Die Märchen der Kuprijani-
cha (Herausgeber A. M. Novikova und I. A. Ossoveckij), Nr.
11, entnommen.
Von der Woronesher Märchenerzählerin A. K. Baryšnikova
(Kuprijanicha), einer der besten russischen Erzählerinnen,
sind mehr als 100 Märchen aufgezeichnet worden. Entdeckt
hat sie im Jahre 1925 die Völkerkundlerin N. P. Grinkova.
Später ist ihr vollständiges Repertoire zweimal aufgezeich-
net und herausgegeben worden (zuerst von A. M. Novikova
und I. A. Ossoveckij, danach von V. A. Tonkov). – Die Mär-
chen der Kuprijanicha zeichnen sich durch ihre lebendige
bildhafte Sprache und die sorgfältig ausgefeilte Form aus,
durch ihre Fülle an komischen Situationen, ihre scherzhaften
Märcheneinleitungen und Märchenschlüsse sowie durch ihre
seltsamen Wortspiele und Reime.
Den vorliegenden Text haben A. M. Novikova und I. A.
Ossoveckij im Sommer 1935 von A. K. Baryšnikova aufge-
zeichnet, und zwar im Dorf Bolschaja Werejka, Kreis Seml-
jansk (Gebiet Woronesh). In unserem Märchen, einem der
besten aus dem Repertoire A. K. Baryšnikovas, sind einige
beliebte Sujets des russischen Märchenrepertoires kontami-
niert: „der Drachentöter“ – „die zwei Brüder“ – „die dankba-
ren Tiere.“
Das Märchen ist mit der auch für die Kuprijanicha typi-
schen Dynamik und Ausdruckskraft erzählt. Trotz ihres
Hanges zum Scherzen, zum komischen Reim und zu Zwi-
schenbemerkungen, erzählt Kuprijanicha in diesem Falle ihr

939
Märchen sehr gestrafft, verläßt den hohen Stil nicht und
gestattet sich nur am Ende, nachdem das Märchen mit der
traditionellen Formel vom Festmahl geschlossen hat, den
Scherz: „Und es geht ihnen gut, sie schicken mir Briefe, nur
kommen sie nie an.“

24. Der Unterfähnrich


(AT 301 + 301 D* + 318; BP II, 91)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen
(Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 31, entnommen.
Aufgezeichnet 1936 im Gebiet Woronesh durch I. A. Os-
soveckij vom Märchenerzähler B. Kartašov. Das Märchen ist
innerhalb des russischen Märchenrepertoires recht beliebt.
Es ist verknüpft mit der mehrfach abgedruckten Kolportage-
erzählung „Märchen vom starken und kühnen Ritter Unter-
fähnrich (Портупей Прапорщик) und der wunderschönen
Königstocher Margarete“, die ihrerseits viele Gestalten und
Situationen aus der Folklore verwendet.

25. Wanjuschka
(AT 400 + 329; BP II 88 + 92 + 93 + III, 191 + 193)
Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins: Großrussische
Märchen aus dem Gouvernement Perm, Nr. 1, entnommen.
Die Märchensammlungen des großen russischen Ethno-
graphen und Folkloristen D. K. Zelenin: Großrussische Mär-
chen aus dem Gouvernement Perm (1914) und: Großrussi-
sche Märchen aus dem Gouvernement Wjatka (1915)
gehören zum bleibenden Bestand der russischen Folkloristik.
Wie schon vor ihm N. E. Ončukov, so ordnet auch Zelenin
das Märchenmaterial nach den Erzählern und macht über
jeden von ihnen die erforderlichen Angaben.
Unseren Text hat Zelenin von A. D. Lomtev aufgezeich-
net, einem Bauern aus dem Dorf Koshakula, Wolost Krassin
(Kreis Jekaterinburg). Lomtev zählt zu den besten russi-
schen Märchenerzählern. Seine Märchen zeichnen sich durch
strenge Einhaltung des epischen Stils aus.
Das Märchen vereint drei Sujets, die in der russischen
Folklore weitverbreitet sind: „die Schwanenjungfrauen“ –

940
„ein Mann sucht seine schöne Frau“ – „das dreimalige Ver-
steck.“

26. Wanjuschka der Dummkopt


(AT 530; BP III,136 – vgl. auch III, 111)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen
(Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 33, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 24).
Aufgezeichnet 1949 durch N. Savuškina und L. Jak-
kovskaja vom Kolchosbauern K. K. Ermakov im Dorf Gus-
sewka, Kreis Malojas (Baschkirische ASSR). K. K. Ermakov
kennt viele Märchen und erzählt sie meisterhaft.
Unser Märchen, eins der besten dieses Erzählers, ist eine
Variante des im russischen Repertoire weitverbreiteten Su-
jets vom Pferd Siwka-Burka, dem magischen Helfer.

27. Jemelja der Dummkopf


(AT 675; BP I, 54a)
Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. Minc’: Die
Märchen I. F. Kovalevs, Nr. 6, entnommen.
Aufgezeichnet in den dreißiger Jahren von I. F. Kovalev
(geb. 1884), einem Kolchosbauern aus dem Gebiet Gorki. Er
hat einige neue Märchen geschaffen und verfügt außerdem
über ein großes Repertoire von etwa hundert überlieferten
Märchen, unter denen die Zauber- und Abenteuermärchen
überwiegen. Kovalev wurde als hervorragender Erzähler mit
einem Orden ausgezeichnet und in den Sowjetischen
Schriftstellerverband aufgenommen. Seine Märchen sind
mehrfach veröffentlicht worden.
Unser Märchen – eins der besten aus dem Repertoire Ko-
valevs – ist eine sehr schöne Variante des weitverbreiteten
Sujets vom erfolgreichen „Dummkopf“, der alle seine Feinde
besiegt.

28. Die Feder von Finist, dem edlen Falken


(AT 432; BP II, 88)

941
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. II, Nr. 234, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Dieses poetische Märchen, das zu dem bei allen Völkern
weitverbreiteten Märchenzyklus vom verzauberten
(Tier)Bräutigam gehört, begegnet im russischen Repertoire
verhältnismäßig selten.

29. Die schöne Wassilissa


(AT 480; BP I,24)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 104, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Varianten dieses Märchens, das zu dem verbreiteten Mär-
chenzyklus von der Stiefmutter und der verfolgten Stief-
tochter gehört, konnten bei russischen Erzählern nicht fest-
gestellt werden. Nach der Sprache zu urteilen, hat das
Märchen eine gewisse literarische Überarbeitung erfahren.

30. Maria Morewna


(AT 400 + 552; BP II, 88 + III, 197)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 159, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Das Märchen kontaminiert drei Sujets: „die Tierschwä-
ger“ – „die Suche nach der geraubten Gattin“ – „die Hilfe
der dankbaren Tiere.“

31. Iwan Zarewitsch und Blauäuglein, die Heldenjungfrau


(AT 551; BP II, 97)
Der Text ist der Sammlung B. und Ju. Sokolovs: Märchen
und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 139, ent-

942
nommen. Diese Sammlung stellt eine Zierde der russischen
Folkloristik dar. Sie besteht aus Aufzeichnungen, die die
bekannten sowjetischen Folkloresammler und -forscher B.
und Ju. Sokolov noch als Studenten angefertigt haben.
Dank der hervorragenden Qualität der Aufzeichnung und der
großen Bedeutung der theoretischen Aufsätze, in denen die
jungen Wissenschaftler das gesammelte Material erläutern,
hat die Sammlung von ihrem Wert bis heute nichts einge-
büßt.
Unser Text ist 1908 von Il’ja Semenov, einem Bauern aus
dem Dorf Konetschnaja, Bezirk Punems, aufgezeichnet wor-
den. – Il’ja Semenov gehört zu den besten und typischsten
russischen Märchenerzählern des beginnenden 20. Jhs. Er
beachtet sorgfältig den Märchenkanon und läßt deutlich den
Einfluß erkennen, den der Bylinenstil auf seine Texte gehabt
hat. Gleichzeitig enthält sein Märchen eine Fülle realistischer
Alltagsdetails.

32. Iwan Zarewitsch und die schöne Maria mit dem schwar-
zen Zopf
(AT 300 + 465; BP I, 60)
Der Text ist der Sammlung D. N. Sadovnikovs: Märchen
und Überlieferungen aus der Gegend von Samara, Nr. 4,
entnommen (s. Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch Sadovnikov von Abram Novopol’cev
(s. Anm. zu Nr. 11).
Es handelt sich um eine originelle Bearbeitung des belieb-
ten Sujets vom Drachentöter. Novopol’cev vereint in diesem
Märchen mehrere Sujets: „die zwei Brüder“ – „die Befreiung
der Zarentochter vom Drachen“ – „die schwierigen Aufga-
ben“.

33. Andrej der Jäger


(AT 465 A)
Der Text ist der Sammlung A. N. Nečaevs: Die Märchen
M. M. Korguevs, Bd. I, Nr. 2, entnommen.
Aufgezeichnet in den dreißiger Jahren durch Nečaev von
dem bekannten sowjetischen Märchenerzähler und Weiß-

943
meerfischer M. M. Korguev, einem Kenner des russischen
und karelischen Märchenepos. Sein Repertoire ist außeror-
dentlich groß, wobei monumentale Zaubermärchen über-
wiegen. Das Sujet dieses Märchens ist in der ostslawischen
Folklore weitverbreitet; der Text Korguevs stellt gleichsam
eine Zusammenschau der verschiedenen Episoden dar, die
in den russischen Märchen von der klugen und schönen Gat-
tin begegnen. Das Märchen enthält unverkennbare soziale
Tendenzen – die Sympathie des Erzählers ist gänzlich auf
seiten des einfachen Jägers, dem der Zar und seine engsten
Vertrauten die Frau wegnehmen wollen.

34. Als sich Mücke und Fliege bekriegten


(AT 222 + 313; BP I, 41 + 56 + II, 70a + 113 + III,
186)
Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. I. Minc’:
Die Märchen Kovalevs, Nr. 10, entnommen (s. Anm. zu Nr.
27).
Kovalev kontaminiert hier das Sujet von der „magischen
Flucht“ mit dem von der „vergessenen Braut“. Bemerkens-
wert ist die ausführliche Einleitung des Märchens, die gleich-
sam die Exposition für die gesamte Erzählung darstellt. Für
Kovalevs Stil ist charakteristisch, daß er den überlieferten
Folkloretext mit schriftsprachlichen Elementen sowie mit
Wendungen aus der Gegenwartssprache durchsetzt

35. Die Froschzarin


(AT 402 + 400; BP II, 63 + 106)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. II, Nr. 267, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. durch den Bauern A. Zyrjanov
im Kreis Schadrinsk, Gouvernement Perm.
Das Märchen von der verzauberten Gattin ist in der Folk-
lore aller Völker weitverbreitet, doch sind russische Varian-
ten verhältnismäßig selten.

944
36. Die Tochter des Zaren
(AT 306; BP III, 133)
Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins: Großrussische
Märchen aus dem Gouvernement Wjatka, Nr. 3, entnommen
(s. Anm. zu Nr. 25).
Den vorliegenden Text hat Zelenin von dem guten Mär-
chenerzähler G. A. Verchorubov aufgezeichnet, der die tra-
ditionelle Form der Erzählung sorgfältig wahrt.
In diesem Märchen sind mehrere beliebte Sujets des rus-
sischen Repertoires vereint. Wie in anderen Texten dieses
Erzählers, so stammen einige Details auch hier aus dem
früheren Soldatenleben.

37. Die Schafe im Meer


(AT 570 + 306; BP III, 165 + 133)
Der Text ist der Sammlung M. V. Krasnoženovas: Die
Märchen unserer engeren Heimat, S. 132-139, entnommen.
M. V. Krasnoženova war eine bekannte Sammlerin der
Folklore Sibiriens, deren Publikationen einen bedeutenden
Beitrag zur sowjetischen Wissenschaft darstellen.
Vorliegendes Märchen hat M. V. Krasnoženova im Jahre
1924 von der bekannten sibirischen Erzählerin K. I. Čičaeva
aufgezeichnet. Es handelt sich hier um eine eigenartige Ver-
knüpfung mehrerer gut bekannter Episoden des Zaubermär-
chens: „die schwierigen Aufgaben“ – „die Zauberdinge“ –
„die zertanzten Schuhe“.

38. Der weise Iwan


(AT 707; BP II, 96)
Der Text ist der Sammlung A. I. Chudjakovs: Großrussi-
sche Märchen, Bd. III, Nr. 112, entnommen.
Chudjakov, ein Revolutionär aus der Mitte des 19. Jh.
und als Folklorist Anhänger der revolutionären Demokraten,
ist einer der fortschrittlichen Sammler, die sich darum be-
mühen, auf dem Wege über die Folklore das Antlitz des Vol-
kes zu erkennen.

945
Den vorliegenden Text hat Chudjakov in der Mitte des
vorigen Jahrhunderts im Gouvernement Nishni Nowgorod
von der Märchenerzählerin O. S. Kotyševa aufgezeichnet.
Es handelt sich um eine Variante des verbreiteten Mär-
chens vom Zaren Saltan. Zur Beliebtheit dieses Sujets bei
den russischen Erzählern des 19. und 20. Jh. hat das be-
rühmte Märchen Puškins beigetragen.

39. Der Adler-Zarewitsch und sein Sohn


(AT 222 B + 302; BP II, 102 + III, 197)
Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russi-
sche Märchen, Bd. I, Nr. 17, entnommen.
Aufgezeichnet von der sibirischen Bäuerin N. O. Vinoku-
rova (1860-1930), deren Schaffen einige Aufsätze M. K.
Azadovskijs gewidmet sind. Besondere Erwähnung verdient
der Aufsatz: Eine sibirische Märchenerzählerin, der in deut-
scher Sprache in den FFC 1926, Nr. 68 veröffentlicht wurde.
Azadovskij hat von N. O. Vinokurova ein großes und vielfäl-
tiges Märchenrepertoire aufgezeichnet. – Vinokurovas Mär-
chen zeigen großes Interesse für die psychischen Erlebnisse
der Märchengestalten. Auch finden sich in ihnen viele De-
tails aus dem sibirischen Alltag. Besondere Mühe gibt sie
sich, die Elendslage, die große Armut ihrer Helden zu be-
schreiben.
Im vorliegenden Text vereint die Erzählerin zwei beliebte
Sujets: das vom „Adler“ und das von „Kostschejs Tod“. Die
Märcheneinleitung vom Streit zwischen Sperling und Maus
ist der Einleitung Kovalevs vom Krieg zwischen Mücke und
Fliege analog (s. Nr. 34); sie wird von russischen Märchen-
erzählern häufig als Einleitung zu Zaubermärchen verwen-
det.

40. Das goldene Ei


(AT 567; BP I, 60 + III, 122)
Der Text ist der Sammlung B. und Ju. Sokolovs-. Mär-
chen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr. 54, ent-
nommen (s. Anm. zu Nr. 31).

946
Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov
von Paramon Bogdanov, einem armen Bauern ohne eigenes
Land. Bogdanov gilt als einer der besten Märchenerzähler,
die den Sammlern im Gebiet von Belosersk begegnet sind.
Er hat es in seinem Schaffen außerordentlich glücklich ver-
standen, die Formen des alten Märchenzeremoniells mit
einprägsamen Zeichnungen aus dem Alltag und einer ver-
tieften Behandlung der psychologischen Momente zu ver-
knüpfen.

41. Von Nikita dem Herumtreiber


(AT 725; BP I, 33)
Der Text ist der Sammlung D. K. Zelenins-. Großrussi-
sche Märchen aus dem Gouvernement Wjatka, Nr. 4, ent-
nommen (s. Anm. zu Nr. 36 und Nr. 25).
Aufgezeichnet von dem Märchenerzähler G. A. Verchoru-
bov (s. Anm. zu Nr. 36).
In diesem Märchen vom prophezeienden Traum, einem in
der Folklore aller Völker weitverbreiteten Sujet, beweist
Verchorubov sein ganzes Können. Kennzeichnend für ihn ist
seine kritische Einstellung zum Religiösen.

42. Die Zarin ohne Arme


(AT 706; BP I, 31)
Der Text ist der Sammlung E. Gofmans und S. Minc’: Die
Märchen I. F. Kovalevs, Nr. 22, entnommen (s. Anm. zu Nr.
27).
Im russischen Märchen vom Mädchen ohne Hände, das
zu dem bei allen Völkern weitverbreiteten Märchenzyklus
von der unschuldig verleumdeten Frau gehört, ist der Ein-
fluß nicht zu verkennen, dem es durch die aus dem 17. Jh.
stammende Erzählung: Das Wunder der heiligen Gottesmut-
ter an der Zarentochter Persika, einer Tochter des Zaren
Michail Bolgarski, ausgesetzt war

43. Fürst Pjotrs treue Gemahlin


(AT 300 + 875; BP I, 60+62 + II, 94)

947
Der Text wurde nach 1950 durch E. V. Pomeranceva von
der Woronesher Märchenerzählerin A. N. Korolkova aufge-
zeichnet und 1958 erstmals veröffentlicht in: Slavjanskij
sbornik (Slawische Sammlung), Woronesh, Teil II, S. 255
(hg. von der Woronesher Universität, Red. P. G. Bogatyrev).
A. N. Korolkova (geb. 1893) zählt zu den besten sowjeti-
schen Märchenerzählerinnen. Etwa einhundert Märchen sind
von ihr aufgezeichnet worden. Ihr Repertoire ist sehr man-
nigfaltig; mit gleicher Meisterschaft erzählt sie Zaubermär-
chen, Heldenmärchen und Abenteuermärchen. Unnachahm-
lich ist ihr Humor, wenn sie Tiermärchen und Anekdoten aus
dem Alltag erzählt. Ihre Märchen sind mehrfach veröffent-
licht worden.
Bei dem vorliegenden Märchen handelt es sich um eine
originelle Wiedergabe der aus dem 14. Jh. stammenden
Vitenerzählung von Pjotr und Fewronija. In der Interpretati-
on A. N. Korolkovas hat die Erzählung ihren religiösen Cha-
rakter völlig verloren, während die demokratischen Tenden-
zen stärker betont sind.

44. Schwesterchen Aljonuschka und Brüderchen Iwanuschka


(AT 450; BP I, 11 – vgl. III, 141)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. II, Nr. 260, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet durch Afanas’ev in seiner Heimat, im Krei-
se Bobrow, Gouvernement Woronesh.
Wir haben es hier mit einem der beliebtesten russischen
Märchen zu tun, dem sich russische Maler, Bildhauer und
Meister der Volkskunst häufig zugewandt haben.

45. Junker Frost


(AT 480; BP I, 24)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 95, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im Kreis Nikolsk, Gouvernement Wologda.

948
Das Sujet dieses Märchens, das zum Zyklus der unschul-
dig verfolgten Stieftochter gehört, ist in der Folklore aller
Völker weitverbreitet. Es liegt auch dem deutschen Märchen
von der Frau Holle zugrunde. In der Redaktion, mit der wir
es in dem von uns veröffentlichten Märchen zu tun haben,
ist es nur in Osteuropa bekannt. – Die russischen Märchen
vom Junker Frost haben dem großen russischen Dichter N.
A. Nekrasov als Quelle für sein berühmtes Poem: Moroz-
Krasny nos (Frost Rotnase) gedient.

46. Iwaschko und die Hexe


(AT 327C; BP I, 115)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 108, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet durch Afanas’ev im Kreis Bobrow, Gouver-
nement Woronesh.

47. Die wilden Schwäne


(Andreev 480*E; vgl. AT 480A*)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 113, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im Gouvernement Kursk.
Es handelt sich um ein bei sowjetischen Kindern sehr be-
liebtes Kindermärchen.

48. Daumengroß
(AT 700 + 715; BP I, 27+37+45)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen
(Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 55, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 24).
Aufgezeichnet nach 1950 durch E. Pomeranceva von der
Märchenerzählerin A. N. Korolkova in Woronesh (s. Anm. zu
Nr. 43). Vorher ist das Märchen der Korolkova in einer Auf-
zeichnung V. A. Tonkovs veröffentlicht worden.
Es handelt sich hier um eine originelle Kontamination des
Sujets vom „Daumengroß“ mit dem Sujet „Der Zauber-

949
hahn“. Für unseren Text wie überhaupt für das Repertoire
der großartigen sowjetischen Märchenerzählerin ist die
scharf ausgeprägte soziale Tendenz kennzeichnend.

49. Der Soldat und der Teufel


(AT 1166*)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 80, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet von dem Simbirsker Kleinbürger T. S. Po-
luektov.
Es handelt sich um eins der zahlreichen russischen Mär-
chen vom Teufel. Entstanden ist es wohl im Soldatenmilieu:
seine Satire ist gegen den Soldatendrill gerichtet, der für
das zaristische Rußland so charakteristisch war.
Ungeachtet der Phantastik des Sujets wird das Märchen
nicht als Zaubermärchen aufgefaßt, was es an sich ist, son-
dern als satirisches Märchen.

50. Der Hexenmeister


(Andreev 664A; AT 664A*)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 376, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Das Märchen vom Hexenmeister erinnert sehr an die in
der russischen Folklore verbreiteten Erzählungen von den
getäuschten Opfern der Zauberkünstler.
Unser Text weist unverkennbare soziale Tendenzen auf:
ein General wird das Opfer eines Matrosen.

51. Der Soldat im Jenseits


(AT 801 + 804 B; vgl. BP III, 167)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien, Nr. 26, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
Aufgezeichnet 1949 durch L. D. Kaljakina von dem Mär-
chenerzähler P. I. Sjutin in Ufa.

950
Sjutin, Fabrikarbeiter in Blagowestschensk, ist ein ausge-
zeichneter Erzähler, von dem über 50 Märchen aufgezeich-
net worden sind. Sein überdurchschnittliches Märchenreper-
toire ist noch nicht vollständig veröffentlicht.
Die hier vorliegende, bis in die Einzelheiten ausgearbeite-
te Variante des verbreiteten Sujets vom Soldaten im Jen-
seits ist wegen ihrer popenfeindlichen Tendenz interessant.

52. Der Schmied und der Teufel


Der Text ist der Sammlung: Die Folklore im Ural vor der
Revolution (Herausgeber V. P. Birjukov), S. 206, entnom-
men.
Aufgezeichnet im Jahre 1936 in Beresowskij durch Alek-
seev von den Arbeitern G. I. Berestnev (61 Jahre) und P.
Kožurin (52 Jahre).
In diesem Märchen, das unter den Arbeitern des Ural er-
zählt wurde, kommen einprägsam die schweren Arbeitsbe-
dingungen und die Ausbeutung der Fabrikarbeiter in der Zeit
vor der Revolution zum Ausdruck.

53. Vom Hammerschmied und dem Teufel


Der Text ist der Sammlung: Die Folklore im Ural vor der
Revolution, S. 208, entnommen (s. Anm. zu Nr. 52).
Aufgezeichnet durch den Fabrikarbeiter Ja. I. Žuravlev
aus Kabanowsk von seinem Großvater.
Das Märchen war vor der Revolution unter den Arbeitern
des Ural sehr verbreitet.

54. Die Sorge


(AT 735 A; Andreev *735 I; BP II, 99)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. II, Nr. 303, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im Gouvernement Nowgorod.
Märchen und Lieder von der Sorge sind in der russischen
Folklore ziemlich verbreitet. Sie bilden die Grundlage für die
im 17. Jh. entstandene Erzählung von der Sorge und dem
Unglück, die ihrerseits wieder die Folklore beeinflußt hat.

951
Heldenmärchen – Historische Märchen –
Abenteuermärchen

55. Nikita der Gerber


(AT 300; vgl. BP I, 60 + II, 62)
Der Text der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. I, Nr. 148, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet durch P. I. Jakuškin in Koslow, Gouverne-
ment Tambow.
An sich haben wir es hier nicht mit einem Märchen zu
tun, sondern mit einer Sage, die Märchenmotive verwendet
– den Sieg des Helden über den Drachen – und mit dem
Drachenwall in Zusammenhang steht. Die Gestalt des Ger-
bers ist in einigen Zügen mit der des Usmoschwez ver-
wandt, der nach der Chroniküberlieferung Kiew von den
Petschenegen befreit hat.

56. Die Mär von Ilja Muromez


(Andreev *650 I; vgl. AT 650A; vgl. BP II, 90)
Der Text ist der Sammlung N. D. Komovskajas: Die Mär-
chen M. A. Skazkins, Nr. 23, entnommen.
Aufgezeichnet im Jahre 1940 im Gebiet Gorki durch N. D.
Komovskaja von dem begabten sowjetischen Erzähler M. A.
Skazkin, der über ein reiches Repertoire verfügt.
Ilja Muromez ist der beliebteste Held des russischen Byli-
nenepos (vgl. A. M. Astachova: Ilja Muromez). – Das Sujet
der Byline von Ilja begegnet – in Prosaform – häufig im Re-
pertoire der Märchenerzähler und der Kolportageliteratur.
Die Variante des belesenen Skazkin geht unverkennbar auf
eine literarische Quelle zurück.

57. Jeruslan Lasarewitsch


(Andreev *650 II; AT 650 A + B + 300 + 707 B*; BP III,
197 – vgl. II, 90)

952
Der Text ist der Sammlung N. D. Komovskajas: Die Mär-
chen M. A. Skazkins, Nr. 23, entnommen (s. Anm. zu Nr.
56).
Das Märchen von Jeruslan Lasarewitsch geht auf eine
übersetzte Erzählung des 17. Jh. zurück. Die Beliebtheit
dieser östlichen Erzählung bei russischen Märchenerzählern
ist zu einem Teil ihrer Verbreitung in Kolportageausgaben zu
verdanken. – Das erste Buch, das Skazkin als Kind gelesen
hat, war nach seinen eigenen Worten eine Kolportageaus-
gabe des Märchens von Jeruslan Lasarewitsch.

58. Erzählung von Bowa dem Königssohn, dem ruhmreichen


und starken Recken
(Andreev *707 I; AT 707 B*)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksmärchen
(Herausgeber E. V. Pomeranceva), Nr. 63, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 24).
Aufgezeichnet im Jahre 1952 von P. T. Litvinov in der
Siedlung Kalatschiki, Region Altai. Nach der Handschrift zu
urteilen, die im Archiv des Staatlichen Literaturmuseums in
Moskau aufbewahrt wird, handelt es sich um eine Eigenauf-
zeichnung des Erzählers. – Das Märchen von Bowa dem Kö-
nigssohn, das bereits im 16. Jh. in Rußland bekannt war und
auf eine französische Erzählung des Mittelalters zurückgeht,
war in der Kolportageliteratur des 18. bis 20. Jh. weitver-
breitet und ist von dort – gewöhnlich unter Wahrung der
Kennzeichen des Kolportagestils – auch ins Repertoire der
Märchenerzähler eingedrungen.

59. Wie eine Löwin einen Zarensohn aufzog


(Andreev *931 II; vgl. AT 706; vgl. BP I, 31, II, 88 – S.
264)
Der Text ist der Sammlung T. M. Akimovas: Die Folklore
des Gebietes Saratow, Nr. 385, entnommen.
Aufgezeichnet 1938 durch S. V. Panina von dem Kolchos-
bauern M. T. Sesin aus dem Dorf Kurakino, Kreis Serdobsk.
Von Sesin wurden innerhalb von vier Tagen 22 Märchen
aufgezeichnet. Im 18. Jh. waren eine übersetzte Erzählung

953
und ein Drama von der Zarin und der Löwin verbreitet, auf
die unser Märchen wohl zurückgeht.

60. Die zwei Kaulleute


(AT 882)
Der Text ist der Sammlung: Die Märchen I. F. Kovalevs,
Nr. 35, entnommen (s. Anm. zu Nr. 27).
Für die vorliegende Variante des weitverbreiteten Sujets
von der treuen Gattin sind die Fülle der Alltagsdetails und
die stilistische Abhängigkeit vom Kolportagemärchen kenn-
zeichnend.

61. Des Zaren Handwerksmeister


(AT 575; BP II, 77 a)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 89, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
In der russischen Folklore beginnen Märchen vom Zau-
berflug des Helden häufig mit einem Streit zwischen Hand-
werkern. Die hier vorliegende Variante des bei allen Völkern
verbreiteten Sujets ist von Novopol’cev mit dem ihm eige-
nen Können und Humor erzählt. Interessant ist das Detail,
daß der Zar den Meistern die Dinge wegnahm und sie „mit
langen Gesichtern abzogen“ (пошли-несолоно хлебали)

62. Der Töpfer


(Andreev *921 II; AT 921 F*)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 325, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet durch P. M. Jazykov im Gouvernement
Simbirsk von einem Bauern aus dem Dorfe Golowino.
Im russischen Märchenrepertoire gibt es mehrere Mär-
chen von Ivan IV. (Groznyj), in denen er als ein Zar ge-
zeichnet ist, der im Kampf gegen die Bojaren auf der Seite
des Volkes steht. Die Gestalt des volksfreundlichen, weisen

954
und „schlichten“ Zaren begegnet im Volksmärchen nicht
selten; sie ist ein Produkt jener Begrenztheit, die für die
Weltanschauung des Bauern in der Epoche des Feudalismus
kennzeichnend ist.

63. Peter der Große und der Soldat


(AT 952; BP III, 199)
Der Text ist der Sammlung N. V. Novikovs: Die Märchen
F. P. Gospodarevs, Nr. 53, entnommen.
F. P. Gospodarev, ein Fabrikarbeiter vom Onegasee, zählt
zu den besten sowjetischen Märchenerzählern. In seinen
Märchen sind die sozialen Tendenzen sehr stark.
Das Märchen ist im russischen Repertoire weitverbreitet.
In der Gestalt Peters I. wird gewöhnlich sein Demokratis-
mus hervorgehoben. Die Gestalt des kecken und findigen
Soldaten ist für das russische Märchen typisch.

Satirische Alltagsmärchen

64. Das Hühnchen Tataruschka


(Andreev *241 III; vgl. AT 2022; vgl. BP I,30)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 50, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
Die erste Hälfte des Märchen ist unter Kindern weitver-
breitet. In der Variante Novopol’cevs verliert das Märchen
seinen „kindlichen“ Charakter und wird als bissige Satire auf
Panikmacher aufgefaßt.

65. Das besprochene Wasser


(Andreev *1429; AT 1429*)
Der Text ist der Sammlung M. Serovas: Nowgoroder Mär-
chen, Nr. 1, entnommen.

955
Aufgezeichnet durch M. Serova von der Märchenerzähle-
rin M. O. Doničeva, einer Bäuerin aus dem Kreis Tichwin,
Gouvernement Nowgorod. Varianten des Märchens sind
nicht bekannt. Möglicherweise ist das witzige satirische Mär-
chen von der Herausgeberin, die es oft in Schulen und Klub-
häusern vorgetragen hat, stilistisch etwas überarbeitet wor-
den.

66. Der Topf


(AT 1351)
Der Text ist der Sammlung M. Serovas: Nowgoroder Mär-
chen, Nr. 3, entnommen (s. Anm. zu Nr. 65).
Aufgezeichnet von M. O. Doničeva, einer Bäuerin aus
dem Kreis Tichwin, Gouvernement Nowgorod.
Varianten dieses witzigen Märchens sind im russischen
Repertoire verhältnismäßig selten. Das Märchen dürfte wohl
ebenso wie das vorstehende von der Herausgeberin stili-
stisch etwas überarbeitet sein.

67. Das zanksüchtige Weib


(AT 1365A)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 439, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet durch P. I. Jakuškin im Gouvernement
Orel.
Eins der vielen Märchen von der „bösen Ehefrau“, die bei
allen Völkern weitverbreitet sind.

68. Das geschwätzige Weib


(AT 1381; BP I, 59)
Der Text der Sammlung I. A. Chudjakovs: Großrussische
Märchen, Bd. II (1861), Nr. 75, entnommen (s. Anm. zu Nr.
38).
Das Märchen gehört gleichfalls zum Zyklus der Erzählun-
gen von den faulen, widerspenstigen, törichten – den „bö-
sen“ Ehefrauen.

956
69. Lutonjuschka
(AT 1384; BP I, 34 + II, 104)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 405, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im Gouvernement Tambow.
Das Märchen gehört zum Zyklus der sogenannten Po-
schechonier-Anekdoten, die in der russischen Folklore sehr
beliebt sind und den deutschen Märchen von den Schildbür-
gern entsprechen. In russischen Veröffentlichungen sind sie
seit dem 18. Jh. bekannt.

70. Mikola Duplenski


(AT 1380; BP III, 139)
Der Text ist der Sammlung N. I. Roždestvenskajas: Ge-
schichten und Märchen aus dem Weißmeergebiet und der
Gegend von Pinega, Nr. 29, entnommen.
Das Sujet des Märchens von der ungetreuen Gattin, die,
dem Rat eines „wundertätigen Heiligenbildes“, eines „Heili-
gen“ oder „Gottes“ folgend, ihren Mann durch ein leckeres
Gericht blind machen will, ist in der Folklore aller Völker
weitverbreitet. Es begegnet auch in einer Reihe vor der Re-
volution erschienener russischer Sammlungen und beson-
ders häufig in Aufzeichnungen aus sowjetischer Zeit. Ge-
wöhnlich wird es mit dem Sujet von dem Toten
kontaminiert, der mehrere Male „erschlagen“ wird.

71. Die Alte


(AT 1641; BP II, 98)
Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russi-
sche Märchen, Bd. II, Nr. 312, entnommen (s. Anm. zu Nr.
39).
Aufgezeichnet 1926 durch N. P. Grinkova von der be-
kannten Woronesher Märchenerzählerin A. K. Baryšnikova,
der Großmutter Kuprijanicha (s. Anm. zu Nr. 23).
Dieses Märchen, dessen Sujet in der ganzen Welt weit-
verbreitet ist, erfreut sich bei russischen Märchenerzählern
und ihren Zuhörern ganz außerordentlicher Beliebtheit. –

957
Gewöhnlich ist der Held des Märchens nicht eine Alte, son-
dern ein Bäuerlein mit dem Beinamen Shutschok (жучок, d.
h. „Käfer“ oder „Holzwurm“ d. Übers.).

72. Das kluge Mädchen


(AT 875; BP II, 94)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 328, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im Gouvernement Saratow.
Märchen von klugen Antworten sind im russischen Reper-
toire verhältnismäßig reich vertreten. Mit dem Sujet dieses
Märchens sind auch die Märchen vom vergnügten Kloster
(Nr. 73), vom Töpfer (Nr. 62) und die Erzählung von Pjotr
und Fewronija (Nr. 43) verwandt. – Die Heldin, die die Rät-
sel des Gutsherrn oder des Zaren löst, ist in diesen Märchen
oft die Tochter eines armen Bauern, eine kluge Jungfrau,
eine Siebenjährige oder eine geschorene Jungfrau.

73. Das vergnügte Kloster


(AT 922; BP III, 152)
Der Text ist der Sammlung M. K. Azadovskijs: Das russi-
sche Märchen, Bd. II, Nr. 39, entnommen (s. Anm. zu Nr.
39).
Aufgezeichnet durch Azadovskij von dem bekannten sibi-
rischen Märchenerzähler E. I. Sorokovikov – Magaj (s. Anm.
zu Nr. 22).
Das Märchen Sorokovikovs, das eine Variante des be-
kannten Sujets vom Kaiser und Abt darstellt, zeichnet sich
durch seinen stark ausgeprägten antiklerikalen Charakter
aus.

74. Kirik
(AT 831)
Der Text ist der Sammlung A. M. Novikovas und I. A. Os-
soveckijs: Die Märchen der Kuprijanicha, Nr. 35, entnom-
men (s. Anm. zu Nr. 23).

958
Das vorliegende Sujet, das zum Märchenzyklus von den
habgierigen Pfaffen gehört, begegnet bei russischen Erzäh-
lern verhältnismäßig selten. Doch ist es mehrfach von russi-
schen Schriftstellern, insbesondere von V. G. Korolenko
verwendet worden.

75. Wie ein Pope seine Knechte plagte


(AT 1775)
Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Soko-
lov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr.
53, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31).
Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov
von dem Märchenerzähler Paramon Bogdanov (s. Anm. zu
Nr. 40).
Das Märchen Bogdanovs, eine Variante des weitverbreite-
ten Sujets vom geizigen Popen, zeugt von dem außerge-
wöhnlichen Können des Erzählers und seiner Fähigkeit,
durch geschicktes Ausspielen der Details eine einprägsame
psychologische Darstellung zu erzielen.

76. Der alte Ossip und die drei Popen


(Vgl. AT 1539; vgl. BP II, 61)
Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Soko-
lov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr.
87, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31).
Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov
von dem Kirchendiener V. V. Bogdanov, einem Meister hu-
moristischer popenfeindlicher Märchen. Die hier vorliegende
Variante des verbreiteten popenfeindlichen Sujets zeichnet
sich durch eine Ausführlichkeit und epische Breite aus, wie
sie für ein Alltagsmärchen etwas ungewöhnlich ist.

77. Des Ziegenbocks Begräbnis


(AT 1842)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III (1940), Anhang III: Русские
заветные сказки (Heimliche russische Märchen), Nr. 3, ent-
nommen (s. Anm. zu Nr. 1).

959
Dieses Sujet ist bei verschiedenen Völkern weitverbreitet.
In russischen Veröffentlichungen taucht es erstmalig im 18.
Jh. auf, doch ist es in Märchensammlungen aus der Zeit vor
der Revolution nur selten zu finden. Das erklärt sich durch
Zensurschwierigkeiten. Nicht zufällig hat Afanas’ev dieses
Märchen in einer anonymen Sammlung veröffentlicht, die in
Genf erschien. – Im Repertoire sowjetischer Märchenerzäh-
ler ist das Märchen „Begräbnis eines Ziegenbocks“ oder
„…eines Hundes“, das die Habgier und Käuflichkeit der
Geistlichen geißelt, außerordentlich reich vertreten.

78. Der gutmütige Pope


(AT 1561; Andreev *1561 I)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Anh. III: Heimliche russische Mär-
chen (s. Anm. zu Nr. 77), Nr. 10, entnommen (s. Anm. zu
Nr. 1).
Eines der weitverbreiteten Märchen von der Habgier der
Popen, das A. N. Afanas’ev ebenso wie das vorige im Aus-
land veröffentlicht hat.

79. Der Bauer und der Pope


(Andreev *2100)
Der Text ist der Sammlung N. V. Novikovs: Die Märchen
F. P. Gospodarevs, Nr. 46, entnommen (s. Anm. zu Nr. 63).
Die Variante dieses Sujets, das nicht selten als Erzählung
über Nichtrussen begegnet, trägt in der Interpretation
Gospodarevs deutlich einen ausgeprägten popenfeindlichen
Charakter, was besonders am Schluß des Märchens in Er-
scheinung tritt.

80. Der lüsterne Pope


(AT 1730)
Der Text ist der Sammlung A. M. Novikovas und I. A. Os-
soveckijs: Die Märchen der Kuprijanicha, Nr. 69, entnom-
men (s. Anm. zu Nr. 23).
In diesem Märchen der Kuprijanicha, einer Variante des
weitverbreiteten popenfeindlichen Sujets, ist die satirische

960
Gestalt des lüsternen Popen ganz besonders eindrucksvoll
gezeichnet.

81. Der musikalische Pope


Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien, Nr. 36, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
Aufgezeichnet im Jahre 1949 durch M. Sabinina und V.
Edelštejn von dem Kolchosbauern A. I. Olejnikov im Dorf
Tjoply Kljutsch, Kreis Kiginsk (Baschkirische ASSR). Das
Sujet dieses scharf satirischen Märchens begegnet bei russi-
schen Erzählern verhältnismäßig selten.

82. Der listige Bauer


(AT 1540 + 1528; vgl. BP II, 104)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 391, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Zeit und Ort der Aufzeichnung des Textes werden von
Afanas’ev nicht angegeben.
Wir haben es hier mit einem der meistverbreiteten russi-
schen adelsfeindlichen Märchen zu tun, dessen Sujet sich
seit dem 18. Jh. in Publikationen nachweisen läßt.

83. Der Herr und der Zimmermann


Der Text ist der Sammlung N. E. Ončukovs: Die Märchen
des Nordens, Nr. 223, entnommen.
Die Sammlung N. E. Ončukovs ist eine der besten russi-
schen Märchensammlungen. Außer den Aufzeichnungen On-
čukovs enthält sie auch solche von Akad. A. A. Šachmatov
und des Schriftstellers M. M. Prišvin. Ončukov hat erstmals
in der russischen Wissenschaft sein Märchenmaterial nach
Erzählern geordnet, wie dies 1872 A. F. Gilferding schon für
die Bylinen getan hatte. Ober jeden Erzähler wird das Not-
wendige mitgeteilt.
Den vorliegenden Text hat Ončukov in einer Herberge
von einem zufällig Vorbeikommenden aufgezeichnet.

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Es handelt sich um eines der pointiertesten und aus-
drucksvollsten russischen Märchen mit adelsfeindlicher Ten-
denz.

84. Der Herr als Schmied


Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 39, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
Eines der verbreiteten adelsfeindlichen Märchen, die die
Ungeschicklichkeit der Adligen und ihre Unfähigkeit zur Ar-
beit verspotten.

85. Der Herr und der Bauer


(Andreev *1529 II; AT 1529B*)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Oberlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 41, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
Eines der zahlreichen adelsfeindlichen Märchen, von No-
vopol’cev mit der Meisterschaft und dem Humor erzählt, die
für ihn so kennzeichnend sind.

86. Die böse Herrin


(Andreev *901 I; AT 905A*)
Der Text ist der Sammlung der Brüder B. und Ju. Soko-
lov: Märchen und Lieder aus der Gegend von Belosersk, Nr.
45, entnommen (s. Anm. zu Nr. 31).
Aufgezeichnet im Jahre 1908 durch die Brüder Sokolov
von dem Märchenerzähler G. E. Medvedev, einem Bauern
aus dem Dorfe Terechowa-Malachowa, von dem die Samm-
ler eine beträchtliche Zahl Märchen aufnehmen konnten.
Der Text Medvedevs, eine Variante des in der Folklore al-
ler Völker verbreiteten Sujets von der Heilung einer launi-
schen und zänkischen Frau (der Widerspenstigen Zäh-

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mung), zeichnet sich durch seine scharf ausgeprägte adels-
feindliche Tendenz aus.

87. Wie ein Bauer Gänse teilte


(AT 1533; Andreev *1580; vgl. BP II, 94-S. 360)
Der Text ist der Sammlung M. Azadovskijs und L. Elia-
sovs: Die Märchen Magajs, Nr. 24, entnommen (s. Anm. zu
Nr. 22).
Möglicherweise hat der Erzähler E. I. Sorokovikov, der
mit Begeisterung Bücher liest, diese verbreitete Volksanek-
dote aus einem Buch entnommen, denn sie ist häufig in
Schulbüchern abgedruckt worden.

88. Von der Not


(Andreev 1528 I)
Der Text ist der Sammlung: Märchen und Überlieferun-
gen aus der Gegend von Samara, Nr. 67, entnommen (s.
Anm. zu Nr. 11).
Aufgezeichnet durch D. N. Sadovnikov von dem Mär-
chenerzähler Abram Novopol’cev (s. Anm. zu Nr. 11).
Es handelt sich hier um eine meisterhaft erzählte Varian-
te eines im russischen Repertoire weitverbreiteten Sujets,
das zum Zyklus der adelsfeindlichen Märchen gehört.

89. Die Herrin und die Kücken


(Vgl. AT 1218; vgl. BP 1,32)
Der Text ist der Sammlung Ju. M. Sokolovs: Gutsherr
und Bauer, S. 130, entnommen.
Aufgezeichnet vor der Revolution im Gouvernement
Nishni-Nowgorod und von Ju. M. Sokolov erstmals veröf-
fentlicht in seinem Aufsatz Čto poet i rasskazyvaet derevnja
(Was das Dorf singt und erzählt), in: Žizn’ (Leben), 1924,
Nr. 1. S. 286-287.
Dieses so markante und witzige adelsfeindliche Märchen
ist in der hier vorliegenden Aufzeichnung mehrfach veröf-
fentlicht und auch in Unterhaltungsveranstaltungen und
über den Rundfunk dargeboten worden. Das hat dazu beige-

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tragen, daß das Märchen im Repertoire der Erzähler erneut
Verbreitung fand.

90. Der Herr und der Hund


Der Text ist der Sammlung Ju. M. Sokolovs: Gutsherr
und Bauer, Nr. 32, entnommen (s. Anm. zu Nr. 89).
Aufgezeichnet vor der Revolution im Gouvernement
Nishni-Nowgorod und von Ju. M. Sokolov erstmals veröf-
fentlicht in seinem Aufsatz: Was das Dorf singt und erzählt
(s. Anm. zu Nr. 89), S. 287-289.
Eine Variante dieses adelsfeindlichen Märchens ist aus ei-
ner Veröffentlichung des 18. Jh. bekannt.

91. Das Urteil des Schemjaka


(AT 1660)
Der Text ist der Sammlung: Russische Volksdichtung in
Baschkirien, Nr. 38, entnommen (s. Anm. zu Nr. 13).
Aufgezeichnet im Jahre 1948 durch T. N. Ljaško von dem
Märchenerzähler S. T. Tjaptin im Dorf Achlystino, Bezirk
Pokrowskoje (Baschkirische ASSR).
Dieses Märchen ist mit der aus dem 17. Jh. stammenden
Erzählung vom ungerechten Richter verwandt, die ihre Ent-
stehung der Folklore verdankt und ihrerseits wieder zur Be-
liebtheit dieses Sujets in späteren Zeiten beigetragen hat.
92. Ein Lügenmärchen (небылица)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 426, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. durch Borisov im Kreis Schen-
kursk, Gouvernement Archangelsk.
Lügenmärchen (bzw. die sogenannten „Verkehrte-Welt-
Märchen“ [перевертни]) bilden im russischen Erzählerre-
pertoire eine besondere Gruppe von Scherzmärchen. Indem
sie die dem Märchen eigene „Widersinnigkeit“ bis ins Absur-
de steigern, parodieren sie gleichsam die Orientierung des
Märchens auf die dichterische Erfindung, die ja sein wichtig-
stes Genremerkmal darstellt.

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93. Ein Neckmärchen (докучная сказка)
Der Text ist der Sammlung A. N. Afanas’evs: Russische
Volksmärchen, Bd. III, Nr. 528, entnommen (s. Anm. zu Nr.
1).
Aufgezeichnet im 19. Jh. im Kreis Nikolsk, Gouvernement
Wologda.
Neckmärchen sind eine Sonderform des Scherzmärchens.
Sie werden vom Märchenerzähler entweder als Mittel be-
nutzt, aufdringliche Zuhörer loszuwerden, die ihn mit Bitten
um ein Märchen peinigen, oder dazu, ihre Neugier und ihren
Wunsch, ein Märchen zu hören, noch zu verstärken. –
Neckmärchen sind thematisch sehr mannigfaltig, beruhen
aber im wesentlichen auf ein und demselben Prinzip: der
Erzähler bietet einen traditionellen Märchenanfang oder et-
was Ähnliches und erklärt das Märchen danach völlig uner-
wartet für beendet; oder er wiederholt ein und dasselbe
Motiv, bis seinen Zuhörern die Geduld ausgeht.

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