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Hans Clausen / Helmut W.

Klug

Schreiberische Sorgfalt: Der Einsatz digitaler Verfahren für die


textgenetische Analyse mittelalterlicher Handschriften

Dieser Werkstattbericht schließt an die Vorträge und Publikationen an, die im Zuge der
Jahrestagung „Textrevisionen“ der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition
2016 in Graz entstanden sind. 1 Damals wurden ein Katalog der editionswissenschaft-
lichen Typologie für Revisionsprozesse in mittelalterlichen Handschriften erstellt und
erste Möglichkeiten eruiert, wie sich dieses Wissen für die elektronische Auszeichnung
von Texten mithilfe der TEI nutzen lässt.2 Auf dieser Arbeit baut dieser Beitrag auf und
überführt die ursprüngliche Sammlung der Revisionsprozesse systematisiert in ein
Modell von Textrevisionstypen, das für die elektronische Auszeichnung von Texten auf
Basis von XML-TEI genutzt werden kann. Die Ausführungen umfassen die Situierung
von Schreibprozessen im historischen Kontext mittelalterlicher Textproduktion, die
Beschreibung des Modells, dessen Implementierung als Datenmodell und eine exem-
plarische Anwendung auf die Handschrift Graz, UB, Ms 781.

Historischer Kontext mittelalterlicher Textproduktion


Um Revisionsspuren als textgenetische Merkmale im modernen Sinn interpretieren zu
können, muss die Entstehung und Produktion mittelalterlicher Texte thematisiert
werden: Im Mittelalter waren Autor und Schreiber eines Textes nicht zwingend
dieselbe Person; die überwiegende Mehrheit der Texte wurde sogar ohne Beisein des
‚intellektuellen‘ Verfassers verschriftlicht. Dabei war der Schreibprozess in über-
wiegendem Maße auf die Vervielfältigung bereits verschriftlichter Texte ausgerichtet.
Die Grundlage für Textproduktion war aber in jedem Falle Schreib- und/oder Lese-
kompetenz. Außerdem musste der Zugang zu Textmaterial vorhanden sein, und es

––––––––
1 Die digitale Präsentation zu diesem Beitrag finden Sie unter: http://aau.at/musil/publikationen/
textgenese/clausen-klug/.
2 Andrea Hofmeister-Winter: Beredte Verbesserungen. Überlieferungsphilologische Betrachtungen zu
Phänomenologie und Sinnproduktion von Textrevisionen in mittelalterlichen Handschriften. In: editio.
30, 2016, S. 1–13, und Wernfried Hofmeister, Astrid Böhm, Helmut W. Klug: Die deutschsprachigen
Marginaltexte der Grazer Handschrift UB, Ms 781 als interdisziplinärer Prüfstein explorativer Revisions-
forschung und Editionstechnik. In: editio 30, 2016, S. 14–33, sowie das Vortragshandout von Wernfried
Hofmeister, Helmut W. Klug, Astrid Böhm: Vorschläge zur TEI-Annotation von Textrevisionen
basierend auf dem Versuch einer prozessorientierten Typologie mittelalterlicher Textrevisionsphäno-
mene. Handout zum Vortrag im Rahmen der Tagung „Textrevisionen“ der Arbeitsgemeinschaft für ger-
manistische Edition am 17.02.2016.

https://doi.org/10.1515/9783110575996-009
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musste eine Nachfrage nach den abgeschriebenen Texten geben. Zu Beginn des Mittel-
alters fand man all diese Voraussetzungen vor allem in Klöstern. Ab dem Beginn des
13. Jahrhunderts begann die schrittweise Entwicklung von klösterlichen Schreibzentren
zu städtischen und schließlich zu wirtschaftlich orientierten Schreibstuben. In der Mitte
des 15. Jahrhunderts existierte mit der Werkstatt Diebold Laubers bereits ein Betrieb,
der Handschriften wahrscheinlich sogar auf Vorrat anfertigte und die Produkte zum
Kauf bewarb. 3

Der ‚sorgfältige‘ Text


Schreiben war im Mittelalter in der Regel ein mechanischer und kein kreativer Prozess:
Durch Abschreiben von Vorlagen sollten bestehende Texte vervielfältigt werden. Die
Produktion eines Codex war in allen Schritten handwerkliche Tätigkeit, und eine davon
war das Schreiben des Textes. Schreibkompetenz erforderte stete Übung, die schluss-
endlich auch die Qualität des Schreibergebnisses bestimmte: Je geübter ein Schreiber
war, desto gleichmäßiger war die Schrift, die er produzierte. Die Fähigkeit, schreiben
zu können, bedingte aber nicht automatisch, dass eine Person das Lesen beherrschte –
und umgekehrt. Das erforderte natürlich auch eine flexible Rollenverteilung. In der
Regel wurden einzelne Schritte in der Produktion eines Codex von Fachleuten ausge-
führt. Unter diesen konnte sich ein Kompilator befinden, der für die Auswahl und
Zusammenstellung der abzuschreibenden Texte verantwortlich zeichnete; natürlich gab
es einen Schreiber, aber auch einen Rubrikator, der für die farbliche Kennzeichnung
textstruktureller Merkmale mithilfe von Initialen, Lombarden oder Strichelung verant-
wortlich war, und einen Revisor, der allfällige Fehler im Text korrigierte – um nur
einige der möglichen Beteiligten zu nennen. Mit der Zunahme der Schreib- und Lese-
kompetenz konnten mehrere dieser Rollen auch in einer Person zusammenfallen.
Der mechanische (Ab-)Schreibprozess, das Fehlen einer direkten Autor-Text-
Beziehung und das Fehlen eines modernen Werk-Begriffs erschweren eine Analyse der
überlieferten Texte im Sinne dessen, was in der Editionswissenschaft herkömmlich
unter Textgenese verstanden wird. In der Regel haben wir keinen Einblick in die Text-
genese, also in die einzelnen Stufen der Textkreation, die von der Konzeption über
unterschiedliche Zwischenstufen bis hin zu einer vom Autor genehmigten Fassung
reicht: Die erhaltenen Überlieferungsträger sind weder Autographe noch Originale. 4
Auch in die Entstehung der einzelnen autorunabhängigen Fassungen, d. h. der einzel-
nen Überlieferungsträger, haben wir nur in den seltensten Fällen einen detaillierten Ein-
blick, doch sind zumindest die einzelnen Entstehungsstufen von der Konzeption bis hin
zum fertigen Codex bekannt.5

––––––––
3 Vgl. Christoph Fasbender: Werkstattschreiber. Aus Anlass der jüngeren Forschung zur Handschriften-
produktion Diebold Laubers. In: Das Mittelalter 7, 2002, S. 110–124, hier S. 112f.
4 Vgl. Thomas Bein: Textkritik. Eine Einführung in Grundlagen germanistisch-mediävistischer Editions-
wissenschaft. Lehrbuch mit Übungsteil. 2., überarb. und erw. Aufl. Frankfurt am Main [u.a.] 2011, S. 66.
5 Vgl. einführend z. B. Handschriften des Mittelalters. Grundwissen Kodikologie und Paläographie. Hrsg.
von Matthias Kluge. 2. Aufl. Ostfildern 2015 (Mittelalterliche Geschichte).

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Schreiberische Sorgfalt 141
Der Schreiber galt schon in der Antike als Mittler zwischen Autor und Rezipienten
und war aufgrund seiner ‚Macht‘ über die Texte oftmals ‚gefürchtet‘. Im mittelalter-
lichen Literaturbetrieb ist die Rolle des Schreibers oft wichtiger als die des Autors
selbst: Selbstverständlich war sich der Schreiber seiner Verantwortung dem Text
gegenüber bewusst.6 In seiner Hand lag die Verantwortung für die nach seinen eigenen
Maßstäben bestmögliche Vervielfältigung, und das galt nicht nur für die inhaltliche,
sondern auch für die optischen Aspekte eines Textes. Dass mit der Kopie der Texte
durch Menschen, wenn auch hochqualifizierten, eine (unbewusste) Veränderung des
Textes einherging, war natürlich allen am Literaturbetrieb Beteiligten im Mittelalter
bewusst: Ein fehlerloses Kopieren ist nicht möglich!7 Karin Schneider orientiert sich
an Paul Gerhard Schmidt, wenn sie zu dieser Thematik festhält: „Je nach Persönlichkeit
des Schreibers, seiner Bildung und Sorgfalt und den Umständen des Schreibvorgangs
entstand beim Kopieren eines Textes eine mehr oder weniger hohe Fehlerquote; kaum
eine mittelalterliche Handschrift ist ganz frei von Fehlern.“ 8 Der Prozess des Korrigie-
rens eines vervielfältigten Textes und die Rolle des Revisors sind daher unumstößlich
mit der Textproduktion verbunden, was Klaus Wachtel bereits für die byzantinische
Überlieferung des Neuen Testaments feststellt, wenn er Origenes’ Schreiberkritik im
Matthäus-Kommentar interpretiert:

Erstens zeigt die Stelle, daß Korrektur (Diorthosis) zum sorgfältigen Kopieren eines Textes
dazugehörte. Das heißt auch, daß gerade von pflichtbewußten Schreibern immer mit Fehlern
gerechnet wurde, – und zwar, so dürfen wir folgern, nicht nur mit eigenen, sondern auch mit
denen des Schreibers, der die Vorlage gefertigt hatte. 9
Schreiberschelte und Schreiberidealisierungen ziehen sich als eine Art Topos durch die
Texte der Antike und des Mittelalters. 10
Die Ursachen für eine fehlerhafte Textproduktion sind mannigfaltig: Fehler können
beim Lesen der Vorlage auf Wort- oder Zeilenebene auftreten. Hörfehler passieren in

––––––––
6 Vgl. Jürgen Wolf: Das „fürsorgliche“ Skriptorium. Überlegungen zur literarhistorischen Relevanz von
Produktionsbedingungen. In: Das Mittelalter 7, 2002, S. 92–109. Wolf gesteht die verantwortungs-
bewusste Haltung nur einigen wenigen Skriptorien zu und skizziert auch die Figur des „nachlässigen
Schreibers“ (ebd., S. 99–101).
7 Als „fehlerfrei“ und „nahezu fehlerfrei“ erscheinen nach dem Lachmannschen Modell der Textüber-
lieferung nur Original und Archetyp (vgl. Bein 2011 Anm. 4, S. 81). Ein Beispiel aus der Praxis: „ Wenn-
gleich Hand I den Text sorgfältig und nahezu ohne fehlerhafte Buchstabenstellungen oder einschnei-
dende, sinnentstellende Fehler abgeschrieben hat, so ist der Text jedoch – wie fast keine mittelalterliche
Handschrift – keineswegs vollständig fehlerfrei“. Mareike Temmen (Hrsg.): Das ‚Abdinghofer Arznei-
buch‘. Edition und Untersuchung einer Handschrift mittelniederdeutscher Fachprosa. Köln, Weimar,
Wien 2006 (Niederdeutsche Studien. 51), S. 69. Zur psychologischen Aspekten von Fehlern und deren
Korrektur vgl. Hofmeister-Winter 2016 (Anm. 2), S. 6.
8 Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. 3. durchges.
Aufl. Tübingen 2014 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B, Ergänzungsreihe. 8),
S. 149.
9 Klaus Wachtel: Varianten in der handschriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments. In: Varianten –
Variants – Variantes. Hrsg. von Christa Jansohn und Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Beihefte zu editio.
22), S. 25–38, hier S. 30.
10 Vgl. idealisierende Vorstellungen bei Wolf 2002 (Anm. 6), S. 95, und das ambivalente Verhältnis –
zwischen Lob und Tadel – zu Schreibern in deutschsprachigen Überlieferungen auf S. 102.

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Vorlese- bzw. Diktatsituationen. Es können ungünstige Schreibsituationen in Bezug auf


Material oder Licht herrschen. Müdigkeit führt zu Fehlern, und Gleiches gilt auch für
inhaltliche Missverständnisse im Zuge der Textrezeption oder in der Kommunikation
der Beteiligten. Fehlerquellen sind aber natürlich auch der bisweilen recht freie
Umgang mit der Vorlage und der fehlende Respekt vor der Autorität eines Autors oder
eines Werks.11 All diese Fehler können in unterschiedliche Fehlertypen, denen man
auch prototypische Entstehungsszenarien zuordnen kann, eingeteilt werden: grammati-
kalische und orthografische Fehler, Fehler im Textfluss (Auslassungen, Doppelungen),
semantische Abweichungen (Umstellungen, Änderungen) oder Beschädigungen. Unter
der Annahme, dass es in jedem Fall das Ziel war, ein bestmögliches Endprodukt ab-
zuliefern,12 entstanden unterschiedliche Revisionssituationen, um Fehler möglichst
schonend zu verbessern. Das Ziel eines Revisionsprozesses ist in der Regel also wohl
immer die Verbesserung eines bereits geschriebenen Textes. Textrevisionen überführen
somit den regulären Text in zeitlicher Abfolge nach dem eigentlichen Schreibprozess
in einen neuen Zustand bzw. schaffen einen neuen, ‚verbesserten‘ Text. Zu beachten
ist dabei allerdings, dass die Anzahl der Revisionen keine Aussage über die Qualität
eines Textes macht, sondern nur über den Aufwand (die Arbeit, die Mühe), mit dem
ein erster Textzustand in einen zweiten, verbesserten überführt worden ist. Da die
Revisionsintention immer die Verbesserung eines auf irgendeine Weise fehlerhaften
Textes war, könnten Revisionen als Indikator für jene ‚Sorgfalt‘ gewertet werden, die
einem Text im Zuge der Produktion zuteilwurde.
Andrea Hofmeister sieht diese Sorgfalt zurecht als einen integralen Bestandteil des
Schreiber- bzw. Revisorprofils,13 und Sorgfalt ist auch eines der Kriterien, die nach
Thomas Bein EditorInnen bei der Wahl einer Leithandschrift anleiten sollte. 14 Daher
werden Revisionsspuren laut Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann in der Regel positiv
zur Kenntnis genommen: „Die Hs. ist von einer weiteren Hand – neben der des Haupt-
schreibers – vollständig durchkorrigiert und zeichnet sich damit auch durch Sorgfalt im
Detail aus.“15 Katharina Philipowski interpretiert in ihrer Beschreibung der Heidel-
berger Liederhandschrift Textrevisionen explizit als Kennzeichen für eine sorgfältige
Produktion: „Zahlreiche Textkorrekturen und Nota-Zeichen wechselnder Form doku-
mentieren die Sorgfalt, mit der die Handschrift hergestellt wurde.“ 16 In der Edition des
Abdinghofer Arzneibuchs werden die akribischen Verbesserungen ähnlich gewertet:

––––––––
11 Als Beispiel für ‚respektlose‘ (das wiederum ist eine Wertung aus moderner Perspektive!) Eingriffe in
die Vorlage: Martin Baisch: Gott lert den man daz er sy / Mit truwen sinem dienner by. Gabriel Sattler,
der sprechende Schreiber. In: Das Mittelalter 7, 2002, S. 74–91, hier S. 86.
12 So sind nach Schneider auch die Textsorte und der intendierte Verwendungszweck von Relevanz; vgl.
Schneider 2014 (Anm. 8), S. 150, ähnlich auch Wolf 2002 (Anm. 6), S. 93.
13 Vgl. Hofmeister-Winter 2016 (Anm. 2), S. 12.
14 Vgl. Bein 2011 (Anm. 4), S. 189f.
15 Konrad von Heimesfurt: „Unser vrouwen hinvart“ und „Diu urstende“. Hrsg. von Kurt Gärtner und
Werner J. Hoffmann. Mit Verwendung der Vorarbeiten von Werner Fechter. Tübingen 1989 (Altdeutsche
Textbibliothek. 99), S. XXXVII.
16 Katharina Philipowski: Heidelberger Liederhandschrift Cod. Pal. germ. 350. In: Deutsches Literatur-
Lexikon: Das Mittelalter. Bd. 4: Lyrik (Minnesang – Sangspruch – Meistergesang) und Dramatik. Hrsg.
von Wolfgang Achnitz. Berlin 2012, Sp. 559.

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Daß aber die Korrekturen auch im zweiten Arzneibuchteil mit einem gewissen Maß an Sorg-
falt ausgeführt wurden, belegt die Streichung eines redundanten Nasalkürzels (fol. 190v), die
Tilgung einzelner Buchstabenschäfte (fol. 175v, 191r) und nicht zuletzt die Korrektur eines
falsch deklinierten Pronomens (fol. 209r). 17
Auch die Paläografie verwendet den Begriff der Sorgfalt, werden doch die Haupt-
schriftarten des Spätmittelalters im Beschreibungsmodell von Gerard Isaak Lieftink
nach ihrem Grad an Sorgfältigkeit unterschieden. 18 Der Terminus ist zudem ein gän-
giger Begriff in der paläografischen Beschreibung von Schreiberhänden, wie etwa bei
Trude Ehlert:

Diese Schreiber lassen unterschiedliche Sorgfalt erkennen. Die Rezepte des ersten Schreibers
sind recht gut zu lesen, da er eine gewisse Sorgfalt beim Schreiben an den Tag legt. […] Die
Handschrift des zweiten Schreibers ist etwas schwieriger zu lesen. Die einzelnen Wörter und
Buchstaben sind aber noch gut zu identifizieren. Die Rezepte des dritten Schreibers hingegen
sind zum Teil nur schwer zu lesen. Dieser Schreiber schreibt sehr viel größer, aber auch mit
sehr viel weniger Sorgfalt. […] Oft stehen einzelne Buchstaben oder Silben sehr weit ausein-
ander, wodurch die Lesbarkeit noch zusätzlich erschwert wird. 19
Das Charakteristikum ‚Sorgfalt‘ – der Wunsch nach dem ‚sorgfältigen Text‘ – ist bei
der mittelalterlichen Textproduktion also nicht nur an den Prozess der Textrevisionen
gebunden!

Durch den Fokus auf die Textproduktion und den produzierten Text steht bei
unserem Untersuchungsmodell die Sorgfalt in der Texterstellung (also nicht die Sorg-
falt des Schriftbildes) und das eigentliche Produktionssetting im Mittelpunkt. Darunter
verstehen wir die Abläufe im Rahmen der Textproduktion: die eigentlichen Schreib-
und Revisionsprozesse, eine mögliche Abfolge dieser Prozesse, die damit verbundenen
materiellen Aspekte. Die von uns zugrunde gelegten Hypothesen bestehen darin, dass
man aus der Performanz des Schreibers Rückschlüsse auf die Sorgfalt bei der Textpro-
duktion ziehen und damit auch Annahmen zum Stellenwert, der dem Text beigemessen
wurde, treffen kann. Die Untersuchungsergebnisse können in das Produktionsprofil
einfließen, das sich aus den gängigen Größen ‚Schreiberprofil‘ bzw. ‚Revisorprofil‘
zusammensetzt, denn es gibt nicht nur charakteristische Schreibmuster wie z. B. das
Setzen von bestimmten Superskripten, die bevorzugte Verwendung gewisser Kür-
zungszeichen bzw. Kürzungen oder typische Wortbilder, sondern auch die Korrektur
von Fehlern weist Charakteristika auf. Diese können zeittypisch sein – wie z. B. die
Expungierung 20 – oder typisch für ein bestimmtes Skriptorium bzw. eine bestimmte

––––––––
17 Temmen 2006 (Anm. 7), S. 69.
18 Schneider 2014 (Anm. 8), S. 17.
19 Trude Ehlert (Hrsg.): Münchner Kochbuchhandschriften aus dem 15. Jahrhundert. Cgm 349, 384, 467,
725, 811 und clm 15632. In Zusammenarbeit mit Gunhild Brembs, Marianne Honold, Daniela Körner,
Jörn Christoph Krüger, Robert Scheuble, Mirjam Schulz, Christian Suda und Monika Ullrich. Im Auftrag
von Tupperware Deutschland. Donauwörth 1999, S. 230.
20 Schneider 2014 (Anm. 8), S. 149.

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Person. Andrea Hofmeister bringt diese Überlegungen zum Produktionsprofil präzise


auf den Punkt:

Sie [die Textrevisionen] gewähren Einblick in die Dynamik der Überlieferung, indem sie das
Bemühen um Optimierung eines Textes hinsichtlich sprachlicher Form, Sinn und einer situa-
tionsangepassten Ästhetik dokumentieren. Ihre Rezipientenorientierung ist ganz darauf aus-
gerichtet, eine funktionierende Kommunikation und eine flüssige Performanz (durch Vor-
lesen) zu gewährleisten. Deutlicher als makellos geratene Schreibprodukte geben Revisionen
entstehungs- und überlieferungsgenetische Prozesse preis und lassen Rückschlüsse auf Über-
lieferungsszenarien (Diktat oder Abschrift nach schriftlicher Vorlage?) sowie auf die
Gebrauchs- und Überlieferungssituation von Texten zu.21

Modell von Textrevisionen


Die Repräsentation von Textrevisionen in einem Modell verfolgt im Kern zwei Ziele:
Einerseits soll das Modell durch die Repräsentation der Textrevisionen das oben be-
schriebene „Bemühen um Optimierung eines Textes“,22 d. h. die bei der Textproduktion
aufgewendete Sorgfalt, abbilden. Anderseits soll das Modell Rückschlüsse auf unter-
schiedliche Produktionsprofile ermöglichen, indem es die konkreten Realisierungen der
Textrevisionen typologisch abbildet.
Sowohl die Identifikation von Textrevisionen als auch deren typologische Bestim-
mung basiert auf den visuellen Eigenschaften bestimmter Ausschnitte des materiellen
Textzeugen. Die Überarbeitung des Textes hin zu einem verbesserten Zustand hinter-
lässt in der Regel visuelle Spuren, die sich vom regulär erwarteten Zeichen- und Zeilen-
bild des Textes abheben und als Textrevisionen identifizierbar sind. Ausgehend von
den unterschiedlichen Ausprägungen dieser visuellen Spuren an der Oberfläche des
Textträgers lassen sich für Textrevisionen Klassen und Oberklassen bilden. Die Klas-
senbildung des Modells von Textrevisionen wird geleitet von dem oben skizzierten
Wissen über den historischen Kontext mittelalterlicher Textproduktion. Sie verläuft
vom konkreten visuellen Muster in einer mehrstufigen Hierarchie hin zu den fünf ver-
schiedenen Revisionsarten Einfügung, Tilgung, Umstellung, Transformation und Erset-
zung. Die Bezeichnung der gebildeten Klassen folgt dem editionswissenschaftlichen
Fachvokabular. 23 Im Ganzen zeigt sich das Modell als eine polyhierarchische Klassen-
struktur, anhand derer Textrevisionen feingranular typologisiert werden können. 24
Punkte über oder unter einer Textzeile lassen sich z. B. als Expungierung identifizieren,
die neben der Schwärzung und Streichung einen Schreibvorgang impliziert, der selbst
wiederum neben der Rasur, der Bleichung, der Überklebung und der Ausschneidung
eine mögliche Methode des Revisors darstellt, um bestehende Textzeichen zu tilgen.
Auf oberer Ebene wird das visuelle Phänomen ‚Punkte unter einer Zeile‘ daher der

––––––––
21 Hofmeister-Winter 2016 (Anm. 2), S. 12.
22 Ebd.
23 Vgl. die entsprechenden Lemmata im Online-Wiki, Revisionshandlung, http://edlex.de/, 12.02.2018,
17:11.
24 Vgl. die grafische Darstellung des Modells unter: https://www.mindmeister.com/1086040498.

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Schreiberische Sorgfalt 145
Textrevisionsart Tilgung zugeordnet. Abb. 1 wie alle folgenden Abb. unter
http://aau.at/musil/publikationen/textgenese/clausen-klug/.
Textrevisionen überführen einen Text in einen neuen Zustand – zum Zweck einer
Textoptimierung. Dies erfolgt in der Regel, indem sie dem bestehenden Text Text-
zeichen hinzufügen oder vorhandene Textzeichen wegnehmen, neu organisieren oder
verändern. Ausgehend von diesen unterschiedlichen Funktionen lässt sich die Klasse
der Textrevisionen in folgende fünf Oberklassen untergliedern:
– Einfügung: Eine Einfügung ist eine Hinzufügung von Textzeichen zum beste-
henden Text (Abb. 2).
– Tilgung: Eine Tilgung ist eine Wegnahme von Textzeichen des bestehenden
Textes (Abb. 3–6).
– Umstellung: Eine Umstellung ist eine Reorganisation von Textzeichen des
bestehenden Textes.
– Transformation: Eine Transformation ist eine Veränderung von Textzeichen des
bestehenden Textes (Abb. 7–9).
– Ersetzung: Eine Ersetzung ist eine Kombination aus einer Wegnahme von Text-
zeichen einerseits und einer Hinzufügung von Textzeichen zum bestehenden
Text anderseits. Während die Hinzufügung dabei stets durch den Revisor erfolgt
(Einfügung), kann die Wegnahme von Textzeichen aufgrund einer Beschädi-
gung des Textträgers durch höhere Gewalt (Beschädigung) oder durch den
Revisor geschehen (Tilgung). Als Spezialfall einer ‚Wegnahme‘ von Text-
zeichen kommt außerdem eine Leerstelle infrage, die der Schreiber zum Zweck
ihrer späteren Füllung bewusst im Text hinterlässt (Lücke) (Abb. 10–12).
Im Unterschied zu den ersten vier Oberklassen von Textrevisionen handelt es sich bei
einer Ersetzung nicht um eine einteilige, sondern um eine zweiteilige Textrevision;
zweiteilig in dem Sinne, als von allen Textzeichen, die einer Ersetzung zugeordnet sind,
ein Teil der Wegnahme von Textzeichen (Beschädigung, Tilgung, Lücke) zugeordnet
ist und ein Teil der Hinzufügung von Textzeichen (Einfügung).
Die genannten fünf Oberklassen von Textrevisionen gliedern sich in Unterklassen
auf, die wiederum selbst Unterklassen haben können, usw. Diese bilden die Eigen-
schaften der Textrevisionen auf feingranularer Ebene ab. So spezifizieren die Unter-
klassen z. B. die Lokalisierung, das verwendete Werkzeug und die individuelle Gestal-
tung von Textrevisionen. Die Eigenschaften der jeweiligen Klassen orientieren sich am
editionswissenschaftlichen Wissen über Textrevisionen. 25 Während die Oberklassen
Tilgung, Umstellung und Transformation monohierarchisch sind, d. h. jede vorkom-
mende Unterklasse ist genau einer Oberklasse zugeordnet, ist die Klasse Einfügung
polyhierarchisch, d. h. es existieren Unterklassen, die mehreren Oberklassen zuge-
ordnet sind.

––––––––
25 Für die genauen Definitionen der einzelnen Klassen unseres Modells vgl. die SKOS-Datei auf GitHub:
https://github.com/larifarian/Annotationsmodell-Textgenese.

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Implementation als Datenmodell


Die folgende Implementation des Modells von Textrevisionen als Datenmodell ermög-
licht eine computergestützte Verarbeitung und Auswertung von Textrevisionen. Texte,
die nach den Vorgaben dieses Datenmodells elektronisch ausgezeichnet werden, lassen
sich hinsichtlich ihrer Sorgfalt und ihres Produktionsprofils ohne großen Aufwand mit
statistischen Methoden analysieren.
Die elektronische Auszeichnung von Texten nach den Empfehlungen der TEI ist in
den Geisteswissenschaften und der digitalen Editorik weit verbreitet. Die Übertragung
des vorgestellten Modells auf die Struktur von TEI verfolgt das Ziel, Textrevisionen
innerhalb von TEI-Dokumenten typologisch repräsentieren zu können.
Die Veränderung von Texten durch Textrevisionen ist im Kern eine Veränderung
ihres Textzeichenbestands. Die Identifikation und typologische Bestimmung der Text-
revisionen einerseits und die den Textrevisionen zugrundeliegende Textzeichen ande-
rerseits sollen in der elektronischen Auszeichnung miteinander verknüpft werden. Dies
lässt sich mit einer Auszeichnung nach dem XML-basierten TEI-Standard realisieren.
Nachstehend wird mit der integrierten Auszeichnungspraxis ein TEI-konformes Regel-
werk vorgestellt, das es seinen Anwendern nicht nur erlaubt, vorhandene Textrevi-
sionen typologisch zu bestimmen, sondern diese auch an den transkribierten Text-
zeichenbestand feingranular rückzubinden. Außerdem wird mit der vereinfachten
Auszeichnungspraxis ein TEI-konformes Regelwerk vorgestellt, das zwar keine fein-
granulare Verknüpfung von Textzeichen und Textrevision, jedoch eine vollständige
typologische Bestimmung von Textrevisionen ermöglicht. 26
Um dem Paradigma der XML-basierten Textauszeichnung zu folgen, müssen dieje-
nigen Textzeichen, die einer Textrevision zugeordnet werden, von XML-Tags um-
schlossen und damit in ein XML-Element umgewandelt werden. Im engen Sinne
werden der Textrevision diejenigen Textzeichen zugeordnet, die hinzugefügt, wegge-
nommen, neu organisiert oder verändert wurden – gemäß den fünf Oberklassen Einfü-
gung, Tilgung, Umstellung, Transformation, Ersetzung. Handelt es sich dabei um
einzelne Textzeichen, sind diese besonders interessant im Kontext ihres zugehörigen
ganzen Wortes. Im weiten Sinne wird einer Textrevision daher auch dasjenige Wort
(bzw. dessen Textzeichen) zugeordnet, das durch die Textrevision im engen Sinne
modifiziert wurde (oberste Klasse Textrevision). Die Textrevision im engen und die
Textrevision im weiten Sinne sollen mithilfe von TEI-Elementen als eine Einheit
ausgezeichnet werden. In der XML-Repräsentation zeigen sich Textrevisionen daher
stets in Form von mindestens zwei ineinander verschachtelten XML-Elementen:
<Textrevision_weit>Wo<Textrevision_eng>r</Textrevision_eng>t<
/Textrevision_weit>

––––––––
26 Vor dem Hintergrund, dass eine möglichst detaillierte Übertragung einer Quelle in eine elektronische
Version anzustreben ist, entsteht mit dieser Auszeichnungsvariante allerdings der Nachteil, dass nur ein
Teil der vorhandenen Textinformationen übernommen wird.

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Schreiberische Sorgfalt 147
Die Auswahl der XML-Elemente ist grundsätzlich der Auszeichnungspraxis des
Editors anheimgestellt. Die Richtlinien der TEI empfehlen folgende Auszeichnung:
– Textrevision im weiten Sinne:
o Textrevision <tei:mod>[Textrevision im engen Sinne | Die
übrigen Textzeichen]</tei:mod>

– Textrevisionen im engen Sinne:


o Einfügung <tei:add>[Textzeichen]</tei:add>
o Tilgung <tei:del>[Textzeichen]</tei:del>
o Umstellung <tei:seg>[Textzeichen]</tei:seg>
o Transformation <tei:seg>[Textzeichen]</tei:seg>
o Ersetzung
▪ Kombination aus Beschädigung und Einfügung
• <tei:subst>
<tei:damage>[Textzeichen]</tei:damage>27
<tei:add>[Textzeichen]</tei:add>
</tei:subst>
▪ Kombination aus Tilgung und Einfügung
• <tei:subst>
<tei:del>[Textzeichen]</tei:del>
<tei:add>[Textzeichen]</tei:add>
</tei:subst>
▪ Kombination aus Lücke und Einfügung
• <tei:subst>
<tei:space/>28
<tei:add>[Textzeichen]</tei:add>
</tei:subst>

Da eine Ersetzung stets eine Kombination aus einer Wegnahme und einer Hinzufügung
von Textzeichen ist, enthält das Element <tei:subst> (Ersetzung) stets zwei Kind-
Elemente; je nach vorliegendem Fall <tei:damage> (Beschädigung) und <tei:add>
(Einfügung), <tei:del> (Tilgung) und <tei:add> (Einfügung) oder <tei:space>
(Lücke) und <tei:add> (Einfügung). Indem dem Eltern-Element zwei Kind-Elemente
zugeordnet werden, wird die Zweiteiligkeit des Textrevisionstyps Ersetzung XML-
konform repräsentiert.

––––––––
27 Beschädigungen (<tei:damage>) sind nach den Empfehlungen der TEI nicht Teil einer Ersetzung
(<tei:subst>). Unserem Verständnis nach stellen Beschädigungen jedoch eine Wegnahme von Text
dar, der durch den Revisor durch Hinzufügung ersetzt wird. Daher erweitern wir das TEI-Schema so, dass
eine Beschädigung als Teil einer Ersetzung erlaubt ist. Vgl. dazu die ODD-Datei auf GitHub:
https://github.com/larifarian/Annotationsmodell-Textgenese.
28 Lücken (<tei:space>) sind nach den Empfehlungen der TEI nicht Teil einer Ersetzung
(<tei:subst>). Unserem Verständnis nach stellen Lücken jedoch eine „Wegnahme“ von Text dar, der
durch den Revisor durch Hinzufügung ersetzt wird. Daher erweitern wir das TEI-Schema so, dass eine
Lücke als Teil einer Ersetzung erlaubt ist. Vgl. dazu die ODD-Datei auf GitHub: https://github.com/
larifarian/Annotationsmodell-Textgenese.

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148 Hans Clausen / Helmut W. Klug

Da sich die Typologie von Textrevisionen nach unserem Modell mithilfe der Vor-
schläge der TEI für textgenetische Auszeichnung nur eingeschränkt repräsentieren
lässt, schlagen wir folgende TEI-konforme Auszeichnungspraxis vor:
1. Die typologische Bestimmung der Textrevisionen geschieht über den Wert des
TEI-Attributs @ana.
2. Die Klasse, der eine Textrevision angehört, wird über ein Kürzel aus 2 Buch-
staben referenziert. Z. B. wird die Klasse Expungierung mit dem Kürzel ‚EP‘
referenziert: ana="EP".29
3. Da es sich bei unserem Modell von Textrevisionen um eine polyhierarchische
Struktur handelt, ist es notwendig, die komplette Klassenhierarchie und nicht
nur die unterste Klasse einer Textrevision anzugeben. Andernfalls wären viele
Typen von Textrevisionen unterbestimmt.
4. Die Referenzierung aller Ober- und Unterklassen einer Textrevision wird in
einer Reihenfolge von links nach rechts vorgenommen, wobei von der überge-
ordneten Klasse zur untergeordneten Klasse hin ausgezeichnet wird. Die einzel-
nen Klassenreferenzen werden durch einen Punkt voneinander getrennt. Die
vollständige typologische Bestimmung einer Expungierung hat z. B. folgende
Form: ana="TR.DL.WR.EP".
Je nach ihrer Position in der Klassenhierarchie des Modells lassen sich Klassen ent-
weder der Textrevision im weiten Sinne oder der Textrevision im engen Sinne zuord-
nen. Um diese Zuordnung der Klassen im TEI-Dokument zu repräsentieren, wird die
Klasse Textrevision (TR) im @ana-Attribut desjenigen Elements referenziert, das die
Textrevision im weiten Sinne auszeichnet (<tei:mod>), und die fünf Oberklassen
(Einfügung (IN), Tilgung (DL), Umstellung (RO), Transformation (TF) und Ersetzung
(RP)) werden im @ana-Attribut derjenigen Elemente referenziert, welche die Text-
revisionen im engen Sinne auszeichnen (<tei:add>, <tei:del>, <tei:seg>,
<tei:seg>, <tei:subst>).

Beispiel 1: Die integrierte Auszeichnung einer Tilgung hat z. B. folgende Form:
<tei:mod ana="TR">
gah<tei:del ana="DL.WR.EP">e</del>t
</tei:mod> (Abb. 13)

Beispiel 2: Die integrierte Auszeichnung einer Ersetzung hat z. B. folgende Form:
<tei:mod ana="TR">
<tei:subst ana="RP">
<tei:del ana="DL.WR.ST">margre</tei:del>
<tei:add ana="IN.LI">margarete</tei:add>
</tei:subst>
</tei:mod> (Abb. 14)
––––––––
29 Für die anderen Klassenkürzel vgl. die SKOS-Datei auf GitHub: https://github.com/larifarian/Annota
tionsmodell-Textgenese.

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Schreiberische Sorgfalt 149
In der vereinfachten Auszeichnungspraxis wird nur der Typ einer Textrevision be-
stimmt, ohne seine Klassen feingranular an die zugrundliegenden Textzeichen rückzu-
binden. Wir schlagen dafür folgende Auszeichnungspraxis vor:
1. Die Textrevision im weiten Sinne wird mit dem Element <tei:mod> ausge-
zeichnet.
2. Der Typ der Textrevision wird im @ana-Attribut des Elements <tei:mod>, wie
oben beschrieben, referenziert.
Im Falle einer Ersetzung werden stets zuerst diejenigen Klassen (inklusive ihrer Unter-
klassen) referenziert, die Textzeichen wegnehmen (Beschädigung, Tilgung, Lücke).
Danach wird die Klasse Einfügung (inklusive ihrer Unterklassen) referenziert.
Beispiel 1: Die vereinfachte Auszeichnung einer Tilgung hat z. B. folgende Form:
<tei:mod ana="TR.DL.WR.EP">gaht</tei:mod> (Abb. 13)

Beispiel 2: Die vereinfachte Auszeichnung einer Ersetzung hat z. B. folgende Form:
<tei:mod ana="TR.RP.DL.WR.ST.IN.LI">margarete</tei:mod> (Abb. 14)

Die unterschiedlichen Typen der Textrevisionen eines Textes können über eine
Zeichenkette eindeutig identifiziert werden. Diese Zeichenkette entspricht folgendem
Muster:
TR.RP.DL.WR.ST.IN.LI
Im Falle der integrierten Auszeichnungspraxis lässt sich der Identifikator für den
Textrevisionstyp mit folgendem Algorithmus aus den Werten der @ana-Attribute der
Elemente einer Textrevision erzeugen: Die Werte der @ana-Attribute der Elemente
werden bis auf die Ausnahme einer Ersetzung (<tei:subst>) nach der Knotenreihen-
folge der XML-Struktur ausgelesen und zusammengesetzt. Im Falle einer Ersetzung
werden die Werte der @ana-Attribute der Elemente <tei:damage>, <tei:del> und
<tei:space> stets vor dem Attributwert des Elements <tei:add> ausgelesen – un-
abhängig davon, wie die Reihenfolge der Elemente im XML-DOM30 ist. Wenn zwi-
schen den Buchstaben verschiedener Klassenreferenzen kein Punkt existiert, wird
dieser eingefügt.
Im Falle der vereinfachten Auszeichnungspraxis kann der Identifikator direkt aus
dem @ana-Attribut des Elements <tei:mod> ausgelesen werden.

––––––––
30 Der XML-DOM repräsentiert XML-Dateien als Baumstruktur, deren Elemente in einer definierten
Reihenfolge vorliegen.

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150 Hans Clausen / Helmut W. Klug

Beispiel einer Auswertung


Als Anwendungsbeispiel des vorgestellten Datenmodells haben wir die Handschrift
Graz, UB, Ms 781 nach der integrierten Auszeichnungspraxis als TEI-Dokument co-
diert.31 Mithilfe eines XSLT-Programms 32 wurden anschließend die Typen aller ausge-
zeichneten Textrevisionen automatisiert ermittelt und nach der Häufigkeit ihres Vor-
kommens sortiert. Die so generierte Tabelle zeigt alle Textrevisionen, die im Zuge der
Produktion der Grazer Handschrift vorgenommen worden sind, als typenspezifische
Rangfolge. Unter den Textrevisionstypen finden sich auch sogenannte komplexe Revi-
sionsvorgänge; das sind Textrevisionen, die selbst wieder revidiert worden sind. In der
Übersicht zeigt sich dieser Typ als eine Aneinanderreihung einzelner Identifikatoren:
RP.DL.BL.IN.MM.IL.AV.DL.BL (Abb. 15). Diese Zeichenkette beschreibt z. B. einen
Ersetzungsvorgang, dessen Einfügung in einem weiteren Schritt wieder getilgt worden
ist.33
Auf Basis dieser quantitativen Darstellung lassen sich bereits erste Interpretationen
zum Produktionsprofil der Handschrift vornehmen: Das geringe Vorkommen von Re-
visionen des Typs IN.LI (Einfügung innerhalb der Zeile) zeigt z. B., dass Revisionen
während der Niederschrift des Textes kaum vorgenommen wurden. Das vermehrte
Auftreten von Transformationen am bestehenden Zeichenmaterial (TF.CO.RD,
TF.CO.AD etc.) sowie das Fehlen von Einfügungen am rechten oder linken Seitenrand
(##.##.MG.RG, ##.##.MG.LF) bestärken den Eindruck, dass bei der Revision des
Textes Wert auf die Wahrung eines ‚schönen‘ Layouts gelegt wurde. Die komplexen
Revisionsvorgänge lassen vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Realisierungen erwei-
terte Interpretationen der Textproduktion zu.
Neben dieser inhaltlichen Interpretation ließe sich die Handschrift auf Basis der
quantitativen Auswertung mithilfe statistischer Methoden hinsichtlich Sorgfalt und
Produktionsprofil analysieren. So lassen sich Aussagen über die Verteilungsfrequenz
von Revisionen innerhalb der Handschrift machen – gibt es Bereiche in der Quelle, die
verstärkt Textrevisionen aufweisen? – oder für zukünftige Projekte Gestaltungsnormen
über ein Quellenkorpus hinweg analysieren – wie verändern sich Revisionsmethoden
im Laufe der Zeit? Kann man bestimmte Methoden lokal oder zeitlich einordnen?

Conclusio und Ausblick


Der vorliegende Artikel gibt einen kurzen Überblick zur Textproduktion im Mittelalter
und beschreibt im Detail die Erstellung eines Modells von Textrevisionstypen und
dessen praktische Anwendung für die elektronische Repräsentation und Analyse mittel-
alterlicher handschriftlicher Quellen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass
die elektronische Auszeichnung von Revisionsvorgängen auf Basis unseres Modells
––––––––
31 Vgl. die TEI-Datei zur Handschrift Graz, UB, Ms 781 auf GitHub: https://github.com/larifarian/
Annotationsmodell-Textgenese.
32 Vgl. die XSLT-Datei auf GitHub: https://github.com/larifarian/Annotationsmodell-Textgenese.
33 Alternativ ließen sich komplexe Revisionsvorgänge auch als mehrere einzelne Textrevisionen inter-
pretieren und automatisiert ausgeben.

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Schreiberische Sorgfalt 151
ein großes Potential in sich birgt: Am Beispiel der Handschrift Graz, UB, Ms 781
konnten wir sowohl die Verteilung als auch die typenspezifische Häufigkeit von Revi-
sionen in einem Text automatisiert ermitteln. Dies stellt die Grundlage für fachwissen-
schaftliche Interpretationen und statistische Analysemethoden dar.
Die geleistete Arbeit soll als Ausgangspunkt für weitere Entwicklungsschritte die-
nen: Das Modell der Textrevisionstypen sollte so modifiziert werden, dass eine textge-
netische Analyse auch für Texte aus anderen Epochen möglich wird. Weiters ist es
notwendig zu evaluieren, inwiefern mit statistischen Methoden Hypothesen über die
Sorgfalt und das Produktionsprofil von Texten überprüft werden können.

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