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Institut für Sozialforschung

Gesellschaftliche Arbeit und Rationalisierung


LEVIATHAN

Zeitschrift für Sozialwissenschaft

Sonderheft 4/1981
Institut für Sozialforschung

Gesellschaftliche Arbeit
und Rationalisierung
Neuere Studien aus dem Institut für Sozialforschung
in Frankfurt am Main

Mit Beiträgen von


Karin Benz-Overhage, Gerhard Brandt, Eva Brumlop, Christoph Deutsch-
mann, Rainer Erd, Thomas von Freyberg, Klaus Hermann, Helgard
Kramer, Walther Müller-}entsch, Zissis Papadimitriou, Rudi Schmiede,
Edwin Schudlich, Eckart Teschner

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Gesellschafdiebe Arbeit und Rationalisierung:


neuere Studien aus d. Inst. für Sozialforschung
in Frankfurt am Mainlinst. ftir Sozialforschung.
Mit Beitr. von Karin Benz-Overhage ...

(Leviathan: Sonderh.; 4)
ISBN 978-3-531-11555-9 ISBN 978-3-663-14417-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-14417-5
NE: Benz-Overhage, Karin [Mitverf.]; Institut
ftir Sozialforschung <Frankfurt, Main);
Leviathan/Sonderheft

© 1981 Springer Fachmedien Wiesbaden


Ursprünglich erschienen bei Westdeuteher Verlag GmbH, Opladen 1981

Druck und buchbindensehe Verarbeitung: Lengeneher Handelsdruckerei, Lengerich/Westf.


Alle Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfältigung des Werkes (Fotokopie,
Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages.

ISBN 978-3-531-11555-9
Inhalt

Vorwort der Herausgeber 6

Gerhard Brandt
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 9

Rudi Schmiede!Edwin Schudlich


Die Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem im deutschen Kapitalis-
mus 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 57
0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Karin Benz-Overhage, Eva Brumlop, Thomas von Freyberg, Zissis Papadimitriou


Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 100 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Eckart Teschner!Klaus Hermann


Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 118

Helgard Kramer
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 136

Christoph Deutschmann
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 1 52

Walther Müller-jentsch
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter und seiner theoretischen Auflösung
im Neokorporatismus 0 0 0 0 01780 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Rainer Erd
Probleme einer Theorie der Verrechtlichung industrieller Beziehungen - Am
Beispiel von Franz Lo Neumann 201 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0

Anhang
Forschungsprojekte am Institut für Sozialforschung 1970 bis 1980 0 0 0 0 0 0 0 0 218
Vorwort der Herausgeber

Das Bild des "Instituts für Sozialforschung" ist in der Öffentlichkeit bis heute weit-
gehend durch die Tradition der ,kritischen Theorie' geprägt, wie sie sich vor allem
in den sozialphilosophischen Arbeiten Theodor W. Adornos und Max Horkheimers
darstellt. Das wissenschaftliche und literarische Interesse an der Entwicklung der
kritischen Theorie und an der Geschichte des "alten" Instituts hat in den letzten
Jahren eher noch zugenommen, wie zahlreiche Publikationen belegen. In diesem
Heft geht es darum, eine breitere sozialwissenschaftlich interessierte Öffentlichkeit
mit einigen neueren Arbeiten des Instituts aus dem letzten Jahrzehnt -seit dem
Tode Adornos - bekannt zu machen, die bisher außerhalb der Fachwelt nur verc
hältnismäßig geringen Widerhall gefunden haben. Die hier vorgelegten Aufsätze sind
aus Forschungsprojekten hervorgegangen, die seit Beginn der siebziger Jahre Schwer-
punkte der Institutsarbeit sind.
An die Tradition der kritischen Theorie konnten diese Arbeiten nicht ohne wei-
teres anknüpfen. Schon ihre Themen - Technik und Arbeitsbedingungen, Frauen-
arbeit, Gewerkschaften - zeigen, daß die von der kritischen Theorie Horkheimers
und Adornos geprägten ideologiekritischen und sozialpsychologischen Fragestellun-
gen in den siebziger Jahren kaum noch weiter verfolgt worden sind. Die Distanzie-
rung gegenüber der theoretischen Tradition des Instituts, die damit deutlich wird,
ist von den Mitarbeitern zunächst kaum bewußt vollzogen worden, sondern hatte
vorwiegend äußere Gründe. Eine Rolle hat der nahezu völlige personelle Wechsel
nach 1969 gespielt; fast alle der heutigen Mitarbeiter des Instituts sind erst nach
1969 eingetreten. Die meisten von ihnen haben ihre politische und wissenschaft-
liche Sozialisation im Umkreis der Studentenbewegung erfahren, die sich im Verlauf
ihrer Entwicklung von der kritischen Theorie entfernt hatte. Die theoretischen und
politischen Debatten in der Entstehungs- wie der Zerfallsgeschichte der Studenten-
bewegung haben viele Arbeiten des Instituts in der ersten Hälfte der siebziger Jahre
mehr noch als die Tradition des Instituts beeinflußt. Nicht zuletzt war für die Neu-
orientierung des Instituts nach 1969 der Wandel der institutionellen und materiellen
Bedingungen der. Forschung verantwortlich. Das ,alte' Institut konnte sich überwie-
gend aus nicht zweckgebundenen Mitteln, den Erträgen des Stiftungsvermögens
und, nach dem Krieg, staatlichen und kommunalen Zuschüssen finanzieren. In die-
sem Rahmen konnte es frei von zeitlichen und thematischen Beschränkungen ar-
beiten. Heute ist das Institut in ungleich stärkerem Maß auf Drittmittel der staat-
lichen Forschungsförderung angewiesen, deren Prioritäten im Bereich der empiri-
schen Sozialforschung liegen. Das bedeutet auch eine stärkere Abhängigkeit von den
Vorwort der Herausgeber 7

mit der Drittmittelfinanzierung verbundenen Verfahrensregelungen und Termin-


zwängen.
Auch wenn man die Distanz zur Tradition des Instituts mit diesen und weiteren
Hinweisen begründen kann, ist sie von den Mitarbeitern doch zunehmend als Pro-
blem und Herausforderung empfunden worden. Unter diesem Gesichtspunkt soll
das Heft nicht nur der Darstellung nach außen dienen, sondern zugleich ein Stück
Selbstreflexion dokumentieren. Der Zusammenhang der heutigen Arbeit mit der
des ,alten' Instituts ist, wenn auch nicht immer angesprochen, als Thema in fast
allen der hier vorgelegten Beiträge präsent. Bei diesem Versuch, sich der Konti-
nuität eigener theoretischer Fragestellungen am Institut zu vergewissern, war es
allerdings nicht möglich, allein an der durch Horkheimer und Adorno repräsen-
tierten ,offiziellen' Institutstradition anzuknüpfen. Die am Institut verfolgten For-
schungsinteressen waren stets breiter angelegt, die theoretischen Argumentationen
weniger homogen als von der größeren Öffentlichkeit wahrgenommen. Fragen
der ökonomischen Theorie, der industriesoziologischen und Gewerkschaftsfor-
schung, die in der kritischen Theorie zumindest in ihren späteren Formulierungen
(etwa seit Horkheimers Aufsatz "Autoritärer Staat") in den Hintergrund traten,
bestimmten sowohl in den dreißiger wie in den fünfziger und sechziger Jahren einen
wichtigen Teil der am Institut betriebenen Forschung. Diese Arbeiten (und ihre
Autoren) sind aber heute entweder in Vergessenheit geraten oder nur der engeren
Fachwelt geläufig, obwohl es sich keineswegs um Produkte eines spezialisierten
Wissenschaftsbetriebes handelt. Der auf ein theoretisches Verständnis des gesell-
schaftlichen Ganzen zielende Impuls der kritischen Theorie ist in vielen von ihnen
- man denke nur an die Kontroversen über Staatskapitalismus und Faschismus
zwischen Pollock, Neumann, Gurland und Kirchheimer, oder an die Arbeiten eines
dem Institut nur locker verbundenen Außenseiters wie Sohn-Rethel - nicht weni-
ger lebendig als in den sozialphilosophischen, ideologiekritischen und sozialpsycho-
logischen Arbeiten jener Autoren, die heute als Repräsentanten der ,Frankfurter
Schule' gelten.
Von diesem umfassenderen Blickwinkel her gesehen, markieren die hier vorge-
stellten Arbeiten und Forschungsinteressen keineswegs einen so radikalen Bruch
in der Institutstradition, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Mit den be-
handelten Themen sind - wie unvollkommen und wenig bewußt auch immer -
Fragen wieder aufgenommen worden, die auch in den Diskussionen des ,alten'
Instituts eine bedeutende Rolle gespielt und ihre politische und historische Aktua-
lität behalten haben. Obwohl aus eher fachwissenschaftliehen Debatten hervorge-
gangen, bringen die Beiträge das Bemühen um ein Urteil über den gegenwärtigen
Zustand der kapitalistischen Industriegesellschaft zum Ausdruck. Weniger denn
je kann ein solches Urteil heute auf ,konsistente' Geschichtsdeutungen nach dem
Muster der marxistischen Theorietradition vertrauen, noch können die Beiträge
für sich in Anspruch nehmen, eine neue ,konsistente' Interpretation entwickelt
zu haben. Erkennbar werden allenfalls einige zentrale Motive gemeinsamer wissen-
schaftlicher Arbeit, von denen die Mitarbeiter des Instituts annehmen, daß sie auf
8 Vorwort der Herausgeber

kritische Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit zielen. Das Heft kann nicht
mehr als den (streckenweise recht mühevollen und langwierigen) Versuch doku-
mentieren, sich über die eigene Arbeit theoretisch Rechenschaft abzulegen und die
Möglichkeit kritischer Sozialforschung heute zu erkunden.
Wir danken der Redaktion und dem Herausgeberkollegium der Zeitschrift ,Levia-
than', die als Forum interdisziplinärer und kritischer sozialwissenschaftlicher Dis-
kussion eine wichtige Rolle spielt, dafür, daß dieses Heft als Leviathan-Sonderheft
erscheinen kann.

Frankfurt, im April1981 Für das Institut für Sozialforschung:


Gerhard Brandt
Christoph Deutschmann
Gerbard Brandt

Ansichten kritischer Sozialforschung 1930- 1980

1.

Mit den in diesem Heft zusammengefaßten Aufsätzen soll ein Überblick über For-
schungsarbeiten gegeben werden, die im Laufe der letzten zehn Jahre am Institut
für Sozialforschung entstanden sind. Die Vorhaben, um die es dabei geht, sind zwar
der Öffentlichkeit der jeweils berührten Fächer, namentlich der Industriesoziologie,
der Gewerkschafts- und der Industrial-Relations-Forschung, der Frauenforschung,
durch eine Reihe von Einzelveröffentlichungen bekannt, kaum aber sind sie als
Teile eines Forschungsprogramms und schon gar nicht als Produkte der kritischen
Theorie oder der Frankfurter Schule wahrgenommen worden, mit denen der Name
des Instituts einmal verknüpft war. Für diese Theorietradition scheint vielmehr zu
gelten, daß in den durch sie "eröffneten Bahnen kaum noch ernsthafte Forschung
betrieben wird" (Breuer 1977; 7).
Daß dieser Eindruck entstehen konnte und daß er auch nicht so ohne weiteres
widerlegt werden kann, geht auf einen Bruch in der Entwicklung der kritischen
Theorie und auch in der des Instituts für Sozialforschung zurück, der, oberfläch-
lich gesehen, mit dem Tode Theodor W. Adornos im Jahre 1969 zusammenfällt,
genauer betrachtet aber sehr viel weiter zurückzuverfolgen ist. Schon für die For-
schungsvorhaben derfünfzigerund sechziger Jahre, "Gruppenexperiment" (1955),
"Betriebsklima" (1955), "Mechanisierungsgrad und Entlohnungsform" (1958),
"Student und Politik" (1961), "Grenzen des Lohnanreizes" (1962) und die Schul-
studien des Instituts (1967-68), gilt, daß sie niemals als unmittelbarer Ausdruck
der kritischen Theorie begriffen wurden und infolgedessen von dem positiven oder
auch negativen Echo, das die kritische Theorie in der Öffentlichkeit fand, kaum
betroffen waren. Sieht man einmal davon ab, daß diese Studien vorwiegend von
jüngeren Forschern stammten, die in ihrer Reputation den Leitern des Instituts und
Begründern der kritischen Theorie vorerst nachstanden, so hängt die selektive
Wahrnehmung dessen, was am Institut geleistet wurde, mit einer Arbeitsteilung
innerhalb des Instituts zusammen. Sie ist ihrerseits als Indiz dafür zu werten, daß
die in den Anfängen der kritischen Theorie reklamierte Einheit von theoretischer
Reflexion und empirischer Forschung schon relativ früh aufgegeben worden war.
Bis zum Ende der sechziger Jahre hatte die institutionelle und räumliche Verbin-
dung von kritischer Theorie und empirisch gerichteter Forschung die zwischen
beiden bestehende Spannung immerhin, wenn auch mitunter nur mühsam, über-
10 Gerbard Brandt

deckt und kaschiert. Nach dem Tode Adornos wurde diese Spannung offenkundig
und stellte die Mitglieder des Instituts vor die Frage, wie empirische Forschung
betrieben werden könne, ohne daß der Anspruch, der mit dem Begriff einer kriti-
schen Theorie einmal sich verbunden hatte, gänzlich aufgegeben würde.
Allerdings war nicht daran zu denken, die Frage nach dem theoretischen An-
spruch, und das hieß zugleich: nach der Identität, des Instituts in Form einer ab-
strakt geführten theoretischen Diskussion zu beantworten. Maßgebend hierfür war
(und ist) der schlichte Tatbestand, daß das Institut nicht über ausreichende eigene
materielle Ressourcen verfügt und daß die seit Ende der sechziger Jahre expandie-
rende Forschungsförderung einen methoden- und, wenngleich auch nur vermittelt,
anwendungsorientierten Typus empirischer Sozialforschung bevorzugt. Niederge-
schlagen haben sich die Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre ge-
führten Diskussionen über die Zukunft des Instituts daher nicht in einem Theorie-
programm, das im übrigen auch angesichts der zentrifugalen Tendenzen innerhalb
der materialistischen Theorietradition kaum über Nacht eine Konsensgrundlage
hätte zustandebringen können, sondern in forschungspolitischen Entscheidungen
über die künftigen Schwerpunkte der Institutsarbeit und über konkrete Forschungs-
projekte. Hatten sich die Forschungsarbeiten des Instituts, abgesehen von einer
Serie industriesoziologischer Projekte, in den fünfziger und vollends in den sech-
ziger Jahren im Anschluß an die im Exil entstandenen Pionierarbeiten des Instituts
zur Vorurteilsforschung ("Studies in Prejudice" und darunter insbesondere "The
Authoritarian Personality") weitgehend auf die Problematik von Bewußtseinsfor-
schung und Ideologiekritik beschränkt, so wandten sie sich nun materiellen Struk-
tur- und Reproduktionsproblemen des gegenwärtigen Kapitalismus zu. Ohne daß
der Anspruch erhoben werden könnte, daß es sich dabei um das Resultat einer lang-
fristigen systematischen Forschungsplanung handelte, erstreckten sich, wie das ver-
gangene Jahrzehnt gezeigt hat, die Themen dieser Arbeiten: institutionelle Rege-
lungen des Klassenkonflikts, Reorganisation von Produktionsprozessen, Frauen-
arbeit als Lohn- und Hausarbeit, Mechanisierung und Automatisierung der Ange-
stelltenarbeit, auf zentrale Problemzonen der westdeutschen Gesellschaft 1 .
Maßgebend für diese Themenverlagerung waren politische Erfahrungen, die
den Mitarbeitern des Instituts gemeinsam waren und die sie veranlaßten, sich um
eine Überwindung der einseitig ideologiekritischen Ausrichtung früherer For-
schungsarbeiten zu bemühen. Die Mitarbeiter, die Ende der sechziger Jahre die
Forschungsarbeiten trugen, und diejenigen zumal, die im Laufe der siebziger Jahre
in das Institut eintraten, waren in ihrer Entwicklung zumeist noch unmittelbar
durch die kritische Theorie Horkheimers und Adornos geprägt worden, hatten ihre

1 Ober die Forschungsschwerpunkte des Instituts unterrichtet im einzelnen das Verzeichnis


der Untersuchungen und Veröffentlichungen im Anhang zu diesem Heft. Wie aus dieser
Obersicht hervorgeht, sind auch die traditionellen Forschungsschwerpunkte des Instituts
während der siebziger Jahre mit Studien zur Problematik der sozialen Ungleichheit und bil-
dungs-und erziehungssoziologischen Untersuchungen fortgeführt worden.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 11

politische Sozialisation aber in der Studentenbewegung erfahren. Sie hatten dabei


eine Reorientierung, auch gegenüber der kritischen Theorie, vollzogen, die theore-
tisch wie praktisch für diese Bewegung charakteristisch war. Im Kontext der Insti-
tutsarbeit machte sich das in einer Besinnung auf die marxistische Kapitalismus-
theorie als eine Krisentheorie der bürgerlichen Gesellschaft geltend. Die ökonomi-
schen und gesellschaftlichen Krisentendenzen, die seit Ende der sechziger Jahre
deutlicher hervortraten, schienen zugleich Aussichten auf eine grundlegende Umge-
staltung der westdeutschen Gesellschaft und damit auf eine unmittelbar praktische
Bedeutung der kritischen Theorie zu eröffnen. Hierin liegt im übrigen eine Paral-
lele zur frühen kritischen Theorie, die, wie weite Teile der bürgerlichen Intelligenz
der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, von einer anhaltenden und sich vertie-
fenden Krise der bürgerlichen Gesellschaft glaubte ausgehen zu können und sich,
obgleich weit entfernt von einer bewußten politischen Strategie, als Moment poli-
tischer Praxis verstand. Ebensowenig wie damals haben indessen die Krisenerwar-
tungen der frühen siebziger Jahre sich erfüllt, mit dem Unterschied freilich, daß
die Stabilisierung des Kapitalismus sich heute im Rahmen einer formal-demokrati-
schen Ordnung und gestützt auf die Massenorganisationen der abhängig Beschäftig-
ten vollzieht. Hieraus rührt eine erneute Akzentverschiebung der Forschungspraxis
des Instituts, die sich auch in den hier vorgestellten Arbeiten niederschlägt und, auf
die Gefahr einer allzu weit gehenden Verallgemeinerung hin, als Konzentration auf
die ökonomischen und politischen Stabilitätsbedingungen des gegenwärtigen (post-
faschistischen) Kapitalismus umschrieben werden kann 2 .
Wenngleich die Arbeit am Institut durch die besonderen Anforderungen von
Forschungsprozessen bestimmt ist und sich lange Zeit abgelöst von der (mittlerweile
abgeebbten) Theoriediskussion in den westdeutschen Sozialwissenschaften vollzog,
drängten sich in ihrem Verlauf doch theoretisch relevante Fragen auf, die einer Klä-
rung bedürfen, wenn Forschung nicht blinder Empirie und unreflektierten Praxis-
zwängen verfallen will. Auch wenn diese Fragen sich von Studie zu Studie unter-
scheiden, geht es doch bei ihnen allen um ein gesellschaftstheoretisches Paradigma,
an dem die Analyse gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge sich orientieren
kann; um die Frage, inwieweit kritische Forschung sich der Methodologie und des
Instrumentariums der empirisch-analytischen Sozialwissenschaften bedienen kann
und ob es Alternativen zu diesem Instrumentarium gibt; und darum, welchen Sinn
in einem stabilisierten kapitalistischen System und angesichts eines weitgehend

2 Mit dieser Charakterisierung der gegenwärtigen Phase der kapitalistischen Entwicklung in


Mittel- und Westeuropa verbindet sich die These, daß sich die Maßnahmen staatlicher Poli-
tik zur Stabilisierung des bestehenden Sozial- und Wirtschaftssystems heute in spezifischer
Weise von denen des Faschismus wie denen der vorfaschistischen Phase unterscheiden und
daß diese Differenzen sich entscheidend durch die Erfahrung des Faschismus erklären. So
wird heute einerseits der Rückgriff auf offen autoritär-repressive Maßnahmen so weit wie
möglich vermieden; andererseits sind die Organisationen der politischen und gewerkschaft-
lichen Arbeiterbewegung, wenn auch mit charakteristischen nationalen Abweichungen,
weitgehend in das politische Steuerungssystem integriert. Vgl. hierzu auch den Beitrag von
W. Müller-Jentsch.
12 Gerhard Brandt

funktionalisierten Wissenschaftsbetriebes das Postulat der Praxisorientierung noch


haben kann.
Für die Antwort auf diese Fragen liefert die Geschichte des Instituts eine Reihe
von Anhaltspunkten, die, wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht, in den Dis-
kussionen der letzten Jahre eine Rolle spielten und an denen auch die folgende
Darstellung sich orientiert. Unumgänglich scheint es zunächst, nochmals den zen-
tralen Anspruch der kritischen Theorietradition, die Vermittlung empirischer For-
schung mit einem sozialphilosophisch begründeten forschungsleitenden Paradigma
und mit der Intention auf politische Praxis, sich zu vergegenwärtigen und die reale
Entwicklung der kritischen Theorie daraufhin zu befragen, warum sie diesen An-
spruch offenbar nicht einzulösen vermochte (Abschnitt 2). Dabei wird sich zeigen,
daß die kritische Theorie der späteren Frankfurter Schule am Institut nicht völlig
unumstritten war und vorübergehend mit einem alternativen Forschungsprogramm
sich konfrontiert sah, das nicht nur aus dogmenhistorischen Gründen, sondern auch
angesichts inhaltlicher Bezüge auf seine Relevanz für die gegenwärtige Arbeit des
Instituts geprüft werden muß (Abschnitt 3). Eingestanden werden muß dabei, daß
diese materialistische Unter- und Gegenströmung der Institutsgeschichte in den
letzten Jahren von Außenstehenden aufgearbeitet und bisher für die Neubegründung
des Forschungsprogramms kaum nutzbar gemacht worden ist 3 • Ansätze zu einer
theoretischen Fundierung oder, weniger anmaßend formuliert, Theoretisierung der
Forschungsarbeit knüpfen vielmehr an das Werk A. Sohn-Rethels an, also an einen
Autor, der dem Institut nur vorübergehend und flüchtig verbunden war und, bei vie-
len Entsprechungen zum ursprünglichen Programm der frühen dreißiger Jahre, auf
politische und theoretische Distanz zur späteren kritischen Theorie bedacht war. Es
wird daher der Versuch gemacht, das Werk dieses Autors auf seine Relevanz für
die am Institut geleistete Arbeit darzustellen (Abschnitt 4) und zugleich in Umris-
sen anzudeuten, wie die Rezeption dieses Werkes sich im einzelnen vollzog und wel-
che Abwandlungen es dabei erfuhr (Abschnitt 5). Abschließend wird versucht
werden, ausgehend von den referierten Anhaltspunkten Perspektiven für ein theore-
tisch begründetes Forschungsprogramm zu entwickeln, das den Bedürfnissen nach
einer Vermittlung von forschungsleitendem Paradigma und Forschungspraxis in
der gegenwärtigen Situation entspricht (Abschnitt 6). Wie bei den folgenden Arbei-
ten handelt es sich auch hier um einen Beitrag zu einem anhaltenden Verständi-
gungsprozeß, der nicht nur unabgeschlossen ist, sondern auch kontrovers geführt
wird - was im gegenwärtigen Stadium programmatische Erklärungen, die für das In-
stitut repräsentativ sein könnten, ausschließt.

3 Erwähnt zu werden verdienen hier vor allem die Bemühungen des Arbeitskreises "Kriti-
sche Theorie" an der Universität München um die Aufarbeitung der in früheren Darstel-
lungen vernachlässigten Wirksamkeit 0. Kirchheimers und F. Neumanns am Institut fiir
Sozialforschung. Vgl. hierzu die Arbeiten Dubiels (1976; 1978) und Söllners (1976; 1979)
sowie das Vorwort Söllners zu Neumann (1978) und sein Nachwort zu Neumann (1980).
Weiter zu nennen sind das außerordentlich instruktive Nachwort G. Schäfers zur deutschen
Ausgabe von Neumanns "Behemoth" (1977) und die Frankfurter Dissertation von M.Wil-
son (1979).
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 13

2.

Das Theorie- und Forschungsprogramm, das den Arbeiten des Instituts für Sozial-
forschung zugrunde lag, ist oft genug dargestellt worden, namentlich in den Schrif-
ten A. Schmidts und in der historischen Darstellung M. J ays, neuerdings in den
Untersuchungen H. Dubiels und A. Söllners. Es braucht hier nur so weit in Erinne-
rung gerufen zu werden, als es für die Rekonstruktion der Entwicklung der am
Institut vertretenen theoretischen Positionen bedeutsam ist4 . Seine verbindlichste
Formulierung hat es durch Max Horkheimer, der 1930 die Leitung des Instituts
übernahm, erfahren, vor allem in der Antrittsrede vom 24. Januar 1931 und in den
ersten Jahrgängen der "Zeitschrift für Sozialforschung", die nach der Amtsüber-
nahme Horkheimers das mit dem Namen seines Vorgängers, C. Grünberg, verbunde-
ne "Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung" als
Veröffentlichungsorgan des Instituts ablöste.
Die Arbeit des Instituts verstand sich, hält man sich an dieses Programm, als em-
pirisch ausgerichtete und auf die Einzeldisziplinen der modernen Sozialwissen-
schaften sich stützende Gesellschaftsanalyse, die durch philosophische Reflexion
angeleitet ist und in praktischer, gesellschaftsverändernder Absicht betrieben wird.
Dabei sollten die für die Erforschung der zeitgenössischen Gesellschaft zuständigen
Teildisziplinen der modernen Sozialwissenschaften, genannt wurden von Horkhei-
mer ausdrücklich die Soziologie, die Nationalökonomie, die Geschichtswissen-
schaften, die Psychologie, "in dauernder Arbeitsgemeinschaft" vereinigt werden
(Horkheimer 19 31; 41), um so eine der Komplexität ihres Gegenstandes angemes-
sene interdisziplinär angelegte Forschungstätigkeit möglich zu machen. Horkheimer
sprach sich, in Abgrenzung vom spekulativen Zug der damaligen Soziologie (Dubiel
1978; 152 ff.), für die Verwendung "der feinsten wissenschaftlichen Methoden"
aus und erwähnte in diesem Zusammenhang neben gängigen Verfahren und Quellen,
die, wie "die Auswertung der veröffentlichten Statistiken, Berichte von Organisatio-
nen und politischen Verbänden, das Material der öffentlichen Körperschaften usf. ",
auch zuvor schon genutzt worden waren, der "fortlaufenden Analyse der ökono-
mischen Gesamtsituation" und der "soziologischen und psychologischen Durch-
forschung von Presse und Belletristik" ausdrücklich die gerade aufkommenden Ver-
fahren der Umfrageforschung, "Enqueteverfahren" und "Fragebogenmethode n"
(Horkheimer 1931; 41, 44). Obwohl interdisziplinär, und damit auf der Grund-
lage der mittlerweile erreichten wissenschaftlichen Arbeitsteilung, und dazu empi-
risch angelegt, sollten die Forschungsarbeiten des Instituts sich doch an "aufs

4 Ober die Geschichte des Instituts von 1923 bis 1950 unterrichten nach wie vor am gründ-
lichsten Jay (1973) und, in grundsätzlicher Obereinstimmung mit der Horkheimerschen
Position, Schmidt (1970; 1974; 1976). Eine problemorientierte Ergänzung und Vertie-
fung bieten Dubiel (1978) und Söllner (1979), die beide die abweichenden Positionen
Kirchheimers und Neumanns zu ihrem Recht kommen lassen. Eine Gesamtdarstellung,
die auch die Nachkriegsentwicklung der kritischen Theorie mit einbezieht, steht aus, ab-
gesehen von teils recht polemischen Skizzen wie denen von Therbom (1970) und Vin-
cent (1976).
14 Gerhard Brandt

Große zielenden philosophischen Fragen" orientieren (41) und durch eine als Sozi-
alphilosophie sich verstehende Theorie der Gesellschaft angeleitet und zusammen-
gehalten werden.
Worin genau die forschungsleitenden Fragen der von Horkheimer in Anspruch
genommenen Sozialphilosophie bestehen sollten, blieb in den frühen Texten und
namentlich in der Antrittsrede offen und unbestimmt. Deutet man die Formeln,
deren Horkheimer sich in diesem Zusammenhang bediente, und insbesondere die
Unterscheidung von "Allgemeinem" und "Besonderem" (40 f.; Horkheimer 1934 1 ;
22) im Kontext der Theorietradition, der sie angehören, so besagen sie offensicht-
lich, daß es der Sozialphilosophie vorbehalten sein sollte, die den Gegenstand der
Forschung ausmachenden zentralen Probleme der Gesellschaftsstruktur zu bezeich-
nen und den Einzelwissenschaften zur Bearbeitung zu überantworten, "um sich
selbst von dem Fortgang der konkreten Studien beeindrucken und verändern zu
lassen" (Horkheimer 1931; 41). Die Arbeiten des Instituts sollten schließlich nicht
allein und primär wissenschaftsimmanenten Zwecken, der Akkumulation von Wis-
sen, sondern praktischen Interessen dienen. Diese blieben allerdings in der Antritts-
vorlesung weitgehend unausgesprochen und wurden in den frühen Aufsätzen nur
äußerst allgemein umschrieben. Wie abgewogen und vorsichtig auch immer die
Formulierungen, die frühen Äußerungen sind doch durchdrungen von der Überzeu-
gung, daß das Denken unauflöslich mit gesellschaftlichen Kämpfen zwischen Unter-
drückten und Unterdrückern sich verschränkt und daß in den gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen der Gegenwart die vom Institut vertretene Theorie die Sache
der Unterdrückten zu der ihren zu machen habe.

"Das Elend der Gegenwart ist an die gesellschaftliche Struktur geknüpft. Darum bildet die
Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus." (Horkheimer 1933; 14)

Das anfänglich, vermutlich aufgrundpragmatischer Rücksichten, recht vage gehalte-


ne Programm erfuhr in den ersten Jahren des Exils eine genauere Bestimmung
und Ausführung. Maßgebend hierfür mochten die Lehren der nationalsozialistischen
Machtübernahme, die in mancher Hinsicht auch entlastenden Bedingungen des
Exils und die inzwischen vorliegenden Forschungserfahrungen gewesen sein. In den
Veröffentlichungen dieser Periode, der Jahre 1933 bis 1937, gaben sich das Institut
und seine Mitglieder, namentlich wiederum Horkheimer, als Protagonisten einer
kritischen Variante der materialistischen Theorietradition zu erkennen. Der, im
übrigen allzu pauschal verfahrende, Versuch, das Institut und seine Theorie einem
mit den folgenreichen Schriften G. Lukacs' und K. Korschs aufgekommenen
"westlichen Marxismus" zuzurechnen (vgl. hierzu Anderson 1976; insbes. 24 ff),
findet hierin eine gewisse Rechtfertigung. Horkheimer und die übrigen Autoren der
Zeitschrift vermieden es auch weiterhin, sich mit den vorherrschenden Richtungen
der materialistischen Theorietradition zu identifizieren und schienen eher darauf
bedacht, sich von den Ökonomistischen und mechanistischen Deformationen abzu-
grenzen, die das Theorieverständnis der Zweiten und Dritten Internationale prägten
und, vermittelt durch das dem Austro-Marxismus verpflichtete Denken Grünbergs,
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 15

auch die Frühphase der Institutsgeschichte geprägt hatten 5 . Daß das Institut der ma-
terialistischen Theorietradition, und zwar eher der originären, im Marxschen Werk
enthaltenen, als ihren neueren Varianten bis hin zu den abweichenden Strömungen
der frühen zwanziger Jahre, verbunden war, konnte angesichts der nun vorgeleg-
ten Arbeiten nicht zweifelhaft sein. Maßgebend hierfür sind weniger die nach wie
vor sehr vorsichtigen und vielfach dunklen Selbstcharakterisierungen der Autoren
als der Umstand, daß die beiden grundlegenden Annahmen der Marxschen Lehre
eine Bestätigung und Bekräftigung erfuhren.
Bekräftigt wurde einmal der Grundsatz, daß "(d)er Materialismus der Gegenwart
... nicht vornehmlich durch die formalen Züge, welche gegenüber der idealistischen
Metaphysik hervorzuheben sind, ... sondern durch seinen Inhalt: die ökonomische
Theorie der Gesellschaft" gekennzeichnet sei (Horkheimer 19 33; 33 ). Wie auch die
inhaltliche Argumentation der Arbeiten dieser Jahre ausweist, stellte damit die
Kapitalismusanalyse der Kritik der politischen Ökonomie das zentrale Lehrstück
der Theorie des Instituts dar. Und bekräftigte wurde zugleich nicht nur das "Exi-
stentialurteil", "es muß nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die
Umstände sind jetzt vorhanden" (Horkheimer 1937 2 ; 279), sondern auch die wei-
tergehende These, daß das Interesse, "Tendenzen", die auf eine vernünftige, der
Allgemeinheit entsprechende gesellschaftliche Organisation verweisen, "zu erfahren
und wahrzunehmen, ... im Proletariat notwendig erzeugt wird" (267). Auch wenn
einschränkend dazu gesagt wurde, daß "die Situation des Proletariats ... in dieser
Gesellschaft keine Garantie der richtigen Erkenntnis" bilde (267), und wenn schon
in einer früheren Schrift davon die Rede gewesen war, "(s)o sehr ... Theorie und
Praxis in der Geschichte verknüpft sind", so wenig walte "zwischen ihnen eine
prästabilierte Harmonie" (Horkheimer 1935; 343 f.), eröffnete damit nach Auffas-
sung der Autoren allein die von der Einsicht in seine Lage geleitete Aktion des mo-
dernen Proletariats die Aussicht (aber auch nicht mehr) auf die Überwindung des
bestehenden Systems gesellschaftlicher Ausbeutung.
Die "dynamische" Einheit von Wissenschaftsanspruch, sozialphilosophischem
Selbstverständnis und Praxisorientierung, die das Harkheimersehe Programm postu-
lierte, war, wie bereits die Darstellung dieses Programms erkennen läßt, von Anfang
an widerspruchsvoll und prekär. Im Verlaufe der dreißiger und frühen vierziger
Jahre wurde diese Einheit fortschreitend in Frage gestellt und hatte, worauf es
hier ankommt, ihre Verbindlichkeit zum Zeitpunkt der Wiedererrichtung des In-
stituts in Frankfurt weitgehend eingebüßt. Der Tatbestand selbst, um den es hier
geht, die Auflösung der Einheit von einzelwissenschaftlicher Forschung, Theorie
der Gesellschaft und politischer Praxis, ist in der außerordentlich umfangreichen
Literatur zur Geschichte des Instituts und der kritischen Theorie ebensowenig
strittig wie die Tendenz, die sich dabei geltend machte. Kritiker wie Protagonisten
der kritischen Theorie derfünfzigerund sechziger Jahre sprechen von einer Wende,

5 Ober die Frühphase des Instituts, vor der Amtsübernahme Horkheimers, von 1923 bis
1930, fehlen gesicherte Erkenntnisse. Andeutungen, auch zur Rolle Grünbergs, finden
sich bei Jay (1973), Kluke (1973), Schmidt (1970) und neuerdings bei Ulmen (1978).
16 Gerbard Brandt

Rückkehr oder auch, nicht ohne Ironie, "Kehre" der Theorie und meinen damit die
- durchaus unterschiedlich beurteilte - Rückwendung vom ursprünglich komplexe-
ren Programm zu einer radikalisierten Ideologiekritik, die den damit verbunden Wis-
senschaftsanspruch wie die gleichursprüngliche Praxisorientierung in Frage stellt.
(vgl. hierzu Söllner 1976; insbes. 333). Mit G. Therborn, einem der unnachsichtig-
sten Kritiker der Frankfurter Schule, ließe sich die Auflösung der anfänglich kom-
plexen Einheit des Institutsprogramms als doppelte Reduktion von Wissenschaft
und von Praxis auf Philosophie bzw. auf ein Programm radikalisierter Ideologiekri-
tik umschreiben 6 .
Aufgegeben wurde als erstes der Praxisbezug der die Institutsarbeit anleitenden
Theorie, der freilich bereits in den ersten Entwürfen zu dieser Theorie gebrochen
und mit Kautelen durchsetzt war. Hieß es schon hier, daß "(ü)ber der Identität von
Theorie und Praxis ... aber ihr Unterschied nicht zu vergessen" sei (Horkheimer
1935; 346), so war darin eine deutliche Abgrenzung gegenüber den Theorie und
Praxis konfundierenden Anschauungen der Urheber des "westlichen Marxismus",
und namentlich Lukäcs' und Korschs, enthalten. Wenn die dabei immer noch auf-
rechterhaltenen Bezüge von Theorie und Praxis, ihre "dynamische Einheit", weiter
eingeschränkt und am Ende aufgegeben wurden, dann offensichtlich in erster
Linie unter dem Eindruck der politischen Erfahrungen der ausgehenden zwanziger
und dreißiger Jahre. Die eine dieser Erfahrungen, die der "Ohnmacht der deutschen
Arbeiterklasse", findet sich schon in den frühen, aus den Jahren der Weimarer Re-
publik stammenden Notizen Horkheimers reflektiert. Sie verweist auf das ge-
schwundene Vertrauen in das revolutionäre Potential der deutschen Arbeiterbewe-
gung in ihrer kommunistischen wie ihrer reformistisch-sozialdemokratischen Vari-
ante. Erkennen zwar "(d)ie einen", wie es in einer dieser Notizen etwas unbestimmt
heißt, "die bestehende Gesellschaft als schlecht", so "fehlen ihnen die Kenntnisse,
um die Revolution praktisch und theoretisch vorzubereiten", während "die anderen
vielleicht diese Kenntnisse produzieren" könnten, "aber ... der fundamentalen
Erfahrung von der dringenden Notwendigkeit der Änderung" ermangeln (Horkhei-
mer 1934 2 ; 281, 285 f.).
Überlagert und zugleich verstärkt wurde diese Erfahrung durch die zweite, die
der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland. Sie bestärkte Hork-
heimer und die Mitglieder des Instituts offensichtlich in der Überzeugung, alle
Versuche, die bürgerliche Gesellschaft aus ihrem inneren Zusammenhang heraus,
mittels einer politischen Massenpartei, ob nun revolutionärer oder reformistischer
Art, zu überwinden, seien zum Scheitern verurteilt (Horkheimer 1941; 20 f., 30 f.).
In den Jahren des Exils, und vor allem in den späten dreißiger Jahren, finden diese
- zunächst bezeichnenderweise eher umgangssprachlich und aphoristisch formu-

6 Ob die "doppelte Reduktion" des Institutsprogramms eine konsequente Antwort auf Ten-
denzen der realen gesellschafdichen und Wissenschaftsentwicklung darstellte oder, wie die
denunziatorische Interpretation Therboms unterstellt, politische Anpassung reflektierte
(Therbom 1970; insbes. 70 ff.), bleibt hier außer Betracht. Die Therbomsche Formel dient
lediglich in heuristischer Weise als Leitfaden der Interpretation.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 17

lierten - Erfahrungen eine theoretische Begründung, die sich mit der sogenann-
ten Staatskapitalismuskontroverse innerhalb des Instituts verknüpfte 7 • Auf eine
Formel gebracht, besagt sie, daß der Kapitalismus in seiner neuestenForm imstande
ist, das systemsprengende Potential des objektiv auf die Spitze getriebenen Klas-
sengegensatzes zu neutralisieren, oder, in der bewußt paradoxen Formulierung
Adornos: "In solcher Abschaffung der Klassen kommt die Klassenherrschaft zu
sich selber" (Adorno 1942; 381). Als systematischer Grund hierfür wird der im
Faschismus nur sichtbar gewordene Umschlag von ökonomischer in politische Herr-
schaft angegeben, durch den die herrschenden Klassen, die zunehmend als "Gangs
und Rackets" sich zu erkennen geben, (relative) Autonomie gegenüber den ökono-
mischen Funktionserfordernissen des Systems erlangen (Adorno 1942; 380 f.;
Horkheimer 1939; 125 f.).
Vorbereitet, begleitet und ermöglicht wird dieser Umschlag durch eine Reihe von
Mechanismen, von denen in den Institutsarbeiten dieser Jahre drei deutlicher be-
zeichnet werden. Verwiesen wird bereits in früheren Notizen und Arbeiten auf die
fortschreitende Fragmentierung der Arbeiterklasse, die, als Aufspaltung in dauer-
haft Beschäftigte und dauerhaft Arbeitslose, der anhaltenden Massenarbeitslosig-
keit zuzuschreiben ist (Horkheimer 1934 2 ; 281 f.) und weiterhin überlagert und ver-
stärkt wird durch die fortschreitende Arbeitsteilung und die mit ihr einhergehen-
de Taylorisierung des Arbeitsprozesses (Adorno 1942; 389 f.). Die darin angelegte
Auflösung des im Konkurrenzkapitalismus aufgekommenen und dort stets von
neuem sich generierenden Klassenbewußtseins wird unterstützt und beschleunigt
durch die dem staatsinverventionistischen System unterstellte Fähigkeit, die Massen
mit einer "dekretierten Steigerung der Lebenshaltung" zu befriedigen (Horkhei-
mer/Adorno 1947; 52). "Im Spätkapitalismus verwandeln sich die Völker zuerst
in Unterstützungsempfänger und dann in Gefolgschaften" (Horkheimer 1939;
119). Die Unterdrückung und Pazifizierung des politischen Potentials der Arbeiter-
klasse vollendet sich schließlich unter dem Einfluß der Gewerkschaften, deren inte-
grative Funktionen von den Organisationen des faschistischen Staates nur perfek-
tioniert werden, und unter dem der Kulturindustrie, die der "Psychologie der Ar-
beiterklasse" sich annimmt (Adorno 1942; 380 f., 389).
Hatten Horkheimer und die, die mit ihm die Institutsarbeit trugen, von Anfang
an, aus prinzipiellen Vorbehalten gegenüber identitätsphilosophischen Annahmen,
nicht von einer ungebrochenen Einheit von Theorie und Praxis reden zu können
geglaubt, so schien die Preisgabe auch des eingeschränkten Praxisanspruchs unter
dem Eindruck der realen gesellschaftlichen Entwicklung und ihrer theoretischen
Verarbeitung unausweichlich. Wie nicht anders zu erwarten, vollzog diese Aufgabe
sich nicht abrupt, sondern in Form einer sukzessive fortschreitenden Reduktion,
die im einzelnen vier Stufen erkennen läßt. Das Postulat der Einheit von theoreti-
scher Reflexion und politischer Praxis erfuhr zunächst insofern eine Relativierung,
als das Verhältnis von theoretisierenden Intellektuellen und Proletariat, von "Theo-

7 Ober die Staatskapitalismus-Kontroverse und die mit ihr sich verbindenden Frontstellungen-
innerhalb des Instituts unterrichtet eingehender Abschnitt 3, weiter unten, S. 26 ff.
18 Gerhard Brandt

retikern" und "beherrschter Klasse", als wechselseitiges verstanden wurde, wobei


die "Darstellung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht bloß als ein Ausdruck der
konkreten historischen Situation, sondern ebensosehr als stimulierender, verändern-
der Faktor in ihr erscheint" (Horkheimer 1937 2 ; 269). Das Proletariat stellt sich
hier nicht (mehr) als alleinige Quelle politischer Gewißheit, sondern auch als Adres-
sat politischer Aufklärung durch Intellektuelle dar, die gelingen, aber auch miß-
lingen kann (vgl. hierzu Dubiel 1978; 39 f.). Auf einer zweiten Stufe erfahren die
Annahmen über die Träger politischer Praxis eine Einschränkung derart, daß das
Proletariat, bis dahin der ausschließliche Träger dieser Rolle, durch ausgezeich-
nete Individuen und Gruppen von Individuen abgelöst wird (vgl. Horkheimer 1938;
46 f.; Dubiel 1978; 70). Auf einer dritten Stufe werden diese Individuen in einer-
später von Marcuse und der Studentenbewegung aufgenommenen - identitätsphilo-
sophischen Wendung mit den Urhebern der kritischen Theorie identifiziert, so daß
diese sich nun als Subjekte nicht allein theoretischer Reflexion, sondern auch ge-
sellschaftskritischer Praxis darstellen. Hierauf verweist die, zunächst wohl gegen
K. Mannheim gerichtete, Formel von der "Avantgarde", die "der Klugheit im poli-
tischen Kampf (bedarf), nicht der akademischen Belehrung über ihren sogenannten
Standort", und die von allen anderen möglichen Subjekten politischer Praxis sich
abgrenzende Formulierung, die kritische Theorie habe "keine spezifische Instanz
für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der Aufhebung der Klassen-
herrschaft" (Horkheimer 1937 2 ; 275, 292). Auch dieser weit zurückgenommene
Praxisanspruch wurde indessen am Ende aufgegeben und machte einer von jeglicher
Hoffnung bereinigten Absage an alle Rücksichten praktisch-politischer Art Platz.
"Die Verwirrung ist", wie es in einem Text aus dem Jahre 1939 heißt, "so allgemein
geworden, daß der Wahrheit um so größere praktische Würde zukommt; je weniger
sie auf die vermeintliche Praxis hinschielt" (Horkheimer 1939; 135). Praxis versteht
sich in den späten Schriften der kritischen Theorie als theoretische Praxis und ist
unter den Bedingungen einer vollends verdinglichten Welt nur noch als verzweifelte
Praxis des Denkens vorstellbar 8 .
Die Einheit von Philosophie bzw., wie es in den späteren Schriften der dreißiger
Jahre durchweg heißt, Theorie der Gesellschaft und einzelwissenschaftlicher For-
schung, das "positive Verhältnis zur Wissenschaft" (Horkheimer 1937 1 ; 48), blieb
durch diese erste Reduktion von Praxis auf Philosophie vorerst unberührt, bildete
vielmehr, wie die Begründung der von Horkheimer, Pollock und Adorno vertretenen
Auffassung zeigt, die Voraussetzung dieser Reduktion. Wissenschaftliche Forschung
für sich genommen, wie sie von den modernen Erfahrungswissenschaften betrieben
wird, ist zwar, wie schon in den früheren Schriften erkannt wurde, "von wich-
tigen Einsichten abgeschnitten" (Horkheimer 1933; 23), "und um wirklich zu

8 Vgl. hierzu die Darstellung der Adornoschen Version der kritischen Theorie, weiter unten,
S. 23 ff., die diese Konsequenz am entschiedensten vertritt. Aufschlußreich wäre es, Parallelen
zu diesem Argumentationsmuster bei L. Althusser nachzugehen, der gleichfalls auf dem
theoretischen Charakter der Praxis von Wissenschafdem besteht (vgl. hierzu Althusser 1968;
124- 137).
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 19

begreifen, was es jeweils mit den Tatsachen wie mit dem wissenschaftlichen Ganzen
auf sich hat, muß man den Schlüssel zur historischen Situation haben, d. h. die
richtige gesellschaftliche Theorie" (Horkheimer 1937 1 ; 28). Auch waren die Auto-
ren sich über die gesellschaftliche Funktion der Wissenschaft im Klaren, darüber
also, daß "(d)ie Kenntnis, die von der Wissenschaft zutage gefördert ist, ... der Re-
produktion des gesellschaftlichen Mechanismus (zur Verfügung steht)". Gleichwohl
vermag die einzelwissenschaftliche Forschung auch für die kritische Theorie nutz-
bar gemacht zu werden; die "Kenntnis", durch die der gesellschaftliche Mechanis-
mus sich reproduziert, "wird andererseits zu seiner Überwindung mobilisiert" (51).
Wissenschaft erschöpft sich dabei nicht, wie dieses Argument vermuten lassen könn-
te, in einer instrumentellen Funktion, sondern hat die eines Korrektivs gegenüber
der theoretischen Reflexion: "Soweit sich von einer Anschauung zeigen läßt, daß
sie mit bestimmten wissenschaftlichen Einsichten unverträglich ist, hat sie in der
Tat als falsch und antiquiert zu gelten" (48). Wissenschaftliche Einsichten dieser
Art waren es, auf die sich auch noch die These von der Selbststabilisierung des
Staatskapitalismus und die Aufgabe politisch-praktischer Perspektiven beriefen 9 •
Im weiteren Verlauf der Entwicklung, die die kritische Theorie des Instituts
nahm, vor allem in den frühen vierziger Jahren, ging das Vertrauen in die ein-
zelwissenschaftliche Forschung als Moment und Korrektiv einer Theorie der Ge-
sellschaft verloren, und damit verfiel auch die so lange noch behauptete Einheit
von Philosophie und Wissenschaft einer Auflösung und Reduktion auf Philoso-
phie. Als Einschnitt und Wendemarke hat die in diesen Jahren entstandene "Dialek-
tik der Aufklärung" zu gelten, in deren Vorrede die in die Wissenschaften gesetzten
Erwartungen, wenn auch nicht gerade im Sinn eines "positiven Verhältnisses zur
Wissenschaft", für die Vergangenheit nochmals bestätigt wurden.

"Hatten wir auch seit vielen Jahren bemerkt, daß im modernen Wissenschaftsbetrieb die großen
Erfindungen mit wachsendem Zerfall theoretischer Bildung bezahlt werden, so glaubten wir
immerhin dem Betrieb soweit folgen zu dürfen, daß sich unsere Leistung vornehmlich auf
Kritik oder Fortführung fachlicher Lehren beschränkte. Sie sollte sich wenigstens thematisch
an die traditionellen Disziplinen halten, an Soziologie, Psychologie und Erkenntnistheorie"
(Horkheimer/Adorno 1947; 5).

Die in der "Dialektik der Aufklärung" vollzogene Revision und die damit verbun-
dene zweite Reduktion besagt demgegenüber, "(d)ie Fragmente, die wir hier ver-
einigt haben, zeigen jedoch, daß wir jenes Vertrauen aufgeben mußten ... "und daß
"im gegenwärtigen Zusammenbruch der bürgerlichen Zivilisation nicht bloß der Be-
trieb sondern der Sinn von Wissenschaft fraglich geworden" sei (5). Maßgebend
auch für diese Revision des Theorieprogramms des Instituts für Sozialforschung war,

9 Der hier bereits deutlich werdende Widerspruch, sich auf Erkenntnisleistungen einzel-
wissenschaftlicher Forschung zu berufen, die alsbald massiver Ideologiekritik unterwor-
fen werden, ist am deutlichsten ausgeprägt bei Marcuse, wie weiter unten, S. 23 f. ausge-
führt wird. Im Verhältnis Horkheimers und Pollocks findet dieser Widerspruch sich gleich-
sam in zwei komplementär aufeinander bezogene Positionen auseinandergelegt.
20 Gerbard Brandt

unmittelbar gesehen, die reale gesellschaftliche Erfahrung des Faschismus, der


auch in dieser Hinsicht nicht als "wider die bürgerliche Gesellschaft" gewandt,
sondern als "unter bestimmten historischen Bedingungen ihre konsequente Form"
begriffen wurde (Horkheimer 1938; 38). Hatte die Funktionalisierung der Wissen-
schaft bereits ein Thema der frühen Arbeiten des Instituts gebildet, so schien
nun alles darauf hinzuweisen, daß die darin angelegte Tendenz sich unter den
Bedingungen des "autoritären Staates" und einer weltweit expandierenden Kriegs-
wirtschaft vollends durchsetzte und das Denken, auf eine völlig "subalterne Rolle"
reduziert, "bloß noch die Stellung einer Dienstmagd für die je geltenden Zwecke
der Industriegesellschaft mit ihrem zweifelhaften Schicksal" bekleiden läßt (Hork-
heimer 1937 1 ; 44 f., 32). Umgekehrt schien sich in den zeitgenössischen Erfah-
rungswissenschaften, in den Sozial- wie in den Naturwissenschaften, der sozialtech-
nische Typus von Wissenschaft stärker herauszubilden und durchzusetzen, der der
gesellschaftlichen Funktion von Wissenschaft entspricht. War jener in den früheren
Schriften, in seiner axiomatischen und seiner empiristischen Variante, unter dem
Titel einer traditionellen Theorie noch mit dem Gegenbegriff einer gleichfalls er-
fahrungswissenschaftlich ausgerichteten kritischen Theorie konfrontiert worden,
so wurde er nun, offenbar aufgrund seiner faktischen Durchsetzung, mit dem Be-
griff der Erfahrungswissenschaften überhaupt identifiziert, die damit einem allge-
meinen Verdikt verfielen. Die Auseinandersetzungen Adornos mit den vorherrschen~
den Praktiken der empirischen Sozialforschung - und deren Denunziation als
"Administrative Social Research" - sind nur unter Berücksichtigung dieser Erfah-
rungen angemessen zu verstehen 10 .
Die auf reale gesellschaftliche Erfahrung sich stützende Zurücknahme des Wissen-
schaftsanspruch der kritischen Theorie ging freilich einher mit einer folgenreichen
Revision dieser Theorie selbst, und diese Revision liefert, ähnlich wie die Staatskapi-
talismusthese im Fall der ersten Reduktion, die eigentliche theoretische Begründung
für diese Absage und für die darin beschlossene zweite Reduktion (auf Philosophie).
Hatte die Theorie des Instituts in ihrer ursprünglichen materialistischen und auch in
ihrer kritischen Fassung ihren Gegenstand, "das Elend der Gegenwart" (Horkheimer
19 33; 14 ), noch als Ausdruck einer historischen Gesellschaftsformation, des mo-
dernen Kapitalismus, verstanden und sich selbst als Theorie oder, bestimmter ge-
sagt, als "ein einziges entfaltetes Existentialurteil" über diesen Gegenstand in der
Form einer historischen Kapitalismustheorie, die an ihren Gegenstand gebunden ist
und mit ihm vergeht (Horkheimer 1937 2 ; 279; 1935; 337), so erfuhr sie in den
Arbeiten der frühen vierziger Jahre eine Generalisierung und Enthistorisierung. Das
Elend der Gegenwart, das nach wie vor den Gegenstand der Theorie bildet und als
undurchdringlicher Herrschafts- und Verblendungszusammenhang schärfer und

10 Die Formel vom "Administrative Social Research" geht zurück auf eine Auseinanderset-
zung mit P.F. Lazarsfeld, mit dem Adomo im Rahmen des sog. Radio Research Project
zusamme~earbeitet hatte. Vgl. hierzu die Darstellung bei Jay (1973; 222 - 224), Ador-
no (1969 ), Institut ftir Sozialforschung (1956; 114f.), Lazarsfeld (1941; 1969) sowie wei-
ter unten.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 21

kritischer noch gefaßt wird als zuvor, stellt sich nun als Ausdruck und äußerste
Konsequenz eines ebenso Selbstzerstörerischen wie unaufhaltsamen Prozesses dar,
der die gesamte Gattungsgeschichte der Menschen umfaßt. Es ist der Prozeß fort-
schreitender Naturbeherrschung und die in ihm angelegte Dialektik der Aufklärung,
die beide in der bürgerlichen Gesellschaft der Gegenwart und ihren autoritären Aus-
formungen nur kulminieren. Die kritische Theorie ist damit nicht mehr historische
Theorie einer historischen Gesellschaftsformation, sondern eine, wie auch immer
kritische, Theorie der Gattung und ihrer Geschichte, die erst mit dem Ende dieser
Geschichte, und das heißt aller bisherigen Geschichte, ihren historischen Charakter
eingesteht. Die radikalisierte Form der Kritik, die in dieser Generalisierung beschlos-
sen ist, ist erkauft durch eine Enthistorisierung und Entdifferenzierung ihrer Kate-
gorien und durch eine unauflösliche Aporie, die darin liegt, daß die Freiheit in der
Gesellschaft", die durch die "Selbstzerstörung der Aufklärung" in akuter Weise
bedroht wird, "doch vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist" (Horkheimer/
Adorno 1947; 7).
Hier interessieren im Augenblick allein die Konsequenzen, die sich aus der
Generalisierung und Enthistorisierung der Theorie für die Rolle der Wissenschaft
und für die bis dahin behauptete Einheit von Philosophie und Wissenschaft ergeben.
Wissenschaft und Technik stellen sich in dieser radikalisierten und generalisierten
Fassung der kritischen Theorie als Momente fortschreitender Naturbeherrschung
dar, im Verhältnis zur äußeren wie zur inneren Natur, die bis in ihre kategoriale
Struktur hinein von der Logik dieses Prozesses geprägt sind.

"Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang. Wie die ersten
Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentierten, grün·
det die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß
der Begriffe in den entsprechenden Verhälmissen der sozialen Wirklichkeit, der Arbeitsteilung.
Nur freilich ist dieser gesellschaftliche Charakter der Denkformen nicht, wie Durkheim lehrt,
Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, sondern Zeugnis der undurchdringlichen Einheit von
Gesellschaft und Herrschaft" (Horkheimer/Adorno 1947; 33 f.).

Als Ausdruck fortschreitender Naturbeherrschung aber, als "Zeugnis der undurch-


dringlichen Einheit von Gesellschaft und Herrschaft", verfallen Wissenschaft und
einzelwissenschaftliche Forschung dem generalisierten Verdikt oder, wenn man so
will, dem neuen Existentialurteil, kritische Erfahrungsmöglichkeiten seien mit
ihnen nicht, oder nicht mehr, vereinbar. Hieraus aber folgt, daß einzelwissenschaftli-
che Forschung und mit ihr auch die Kritik der politischen Ökonomie als erfahrungs-
wissenschaftliche Kapitalismusanalyse der Reduktion unterworfen werden. Kriti-
sche Theorie als Einheit von Philosophie und Wissenschaft reduziert sich auf dieser
Stufe auf Philosophie und, bestimmter, auf eine radikalisierte Ideologiekritik, die
seither die Verfahrensweisen der modernen Erfahrungswissenschaften zu emem
ihrer bevorzugten Gegenstände macht.
Wie problematisch und prekär seitdem der Status der empirischen Sozialfor-
schung im Rahmen der kritischen Theorie ist, erweisen die Arbeiten T. W. Adornos
22 Gerbard Brandt

und H. Marcuses, die die Theorie während der fünfzig er und Sechziger Jahre in
erster Linie repräsentierten und die beide, wenngleich von verschiedenen Ausgangs-
punkten her und mit konträren Konsequenzen, dem (reduzierten) Programm einer
radikalisierten Ideologiekritik verpflichtet waren. Wie seine in den Sechziger Jahren
entstandenen und weithin bekannt gewordenen Schriften (Marcuse 1964; 124 ff.,
138), aber auch schon die philosophiekritischen Arbeiten der dreißiger und vierziger
Jahre (Marcuse 1937; 645 f.; 1941; 327 ff., 338 f.) deutlich machen, unterliegen
Wissenschaft und Technik und mit ihnen auch die modernen, empirisch ausgerichte-
ten Sozialwissenschaften bei Marcuse einem nahezu totalen Ideologieverdacht. Ob-
gleich zunächst vielleicht "politischen Zwecken gegenüber indifferent" (Marcuse
1964; 168), werden sie im Verlauf des historischen Prozesses nicht nur für politische
Zwecke instrumentalisiert, sondern gehen eine engere Verbindung mit diesen ein
und werden bis in ihre Struktur hinein der "Logik und Rationalität von Herrschaft"
unterworfen (169). Wissenschaft und Technik werden nach ihrer Ablösung von
philosophischer Reflexion "zur umfassenden Form der materiellen Produktion"
(169) und bleiben, dem dominierenden Muster der Marcuseschen Argumentation
zufolge, als historischer "Entwurf' auch an diese Form und ihre Herrschaftslogik
gebunden. Wenn sich das so verhält, kann sich die kritische Theorie dem herrschen-
den Wissenschaftsverständnis gegenüber nur auf einen alternativen Wissenschafts-
begriff als Ausdruck einer anderen Lebensform berufen, und die Propagierung einer
solchen Lebensform machte, anfangs unter dem Titel revolutionärer Praxis, dann
unter dem des Protests und der Verweigerung, schließlich unter dem einer neuen
Sensibilität und Einbildungskraft, das zentrale Motiv des Marcuseschen Lebens-
werkes aus.
Gesellschafts- und Ideologiekritik waren bei Marcuse, ganz anders als bei Hork-
heimer und Adorno, zunächst durch die Auseinandersetzung mit der phänomenolo-
gischen Schule und insbesondere der Existentialontologie Heideggers geprägt und
blieben in ihren politischen Konsequenzen bis in die letzten Lebensjahre hinein die-
sen Ursprüngen verhaftet. Nach dem Eintritt Marcuses in das Institut für Sozialfor-
schung (1933) machte sich in seinen gesellschaftstheoretischen Schriften zuneh-
mend die von Horkheimer vertretene materialistische Theorietradition und insbe-
sondere der Marxsche Geschichtsmaterialismus geltend; der besondere historische
Charakter dieser Theorie und ihr empirischer Gehalt rückte dabei jedoch zuneh-
mend in den Hintergrund. Kategorien wie die der Verdinglichung, die von der Kritik
der politischen Ökonomie als historische allein auf den Kapitalismus als historische
Gesellschaftsformation bezogen werden und in Annahmen über deren Grundstruk-
tur ihre Begründung finden, werden tendenziell auf die Geschichte der Gattung
übertragen; und Entwicklungstendenzen wie die der reellen Subsumtion, die sich
Marx zufolge nur in widerspruchsvoller Weise durchsetzen, werden als Systemeigen-
schaften ausgegeben 11 . Wie von Kritikern verschiedentlich angemerkt (vgl. Schluch-

11 Beide Seiten dieses totalisierenden Argumentationsmusters scheinen ein durchgängiges


Merkmal der kritischen Theorie zu sein, das sich merkwürdigerweise nicht nur bei deren
Epigonen, sondern auch bei einigen ihrer Kritiker wiederfindet. So erfährt etwa der Be-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 23

ter 1972; 290 f.), halten sich Reflexionen wie diese auf spekulativer Ebene und ent-
ziehen sich empirischer Überprüfung. Mag zur Rechtfertigung auch angeführt wer-
den, die Soziologie befestige, "(i)ndem sie die bestehende gesellschaftliche Wirklich-
keit als ihre eigene Norm proklamiert ... in den Individuen den 'glaubenslosen Glau-
ben' an die Wirklichkeit, deren Opfer sie sind" (Marcuse 1964; 138), so ist eine
Theorie, die solchermaßen verfährt, doch dem Verdacht ausgesetzt, sich als Gesell-
schafts- wie als Revolutionstheorie gegen Erfahrung abzuschirmen.
Tatsächlich war Marcuse darum bemüht, wenn nicht die Gesellschafts-, so doch
die Revolutionstheorie dem Vorwurf der Selbstimmunisierung und, schlimmer
noch, des Voluntarismus zu entziehen. Hieraus rührt freilich, der schwer zu widerle-
genden Argumentation Schluchtcrs zufolge (Schluchter 1972; 282 ff.), eine tiefe
Zweideutigkeit des Marcuseschen Werkes. Einmal nämlich soll der "Bruch mit der
herrschenden technologischen Rationalität", wenngleich "die Vollendung des tech-
nologischen Entwurfs" ihn notwendig macht, "wiederum vom Fortbestehen der
technischen Basis selbst" (Marcuse 1964; 242), also einer als "indifferent und neu-
tral" (Schluchter 1972; 282) vorgestellten Produktivkraftentwicklung abhängig
~ein. Und überdies dienen "erfahrungswissenschaftliche Erkenntnisse" (282), und
merkwürdigerweise gerade, wie Therborn (1970; 89) anmerkt, die der pseudolibe-
ralen Presse und der akademischen Soziologie, dazu, die revolutionstheoretischen
Perspektiven in empirisch-analytischer Weise zu begründen. " ... wiewohl es dieser
Operationalismus ist, der in seinen Augen den in der eindimensionalen Gesellschaft
herrschenden Verblendungszusammenhang rationalisiert und insofern als von Grund
auf politisch infiziert gelten muß, hält er ihn offenbar doch zugleich für objektiv
und neutral genug, um mit Hilfe seiner Erkenntnisse die Chancen der revolutionären
Alternative zu berechnen: Ihm fällt nicht nur die Rechtfertigung der bestehenden
Verhältnisse, sondern, zumindest in Teilen, auch die der revolutionären Alternative
zu" (Schluchter 1972; 283). Noch in ihrer radikalisierten Form wird die kritische
Theorie daran erinnert, daß sie ihren ursprünglichen Anspruch, auf empirisch aus-
gerichtete Analysen sich zu stützen, nicht überspringen kann, wenn überhaupt sie an
ihrem Geltungsanspruch als Gesellschafts- und Revolutionstheorie festhalten will.
Bei allen Parallelen mit der radikalisierten Ideologiekritik Marcuses hielt Adorno,
anders als Marcuse, der in diesem Punkt zumindest unentschieden war und dem
Mißverständnis sich aussetzte, "die Artikulation einer Erfahrung mit der Analyse
des Erfahrenen" und "die Attitüde der Weigerung mit bestimmter Negation" zu
verwechseln (Habermas 1968; 14), am Prinzip der bestimmten Negation als Leitfa-
den der kritischen Theorie fest. Anhaltspunkte hierfür finden sich nicht nur in den
philosophischen Schriften, wie etwa in der Negativen Dialektik (Adorno 1966;
insbesondere 15 ff.), sondern auch in den materialen Beiträgen zur Theorie und Me-
thode der Sozialwissenschaften. Gesellschaftstheorie bleibt auch in ihrer ideologie-

Fortsetzung Fußnote 11
griff der reellen Subsumtion bei Breuer (1977) eine totalisierende Interpretation, mit der
er ähnlichen Einwänden ausgesetzt ist, wie sie von diesem Autor zu Recht gegen Marcuse
vorgebracht werden. Vgl. hierzu auch weiter unten, Abschnitt 6.
24 Gerbard Brandt

kritisch radikalisierten Form, als "denkende Konfrontation von Begriff und Sache"
(Adorno 1966; 146), in spezifischer Weise an ihren Gegenstand gebunden; sie "geht
auf Strukturgesetze" im Sinne von "Tendenzen, die mehr oder minder stringent aus
historischen Konstituentien des Gesamtsystems folgen" (Adorno 19691 ; 13 f.).
Und sie verweigert sich der agitatorischen Zumutung, alternative Lebens- und Ge-
sellschaftsformen zu entwerfen, "die Utopie positiv auszumalen" (Adorno 1966;
2o5), mit der entschiedenen Begründung, "anstatt daß der Gedanke dem Primat von
Praxis irrational sich beugte", wäre erneut zu reflektieren, daß diese selbst "ein
eminent theoretischer Begriff" sei (145). Die moralische Qualität des Adornoschen
Denkens "is a praxis of thought not a recipe for social and political action" (Rose
1978; 148).
Zeichnet sich die Adornosche Gesellschaftskritik damit durch ihre theoretische
Orientierung und, bei allen Vorbehalten gegenüber dem vorherrschenden Wissen-
schaftsverständnis, durch den Grundsatz aus, daß "das Seiende nicht unmittelbar
sondern nur durch den Begriff hindurch ist" (Adorno 1966; 154), so bleibt sie
konkret und in Ansehung der bestehenden Gesellschaft der Marxschen Theorietra-
dition verbunden. Nicht zu verkennen ist dabei, daß sie, am Begriff der Verdingli-
chung orientiert, selektiv verfährt und zentrale Probleme der Werttheorie ausblen-
det (vgl. Rose 1978; 47 f); und daß sie kaum dazu beigetragen hat, die Marxsche
Theorie in eine Form zu bringen, die der gegenwärtigen Verfassung des Kapitalis-
mus entspricht (vgl. Habermas 1971; 197 f.). Gleichwohl ist das Adornosche Werk
ungleich stärker als das Marcuses am Paradigma der Marxschen Kapitalismustheorie
orientiert und darauf angelegt, die verdinglichten Formen bürgerlichen Denkens
noch in ihren entlegensten Konfigurationen anhand dieses Paradigmas zu dechiffrie-
ren. Damit nicht genug, ist Adorno in skrupulöser Weise darauf bedacht, sich und
sein Denken der Erfahrung zu unterwerfen, die allein gewährleistet, "daß nicht län-
ger die Form des Denkens seine Gegenstände zu unveränderlichen, sich selbergleich-
bleibenden macht" (Adorno 1966; 155). Niedergeschlagen hat sich das in den
Schriften zur Methode der empirischen Sozialforschung, die dieser bei aller Kritik
die Funktion zubilligen, "den Begriff des Wesensgesetzes vor Mythologisierung zu
behüten" (Adorno 1957; 214). Daß es sich dabei um mehr als eine unverbindliche
Formel oder eine wissenschaftspolitische Erklärung handelt, belegen die Arbei-
ten Adornos am Institut für Sozialforschung und seine Versuche, theoretische Re-
flexion über Gesellschaft mit empirisch ausgerichteter Forschung zu vermitteln,
auch wenn auf dem mittlerweile erreichten Reflexionsstand kaum noch Zweifel
über den deformierten und verhärteten Zustand dieser Gesellschaft möglich schie-
nen und obgleich das Denken Adornos sich -sicher nicht nur, aber auch aus diesem
Grunde - von den zentralen gesellschaftlichen Strukturproblemen abwandte.
Auch Adorno freilich ist, wie Habermas (1977; 198) im Anschluß an Wellmer
(1969) festgestellt hat, der Gefahr einer "geschichtsphilosophischen Verallgemeine-
rung der Kritik der politischen Ökonomie" nicht entgangen und hat, darin Marcuse
verwandt, das Paradigma der Marxschen Kapitalismustheorie, wenn auch nicht auf
die Menschheitsgeschichte, so doch auf die mit der Überwindung des Mythos in der
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 2S

griechischen Antike anhebende Geschichte der Moderne übertragen. Abstraktion


von unmittelbaren Bedürfnissen und Triebregungen und Verdinglichung als Erschei-
nungsformen des Warentausches waren, wie schon im Odysseus-Exkurs der "Dialek-
tik der Aufklärung" behauptet, bereits in der Frühzeit der entwickelten Hochkultu-
ren angelegt. Wie triftig und legitim auch immer es sein mag, die dem Kapitalismus
vorausgegangene Entwicklung als Vorgeschichte des Kapitalismus zu interpretieren
(vgl. hierzu Lukacs 1923; 238 f.), und so sehr der Rückfall bürgerlicher Gesellschaf-
ten auf scheinbar vorkapitalistische Formen politischer Herrschaft einer solchen
Interpretation entgegenkommt, so sehr droht eine Verallgemeinerung und Über-
dehnung historischer Kategorien doch die analytische Kraft der Theorie, was die
Erfassung sowohl neuerlicher Strukturveränderungen des gegenwärtigen Kapitalis-
mus als auch vergangener Entwicklungsphasen angeht, zu schwächen. Hinzu
kommt, daß die Studien Adornos, schon immer an ästhetischer Erfahrung orien-
tiert, sich gleichsam im Gegenzug mehr und mehr dem Typus unmittelbarer Erfah-
rung annäherten, die "jenen bis zum äußersten individuierten, allen Schemata
absagenden Kunstwerken" vergleichbar ist, "deren Analyse im Extrem ihrer Indivi-
duation Momente von Allgemeinem, ihre sich selbst verborgene Teilhabe an der
Typik wiederfindet" (Adorno 1966; 162). Hieraus folgt, daß die materialen Arbei-
ten Adornos, darin nicht unähnlich denen Max Webers, denen er diese Differenz
zugute hielt (vgl. 164 ff.), durch eine eigentümliche Diskrepanz von apodiktisch
anmutenden theoretischen Urteilen und Versuchen gekennzeichnet sind, "Gegen-
stände" in subtiler und teils idiosynkratischer Weise "durch Konstellation zu
erschließen" (164). So virtuos Adorno diese Methode, wenn es eine ist, zu handha-
ben vermochte, und so sehr sie ihn immer wieder instand gesetzt haben mag, Begriff
und Sache miteinander zu vermitteln, so wenig scheint sie geeignet, ein Modell für
kollektive und nachvollziehbare Forschungsprozesse abzugeben. Die Frage nach der
Möglichkeit empirischer Sozialforschung in kritischer Absicht bleibt auch bei
Adorno unbeantwortet 12 •

3.

Es kann allerdings nicht die Rede davon sein, daß die doppelte Reduktion, die die
kritische Theorie im Verlauf der dreißiger und vierziger Jahre erfuhr, am damali-
gen Institut unumstritten gewesen und von allen Institutsmitgliedern akzeptiert
worden wäre. Nach der Neugründung des Instituts in Frankfurt durch Horkheimer
und Adorno ist in der Öffentlichkeit zwar der Eindruck entstanden, daß die radika-
lisierte Ideologiekritik dieser beiden Autoren und auch des späteren Marcuse mit

12 Nicht eingegangen werden kann hier auf die Fortführung der kritischen Theorie durch J.
Habermas und C. Offe und die "Starnberger Schule", die mit der hier zur Diskussion ste-
henden Entwicklung parallel läuft und sich von dieser u. a. durch eine schärfere, auf sehr
bedenkenswerte Gründe gestützte Distanzierung vom Paradigma der Kritik der politischen
Ökonomie unterscheidet.
26 Gerhard Brandt

der Theorie der Frankfurter Schule überhaupt identisch sei; übersehen wird jedoch
dabei, daß bis in die vierziger Jahre hinein einige Angehörige der Gründergeneration,
wie H. Grossmann und K. A. Wittfogel, am Institut arbeiteten, die, wie ihre Schrif-
ten aus dieser Zeit ausweisen, offensichtlich ihrem früheren, dem historischen Mate-
rialismus verpflichteten Wissenschaftsverständnis verhaftet blieben (Grossmann
1941; Wittfogel 1938, 1939/40). Alles, was über diese Phase der Institutsgeschichte
bekanntgeworden ist, deutet freilich darauf hin, daß dieser Personenkreis am
Institut isoliert oder aber ihm nur noch lose verbunden, jedenfalls an der Erörterung
theoretischer und politischer Fragen von einiger Tragweite nicht mehr beteiligt war
(Jay 1973; Ulmen 1978).
Anders verhält es sich mit einer Gruppe von Autoren, die, wenngleich auch nur
in den späten dreißiger und frühen vierziger Jahren, eine Alternative zur Harkhei-
mersehen Version der kritischen Theorie zu entwickeln versuchten, um dann, als
diese sich in der zweiten Frankfurter Ära als "Frankfurter Schule" endgültig durch-
setzte, allerdings gleichfalls in Vergessenheit zu geraten. Es handelt sich dabei vor
allem um F. Neumann, 0. Kirchheimer und A. R. L. Gurland, die anders als Hork-
heimer, Pollock, Adorno und Marcuse, anders auch als Grossmann, Wittfogel und
Borkenau, erst nach der Emigration in das Institut eintraten und mit rechts- und
staatswissenschaftliehen Arbeiten bzw., was Gurland angeht, mit ökonomie- und
technologiekritischen Analysen maßgeblich am Forschungsprogramm der dreißiger
und vierziger Jahre beteiligt waren. Kirchheimer und Neumann waren ebenso wie
Gurland, anders als die politisch abstinente Gruppe um Horkheimer, anders aber
auch als Grassmann und Wittfogel, die der KPD angehört hatten, der Sozialdemo-
kratie verbunden gewesen und hatten sich aktiv an der staats- und verfassungsrecht-
lichen Diskussion beteiligt, die den Niedergang der Weimarer Republik begleitete
und reflektierte. Diese Erfahrungen, insbesondere die des Zusammenbruchs der
politischen und gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung, waren es, die Neumann und
Kirchheimer veranlaßten, ihre politischen Positionen zu revidieren und ihre bis
dahin weitgehend immanent rechtsdogmatischen Auffassungen, gestützt auf die ma-
terialistische Theorietradition, gesellschaftstheoretisch zu fundieren. Niedergeschla-
gen hat sich diese Revision in dem Versuch zur Entwicklung einer materialistisch
begründeten Rechtstheorie, bei Neumann insbesondere in der an der London
School of Economics entstandenen zweiten Dissertation, "The Governance of the
Rule of Law" (1936), und in Beiträgen zu einer politischen Analyse des deutschen
Faschismus. Mit dem Eintritt Kirchheimers, Neumanns und auch Gurlands in das
Institut schien sich, wie Söllner mit Recht anmerkt, die Möglichkeit zu eröffnen,
durch rechts- und staatstheoretische Untersuchungen die unter dem Einfluß Hork-
heimers, Fromms, Marcuses und Adornos vorwiegend "sozialpsychologisch" und
"kulturtheoretisch" geprägte Arbeit des Instituts zu ergänzen und sie damit zu einer
umfassenden Analyse der bürgerlichen Gesellschaft in der Phase des Faschismus zu
erweitern (Söllner 1979; 165 ff., 220 f.). Daß es nicht dazu kam und daß die Fa-
schismusanalysen Gurlands, Kirchheimers und Neumanns am Institut eher als
Alternativprogramm wahrgenommen wurden, lag daran, daß die Gruppe um Hork-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 27

heimer ihr zu Beginn der dreißiger Jahre formuliertes Programm, das zu verwirkli-
chen die materialistische Rechts- und Staatstheorie Kirchheimers und Neumanns
doch mindestens ebenso geeignet schien wie die sozialpsychologischen und kultur-
wissenschaftlichen Arbeiten bis 1937, inzwischen zurückgenommen hatte (Söllner
1979; 171). Die Problematik des deutschen Faschismus wurde unter diesen Um-
ständen nicht zum Thema gemeinsamer Forschung und Theoriebildung, sondern
zum Anlaß einer theoretischen Kontroverse, die mit der Sezession der materialisti-
schen Alternative und der Etablierung der ideologiekritischen Variante der Insti-
rotstheorie als "Kritischer Theorie" endete.
Die Kontroverse zwischen den beiden Schulen innerhalb des Instituts, zwischen
materialistischer Sozialwissenschaft und kritischer Theorie, entzündete sich an der
auf F. Pollock zurückgehenden Staatskapitalismus-These. Sie soll hier allein darauf-
hin erörtert werden, ob damit tatsächlich eine zur kritischen Theorie Horkheimers
alternative Position vorlag und welche Perspektiven sich daraus für eine theoretische
Begründung kritischer Sozialforschung eröffnen. Die These, um die es ging, gründete
sich auf die Anfang der dreißiger und teilweise schon Ende der zwanziger Jahre
entstandenen Arbeiten Pollocks und seiner Mitarbeiter K. Mandelbaum und G.
Meyer über die "Aussichten einer planwirtschaftliehen Neuordnung" (Pollock
1932). Im Anschluß an die ältere Diskussion über die Möglichkeit einer sozialisti-
schen Planwirtschaft und anfangs durchaus in Übereinstimmung mit der marxisti-
schen Theorietradition wurde schon relativ früh behauptet, daß der "gegenwärtige
Stand der planwirtschaftliehen Theorie" es zwar nicht erlaube, " ein bis in die
Einzelheiten ausgeführtes Bild einer Planwirtschaft zu zeichnen", aber "doch
alle ökonomischen Voraussetzungen zu ihrer Verwirklichung gegeben zu sein"
schienen (Pollock 1932; 26 f.). Offen und strittig waren zu dieser Zeit allein die po-
litischen und gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen und die Frage, ob eine
solche Neuordnung sich eher in Form einer kapitalistischen oder in Form einer
sozialistischen Planwirtschaft durchsetzen ließe. Unter dem Eindruck der national-
sozialistischen Machtübernahme und der wirtschaftspolitischen Maßnahmen des
neuen Regimes glaubten Pollock und, wenn auch mit größeren Vorbehalten, Man-
delbaum und Meyer davon ausgehen zu können, daß die offengelassene Frage sich
von selbst beantwortet und daß eine kapitalistische Planwirtschaft auch als politisch
möglich sich erwiesen habe. Damit aber stellte der Nationalsozialismus, pointierteren
Formulierungen aus dem Jahr 1941 zufolge, "eine neue Ordnung" dar, die sich
in der Form des Staatskapitalismus weitgehend von den Funktionen des Privatei-
gentums und den Gesetzen des Marktes abgelöst habe und auch "keine ernsthaften
Gefahren für den Bestand der neuen Ordnung erkennen" ließe (Pollock 1941 2 ;
454).
Diese Annahmen liefen auf die These hinaus, daß das Wirtschaftssystem unter
dem Nationalsozialismus nicht mehr der Systemlogik kapitalistischer Warenpro-
duktion gehorche und daß an die Stelle des für diese charakteristischen "Primats der
Ökonomie" ein "Primat der Politik" getreten sei. Der Nationalsozialismus sei im
Begriff, "eine neue Wirtschaftsordnung aufzubauen, in der der Markt durch den Be-
28 Gerbard Brandt

fehl ersetzt wird" (Pollock 1941 2 ; 447). Daß Pollock sich der Tragweite seiner
These bewußt war, ist aus Äußerungen wie der ersichtlich, daß "unter aem Staats-
kapitalismus Nationalökonomie als Sozialwissenschaft ihren Gegenstand verloren"
habe ( Pollock 1941 1 ; 217). Damit wurde dem Selbstverständnis des nationalsozia-
listischen Regimes insoweit Recht gegeben, als "in einer Befehlswirtschaft 'alle
theoretischen Gesetze der klassischen Wirtschaftstheorie ebenso wie die Theorie des
monopolistischen Wettbewerbs weitgehend keine Geltung mehr haben' " (Pollock
1941 2 ; 434, unter Berufung auf die Veröffentlichung eines nationalsozialistischen
Autors).
Hielt sich die Staatskapitalismus-These Pollocks als mehr oder weniger anfecht-
barer Beitrag zur Faschismus-Analyse auf der Ebene einer eher fachwissenschaftli-
ehen Auseinandersetzung, so gewann sie ungleich größere Tragweite mit ihrer Re-
zeption durch Horkheimer und durch die Konsequenzen, die sich daraus für die
Entwicklung der kritischen Theorie ergaben. Die These, daß "die Eingriffe des Staa-
tes in die Struktur der alten Wirtschaftsordnung 'Quantität in Qualität verwandelt',
den Monopolkapitalismus in den Staatskapitalismus überführt" hätten (Pollock
1941 2 ; 445), lieferte eine Begründung dafür, die Kritik der politischen Ökonomie
als Paradigma der kritischen Theorie aufzugeben und darüber hinaus, angesichtseines
auf der Grundlage technischer Rationalität sich selbst stabilisierenden Systems, das
komplexe Theorie- und Forschungsprogramm der frühen dreißiger Jahre auf Ideolo-
giekritik zurückzunehmen. Bei näherer Betrachtung mag auch diese Reaktion sich
noch als äußerste Konsequenz eines Krisenbewußtseins herausstellen, das der Hark-
heimer-Kreis mit der bürgerlichen Intelligenz der Weimarer Republik teilte und das
sich für ihn in der marxistischen Geschichts- und Gesellschaftstheorie artikuliert
hatte. Die Weltwirtschaftskrise signalisierte aus dieser Sicht die Endkrise und den
Zusammenbruch des Kapitalismus und ließ als alternative Entwicklungsmöglichkei-
ten allein eine sozialistische Gesellschaft oder aber eine autoritäre Ordnung erwar-
ten. Nach dem Sieg des Faschismus in Deutschland und seiner gewaltsamen Expan-
sion in Europa schien diese Alternatiye im Sinn der regressiven Lösung entschieden,
die von Pollock und Horkheimer resignierend mit der Staatskapitalismusthese und
der Formel vom "Autoritären Staat" ratifiziert wurde 13 .
Die von Pollock vertretene These von der politischen Natur des nationalsoziali-
stischen "Staatskapitalismus" wurde von Neumann, Gurland und Kirchheimer nach-
drücklich bestritten (vgl. hierzu die unmißverständlichen Äußerungen Neumanns
und Gurlands in Neumann 1942/44; 274 f. und Gurland 1941; 232), und das
gleiche gilt, wie man dem weiteren Verlauf der institutsinternen Diskussion ent-

13 Bemerkenswert ist, daß die pessimistische Ausprägung des Krisenbewußtseins bei Hork-
heimer und Adomo den Faschismus überdauerte und sich auch in der "postfaschistischen"
Phase der Nachkriegsrestauration behauptete, während sich Kirchheimer und Neumann
als Repräsentanten einer "realistischeren" Position nach dem Kriege zunehmend dem
politischen Liberalismus angenähert zu haben scheinen. Die Unabhängigkeit von politi-
schen Konjunkturen macht zweifellos nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine der
Stärken der kritischen Theorie aus.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 29

nehmen kann, auch für die weitergehenden Schlüsse und Folgerungen Horkheimers.
Ihre Auseinandersetzung mit dem strittigen Konzept hielt sich dabei eingestande-
nermaßen vorwiegend auf empirischer Ebene und war darauf abgestellt, "die Struk-
tur und Funktionsweise der deutschen Wirtschaft detailliert" darzustellen (Neu-
mann 1942/44; 274), beruhte aber offenkundig auf dem theoretischen Vorbehalt,
daß der "Begriff des 'Staatskapitalismus' selbst ... eine contradictio in adjecto"
sei (274). Maßgebend für die hier von Neumann, im wesentlichen aber auch von
Kirchheimer und Gurland verfolgte Argumentation ist ein "methodologischer
Einwand", der die empirische und die theoretische Ebene der Argumentation mit-
einander vermittelt:

"Die neue Theorie verletzt den Grundsatz, daß ein Modell oder Idealtypus aus der Realität
gewonnen sein muß und diese nicht überschreiten darf. Denn ihre Verfechter beschreiben
ein System, das dem Kapitalismus völlig fremd, das heißt tatsächlich sein direktes Gegenteil
ist, so daß ein Sprung von einer Realität zu einer anderen notwendig wird. Dieser methodolo-
gische Einwand läßt natürlich ihre Theorie nicht falsch werden, doch er zwingt sie, in genauer
Darstellung zu zeigen, daß der deutsche Kapitalismus zu existieren aufhörte. Sie können näm·
lieh nicht nur auf Tendenzen innerhalb des Kapitalismus verweisen, um zu zeigen, daß diese
Tendenzen notwendig ein System der Machtpolitik ohne Ökonomie hervorbringen müssen;
vielmehr müssen sie ihre Auffassung für jedes der betreffenden Systeme nachweisen. In der
vorliegenden Studie werden wir allerdings die ihnen entgegengesetzte Ansicht beweisen"(Neu·
mann 1942/44; 275).

Hält man sich an das Argumentationsmuster der Faschismus-Analyse Neumanns


und Kirchheimers, so bestand zunächst weitgehende Übereinstimmung mit Hork-
heimer und Pollock darin, daß die rechtlichen Institutionen bereits im vorfaschisti-
schen Deutschland, und auch in anderen kapitalistischen Industriegesellschaften,
grundlegende Veränderungen erfahren hatten und daß diese Veränderungen durch
eine fundamentale Schwächung rechtsstaatlicher Garantien charakterisiert waren.
Neumann hat sie in der Untersuchung über.die "Herrschaft des Gesetzes" und im
Anschluß daran in seinem Aufsatz über den Funktionswandel des Gesetzes im
Recht der bürgerlichen Gesellschaft zusammengefaßt (Neumann 1936 und 1937).
Kirchheimer hat die widerspruchsvolle Logik dieses Prozesses insbesondere anhand
der verfassungsrechtlichen Entwicklung in der Weimarer Republik untersucht
(Kirchheimer 1930) und darüber hinaus Wandlungen in der Struktur des politischen
Kompromisses als Reflex elementarer Veränderungen in der Wirtschafts- und
Sozialstruktur des entfalteten Kapitalismus aufgezeigt (Kirchheimer 1941 2 ). Wie
der von Neumann diagnostizierte Funktionswandel des Gesetzes verweisen diese
Veränderungen auf die Auflösung von Rechtsgarantien zugunsten eines ungehemm-
ten Kampfes zwischen hierarchisch organisierten rivalisierenden Machtgruppen
(Kirchheimer 1941 1 ; 271 f.). Damit aber schienen genau die Veränderungen im
Institutionensystem des nationalsozialistischen Deutschlands benannt zu sein, die
Pollock und Horkheimer veranlaßten, vom Übergang zu einer Befehlswirtschaft
und zu einem "autoritären Staat" zu sprechen, und auch Neumann und Kirchhei-
mer zufolge schien die Logik dieser Veränderungen in einer Politisierung der Öko-
30 Gerhard Brandt

nomie wie des gesellschaftlichen Lebens insgesamt zu bestehen: "Die Verfügung


über den Staatsapparat ist daher der Angelpunkt, um den sich alles andere dreht.
Dies ist die einzig mögliche Bedeutung des Primats der Politik über die Ökonomie"
(Neumann 1942/44; 312). Anders freilich als Pollock und Horkheimer blieben Neu-
mann und Kirchheimer bei diesen Erscheinungsformen rechtlich-institutioneller
Veränderungen und der Ideologie des nationalsozialistischen Systems nicht stehen,
sondern bemühten sich, dem materialistischen Anspruch ihrer Analyse Rechnung
zu tragen, indem sie diese Veränderungen auf die ihrerseits veränderten Produk-
tions- und Machtverhältnisse bezogen. Sie betonten, daß auch der neu entstandene
Apparat der Wirtschaftslenkung sich, wenn auch im Rahmen autoritär gesetzter
Normen, an die Regeln technischer Rationalität halten muß. Subjekt der büro-
kratischen Eingriffe ist kein übermächtiger und homogener "autoritärer Staat";
letztlich stehen hinter ihnen vielmehr die Interessen rivalisierender Machtgruppen,
des Monopolkapitals, der Wehrmacht, der nationalsozialistischen Partei und, mit
sich verringerndem Einfluß, der staatlichen Bürokratie (Neumann 1942/44; 542,
691). Neumann zufolge war das nationalsozialistische Regime geradezu dadurch
gekennzeichnet, daß es nicht einen einheitlichen und omnipotenten Staat, den
"Leviathan" des Thomas Hobbes' verkörperte, sondern eine Auflösungs- und Ver-
fallsform staatlicher Autorität, den durch Machtrivalitäten zersetzten und dadurch
nur um so unmenschlicheren und unberechenbareren "Behemoth" (Neumann
1942/44; 541 f. in Verbindung mit 16). Damit aber gibt das nationalsozialistische
Regime sich zugleich als Produkt und Variante des entfalteten Monopolkapitalis-
mus zu erkennen. Ist die Rivalität organisierter Machtgruppen in den Machtkonzen-
trationen des Monopolkapitalismus angelegt, so ist Macht auch unterm National-
sozialismus weiterhin gebunden an private Verfügungsgewalt über Produktionsmit-
tel. Als entscheidende Differenz gegenüber der vorausgegangenen Phase des Mono-
polkapitalismus hat nach der Argumentation Neumanns, Kirchheimers und Gur-
lands nicht die Ablösung politischer Macht von privater Verfügungsgewalt, sondern
deren Umverteilung zugunsren alter und neuer Machtgruppen zu gelten, wobei die
imperialistischen Expansionsziele und die Unterdrückung der Arbeiterklasse und
ihrer Organisationen das gemeinsame Interesse konstituieren. Das nationalsozia-
listische System ist Monopol- und Befehlswirtschaft in einem und läßt sich Neu-
mann zufolge am treffendsten nicht als "Staatskapitalismus", sondern als "tota-
litärer Monopolkapitalismus" kennzeichnen (Neumann 1942/44; 313).
Die Beiträge Neumanns, Kirchheimers und Gurlands zur Faschismusanalyse und
ihre Position in der Kontroverse über die Staatskapitalismus-These interessieren hier
nicht in erster Linie wegen ihrer inhaltlichen Befunde, obwohl diese in ihrer Bedeu-
tung für eine Theorie des Spätkapitalismus kaum überschätzt werden können und
bis heute auf eine Aufarbeitung warten (vgl. hierzu den Beitrag von R. Erd in die-
sem Heft). Von Interesse sind sie vielmehr aufgrund ihrer theoretisch-methodolo-
gischen Implikationen und aufgrund der Perspektiven, die sich von ihnen her für
die Möglichkeit einer empirischen Sozialwissenschaft in kritischer Absicht ergeben.
Festgehalten werden kann dabei, daß Neumann, Kirchheimer und Gurland, jeden-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 31

falls in den hier erörterten Arbeiten, eine Revision des Paradigmas der Kritik der
politischen Ökonomie nicht für erforderlich halten und den Faschismus nicht, wie
Horkheimer und Adorno in der "Dialektik der Aufklärung", als äußerste Konse-
quenz fortschreitender Naturbeherrschung, sondern als Produkt einer historischen
Gesellschaftsformation, des modernen Kapitalismus in seiner monopolistischen Ent-
wicklungsphase, begriffen. Weder Neumann und Kirchheimer noch Gurland begnü-
gen sich damit, diese Gesellschaftsformation nach dem Muster der hegelianischen
Marx-Tradition als "expressive Totalität" aufzufassen und den deutschen Faschis-
mus aus einer Grund- oder Kernstruktur "abzuleiten" oder als notwendiges Produkt
der kapitalistischen Entwicklung auszugeben. Ihre besondere theoretische Leistung
besteht vielmehr darin, die rechtlichen und politischen Institutionen des bürgerli-
chen Staates, durchaus in Übereinstimmung mit dem Paradigma der materialisti-
schen Kapitalismus-Theorie, als relativ autonome Sphäre zu begreifen und, wie
Neumann im Anschluß an die Webersehe Herrschaftssoziologie oder aber, wie
Kirchheimer, unter Rekurs auf die ältere Demokratie-Theorie -uri(Cdie-Marxsche
Bonapartismus-These auf Bezüge für die Reproduktion des modernen Kapitalis-
mus zu analysieren.
Damit ist zugleich eine zweite Implikation methodologischer und wissenschafts-
theoretischer Art angegeben, die von unmittelbarem Interesse für die heute am
Institut geführte Diskussion ist. Neumann, Kirchheimer und Gurland waren offen-
sichtlich davon überzeugt, an der Möglichkeit einer theoretisch angeleiteten Sozial-
forschung festhalten zu können, und bedienten sich, wie insbesondere Neumanns
opus magnum, aber auch die historische Studie von Rusche und Kirchheimer
(1939) zeigen, in reflektierter Weise des Instrumentariums der empirisch-analyti-
schen Sozialwissenschaften. Und sie blieben schließlich, und darin liegt eine dritte
und nicht unproblematische Implikation ihrer Arbeiten über den Faschismus, den
praktisch-politischen Perspektiven der materialistischen Theorietradition verpflich-
tet und vertrauten, wenn auch nicht ungebrochen, weiterhin auf das politische
Potential der Arbeiterklasse (vgl. Neumann 1942/44; 546 f., 5 50). Söllner zu-
folge kommt darin "ein von Anfang an gegebener differenter Praxisbezug zum Aus-
druck", der seiner etwas personalisierenden biographischen Argumentation zufolge
auf unterschiedliche Erfahrungskontexte und, wenn man so will, Muster politischer
Sozialisation in der Weimarer Republik zurückweist (Söllner 1979; 169 f., 202;
und ähnlich 1978; 48). Wichtiger und theoretisch relevant ist, daß die Überzeugung
vom Klassencharakter des Kapitalismus und von der Reproduktion klassenbeding-
ter Widerspruchspotentiale bei Neumann die Faschismuserfahrung und die Re-
flexion einstmals vertretener Positionen überdauerte und daß die den Anhängern
der Staatskapitalismus-These zugeschriebene "zutiefst pessimistische Ansicht",
die Herrschenden seien "völlig frei, den Charakter ihrer Herrschaft zu bestimmen",
und "ihr System der Massenbeherrschung ... so flexibel, daß es der Möglichkeit
nach als von innen unverwundbar erscheint", von ihm nicht geteilt wurde. Er glaub-
te vielmehr, "daß die Widersprüche des Kapitalismus in Deutschland auf einem
höheren und deshalb auch gefährlicheren Niveau wirksam sind, auch wenn diese
32 Gerbard Brandt

Widersprüche durch einen bürokratischen Apparat und durch die Ideologie der
Volksgemeinschaft verdeckt werden" (Neumann 1942/44; 278). Neumann und,
wenn auch weniger dezidiert, Kirchheimer und Gurland hielten nicht nur am Para-
digma der materialistischen Kapitalismus-Theorie, sondern auch an der von der ma-
terialistischen Theorietradition behaupteten Einheit von Kapitalismus-, Klassen-
und, wenn auch mit Vorbehalten, Revolutions-Theorie fest 14 •
Einiges spricht somit dafür, daß die in den dreißiger und vierziger Jahren am In-
stitut für Sozialforschung entstandenen Arbeiten Neumanns, Kirchheimers und
Gurlands nicht nur aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung, sondern auch aufgrund
ihrer theoretischen Orientierung eine Alternative zur kritischen Theorie Horkhei-
mers, Adornos und Pollocks darstellten. Bei dieser Orientierung handelte es sich,
in der sicher nicht ganz unvoreingenommenen Darstellung J ays, um die "basic
assumptions ... of a more orthodox Marxism, stressing the centrality of monopoly
capitalism, although with considerable refinement" (1973; 166); und vermutet
werden kann, daß der Widerspruch dieser Annahmen zur Position Horkheimers,
Pollocks und auch Adornos den Kern der am Institut geführten Kontroverse aus-
machte. Daß die Auseinandersetzung mit so großer Intransigenz geführt wurde und
keine Perspektiven für eine Verständigung eröffnete, wird verständlich erst, wenn
man die Grundorientierung Neumanns, Kirchheimers und Gurlands auf das ur-
sprüngliche Theorieprogramm Horkheimers bezieht. Dabei stellt sich ·heraus, daß
diese Orientierung in ihrer Komplexität außerordentlich genau dem Horkheimer-
schen Programm einer von der Gesellschaftstheorie des historischen Materialismus
angeleiteten und auf politische Praxis angelegten Sozialforschung entsprach und
dieses Programm in konsequenter Weise ergänzte und weiterführte. Vieles spricht
dafür, daß Neumann, Kirchheimer und Gurland deswegen auf so massive Abwehr
stießen und ohne Einfluß auf die weitere Entwicklung der kritischen Theorie blie-
ben, weil sie den Anspruch in Erinnerung riefen, der sich einmal mit dieser Theorie
verbunden hatte. Das Programm einer materialistischen Sozialwissenschaft, das ihre
Arbeiten enthalten, ist, so gesehen, weniger als Alternative denn als Ansatzpunkt
zur Rekonstruktion der kritischen Theorie zu verstehen. Es gilt dies um so mehr, als
die Arbeiten Neumanns und Kirchheimers aufgrund ihrer inhaltlichen Ausrichtung
Anregungen zu einer politischen Analyse auch des gegenwärtigen postfaschistischen
Kapitalismus liefern, die im übrigen in nach dem Kriege entstandenen Veröffentli-
chungen eine erste Ausführung und Konkretisierung erfahren haben 15 •

14 Ober die Entwicklung, die das Denken Gurlands, Kirchheimers und Neumanns nach dem
Kriege nahm, und insbesondere über die ihnen vielfach nachgesagte "Positionsverschie-
bung", fehlen gesicherte Erkenntnisse. VV).. hierzu die divergierenden Darstellungen bei
Jay {1973; 166 ff.), Söllner {1978; 35,46 ff.) und den Beitrag von R. Erd.
15 Antizipiert finden sich bei Kirchheimer und Neumann insbesondere Strukturveränderun·
gen des politischen Systems, die heute im Rahmen der sog. Korporatismus-Diskussion er-
örtert werden. VV).. hierzu insbesondere die nach dem Kriege entstandenen Arbeiten Neu-
manns in der von Söllner herausgegebenen Aufsatzsammlung {1978), Kirchheimers "Wand-
lungen der politischen Opposition" aus dem Jahr 1957 und die Beiträge von Müller-Jentsch
und Erd in diesem Heft.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 33

4.

Die Anfang der siebziger Jahre einsetzenden Versuche, die Forschungsarbeiten des
Instituts theoretisch neu zu begründen, knüpfen nicht unmittelbar an die materiali-
stische "Unterströmung" der Institutstradition an, sondern an das Werk eines
Autors, der dem Institut nur sehr vorübergehend und flüchtig verbunden war, auch
wenn er in der öffentlichen Diskussion gelegentlich der Frankfurter Schule zuge-
rechnet wird. Die Verbindung A. Sohn-Rethels mit den Begründern der kritischen
Theorie geht zwar auf die zwanziger Jahre zurück und reichte über wenn auch sehr
ambivalente engere Kontakte in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre bis zu einer
neuerlichen Annäherung in den letzten Lebensjahren Adornos 16 . Die Rezeption sei-
nes Werkes am Institut für Sozialforschung wurde jedoch weniger durch diese Ver-
bindung als durch die Erfahrungen der Studentenbewegung vermittelt, die Sohn-
Rethel Ende der sechziger Jahre "entdeckte" und vorübergehend in die Mentoren-
rolle einrücken zu lassen schien, die vordem die Begründer der kritischen Theorie
innegehabt hatten. Maßgebend hierfür mochte gewesen sein, daß die auf die zwanzi-
ger und dreißiger Jahre zurückgehenden Arbeiten Sohn-Rethels, die seit 1970 in
schneller Folge veröffentlicht wurden, aufgrund ihrer Thematik wie ihres politi-
schen Engagements dem Selbstverständigungsbedürfnis der wissenschaftlichen
Intelligenz ungleich mehr entgegenkamen als die späte kritische Theorie. Nicht zu
übersehen ist jedoch, daß das Werk Sohn-Rethels in mancher Hinsicht dem ur-
sprünglichen Programm der Theorie entspricht und dieses Programm Anfang der
siebziger Jahre eher einzulösen versprach als der reduzierte Anspruch der Frank-
furter Schule. Wie dieses Programm auch verbindet der Theorieentwurf Sohn-
Rethels geschichtsphilosophische Reflexion mit gesellschaftlich-historischer Analyse
und der Intention auf eine emanzipatorische politische Praxis. Er versteht sich, in
den Worten J. Halfmanns und T. Rexroths, als "Kritik des idealistischen Denkens,
das seiner eigenen Wahrheit - als kryptomaterialistischer -überführt werden soll";
als "Versuch einer alternativen materialistischen Geschichtskonstruktion", die zu-
gleich die Grundlage einer Theorie des späten Kapitalismus bildet; und als "revo-
lutionstheoretische Perspektive, die der Denkformenkritik, späterhin insgesamt der
Kritik naturwissenschaftlich-mathematischer Grundlagen, materielle gesellschafts-
umwälzende Potenz zuschreibt" (Halfmann/Rexroth 1976; 26). Wie die kritische
Theorie stellt allerdings auch der Theorieentwurf Sohn-Rethels eine prekäre Einheit
dar, "ein theoretisches Ensemble, dessen Einheit schwer abzuschätzen ist" (25),
und wie die Theorie der Frankfurter Schule droht er an d.er mangelnden Vermitt-
lung seiner einzelnen Momente zu scheitern. Diese Schwierigkeiten haben sich in
der Rezeptionsgeschichte des Sohn-Rethelschen Entwurfs, aber auch in diesem
Entwurf selbst und seiner Ausführung durch den Autor niedergeschlagen.

16 Ober die Verbindungen Sohn-Rethels zum Institut, insbesondere zu Adomo, Benjamin


und Horkheimer, während der dreißiger Jahre und seine Wiederbegegnung mit Adomo in
der zweiten Hälfte der sechziger Jahre unterrichten die Selbstdarstellungen bei Sohn-Rethel
(1970; 8; 1978 1 ; 7 ff., 90 ff., 137 ff.) und bei Greffrath (1979).
34 Gerbard Brandt

Sonn-Rethel versteht seinen Theorieentwurf als Versuch einer materialistischen


Kritik bzw., in der militanten Terminologie der frühen Schriften, einer kritischen
Liquidierung apriorischer Erkenntnis, wie sie dem Wissenschaftsverständnis der
modernen Natur-, aber, wir. man hinzufügen kann, auch der empirisch-analytischen
Sozialwissenschaften zugrundeliegt. Angeknüpft wird damit durchaus an die der ma-
terialistischen und kritischen Theorietradition gemeinsame Intention, die Erschei-
nungsformen des herrschenden bürgerlichen Bewußtseins und den ihnen eigenen
Autonomieanspruch ihrer historischen Natur und ihrer funktionalen Rolle für die
kapitalistische Gesellschaftsform zu überführen. Hatte sich jedoch die materialisti-
sche Theorietradition bis hin zum Marxismus-Leninismus auf eine Ideologiekritik
der ökonomischen und politischen Erscheinungsformen des bürgerlichen Bewußt-
seins beschränkt, die naturwissenschaftliche Erkenntnis aber entweder ausgeklam-
mert oder, wie schon Marx, "mit einem Anschein von Selbstverständlichkeit behan-
delt" (Sohn-Rethel 1970; 28) und hatte die kritische Theorie in ihrer späten
Variante diese Erkenntnisweise in das Verfahren der Ideologiekritik einbezogen und
als paradigmatische Form verdinglichten Bewußtseins denunziert, so ist die Sohn-
Rethelsche Kritk bemüht, wissenschaftliche Erkenntnis in differenzierterer Weise
zum Gegenstand einer materialistischen Kritik zu machen.
Anders als in der marxistischen Orthodoxie werden bei Sohn-Rethel auch die
Erkenntnisformen der modernen Naturwissenschaften dem Versuch einer "geneti-
schen Erklärung" unterzogen, ohne daß indessen, wie in der radikalisierten Ideolo-
giekritik der Frankfurter Schule, ihr Wahrheitsanspruch damit in prinzipieller Weise
in Frage gestellt würde. Materialistische Erkenntniskritik zielt, einer frühen pro-
grammatischen Äußerung zu folge, darauf ab, "das Bewußtsein in bezug auf seine
Wahrheitsfrage, die Begriffe hinsichtlieb ihres Geltungscharakters aufs gesellschaft-
liche Sein" zurückzuführen (Sohn-Rethel 1978 1 ; 9), nicht, wie es an anderer Stelle
heißt, "um sie zu 'destruieren' und als bloße 'Ideologie' ad acta zu legen, sondern
um sich im Gegenteil zum Anwalt der in ihrem Zeichen von den Menschen in
ihrer Geschichte selbst abhängig gemachten Vorhaben zu machen" (8). Ausgeführt
werden soll dieses Programm in der Weise, daß die Modi wissenschaftlicher Erkennt-
nis, die "reinen Verstandesbegriffe", einer "formgenetischen Ableitung" unterwor-
fen und damit auf die Vergesellschaftungsformen oder, in der etwas esoterischen
Sprache Sohn-Rethels, auf die "Formen gesellschaftlicher Synthesis" zurückge-
führt werden. Der zugrundeliegende, das bekannte Basis-Oberbau-Theorem abwan-
delnde Gedanke lautet, daß "die gesellschaftlich notwendigen Erkenntnisformen
einer Epoche durch die Formation der gesellschaftlichen Synthesis" bestimmt
sind und daß mit "einschneidenden geschichtlichen Wandlungen", denen die gesell-
schaftliche Synthesis unterliegt, auch "die gesellschaftlich notwendige Denkweise"
sich wandelt (Sohn-Rethel 1971 2 ; 3 S).
Folgt man der Sohn-Rethelschen Ableitung, so hat als Ursprungsbedingung des
reinen Erkenntnisvermögens die Tauschabstraktion als Prinzip "funktionaler Verge-
sellschaftung" warentauschender Gesellschaften zu gelten (Sohn-Rethel 1978 1 ;
26), wie sie zuerst in der klassischen Antike und dann wiederum vor allem in der
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 35

europäischen Neuzeit aufgekommen sei. Die Erklärung selbst wird dabei nicht
durch eine empirische Geschichtsanalyse erbracht, an die W. Benjamin wohl gedacht
hatte, wenn er in einem Kommentar zu einem frühen Manuskript Sohn-Rethels von
einer "ungeheueren Beweislast" sprach (Sohn-Rethel 1971 1 ; 89), sondern durch
eine "Erweiterung der Marxschen Warenanalyse" (Sohn-Rethel 1978 1 ; 116). Eine
"Formanalyse der Ware" erst vermöchte wie die "Analyse der Verdinglichung",
von der Sohn-Rethel in früheren Texten spricht (Sohn-Rethel 1971 1 ; 85), die
"kritischen Hypothesen" zu liefern, auf die "die materialistische Methode ... für
ihre empirische Geschichtsforschung" angewiesen ist (83). Auf eine Formel ge-
bracht, besagt die formgenetische Ableitung, daß der Warentausch, wo er sich ein-
mal als regulatives Prinzip durchgesetzt hat, eine Abstraktionsleistung, die Tausch-
abstraktion, erzwingt, die als "Realabstraktion" die Einheit gesellschaftlichen Han-
deins und als "Denkabstraktion" die dazu komplementären abstrakten Verstandes-
leistungen begründet (Sohn-Rethel 1971 1 ; 46, 95). Realabstraktion meint dabei
den real sich vollziehenden Prozeß der Abstraktion von den Gebrauchshandlungen,
die das Substrat des Warenverkehrs bilden, und den Prozeß der Verdinglichung, der
sich mit der Durchsetzung des Warentauschs verbindet; Denkabstraktion die kogni-
tiven Leistungen, die die Ausführung des Warentauschs erfordert und die sich als-
bald in der Ausdifferenzierung geistiger Tätigkeiten und d. h. in der Trennung von
geistiger und körperlicher Arbeit niederschlagen.
Tatsächlich glaubt Sohn-Rethel auf diese Weise die Hauptkategorien reiner Er-
kenntnis - Raum und Zeit als homogene Kontinua, Identität, Dinglichkeit, Dasein,
Substanz, Kausalität - in streng deduktiver Weise aus der Tauschabstraktion her-
leiten zu können, wenngleich seine Bemühungen sich durchweg auf programmati-
scher Ebene halten und die wechselnden Auflistungen zentraler kategorialer Bestim-
mungen Zweifel am systematischen Charakter dieser Bemühungen aufkommen las-
sen. Ebenso betont er, daß es sich bei der formgenetischen Ableitung der Denkab-
straktion aus der Realabstraktion des Tausches nicht "nur um eine Analogie han-
delt", sondern um "einen echten Begründungszusammenhang" (Sohn-Rethel
1971 1 ; 36). Dieser Versuch, "nicht-empirische abstrakte Denkformen mathema-
tisch-naturwissenschaftlicher Provenienz genetisch auf den antiken Warentausch-
verkehr zurückzuführen", sieht sich, wie Halfmann/Rexroth (1976; 40) deutlich
machen, mit einem "Transformationsproblem" konfrontiert, bei dem es darum
geht, zu zeigen, wie "die Realabstraktion der 'Warenform' sich in die Denkabstrak-
tion der Begriffsform umsetzt" (Sohn-Rethel 1971 1 ; 46). Seine Lösung liegt darin,
daß die Realabstraktion des Tausches in der Sohn-Rethelschen Darstellung auf den
Tauschhandlungen empirischer Subjekte beruht und daß diese Handlungen subjek-
tive Leistungen kognitiver Art einschliessen, die (wie in den Operationen des
ZähJens und Messens) die Abstraktionsleistungen reinen Denken (Denkabstraktion)
begründen, wenngleich diese "Kausalität durch Handlung" den Subjekten unter
den Bedingungen des Warentauschs undurchsichtig bleiben muß (Halfmann/Rex-
roth 1976; 40; Sohn-Rethel1973 1 ; 49 f.).
Nicht völlig klar ist dabei, ob die formgenetische Erklärung wissenschaftlichen
Denkens tatsächlich dessen Wahrheits- und Geltungsanspruch unberührt läßt, wie
36 Gerbard Brandt

Sohn-Rethel zunächst postulierte. Handelt es sich bei dieser Behauptung auch um


ein sich durchhaltendes Hauptmotiv des Sohn-Rethelschen Werkes, wenngleich mit
der Maßgabe, daß der Wahrheitsanspruch rationalen Denkens erst mit der Einsicht
in die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen seiner selbst sich zu realisieren
vermag (vgl. insbesondere Sohn-Rethel 1971 1 ; 30 f., 84 f.), so erfährt sie in den
Schriften der letzten Jahre eine gewisse Einschränkung. So ist bereits in "Grundzüge
einer geschichtsmaterialistischen Erkenntnistheorie" aus dem Jahr 1965 davon die
Rede, daß mit dem Ende der "auf Warenproduktion gegründeten Gesellschaftsfor-
mationen ... auch die Geltung dieser durch Scheidung von der Handarbeit gekenn-
zeichneten Erkenntnis- und Bewußtseinsart" zu Ende ginge (Sohn-Rethel 1971 2 ;
35), und in der dritten (englischen) Fassung von "Geistige und körperliche Arbeit"
heißt es von der modernen Wissenschaft, "lt studies nature only from the viewpoint
of capitalist production" (Sohn-Rethel 1978 2 ; 132). Mit der Behauptung, die Um-
wandlung der bürgerlichen Wissenschaft in eine sozialistische mache es nicht not-
wendig, "to alter the methodological constitution of science", sondern erfordere
allein eine Änderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, ihres Verwen-
dungszusammenhangs ("the need is for 'the daily revolution which is making
science everybody's business' ") (Sohn-Rethel 19782 ; 182), wird indessen auch hier
am Begriff einer zwar historisch entsprungenen, aber zeitlos gültigen Wissenschaft
festgehalten. Bei der Veränderung des gesellschaftlichen Rahmens geht es vor allem
um die Aufhebung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit, Sohn-
Rethel zufolge das sozialstruktureHe Korrelat der Tauschabstraktion. Eben diese
Aufhebung aber wird, folgt man Sohn-Rethel, von der modernen Wissenschafts-
entwicklung antizipiert, und indem sie das tut, trägt sie selbst zur Revolutionie-
rung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse bei.
Als materialistische Kritik apriorischer Erkenntnis setzt der Theorieentwurf
Sohn-Rethels eine Theorie der Vergesellschaftung voraus, die in Umrissen bereits
in den frühen Manuskripten der dreißiger Jahre enthalten ist, ihre wenn auch noch
so fragmentarische Ausformulierung aber erst in den nach dem Krieg entstandenen
Schriften, und hier besonders im zweiten und dritten Teil von "Geistige und körper-
liche Arbeit" und' in dem im wesentlichen auf diese Textstücke sich stützenden
Traktat über "Die ökonomische Doppelnatur des Spätkapitalismus", gefunden
hat. Wie bei der Marxschen Lehre, auf die sie sich beruft und die sie zugleich er-
gänzen und weiterführen will, handelt es sich dabei um eine historische Theorie
der gesellschaftlichen Entwicklung und des modernen Kapitalismus als einer aus
einer Folge historischer Gesellschaftsformationen. Als Kernstück und verbindendes
Glied beider Theorievarianten hat der Begriff gesellschaftlicher Synthesis zu gel-
ten, der sich bereits in der frühen Schrift zur Kritik des Apriorismus findet, hier
allerdings auf den "funktionalen" Vergesellschaftungsmodus warentauschender
oder eben "synthetischer" Gesellschaften sich bezieht (Sohn-Rethel 1971 1 ; 68 f.),
während er in den späteren gesellschaftstheoretischen Texten in unspezifischer
Weise "die Funktionen" meint, "die in verschiedenen Gesellschaftsepochen den
Daseinszusammenhang der Menschen zu einer lebensfähigen Gesellschaft vermit-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 37

teln" (Sohn-Rethel 1973 1 ; 19). Gesellschaftliche Synthesis bedeutet für Sohn-


Rethel "eine Bestandsbedingung jeder Art von Gesellschaft" (19 f.), und voraus-
gesetzt wird dabei, daß die historischen Gesellschaftsformationen sich durch ihre
spezifischen Formen gesellschaftlicher Synthesis in eindeutiger Weise unterscheiden.
"Wie die Gesellschaftsformen sich entwickeln und wandeln, so auch die Synthe-
sis, die das Mannigfaltige der darin gegebenen arbeitsteiligen Abhängigkeiten der
Menschen voneinander zu einem lebensfähigen Ganzen zusammenhält" (19).
Was die evolutionstheoretische Seite der Sohn-Rethelschen Gesellschaftstheorie
angeht, so läßt sich der durch die Tauschabstraktion konstituierte Typus der Aneig-
nungsgesellschaft von den Typen der Produktionsgesellschaft, die ihm vorangehen
und die ihm folgen, unterscheiden. Die Vergesellschaftung von Produktionsgesell-
schaften beruht auf unmittelbar wirksamen Formen gesellschaftlicher Synthesis, die
im Fall naturwüchsiger Gemeinwesen durch kulturelle Normen und Verwandt-
schaftsbeziehungen und im Fall kommunistischer Gesellschaften durch den bewußt
und gemeinsam organisierten Arbeitsprozeß, in beiden Fällen also durch die unmit-
telbare Verkoppelung von Vergesellschaftung und Arbeit gebildet werden. Bei An-
eignungsgesellschaften vollzieht sich die Synthesis dagegen durch den indirekt wirk-
samen und vom Arbeitsprozeß abgelösten Nexus der Tauschbeziehungen. Waren-
verkehr und mit ihm die Tauschabstraktion haben, worauf Sohn-Rethel in bewußter
Abgrenzung von dem in diesem Punkte eher indifferenten Marx insistiert, systema-
tisch wie historisch gesehen Ausbeutung in Form unmittelbarer Herrschafts- und
Knechtschaftsverhältnisse zur Voraussetzung. Sie bilden sich charakteristischerweise
zunächst an den Rändern auf Ausbeutung beruhender Gemeinwesen, "als intereth-
nischer, außenwirtschaftlicher Verkehr" (Sohn-Rethel 1971 1 ; 93) heraus, um dann
erst, mit der Auflösung kollektiver Formen der Produktion, die Binnenstruktur der
Gesellschaft zu durchdringen "und diese in einen Nexus von wechselseitigen Aneig-
nungsbeziehungen zwischen Ausbeutern" zu verwandeln (93 f.). Wenn Sohn-Rethel
darauf besteht, daß der Warentausch als Substrat einer neuen epochalen Form ge-
sellschaftlicher Synthesis fungiert und nicht etwa jene vorgängigen Formen einer
"Appropriation des Mehrprodukts", dann offenbar deswegen, weil erst die Real-
abstraktion des Tausches die Ausbeutung und die in ihr implizierte Trennung von
geistiger und körperlicher Arbeit der unmittelbaren Produzenten dauerhaft abzusi-
chern vermag. Denn erst mit der in der Tauschabstraktion angelegten Verselbstän-
digung realer Abhängigkeitsverhältnisse erhalten diese die Qualität "einer ökono-
mischen Naturkausalität" und werden dadurch gegen die Einsicht in ihre histo-
rische Entstehung abgeschirmt.
Im Rahmen des damit vorliegenden Entwurfs einer Theorie der gesellschaftli-
chen Entwicklung, der für Sohn-Rethel offenbar auch systematisch der Kapitalis-
mustheorie als Theorie einer historischen Gesellschaftsformation vorgeordnet ist,
stellt sich der moderne Kapitalismus als eine Variante der auf den Warentausch sich
gründenden Aneignungsgesellschaft dar, die durch fortschreitende Differenzierung
und Vertiefung aus dem Vergesellschaftungsmodus der Tauschabstraktion her-
vorgegangen ist. Erst in ihr hat sich dieser Vergesellschaftungsmodus universal
38 Gerbard Brandt

durchgesetzt und vor allem auch den Arbeitsprozeß und das lebendige Arbeitsver-
mögen selbst ergriffen. "Die kapitalistische Ausbeutung ist die volle und endgül-
tige Verwirklichung des Warentauschs und der Verdinglichung- wie der philosophi-
sche Idealismus des Bürgertums die endgültige Theorie der Wahrheitsfrage über-
haupt -, weil das Gesetz des Warentauschs und der Verdinglichung seinerseits das
der Ausbeutung ist" (Sohn-Rethel 1971 1 ; 48). Gerade das, was die besondere
Differenz kapitalistischer Warenproduktion ausmachen soll, daß nämlich "Ausbeu-
tung auf der Grundlage und nach den Gesetzen des Warentauschs" und nicht wie
"in allen früheren Formen der Warenproduktion der Warentausch ... auf der Grund-
lage und nach den Gesetzen der Ausbeutung" erfolgt, weist den Kapitalismus,
wie Sohn-Rethel wiederum in bewußter Abgrenzung zur Marxschen Kritik der poli-
tischen Ökonomie argumentiert, als spezifische Form eines übergeordneten Typus
aus.
Sohn-Rethels Sichtweise der inneren Widersprüche des Kapitalismus scheint sich
demgegenüber eng an die Marxsche Interpretation anzulehnen und knüpft an die
geläufige Unterscheidung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen an.
Sind die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, die von Sohn-Rethel mit dem
Austauschprozeß bzw. den Prozessen der Zirkulation und der Distribution gleich-
gesetzt werden, zunächst in der "Marktökonomie" als Form gesellschaftlicher
Synthesis begründet, so macht sich im fortgeschrittenen Stadium der kapitalisti-
schen Entwicklung auf der Ebene der Produktivkräfte eine alternative Form gesell-
schaftlicher Synthesis geltend, die von Sohn-Rethel als "Produktions-" oder "Zeit-
ökonomie" bezeichnet wird. Beide Formen unterscheiden sich nach der Weise, in
der die "Kommensuration" der Arbeit erfolgt; im Fall der Markt- oder Wertökono-
mie über den Wertausdruck der Waren, im Fall der Produktions- bzw. Zeitökono-
mie über eine unmittelbare Abstimmung menschlicher Arbeits- und Maschinen-
leistungen auf der Grundlage einer einheitlichen Zeitbestimmung (Sohn-Rethel
1971 1 ; 146 f.; 1972; 37 ff., 47 f.). Hatte die kapitalistische Entwicklung, als Prozeß
der formellen und reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, zunächst im
Zeichen der sich durchsetzenden Marktökonomie gestanden, so ist sie in ihrem Rei-
festadium, in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften, Sohn-Rethel zufolge
seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, durch die Anforderungen der Zeit-
ökonomie geprägt, die tendenziell in Widerstreit zur überkommenen Logik der
Marktökonomie treten.
Als Indiz für das zunehmende Gewicht zeitökonomischer Anforderungen nennt
Sohn-Rethel die sich im Zusammenhang mit dem Steigen der organischen Zusam-
mensetzung des Kapitals durchsetzende Problematik der fixen Kosten, die ein wich-
tiges Thema auch der bürgerlichen Betriebswirtschaftslehre geworden ist. Konse-
quenzen und Problemlösungen betriebs- und arbeitsorganisatorischer Art, die der
sich durchsetzenden Logik der Zeitökonomie entsprechen, glaubt Sohn-Rethel in
der Wissenschaftlichen Betriebsführung F. W. Taylors und den daran anknüpfenden
Techniken der Fließproduktion zu sehen, wie sie seit Ford vor allem im Bereich
montierender Prozesse der industriellen Massenfertigung Eingang gefunden haben.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 39

Hatte er aber in früheren Schriften noch gemeint, den Taylorismus und avanciertere
Formen der Arbeitsorganisation als Organisationsstrategien zeitökonomischer Art
identifizieren zu können, die lediglich für Zwecke der Kapitalverwertung instrumen-
talisiert werden und im Prinzip für "eine von dieser Herrschaft emanzipierte Verge-
sellschaftung im Sinne eines produzentenbeherrschten Gesamtzusammenhanges
der Gesellschaft" nutzbar gemacht werden können (Sohn-Rethel 1978 3 ; 66), so
rückt er von dieser zuversichtlichen Interpretation in neueren Schriften ab. Der
Taylorismus wie auch die neuen Formen der Informations- und Organisationstech-
nologie werden nun vielmehr als Ausdruck einer "Zeitökonomie der Zweiten
Natur", einer "Zeitökonomie des Kapitals", ausgehen, die, wollte man sie "für die
von Marx für eine gemeinsame Produktionsweise geforderte substitutieren, ... der
Kompletion der Unmenschlichkeit das regelnde Gesetz" weisen würde. Festgehalten
aber wird offenbar auch weiterhin daran, daß im gegenwärtigen Stadium der kapi-
talistischen Entwicklung beide Formgesetzlichkeiten bzw. Gesellschaftsökonomien,
, ,market economy and plant economy", nebeneinander existieren, allerdings, wie
es jetzt heißt, "in the framework of market economy", und daß, langfristig gesehen,
die "plant economy" und das heißt die Zeitökonomie und die ihr entsprechende
Logik sich durchsetzen werden. Bei der Auflösung dieses Konfliktes geht es im
Prinzip darum, ob die Einheit der Kommensuration ("unity of measurement")
die Form einer "Subordination of labour to the machinery" oder die einer "sub-
ordination of the machinery to labour" annimmt (Sohn-Rethel 1978 2 ; 162).
Mit der materialistischen Theorietradition und dem ursprünglichen Programm
der kritischen Theorie befindet sich Sohn-Rethel auch darin in Übereinstimmung,
daß der von ihm entwickelte Entwurf einer geschichtsphilosophisch begründeten
Gesellschaftstheorie sich mit revolutionstheoretischen Perspektiven verbindet und
durch praktisch-politische Interessen motiviert ist. Die im Sohn-Rethelschen Werk
enthaltenen Elemente einer Revolutionstheorie ergeben sich durchaus folgerichtig
aus der begrifflichen Struktur der Gesellschaftstheprie. Von zentraler Bedeutung ist
dabei wiederum der Begriff der Zeitökonomie, der als alternatives Prinzip gesell-
schaftlicher Synthesis auf eine unmittelbare Form der Vergesellschaftung verweist,
wie sie für eine sozialistische Produktionsgesellschaft charakteristisch sein soll und
die damit zugleich als Grundlage einer revolutionären Bewegung zu gelten hat. Als
progressives und gegenüber dem konkurrierenden Mechanismus der Marktökonomie
fortschreitend sich durchsetzendes Organisationsprinzip scheint sie nicht nur eine
Voraussetzung, sondern auch eine Garantie revolutionärer politischer Praxis zu sein.
Sieht man einmal von der dem Sohn-Rethelschen Werk eigentümlichen Terminolo-
gie ab, stimmt dieser Entwurf weitgehend mit der auf eine Mechanik der Produktiv-
kraftentwicklung sich stützenden Theorie der Zweiten Internationale überein und
ist all den Einwänden ausgesetzt, die insbesondere vom "westlichen Marxismus"
gegen diese Theorie vorgebracht worden sind. Sohn-Rethel ist sich dieser Schwäche
offensichtlich bewußt und hat die objektiven Elemente seines Entwurfs durch sol-
che ergänzt, die den subjektiven und politischen Bedingungen revolutionären Han-
deins Rechnung zu tragen versuchen. Zusammengefaßt finden sie sich in der auf die
40 Gerbard Brandt

erste Auflage seines Hauptwerks zurückgehenden Formel "Put politics in com-


mand" (Sohn-Rethel 1970; 178 f.). Wie subjektive und objektive, politische und
ökonomische Bedingungen ineinandergreifen und wie sie sich im Rahmen einer kon-
sistenten Theorie begründen ließen, bleibt dabei allerdings offen. Als origineller
Beitrag zu einer Revolutionstheorie, die sich zugleich als Gesellschaftstheorie ver-
steht, kann eher die These gelten, genuine revolutionäre Praxis habe sich durch die
Aufhebung der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit auszuweisen.

"Erst die Aufhebung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse schafft die Voraussetzungen


dafür, daß die Zielbestimmung des Sozialismus auf eine klassenlose kommunistische Gesell-
schaft hin in Angriff genommen werden kann, aber dann ist die schrittweise Beseitigung der
Scheidung von Kopf- und Handarbeit der eigentliche Gradmesser des Erfolgs der sozialistischen
Entwicklung. Beseitigung der Scheidung von Kopf- und Handarbeit heißt Beseitigung einer von
den direkten Produzenten gesonderten Intelligenz überhaupt und eben darum Erzielung gesell-
schaftlicher Klassenlosigkeit (Sohn-Rethel 1973 2 ; 16).

Mit dieser These ist in der Tat ein dunkler Punkt realer revolutionärer Bewegungen
und ebenso eine Schwäche traditioneller Revolutionstheorien bezeichnet, die das
Problem der Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit ignorieren und, was die
realen Bewegungen angeht, entgegen ihrem eigenen Anspruch reproduzieren. Ihre
Ausarbeitung zu einer Theorie emanzipatorischen Handeins liegt indessen weder bei
Sohn-Rethel noch in der an seinen Entwurf anschließenden Diskussion auch nur im
Ansatz vor 17 .

5.

Die zu Beginn der siebziger Jahre einsetzende Rezeption des Sohn-Rethelschen


Werkes am Institut für Sozialforschung war wesentlich durch Anforderungen der
Forschungspraxis bestimmt und wich daher von der wenige Jahre zuvor aufgekom-
menen Sohn-Rethel-Diskussion innerhalb der Studentenbewegung ab. Dominierten
hier vor allem die geschichtsphilosophisch fundierte Erkenntniskritik und die re-
volutionstheoretischen Perspektiven, die auf ihre Bedeutung für die Selbstverstän-
digung der wissenschaftlichen Intelligenz erörtert wurden, so richtete sich die Sohn-
Rethel-Rezeption am Institut auf diejenigen Aspekte seiner Theorie, die eine ge-
sellschaftstheoretische Fundierung der Forschungsarbeiten zu ermöglichen ver-
sprachen. Dabei handelte es sich um die Elemente einer Theorie der vergesellschaf-
teten Arbeit im entfalteten Kapitalismus und um die Konzepte der Zeit- bzw. Pro-
duktionsökonomie und der Wert- bzw. Marktökonomie als konkurrierenden Verge-

17 Sohn-Rethel bekundet in seinen Reflexionen zur politischen Praxis eine gewisse Abhän-
gigkeit von politischen Konjunkturen. Berief er sich bis weit in die siebziger Jahre hinein
auf die Erfahrungen der chinesischen Kulturrevolution, so glaubt er neuerdings offenbar
auf Ansatzpunkte außerhalb des Produktionsprozesses im entwickelten Kapitalismus bauen
zu können. Vgl. hierzu weiter unten, S. 47 f., Sohn-Rethel (1970; 178ff., 1972; 66 f.; 1978:
173 ff., 181 f .. ) und den Beitragvon Schmiede/Schudlich in diesem Heft.
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 41

sellschaftungsformen der Arbeit im kapitalistisch organisierten Produktionsprozeß.


Auch wenn die praktisch-politischen Aspekte der Sohn-Rethelschen Kapitalismus-
analyse sicherlich ein wichtiges Motiv dafür bildeten, daß die Theoretisierungsbemü-
hungen gerade an diesen Autor anknüpften, war es doch das Interesse an der Ent-
wicklung einer empirisch-analytischen Theorie der Industriearbeit, die die Aufar-
beitung der Sohn-Rethelschen Schriften am Institut bestimmte. So sehr die in
diesem Zusammenhang relevanten Gedanken Sohn-Rethels, vor allem der dritte
Teil des Hauptwerks, "Geistige und körperliche Arbeit", und "Die ökonomische
Doppelnatur des Spätkapitalismus" diesem Bedürfnis entgegenkamen, so deutlich
wurde doch im Verlauf der Rezeptionsgeschichte, daß die Umsetzung des Sohn-
Rethelschen Entwurfs in eine empirisch-analytische Theorie mit einigen Schwierig-
keiten verbunden ist. Eine dieser Schwierigkeiten bestand darin, daß die zentralen
Annahmen des Entwurfs metatheoretischer Natur sind und sich nicht in empirisch-
analytische Sätze und Forschungshypothesen übersetzen lassen. Schwierigkeiten
ergaben sich weiterhin daraus, daß Sohn-Rethel, wie schon der Titel der Schrift über
die "Doppelnatur" des Spätkapitalismus ausweist, die gegenwärtige Phase der ka-
pitalistischen Entwicklung als Übergangsstadium begreifen zu können glaubt, das
durch konkurrierende Vergesellschaftungsprinzipien charakterisiert ist, und aus die-
sem Grunde die Kapitalismusanalyse auch auf zwei rivalisierende Paradigmen
gründete.
Bei der näheren Diskussion der Kategorien Sohn-Rethels zeigte sich, daß die mit
den Konzepten der Zeit- und Marktökonomie sich verbindende Annahme rivali-
sierender Formgesetzlichkeiten und damit auch die These von der Doppelnatur des
Spätkapitalismus sich in der zunächst vorliegenden Fassung nicht halten ließ. Aus
den damit angedeuteten Schwierigkeiten ergab sich die Notwendigkeit, den Sohn-
Rethelschen Theorieentwurf einer Revision zu unterwerfen; diese erfolgte, etwas
vereinfacht dargestellt, in drei Schritten, die mit drei an der kategorialen Unter-
scheidung von Zeit- und Marktökonomie sich ausrichtenden Studien zusammen-
fielen. Im Rahmen der Leistungslohnstudie wurde die Annahme Sohn-Rethels, die
Zeitökonomie repräsentiere eine mit der Marktökonomie rivalisierende und ten-
denziell system-transzendierende Form der Vergesellschaftung, zwar nicht insge-
samt in Frage gestellt, faktisch aber nur mit erheblichen Abstrichen aufrechterhal-
ten. Die Autoren vertreten die These, daß Vergesellschaftungstendenzen zeitökono-
mischer Art unter den bestehenden Produktionsbedingungen einer Überformung
durch Prinzipien der Kapitalverwertung unterliegen und sich aus diesem Grunde nur
gebrochen und deformiert durchsetzen. Beim Versuch, die Sohn-Rethelschen Kate-
gorien auch für die Fragestellungen der Studie "Computer und Arbeitsprozeß"
nutzbar zu machen, erwies es sich als unumgänglich, auch die diesen Kategorien zu-
grundeliegenden Annahmen zu überprüfen und zu reformulieren. Diese Überlegun-
gen führten zu der These, daß auch die Zeitökonomie sich als Formprinzip kapita-
listischer Vergesellschaftung darstellt und der Konflikt von Zeit- und Marktökono-
mie daher systeminternen Charakter hat. Wurde hier, wie auch in der Leistungslohn-
studie, noch daran festgehalten, daß mit fortschreitender Produktivkraftentwick-
42 Gerhard Brandt

lung die Zeitökonomie als Formprinzip kapitalistischer Produktion sich gegenüber


der Marktökonomie durchsetzen würde, so ist auch diese Annahme im Rahmen ei-
ner neuen Studie, "Bedingungen und Möglichkeiten menschengerechter Arbeitsge-
staltung im Bereich computergestützter Produktionsprozesse", problematisiert und
revidiert worden. Nähere Einsichten in die neuesten Entwicklungstendenzen der
Produktionstechnologie in der Metallverarbeitenden Industrie haben zu der Auffas-
sung geführt, daß der Konflikt von zeit- und marktökonomischen Formprinzipien,
wenn auch in von Wirtschaftszweig zu Wirtschaftszweig unterschiedlichen Ausprä-
gungen, auf absehbare Zeit ein Dauerkonflikt kapitalistischer Warenproduktion zu
bleiben verspricht. Ober die Notwendigkeit der damit angegebenen Revisionen,
ihren Inhalt und auch ihre Konsequenzen, die theoretischen wie die politisch
praktischen, besteht am Institut heute Konsens. Sie decken sich im übrigen weit-
gehend mit den Abwandlungen,die Sohn-Rethel selbst, unter dem Eindruck der an
seinem Werk geübten Kritik und historischer Erfahrungen, vorgenommen hat.
Ein erster Versuch, den Theorieentwurf Sohn-Rethels für die empirisch-histo-
risch gerichtete Forschung nutzbar zu machen, wurde mit der Leistungslohnstudie
(Schmiede/Schudlich1976) unternommen. Im Zentrum stand die kategoriale
Unterscheidung von Markt- und Produktionsökonomie. In der Studie wird die Ent-
wicklung der Leistungsentlohnung als Moment einer fortschreitenden Reorgani-
sation des Produktionsprozesses dargestellt, in der sich produktionsökonomische
gegenüber marktökonomischen Regulativen durchsetzen. Betrachtet wird dabei vor
allem die historische Periode von der "Großen Depression" der achtziger und neun-
zigerJahredes letzten Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Im Anschluß an die Tay-
lorismus-Interpretation Sohn-Rethels werden die Strategien der Betriebs- und Ar-
beitsorganisation (und mit ihnen die neu sich herausbildenden Formen des industri-
ellen Leistungslohns) als Reflex einer Entwicklungslogik begriffen, die auf der
Ebene des Produktionsprozesses wirksam und durch eine zunehmende Dominanz
der Produktions- bzw. Zeitökonomie als Form gesellschaftlicher Synthesis gekenn-
zeichnet ist. Hält man sich an die Analyse von Schmiede/Schudlich, so sind diese
Strategien einerseits auf eine Kontinuisierung des Produktionsprozesses, d. h. auf
eine Abstimmung der einzelnen Produktionsabschnitte in ihrer zeitlichen Abfolge,
andererseits, bezogen auf die einzelnen Produktionsabschnitte, auf eine Integration
von menschlichen Arbeits- und Maschinenfunktionen gerichtet. Diese hat, wie die
temporale Kontinuisierung auch einen einheitlichen Zeitmaßstab, ein System der
Zeitwirtschaft, als Bemessungs- und Zuordnungsgrundlage zur Voraussetzung
(Schmiede/Schudlich 1976; 158 f., 196 f., 207; Schmiede 1979; 10).
Ein wichtiges Moment dieser Entwicklung besteht darin, daß die Bestimmung
der Arbeitsleistung mit der Durchsetzung des industriellen Leistungslohnes den
Arbeitern entzogen und der Betriebsleitung und damit dem "disponierenden
Kopfarbeiter" überantwortet wird. Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit wird
damit vollendet. Im Zusammenhang hiermit findet eine Umorientierung der betrieb-
lichen Leistungspolitik statt. Sie ist nicht länger wie beim traditionellen Stücklohn-
system darauf gerichtet, die Arbeitsleistung so weit wie möglich zu steigern,
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 43

sondern zielt darauf, sie nach dem Pensumprinzip auf optimale, durch den Produk-
tionsfluß vorgegebene Werte einzuregulieren. Aus der Analyse selbst ergibt sich
dabei eine Ausdifferenzierung des auf die Kritik der politischen Ökonomie zurück-
gehenden und auch von Sohn-Rethel übernommenen Phasenschemas der kapitalisti-
schen Entwicklung: Das zeitökonomische Prinzip der Fließproduktion scheint sich
in einer ersten (indirekten) Phase der reellen Subsumtion auf der Ebene der Produk-
tionstechnik, vor allem in den stoffumwaldenden Prozessen der Stahlindustrie und
der Großchemie, durchzusetzen, um erst in einer zweiten (direkten) Phase mit
der wissenschaftlichen Betriebsführung und dem industriellen Leistungslohn auf die
des Arbeitskräfteeinsatzes, namentlich im Bereich der Fertigungs- und Montage-
technik, überzugreifen (Schmiede/Schudlich 1976; 238 ff.; Schmiede 1979; 5 ff.,
9 ff., und den Beitrag von Schmiede/Schudlich in diesem Heft).
Führt die Leistungslohnstudie so auch zu einer Differenzierung und Präzisie-
rung des kategorialen Schemas der Sohn-Rethelschen Theorie, so werden die Grund-
annahmen, auf die diese sich in ihrer ursprünglichen Form stützt, wie auch die aus
ihr resultierenden Perspektiven nicht ausdrücklich in Frage gestellt. Das die Reorga-
nisation des Produktionsprozesses anleitende Prinzip "einer neuen analytischen
und synthetischen Zeitwirtschaft" und mit ihm die Varianten des industriellen
Leistungslohns verweisen auf "ein neues ökonomisches Formprinzip der materiel-
len Produktion", das als Ausdruck "einer rasch zunehmenden Vergesellschaftung
des materiellen Produktionsprozesses" und damit wie bei Sohn-Rethel auch "als
alternatives Formprinzip der gesellschaftlichen Synthesis" zu gelten hat (Schmiede/
Schudlich 1976; 155 f., 196).
Eine weitergehende Revision erfuhr das kategoriale Schema Sohn-Rethels im
Rahmen der Studie "Computer und Arbeitsprozeß", die zunächst auf der Grund-
lage geläufiger industriesoziologischer Theorieansätze konzipiert worden war und in
einem relativ fortgeschrittenen Stadium der Projektentwicklung mit den
Sohn-Rethelschen Überlegungen verknüpft wurde (vgl. hierzu im einzelnen den Bei-
trag von Benz-Overhage et. al.). Wie bei der Leistungsentlohnung auch liegt es
offenbar nahe, die Computertechnologie als Instrument der betrieblichen Arbeits-
organisation zu begreifen und daraufhin zu untersuchen, ob und in welcher Weise
sie für eine Reorganisation des Arbeitsprozesses nach zeitökonomischen Kriterien
eingesetzt wird. Anhaltspunkte hierfür lieferten auch aus der industriesoziologi-
schen Literatur übernommene Funktionsbestimmungen der Computertechnologie
als Organisations- bzw. Informationstechnologie, die sich nun im Anschluß an die
Leistungslohnstudie als Durchsetzungsmodi einer Vergesellschaftungstendenz ver-
stehen zu lassen schienen. Nachdrücklicher noch als im Fall der Leistungsentloh-
nung stellte sich hier allerdings die Frage, ob die in der Nachfolge der Wissenschaft-
lichen Betriebsführung stehenden Organisationsstrategien als, wenn auch noch so
gebrochener, Ausdruck eines alternativen, auf die Vollvergesellschaftung des Pro-
duktionsprozesses hinwirkenden Formprinzips verstanden werden können oder ob
sie nicht angesichts der depravierenden Folgen fortschreitender Automation als Ka-
pitalstrategien begriffen werden müssen (vgl. hierzu Brandt et. al. 1978; 27 ff.;
44 Gerbard Brandt

Schmiede 1979; 22 f.; UHrich 1979; 422). Unter dem Eindruck mittlerweile vor-
liegender Befunde wurde diese Frage zum Anlaß einer grundlegenden Revision des
Sohn-Rethelchen Ansatzes. Auf eine Formel gebracht, besagt diese Revision, daß
die in der Reorganisation des Produktionsprozesses sich durchsetzende Produk-
tions- und Zeitökonomie nicht einer alternativen Formgesetzlichkeit korrespon-
diert, sondern "als Ökonomie der reellen Subsumtion des Arbeitsprozesses unter
den Verwertungsprozeß zu verstehen ist" (Brandt et. al. 1978; 2 7). Handelt es sich
also bei der Produktions- und Zeitökonomie wie bei der Waren- und Marktökono-
mie um eine Formgesetzlichkeit kapitalistischer Warenproduktion, so unterscheidet
sie sich von der Waren- und Marktökonomie doch dadurch, daß sie nicht "indirekt
über den Austausch vergegenständlichter Arbeit", sondern unmittelbar im Produk-
tionsprozeß selbst, auf der Stufe der "vergesellschafteten Arbeit" wirksam wird.
Mit dieser "Revision" wird nicht allein, wie es scheinen könnte, eine Fehleinschät-
zung gesellschaftlicher Entwicklungstendenzen korrigiert, sondern eine grundlegen-
de Annahme der Sohn-Rethelschen Gesellschaftstheorie infrage gestellt. Es ist die
Annahme, daß die Formgesetzlichkeit kapitalistischer Warenproduktion auf der
Tauschabstraktion und nicht auf einer im Produktionsprozeß als Verwertungspro-
zeß angelegten Realabstraktion beruht und daß warenproduzierende kapitalisti-
sche Gesellschaften als Variante warentauschender Aneignungsgesellschaften zu
gelten haben (vgl. weiter oben S. 37).
Erst diese Revision ermöglicht es - folgt man den Autoren der Studie - , die
Funktion der Computertechnologie als Organisationstechnologie im kapitalistisch
organisierten Arbeitsprozeß in adäquater Weise zu begreifen. Sie besteht darin, die
in der Dynamik der Arbeitsabstraktion schon angelegte "funktionale Identität"
von kapitalistischer Technologie und kapitalistischer Arbeitsorganisation herzustel-
len (Brandt et. al. 1978; 49 - 53). In dem Maße, in dem diese Möglichkeit genutzt
wird, geht die Arbeitsorganisation als eigenständige Dimension des kapitalistisch
organisierten Produktionsprozesses in der Organisationstechnologie auf. Nicht aus-
geschlossen wird dabei, daß unter kapitalistischen Produktionsbedingungen Markt-
und Zeitökonomie als miteinander konkurrierende Vergesellschaftungsprinzipien
auftreten und daß sie sich in der betrieblichen Wirklichkeit als gegensätzliche Anfor-
derungen geltend machen. Es handelt sich dabei jedoch "nicht mehr um einen
Konflikt alternativer Produktionsweisen, sondern zunächst um einen systemimma-
nenten Widerspruch" (38).
Wird die Sohn-Rethelsche Behauptung von der systemsprengenden Kraft zeit-
ökonomischer Vergesellschaftung damit auch hinfällig, so hält die Computer-Stu-
die doch am Gedanken eines dem System immanenten Widerstandspotentials fest.
Es hat seinen Ort im Gebrauchswert konkreter Arbeit, der zwar durch arbeitsorgani-
satorische und organisationstechnologische Strategien des Kapitals überformt wird,
unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen aber "Gegenstand und Vorausset-
zung der Arbeitsabstraktion" bleibt und insofern, wie man in Abwandlung und
Verkehrung einer von Offe im Anschluß an Engels geprägten Formel (vgl. Offe
1972; 28) formulieren könnte, eine systemfremde Bedingung einer systeminternen
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 45

Bewegung darstellt. Eingeräumt wird allerdings, daß die Bedeutung konkreter Ar-
beit sich auf eine "Restfunktion" beschränkt, die zwar "als Störpotential im Prozeß
der Kapitalverwertung wirksam werden kann" und diese "in nachhaltiger Weise
gefährden mag" (60 sowie 40 f., 66 f.), ohne daß es jedoch gerechtfertigt wäre, sie
als ein systemtranszendierendes Widerstandspotential zu interpretieren. Als Voraus-
setzung gilt dabei auch weiterhin, daß die Produktions- und Zeitökonomie als
"reelle Vergesellschaftung abstrakter Arbeit" gegenüber der Waren- und Marktöko-
nomie als "ideeller Vergesellschaftung konkreter Arbeiten" eine avanciertere Form
kapitalistischer Vergesellschaftung darstellt, die sich dieser gegenüber langfristig
gesehen durchsetzen wird. Auch wenn anerkannt wird, daß im gegenwärtigen Stadi-
um der kapitalistischen Entwicklung Anforderungen markt- und zeitökonomischer
Art in widersprüchlicher Weise koexistieren, gilt doch der zeitökonomisch durch-
strukturierte und kontinuisierte Produktionsprozeß der Stahlindustrie, auf den der
produktionsorientierte Teil dieser Studie sich bezieht, als Modell, dem technolo-
gisch weniger entwickelte Produktionszweige (und der Tendenz nach wohl auch
die private und öffentliche Verwaltung) früher oder später folgen würden.
Die Abwandlung, die das Sohn-Rethelsche Schema schließlich im Rahmen der
Arbeitsgestaltungs-Studie (Benz-Qverhage et. al. 1978; 19 f) erfahren hat, ist kri-
tisch auf eben diese Annahme von der "tendenziellen Dominanz zeitökonomischer
Imperative" (Benz-Overhage et. al. 1979; 13) bezogen und sucht sie von der Pro-
blemstellung und den absehbaren Befunden dieser Studie her zu korrigieren (vgl.
hierzu den Beitrag von Benz-Overhage et. al. in diesem Heft). Von Belang ist in
diesem Zusammenhang, daß dieses Projekt es nicht mit stoffumwandelnden Pro-
zessen zu tun hat, wie sie in der Stahl- (und auch in der chemischen) Industrie, den
Prototypen der Sohn-Rethelschen Argumentation, dominieren, sondern mit Ferti-
gungs- und Montagetechniken im Maschinenbau und in der Automobilindustrie.
Während sich die These von der tendenziellen Dominanz der Zeitökonomie für die
Stoffumwandlung zu bestätigen scheint und auch durch das Bankgewerbe als markt-
ökonomischen Ausnahmefall nicht wesentlich tangiert wird, trifft sie in der unter-
stellten Form für die zentralen Betriebseinheiten des Maschinenbaus und der Auto-
mobilindustrie offensichtlich nicht zu (Benz-Overhage et. al. 1979; 13; 1978; 95).
Sind Ansätze zu einer Durchstrukturierung des Produktionsprozesses nach zeit-
ökonomischen Kriterien auch hier zu verzeichnen, so stoßen sie doch im Maschi-
nenbau wie in der Automobilindustrie, wenn auch aufgrund unterschiedlicher tech-
nischer und ökonomischer Bedingungen, auf Schwierigkeiten und Widerstände.
Wie im einzelnen im Beitrag von Benz-üverhage et. al. dargestellt, handelt es sich
dabei in der Großserienfertigung der Automobilindustrie um nachfragebedingte
Anforderungen, die der weiteren Durchgestaltung und Kontinuisierung ohnehin
schon inflexibler Organisationsstrukturen und Produktionstechniken entgegen-
stehen. Im Maschinenbau erschwert demgegenüber die stoffliche Struktur eines
durch Einzel- und Kleinserienfertigung gekennzeichneten Produktionsprozesses die
Durchsetzung einer zeitökonomischen Produktionsstruktur (Benz-üverhage et. al.
1979; 10 f.). Ist hieraus auch nicht zu folgern, daß dem Einsatz von Computertech-
46 Gerhard Brandt

nologien in fertigenden und montierenden Produktionsprozessen engere Grenzen


gezogen sind als in der Stoffumwandlung, so weisen ihre Einsatzzwecke und ihre
Funktionen hier doch eine besondere Ausprägung auf und tragen in spezifischer
Weise den einer zeitökonomischen Durchdringung entgegenstehenden Bedingun-
gen Rechnung. Nach der Argumentation von Benz-Overhage et. al. geht es dabei im
Prinzip darum, die widersprüchlichen Anforderungen zeitökonomischer, marktöko-
nomischer und stofflicher Art, denen der Produktionsprozeß hier unterliegt, durch
die Flexibilisierung der Produktionsorganisation unter Einbeziehung von Produk-
tionsplanung und Arbeitsvorbereitung aufeinander abzustimmen (12 f.). Auf analy-
tischer Ebene resultiert daraus eine Ausdifferenzierung und Redefinition der Funk-
tionsbestimmungen des Computereinsatzes, die nun neben der Funktion der Orga-
nisationstechnologie die der Steuerungs- und Informations- sowie der Produkttech-
nologie umfassen (Benz-Overhage et. al. 1979; 14 f., 17 f.; 1978; 98ff.).
Als theoretische Konsequenz der hier nur angedeuteten Präzisierungen und
Modifikationen bleibt festzuhalten, daß die Spannungen zwischen markt- und zeit-
ökonomischen Anforderungen nicht, wie in der Computer-Studie noch angenom-
men worden war, vorübergehender Art, sondern strukturell bedingt und in der an-
haltenden Wirksamkeit konkurrierender Formgesetzlichkeiten kapitalistischer
Warenproduktion verankert sind; und daß der Spannung zwischen zeitökonomi-
schen Organisationsprinzipien und stofflicher Struktur des Produktionsprozesses
größeres Gewicht zukommt, als mit der Formel von der "Restfunktion" konkreter
Arbeit angenommen worden war. Hält man sich an diese Befunde, so läßt sich in
der Tat "die ursprüngliche Annahme der tendenziellen Dominanz zeitökonomischer
Imperative, wie sie am Beispiel der Stahlindustrie noch aufrechterhalten werden
konnte ... kaum bestätigen" (Benz-Overhage et. al. 1979; 13, 22), und es erscheint
angemessen, den ohnehin schon auf bloße Systemimmanenz zurückgenommenen
evolutionären Anspruch der Sohn-Rethelschen Kapitalismustheorie aufzugeben und
von einer anhaltenden Koexistenz markt- und produktionsökonomischer Formge-
setzlichkeiten im entwickelten Kapitalismus auszugehen.
Die hier nachgezeichnete Revision des Sohn-Rethelschen Theorieentwurfs
stimmt, wie bereits angedeutet, weitgehend mit den Modifikationen und Ergänzun-
gen überein, die dieser Entwurf bei Sohn-Rethel selbst erfahren hat und die sich vor
allem in der überarbeiteten englischen Fassung seines Hauptwerkes (Sohn-Rethel
1978 2 ) niedergeschlagen haben (vgl. hierzu die detailliertere Darstellung bei
Schmiede/Schudlich in diesem Heft). Die auf breiter Front sich durchsetzende Re-
organisation des Produktionsprozesses nach Maßgabe zeitökonomischer Kriterien
wird auch von Sohn-Rethel nicht mehr als Ausdruck einer alternativen und system-
transzendierenden Formgesetzlichkeit begriffen, sondern als ein Organisationsprin-
zip, das auf der Ebene des Produktionsprozesses eindeutig systemintegrative Funk7
tionen übernimmt. Wenn Sohn-Rethel gleichwohl an der Einheit von Kapitalismus-
und Revolutionstheorie festhält und sich dabei auch weiterhin auf Strukturverände-
rungen im Zusammenhang mit der Durchsetzung zeitökonomischer Regulative be-
ruft, dann aufgrund einer abgewandelten und verschobenen Argumentationsstruk-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 47

tur, die am Institut zwar beachtet und diskutiert, bisher aber kaum nachvollzogen
worden ist. Das Widerspruchspotential der nun auch von Sohn-Rethel als system-
interner Mechanismus verstandenen Zeitökonomie rührt nach dieser Argumentation
nicht daher, daß die lebendige Arbeit im Arbeitsprozeß eine Veränderung im Sinn
einer alternativen Form gesellschaftlicher Synthesis erfährt, sondern der Tendenz
nach, im Zuge fortschreitender Automation, aus dem Arbeitsprozeß ausgeschieden
wird. Wenngleich auch weiterhin als Resultat der Produktivkraftentwicklung ver-
standen, formiert sich das emanzipatorische Potential des lebendigen Arbeitsvermö-
gens nach dieser Auffassung außerhalb der materiellen Produktion und gegen die
Logik, der sie gehorcht. Wie Sohn-Rethel einräumt, handelt es sich dabei freilich
um eine außerordentlich langfristige Perspektive, die für die politische Praxis und
wohl auch als Forschungsthema auf absehbare Zeit kaum unmittelbare Relevanz
gewinnen wird. Hier liegt der Grund dafür, daß die kritische Rezeption des Sohn-
Rethelschen Werkes über weite Strecken mit der weiteren Ausarbeitung dieses Wer-
kes sich deckt, jedoch zu Schlußfolgerungen führt, die von denen des Autors ab-
weichen.

6.

Bezieht man die gegenwärtige Forschungsarbeit des Instituts und die mit ihr sich
verbindenden Theoretisierungsbemühungen auf das ursprüngliche Institutspro-
gramm und seine reale Entwicklung, so lassen sich zwei mehr oder weniger bewußt
vollzogene Akzentverschiebungen feststellen. Die am Institut geleistete Arbeit hat
sich auf die empirische Forschung verlagert und konzentriert sich dabei wiederum
wie in der Frühphase der Institutsgeschichte vor der Amtsübernahme Horkheimers
auf die Produktionssphäre als Moment des Reproduktionsprozesses im gegenwärti-
gen Kapitalismus. Gleichzeitig wird der Versuch unternommen, die Arbeit von der
materialistischen Kapitalismustheorie und d. h. vom Paradigma der Kritik der
politischen Ökonomie her neu zu begründen. Man könnte beide Optionen, auch
wenn sie nicht unmittelbar an die kritische Theorie der Frankfurter Schule anknüp-
fen, sondern eher durch die Rezeption und Revision des Sohn-Rethelschen Werkes
hindurch vollzogen worden sind, als Bemühungen um eine Rekonstruktion des ur-
sprünglichen Institutsprogramms verstehen.
Die Besinnung auf das Paradigma der Kritik der politischen Ökonomie geht
allerdings mit einer Auslegung einher, die von den Erfahrungen der realen gesell-
schaftlichen Entwicklung der siebziger Jahre geprägt und nicht unumstritten ist.
Ihr zufolge ist der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen (postfaschistischen) Phase
durch eine Entwicklungslogik bestimmt, die unterschiedliche und partiell konkur-
rierende Varianten oder Durchsetzungsmodi aufweist, aber trotz offensichtlicher
Krisenerscheinungen auf absehbare Zeit eine prinzipielle Stabilität des Systems ge-
währleistet. Mit St. Breuer kann behauptet werden, daß diese Entwicklungslogik be-
reits in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie thematisiert wor<IJ:n ist und
48 Gerbard Brandt

daß sie unter dem Titel der reellen Subsumtion der konkreten Arbeit unter das
Kapital das primäre Motiv der Marxschen Kapitalismustheorie darstellt. Die Marx-
Orthodoxie (aber nicht nur sie) konnte dieses Motiv übersehen, weil es schon im
Marxschen Werk von einem revolutionstheoretischen Anspruch überlagert wird, der,
"in der Substanz frühbürgerlich, weit hinter den Einsichten zurückblieb, die sich
... aus dem Begriff der reellen Subsumtion ergaben" (Breuer 1977; 43 f.) und je-
denfalls mit dem Kern der Marxschen Kapitalismusanalyse nicht deckungsgleich
ist. Wenn das Marxsche Werk eine Einheit von Kapitalismus- und Revolutionstheo-
rie nahelegt, dann ist ·diese Einheit nicht notwendiger, sondern kontingenter Art
und findet bei Marx keine systematische Begründung. Ihre Notwendigkeit konnte
nur mit Hilfskonstruktionen glaubhaft gemacht werden, wie sie von der marxisti-
schen Orthodoxie vor allem mit der "Mythologie der Produktivkraftentwicklung"
eingeführt wurden (48), der, bei allen Differenzen, auch Sohn-Rethel anhängt. Mit
der Revision des Sohn-Rethelschen Entwurfs und insbesondere des Konzepts
der Zeitökonomie verlieren auch diese Hilfskonstruktionen ihre Grundlage. Kapi-
talismus- und Revolutionstheorie bilden, wie Breuer überzeugend dargelegt hat, aus
systematischen Gründen keine notwendige Einheit und fallen, wie die kritische
Theorie bereits in den dreißiger Jahren feststellte, auch auf empirisch-historischer
Ebene, als kontingente Konstellation, auseinander, jedenfalls soweit dabei tradi-
tionelle Formen des Klassenkonflikts als Grundlage revolutionärer Praxis unter-
stellt werden. Reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital meint, so gesehen,
die fortschreitende Unterwerfung des Arbeitsvermögens unter die abstrakten Be-
dingungen der Kapitalverwertung in den Formen der Tausch- und der Arbeitsab-
straktion, ohne daß aufgrund irgendeiner Zwangsläufigkeit die Formierung eines
systemgefährdenden revolutionären Potentials unterstellt werden könnte (vgl. hier-
zu auch Oetzel1978) 18 .
Nun scheinen sich die Theoretisierungsversuche am Institut gerade mit diesem so
explizierten Paradigma von neuem der kritischen Theorie anzunähern, die ja, und
zwar gerade in ihrer späteren, reduzierten Version, unterstellt hatte, der Kapitalis-
mus sei in seiner staatskapitalistischen Form zu einem geschlossenen, sich selbst
stabilisierenden System geworden (vgl. weiter oben, Abschnitt 3). Die Ironie dieser
Wendung läge darin, daß die resignierende kritische Theorie der vierziger, fünfziger
und sechziger Jahre auf dem Umweg über die Rehabilitierung der Kritik der poli-
tischen Ökonomie eine verspätete gesellschaftstheoretische Begründung erhalten
und daß die "verschwiegene Orthodoxie", die ihr gelegentlich nachgesagt wurde
(vgl. Habermas 1963; 170), in eine manifeste oder eingestandene sich verwandelt
hätte. Rekonstruktionsversuche und kritische Theorietradition mögen in der Tat
in diesem Punkt konvergieren, und der Gedanke an einen sich selbst stabilisieren-
18 Angemerkt zu werden verdient, daß das Konzept der reellen Subsumtion, zumal in seiner
überdehnten Fassung, eine gewisse Affinität zum Rationalisierungs-Begriff Max Webers
aufweist. Von Autoren wie Breuer und, wenngleich weniger ausgeprägt, Söllner, wird daher
die Frage aufgeworden, ob das Paradigma der Kritik der politischen Ökonomie angesichts
der "Erfahrungen dieses Jahrhunderts" nicht durch das der Webersehen Soziologie ersetzt
oder doch ergänzt werden sollte (Breuer 1978; 435; Söllner 1979; 217- 226).
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 49

den Kapitalismus mag den gemeinsamen Fluchtpunkt der rivalisierenden Schulen


am Institut darstellen.
Das Paradigma der reellen Subsumtion, so wie es die Arbeiten des Instituts
heute bestimmt, unterscheidet sich jedoch in zwei wichtigen Punkten von den
spekulativen Annahmen Pollacks und Horkheimers über den sich selbst perpetu-
ierenden "Staatskapitalismus" beziehungsweise den "Autoritären Staat". Einmal
versteht sich das Paradigma der reellen Subsumtion als ein Leitfaden empirisch
ausgerichteter Forschung, der der Umsetzung in empirisch-analytische Sätze und
der Überprüfung anband methodisch gesicherter Erfahrung bedarf, auf die Gefahr
hin, daß das Theorem, um das es dabei geht, "mit bestimmten wissenschaftlichen
Erfahrungen unverträglich ist" und "als falsch und antiquiert zu gelten" hat (vgl.
Abschnitt 2, S. 10). Wie die in diesem Heft vorgestellten Forschungsvorhaben aus-
weisen, konzentriert sich die Forschungspraxis des Instituts über weite Strecken
auf die Konkretisierung der das Paradigma der reellen Subsumtion begründenden
Formgesetzlichkeiten in Gestalt empirisch gehaltvoller Aussagen und auf die syste-
matische Überprüfung dieser Aussagen. Wird damit der erfahrungswissenschaftliche
Bezug kritischer Forschung bekräftigt, so gilt auf kategorialer Ebene die mit der
Staatskapitalismusthese aufgegebene Voraussetzung, daß der Kapitalismus auch in
seiner organisierten und monopolistischen Phase auf den Formgesetzlichkeiten der
Kapitalverwertung beruht und daß diese Formgesetzlichkeiten sich nicht wider-
spruchsfrei durchsetzen. Widersprüche bestehen zum einen in der Rivalität von
Markt- und Produktionsökonomie und der ihnen korrespondierenden Formprin-
zipien von Tausch- und Arbeitsabstraktion. Sie leiten sich zum anderen daraus ab,
daß beide Formprinzipien ein stoffliches Substrat konkreter Arbeit und damit eine
(systemfremde) Bedingung voraussetzen, die in den Bewegungsgesetzen des Systems
nicht ohne Rest aufgeht. Unterliegt auch diese Annahme noch der methodischen
Überprüfung, so sichert sie die Theorie doch vor der Hypostasierung eines sich
selbst genügenden Systems, das allein den es begründenden Regeln gehorcht.
Daß diese Qualifikationen nicht bloß als Schutzbehauptungen fungieren, sondern
auch Folgen für den Gang der Forschung haben, zeigen die Ergebnisse der vorliegen-
den Studien. Gegenüber ihrer aus der Marxschen Theorie überlieferten Fassung hat
die These von der reellen Subsumtion hier zwei wesentliche Modifikationen oder
auch Einschränkungen erfahren, und bemerkenswert ist die Übereinstimmung, die
hinsichtlich der angegebenen Probleme bei Forschungsprojekten mit sehr unter-
schiedlichen Fragestellungen zu verzeichnen ist. Es handelt sich dabei einmal um
den Befund, daß der Prozeß der reellen Subsumtion und die Entwicklungslogik, die
sich in ihm äußert, im gegenwärtigen Kapitalismus politisch bzw. strategisch und
organisatorisch vermittelt ist. Anhaltspunkte hierfür liefern einerseits Studien, die
es, wie die Leistungslohnstudie, die Computerstudie, die Arbeitsgestaltungsstudie
und das Angestelltenprojekt, mit der Reorganisation des unmittelbaren Produk-
tionsprozesses zu tun haben. Mechanismen, wie sie in diesen Projekten aufgewiesen
worden sind, Leistungslohnsysteme, konventionelle Formen der Arbeitsorganisa-
tion, die EDV als Informations- und Organisationstechnologie, wirken als Vehikel
50 Gerhard Brandt

der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, sind aber ebenso auch er-
forderlich, um zwischen konkurrierenden Anforderungen produktions- und markt-
ökonomischer Art und zwischen diesen und dem stofflichen Substrat des Arbeits-
prozesses zu vermitteln. Hier ergibt sich im übrigen bei noch so verschiedenen
Ausgangspunkten und sich durchhaltenden Differenzen des theoretischen Bezugs-
rahmens eine gewisse Übereinstimmung mit dem betriebsorientierten Ansatz des
Münchner Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung, der betrieblichen Stra-
tegien zentrale Bedeutung für die Gestaltung des Produktionsprozesses zuspricht
und die Funktionen dieser Strategien gleichfalls darin sieht, zwischen den externen
und internen Bedingungen betrieblicher Produktion zu vermitteln (vgl. hierzu Alt-
mann/Bechtle/Lutz 1978; Bechtle 1980).
Politisches und organisatorisches Handeln als Aspekt und Voraussetzung der
System- und Sozialintegration bilden andererseits ein zentrales Thema auch der
Beiträge des Instituts zur Gewerkschafts- und Industrial-Relations-Forschung.
Auch wenn in dieser Hinsicht kein völliger Konsens über die Wirksamkeit der
aufgewiesenen Mechanismen unterstellt werden kann, besteht doch weitgehend
Übereinstimmung darin, daß die Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten
massiven Zwängen ausgesetzt ist, gesamtgesellschaftliche Steuerungsaufgaben zu
übernehmen. Diese Steuerungsaufgaben sind durch politische und organisatorische
Mechanismen vermittelt, die die Gewerkschaften auf der Ebene der Außenbezie-
hungen in ein Verbundsystem zu inkorporieren und auf der Ebene der Binnen-
struktur vom unmittelbaren Einfluß der Mitgliederinteressen abzukoppeln tendie-
ren. Erörtert worden ist die damit bezeichnete Transformation gewerkschaftlicher
Interessenvertretung und der industriellen Beziehung bislang im Anschluß an die
sogenannte Korporatismusthese (vgl. hierzu den Beitrag von W. Müller-] entsch in
diesem Heft). Welche gesellschaftlichen Funktionen korporative Arrangements er-
füllen und wie wirksam sie von den Gewerkschaften ausgeführt werden, könnte
verbindlicher unter Rückgriff auf die Analysen Neumanns und Kirchheimers be-
stimmt werden, die, wenn auch vor einem anderen historischen Hintergrund, gleich-
falls die politisch vermittelte Struktur des modernen Kapitalismus thematisieren,
ohne sich die irreführende Formel vom "Primat der Politik" zu eigen zu machen.
Eine zweite Modifikation betrifft die Tragweite des Theorems der reellen Sub-
sumtion. Sie besagt, daß diese sich faktisch nicht, wie das Theorem in seiner speku-
lativen Fassung unterstellt, widerspruchsfrei und reibungslos durchsetzt, sondern
auf strukturell bedingte Grenzen stößt. Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung
sind einmal im Rahmen der Studie "Computer und Arbeitsprozeß" und der an
diese anschließenden Arbeitsgestaltungs-Studie in Gestalt von "Restfunktionen"
konkreter Arbeit in computerisierten Arbeitsprozessep aufgewiesen und auf das
stoffliche Substrat des Arbeitsprozesses zurückgeführt worden. Größeres Gewicht
kommt Widerständen gegenüber kapitalistischen Formgesetzlichkeiten möglicher-
weise im Bereich der Frauenarbeit zu, wie in der Studie "Frauenarbeit in Familie·
und Fabrik" am "Beziehungsaspekt" verdeutlicht worden ist. Daß auch die Ergeb-
nisse der Gewerkschaftsforschung sich unter dem hier genannten Gesichtspunkt
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 51

interpretieren lassen, zeigt der Beitrag von Ch. Deutschmann, der den Konservativis-
mus der Gewerkschaftsbewegung auf das Interesse an der Absicherung fachlicher
Qualifikationen und damit gleichfalls auf die "Grenzen abstrakter Arbeit" (Beck/
Brater 1978; 266 ff.) zurückführt. Vieles spricht dafür, daß auch die häufigfestgestellte
chronische Instabilität korporativer Arrangements eine begründetere Erklärung
fände, wenn die Analyse dieser Arrangements nicht allein in organisationssoziolo-
gischen Kategorien erfolgte, sondern auf die widerspruchsvolle Struktur kapitali-
stischer Vergesellschaftung und deren systemfremde Bedingungen bezogen würde.
Aus alledem den Schluß zu ziehen, die Grenzen kapitalistischer Vergesellschaf-
tung stellten ein zentrales, vielleicht: das zentrale, Thema der Forschungsarbeit des
Instituts dar, wäre trivial und nichtssagend. Ausgangspunkt ist vielmehr das Theo-
rem der reellen Subsumtion, das den Prozeß der kapitalistischen Entwicklung als
fortschreitende Überformung aller systemfremden Bedingungen begreift und doch
an der Annahme festhält, daß diese Bedingungen eine Voraussetzung kapitalisti-
scher Produktion bilden. Hierin besteht eine gewisse Versicherung gegenüber dem
systemtheoretischen und organisationssoziologischen Mißverständnis, Gesellschaf-
ten wie auch Organisationen ließen sich zulänglich als sich selbst steuernde Systeme
begreifen, wie auch gegenüber dem der Marx-Orthodoxie, der Kapitalismus produ-
ziere aus seinem inneren Zusammenhang heraus ein systemsprengendes Potential.
Am Leitfaden des Theorems der reellen Subsumtion mag kritische Sozialforschung
Grenzen kapitalistischer Vergesellschaftung und damit Widerspruchspotentiale auf-
weisen, die dieser entgegenstehen, ohne doch mehr als Ansatzpunkte für politische
Praxis benennen zu können 19 •
Die Forschungstätigkeit des Instituts wird sich, orientiert an diesem Leitfaden,
auch weiterhin auf Reproduktionsprobleme des gegenwärtigen Kapitalismus im un-
mittelbaren Arbeitsprozeß konzentrieren, ohne sich allerdings in einseitiger und re-
striktiver Weise auf sie zu beschränken. In die Forschungsarbeit einbezogen werden
sollen im Rahmen der übergreifenden Frage nach Mechanismen und Grenzen der
Selbststabilisierung verstärkt politische Steuerungssysteme auf dem Gebiet der in-
dustriellen Beziehungen wie auch Widerstandspotentiale, die der Durchsetzung
politischer Steuerungsimperative entgegenstehen. Und berücksichtigt werden sollen
stärker als bisher normative Orientierungen und Bildungsprozesse, die den sozio-
kulturellen Kontext der Reproduktion entwickelter kapitalistischer Industriege-
sellschaften darstellen. Beabsichtigt ist, diese Fragestellungen einerseits in spezifi-
scher Weise für ausgewählte Beschäftigtengruppen und andererseits in Form sozi-

19 Wird auch von wohl kaum einem der Mitglieder des Instituts das der marxistischen Theo-
rietradition eigentümliche Postulat der Einheit von Theorie und Praxis in seiner ursprüng-
lichen Fassung vertreten, so sind das Forschungsprogramm und namendich die Auswahl der
Forschungsschwerpunkte doch von politisch-praktischen Erkenntnisinteressen motiviert.
Darüber hinaus sind die Institutsmitglieder darum bemüht, ihre Forschungserfahrungen im
Rahmen ihrer über ein relativ breites Spektrum streuenden Bindungen fiir die politische
Praxis nutzbar zu machen. Von vergleichbaren Forschungsinstituten dürfte sich das Insti-
tut für Sozialforschung damit allenfalls durch die Lage und die Breite des Spektrums politi-
scher Interessen unterscheiden.
52 Gerbard Brandt

alhistorischer und vergleichender Untersuchungen für längere Zeiträume und auf


internationaler Ebene zu bearbeiten. Wie bisher wird sich das Institut dabei, bezo-
gen auf die politischen Konjunkturen, eher von einer "antizyklischen" als einer
"prozyklischen" Forschungspolitik leiten lassen.
Angemerkt werden muß, daß es sich bei den hier angestellten Überlegungen um
vorläufige Perspektiven aus der am Institut geführten Diskussion handelt, möglicher-
weise aber auch um Konvergenzpunkte, auf die die zuvor referierten Theoretisie-
rungsversuche sich, innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite, einspielen werden.
Diskussion und Theoretisierungsversuche beschränken sich freilich bisher fast
ausschließlich auf die Ebene der Gesellschaftstheorie, auf deren Bedeutung für den
Forschungsprozeß und ihre Implikationen für das Verhältnis von kritischer Sozial-
forschung und politischer Praxis. Weitgehend ausgespart blieben, wenn man von der
unumgänglichen Rezeption der, allerdings kaum noch überschaubaren, Produktion
auf diesen Gebieten absieht, Methodenfragen einer kritischen Theorie und die
wissenschaftshistorischen und -soziologischen Aspekte eines kritischen und zu-
gleich erfahrungswissenschaftliehen Forschungsprogramms, obwohl sie für die wei-
tere Arbeit des Instituts von mindestens genauso großer Tragweite sind wie die
Verständigung über ein gesellschaftstheoretisches Paradigma. Daß sie vernachlässigt
wurden, erklärt sich, abgesehen von eher zufälligen Umständen und Gründen, bis
zu einem gewissen Grade aus den Zwängen einer Forschungspraxis, die auf Alimen-
tierung aus den Mitteln staatlicher Forschungsförderung angewiesen ist und den
hiermit sich verbindenden Verfahrensregelungen unterliegt. Die Forschungsvorha-
ben des Instituts bedienen sich des Instrumentariums der konventionellen empiri-
schen Sozialforschung mit einer gewissen Präferenz für qualitative Methoden (qua-
litative Interviews, Gruppendiskussionen, Arbeitsplatzanalysen, die objektive und
subjektive Aspekte der Arbeitssituation zu erheben versuchen, Inhaltsanalysen und
der historischen Forschung entlehnte Dokumentenanalysen) sowie Verfahren der
statistischen Zusammenhangsanalyse. Bestärkt fühlt das Institut sich in dieser ver-
gleichsweise konventionellen Verfahrensweise durch die Gründe, die die kritische
Theorie in ihren Anfängen für die reflektierte Adaption des Instrumentariums der
traditionellen Erfahrungswissenschaft anführte (vgl. hierzu Abschnitt 2, S. 13 f.,
S. 18 f.) und durch die Folgenlosigkeit der Bemühungen um einen alternativen Typus
empirischer Sozialforschung, wie er etwa mit dem Konzept der Aktionsforschung
sich verbindet. Will man sich nicht dem berechtigten Vorwurf einer Dogmatisierung
konventioneller empirischer Forschung und dem weitergehenden eines marxisti-
schen Empirismus aussetzen, so bedürfen die im Verlauf der Forschungsentwick-
lung vorgenommenen Optionen allerdings genauerer Begründung und, möglicher-
weise, Überprüfung. Hier liegen ganz ohne Zweifel Aufgaben, die in Angriff ge-
nommen werden müssen, wenn denn das Programm kritischer Sozialforschung
ernst gemeint ist. Angeknüpft werden kann dabei an die neuere wissenschafts-
soziologische und -historische Diskussion und an die in dieser Diskussion aufge-
worfene Frage nach den gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen der modernen
Erfahrungswissenschaften, die im übrigen in früheren Arbeiten des Instituts (Borke-
Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980 53

nau 19 34; Grossmann 19 3 5) und von Sohn-Rethel vorweggenommen worden ist;


ferner an aussichtsreichere Versuche, auf der Grundlage des interpretativen
Paradigmas der sprachanalytischen Handlungstheorie einen neuen Typus sozial-
wissenschaftlicher Erfahrung zu bestimmen. Aufgearbeitet werden könnte in dem
damit gegebenen Rahmen auch das liegen gelassene, und vielleicht verdrängte, Pro-
blem, welche Bedeutung der Ideologiekritik und ideologiekritischen Verfahren,
wenn auch nicht als Alternativtypus, so doch als Moment einer erfahrungswissen-
schaftliehen Sozialforschung in kritischer Absicht zukommt 20 •

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Rudi Schmiede!Edwin Schudlicb

Die Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem im deutschen Ka-


pitalismus

Der folgende Aufsatz faßt die Ergebnisse einer Untersuchung zusammen, die wir
1976 als Forschungsbericht vorgelegt haben (Schmiede/Schudlich 1976). Wir stellen
die Entwicklung der Leistungsentlohnung im Zusammenhang von Ökonomie,
Technik, Arbeitsorganisation und sozialen Kräfteverhältnissen dar und interpre-
tieren diesen Prozeß als Durchsetzung der von Marx so genannten reellen Sub-
sumtion der Arbeit unter das Kapital. Wir wollen zeigen, daß sich in der histori-
schen Analyse die reelle Subsumtion nicht allein mit dem Aufkommen von Lohn-
arbeit, ersten Formen der Arbeitsteilung und den Anfangen industrieller Maschine-
rie begründen läßt, sondern entscheidend davon abhängig ist, inwieweit die lebendige
Arbeit tatsächlich - in ihrer Gestaltung im einzelnen wie in ihrer Einordnung in
eine systematische, mit der kapitalistischen Technologie kompatible Betriebs- und
Arbeitsorganisation - dem Verwertungsprozeß des Kapitals unterworfen ist. Diese
Interpretation zieht zugleich theoretische Konsequenzen für die Analyse der Ent-
wicklung und Stellung der Lohnarbeit im Kapitalismus nach sich: Wir argumentie-
ren, daß sich mittels der Sohn-Rethelschen Kategorien der Wert- und Zeitökonomie
- unbeschadet ihrer teilweisen Revision durch Sohn-Rethel - erst adäquat die
Strukturveränderungen der Lohnarbeit begreifen lassen.
Die Darstellung folgt im wesentlichen der historischen Entwicklung. Wir unter-
scheiden dabei die Periode der Entstehung einer systematischen Betriebsorganisa-
tion und Leistungsentlohnung bis etwa zum Ersten Weltkrieg (Abschnitt I) und die
anschließende Periode ihrer Durchsetzung und Entfaltung (Abschnitt II); beide
Perioden lassen sich nochmals in mehrere kürzere Phasen aufgliedern. Nach diesen
darstellenden Abschnitten gehen wir in der abschließenden Diskussion unserer The-
sen (Abschnitt III) auf einige wichtige theoretische Fragen ein, die von Kritikern
unserer Untersuchung 1 angeschnitten wurden: die Verwendbarkeit der Begriffe
formelle und reelle Subsumtion als Kategorien der historischen Analyse, die be-
griffliche Fassung des Taylorismus, das Verhältnis von Wert- und Zeitökonomie und
die Widersprüche und Grenzen der zeitökonomischen Leistungspolitik.

1 Kritisch mit unserer Studie haben sich vor allem auseinandergesetzt: G. Brandt et al. (1978),
Wolf Wagner (1979), Sebastian Herkommerund Heinz Bierbaum (1979). Seit der Veröf-
fentlichung sind auch einige Arbeiten erschienen, die unsere Analyse in den Grundzügen
bzw. in spezifischen Aspekten bestätigen: Harry Braverman (1977), Helmut Spitzley (1980),
Sönke Hundt (1977), P. Hinrichs und L. Peter (1976).
58 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

I. Entstehung und Durchgestaltung einer systematische,n Betriebs- und Arbeitsor-


ganisation2

Der frühkapitalistische Produktionsprozeß

Die Entwicklung kapitalistischer Lohnarbeit als die Trennung von Kapitalbesitz und
lebendiger Arbeit erstreckte sich in Deutschland über einen langen Zeitraum. Vom
frühesten Auftreten freier Lohnarbeit im Bergbau im 13. Jahrhundert bis zur ver-
breiteten Durchsetzung des maschinellen Produktionsprozesses etwa um die Mitte
des 19. Jahrhunderts finden sich verschiedene Ursprunge und Formen der formellen
Subsumtion der Arbeit unter das Kapital - als Übergang vom handwerklichen
Kleingewerbe zum kapitalistischen Kleinbetrieb, als erste Phasen manufaktureller
Produktion, als Ausbreitung des Verlagssystems oder als Durchsetzung massenhaf-
ter einfacher Lohnarbeiten (im Eisenbahnbau und in der Landwirtschaft). So ver-
schieden die Formen der formellen Subsumtion auch waren, gemeinsam war ihnen
der Charakter des Arbeitsprozesses: die Arbeiten waren entweder handwerklicher
Natur und wurden entsprechend den tradierten Methoden verrichtet, oder sie waren
als einfache Handarbeiten diesen nach- und zugeordnet. Dieser handwerkliche Cha-
rakter der Arbeiten prägte notwendigerweise auch die Betriebs- und Arbeitsorgani-
sation: Es herrschten kleine Handwerksbetriebe vor, die bereits existierenden
Großbetriebe sind lediglich als Konglomerat handwerklicher Kleinbetriebe anzu-
sehen. Charakteristisch für die Verlags- und Großbetriebe war das System des Sub-
kontrakts innerhalb und außerhalb des Betriebs. Innerhalb der Betriebe hatte der
Subkontrakt die Gestalt des Werkmeistersystems, in dem die hochqualifizierten
Werkmeister praktisch den wie Handwerksbetrieben organisierten Betriebsteilen als
Betriebsleiter vorstanden und den Großteil der technischen Leitung und wirtschaft-
lichen Verwaltung - darunter auch die Wahl der Materialien, der Arbeitsmittel und
-methoden sowie die Festsetzung der Akkordpreise-selbst in der Hand hatten 3 •
Der Handwerkscharakter dieser Betriebe wird an den Arbeiten selbst, den Ar-
beitsmitteln und der Lohnform deutlich: die Arbeiten wurden von handwerklich
ausgebildeten Arbeitern (Gesellen) zusammen mit Gehilfen verrichtet. Dement-
sprechend war der menschliche Arbeitsaufwand die entscheidende Bestimmungs-
größe für die Produktion, ihr Ergebnis war im großen und ganzen proportional der
Arbeitszeit und -intensität des gelernten Arbeiters. Dieser konnte seine Arbeit -
vor allem ihren zeitlichen Ablauf - weitgehend frei gestalten. Zudem verlief die
Produktion selten kontinuierlich: die Arbeitszeit war unregelmäßig, noch nicht
normiert; die Arbeiter wechselten zwischen Betrieb und Landwirtschaft; die Zirku-
lation von Materialien und Waren stockte häufig. Schließlich standen die gelernten
Arbeiter dem Werkmeister nahezu als Gleiche gegenüber; dieser hatte keineswegs

2 Die Darstellung dieser Periode ist die geraffte Fassung eines schon früher veräffendichten
Aufsatzes: Rudi Schmiede (1979).
3 Vgl. zur Wichtigkeit dieses Systems in der frühkapitalistischen Industrie Sidney Pollard
(1968); außerdem Braverman (1977) und für Deutschland Wemer Sombart (1922).
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 59

ein Monopolwissen in bezug auf Arbeitsmittel und -methoden. Die Arbeitsmittel


waren meist die traditionellen Instrumente, Werkzeuge oder mechanische Apparaturen
des Handwerks; industrielle Maschinen hatten - sieht man vom Hochofen in Hüt-
tenbetrieben und einigen Maschinen im Textilgewerbe ab - kaum Bedeutung. Die
Lohnform schließlich hatte ihren Ursprung im handwerklichen Stückpreis. Im Ver-
lagssystem war der Übergang vom Stückpreis zum Stücklohn fließend; im Werkmei-
stersystem vereinbarte der Werkmeister mit dem Unternehmer Stückpreise und be-
zahlte den gelernten Arbeitern Stücklöhne; diese zahlten ihren Gehilfen wiederum
in der Regel Zeitlöhne. Die vorherrschende und der formellen Subsumtion adäqua-
te Lohnform bildete daher der Stücklohn.
Eine Unternehmerische Leistungspolitik, die einen direkten Einfluß auf den Ein-
satz und die Nutzung der Arbeitskraft erlaubt hätte, existierte mithin in dieser Pe-
riode nicht. Die Unternehmer hatten, soweit sie nicht selbst als Handwerker mitar-
beiteten, vorwiegend kommerzielle Funktionen. Der Werkmeister konnte zwar die
allgemeinen Arbeitsbedingungen (Material, Mittel, Methode) festlegen, die konkrete
Gestaltung der Arbeit jedoch oblag den gelernten Arbeitern. Der Unternehmer
konnte durch die Höhe der Stückpreise, der Werkmeister durch die Festlegung der
Stücklöhne, die gelernten Arbeiter wiederum konnten durch die Reduzierung der
Gehilfenlöhne auf die jeweiligen Arbeitszeiten und -intensitäten Einfluß nehmen,
nicht jedoch durch die Gestaltung und Vorwegbestimmung der Arbeitsbedingungen
selbst. Sieht man von direktem Zwang bzw. Entlassungsdrohungen ab, so funktio-
nierte auch die interne Organisation der Betriebe im wesentlichen mittels wertöko-
nomischer Zusammenhänge. So enthalten die ökonomischen Doktrinen bis in die
erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nur die leistungspolitische Maxime, durch die
Minimierung des Lohnsatzes die Dauer und Intensität der Leistung zu maximieren.

Der maschinelle Produktionsprozeß - die erste Phase der reellen Subsumtion

Mit der raschen Durchsetzung maschinenbestimmter Produktionsprozesse in den


wichtigsten Industriezweigen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geriet diese rein
wertökonomische Form der Organisation größerer Betriebe in die Krise; der tradi-
tionelle Stücklohn als ihr Hebel wurde durch den Zeitlohn abgelöst, um erst mit
Abschluß diesc!r Übergangsphase - im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts - in
verwandelter Form als industrieller Leistungslohn wieder die vorherrschende
Lohnform zu werden.
Charakteristisch für diese Phase ist die Umwälzung des Produktionsprozesses
durch die Ausbreitung industrieller Maschinerie, die wiederum Veränderungen der
Arbeitsteilung nach sich zog, ohne daß diese jedoch schon die Form einer systema-
tischen Betriebs- und Arbeitsorganisation angenommen hätte. Am deutlichsten
wird dies in der Eisen- und Stahlindustrie (,Großeisenindustrie'), dem technolo-
gisch am weitesten entwickelten Industriezweig. Hier existierte in Form des Hoch-
ofens schon ein großindustrielles Produktionsmittel für die erste Produktionsstufe.
60 Rudi Schmiede!Edwin Schud/ich

Die bedeutendste Veränderung des Arbeitsprozesses ging von der Ablösung der
traditionellen Schmiedeverfahren durch den Walzprozeß in der dritten Produk-
tionsstufe, der Formgebung, aus, einen Prozeß, durch den große Materialmengen
maschinell bearbeitet werden konnten. Schließlich wurde auch die zweite Stufe der
Stahlherstellung durch den Einsatz des Bessemer-Verfahrens und des Siemens-
Martin-Herdes in den sechziger Jahren einer maschinellen kontinuierlichen Mas-
sen- bzw. Chargenproduktion zugänglich. In den Grundzügen war damit - zumin-
dest in bezug auf die Produktionstechnik - in Form der ersten großen gemischten
Hüttenwerke seit etwa 1840 ein in hohem Maße kontinuierlicher, mit großen An-
lagen und Maschinen arbeitender großindustrieller Produktionsprozeß entstanden.
Der Produktionsablauf nach dem Fließprinzip, das sich über mehrere Produktions-
stufen erstreckte, unterwarf die lebendige Arbeit einem Zwangsverhältnis der Ein-
und Unterordnung in den maschinell determinierten Prozeß, das für die reelle Sub-
sumtion der Arbeit unter das Kapital charakteristisch ist. Weitere Elemente dieses
Prozesses waren die rasche Durchsetzung wissenschaftlich angeleiteter Produktions-
verfahren, die zum einen zu der Heranbildung einer Schicht von Ingenieuren und
Technikern führte, in deren Tätigkeit sich Konzeption, Leitung und Kontrolle ge-
genüber den Arbeitern verselbständigen, zum anderen die Zahl der un- bzw. an-
gelernten Arbeiter, deren konkrete Arbeit stark abhängig von der Produktions-
leitung war, rasch ansteigen ließ. Zugleich setzte sich in zunehmendem Maße der
Zeitlohn als vorherrschende Lohnform der Großeisenindustrie durch. Er erklärt sich
aus dem Charakter der Betriebs- und Arbeitsorganisation. Da der Arbeitszwang
primär durch den kontinuierlich verlaufenden Produktionsprozeß ausgeübt wurde,
die Anlagen jedoch technisch noch recht anfällig waren und die Produktivität
starken Schwankungen unterlag und oft sprunghaft anstieg, war der Einsatz des
Leistungslohns als Hebel zur Intensivierung der Arbeit entweder sinnlos oder
(wegen ,davonlaufender' Löhne) gefährlich. Die Betriebsorganisation läßt sich
demnach als natural-technische Leitung auf der Basis eines technisch integrierten
Produktionsprozesses und einer entsprechenden Anweisungs- und Kontrollhierarchie
beschreiben. Zwar war die Betriebsorganisation der frühkapitalistischen Periode
nicht mehr ausschließlich wertökonomisch, doch hatte das Management dieser
Großbetriebe noch keine ausgebildete zeitökonomische Grundlage; beide Formen
wurden durch den gegebenen technischen Zusammenhang und die technische
Hierarchie einerseits, durch die immensen Produktivitäts- und Kostenvorteile der
neuen Anlagen andererseits zusammengehalten und durch die günstigen Bedingun-
gen sich entfaltender geschützter Märkte und sehr niedriger Löhne ermöglicht.
Die Entwicklung der Eisen- und Stahlindustrie ist - ebenso wie die der chemi-
schen Industrie, in der sich, wenn auch in modifizierter Form, später ähnliche
Grundtendenzen durchsetzten- für die Beurteilung der betriebsökonomischen Ver-
änderungen deswegen wichtig, weil sich in diesen von der Verfahrenstechnik ge-
kennzeichneten Industriezweigen die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapi-
tal im Vergleich zu den Bereichen mit Fertigungs- und Montagetechnik (d. h. vor
allem den metallverarbeitenden Industrien), die gewöhnlich den Gegenstand von
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 61

Analysen des Arbeitsprozesses bilden, in umgekehrter Abfolge durchgesetzt hat.


Während dort der Entwicklung der Fließtechnik umfangreiche zeitökonomische
und arbeitsorganisatorische Restrukturierungsmaßnahmen vorausgingen (d. h.
historisch der Fordismus auf dem Taylorismus aufbaute), setzte sich hier eine vom
Fließprinzip bestimmte Technik durch, ohne zunächst von einer entsprechenden
zeitökonomischen Arbeitsorganisation begleitet zu sein oder diese gar zur Voraus-
setzung zu haben. Daran wird deutlich, daß die Zeitökonomie keineswegs durch
Taylor ,erfunden' wurde; der Taylorismus war Resultat - Taylor gab ihm nur die
ausgeführte Form - der sich real durch die Maschinerie durchsetzenden Zeitöko-
nomie des entwickelten kapitalistischen Produktionsprozesses; er erschloß ihr eine
neue Dimension, nämlich die unmittelbare zeitliche Kommensuration lebendiger
und vergegenständlichter Arbeit als zunehmend wichtige Produktivitätsbedingung
industrieller Produktion4 •
In diesem Sinn waren das Gegenstück zur Hüttenindustrie die Maschinen- und
in weiten Teilen (d. h. außer ihren prozeßtechnischen Bereichen) die Textilindu-
strie. In der Textilindustrie waren die sogenannten Fertigmachbereiche (Appretur
u. ä.) am frühesten mechanisiert; die maschinenbetriebene Spinnerei setzte sich et-
wa zwischen 1840 und 1860 durch; mechanische Webstühle folgten in größerem
Umfang erst in den siebziger Jahren, ein Teil der Weberei blieb jedoch bis nach der
Jahrhundertwende hausindustrielle Tätigkeit. Diese Maschinisierung schlug sich
einerseits in einer raschen Ausweitung ungelernter Hilfsarbeiten nieder, die über-
wiegend von Frauen und Kindern geleistet wurden; andererseits entstand ein Man-
gel an maschinengewohnten Arbeitern, die die mit dem gleichmäßigen Gang der
Maschinen verbundene Regelmäßigkeit, die ,Maschinenpünktlichkeit', akzeptierten.
Die gelernten Arbeiter wurden so rasch zu Meistern oder Zwischenmeistern in ei-
ner "streng herrschaftlichen Form des Akkordmeistersystems" (Bernhard). Eine
despotische Produktionsleitung ging hier einher mit der Disziplinierung der die
Maschine führenden Hauptarbeiter durch Stücklöhne; die Maschinenarbeiter bezahl-
ten wiederum ihren Gehilfen Zeitlöhne. Der Unterschied zum Werkmeistersystem
der früheren Periode bestand darin, daß zum einen die Hilfstätigkeiten sich auf
bloße Ergänzungsarbeiten zur Funktion der Maschine beschränkten und durch ei-
nen extremen Grad an Stumpfsinn, Entqualifizierung und inhaltlicher Entleerung
der Arbeit gekennzeichnet waren, während sie früher handwerkliche Teilarbeiten
waren; zum zweiten führte die Ausdehnung der Hilfsarbeiten zur Ausbreitung des
Zeitlohns als überwiegender Lohnform. Der wichtigste Unterschied war jedoch die
Herausbildung einer despotischen, direkt auf die lebendige Arbeit bezogenen, über
die Maschinenarbeiter vermittelten naturwüchsigen Form der Arbeitsorganisation.
Deren Charakter wird auch an den leistungspolitischen Zielsetzungen der Meister

4 Vgl. zu dieser Einschätzung die These von Alfred Sohn-Rethel, daß es "offensichtlich nicht
die Taylorsche Zeit- und Bewegungsstudie ist, die die Arbeit vergesellschaftet", sondern daß
die Relevanz des Taylorismus für die Vergesellschaftung der Arbeit darin liegt, daß dieser
"der Durchführung der dem Monopolkapitalismus inhärenten spezifischen Zeitökonomie
dient" (Sohn-Rethel19781; 159).
62 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

und Hauptarbeiter deutlich: Das Interesse der Meister bestand in der Nutzung der
maschinellen Kapazitäten, das der Maschinenarbeiter in der Einpassung der Hilfs-
arbeiten in den Maschinenablauf.
In der Maschinenindustrie vollzog sich dieser Prozeß unter etwas anderen Bedin-
gungen. Die Arbeiter wurden zunächst vor allem aus den Gesellen des metallverar-
beitenden Handwerks rekrutiert; neben diese ,Herren Mechanici' (Siemens) trat
jedoch mit der raschen Expansion des Maschinenbaus und besonders nach Einfüh-
rung der verbesserten Werkzeugmaschine in den fünfziger Jahren eine zunehmende
Zahl berufsfremder, nur noch angelernter Arbeiter, die allerdings immer noch rela-
tiv selbständig arbeiteten. Mit der Ausdehnung angelernter Arbeit ging die Be-
triebsorganisation Ende der sechziger und vor allem in den siebziger Jahren zuneh-
mend in die Form des Akkordmeistersystems über, nachdem in der Anfangsphase
noch handwerklich angeleitete Produktion mit Zeitlöhnen überwogen hatte. In
einer Meisterhierarchie verrechneten die Akkordmeister Stücklöhne, zahlten den
Arbeitern aber Zeitlöhne und erzielten aus der Differenz ihren Gewinn. Im Unter-
schied zum Textilgewerbe hatten die Arbeiter in der (weniger mechanisierten)
Metallindustrie eine wesentlich stärkere Machtposition, so daß sie durch den Kampf
gegen den Akkordgewinn in den siebzigerund achtziger Jahren allmählich dessen
Umwandlung in den Gruppenakkord durchsetzen konnten. Gerade diese Machtposi-
tion der Arbeiter und ihre vergleichsweise geringe Abhängigkeit von der noch
unentwickelten Maschinerie waren jedoch die Ursachen dafür, daß in den folgenden
Jahrzehnten die Metallverarbeitung zum Zentrum arbeits-und betriebsorganisatori-
scher Bemühungen und schließlich der Herausbildung und Anwendung der tayloristi-
schen Prinzipien wurde.
Diese erste Phase der reellen Subsumtion ist mithin durch eine Betriebs- und
Arbeitsorganisation gekennzeichnet, in der zwar bereits die maschinelle Produk-
tionsweise dominierte, in der aber der Einsatz und die Nutzung der lebendigen Ar-
beit noch ungeplant erfolgten. Zwar hatte sich eine direkt auf die lebendige Arbeit
bezogene Leistungspolitik herausgebildet, sie wurde jedoch entweder weitgehend
durch die Zwangsläufigkeit der Technik selbst ausgeübt (wie in der Hüttenindustrie),
oder sie beschränkte sich auf die despotische Leitung von Meistem und ,Vorarbei-
tern' (wie im Textilgewerbe und zum Teil in der Metallindustrie). Zeitökonomische
Zwänge hatten sich zwar schon als Maschinendruck bemerkbar gemacht, sich aber
noch nicht in einer zeitökonomisch bestimmten Arbeitsorganisation niedergeschla-
gen. Die reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital war bisher nur halb gelun-
gen.

Entstehung und Durchgestaltung einer systematischen Betriebsorganisation - die


zweite Phase der reellen Subsumtion

Mit der Großen Depression von 187 3 bis 1896 zeichnete sich für die Entwicklung
des Kapitalismus insgesamt ebenso wie für die kapitalistische Betriebsökonomie eine
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 63

entscheidende Wende ab: Während sich die kapitalistische Produktionsweise in ihrer


,äußeren' Form in den Monopolkapitalismus verwandelte, bildete sich im ,Inneren'
der großen Industrie eine neue systematische Produktionsökonomie heraus. Deren
wichtigste Elemente waren der Aufbau einer rationalisierten und bürokratisierten
zentralen Betriebsorganisation, die Entstehung einer neuen Arbeits- und Lohn-
hierarchie, die Durchsetzung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit und schließ-
lich die erneute Ausbreitung des Leistungslohns -nun in der neuen Form als in-
dustrieller Leistungslohn, der auf einer eigenständigen Leistungspolitik der Unter-
nehmen aufbaute. In einer ersten Phase, die sich etwa vom Beginn der achtziger
Jahre bis zur Jahrhundertwende erstreckte, entstand diese Betriebsorganisation
in den modernsten Werken der wichtigsten Industriezweige; in einer zweiten Phase,
von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, wurde das moderne Produk-
tionsmanagement in dem Sinn durchgestaltet, daß es sowohl theoretisch durch-
dacht und formuliert wurde als auch in der Praxis die am weitesten entwickelten
Sektoren der Wirtschaft ergriff.
Die Große Depression war nicht nur Auslöser einer Welle ökonomischer Kon-
zentration und Zentralisation des Kapitals, sondern auch Beginn einer Periode
technischer Konzentration und Integration der Unternehmen, die auf gradlinige,
kontinuierliche Produktionsabläufe, die Verkoppelung bisher technisch voneinander
unabhängiger Teilproduktionen, die Sicherung der bestmöglichen Maschinen- und
Anlagennutzung und schließlich die Einordnung der lebendigen Arbeit in diesen
technisch nach Effizienzkriterien gestalteten Produktionsprozeß abzielte. Diese
Tendenz gewann zuerst in den stoffumwandelnden Industriebereichen - und hier
vor allem in der Prozeßtechnik - aufgrund ihres von vornherein großtechnischen
und am Fließprinzip orientierten Charakters entscheidende Bedeutung (Hüttenin-
dustrie und chemische Industrie). Die auf Fertigungstechnik basierenden Monta-
geindustrien folgten erst später nach, da dort die Kontinuisierung der Produktions-
abläufe viel stärker ausgeprägte, bewußte Planungs- und Organisationsbemühungen
zur Voraussetzung hatte, sich zudem auf komplexere Fertigungsstrukturen bezog
und schließlich erst die Lösung einer Reihe technologischer Probleme (maschinelle
Materialbearbeitung und Werkstückhandhabung) erforderte, die in der Verfahrens-
technik schon die Bedingung der Produktion überhaupt waren.

Technisch am weitesten fortgeschritten war die Eisen- und Stahlerzeugung. Die Kapazität und
Effizienz der Hochöfen vervielfachte sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts; in den achtzi-
ger Jahren wurde die direkte Konvertierung (die Verarbeitung des flüssigen Roheisens in den
Stahlkonvertern) eingefuhrt, die den direkten technischen Produktionsverbund zwischen Hoch-
ofen- und Stahlwerk vertiefte; wenig später wurde auch der Walzprozeß in diese gesamtbetrieb-
liche Kontinuität einbezogen, indem der Stahl nach Zwischenaufwärmung direkt verwalzt wur-
de (allerdings war der Walzvorgang selbst noch nicht kontinuierlich, die Durchsetzung des kon-
tinuierlichen Walzens erfolgte erst in den zwanziger Jahren auf der Basis des elektrischen Ein-
zelantriebs). In der chemischen Industrie fand in demselben Zeitraum der rapide Ausbau auf-
einander aufbauender und technisch miteinander verflochtener Produktionsstufen, der soge-
nannten Kuppelproduktion statt (auf der im wesentlichen der deutsche Weltmarktvorsprung
beruhte). Verbesserungen bzw. Neuentwicklungen in der Wärmetechnik, in der Herstellung
64 Rudi Scbmiede/Edwin Scbudlicb

von Apparaten und Einrichtungen, der chemischen Verfahren selbst und vor allem in der Trans-
porttechnik (z. B. der Einsatz hydraulischen Drucks zur Beförderungvon Flüssigkeiten) schufen
hier in großem Umfang integrierte und kontinuierliche Produktionsabläufe; allerdings erreichte
diese Integration nicht das Ausmaß wie in den großen Hüttenwerken, da die Produktstruktur
im Chemiebereich sehr viel mehr diversifiziert und damit weniger massenhaft und geradlinig
ist. In der Textilindustrie, in der - sieht man von der Vergrößerung und Beschleunigung der
Maschinen ab - keine spektakulären technischen Innovationen stattfanden, setzte sich trotz-
dem oder vielleicht gerade deswegen ein wachsender Zwang zur produktionsökonomischen
Effektivierung durch. Man stellte Berechnungen zur Feststellung der theoretischen Leistung
der Maschinen an und ersetzte die Kinderarbeit durch die Arbeit erwachsener, voll leistungs-
fahiger Arbeiter, unter anderem, weil die Hilfstätigkeiten weitgehend mechanisiert und die ver-
bleibenden Tätigkeiten bis an die Grenze ihrer Intensität ausgedehnt wurden.
Anders war die Situation in den Fertigungs- und Montageindustrien, in denen der Maschinen-
bau die größte Bedeutung hatte. Zwar gab es schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-
derts Versuche der Massenproduktion, sie blieben jedoch Ausnahme. Typisch waren eher das
Fehlen der langen Produktionsperioden homogener Erzeugnisse und damit eines geradlinigen
Produktionsablaufs, die Herstellung von kleinen Serien und Einzelprodukten und schließlich,
vor allem in der Metallbearbeitung, das Problem der Ungenauigkeit der Arbeit. Die Arbeit war
in der Regel so organisiert, daß die Maschinen nach Typus zusammengruppiert, die Werkstücke
zwischen den Maschinensälen hin und her befördert und nacheinander von denselben Arbeitern
bearbeitet wurden, um am Schluß montiert zu werden (System der Platzarbeit); bei umfang-
reicheren Arbeiten (im Schiffsbau, in der Bauindustrie, im Schwermaschinen bau) wurden meh-
rere solche Produktionsgänge um die zentrale Montage gruppiert (Knotenpunktsystem). Neben
den größeren logistischen Problemen unterschied daher vor allem die weiterhin produktions-
beherrschende Bedeutung spezifischer Fachkenntnisse die Metallverarbeitung von den Prozeß-
industrien. Zwar verbesserten die Entwicklung der Revolverdrehbank und bald auch der auto-
matischen Drehmaschine sowie der Universalfräsmaschine in den sechziger Jahren, der Univer-
salschleifmaschine in den siebziger Jahren sowie genauerer Meßgeräte die technische Grundlage
für eine stärker arbeitsteilige und großindustriell organisierte Produktionsweise; diese Neuerun-
gen hielten ebenso wie die Anfange der Standardisierung und Typisierung jedoch erst in den
neunziger Jahren in größerem Umfang Einzug in der deutschen Maschinenindustrie. Selbst eine
der modernsten Maschinenfabriken in Europa, die 1898/99 "nach den besten amerikanischen
Methoden" neu errichtete Loewesche Werkzeugmaschinenfabrik in Berlin, ging erst 1926 von
der knotenpunktartigen Organisation zum linearen Arbeitsfluß über. Die neue Betriebsorgani-
sation der Massenproduktion auf der Grundlage des Fließprinzips sollte hier erst Ergebnis der
Rationalisierungswelle der zwanziger Jahre sein.

Gerade infolge der spezifischen Bedingungen konzentrierten sich in der Metallverar-


beitung die Bemühungen um Aufbau und Durchsetzung einer strikteren, Einsatz
und Nutzung der lebendigen Arbeit erfassenden Betriebsorganisation. Im Hüttenbe-
reich, in der chemischen und der Textilindustrie (hier besonders in Form von Frau-
enarbeit) hatte sich bis zur Jahrhundertwende die un- und angelernte Arbeit quanti-
tativ schon durchgesetzt; die Abtrennung der technischen Leitung war weitgehend
vollzogen, die traditionellen Meister hatten ihre Funktionen verloren; die Arbeit
hatte, wenn auch noch nicht in Form von Zeitvorgaben, oft schon den Charakter
von Pensumarbeit (d. h. definitiver Produktionsvorgaben) angenommen. In der Me-
tallindustrie dagegen war trotz der quantitativen Zunahme an- und ungelernter Ar-
beit weiterhin der Facharbeiter bestimmend, die Produktion war damit weiterhin
abhängig von Leistung und Leistungsbereitschaft des Arbeiters; dementsprechend
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 65

verfügten die Arbeiter auch noch über ein hohes Maß an Kontrolle über den Produk-
tionsprozeß.
Mit ihrem Versuch, mehr Einfluß und mehr Kontrolle über den unmittelbaren
Produktionsprozeß zu gewinnen, setzten die Unternehmen zunächst bei älteren
Traditionen an und adaptierten sie der großbetriebliehen Organisation.

Erster Schritt war eine striktere Kostenkontrolle, die den Unternehmen durch die verschärfte
Konkurrenz aufgrund der gesunkenen Profitraten aufgezwungen wurde. War die Kostenkontrol-
le früher nur indirekt in Form der Vereinbarung von Produktionspreisen mit dem Meister er-
folgt und diesem im einzelnen überlassen worden, so wurde sie jetzt zu einer zentralisierten und
systematisierten Buchfiihrung über die einzelnen Akkorde und die sonstigen Produktionskosten
ausgebaut; ihre Zentralisierung im Lohnbüro bedeutete Konzentration und Rationalisierung der
ökonomischen Betriebsführung, wenn auch vorerst nur in Geldkategorien. Durch Akkordsen-
kungen sollte die Leistung gesteigert werden, was zu heftigen Kämpfen gegen dieses "Akkord-
reißen" führte. Es zeigte sich jedoch, daß aufgrunddes Charakters des Arbeitsprozesses in Wirk-
lichkeit noch weitgehend der Meister den Akkord festsetzte, während das Lohnbüro nur die Er-
gebnisse registrierte. Dieses Problem versuchte man in zwei weiteren Schritten anzugehen: ein-
mal wurde eine Nachkalkulation eingeführt, die die Genauigkeitsbasis für die Wiederverwendung
von Akkorden bieten sollte, und zum anderen wurden die Kalkulation und die Akkordfestset-
zung auf das technische Büro übertragen, das dadurch, zusammen mit dem Meister, mit der
"Verbesserung" der Akkorde betraut wurde. Die Buchführung über die Akkorde wurde dadurch
zum "Hebel, durch den die Entlöhnungsmethode zur rein rechnerischen Behandlung der Ar-
beitskraft gemacht wird". Diese Veränderung liegt darin begründet, "daß mit dem Fortschritt
der groBindustriellen Entwicklung der bureaukratische Teil der Entlöhnungsmethode aus dem
bloßen Mechanismus der Auszahlung des verdienten Lohnes zu einer Kodifikation aller wesent-
lichen Betriebstatsachen wird, aus einem Abschluß der zurückliegenden Fabrikation zur bureau-
kratischen Vorbereitung der künftigen" (Jeidels 1907; 159 f.) 5 • Der Leistungslohn wurde so
zum Instrument nicht nur der Kontrolle der Lohnhöhe, sondern auch der Leistung. Zu dieser
Reorganisation gehörten auch die Ausgabe von aus der Erfahrung vorgegebenen Akkordtarifen
bei Massenproduktion, die Formalisierung des Buchführungs- und Kontrollapparats durch ein
Zettelsystem mit den Auftrag begleitenden Akkordzetteln und die stärkere Überwachung der
Arbeitszeit durch Torkontrolle und Buchfiihrung des Meisters über Anwesenheit (die ersten
Stechuhren wurden um die Jahrhundertwende eingeführt).
Indem das Zettelsystem ausgeformt und bürokratisch vereinfacht wurde, war eine Formali-
sierung der Betriebsorganisation unter dem Gesichtpunkt der Lohn- und Leistungskontrolle

5 Jeidels' Untersuchung der Methoden der Arbeiterentlöhnung in der rheinisch-westfälischen


Eisenindustrie sticht - zusammen mit der Analyse von Hans Ehrenberg (1906) - durch
Genauigkeit der Darstellung und Klarheit der Analyse aus den nach der ] ahrhundertwende
zahlreich erschienenen sozialwissenschaftliehen Untersuchungen über die Veränderung der
Arbeits- und Entlohnungsbedingungen hervor. Deren wichtigste sollen hier nur summarisch
genannt werden: Es handelt sich dabei zum einen um die vom Centtalverein fiir das Wohl
der arbeitenden Klassen (durch G. Schmoller, L. Bemhard, V. Böhmert, E. Francke, Tb.
Harms, G. Zacher) herausgegebenen: Untersuchungen über die Entlöhnungsmethoden in
der deutschen Eisen- und Maschinenindustrie (1906-1909), zum anderen um die vom Ver-
ein fiir Socialpolitik herausgegebenen und von Max Weber inspirierten: Untersuchungen
über Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschie-
denen Zweigen der Großindustrie (1910-1915), von denen vor allem die Untersuchung
von Dora Lande (1910) hervorzuheben ist. Als Einzelarbeiten sind noch die frühen Unter-
suchungen von Johann Lilienthai (1903) und von Ludwig Bernhard (1903) (mit vielen In-
formationen über einzelne Gewerbezweige) interessant.
66 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

und -Verrechnung erreicht, die im Prinzip auch in der heutigen indusrriellen Buchführung und
Kalkulation gültig ist. Mit der Zunahme der Nachkalkulation verlagerte sich dieser Bereich der
technischen Buchführung in ein separates Kalkulationsbüro. Die Intensivierung der Kalkulation
wurde nun durch den niedrigen Entwicklungsstand der Selbstkostenkontrolle behindert, dem
nur durch Präzisierung der Aufschreibungen und Standardisierung der Produktion nachgeholfen
werden konnte: " ... es ist nicht nur jede Arbeit genau mit Zeit- und Kostenaufwand aufzu-
zeichnen, die Erfahrung zu individualisieren, sondern die Fabrikation muß so gleichmäßig ge-
macht werden, daß wenigstens ein großer Teil der aufgezeichneten Arbeiten auch wirklich wie-
derkehrt." (Jeidels 1907; 224). Diese Kalkulation erfolgte noch in Preisgrößen, aber die Zeit-
kontrolle stand auf der Tagesordnung. Dazu fehlte jedoch bisher das Instrumentarium; die Zeit-
bestimmung für die Einzelarbeiten lag noch weitgehend in der Hand der Arbeiter; also mußte
man diese dazu bringen, bei einer empirischen Auslotung des Leistungspotentials zu kooperie-
ren. Das wurde zunächst durch die konkurrierende Vergabe von Akkordarbeiten versucht -
eine Praxis, die auch Taylor als eine Stufe in seinen Organisationsbemühungen schildert-, wo-
durch in vielen Fällen auch tatsächlich deutliche Akkordsenkungen erzielt wurden. Diese Pra-
xis stieß jedoch bald auf die organisierte Leistungszurückhaltung der Arbeiter, die die Akkord-
grenze (eine faktisch bestehende Obergrenze für den Anstieg der Akkordverdienste) rasch zu
handhaben lernten. Eine solche Pattsituation, von Jeidels die schematische Akkordgrenze ge-
nannt, drohte die Absichten der Unternehmen zu durchkreuzen; sie entwickelten dagegen die
Politik der systematisch modifizierten Akkordgrenze, die darin bestand, für einen begrenzten
Zeitraum (wiederum in Analogie zu Taylors Vorgehen) die Akkorde "davonlaufen" zu lassen,
d. h. den Arbeiter 40, 60, 100, sogar 120% mehr verdienen zu lassen, solange sich nur die Lei-
stung weiter erhöhte. Erst nach einer mehrmals sich wiederholenden Leistung auf Höchsmiveau
wurde der Akkord reduziert; damit waren an der Höchstleistung orientierte Zeitvorgaben fest-
gestellt, die dann - mittels des Leistungslohns - für die nachfolgenden Arbeiten durchgesetzt
werden konnten.
Jeidels - dessen Untersuchung sich, allerdings aus sozialwissenschaftlich beobachtender und
analytischer Perspektive, nicht aus programmatischer Managementsicht, zuweilen wie die
Taylorschen Schriften liest - formulierte die Bedeutung dieser Maßnahmen schon 1907 mit
ähnlicher Klarheit und Offenheit wie Taylor: "Was erstrebt wird, ist die Höchstgrenze der Lei-
stung, deren Verwandlung in die Akkordgrenze ist Rechenarbeit. Der Arbeiter darf nicht zu
früh durch Akkordreduktion abgeschreckt werden". "Nichts ist falscher, als im Ersatz der
schematischen Akkordgrenze durch die systematisch modifizierte der vollkommensten Fabriken
einen Fortschritt für die Arbeiter zu sehen. So paradox es klingt, ist das System, das dem Arbei-
ter erklärt, höherer Verdienst als der, den die Fabrik oder vielmehr der Meister im Auge hat,
führe zur Herabsetzung der Akkorde, für den Arbeiter vorteilhafter als das jenem betriebs-
technisch weit überlegene Verfahren, den Arbeiter ruhig einige Zeit mehr, ja doppelt so viel als
gewöhnlich verdienen zu lassen. Denn auf die Dauer bleibt die Akkordgrenze das ungeschriebe-
ne Gesetz jeder Fabrik, und der Unterschied ist schließlich nur der, daß durch das neuere Ver-
fahren mehr Arbeit aus dem Arbeiter herausgepreßt wird, der Arbeiter die Verfügung über das
Quantum seiner Leistung verliert. Während die schematische Akkordgrenze zur Leistungsgrenze
wird, macht der vollkommene Betrieb die Leistungsgrenze zur Akkordgrenze. Die tiefe Bedeu-
tung der Akkordgrenze liegt darin, daß sie den Interessenkampf zwischen Arbeiter und Fabrik
auf ein Gebiet verlegt, wo nicht wie bei Fragen der Lohnhöhe eine einmalige Entscheidung und
deren unzweifelhafte Befolgung möglich ist. Der Kampf um die Lohnhöhe verwandelt sich in
einen Kampf um die Leistung." (Jeidels 1907; 141 f.)

Jeidels Charakterisierung der betriebsökonomischen Entwicklung beruht auf seinen


in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts in der westdeutschen Eisenindustrie
durchgeführten Untersuchungen; aus seiner Darstellung wird deutlich, daß schon zu
diesem Zeitpunkt - ohne daß Taylor überhaupt in Deutschland bekannt war - die
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 67

wichtigsten Elemente der tayloristischen Betriebsorganisation verbreitet waren. Das


von ihm beschriebene Vorgehen entspricht der von Taylor selbst geschilderten Art
und Weise, wie er zur Ermittlung des Leistungspotentials der von ihm reorganisier-
ten Arbeiten gelangte und die neuen Leistungsstandards durchsetzte; auch die
betrieblichen Reorganisationsmaßnahmen, wie zunehmende Intensivierung der
Kalkulation und Buchführung über Akkorde und Zeiten, Integration von techni-
scher Leitung und Zeitkontrolle und die Einbeziehung der Meister in dieses be-
triebsökonomische System, sind die gleichen, wie Taylor sie entwickelte und pro-
pagierte. Weniger entwickelt war allerdings noch die systematische Zerlegung der
Arbeitstätigkeiten und die daraus folgende Präzisierung des Zwangstimings der
Teilarbeiten; es handelte sich in dieser ersten Phase bis zur ] ahrhundertwende um
eine Art rohes Arbeits- und Zeitstudium, das man als eine ursprüngliche Akkumu-
lation empirischen Wissens über den Einsatz und das mögliche Leistungspotential
der menschlichen Arbeitskraft bezeichnen könnte; auf ihr konnte dann in den
nächsten Perioden die systematische Akkumulation eines umfassenden Wissens über
die lebendige Arbeit und ihre Einsatzbedingungen in der Form der entwickelten
Zeitökonomie aufbauen, die das Spezifikum des modernen Managements ausmacht.
Diese Systematisierung der zeitökonomischen Leistungswirtschaft setzte sich
in der folgenden Phase bis zum Ersten Weltkrieg weniger durch spektakuläre tech-
nische und organisatorische Neuerungen als durch zahllose kleine Schritte auf
technischem Gebiet und in allen Dimensionen der Arbeitsorganisation sowie
schließlich durch die Ausbreitung dieser Tendenzen über alle Industriezweige
durch.

An technischen Neuerungen sind für diesen Zeitraum in der Hüttenindustrie - neben der lau-
fenden Verbesserung der einzelnen Aggregate, besonders der Transportmittel und der beginnen-
den Umstellung des Walzstraßenantriebs auf Elektromotoren -vor allem die Entwicklung einer
systematischen Wärmewirtschaft zu nennen, durch die die in den einzelnen Bereichen anfallen-
de Energie in Wärme- oder Gasform gezielt zur Energiegewinnung bzw. zum Antrieb von Ag-
gregaten genutzt wurde; dadurch entstand eine innerbetriebliche Verbundwirtschaft, in der die
verschiedenen Produktionsstufen nicht mehr nur durch die Kontinuität des Materialflusses,
sondern auch direkt durch die gemeinsame Energiewirtschaft miteinander verbunden wurden.
Diese Entwicklung ist in unserem Zusammenhang nicht nur wegen der dadurch stark angestie-
genen fixen Kosten, sondern vor allem wegen der damit verbundenen technischen Zeitwirt-
schaft wichtig: Implizites Funktionsprinzip dieser komplexen Verbundwirtschaft ist die Zu-
ordnung von Produktionsmengen im Zeitkontinuum, die jedoch in der technischen Betriebs-
organisation, d. h. in der Abstimmung der Anlagengrößen und-kapazitätenvergegenständlicht
ist. Die Arbeit erhält durch diesen Funktionszusammenhang ausgeprägten Pensumcharakter
(das war ja Taylors Ziel), wobei die Pensen durch die Anlagen vorgegeben sind, das Arbeits-
und Zeitstudium daher hier weniger die Veränderung der einzelnen Arbeitsgänge als die Unter-
suchung des Verhältnisses effektiver Arbeits- und Verlustzeiten und der daraus folgenden Ver-
änderung der Besetzungszahl mit Arbeitskräften zur Aufgabe hat. Entsprechende Versuche kon-
zentrierten sich deshalb vor allem auf die Siemens-Martin-Werke und die Gießereien, wo die
Arbeiten noch variabler waren. Jedoch gewann die Zeitstudie im Hüttenbereich nie die Bedeu-
tung, die sie in den Fertigungsindustrien hatte. Auch in der Textilindustrie orientierte sich mit
der Verbesserung der Maschinen die Leistungswirtschaft zunehmend an der möglichen Maschi-
nenleistung - bei gleichzeitiger Ausweitung der angelernten Arbeit, die sich z. B. im Obergang
68 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

zum Fadenknüpfen und Spulenwechsel bei laufender Maschine in der Spinnerei äußerte. Die
Leistung wurde zum Teil schon durch an den Maschinen angebrachte automatische Meßinstru-
mente kontrolliert - ein ebenfaJls stärker an den Maschinenzeiten orientierter Schrirt zum
Zeitstudium. Ähnliche Tendenzen zum technischen Verbund und zur Wärmewirtschaft lassen
sich für die chemische Industrie und die Steinzeugherstellung feststellen.
In den Fertigungs- und Montageindustrien - und hier vor allem in der Metallverarbeitung -
war es technisch schwieriger, das "wissenschaftliche Management" zu entwickeln und einzu-
führen. Alle Untersuchungen aus dieser Zeit heben jedoch den rapiden Fortschritt der Arbeits-
teilung und -zerlegung hervor, der mit einer raschen Ausweitung der Frauenarbeit (etwa an den
Werkzeugmaschinen und vor aJlem bei Hand- und kleineren Montagearbeiten in der Elektro-
und Apparateindustrie) einherging. Gelernte Arbeiter wurden zunehmend nur noch am Anfang
(Anreißer, Einrichter) und am Ende des Produktionsablaufs (Nacharbeiten, Feilen und Monta-
ge) eingesetzt. Die Durchsetzung des Pensumsprinzips war in dieser Phase innerhalb der Metall-
industrie in den zentralen mechanischen Werkstätten der Maschinen- und der Großelektroin-
dustrie sowie in Teilen der Bekleidungsindustrie und der Schuhindustrie am weitesten fortge-
schritten; die Feinmechanik befand sich mitten im Obergang, Druck-, Auto- und Lederwaren-
industrie am Anfang dieser Entwicklung. In der Maschinen- und Elektroindustrie war auch das
Arbeits- und Zeitstudium schon weiter verbreitet; so berichtet Lande aus den größeren Berliner
Maschinenfabriken, daß dort das Kalkulationsbüro umfassende Tabellen anfertigte, "in denen
alle vorkommenden Arbeiten in ihre Elemente zerlegt sind, so daß bei einer Neubestellung nur
die erforderlichen Elemente in Verbindung mit Einheitsberechnungen addiert zu werden brau-
chen, um eine von Irrtümern ziemlich freie Schätzung zu liefern ... " (Lande 1910; 331 f.).
In den meisten fUhrenden Betrieben dieser Industriezweige wurden schon vor dem Krieg
Zeituntersuchungen durchgeführt, so z. B. bei Siemens-Schuckert, Siemens & Halske, AEG,
Hanomag, Borsig u. a.; eine Reihe von Firmen übernahm unverändert oder in modifizierter
Form das Taylor-System, so z. B. die Chemische Fabrik KnoJI in Ludwigshafen, eine Automo-
bilfirma, eine Großfirma der Holzbearbeitung und das Maschinenbauunternehmen Loewe in
Berlin; in einer großen Berliner "Glasglühlicht-Gesellschaft", vermudich Osram, wurde unter
Leitung des Taylor-Schülers F. B. Gilbreth eine "Pianabteilung" eingerichtet, die die Ratio-
nalisierung von Produkten, Lagerwesen und Verwaltung betrieb, wobei z. B. ein zentrales
Schreibbüro eingerichtet und das Zehnfinger-Blindschrift-System an der Schreibmaschine statt
des bis dahin üblichen Zweifingersystems eingeführt wurde. Eine 1912 veröffentlichte Erhebung
des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes über die Arbeitsverhältnisse der Dreher zeigt, daß die
"Stoppuhrmethode" nicht nur rasch vordrang, sondern in den Großbetrieben weithin üblich
und auch schon in vielen Mittelbetrieben zu finden war. In diesem Zusammenhang wird auch
auf ein als vorbildlich betrachtetes "Stückzeitverfahren" verwiesen, das bei den staatlichen Ei-
senbahnen eingeführt wurde und auf der Taylorschen Arbeits- und Zeitstudie basiert.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß jedes der von Taylor formulierten Prinzipien
vor dem Ersten Weltkrieg in mehr oder weniger bedeutsamem Umfang Gegenstand
der betrieblichen Praxis zumindest in den entwickelten Teilen der Industrie war:
Am weitesten ausgedehnt hatte sich wahrscheinlich die neue Betriebsorganisation
im Sinn der Zentralisierung der betrieblichen Leitungsfunktionen und Leistungs-
wirtschaft. Ziemlich durchgängig fand eine Normierung der Arbeiten in Zeit- oder
Preisgrößen statt; dagegen gab es die detaillierte Arbeitszerlegung, die ja Resultat
des Arbeits- und Zeitstudiums ist, mit genauer Vorschrift der einzelnen Arbeitsvoll-
züge nur in den Großbetrieben und in einer Minderheit mittlerer Fabriken. Der Lei-
stungslohn hatte sich auf breitester Front durchgesetzt, entweder als Prämienlohn
oder als Akkord. Ein Autor drückt diese generelle Veränderung der industriellen
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 69

Lohnarbeit in dem ebenso lapidaren wie prägnanten Satz aus: Der Arbeiter "denkt
an Freitag Abend, an Akkord und Quantum" 6 .
Die entscheidende Wende in der Entwicklung der industriellen Betriebs- und
Arbeitsorganisation vollzog sich in Deutschland also etwa in dem Zeitraum zwi-
schen 1880 und dem Ersten Weltkrieg. Die zunehmende Verwirklichung einer
eigenständigen Unternehmerischen Leistungswirtschaft und -politik auf zeitökono-
mischer Grundlage in dieser Periode umfaßte die wichtigsten Schritte zu einer
reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, die auch die lebendige Arbeits-
kraft selbst in all ihren Dimensionen ergriff und den Charakter industrieller Arbeit
nachhaltig veränderte. Ursache dieser Wende waren der Druck sinkender Profitraten
während der Großen Depression, die rasch zunehmende Mechanisierung und Ma-
schinenbestimmtheit der Produktionsabläufe in Verbindung mit der steigenden
Kapitalintensität und, in wachsendem Ausmaß, die zunehmenden Fixkostenanteile.
In den stoffumwandelnden Industrien hatte sie mehr die Form einer maschinen-
orientierten Zeitwirtschaft, sie erfolgte früher als in den Fertigungsindustrien, wo
zunächst arbeitsorganisatorische Intensivierungs- und Ökonomisierungsbemühun-
gen im Vordergrund standen, ihr gegenständlicher Niederschlag in Form der Fließ-
produktion mit den entsprechenden maschinellen und Transfereinrichtungen jedoch
im wesentlichen erst Inhalt der Rationalisierungswelle in den zwanziger Jahren war.
Als Folge wird die Arbeitskraft auf Teilfunktionen reduziert und als solche dem
maschinellen Produktionsablauf eingepaßt oder -wie Sohn-Rethel sagt- aus einer
menschlichen in eine technologische Kategorie verwandelt. Die Arbeitsorganisation,
d. h. die Handhabung des Einsatzes und der Nutzung der Arbeitskraft, wurde in
dieser Periode nur in einem praktischen Sinn systematisiert, d. h. unter dem Druck
der ökonomischen Verhältnisse bildete sich quasi naturwüchsig ein den Taylorschen
Prinzipien entsprechendes Verhalten der Betriebsleitungen heraus. Eine theoreti-
sche oder programmatische Formulierung der Doktrinen des "wissenschaftlichen
Managements" dagegen ist in Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg nicht zu fin-
den. Allerdings begann die Wirkungsgeschichte der Taylorschen Arbeiten schon
früh zwischen 1908 und 1913 mit der Übersetzung seiner Hauptwerke, deren Ar-
gumente und Strategien rasch von einer Reihe prominenter Ingenieure und Be-
triebswissenschaftler aufgegriffen wurden. Erst die zu Beginn der zwanziger Jahre
institutionalisierte REFA-Lehre erfüllte diese Funktion.

6 So Richard Watteroth in seiner Untersuchung über die Erfurter Schuharbeiterschaft (1915);


einen Oberblick über die Anfänge des Taylorismus in Deutschland, allerdings vorwiegend
unter dem Aspekt der Rezeption des Taylor-Systems selbst, gibt der Aufsatz von Heidrun
Hornburg (1978).
70 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

II. Die Entfaltung der tayloristiscben Betriebs- und Arbeitsorganisation und des in-
dustriellen Leistungslohns

Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges waren in Deutschland die Grundlagen für die
Entfaltung der neuen Betriebs- und Arbeitsorganisation und des industriellen Lei-
stungslohns geschaffen. Im Verlauf ihrer bis heute andauernden Ausgestaltung wur-
den quantitativ immer weitere Bereiche der Produktion einbezogen, qualitativ wur-
den verfeinerte und effektivere Verfahren des Einsatzes und der Kontrolle der
lebendigen Arbeit und, damit verbunden, der Leistungsermittlung und -entlohnung
entwickelt und angewandt. Wenn auch die Gesamttendenz dieser Periode die
systematische Weiterentwicklung der kapitalistischen Betriebs- und Arbeitsor-
ganisation war, so erweist sie sich jedoch in der historischen Betrachtung als eine
Abfolge von Phasen kontinuierlicher Entfaltung und Phasen krisenhafter Unter-
brechung. Brüche entstanden dann, wenn technische Wandlungsprozesse, ökono-
mische Krisen oder auch politische Strategien der Lohnabhängigen die bestehende
Arbeitsorganisation und das auf sie bezogene Lohnsystem funktionsunfähig mach-
ten. Allerdings gelang es den Unternehmern im Verlauf der Entwicklung in Deutsch-
land immer wieder, jene Brüche - sei es durch Systematisierung bestehender Ver-
fahren und Methoden, sei es durch Einführung neuer Verfahren und Organisations-
formen - zu überwinden, so daß gegenwärtig die Arbeits- und Betriebsorganisation
einen Grad an Systematisierung und Effizienz wie nie zuvor erreicht hat. Diese
Entwicklung zerfällt in vier zeitlich und inhaltlich abgrenzbare Phasen, die jeweils
durch Krise und Fortentwicklung, mithin von kontinuierlichen und diskontinuier-
lichen Momenten der Entfaltung der Betriebsorganisation gekennzeichnet sind. Die
erste Phase reicht vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Weltwirtschaftskrise und
umfaßt inhaltlich die Abschaffung der Leistungslöhne in den Betrieben in der
Novemberrevolution 1918, die Einführung des REFA-Verfahrens und die große
Rationalisierungswelle der zwanziger Jahre. Die zweite Phase ist die der Weltwirt-
schaftskrise und der "lohnordnenden Maßnahmen" der NS-Regierung, die auf
diesem Wege eine systematische volkswirtschaftliche Arbeitskräfteplanung durch-
setzen wollte und unter anderem die Grundlagen für die analytische Arbeitsbewer-
tung entwickelte. Krieg und Nachkriegszeit, die eine systematische Leistungswirt-
schaft unmöglich machten, bezeichnen das Ende dieser Phase. In der sich zu Ende
des Zweiten Weltkriegs anschließenden dritten Phase versuchte das westdeutsche
Kapital mit einigem Erfolg, die auch in der Nachkriegszeit fortdauernde Krise des
Leistungslohns mit den in der vorhergehenden Phase entwickelten Verfahren und
Methoden zu beenden und die Leistungspolitik wieder systematisch zu organisieren.
Diese Maßnahmen stießen jedoch bald an zwei Grenzen: Zum einen machten die
Ende der fünfziger Jahre infolge zunehmender Prosperität und Vollbeschäftigung
entstehenden lohnpolitischen Probleme die bis dahin praktizierten Leistungslohn-
verfahren - insbesondere den REFA-Zeitakkord - zunehmend wirkungslos (,me-
thod-drift'). Zum anderen stellte die verstärkt einsetzende Tendenz zu immer
umfassenderer Mechanisierung und Automatisierung neue Anforderungen an die
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 71

Betriebs- und Arbeitsorganisation sowie die Verfahren zur Leistungsermittlung -


Anforderungen, die durch die tradierten Verfahren und Methoden kaum oder gar
nicht erfüllt werden konnten. Das war das Ausgangsproblem in der vierten Phase -
der ,Neukonzipierung der Leistungspolitik' der Unternehmer-, in der neue Formen
der Arbeitskräfteplanung und -kontrolle, der Leistungsermittlung und -vorgabe
entwickelt und in den Betrieben nach und nach durchgesetzt wurden.

Die erste Phase: Die Durchsetzung des industriellen Leistungslohns in Deutschland

Insbesondere die Zwänge der Kriegsproduktion bereiteten schon während des Er-
sten Weltkriegs in Deutschland den Weg für die Massenproduktion- und damit zu-
gleich für die Standardisierung und Normierung von Produkten und Produktions-
mitteln und schließlich auch von Arbeitszeiten und -abläufen. Vor allem in der
zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wurden die Betriebe von einer bis dahin einzig-
artigen Rationalisierungswelle erlaßt, deren hervorstechendstes Kennzeichen -
unter dem Stichwort "Fordismus" - die Einführung von Fließarbeiten in den nur
schwer kontinuisierbaren Produktionsbereichen besonders der Metall- und Textil-
industrie war. Begleitet wurden diese weitgehend arbeitsorganisatorischen Verände-
rungen von technischen Umstellungen. Beide liefen auf eine sich ausbreitende reelle
Subsumtion der lebendigen Arbeit unter das Kapital in bisher nicht oder kaum er-
faßten Bereiche hinaus 7 •
Dieser Entwicklung war unmittelbar nach Ende des Krieges eine der schwersten
Krisen der kapitalistischen Arbeitsorganisation vorausgegangen: Der bereits vor dem
Krieg angesammel!e und besonders während des Krieges weiter aufgestaute Haß der
Lohnabhängigen gegen die neue kapitalistische Betriebsorganisation und den Lei-
stungslohn als ihren ökonomischen Hebel entlud sich während der deutschen Revo-
lution 1918 in den Betrieben in einer Revolte gegen dieses System, in deren Verlauf
die Leistungslöhne abgeschafft und Zeitlöhne eingeführt wurden 8 . Je nach Kampf-

7 Der vom deutschen Reichstag eingesetzte "Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs-
und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft" (Enquete-Ausschuß) untersuchte u. a.
die Rationalisierungsmaßnahmen und deren Wirkung in einer Vielzahl von Branchen und
Unternehmen. Die Untersuchungsergebnisse wurden in teilweise sehr umfangreichen Be-
richtsbänden veröffentlicht (vgl. Ausschuß ... 1929/1930). In einem zusammengefaßten
überblick über die Rationalisierungspolitik der zwanziger Jahre geht Elisabeth Schalldach
(1930) auf die gewerkschaftliche Problematik ein, die angesichts der gegenwärtigen Ent-
wicklung höchst aktuell erscheint. Von Gewerkschaftsseite interessiert in diesem Zusam-
menhang insbesondere die Veröffentlichung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes über
die Rationalisierung in der Metallindustrie ( 19 3 z1 ).
8 Die Abschaffung der Akkordlöhne steht nur scheinbar in Widerspruch zur Tatsache, daß
vor dem Krieg eine Reihe von Arbeitskämpfen zu verzeichnen war, in denen die Arbeiter
die Beibehaltung des Akkordlohns oder seine Einfiihrung forderten. Diese Kämpfe bezogen
sich eindeutig auf die lohnpolitische Seite der Akkordentlohnung: Mit Hilfe des Akkord-
lohns hofften die Arbeiter, einen höheren Verdienst als im Zeitlohn zu erhalten. Der Kampf
gegen das Akkordsystem bis hin zu seiner Abschaffung 1918 bezog sich aber auf die lei-
stungspolitische Seite, d. h. auf die Funktion des Akkords, die Arbeitsintensität zu steigern.
72 Rudi Schmiede!Edwin Scbudlich

stärke und Widerstandskraft gelang es den Belegschaften und den von ihnen gewähl-
ten Arbeiterräten, die Forderung des "Internationalen Socialistencongresses" von
Briissel aus dem Jahre 1891 nach Abschaffung des Akkordsystems und die spätere
Ächtung des Prämienlohns durch verschiedene Einzelgewerkschaften für einige Mo-
nate, teils sogar für Jahre, zu verwirklichen. Zum Teil geschah dies ohne Billigung
oder sogar gegen den Willen der Gewerkschaftszentralen, die - wie vor allem der
Deutsche Metallarbeiterverband (DMV) - bereits zu dieser Zeit ihre Haltung zur
Akkordfrage revidiert hatten und den Akkordlohn - sofern bestimmte Mindestbe-
dingungen erfüllt waren - prinzipiell akzeptierten. Angesichts anhaltender wirt-
schaftlicher Schwierigkeiten und vor allem der sich verstärkenden politischen Re-
stauration gelang es den Unternehmensleitungen nach und nach, den Widerstand
der Belegschaften und Arbeiterräte zu brechen und erneut die verschiedensten For-
men der Akkord- und Prämienentlohnung zu praktizieren. Der Enquete-Ausschuß
kam in seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß bis zu Beginn der Inflation
in sämtlichen Branchen fast alle vor dem Krieg praktizierten Leistungslohnformen
in den Betrieben wieder eingeführt waren. Dennoch blieb die betriebliche Leistungs-
politik weiterhin wenig funktionsfähig, da die zu Beginn der zwanziger Jahre ein-
setzende Inflation einer neuen effizienten Betriebsorganisation die stabile Grund-
lage entzog, denn der rapide Geldwertschwund ließ die Anreizfunktion der Leistungs-
löhne auf ein Minimum sinken. Erst mit der endgültigen Stabilisierung der Währung
waren die allgemeinen politischen und ökonomischen Bedingungen wieder herge-
stellt, die die Wirksamkeit der neuen Betriebs- und Arbeitsorganisation und mit ihr
des industriellen Leistungslohns auf breiter Front in den Betrieben ermöglichten.
Die mit dem Jahr 1924 beginnende schnelle Reorganisation war aber auch mög-
lich gewesen, weil auch während der Krisenjahre die theoretischen und die organi-
satorischen Arbeiten zur Adaptation der "wissenschaftlichen Betriebsführung" in
den deutschen Unternehmen ohne Unterbrechung weitergegangen waren. Sichtba-
ren Ausdruck fand diese Kontinuität in der Gründung des "Reichsausschusses für
Arbeitszeitermittlung (REFA)", der aus dem bereits 1918 gegründeten "Ausschuß
für wirtschaftliche Fertigung (AWF)" hervorgegangen war9 • Bereits 1927 waren

Fortsetzung Fußnote 8
Auch heute ist bei den Leistungslöhnern die gleiche ambivalente Haltung anzutreffen: Kein
Arbeiter würde bei gleichem Lohn den Leistungslohn einem Zeitlohn vorziehen; allein die
Angst vor Einkommensminderung resp. die Aussicht, einen höheren Verdienst zu erhalten,
lassen keinen relevanten Widerstand gegen das "Akkordsystem" als leistungspolitisches In-
strument der Unternehmer entstehen. Verkürzt läßt sich dieser Widerspruch auf den Nenner
bringen: Akkord ist zwar Mord, aber nur durch ihn ist der Verdienst- und Lebensstandard
zu halten.
9 Die Gründungsversammlung fand am 30.9.1924 statt. An ihr nahmen außer einer Anzahl
von Arbeitswissenschaftlern und Ingenieuren Vertreter einer Reihe von Betrieben, vorwie-
gend aus der Metallindustrie, teil. Im Laufe der nächsten Jahre trat anstelle des Zeitsrudiums
immer mehr das Arbeitsstudium in den Vordergrund der Verbandsaktivitäten, so daß 1936
der Verband in "Reichsausschuß fiir Arbeitsstudien" (REFA) umbenannt wurde. Nach
dem Verbot und der Auflösung des Verbandes 1945 durch die Alliierten wurde er 1946
fiir die britische Zone wieder gegründet. Nachdem weitere regionale Neugründungen vollzo-
gen waren, wurde im September 1951 in der Universität Frankfurt der REFA-Bundesver-
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 73

einer Umfrage des Deutschen Metallarbeiterverbandes zufolge zwei Drittel aller


befragten Abteilungen in der deutschen Metallindustrie nach der REFA-Methode
organisiert und entlohnt. Ähnliche Tendenzen lassen sich - wenn auch in unter-
schiedlichem Ausmaße - in allen anderen Industriezweigen feststellen. Das neu
entwickelte und rasch an Bedeutung gewinnende REFA-Verfahren, das neben dem
Zeitstudium auch ein Arbeitsstudium umfaßte, stellte eine stabile Basis und ein
effizientes Instrument zur Reorganisation der Arbeit und der Leistungswirtschaft
nach dem Ersten Weltkrieg dar. Es entsprach in allen Punkten den Prinzipien der
"wissenschaftlichen Betriebsführung", wie Taylor sie formuliert hatte. Zugleich
gelang es, durch eine gewisse Anpassung an die Verhältnisse in den deutschen Be-
trieben den noch verbliebenen Widerstand der Gewerkschaften auszuräumen, ohne
daß jedoch prinzipielle Abstriche an den leistungspolitischen Zielsetzungen vorge-
nommen wurden. Diese Anpassung der tayloristischen Arbeitsorganisation an die
deutschen Verhältnisse betraf drei Elemente: (1) die Ablösung des Geldakkords
durch den Zeitakkord und, damit verbunden, die Einführung "wissenschaftlicher"
Zeitstudienmethoden, womit den Klagen von Gewerkschaften und Belegschaften
über die "Meisterwillkür" bei der Akkordfestsetzung Rechnung getragen werden
sollte; (2) die Verwendung einer ,Normalleistung' anstelle der T-aylorschen Maxi-
malleistungals Bezugsgröße für die Akkordfestsetzung; sowie (3) die Beibehaltung
der traditionell proportional verlaufenden Lohn-Leistungs-Linie anstelle des taylo-
ristischen Prämienlohns. Diese Konzessionen schwächten den Widerstand, den vor
allem die Metallarbeiter schon vor dem Krieg der Einführung der tayloristischen
Arbeitsorganisation entgegengebracht hatten. Trotz dieser "Zugeständnisse" erfüll-
te das REFA-Verfahren alle Anforderungen, die die neue Betriebs- und Arbeitsor-
ganisation stellte, ja es ging in der Frage der Standardisierung und Normierung von
Arbeitszeiten und -abläufen seiner Intention nach über das Taylorsystem hinaus,
indem der REFA-Verband versuchte, durch eine in allen Betrieben einheitlich
angewandte Methodik überbetrieblich gültige Werte zu ermitteln und abzusichern.
(Diesen Anspruch auf universelle Gültigkeit der Daten erhoben erst später wieder
die verschiedenen Systeme vorbestimmter Zeiten.)

Zusammenfassend läßt sich die Entwicklung in den verschiedenen Industriezweigen in dieser


Phase folgendermaßen beschreiben: Die Eisen- und Stahlindustrie erreichte durch den Ausbau
der Verbundwirtschaft einen neuen Grad der Konzentration und der Integration der Produk-
tion. Der Gesamtproduktionsprozeß und damit auch der Einsatz der lebendigen Arbeit wurde
von der Betriebsleitung zentral geplant und gesteuert. Der industrielle Leistungslohn wurde
dadurch - neben den technischen Zwängen der Produktion -zum Druckmittel, vorgegebene
Arbeitspensen einzuhalten. Wenn auch die chemische Industrie in vieler Hinsicht der Hütten-
industrie vergleichbar ist, so konnte sich infolge der Vielfalt der Produkte und relativ kleiner
Betriebsgrößen die neue Betriebsorganisation nur zeidich verzögert durchsetzen. Wenn man

Fortsetzung Fußnote 9
band unter dem Namen "Verband für Arbeitsstudien REFA e.V." mit Sitz in Darmstadt
gegründet. Im Gegensatz zu früher haben seitdem auch die Gewerkschaften durch ihre Mit-
gliedschaft Sitz und Stimme in dem neu gegründeten Verband (vgl. E. Pesehold 1975).
74 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

von dem Werkstättenbereich der chemischen Betriebe absieht, in dem ähnlich wie in der Metall-
industrie sehr früh rationalisiert wurde, dann lag in dieser Phase der Schwerpunkt der Rationali-
sierung in der chemischen Industrie auf der Konzentration der Produktions- und Unternehmens-
struktur; das bekannteste Beispiel ist der Aufbau und die Unternehmenspolitik des I.G.-Farben-
konzerns. Zentraler Ansatzpunkt der Entfaltung der tayloristischen Betriebs- und Arbeitsorga-
nisation in dieser Zeit waren die Branchen mit fertigungstechnischem Charakter. Durch weitere
Vereinfachung und Zerlegung der Arbeit wurden die Arbeitsvollzüge standardisiert und zeitlich
normiert. Der ,Fordismus' hatte die technisch-arbeitsorganisa torischen Bedingungen fiir die
Unterwerfung fertigungstechnischer Arbeitsabläufe unter die neue Leistungswirtschaft geschaf-
fen. Die Rationalisierungswelle wurde Ende der zwanziger Jahre durch den Einbruch der Welt-
wirtschaftskrise jäh unterbrochen und setzte erstwieder Mitte der dreißiger Jahre in Verbindung
mit den Rüstungsanstrengungen des Nazi-Regimes verstärkt ein.

Die zweite Phase: Die "Neuordnung" der Leistungspolitik durch die NS-Regierung

Mit der zu Ende der zwanziger Jahre ausbrechenden Weltwirtschaftskrise erfuhr die
Entfaltung des industriellen Leistungslohns einen Rückschlag. Die allgemeine Funk-
tionsunfähigkeit des ökonomischen Systems stellte die Betriebs- und Arbeitsorgani-
sation in einen veränderten ökonomischen Zusammenhang. Die nach produktions-
ökonomischen Prinzipien errichteten Produktionsanlagen und -prozesse mußten
trotz geschwundener Absatzchancen in einem bestimmten Umfange weiterprodu-
zieren, wenn nicht auch ein technischer Zusammenbruch der Anlage riskiert werden
sollte. Dieses Auseinanderfallen von Produktions- und Marktökonomie wurde am
deutlichsten in der Eisen- und Stahlindustrie, in der die auf der Verbundwirtschaft
beruhende produktionsökonomis che Organisation am weitesten fortgeschritten
war. Vor die Wahl gestellt, die produktionsökonomis ch durchorganisierten Werke
entweder stillzulegen oder unabhängig von der Marktnachfrage weiterzuproduzie-
ren, um die Anlagen technisch funktionsfähig zu halten, entschieden sich die Unter-
nehmer für den zweiten, kurzfristig teureren Weg. Unter diesen Bedingungen mußte
sich die Bedeutung des Leistungslohns als Leistungsanreiz im Rahmen der Unterneh-
merischen Leistungspolitik auf ein Minimum reduzieren. Demgegenüber rückte in
allen Industriezweigen infolge der steigenden Zahl der Arbeitslosen das Mittel der
Lohnkürzung vermehrt an die Stelle einer systematischen Leistungspolitik. Die
rasche Ausbreitung des Arbeits- und Zeitstudiums und des industriellen Leistungs-
lohns, mithin der "wissenschaftlichen Betriebsführung", wurde unterbrochen 10 .

10 Auf einer Konferenz von DMV-Funktionären wird der Zusammenhangvon Weltwirtschafts-


krise und Funktionsverlust des Leistungslohns anschaulich beschrieben: "Der Zwang der Er-
höhung der Leistung ist augenblicklich gering, wird aber stark werden, wo neue Konjunktur
einsetzt ... In den Zeiten der Krise, in denen wir heute stehen, werden wir in vielen Fällen
ein Nachlassen der Bewegung feststellen können, die auf Einfiihrung dieser REFA- und
Bedaux-Methode hinzielt." (Deutscher Metallarbeiter-Verband (Hg.), 1932 2 ) . - Zur Bedeu-
tung der Weltwirtschaftskrise fiir den hier benutzten theoretischen Ansatz und zur Wider-
sprüchlichkeit von Markt- und Produktionsökonomie siehe insbesondere A. Sohn-Rethel
(1973 1 ).
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 75

Als unter den Bedingungen der Wiederaufrüstung und der darauf bezogenen Um-
stellung großer Teile der volkswirtschaftlichen Produktion zu Mitte der dreißiger
Jahre erneut ein konjunktureller Aufschwung einsetzte, begann eine Periode rascher
Akkumulation, Modernisierung und Rationalisierung des Produktionsapparates,
wodurch die Arbeitskräfte in bestimmten, vor allem in rüstungswichtigen Industrie-
zweigen knapp wurden. Unter leistungspolitischen Gesichtpunkten waren mit dem
konjunkturellen Wiederaufschwung zwar erneut die Bedingungen für eine systema-
tische betriebliche Leistungspolitik gegeben, der Arbeitskräftemangel führte jedoch
dazu, daß - trotz des Verbots der Gewerkschaften und trotz extremer Unterdrük-
kung der Arbeiteropposition - die Arbeitskräfte, wo sie knapp waren, mit Hilfe
des Akkordsystems den staatlich verordneten Lohnstopp von 1938 unterlaufen
konnten. Mit stillschweigender Zustimmung der Unternehmer, die auf diesem Weg
ihre Arbeitskräfte im Betrieb halten wollten, wurden über längere Zeiträume keine
neuen Akkordzeiten mehr aufgenommen, so daß die Akkordlöhne ansteigen konn-
ten, ohne daß der staatlich fixierte Akkordgrundlohn verändert worden wäre 11 .
Dieser Lohnentwicklung, die heute als "method-drift" bezeichnet wird, wollte die
NS-Regierung mit den sogenannten "lohnordnenden Maßnahmen" entgegentreten,
mit deren Hilfe auch die lohnpolitische und -strukturelle Entwicklung unter die
zentrale Kontrolle der Regierung gebracht und zugleich eine gesamtwirtschaftliche
Arbeitskräfteplanung eingerichtet werden sollte.
Die vom Arbeitswissenschaftlichen Institut der Deutschen Arbeitsfront erar-
beitete "Neuordnung der Reichslohnordnung" war Teil der auf das gesamte natio-
nale Arbeitskräftepotential ausgerichteten Politik der "Menschenbewirtschaftung",
die im einzelnen vier Maßnahmen umfaßte: (1) Maßnahmen zur direkten Regelung
des Arbeitsplatzwechsels (Zwangsverpflichtung); (2) Maßnahmen zur "Bewirtschaf-
tung" der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung; (3) Maßnahmen zur Neuverteilung
der gesamtwirtschaftlichen Kapazitäten (z. B. Arbeitszeitordnung); und (4) zu ei-
nem späteren Zeitpunkt die Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlin-
gen. Im Rahmen dieser allgemeinen gesamtwirtschaftlichen Budgetierung der Ar-
beitskraft sollten die "lohnordnenden Maßnahmen" auf der betrieblichen Ebene
günstige Voraussetzungen für eine lohn- und leistungspolitische Gesamtplanung
schaffen. Diese "lohnordnenden Maßnahmen" selbst setzten sich ebenfalls aus
vier Elementen zusammen: (1) Modifizierung des Akkordlohns durch Elemente
des Pensumprinzips, (2) Einführung leistungsbezogener Lohnanteile bei Zeitlöh-
nern, (3) Einführung der Arbeitsbewertung, und (4) systematischere Anwendung
und weitere Ausbreitung des Arbeits- und Zeitstudiums auf der Grundlage der
REFA-Methodenlehre.

11 Vgl. dazu die Analyse und sehr detaillierte Dokumentation von Timothy W. Mason (1975).
Mason beschreibt dort, daß die betrieblichen Vertreter der Deutschen Arbeitsfront z. T.
sogar klassische gewerkschaftliche Funktionen wahrnahmen und beispielsweise diese Praxis
der ,method drift' stützten, um nicht völlig von den Belegschaften isoliert zu sein.
76 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

Insbesondere mit der Entwicklung und probeweisen Anwendung der Arbeitsbe-


wertung - konkret des Lohngruppenkatalogs Eisen und Metall (LKEM) -war
ein neues Instrument kapitalistischer Betriebs- und Arbeitsorganisation gefunden
worden, das erst in der gegenwärtigen Entwicklung der kapitalistischen Produk-
tion voll zur Geltung gelangt 12 • Die weiterbestehende Arbeitskräfteknappheit und
insbesondere die zunehmende Desorganisation des nationalen Produktionszusam-
menhangs durch den andauernden Krieg und die sich abzeichnende Niederlage ver-
hinderten allerdings einen Erfolg der "lohnordnenden Maßnahmen". Über die
Konzeption und die probeweise Anwendung in bestimmten Betrieben hinaus konn-
ten die "Maßnahmen" keine nennenswerte praktische Bedeutung erlangen. Den-
noch bezeichnen sie eine neue Stufe der Entfaltung der Betriebsorganisation und
der Leistungspolitik, auch wenn die Weiterentwicklung des Arbeits- und Zeitstu-
diums und insbesondere die Arbeitsbewertung erst zehn Jahre später verstärkt be-
triebliche Realität wurden.

Die dritte Phase: Die Rekonstruktion der systematischen Leistungspolitik

In den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges fehlten die entschei-
denden objektiven und subjektiven Voraussetzungen für eine systematisch durch-
geführte betriebliche Leistungspolitik und die Wiederherstellung der Funktionen
des Leistungslohns. Zwar waren, anders als nach dem Ersten Weltkrieg, die ver-
schiedenen Leistungslohnformen formal beibehalten worden, doch dauerte ihr
Funktionsverlust weiter an. Insbesondere die Politik der Demontage und der Pro-
duktionsbeschränkungen durch die Alliierten Mächte sowie die desolaten Roh-
stoff-, Energie- und Verkehrsbedingungen, vor allem aber auch die mangelhafte
Versorgung der arbeitenden Bevölkerung entzogen der betrieblichen Leistungspo-
litik die objektiven Bedingungen. Nicht nur war auf Grund des Versorgungsman-
gels die Leistungsfähigkeit erheblich gemindert, auch die Leistungsbereitschaft war
stark gesunken, weil Geldeinkommen nur in geringem Umfange die Existenz sichern
konnten. Durch den Verlust seiner Tauschfunktion hatte das Geld auch seine An-
reizfunktion verloren; Schwarzmarkt und Naturaltausch bestimmten den gesell-

12 Der LKEM sah zur Einstufung acht Lohngruppen vor: zwei für die ungelernten, zwei für die
angelernten und vier für die gelernten Arbeitskräfte. Die Bewertung und Einstufung erfolgte
anband sog. Arbeitsrichtbeispiele, mit denen die konkret zu bewertende Arbeit (Tätigkeit)
verglichen und eingestuft wurde. Diese Riebtbeispiele sollten eine einheitliche, standardi-
sierte Bewertung und Einstufung ermöglichen. Sie wurden unter Berücksichtigung der fol-
genden "Hauptbewertungsmerkmale" konstruiert: (1) "Körperliche Arbeitsanforderungen",
(2) "geistige Arbeitsanforderungen", (3) "willentliche Arbeitsanforderungen" und (4)
"Berufsbildung und Sondererfahrung". Unschwer läßt sich diese Merkmalsreihe als Vor-
läufer des sog. ,Genfer Schemas' erkennen, das in den fünfzigerJahrenzur international an-
erkannten Grundlage aller Arbeitsbewertungsverfahren wurde.
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 77

schaftliehen Tausch bis zur Währungsreform 1948 13 . Erst mit der Rekonsolidierung
der Wirtschaft und der politischen Restauration - die Marshallplan-Hilfe und die
Währungsreform signalisierten diesen Umschwung - gelang es den Unternehmern
nach und nach, ihre betriebliche Herrschaft wiederherzustellen und ihre Leistungs-
wirtschaft zu reorganisieren. Nach dem Abschluß der unmittelbaren Phase des Wie-
deraufbaus und der Abwehr der gewerkschaftlichen "Neuordnungs"-Vorstellungen
konzentrierten sich die Unternehmer zu Beginn der fünfzigerJahreauf die Wieder-
herstellung ihrer systematischen Leistungspolitik. Insbesondere durch konsequente
und verfahrenskonforme Anwendung des REF A-Zeitstudiums wurde die krisenbe-
dingte Funktionsuntüchtigkeit des Akkordsystems behoben, durch die Verbesse-
rung und Ausbreitung der Arbeitsbewertung - insbesondere der analytischen Ar-
beitsbewertung - wurde eine neue, stabilere Basis für die Grundlohnbestimmung
gefunden. Ein entscheidendes Merkmal dieser Phase der ,Wiederherstellung einer
systematischen Leistungspolitik', das sie vor allem von der darauffolgenden Phase
der ,Neukonzipierung' unterschied, war die Reorganisation der Betriebs- und Ar-
beitsabläufe und der Leistungspolitik auf der Grundlage bereits entwickelter und
zum Teil schon lange erprobter Verfahren und Methoden - insbesondere des
REFA-Verfahrens und der im LKEM zusammengefaßten Elemente der analyti-
schen Arbeitsbewertung. Dagegen war diese Phase weder durch einschneidende
technische Veränderungen noch durch Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Or-
ganisations- und Leistungsermittlungsverfahren gekennzeichnet. Das änderte sich
erst um die Mitte der fünfziger Jahre, als folgenschwere technische Wandlungspro-
zesse in Verbindung mit anhaltender ökonomischer Prosperität und Vollbeschäfti-
gung eine neue Phase der Entfaltung der kapitalistischen Betriebsorganisation er-
zwangen, deren gesamtes Ausmaß bis heute noch nicht ganz abzusehen ist.
Diese Erneuerung der Leistungspolitik wurde teils mit Billigung, teils ohne Wis-
sen oder gegen den Widerstand der Gewerkschaften von den Unternehmern - in
Kooperation mit den Betriebsräten - durchgesetzt. Während die Gewerkschaften
in der Akkordfrage konzedierten, daß in der Vergangenheit die Akkorde "davonge-
laufen" waren, und zu Kompromissen bei der Neuaufnahme von Akkordzeiten be-
reit waren, standen sie einer Einführung von Arbeitsbewertungsverfahren auf der
betrieblichen Ebene ablehnend gegenüber, solange keine tarifvertragliche Einigung
erzielt war. Trotzdem war die Arbeitsbewertung Mitte der fünfziger Jahre zu einem
integralen Bestandteil der Betriebs- und Arbeitsorganisation in einer Vielzahl von

13 Hierzu führt Pesehold aus: "Was den Arbeiter an seinen Betrieb band, war nicht der Geld-
lohn, der je Stunde durchschnittlich kaum 2 RM überstieg, sondern die Berechtigung zum
Bezug von Lebensmittelkarten, die Sozialleistungen seines Betriebes und die Möglichkeit,
einen Teil seines Lohnes in Sachwerten der Betriebserzeugnisse zu beziehen, die wieder
gegen Lebensmittel eingetauscht werden konnten. Reich war der, welcher noch Beziehun-
gen zur Landwirtschaft hatte" (Peschold 1975; 104).
78 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

Betrieben vor allem in der Metallindustrie geworden 14 • Um diese Zeit kann die
Phase der Wiederbeistellung der Unternehmerischen Leistungspolitik und der Reor-
ganisation der Zeitökonomie als abgeschlossen gelten. Die sich abzeichnende wirt-
schaftliche Prosperitätsphase und die damit beginnende Verknappung des Arbeits-
kräfteangebots sowie die sich abzeichnenden technischen Veränderungen bildeten
jedoch wiederum die Ursache für das Entstehen einer method-drift und, in ihrem
Gefolge, für einen erneuten Funktionsverlust des Leistungslohns.

Die vierte Phase: Die Neukonzipierung der Unternehmerischen Leistungspolitik

Die durch die Vollbeschäftigung und den technischen Wandel vermittelte Lohndrift,
die in der zweiten Hälfte der fünfzigerJahrein praktisch allen entwickelten kapitali-
stischen Ländern Europas zu verzeichnen war, ließ vor allem den traditionellen
REFA-Zeitakkord analog der Entwicklung zu Ende der dreißiger Jahre in eine
schwere Krise geraten 15 • Zudem wurde es bei zunehmender Mechanisierung immer
problematischer, den Einfluß der lebendigen Arbeit auf das Produktionsergebnis zu
bestimmen. Nur eine umfassende Neugestaltung der Unternehmerischen Leistungs-
politik, die den Prinzipien der "wissenschaftlichen Betriebsführung" wieder Geltung
verschaffen konnte, schien ein erfolgversprechender Ausweg aus dieser Lage zu sein.
Seit Mitte der fiinfziger Jahre forcierten daher die Unternehmer die Arbeitsteilung
und -zerlegung sowie die Mechanisierung und Automatisierung; sie unterwarfen die
lebendige Arbeit verstärkt zeitökonomischen Imperativen der "wissenschaftlichen"
Betriebs- und Arbeitsorganisation. Die mit den sechziger Jahren einsetzende um-
fassende und komplexere Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung in den
verschiedensten Bereichen der Betriebsorganisation und die in den siebziger Jahren
sich allmählich durchsetzende Mikroelektronik eröffneten ungeheure Rationali-
sierungspotentiale, deren Möglichkeiten heute noch nicht erschöpft sind. Zur
gleichen Zeit sah sich das westdeutsche Kapital zunehmenden Krisentendenzen und
sich verschlechtemden Bedingungen der Kapitalverwertung ausgesetzt, so daß auch
von dieser Seite her der Druck erheblich anwuchs, die Betriebs- und Arbeitsorga-

14 In einer von der IG Metall 1955 durchgefiihrten Befragung ihrer Betriebsräte in 1543 Groß-
und Mittelbetrieben stellte sich heraus, daß bereits 100 Unternehmen mit ca. 20 v. H. der
erfaßten Beschäftigten den überkommenen LKEM zur Einstufung benutzten. Bei der Hälfte
der Betriebe, die das analytische Verfahren praktizierten, geschah dies ohne Wissen der IGM
und entgegen bestehenden tariflichen Bestimmungen auf der Grundlage von Betriebsverein-
barungen (IG Metall (Hg.) 1955; 91 f.).
15 In einer umfangreichen empirischen Untersuchung in europäischen Hüttenwerken wurden
Ende der fünfziger Jahre von einer Forschergruppe des Instituts für Sozialforschung in
Frankfurt "die technischen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen des Leistungs·
Iohns" analysiert. Die Ergebnisse wurden in Form von hektographierten Forschungsberich·
ten veröffentlicht (B. Lutz und A. Willener 1960; B. Lutz et al. 1962). Die Ergebnisse dieser
Untersuchungen waren u. a. ein wichtiger Ausgangspunkt für unsere eigene Studie; ihre Ak-
tualität wird auch daran deutlich, daß der letztgenannte Forschungsbericht 15 Jahre später
in einer Buchfassung neu aufgelegt wurde (B. Lutz 1975).
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 79

nisation nicht nur unter technischen Aspekten zu rationalisieren, sondern auch neue
Wege für den produktiveren Einsatz der lebendigen Arbeit und deren Integration in
den Produktionsablauf zu finden. Zu diesem Zweck wurden zum Teil völlig neue
Verfahren und Formen der Arbeitskräfteplanung und -kontrolle im allgemeinen und
der Leistungsentlohnung im besonderen entwickelt und nach und nach in den
Betrieben eingeführt; sie wurden zum Instrument der seit Beginn der sechziger Jahre
langsam einsetzenden und nach der Rezession 1966/67 sich verstärkenden leistungs-
politischen Offensive der Unternehmer und rechtfertigen den Begriff "Neukonzipie-
rung der Leistungspolitik".
Diese "Neukonzipierung" knüpfte an den bisherigen Entwicklungsprozeß der
kapitalistischen Betriebsorganisation und des industriellen Leistungslohns an. Sie
erschloß der Unternehmerischen Leistungswirtschaft quantitativ wie qualitativ neue
Bereiche der Produktion und des Einsatzes der lebendigen Arbeit . Die Unternehmer
verfolgten damit mehrere allgemeine Ziele:
(1) Totale und detaillierte Erfassung, Verplanung und Kontrolle des Arbeits-
kräftepotentials und dessen Steuerung im Rahmen der Unternehmerischen Gesamt-
budgetrechnung. Dabei spielt nicht nur die Kosten-Ertrags-Rechnung auf der Basis
von Ist-Daten, sondern ebenso die prognostische Kalkulation geplanter Produktio-
nen eine wichtige Rolle für die Unternehmensplanung.
(2) Analyse, Standardisierung und Normierung aller im Unternehmen vorhande-
ner Produktions- und Arbeitsabläufe mit dem Ziel, die bestehende Betriebs- und
Arbeitsorganisation nach zeitökonomischen Kriterien produktiver zu gestalten
bzw. bei der Konzipierung neuer Produktionsanlagen die gewonnenen Arbeits-
und Zeitwerte bereits im Planungsstadium berücksichtigen zu können.
(3) Die Neuordnung und Stabilisierung der betrieblichen Lohn- und Gehalts-
struktur, wobei einerseits durch die neu fixierte Grundlohnstruktur den veränder-
ten technischen und arbeitsorganisatorischen Gegebenheiten, andererseits mit dem
verbleibenden - oft durch neue Verfahren bestimmten - Leistungslohnanteil der
individuellen Leistungsvarianz Rechnung getragen werden soll. Durch den Pensum-
charakter wird jedoch der Leistungslohnanteil über längere Zeit hinweg konstant
gehalten und damit das Unternehmerische Gesamtbudget stabilisiert.
(4) Die Beschränkung der Verhandlungsmacht und die Eliminierung bestehen-
der Verhandlungsspielräume der Beschäftigten und ihrer Interessenvertretungsor-
gane im Betrieb. Dadurch soll eine zentral~sierte, von lohnpolitischen Störfaktoren
befreite und gegenüber dem Einfluß und den Forderungen der Beschäftigten abge-
dichtete Leistungswirtschaft verwirklicht werden, die sich durch ihre weitgehende
Autonomie in das zeitökonomische Gesamtsystem eines Unternehmens funktional
einpassen läßt.
Unter quantitativen und qualitativen Aspekten umfaßt die Neukonzipierung der
Unternehmerischen Leistungswirtschaft eine Vielfalt von Maßnahmen und Konzep-
ten, die sich in folgenden drei Elementen zusammenfassen lassen:
80 Rudi Scbmiede!Edwin Schudlicb

1. Theoretische und praktische Systematisierung sowie Ausweitung des Anwen-


dungsbereichs des Arbeits- und Zeitstudiums. Dieser Zielsetzung dienen unter an-
derem die verbesserte REFA-Methodenlehre, die aus den USA zu Beginn der sech-
ziger Jahre zum erstenmal in der Bundesrepublik Deutschland eingeführten Systeme
vorbestimmter Zeiten und die verfeinerte Systematik der analytischen Arbeitsbe-
wertung.
Mit den zunächst in der Massenfertigung der Elektro- und der Automobilindu-
strie sowie der Leder- und Bekleidungsindustrie eingeführten und später in weiteren
Bereichen der industriellen Fertigung eingesetzten Systemen vorbestimmter Zei-
ten16 soll die Arbeit durch detaillierte Arbeitsablauf- und Bewegungsstudien ökono-
misiert (Arbeitsbestgestaltung), durch die Ermittlung und Normierung der zugehö-
rigen Zeitvorgaben intensiver, insgesamt also produktiver gestaltet werden.

Diese Systeme wurden in den Betrieben von den Unternehmen häufig in zwei Schritten durch-
gesetzt. In einem ersten Schritt wurden diese Verfahren "nur" zum Arbeitsstudium und zur
-vorbereitung (Arbeitsbestgestaltung) benutzt, um so das Mitbestimmungsrecht des Betriebsra-
tes zu umgehen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wurden sie dann unter Berücksichtigung des
Mitbestimmungsrechtes zur Arbeitszeitermittlung auch offiziell eingesetzt 17 • Die dabei verwen-
deten Standard- oder Normzeiten erheben - wie bereits die mit der vereinheitlichten REFA-
Methode ermittelten Zeitwerte - Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität und universelle
Gültigkeit. Die Universalität und der Normcharakter der Zeitwerte der verschiedenen Systeme
vorbestimmter Zeiten soll dadurch gesichert werden, daß alle Tätigkeiten und Arbeitsabläufe
in eine begrenzte Anzahl, in Tabellen festgehaltener und mit entsprechenden Zeitwerten - oft
in Sekundenbruchteilen - versehener elementarer Kleiostbewegungen zerlegt werden und daß
anschließend durch Addition der entsprechenden Zeitwerte eine Zeitvorgabe für die analysierte
Tätigkeit ermittelt wird. Beim Vergleich mit den nach der REFA-Methode ermittelten Vorga-
bezeiten lagen die entsprechenden Standardzeiten der Systeme vorbestimmter Zeiten um etwa
30 vH. unter dem Zeitniveau nach REFA. Die Gewerkschaften forderten daher bei Einführung
von Systemen vorbestimmter Zeiten einen sogenannten Korrekturfaktor von 1,3, mit dem die
Standardzeiten multipliziert werden sollten, damit ein mit REFA vergleichbares Zeit- und damit
Leistungsniveau erhalten bleibe. Diese Forderung konnte praktisch nirgends durchgesetzt wer-
den, es wurden - teilweise aufgrund von Betriebsvereinbarungen - geringere oder gar keine
Korrekturfaktoren vereinbart. Diese Tatsache läßt darauf schließen, daß mit der Ablösung der
REFA-Zeitakkorde durch die Systeme vorbestimmter Zeiten den Unternehmen eine mehr oder
weniger große Intensivierung dererfaßten Arbeiten gelang.

16 Die in Deutschland bekanntesten Verfahren, die ursprünglich während des II. Weltkriegs
in der US-amerikanischen Flugzeugindustrie entwickelt wurden, sind: Methods Time Measu-
rement (MTM); Work Factor (WF), mit dem der REFA-Verband arbeitet, und speziell für
Reparaturarbeiten die Universal Maintenance Standards (UMS). Neben den "Grundverfah-
ren" wurden jeweils spezielle Verfahren für bestimmte Tätigkeiten oder Branchen sowie
vereinfachte Verfahren für einen bestimmten Genauigkeitsgrad und Kostenaufwand ent-
wickelt.
17 Als Beleg für die zunehmende praktische Bedeutung der Systeme vorbestimmter Zeiten mag
die rapide ansteigende Zahl von Lehrgängen, die der REFA-Verband zu diesen Verfahren
ausrichtete, dienen: Von 1955 bis 1966 stieg die Zahl der Lehrgänge von 431 auf 1.086,
die Zahl der Teilnehmerstunden von 1.046.200 auf 1.923.000 pro Jahr. Die Mehrzahl der
Teilnehmer kam aus den wichtigsten Industriebranchen (vgl. R. Schmiede und E. Schudlich
1976; 358 f.).
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 81

In der längerfristigen Entwicklung der Unternehmerischen Leistungspolitik stellt die


Ermittlung der Elementarbewegungen und der zugehörigen Zeitwerte eine neue
Stufe der Standardisierung und der Normierung des Betriebsablaufs und Arbeitsvoll-
zugs dar. Mit den Systemen vorbestimmter Zeiten wurde ein Verfahren entwickelt,
das es erlaubt, die lebendige Arbeit zwingender und systematischer als je zuvor zu
verplanen und den zeitökonomischen Parametern der Betriebsorganisation anzupas-
sen. Dadurch wird zugleich den Beschäftigten die Möglichkeit beschnitten, auf die
Gestaltung ihrer Arbeitsorganisation und des -ablaufes Einfluß zu nehmen.
Im gleichen Zeitraum breitete sich die analytische Arbeitsbewertung, die auf
dem LKEM der NS-Zeit und dem 1952 vereinbarten ,Genfer Schema' beruhte, ra-
pide aus 18 . Insbesondere in der Metallindustrie, aber wenig später auch in praktisch
allen größeren Unternehmen der anderen Industriezweige gewann dieses Verfah-
ren - zum Teil allerdings auch in der Form der nicht analytisch angelegten sum-
marischen Arbeitsbewertung - entscheidende Bedeutung für die Tätigkeitsanalyse
und die Grundlohnbestimmung. Mit Hilfe der - vor allem analytischen - Arbeits-
bewertung läßt sich in den Betrieben ein relativ exaktes Bild der vorhandenen Tä-
tigkeits- und Arbeitsstrukturen und der darauf bezogenen Anforderungen gewinnen.
Diese Transparenz der Tätigkeiten und der Anforderungen erlaubte eine verbesserte
Planung des Arbeitskräfteeinsatzes, mithin der Auslese und der Anpassung der Ar-
beitskräfte. Unter dem Aspekt der "Anforderungsgerechtigkeit" verleiht die Ar-
beitsbewertung der auf ihrer Basis ermittelten Grundlohndifferenzierung eine neue
Legitimation. Dadurch können einerseits nicht ,verfahrenskonforme' Lohnforderun-
gen besser abgewehrt, kann andererseits Herabstufung bei der Veränderung von Ein-
stufungsvoraussetzungen eindeutiger begründet werden. Die Unternehmer konnten
somit eine doppelte Stabilisierung ansteuern: Mit dem verbesserten Arbeitsstudium
hatten sie ein Instrument an der Hand, das eine stabilere Grundlage für die Zeit-
und Produktionsökonomie bot; mit der verbesserten Legitimierung der Grundlohn-
struktur hatten sie eine stabilere Ordnung im lohnpolitischen Bereich - sowohl im
Hinblick auf die weitere Entwicklung der Grundlöhne wie als Basis für eine effi-
zientere Leistungswirtschaft - erreicht.

18 In der eisenschaffenden und metallverarbeitenden Industrie wurden die in den Großbetrie-


ben bereits durchgesetzten Arbeitsbewertungsverfahren tarifvertraglich sanktioniert. Zwi-
schen 1962 und 1967 wurden von der IG Metall in den wichtigsten Tarifgebieten Tarifver-
träge abgeschlossen, die die Anwendung der summarischen und analytischen Arbeitsbewer-
tung - neben anderen Einstufungsverfahren -freistellten. - In der chemischen Industrie
existierte bereits seit dem Krieg ein Arbeitsbewertungsverfahren für Handwerker. 1966 ver-
öffentlichte der Arbeitsring Chemie einen "Leitfaden" zur Arbeitsbewertung, der nunmehr
alle Tätigkeiten eines Chemie-Betriebes erfaßte. Zu Beginn der siebziger Jahre setzte sich die
Arbeitsbewertung auch praktisch durch. Allerdings gelang es der IG Chemie nicht, einen
entsprechenden Tarifvertrag zu vereinbaren. Basis der Arbeitsbewertungspraxis sind daher
allein Betriebsvereinbarungen (vgl. R. Schmiede und E. Schudlich 1976; 353 f.).
82 Rudi Scbmiede!Edwin Schudlich

2. Die Entwicklung und der Einsatz umfassender Personalführungs- und -informa-


tionssysteme19, deren technische Voraussetzung die Entwicklung der Elektroni-
schen Datenverarbeitung und entsprechender Programme war, ermöglichte auf dem
Gebiet der "Effektivierung der Leitungstätigkeiten" und der "Budgetierung der
Arbeitskräfte" einen neuen Grad der Perfektion bei der Erfassung, Planung und
Kontrolle des Arbeitskräftepotentials und -einsatzes. Eine direkte leistungspoliti-
sche Zielsetzung der verschiedenen Personalführungsmodelle ist die "Versachli-
chung" des Personaleinsatzes, d. h. die Autonomisierung der Leistungspolitik ge-
genüber subjektiven Einflüssen, nach den Kriterien der Effizienz und unter Berück-
sichtigung von Motivation, Intelligenz und Soziabilität. Darüber hinaus soll durch
spezifische Anreizsysteme -durch Leistungsbewertung oder, bei höheren Funktio-
nen, durch Laufbahnplanung - eine ,Leistungsherausforderung' bewirkt werden.
Hilfsmittel für die Personalführung und die damit befaßten Vorgesetzten sind das
mit Hilfe der Arbeitsbewertung ermittelte ,Anforderungsprofil' der betreffenden
Tätigkeit, das durch die analytische Leistungsbewertung ermittelte Leistungs-
profil der betreffenden Arbeitskraft und das sogenannte ,Mitarbeitergespräch ', in
welchem Vorgesetzte mit dem Untergebenen dessen Leistungsstärken und -schwä-
chen durchsprechen.
Analog zur analytischen Arbeitsbewertung wurde mit der analytischen Lei-
stungsbewertung ein Verfahren entwickelt und, mit Beginn der siebziger Jahre,
vermehrt in den Betrieben eingeführt, mit dessen Hilfe die Leistungsfähigkeit
und-bereitschaftder Beschäftigten herausgefunden werden soll 20 •

Wie bei der analytischen Arbeitsbewertung sind in einem standardisierten Bewertungsschema


eine Reihe - betrieblich variierbarer - Leistungskriterien aufgelistet; Quantität und Qualität
der Arbeitsausführung sowie Leistungsverhalten dienen als Grundkriterien. Die Beurteilung des
Beschäftigten anband dieser Kriterien soll Aufschluß über seinen Leistungsstand und seine

19 Als Beispiele für die neuen Personalführungsmodelle seien hier das sog. Harzburger Modell,
das in der Bundesrepublik entwickelt wurde, und das amerikanische Management by Ob-
jectives (MBO), das auch in der Bundesrepublik praktiziert wird, genannt.- Um die Einfüh-
rung von Personalinformationssystemen entstand in jüngster Zeit bei der Daimler-Benz AG
ein Konflikt zwischen der Unternehmensleitung und einem Teil des Betriebsrates. Gegen
das geplante "Informationssystem Arbeitseinsatz und Arbeitsplanung (ISA)" wurde von der
Betriebsratsopposition u. a. eingewandt, daß - über die umstrittene Erfassung bestimmter
persönlicher Daten hinaus - durch die Verknüpfung von persönlichen Daten mit Daten der
Betriebs- und Arbeitsplanung die totale Verfügbarkeit der Arbeitskräfte erreicht werde und
die Kontrolle der zentralen Unternehmerischen Personalpolitik nicht mehr möglich sei. Den-
noch erklärte sich die Mehrheit der Betriebsräte des Unternehmens bereit, unter bestimmten
Einschränkungen ISA zu akzeptieren. Bereits früher wurden in anderen Großunternehmen -
etwa bei Siemens - ähnliche Systeme ohne nennenswerten Widerstand der Betriebsräte oder
der Gewerkschaften eingeführt. In weiteren Unternehmen -vor allem in der chemischen In-
dustrie - steht die Einführung kurz bevor.
20 Vereinzelt wurden diese Leistungsbewertungsverfahren bereits in den sechziger Jahren vor
allem in US-amerikanischen Unternehmen (IBM, SEL u. a.) verwendet. Zu Beginn der sieb-
zigerJahrejedoch setzten sich diese Verfahren auch in anderen Großunternehmen durch-
vor allem in der Metallindustrie, aber auch in der chemischen Industrie (vgl. R. Schmiede
und E. Schudlich 1976; 412 ff.).
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 83

Leistungsbereitschaft geben (und durch den Vergleich mit den Leistungsstandards anderer Be-
schäftigter soll die Grundlage für eine leistungsbezogene Verdienstdifferenzierung geschaffen
werden). Die auf diesem Wege gewonnenen "Leistungsprofile" der einzelnen Beschäftigten
eröffnen den Unternehmen neue, bisher nicht mögliche Einblicke in das Leistungspotential
der Belegschaften und jedes einzelnen Beschäftigten und damit Wege zu einer noch produkti-
veren Einordnung der lebendigen Arbeit in die Betriebs- und Produktionsorganisation. Durch
Synchronisation der Merkmalsreihen der Arbeitsbewertung einerseits und der Leistungsbewer-
tung andererseits werden mit Hilfe neuer Informationstechnologien Korrelationsrechnungen
möglich, die technische Parameter, Anforderungs- und Leistungsprofile so miteinander ver-
knüpfen, daß die Unternehmen in die Lage versetzt werden -über die unmittelbare Verwen-
dung der Bewertungsverfahren für die Lohntindung weit hinaus-, eine systematische, auf die
Zukunft bezogene Arbeitskräftepolitik zu betreiben, die sich damit bereits im Planungsstadium
von Produktionsentscheidungen als kalkulierbare Größe einbringen läßt.
Das sogenannte "Mitarbeitergespräch" führt der Vorgesetzte mit dem Ziel, den betreffenden
Beschäftigten zu einem betriebsoptimalen Leistungsverhalten im weitesten Sinne ,hinzuführen'.
Seine wichtigsten Informationsgrundlagen sind die Resultate der analytischen Leistungsbewer-
tung und die Ergebnisse von Zeiterfassungssystemen. Der mit Hilfe der verschiedenen Verfahren
gewonnene und durch .,wissenschaftliche" Methodik legitimierte Informationsvorsprung des
Vorgesetzten und die den Untergebenen isolierende Situation des "Mitarbeitergesprächs" die-
nen über die unmittelbare leistungspolitische Funktion hinaus dazu, die zentrale Steuerung und
Kontrolle der Arbeitsleistung und -zeit durch die Unternehmensleitung zu sichern und eine ge-
genläufige solidarische Leistungspolitik in den Belegschaften schon im Ansatz zu unterlaufen.

3. Das dritte Element der Neukonzipierung kommt in der ökonomischen Struktur


des Lohnes zum Ausdruck; durch ihre Veränderung versuchen die Unternehmen, die
Lohnentwicklung analog der Tendenz zur Pensumarbeit stärker von der Leistungs-
steigerung abzukoppeln und ihre Leistungspolitik unabhängiger von der Lohnpolitik
zu gestalten. Angesichts zunehmender Integration und sich ausweitender Subsumtion
der lebendigen Arbeit unter die kapitalistische Produktionsökonomie der Unterneh-
men gewinnt die geforderte Leistung immer mehr den Charakter eines nach leistungs-
wirtschaftlichen Gesichtspunkten ermittelten Arbeitspensums. Im selben Maße engt
sich die Schwankungsbreite des Leistungslohns ein, da die Lohnhöhe ebenfalls im
Rahmen der Unternehmerischen Gesamtbudgetrechnung bestimmt wird und nicht
- wiewohl dieser Schein nach wie vor aufrechterhalten wird -von subjektiven Lei-
stungsschwankungen abhängt. Mit Beginn der siebziger Jahre gingen die Unterneh-
men verstärkt zu Pensumlöhnen 21 über (d. h. zu Festlöhnen, Pauschallöhnen, lei-
stungskontrollierten Zeitlöhnen, aber auch zu Akkord- und Prärnienlöhnen, die nur

21 Bereits Lutz u. a. hatten diese Tendenz zu "schwankungsunempfindlicheren Lohnformen"


Ende der fünfziger Jahre als Folge der "Krise des Leistungslohns" für die Hüttenindustrie
konstatiert. Bis 1973 stieg der Anteil dieser Festlöhne in der Hüttenindustrie auf über 60
v. H. aller Lohnempfänger (B. Lutz 1975). - Gegen Ende der sechziger und Anfang der
siebziger Jahre setzten sich die Festlöhne aber auch in der metallverarbeitenden Industrie
durch, sei es direkt durch die Einführung neuer Lohnfindungsverfahren, sei es indirekt unter
Beibehaltung traditioneller Begriffe, wie z. B. des "Akkordlohns" in der Automobilindu-
strie. In der chemischen Industrie schließlich werden in den meisten Großbetrieben seit
Beginn der siebziger Jahre Akkord- und Prämienlöhne - meist in Verbindung mit der
Einführung von Leistungsbewertungssystemen - durch feste Monatslöhne mehr und mehr
verdrängr (vgl. R. Schmiede und E. Schudlich 1976; 373 ff.).
84 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

noch dem Schein nach variierbar sind, faktisch aber über eine bestimmte Zeitperiode
konstant bleiben). Sie erfüllen zwei Funktionen: einerseits wird der Lohn für das
Unternehmen als globale Größe eine vorab fixierte und weitgehend für die Planungs-
periode invariable Kalkulationsgröße, andererseits behält er weiter seine Anreiz-
funktion, da im Rahmen der vorgegebenen Gesamtgröße Lohndifferenzen möglich
sind, die auf interindividuelle Leistungsdifferenzen bezogen werden können. Indivi-
duelle Leistungsschwankungen selbst werden jedoch weitgehend dysfunktional, da
die zunehmende Integration des Produktions- und Arbeitsprozesses weniger maxi-
male Leistungsquanten als vielmehr eine auf die Fixe-Kosten-Ökonomie bezogene
kontinuierliche Produktion mit kostenoptimaler Anlagennutzung erfordert, die die
friktionslose Einpassung der lebendigen Arbeit durch die Erfüllung der auf diese
Parameter bezogenen Leistungspensen notwendig macht. Anstelle der traditionellen
Akkordarbeit, die - zumindest lange Zeit - dem Arbeiter eine gewisse Entschei-
dungsfreiheit bei der Wahl seiner Arbeitsintensität ließ und durch den Lohnstimulus
eine möglichst große Leistung erreichen wollte, soll die Pensumarbeit die lebendige
Arbeit unmittelbar der vorgegebenen Betriebsorganisation und den vorgeplanten
Arbeitsabläufen unterwerfen und dadurch die Einhaltung des vorgegebenen Lei-
stungspensums sichern. Der Leistungslohn wird zum weniger schwankungsempfind-
lichen Pensumlohn, weil unter den Bedingungen der Pensumarbeit die Leistung
weniger variabel ist.
Die unter dem Begriff "Neukonzipierung der Leistungspolitik" zusammenge-
faßten neuen Formen und Elemente der Betriebs- und Arbeitsorganisation und der
Arbeitskräftebudgetierung lassen aber auch im Hinblick auf das Kräfteverhältnis
von Kapital und Arbeit eine weitere Verschiebung zugunsten der Kapitalseite
erkennen. Wie nie zuvor in der Geschichte der kapitalistischen Produktion sind
Organisation und Kontrolle der Produktion insgesamt sowie der einzelnen Ar-
beitsschritte bei der Unternehmensleitung zentralisiert und dem mitbestimmenden
oder gar selbstbestimmenden Einfluß der Produzenten entzogen. Der mit dem Pro-
zeß der Verwissenschaftlichung der Produktion einhergehenden Zentralisierung der
Produktionsentscheidungen bis hin zu Detailfragen entspricht auf der anderen Seite
die wachsende Ohnmacht der Produzenten, jene Entscheidungen direkt zu beein-
flussen. Diese Entwicklung führt zu einer Reihe von Fragen an die gegenwärtige
und zukünftige Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, die am Ende des dritten
Abschnitts wieder aufgegriffen werden.

Ill. Widersprüche und Grenzen der zeitökonomischen Leistungspolitik

Die historische Entwicklung der kapitalistischen Betriebsökonomie stellt sich als


zunehmende Durchsetzung zeitökonomischer Strukturen und Organisationsprin-
zipien dar, d. h. als Prozeß der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital, die
in wachsendem Ausmaß auch die lebendige Arbeitskraft selbst umgreift und sie
durch die Zerlegung und Reduzierung auf ihre technologischen Dimensionen mit
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 85

dem zunehmend maschinell bestimmten Produktionsablauf kompatibel macht. Wir


sehen diese Entwicklung als langfristige Tendenz, die ihre Grenze erst in der Auf-
hebung der Arbeit durch die Automation findet. Zwar wird diese Tendenz immer
wieder modifiziert durch die Entstehung neuer Produktionszweige, die Verlagerung
der gesellschaftlichen Arbeit auf produktionsvorbereitende und dienstleistende
Funktionen, die Erhöhung des Anteils traditionell geistiger Arbeit u. ä., aber die
Ergebnisse der arbeitssoziologischen Forschung (vgl. etwa Braverman oder neuere
Untersuchungen über die Arbeitsbedingungen von Angestellten) deuten darauf
hin, daß sich auch dort der gleiche Prozeß der Abstraktifizierung der Arbeit - und
zwar eher beschleunigt - vollzieht.
Gleichwohl ist dieser Prozeß von Widersprüchen gekennzeichnet, deren Charak-
ter sich am Verhältnis von Wert- und Zeitökonomie, an der tayloristischen Betriebs-
ökonomie sowie am politischen Stellenwert und den Grenzen der Leistungspolitik
verdeutlichen läßt. Die Diskussion dieser Problematik bildet - nach einer kurzen
Erörterung der Verwendung der Kategorien formelle und reelle Subsumtion der
Arbeit unter das Kapital für die historische Analyse - den Schwerpunkt dieses ab-
schließenden Abschnitts.

Formelle und reelle Subsumtion

Die Verwendung der Marxschen Kategorien der formellen und reellen Subsumtion
der Arbeit unter das Kapital zur Unterscheidung verschiedener Perioden des Ver-
hältnisses von Lohnarbeit und Kapital in der Entwicklung der kapitalistischen In-
dustrie in Deutschland blieb nicht unwidersprochen. Vor allem Herkommer und
Bierbaum bestreiten die Legitimität einer "Periodisierung der kapitalistischen Pro-
duktionsweise" und lassen diese Begriffe ausschließlich für die "systematische
Analyse" gelten; darüber hinaus kritisieren sie die Zuordnung von formeller Sub-
sumtion zur Produktion des absoluten Mehrwerts bzw. von reeller Subsumtion zur
Produktion des relativen Mehrwerts (Herkommer/Bierbaum 1979; 159 ff.).
Zwar ist das methodische Verhältnis von theoretisch-systematischen (logischen)
und historischen Kategorien in der marxistischen Diskussion selbst - und nicht nur
hier - durchaus umstritten, jedoch kann eine so weitgehende Disjunktion beider
Begrifflichkeiten, wie sie von Herkommer/Bierbaum unterstellt wird, ausgeschlossen
werden. Für eine historisch-materialistische Analyse bleibt der historische Realbe-
zug ihrer theoretischen Kategorien unabdingbar. Marx selbst behalf sich mit der
Formulierung, daß der "dialektische Entstehungsprozeß", d. h. die Entwicklung der
logischen Kategorien der Kapitalanalyse, "nur der ideale Ausdruck der wirklichen
Bewegung, worin das Kapital wird", ist (Marx 1857/8, 217). Das läßtsichauch an
den hier zur Diskussion stehenden Begriffen verfolgen; denn Marx läßt keinen
Zweifel daran, daß er formelle und reelle Subsumtion als systematisch-theoretische
wie auch als historische Kategorien verwendet: Die formelle Subsumtion "ist die
allgemeine Form alles kapitalistischen Produktionsprozesses; es (sc. dieses Verhält-
86 Rudi Scbmiede/Edwin Scbudlicb

nis) ist aber zugleich eine besondere Form neben der entwickelten spezifisch-kapi-
talistischen Produktionsweise" (Marx 1863/65; 46; vgl. auch Marx 1857/8; 655 f.
und Marx 1867; 532 f.).
Auch das Entsprechungsverhältnis von formeller und reeller Subsumtion und der
Methoden der Mehrwertproduktion wird von Marx eindeutig benannt: "Wie die
Produktion des absoluten Mehrwerts als materieller Ausdruck der formellen Sub-
sumtion der Arbeit unter das Kapital, so kann die Produktion des relativen Mehr-
werts als die der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital betrachtet wer-
den" (Marx 1863/5; 51, s. auch 47 f.). In unserer Untersuchung der Entwicklung
des Leistungslohns werden nun als trennende Kriterien für die formelle bzw. die
reelle Subsumtion die Fortexistenz der handwerklichen Produktionsweise bzw. ihre
arbeitsteilige Umwandlung in einen industriellen Produktionsprozeß herangezogen.
Zugleich wird versucht, diesen Übergang anband der Veränderungen der Arbeits-
mittel, der Arbeitsteilung, der Arbeitsweise, der Betriebsorganisation und der
Lohnform zu präzisieren, wobei explizit die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung in
den verschiedenen Bereichen - etwa am Beispiel der Hüttenbetriebe und der Me-
tallindustrie - berücksichtigt ist. Diese Veränderungen fallen keineswegs alle mit
der Entstehung der Manufaktur zusammen. Die generalisierende Behauptung von
Herkommer/Bierbaum, daß die Manufaktur die "klassische Gestalt" für eine "syste-
matische Teilung der Arbeit" sei, gilt nur für die organische Manufaktur. Marx führt
in seiner historischen Analyse im einzelnen aus, daß in den handwerksmäßigen An-
fängen der Manufaktur, aber auch noch in der heterogenen Manufaktur die alte
handwerkliche Produktionsweise vorherrschend bleibt, so daß sich diese nur formell
von selbständigen Handwerksbetrieben unterscheide; erst in der organischen Manu-
faktur könne man von einer systematischen Arbeitsteilung, von einem "geglieder-
ten Arbeitskörper" oder "Gesamtarbeiter" sprechen (Marx 1867; 199, 355, 357,
362 ff. und 369).
Die von Herkommer/Bierbaum in ihrer Kritik zum Ausdruck gebrachte wohl-
wollende Bestätigung, daß den Autoren der Leistungslohnstudie, obzwar sie zum
Teil auf Irrwegen seien, dennoch der Weg zum Gipfel marxistischer Erkenntnis
nicht ganz verbaut sei, ist zwar ehrenvoll, kann aber bei der Frage, inwieweit
Kapitalkategorien in der historischen Analyse verwendbar sind, wenig weiterhel-
fen. Ebensowenig tragen sie zur Klärung der Frage bei, ob unsere Analyse der
einzelnen Branchen oder Produktionsprozesse empirisch-historisch zutreffend ist
und die Charakterisierung der typischen Arbeitsprozesse oder die zeitliche Zuord-
nung bestimmter Entwicklungsstufen im einzelnen richtig vorgenommen wurde.

Wert- und Zeitökonomie

Der wichtigste und zugleich am meisten umstrittene Punkt unserer Analyse ist ihr
theoretischer Ansatz; er stützt sich auf die Sohn-Rethelsche These von der Dop-
pelnatur des Spätkapitalismus, die im Kontext seiner Theorie der gesellschaftlichen
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 87

Synthesis steht. Wir übernahmen in unserer Untersuchung diese Theorie in der ur-
sprünglichen Fassung der Schriften zwischen 1970 und 197 322 und verwendeten
sie zur Interpretation der historischen Entwicklung der Betriebsökonomie und ins-
besondere der Leistungsentlohnung in Deutschland. In dieser Fassung besagt die
Theorie kurz zusammengefaßt, daß parallel zur Durchsetzung des Imperialismus
als ,äußerer' Form im ,Inneren' des Kapitalismus eine neue, auf der unmittelbaren
zeitlichen Kommensuration von vergegenständlichter und lebendiger Arbeit beru-
hende Betriebsökonomie entstand, die eine qualitativ neue Unterwerfung der
menschlichen Arbeit unter das Kapital bewirkte und zugleich die bisher weitgehend
individuelle 23 manuelle Arbeit aufhob. Diese Betriebsökonomie erhielt in ihrer For-
mulierung durch Taylor, das heißt in der Doktrin des "wissenschaftlichen Mana-
gements", ihren adäquaten und bis heute gültigen Ausdruck. Sohn-Rethel sah je-
doch - ausgehend von der Marxschen Überlegung zur "Ökonomie der Zeit, darein
sich schließlich alle Ökonomie auf(löst)" (Marx 1857/8; 89)- in der zeitökonomi-
schen Grundlage der neuen Betriebsökonomie zugleich ein neues Formprinzip der
gesellschaftlichen Synthesis entstehen, das, weil es direkt auf den Arbeitsprozeß
und seine Zeitstruktur bezogen war, als Alternative zur Vergesellschaftung durch
Tausch, das heißt zur Synthesis durch das Wertgesetz, zu gelten habe. Diese gesell-
schaftliche Alternative sei zwar unter den Bedingungen kapitalistischerTaylorisierung
völlig überdeckt durch eine extreme Unterordnung der lebendigen Arbeit; die Kon-
trolle und die Übernahme der Zeitwirtschaft durch die Arbeiter auf der Grundlage
hochgradiger Vergesellschaftung der Produktion könnten jedoch ihre befreiende
Kraft entfalten. An der Behauptung dieses alternativen, systemtranszendierenden
Charakters der Zeitökonomie setzen auch die Kritiker 24 an: Herkommer/Bier-
baum (1979; 161 ff; 66 ff.) mit der Pointe der Infragestellung der behaupteten
"Eigengesetzlichkeit der technischen Abläufe", Wagner (1979) mit dem Verweis
auf die konkrete Erfahrung der Arbeiter im Arbeitsprozeß (anstelle des neuen Pro-
duktionsprinzips) als treibende Kraft neuer Einsichten und Bedürfnisse, Brandt et
al. (1978) schließlich mit einer Theoriekritik und Revision der Sohn-Rethelschen
Kategorien der Wert- und Zeitökonomie selbst.

22 Es handelt sich dabei um die in diesen Passagen deckungsgleichen deutschen Auflagen von
Sohn-Rethel (1970 und 19721 ), um die Broschüre (19722), ferner um eine historische Ana-
lyse (Sohn-Rethel 19731) und einen Aufsatz (Sohn-Rethel 19732). Die Sohn-Rethelsche
Theorie und ihre Entwicklung ist ausführlicher dargestellt in dem Aufsatz von G. Brandtin
diesem Heft.
23 Wir akzeptieren die Kritik von Herkommer und Bierbaum (1979; 160 f.) am falschen Ge-
brauch des Begriffes "private Arbeit", wo tatsächlich individuelle oder Einzelarbeit gemeint
ist. Der Sache nach halten wir aber daran fest, daß Lohnarbeit unter Bedingungen der for-
mellen Subsumtion wesendich individuell-handwerkliche Arbeit war - wie schon im voran-
gegangenen Unterabschnitt ausgeführt.
24 Neben den genannten Kritiken ist noch die von Jost Halfmann und Tillman Rexroth (1976)
von Interesse, auf die jedoch hier nicht genauer eingegangen wird, da sie sich nicht auf
unsere Studie bezieht, zudem vor allem auf die werttheoretischen Implikationen einerseits,
die krisentheoretischen Annahmen andererseits gerichtet ist (vgl. dazu jedoch den Aufsatz
von G. Brandtin diesem Heft).
88 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

Diese letztere Kritik geht am weitesten: Die Zeitökonomie wird hier nicht als
alternatives Formprinzip gesellschaftlicher Produktion, sondern im Gegenteil "als
Ökonomie der reellen Subsumtion des Arbeitsprozesses unter den Verwertungspro-
zeß" (27) begriffen, durch welche "die Arbeit nicht mehr nur formal, außerhalb
des Arbeitsprozesses, sondern real über ihre direkte Quantifizierung im Arbeits-
prozeß dem Kapital subsumiert (wird)" (31). Damit werde abstrakte Arbeit erst
real hergestellt, und auch eine gesellschaftliche Synthesis auf der Basis der Zeitökono-
mie könne deshalb nur "abstrakte Vergesellschaftung" (37) sein, d. h. Vollendung
der Unterwerfung der Arbeit. Bei dem Gegensatz von Wert- und Zeitökonomie han-
dele es sich daher um einen "systemimmanenten Widerspruch", denn als Produk-
tionsgesetz sei die Zeitökonomie "inneres Gesetz der Kapitalverwertung", während
die Marktökonomie diese nur über den Zirkulationsprozeß bestimmen könne (38
f.). Die Zeitbestimmung sei "als stoffliche Dimension der politischen Ökonomie zu
betrachten", es sei "die mit der Entwicklung kapitalistischer Technologien einher-
gehende Abstraktifizierung der Arbeit zugleich auch stoffliche Voraussetzung der
reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" (S. 47, 52 f.). Gleichgültig durch
welche Kritik im besonderen beeinflußt, hat Sohn-Rethel in der Revision seiner
Analyse der Doppelnatur des Spätkapitalismus 25 diese Kritik im wesentlichen ak-
zeptiert und theoretische Konsequenzen daraus gezogen. Die ursprüngliche Interpre-
tation verkannte, daß in der zeitökonomischen Betriebsorganisation die lebendige
Arbeit nur in abstraktifizierter, d. h. technologisch entmenschlichter Form kom-
mensuriert wird und daß insofern diese Zeitökonomie selbst von der Struktur des
Kapitalverwertungsprozesses geprägt ist.
Die Vision einer neuen Ökonomie der Zeit, die sich im Schoße der bestehenden
kapitalistischen Gesellschaft herausbilde, wird durch diese Auffassung der taylori-
stischen Zeitökonomie als materielle Form der Kapitalverwertung gegenstandslos.
Sie versuchte, die Kluft zwischen reeller Subsumtion und Emanzipation mit Gewalt
zu überspringen, da sie in den Bedingungen der äußersten Entfremdung der lebendi-
gen Arbeit zugleich die Chance und Tendenz zu ihrer Überwindung zu erkennen
glaubte. Damit werden jedoch zugleich die Dimensionen der Widersprüchlichkeit
von Wert- und Zeitökonomie erheblich zurückgenommen. Die wachsenden Zwänge
kontinuierlicher Produktion, die Zeitökonomie der Kapazitätsnutzung stellen die
entscheidenden dynamischen Kräfte der modernen kapitalistischen Entwicklung
dar. Aber die Produktionsökonomie muß in die Bewegungsgesetze und Grenzen der
Marktökonomie eingepaßt werden, denn in einer warenproduzierenden Gesell-
schaft konstituiert der Warentausch den gesellschaftlichen Nexus, der auch die Ar-
beitskommensuration - die im entwickelten Kapitalismus durch die Zeitökonomie
direkt vollzogen wird - leitet und beherrscht. Die Zeitökonomie als die Dynamik

25 Sohn-Rethels neue Überarbeitung seiner Theorie findet sich in der teilweise neuformulierten
englischen Ausgabe seines Hauptwerks (Sohn-Rethel 19781 ). Einige dieser neu gefaßten Ge-
danken sind in deutscher Sprache von Sohn-Rethel in kurzen Bemerkungen zusammenge-
faßt (Sohn-Rethel 19782);. dort bemerkt Sohn-Rethel auch, zu der Revision vor allem durch
ein unveröffentlichtes Manuskript von Thomas Kuby veranlaßt worden zu sein.
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 89

der monopolistischen Produktionsökonomie "muß innerhalb des Rahmens der


Marktökonomie (funktionieren), um sie mit einem System der gesellschaftlichen
Synthesis kompatibel zu machen" (Sohn-Rethel, 1978 1 ; 172). In der Entwicklung
der Betriebsökonomie seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Großkapital, das sich des
Widerspruchs beider Ökonomien zunehmend bewußt wurde, eine ,Planungsstrate-
gie' entwickelt, die unterschiedliche Methoden zur Berechnung des ,break-even-
point' als Maßstab zur Ausbalancierung der zentrifugalen Tendenzen der Produk-
tion und der zentripetalen Einengungen der Marktgrenzen heranzieht. Allerdings
war die Dualität belder Ökonomien - das Charakteristikum des Monopolkapita-
lismus - Grund der Weltwirtschaftskrise, die nur durch die weitreichende Adaptation
der Produktion von nichtreproduktiven Gütern, d. h. die Aufrüstungswirtschaft
des deutschen Faschismus und die darauffolgende internationale Rüstungskonkur-
renz, überwunden werden konnte. Der Widerspruch zwischen Markt- und Produk-
tionsökonomie zeigt sich daher vor allem - als zunehmende Schwächung der funk-
tionalen Beziehung zwischen Produktion und Zirkulation - in der veränderten
Wirkungsweise der Marktgesetze: Der Zwang zur unbegrenzten Produktion, der
aus der zeitökonomischen Struktur moderner Produktionsprozesse resultiert, wird
durch die staatliche Ausdehnung der begrenzten Märkte aufgefangen, indem die
wachsenden Kosten für die Produktion "nicht-reproduktiver Werte" durch den
Staat auf die Schultern der Bevölkerung überwälzt werden; er äußert sich mithin
in dem zunehmenden Zerstörungseffekt der kapitalistischen Produktion. Es muß
somit auch offenbleiben, inwieweit bzw. wie lange diese widerstrebenden Kräfte
zusammengehalten werden können 26 •
Die systemtranszendierende Dynamik der Zeitökonomie, der in der alten Fas-
sung der Sohn-Rethelschen Theorie ein entscheidender Stellenwert zukam, ist hier
weitgehend fallengelassen. Der Kapitalismus befindet sich ihm zufolge keineswegs
im Übergangsstadium zum Sozialismus, und von einer immanenten Notwendigkeit
für seinen endgültigen Zusammenbruch kann keine Rede sein. Konsequenterweise
treten bei Sohn-Rethel an die Stelle der früheren Vorstellung von einer sozialisti-
schen Wirtschaft als Kontrolle der Arbeiter über die Zeitökonomie und als ihr
Selbstmanagement Reflexionen über die geschichtsphilosophische Bedeutung der
Automation und die Zukunft der Arbeit (1978 1 ; bes. 172-185). Ihre Diskussion
würde jedoch über die Thematik dieses Aufsatzes weit hinausführen, sie muß einer

26 Die Diskussion des Verhältnisses von Wert- und Zeitökonomie unter dem Aspekt der Nach-
fragestruktur, wie sie von Benz et al. in ihrem Aufsatz in diesem Heft geführt wird, ist zwar
als Gegenstand und theoretisches Problem von Interesse, trifft aber u. E. nicht das Kernargu-
ment Sohn-Rethels; sie ist daher auch nicht als ,zweite Revision' der Kategorien (G. Brandt)
zu interpretieren. Denn Sohn-Rethels im Anschluß an Schmalenbach entwickelte These von
der abnehmenden Anpassungsfähigkeit der zeitökonomisch strukturierten Produktion an
die Marktschwankungen bezieht sich auf deutliche Rückgänge des Nachfragevolumens,
denen das Produktionsvolumen nicht bzw. nur um den Preis progressiv steigender Verluste
folgen kann. Eine Kritik dieser These könnte daher nur durch den Nachweis erfolgen, daß
es systematische Gründe dafür gibt, daß heute solche Schwankungen im Nachfragevolumen
nicht mehr zu erwarten sind.
90 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben. Diese revidierte Fassung des Verhält-


nisses von Wert- und Zeitökonomie berührt allerdings die Ergebnisse unserer Studie
nur in einigen, sozusagen spekulativen revolutionstheoretischen Exkursen sowie in
bezug auf die Einschätzung von Stellenwert und Reichweite der Leistungspolitik
(darüber weiter unten); denn wir haben in der historischen Analyse stets an der
tayloristischen Unter- und Einordnung der Zeitökonomie in die Bewegungsgesetze
der Wertökonomie festgehalten.

Interpretation und Kritik des Taylorismus

Das unserer Studie zugrundeliegende Verständnis des Taylorismus steht im Gegen-


satz zu weithin geläufigen, aber kurzschlüssigen Interpretationen der Taylorschen
"Wissenschaftlichen Betriebsführung". Denn der Kern des Taylorismus liegt nicht so
sehr in der extremen Zerstückelung der Arbeit und einer entsprechenden extremen
Reduzierung der Arbeitsanforderungen, wie dies häufig behauptet wird (vgl. dazu
etwa Reimar Birkwald 1976; 62), oder in der spezifischen, von Taylor selbst ange-
wandten Methodik. Diese stellt Richard Vahrenkamp (1976; 14-26) in das Zen-
trum seiner Argumentation und folgert, daß Taylors Ideen weitgehend am Hand-
werk orientiert blieben, daß er ein ,Theoretiker der Kleinproduktion' und daß der
Taylorismus an der Schwelle qualifizierter Handarbeit stehengeblieben sei. Vielmehr
zielt Taylors System vor allem auf die zeitökonomische Einordnung der Arbeit in
einen maschinenbestimmten Produktionsablauf und dadurch auf die Unterwer-
fung der lebendigen Arbeit unter den kapitalistischen Produktionsprozeß durch
deren Zwangstiming. Die im einzelnen von Taylor entwickelten und vertretenen
Prinzipien des Arbeits- und Zeitstudiurns, der Normierung der Arbeiten und Ar-
beitszeiten, der Auslese und Anpassung der Arbeiter, der neuen Betriebsorganisa-
tion und der Leistungsentlohnung sind dazu unabdingbare Mittel, die sich jedoch
je nach den Bedingungen in ihrer konkreten Gestalt verändern können; nicht zu-
fällig sah Taylor selbst Pensum und Bonus (Leistungslohn) als die beiden zentralen
Pfeiler seines Systems an. Der von Vahrenkamp konstruierte Gegensatz zwischen
Taylorismus (Betriebs- und Arbeitsorganisation) und Fordismus (Mechanisierung
nach dem Fließprinzip) ist ein Scheinwiderspruch, denn es handelt sich um zwei
Seiten desselben Prozesses, wobei je nach technologischen Bedingungen zunächst
die eine Seite im Vordergrund stand, jedoch jeweils durch die andere ergänzt wur-
de (vgl. zu dieser Einschätzung Sohn-Rethel1978 1 und Walter Volpert 1977).
Daher sind partielle Anpassungsmaßnahmen der Arbeitsgestaltung und -organi-
sation, wie sie etwa unter dem Titel der ,Humanisierung der Arbeit' als Gruppen-
arbeit, Einrichtung von Puffern oder Arbeitserweiterung und -bereicherung, d. h.
allgemein als Flexibilisierungsschritte, vorgenommen werden, keineswegs als Ent-
taylorisierung zu verstehen; die Prinzipien des Taylorismus bleiben hier in Kraft,
sie werden nur veränderten Bedingungen angepaßt.
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 91

Durch die Revision des theoretischen Verhältnisses von Zeit- und Wertökonomie
wird es nunmehr möglich, den Taylorismus begrifflich präziser und seine Kritik
radikaler zu fassen (Vgl. Sohn-Rethel 19781; bes. 148-163). Die tayloristische
Zeitökonomie hat ihre entscheidende Funktion als Instrument zur Kontrolle und
Unterordnung der lebendigen Arbeit durch das Kapital: Ausgangspunkt Taylors
war die Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Management um den Einsatz
und die Nutzung der lebendigen Arbeitskraft, die solange nicht zugunsten der Be-
triebsleitung entschieden werden konnte, wie nicht das Produktionswissen sowie die
Festlegung von Methoden und Zeiten bei ihr zentralisiert waren. Daher mußte sie
durch das Arbeits- und Zeitstudium sich diese Kompetenzen aneignen und in Form
von Zeitvorgaben (Taylors ,slide rules') für die zerlegten Teilarbeiten den Arbeitern
wieder zurückgeben. Diese Zwangszeitbestimmung ist reine Anmaßung, denn sie
behandelt die menschliche Arbeit gemäß der Aneignungslogik. Wie im Warentausch
"wird Zeit zu einer quantifizierbaren Dimension abstraktifiziert, in die der wissen-
schaftliche Intellekt dann sorgfältig ausgewählte Inhaltselemente einfügen kann,
um die quantitativen Relationen ihrer Bewegungsgesetze in der in Warenform ge-
bannten Natur zu ermitteln." Das geschieht jetzt aber mit den Antipoden der An-
eignungslogik, der aktiven lebendigen Arbeit. "Taylorisierte Arbeit ist daher
menschliche Arbeit, die in eine mit der Maschinerie homogene technologische
Größe verwandelt wurde, ohne jede Umstellungsschwierigkeit ihr direkt adaptiert,
in sie eingefügt oder in sie transformiert werden kann." (Sohn-Rethel19781; 155).
Die Arbeit ist hier dem Kapital nicht nur ökonomisch (durch den Verkauf der
Arbeitskraft), sondern auch physisch und technologisch subsumiert. Erst in dieser
Gestalt erfüllt sie das Postulat des ,Automatismus' aller Produktionsfaktoren, den
das Kapital als materielle Basis seiner kontinuierlichen Verwertung benötigt; und in
dieser Form ist sie Ausgangspunkt der Automatisierung ihrer selbst. Zugleich stellt
die Verselbständigung des modernen Managements als Träger der für den Monopol-
kapitalismus spezifischen Zeitökonomie eine neue Art der Trennung von geistiger
und körperlicher Arbeit dar, auf der die Stabilität dieser Gesellschaft in zunehmen-
dem Maße beruht und die mittels eines spezifischen Fetischismus des modernen
Managements (dessen Ideologie in einem Mystizismus der wissenschaftlich-techni-
schen Revolution besteht und deren Basis die Individualisierung von Arbeitslohn
und -Ieistung ist) reproduziert wird. Die tayloristische Arbeits- und Zeitstudie und
die folgenden Normierungen haben nicht selbst eine vergesellschaftende Funktion,
denn Taylor individualisierte gerade die Arbeiter und Arbeitsaufgaben, sondern sie
erlangen diese - der Taylorismus dient als spezifische Methodik zur Durchführung
der monopolkapitalistischen Zeitökonomie - erst durch ihre Vergegenständlichung
in Form einer am Fließprinzip orientierten Maschinerie. Erst durch das Fließband
oder andere maschinelle Transfereinrichtungen wird der Arbeiter materiell zum
funktionalen Gesamtarbeiter, wird er in eine vollständige technologische Kombi-
nation hineingezwungen. Die begriffliche Präzisierung besteht vor allem in der
Bestimmung des Taylorismus als System der Betriebsorganisation, d\}rch das die
lebendige Arbeitskraft in ein Konglomerat technologisch gefaßter Komponenten
92 Rudi Schmiede!Edwin Schudlicb

oder Eigenschaften verwandelt wird. Die Reduzierung der lebendigen Arbeit auf
technische Variablen ist die Voraussetzung, um die Arbeitskraft in homogener
Form in einen durch maschinell bestimmte Zeitstrukturen und -abläufe determi-
nierten Produktionsprozeß einzubeziehen. Damit wird zugleich die Gegenüberset-
zung von Technisierung und Organisierung als qualitativ unterschiedlicher Produk-
tivitätsstrategien (etwa in Form der Diskussion um die logische oder historische
Priorität von Taylorismus und Fordismus) hinfällig. Zudem bietet diese Bestim-
mung einen theoretischen Ausgangspunkt für die Automationsdebatte. In unserer
Studie, die es vor allem mit der Arbeitsorganisation und der Leistungsentlohnung
als ihrem Instrument zu tun hatte, wurde allerdings die Vergegenständlichung des
Arbeitsprozesses in Form der entwickelten Technologie (oder das komplementäre
Verhältnis von Taylorismus und Fordismus) nur als äußere Rahmenbedingung un-
tersucht.
Diese Neufassung der theoretischen Analyse zieht für unsere Studie als Konse-
quenz eine radikalisierte Kritik des ,wissenschaftlichen Managements' und seiner
Komponenten nach sich. Die Unterscheidung zwischen wissenschaftlich-rationalen
und allein auf die Verwertungslogik zurückgehenden Elementen des Taylorismus
(Schmiede/Schudlich 1976; 442 ff.), die wir im Anschluß an Ermanski (Schmiede/
Schudlich 1976; 457 ff.) vorgenommen haben, ist in dieser Form zu einfach. Zwar
sind die Ökonomisierung der Arbeit, d. h. der rationelle, sparsame Einsatz der
menschlichen Arbeitskraft und die Steigerung der Produktivität durch bessere
Arbeitsorganisation - isoliert vom Standpunkt der Entwicklung der Produktiv-
kräfte aus betrachtet -Ausdruck von Wissenschaftlichkeit und Rationalität. Unter
dem Gesichtspunkt der Emanzipation des Menschen von seinen natürlichen Begren-
zungen und der Entfaltung seiner Individualität innerhalb der Gesellschaft stellen
sie jedoch zugleich eine extreme Form der Verarmung und Entfremdung mensch-
licher Selbstbetätigung dar, die auch die spezifische Form der Rationalität der
Arbeitsorganisation bestimmt und prägt. Wir haben es hier mit einer Erscheinungs-
form der "technologischen Rationalität" zu tun, deren partiell-isolierter Charakter
selbst Ausdruck ihrer Einpassung in die kapitalistische Verwertungslogik ist und
die diese reproduziert (Sohn-Rethel 19781 und Otto Ullrich 1977 haben dies auch
für die herrschende "wissenschaftliche Rationalität' ausgeführt). Eine Kritik des
Taylorismus, die sich nur auf dessen unmittelbare Behandlung der menschlichen
Arbeitskraft bezieht (also etwa die positiven Effekte der Ökonomisierung der Ar-
beit gegen die negativen Folgen ihrer Intensivierung ausspielt), greift deshalb zu
kurz, weil sie nicht die Einbettung dieses unmittelbaren Verhältnisses in eine ge-
nerelle Produktivitätsstrategie des Kapitals berücksichtigt, die auf der allgemeinen
Unterordnung der lebendigen Arbeit unter die kapitalistische Akkumulation be-
ruht.
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 93

Zeitökonomie und Ideologie der "Lohngerechtigkeit"

Die Verbindungslinien von der Durchsetzung der Zeitökonomie zur Aktualität


wachsender Gegenmacht, zur offensiven und erweiterten Arbeiterkontrolle und
schließlich zur Neubestimmung des Planungsbegriffs (Schmiede/Schudlich 1976;
37 f., 478 ff.), die unter Rückgriff auf die Vorstellung der Zeitökonomie als Form-
prinzip einer alternativen gesellschaftlichen Synthesis begriffen wurden, unterliegen
entsprechend der veränderten Fassung des Verhältnisses von Zeit- und Wertökono-
mie dem Verdikt der zu kurzgeschlossenen Beziehung zwischen Tendenzen der
kapitalistischen Produktion und dem Veränderungswillen und -bewußtsein der
Lohnabhängigen.
In diesem allgemeinen Sinne ist daher auch die Kritik von Herkammer/Bierbaum
(1979; 164 f.), die Durchsetzung des "wissenschaftlichen Managements" und des
"industriellen Leistungslohns" könne nicht das "Ende der Illusionen" über das ka-
pitalistische Lohnsystem bedeuten, und von Wagner (1979; 257 f.), die treibende
Kraft einer Systemkritik sei nicht "die objektive Herausbildung eines neuen Produk-
tionsprinzips", berechtigt. Einige Formulierungen unserer Studie, die - allerdings
sehr vorsichtig - den Verlust der Legitimationsfunktion des Leistungslohns über-
haupt für möglich halten (475), verraten in der Tat Momente von Wunschdenken 27 •
Wir halten aber weiterhin an der These fest, daß sich die Legitimationsbasis der
Ideologie der "Lohngerechtigkeit" in der Vergangenheit gewandelt hat und auch
künftig weiter wandeln wird, wie das im Hinblick auf ihre verschiedenen Dimensio-
nen analysiert wurde. Kurz zusammengefaSt lautete das Argument: Basis der Ideo-
logie der "Lohngerechtigkeit" ist die inter- und intraindividuelle "Leistungsgerech-
tigkeit" des Lohns. Der ihr zugrundeliegende Begriff der Leistung verändert sich
jedoch im Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und bleibt widersprüchlich. Er
wird zunehmend eingeengt - von der unmittelbaren Proportionalitätsbeziehung
zwischen Produktionsergebnis (Stück) und Lohn im Stücklohn über die im REFA-
System postulierte Ermittlung der tatsächlichen Arbeitsintensität (Maßstab der
"Normalleistung") als Lohngrundlage bis hin zur Orientierung allein an der aus dem
interindividuellen Vergleich gewonnenen relativen Leistung in der Analytischen
Arbeits- und Leistungsbewertung. Zugleich wird er inhaltlich diffuser, indem wei-
tere, selbst persönlichkeitsstrukturelle Merkmale einbeziehende Anforderungsarten
herausgezogen werden. Die "Lohngerechtigkeit" läßt sich nur dann aufrechterhal-
ten, wenn die am veränderten Leistungsbegriff orientierte Bewertung der Tätigkei-
ten und Leistungen als wissenschaftlich gerechtfertigt und damit als "gerecht"

27 Allerdings enthält die Textstelle der Studie (R. Schmiede und E. Schudlich 1976; 238),
auf die sich Herkommer/Bierbaum hauptsächlich berufen - daß der industrielle Leistungs-
lohn "die adäquate Form der Lohnzahlung zur Beseitigung der Ideologie der Lohngerech-
tigkeit" sei -, einen entscheidenden sinnverkehrenden Schreibfehler, der bei der Redaktion
des Textes leider unbemerkt blieb: Statt "Beseitigung" muß es selbstverständlich "Befesti-
gung'' heißen, wie aus dem Zusammenhang und den weiteren Ausführungen (vgl. 210)
leicht erkennbar ist.
94 Rudi Schmiede!Edwin Schudlich

empfunden wird. Das erscheint jedoch angesichts der offensichtlichen Setzungen,


die in diese Bewertung eingehen (Verzicht auf das Aushandlungsmoment der "Nor-
malleistung" bei den Systemen vorbestimmter Zeiten, Bestimmung von Lohnhöhe
und -differenzierung, Willkürlichkeit der Gewichtung von Tätigkeits- und Leistungs-
elementen, Verwendung von Korrekturfaktoren beim Vergleich verschiedener Sy-
steme) und zumal in Anbetracht der wachsenden Schwierigkeiten, bei fortgeschrit-
tener Integration von Produktionsprozessen das jeweilige Verhältnis von Lohn und
Leistung des Einzelnen zu bestimmen, immer fraglicher (Schmiede/Schudlich 1976;
445 ff., 471 ff.). Zudem geht dieser Entwicklung eine zunehmende Rotkoppelung
der unmittelbaren Beziehung zwischen Schwankungen von Lohn und Leistung
parallel (sie äußert sich als Abnahme der "Schwankungsempfindlichkeit" der
Löhne), von derwirauf eine zunehmende Orientierung des Lohns an den Reproduk-
tionskosten der Arbeit schlossen (477). Auch in diesem Zusammenhang bleibt die
Kritik von Herkommer/Bierbaum (1979; 165) unverständlich, daß die Unterschei-
dung von Zeit- und Leistungslohn als Grundformen des Lohnes einerseits nicht
sinnvoll sei, andererseits aber die Darstellung ihrer historischen Entwicklung "gera-
dezu die systematische Trennung, die mit Marx in der Unterscheidung von Zeit- und
Stücklohn als den beiden Grundformen des Lohnes vorzunehmen ist", verdecke
(164). Unser Bemühen bestand gerade darin, die (theoretische) Zeitlohnbasis und
den (historischen) Zeitlohnursprung des Leistungslohns nachzuweisen (Schmiede/
Schudlich 1976; 197 ff.) und zu zeigen, inwiefern der Leistungslohn die allgemei-
nen Funktionen des kapitalistischen Lohns adäquat erfüllen kann und daher ein
notwendiges Instrument der kapitalistischen Betriebsorganisation ist.
Die Überlegung, daß mit den neuen Systemen immer weniger der Anspruch auf
Entgeltung des "Wertes der Arbeit" - wie er für kapitalistische Lohnarbeit zentral
ist - erhoben werde (475), greift tatsächlich etwas zu weit. Zwar ist es richtig, daß
sich die Vorstellung des "Wertes der Arbeit" vom Produktionsergebnis zunehmend
ablöst; das ist jedoch nur ein anderer Ausdruck der realen Abstraktifizierung der
Arbeit. Indem sie ihren stofflichen Inhalten nach dem Arbeiter in wachsendem Ma-
ße äußerlich und gleichgültig wird, muß ihm auch die Legitimationsgrundlage seines
Lohns abstrakter werden. Sie löst sich zum einen in abstrakte, nurmehr wissen-
schaftlich-analytisch zu erfassende Dimensionen auf, verlagert sich zum anderen
auf äußerliche Merkmale des Produktionsprozesses wie Sicherung der Kontinuität
der Beschäftigung, Sicherung eines angemessenen Reproduktionsstandards etc.;
diese Inhalte stellen wiederum die Brücke zur Reproduktionsorientierung dar. Ob
die Vorstellung von der Entgeltung des ,Wertes der Arbeit' besagt, daß dem Produ-
zenten tatsächlich der ganze Wert seines Arbeitsergebnisses bezahlt wird, bezweifeln
wir; daß Profit gemacht wird, ist allgemein bekannt und wird unter den gegebenen
Verhältnissen, in denen daraus unter Akkumulations- und Konkurrenzzwängen die
notwendigen Produktionsmittel finanziert werden sollen, auch weithin als legitim
angesehen. Maßstab für die "Lohngerechtigkeit" ist daher unserer Vermutung nach,
inwieweit das System bzw. das Unternehmen diese Funktion auch erfüllt, ohne
essentielle Lebensinteressen durch die Lohngestaltung einzuschränken. Die Orien-
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 95

tierung an der Sicherheit des Arbeitsplatzes und die Erhaltung der Arbeitskraft
überdeckt daher - und ersetzt möglicherweise zum Teil - die traditionelle Legiti-
mationsbasis des Lohns, die von der unmittelbaren Beziehung des Lohns zu der am
Produktionsergebnis gemessenen Leistung abhing. Da das Motiv der Beschäftigungs-
und Arbeitskraftsicherung dominierte, wie im Verlauf der siebziger Jahre sehr deut-
lich wurde, scheintjedenfalls die Veränderung bzw. der teilweise Verlust der unmit-
telbar leistungspolitischen Legitimationsgrundlage des Lohns für das System weit
weniger Sprengkraft zu enthalten, als wir früher angenommen hatten.

Bedingungen und Grenzen gewerkschaftlicher Leistungspolitik

Für unsere Einschätzung, daß im Zusammenhang mit der zunehmenden Autonomie


der Unternehmerischen Leistungspolitik eine Gewichtsverschiebung innerhalb der
betriebs- und gewerkschaftspolitischen Gegenstandsbereiche und Ebenen der Aus-
einandersetzung erfolgt, ergaben sich in der realen Entwicklung Anhaltspunkte.
Wir setzten der Eigenständigkeit der Leistungspolitik des Kapitals die Betonung und
Forderung einer eigenständigen, auf die Gebrauchswertseite der Arbeitskraft bezo-
genen Leistungspolitik der Gewerkschaften gegenüber, die wir "kompensatorische
Leistungspolitik" (d. h. eine Politik, die Leistungsanforderungen mit Forderungen
nach leistungspolitischen Konzessionen begegnet) im Gegensatz zur "Monetarisie-
rung" (die lohnpolitische Abgeltung von Leistungsanforderungen) nannten (Schmie-
de/Schudlich 1976; 479 f.). Solche Tendenzen sind in der Tat in den Auseinander-
setzungen der siebziger Jahre zu beobachten: Die Pausenregelung im Lohnrahmeu-
tarifvertrag II in Baden-Württemberg, die andauernde Auseinandersetzung um die
Meßtechnik und die Toleranzgrenzen der Leistungsbemessung im Akkord im An-
schluß an diesen Vertrag, Elemente der Absicherungsregelung für die Setzer in der
Druckindustrie sowie die ursprüngliche Konzeption des Absicherungstarifvertrages
in der baden-württembergischen Metallverarbeitung enthalten diese Perspektive
der unmittelbar Ieistungs- oder sogar beschäftigungspolitischen Kompensation ver-
änderter Leistungsanforderungen. Diskussionen innerhalb der IG Metall, in welcher
Form eine weitere Arbeitsintensivierung und -abstraktifizierung als Konsequenz der
Rationalisierungspolitik im allgemeinen und von Arbeitszeitverkürzungen im beson-
deren verhindert werden können, sind von ähnlichen Überlegungen getragen. Eben-
so wurde deutlich, daß leistungspolitische Gegenstände zunehmend Gewicht in der
Betriebsrats- und Gewerkschaftspolitik gewannen und in erhöhtem Maße auch
Konfliktinhalt waren (vgl. dazu die im Anhang zu diesem Heft aufgeführten Unter-
suchungen der "Projektgrupl'e Gewerkschaftsforschung"). Es scheint immer mehr
zur Notwendigkeit gewerkschaftlicher Interessenvertretung zu werden, durch die
Regelung leistungspolitischer Fragen zumindest Einflußmöglichkeiten in diesem
wichtiger werdenden Bereich zu erlangen.
Allerdings macht die bisherige Entwicklung zugleich die Grenzen dieser Politik
deutlicher. Zwar gehört die Leistungspolitik selbst als Bestandteil zum Zentrum des
96 Rudi Scbmiede!Edwin Scbudlicb

kapitalistischen Verwertungsprozesses, nämlich der materiellen Produktion und


der sie betreffenden Unternehmensentscheidungen; insofern tangiert der Versuch
der Kontrolle der Belegschaften über leistungspolitische Parameter unmittelbar die
Unternehmerische Entscheidungsautonomie in der Gestaltung des unmittelbaren
Produktionsprozesses. Aber es deutet sich an, daß die Regelung der Bedingungen
und Inhalte der Leistungspolitik sich im Prinzip auf die Vereinbarung bestimmter
Mindestbedingungen oder Übergangskonzessionen begrenzen läßt - ähnlich wie dies
etwa für die Arbeitszeiten oder Arbeitssicherheitsstandards schon früher geschehen
ist. Zwar sind diese Regelungen im einzelnen umstritten; trotzdem zeichnet sich ein
Konsens zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung über den Sinn der
Festlegung leistungspolistischer Mindeststandards (etwa der Einführung von Pausen
oder der "Abpolsterung" oder "weichen Landung" bei Herabgruppierungen) ab,
wie er auch Grundlage der unter dem Titel der "Humanisierung der Arbeit" zusam-
mengefaßten Bestrebungen ist. Dieser Konsens beruht auf der Priorität der auf die
Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen bezogenen Sicherheitsinteressen der
Lohnabhängigen selbst, die einer Begrenzung ihrer leistungspolitischen Interessen
zugunsten der Sicherung ihrer allgemeinen Reproduktionsbedingungen schwerlich
die Zustimmung verweigern können.
Allgemein gesagt läßt sich die Regelung der Arbeits- und Leistungsbedingungen
als Definition und Festlegung der Komponenten des Gebrauchswerts der Arbeits-
kraft begreifen, an denen das Kapital - da der Gebrauchswert der Arbeitskraft da-
rin besteht, den wachsenden Wert des konstanten Kapitals zu erhalten und zu über-
tragen - ein Interesse hat, und die die Arbeiter im Interesse der Sicherung von Min-
destarbeitsbedingungen begrüßen. Die Regelung leistungspolitischer Fragen ist daher
kaum als Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft zu begreifen, sondern
eher umgekehrt als Durchsetzung ihrer "Kommodifizierung", denn wie bei jeder
Ware basiert der Wert auf einem definitiven Gebrauchswert für den Käufer (vgl.
dazu den Aufsatz von C. Deutschmann in diesem Heft, der diese Frage ebenfalls
aufgreift, aber unter der umgekehrten Fragestellung der Grenzen der Leistungspo-
litik des Kapitals diskutiert). Man könnte in diesem Sinn die Fähigkeit des Kapitals,
leistungspolitische Größen festzulegen, sogar als Ausdruck des hohen Grades seiner
Kontrolle über die lebendige Arbeit interpretieren, die es erst ermöglicht, den in
seine Komponenten zerlegten Gebrauchswert der Arbeitskraft in seinen Dimensio-
nen kalkulierbar zu machen und damit quantitativ zu bestimmen. Insofern ist
dann die wachsende Abstraktifizierung der lebendigen Arbeit Grundlage und Inhalt
der leistungspolitischen Regelungen, die sich in der Realität beobachten lassen.
Eine auf die Arbeitsbedingungen gerichtete Gewerkschaftspolitik betrifft- das ist
für die Lohnpolitik mittlerweile allgemein anerkannt- nur eine, wenn auch sehr wich-
tige Dimension des gesellschaftlichen, vom Kapital beherrschten Produktionsprozes-
ses. Wir haben das, ohne es allerdings begrifflich genau fassen zu können, in der These
von der doppelten "strukturellen Schwäche der Leistungspolitik der Arbeiter" ange-
deutet (Schmiede/Schudlich 1976; 34 ff., 43 9). Durch die Revision des theoretischen
Rahmens wird diese Tendenz bestätigt; Brandt u.a. (1978) sprechen nurmehr von
Entwicklung von Zeitökonomie und Lohnsystem 97

einer "Restfunktion" der leben<li,gen Arbeit im Produktionsprozeß, schreiben ihr


zwar ein wachsendes ,Störpotential' zu, das jedoch kaum eine weitergehende Per-
spektive erkennen lasse. Die Arbeitsbedingungen sind nicht zu trennen vom Ge-
samtcharakter des kapitalistischen Reproduktionsprozesses; genauso zentral für
seine Funktion sind die Entscheidungen über die Produktionsziele, d. h. darüber,
welche Gebrauchswertgestalt die jeweilige Erfüllung des Verwertungsimperativs
annimmt und welche gesellschaftlichen Konsequenzen diese hat. Sie sind jedoch
innerhalb der Arbeiterbewegung bisher kaum in Frage gestellt worden; lediglich
durch Randgruppen der Gewerkschaften deutet sich eine leichte Polarisierung der
Positionen zu Energie-, Umwelt-, Rüstungssproblemen und ähnlichen Fragen an.
Solange sie im Prinzip akzeptiert werden, muß eine auf die Arbeitsbedingungen
gerichtete Politik der Gewerkschaften immer strukturell defensiv bleiben, da die
Legitimation der als Mittel für den nicht in Frage gestellten Zweck der Produktion
begriffenen Arbeitsbedingungen nicht abzuweisen ist.

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Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen

1 Vorbemerkung

Anlaß der theoretischen Überlegungen zur Funktion von Computer-Technologien


bei der Reorganisation von Produktionsprozessen sind zwei Forschungsprojekte des
Instituts für Sozialforschung, von denen eines den Auswirkungen des Computerein-
satzes in ausgewählten Betriebsabteilungen der Stahlindustrie und des Bankgewer-
bes nachging' , während das andere Entwicklungstendenzen der industriellen Arbeit
und Möglichkeiten alternativer Arbeitsgestaltung unter Bedingungen des Einsatzes
von Computer-Technologien in Industrien der Fertigungstechnik 2 aufzeigen soll. In-
dustriesoziologische Forschung zu Entwicklungstendenzen der Arbeit im Prozeß des
technischen Wandels hatte bis dahin zwar den Einsatz konventioneller Produktions-
techniken im Stadium der Mechanisierung und Automatisierung untersucht, nicht
jedoch die spezifische Funktion von Computer-Technologien bei der Automatisie-
rung geklärt. Das Forschungsteam stand so vor der Aufgabe, die Funktion von Com-

1 Brandt, G., Kündig, B., Papadimitriou, Z., Thomae, ]., Computer und Arbeitsprozeß. Eine
arbeitssoziologische Untersuchung der Auswirkungen des Computereinsatzes in ausgewähl-
ten Betriebsabteilungen der Stahlindustrie und des Bankgewerbes, Frankfurt 1978.
2 IfS; Bedingungen und Möglichkeiten menschengerechter Arbeitsgestaltung im Bereich com-
putergestützter Produktionsprozesse (laufendes Forschungsprojekt).
Gegenstand der Studie sind Fragen der Arbeitsgestaltung im Bereich fortgeschrittener Pro-
duktionstechnologien. Unter dem leitenden Gesichtspunkt der Veränderung der Restriktivi-
tät industrieller Arbeit sollen insbesondere drei Untersuchungskomplexe geklärt werden:
die Auswirkungen des technisch-organisatorischen Wandels auf die Arbeitsanforderungen,
die Qualifikationsstruktur, die Arbeitsbelastungen und die allgemeinen Arbeitsbedingun-
gen bei computer-gestützten Arbeitsprozessen und Veränderungstendenzen gegenüber
traditionellen Formen der industriellen Produktion;
das Verhältnis von Produktionstechnik (auch technologischen Produktinnovationen) und
Arbeitsorganisationen bei fortgeschrittenen Technologien unter besonderer Berücksichti-
gung von Variabilität und Flexibilität der Arbeitsorganisation sowie der Unternehmeri-
schen Interessen und Motive, die in die Auswahl der Technologien und in die konkrete
Ausprägung der Arbeitsorganisationen eingehen;
die Wahrnehmung und Verarbeitung technisch-organisatorischer Veränderungen durch
die betroffenen Beschäftigten sowie damit im Zusammenhang stehende Interessen und
Forderungen der Arbeitnehmer und ihrer lnteressenvertretungen.
Untersuchungsfelder des Forschungsprojektes sind der Maschinenbau, d,t; Elektrotechnische
Industrie und die Automobilindustrie: Im Maschinenbau werden Bereiche der Teilefertigung
mit konventionellen Werkzeugmaschinen im Vergleich zur Fertigung mit NC- und CNC-ge-
steuerten Maschinen sowie rechnergestütztes Konstruieren und EDV-gestützte Fertigungs-
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 101

puter-Technologien im Unterschied zu herkömmlichen Automatisierungstechniken,


ihr Verhältnis zur Arbeitsorganisation zu bestimmen und Möglichkeiten variierender
Arbeitsgestaltung herauszufinden.
Technisch unterscheiden sich Computersysteme von herkömmlichen Automaten
durch ihre besondere Flexibilität. Diese geht auf die ungleich höhere Kapazität der
Computersysteme zur Verarbeitung, Speicherung und Automatisierung geistiger
Funktionen zurück. Diese Qualität von Computer-Technologien konstituiert auch
ihre ökonomische Funktion im Produktionsprozeß: indem sie als Rechnersteuerun-
gen Teilarbeiten zu einem kontinuierlich abgestimmten Arbeitsprozeß integrieren
und damitvollständigder Maschinerie unterwerfen, tragen sie zur Durchsetzung pro-
duktionsökonomischer Rationalität bei. Die besondere Flexibilität von Computer-
Technologien ermöglicht es dabei zunehmend, den tendenziellen Widerspruch zwi-
schen markt- und produktionsökonomischen Erfordernissen der Gestaltung von Pro-
duktionsprozessen zu überbrücken.
Die nachfolgenden Ausführungen sollen den Verlauf der theoretischen Diskus-
sion, die zu dieser Einschätzung führte, rekapitulieren. Ferner sollen sie zeigen,
wie im Lauf der Auseinandersetzung mit industrie- und arbeitssoziologischen For-
schungskonzeptionen und in der Reflexion neuerer Entwicklungstendenzen des in-
dustriellen Produktionsprozesses der ursprünglich aus dem kategorialen Rahmen der
traditionellen Industriesoziologie entwickelte Forschungsansatz revidiert wurde. Die-
se Revision war das Resultat von Forschungserfahrungen aus der Studie "Computer
und Arbeitsprozeß" (Brandt u. a. 1978) und fand ihren Ausdruck in der Neukon-
zeption des Untersuchungsansatzes sowie der Reinterpretation der Untersuchungs-
ergebnisse. In seiner reformulierten Fassung basiert dieser Ansatz auf einer Ausein-
andersetzung mit dem Theorieentwurf A. Sohn-Rethels (1970, 1972), der allerdings
weitgehend modifiziert wurde. Dabei wurde versucht, die kategoriale Unterscheidung
von Markt- und Zeitökonomie für die Analyse der Reorganisation von Produktions-
prozessen mit Hilfe von Computer-Technologien nutzbar zu machen. Im Verlauf

Fortsetzung Fußnote 2
s~euerung untersucht. In der Elektrotechnischen Industrie wird die Umstellung von Ferti-
gungs- und Montageprozessen elektromechanisch aufgebauter Produkte auf die von Produk-
ten mit elektronischen Bauelementen untersucht. Dabei geht es sowohl um die durch tech-
nologische Produktinnovationen veränderten Arbeitsanforderungen als auch um die Untersu-
chung der diesem Prozeß korrespondierenden Umstellungen der technisch-organisatorischen
Struktur des Fertigungs- und Montageprozesses. In der Automobilindustrie werden Umstel-
lungen im Karosserierohbau untersucht, bei denen die Qualität der technisch-organisatori-
schen Veränderungen vor allem durch den Einsatz von Handhabungsautomaten und deren
Integration in prozeßrechnergesteuerte Produktionsprozesse zu charakterisieren ist.
Für die Untersuchungsfelder aller drei Branchen gilt, daß nicht nur die unmittelbar durch
den Einsatz von Computer-Technologien veränderten Produktions- und Arbeitsprozesse ana-
lysiert und hinsichtlich alternativer Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung befragt werden, son-
dern daß auch den Auswirkungen auf die vor- und nachgelagerten Bereiche nachgegangen
wird. Dabei handelt es sich insbesondere um die Untersuchung der Voraussetzungen und
Folgen computer-gestützter Produktionsprozesse für die arbeitsvorbereitenden Abteilungen
(Arbeitsplanung, Konstruktion, Programmierung etc.) sowie für die Prüf-, Wartungs- und In-
standhaltungsarbeiten.
102 Karin Benz-Overhage u.a.

des nachfolgenden Forschungsprojekts "Bedingungen und Möglichkeiten menschen-


gerechter Arbeitsgestaltung im Bereich computergestützter Produktionsprozesse"
(IfS 1978, 1979) wurde der Forschungssatz unter dem Eindruck spezifischer Erfah-
rungen mit Entwicklungen der Reorganisation von Produktionsprozessen in Berei-
chen der Fertigungstechnik weiter differenziert.
Forschungsdesign und Forschungsstrategie der Studie "Computer und Arbeits-
prozeß" orientierten sich zu Beginn der Untersuchungsarbeiten weitgehend an dem
von englischen Industriesoziologen entwickelten sozio-technischen Ansatz. Unter-
stellt wurde, daß die EDV-Technologie als fortgeschrittene Technologie ebenso wie
konventionelle Produktionstechnologien zwar Rahmenbedingungen für die Arbeits-
organisation und die Arbeitsanforderungen festlegt, jedoch Handlungsspielraum für
alternative Formen der Arbeitsgestaltung bietet. Wie dieser Spielraum im konkreten
Fall genutzt wird, hängt nach diesen Annahmen von den Strategien des System De-
sign der Unternehmensleitungen und der jeweiligen Kräftekonstellation zwischen
Unternehmensleitungen und Beschäftigten ab (IfS Zwischenbericht 1974). Der
Rückgriff auf den sozio-technischen Ansatz reflektiert den damaligen Stand der
theoretischen und forschungsstrategischen Diskussion innerhalb der Industriesozio-
logie. Ältere industriesoziologische Untersuchungen hatten in der Regel die Entwick-
lung der Arbeitsanforderungen als abhängige Variable der technischen Produktions-
bedingungen dargestellt. Dieser Auffassung zufolge - in der Industriesoziologie
auch als "technologischer Determinismus" beschrieben -werden Arbeitsorganisa-
tion und Arbeitsanforderungen weitgehend als durch die Produktionstechnik be-
stimmt gesehen und die Technik dementsprechend als wichtigste Determinante der
Gestaltung von Produktions- und Arbeitsprozessen deklariert.
Eine erste wesentliche Differenzierung erfuhr dieser Ansatz dadurch, daß neben
den technischen Bestimmungsgrößen der Arbeitssituation auch nichttechnische, ge-
sellschaftliche Determinanten und Interessenlagen als die Arbeitsprozesse prägende
Faktoren in Rechnung gestellt wurden. Einen entscheidenden Schritt in der indu-
striesoziologischen Diskussion markiert die Entwicklung des auf solchen Überlegun-
gen beruhenden Konzepts betrieblicher Autonomiestrategien (Altmann/Bechtle
1970). Zwar liefert das Autonomiekonzept differenzierte Dimensionen zur Erfas-
sung externer und interner Einflußfaktoren, die sich bei technischen Veränderungen
im Betrieb geltend machen, doch werden hier die Technologie selbst und die ökono-
mischen Gesetzmäßigkeiten, die sich in ihr niederschlagen, nicht näher bestimmt.
Soweit in neueren industriesoziologischen Forschungsansätzen zur Entwicklungs-
richtung der industriellen Arbeit der eindimensionale Bezug auf den Arbeitsprozeß
als Produktionsprozeß von Waren überwunden und Verwertungsinteressen explizit
ein Stellenwert für die Gestaltung von Produktions- und Arbeitsprozessen zugespro-
chen wird, bleiben sie dennoch als exogene Faktoren oder Rahmenbedingungen
dem Arbeitsprozeß äußerlich. Differenziertere Forschungskonzeptionen betonen
die nur mittelbare Prägung der Arbeitsorganisation durch die Produktionstechnik
und ihre unmittelbare Bestimmung durch Rentabilitätserfordernisse. Offen bleibt
jedoch auch hierbei die Frage, welche ökonomischen Gesetzmäßigkeiten des kapitali-
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 103

stischen Produktionsprozesses sich bei der Arbeitsgestaltung durchsetzen. (Mickler


u. a. 1976).
Selbst weiterführende Theorie- und Forschungsansätze, die Verwertungs- und
Herrschaftsinteressen als Einflußgrößen der Gestaltung von Produktionsprozessen in
dem Sinne in Betracht ziehen, daß sie sich in der Anwendung und auch der Kon-
struktion der Technik selbst niederschlagen, benennen nicht die spezifischen Struk-
turzusammenhänge, die sich in der Technik manifestieren. Einige Autoren verwei-
sen auf die Verwertungsinteressen, die in die fortgeschrittenen Produktions- bzw.
EDV-Technologien inkorporiert sind, wenn sie in Abgrenzung zur Produktionstech-
nik "Organisationstechnik" als Produktivkraft in der Form vergegenständlichter
Herrschaft charakterisieren, die nicht Mehrwertquelle, sondern Bedingung wert-
realisierender Arbeitskraft ist (Bahr 1970), oder EDV-Technologien als "Strategien
zur Verzahnung von Technik und Arbeitsorganisation" sehen, die Operationen zen-
tralisieren und Teilprozesse organisieren (Pöhler 1974). Damit wird nicht mehr nur
der Arbeitsorganisation, sondern der Technologie selbst eine Doppelfunktion - als
Produktivkraft einerseits und als Kontrollinstrument des Kapitals andererseits - zu-
geschrieben. Ins Blickfeld gerät hierdurch um so mehr die Notwendigkeit, nicht nur
dem Einfluß der Technologie auf die Arbeitsorganisation, sondern umgekehrt den
Auswirkungen ökonomisch determinierter Organisationsprinzipien auf den techni-
schen Wandel nachzugehen. ·
Gleichwohl erschien auf diesem Stand theoretischer Diskussion und erster Erfah-
rungen mit der Reorganisation inflexibler Produktionsstrukturen die Übernahme
des sozio-technischen Ansatzes insoweit plausibel, als dieser mehrdimensionale De-
terminanten unternehmenspolitischer Entscheidungen ebenso berücksichtigt wie die
Interessenkonstellation zwischen Unternehmensleitungen und abhängig Beschäftig-
ten. Dem zunehmenden Widerstand der Beschäftigten gegenüber restriktiver Arbeit
und ihren Forderungen nach "humaneren" Arbeitsbedingungen glaubte man- un-
ter dem Eindruck der politisch forcierten Humanisierungsdiskussion - mit dem so-
zio-technischen Ansatz in besondererWeise Rechnung tragen zu können. Im Verlauf
der Studie wurde jedoch immer deutlicher, daß die eingangs skizzierten Annahmen
über die Arbeitsorganisation nicht haltbar waren. Diese ist, wie sich zeigte, kein un-
abhängiger Aktionsparameter Unternehmerischen Handelns, sondern Moment einer
umfassenden Rationalisierungsstrategie, die arbeitsorganisatorische und technische
Aspekte einschließt und darauf angelegt ist, die Autonomie der Unternehmens- und
Arbeitsorganisation gegenüber externen und internen Bedingungen sicherzustellen.
Gleichzeitig machte die Untersuchung der Reorganisation von Produktionsprozes-
sen in der Stahlindustrie und im Bankgewerbe deutlich, daß Computer-Technologien
als instrumentelle Einheit technischer und organisatorischer Elemente der Gestaltung
von Produktionsprozessen zu sehen sind und demnach nicht mit dem herkömmlichen
Begriff der Produktionstechnik erlaßt werden können. Vielmehr sind sie als Organi-
sations- und Steuerungstechnologien zu bestimmen, mit der Funktion, produktions-
ökonomische Rationalität durchzusetzen, die Produktionsfaktoren zeitlich abzu-
stimmen bzw. die Teilarbeiten zu integrieren und unter die Maschinerie zu subsumie-
104 Karin Benz-Dverhage u.a.

ren. Wurde in der sozialwissenschaftliehen F orsch~ng die Reorganisation von Pro-


duktionsprozessen vor allem unter dem Aspekt der arbeitsorganisatorischen Auflö-
sung inflexibler Produktions- und Fertigungsstrukturen diskutiert, so zeigten die
Forschungserfahrungen in der Stahlindustrie sowie in Branchen der Fertigungstech-
nik, daß in diesem Prozeß der Flexibilisierung der Produktionstechniken und ihrer
Einsatzbedingungen besondere Bedeutung zukommt.
Diesen Einsichten zufolge war es notwendig, analytische Dimensionen zu formu-
lieren, die bei der Untersuchung betrieblicher Bedingungen und Strukturen der Re-
organisation von Produktionsprozessen deren gesellschaftlich-historischen Charakter
transparent werden lassen. Zum anderen mußte das Verhältnis zwischen Technolo-
gie und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten bei der Gestaltung von Produktionspro-
zessen kategorial bestimmt werden. Letztlich ging es um die Frage, wie sich Gesetz-
mäßigkeiten der Kapitalverwertung in den Strukturen des technisch-organisatori-
schen Wandels manifestieren. Das konnte nur auf der Grundlage eines kategorialen
Rahmens geleistet werden, der es erlaubte, die innerhalb des Produktionsprozesses
wirksamen Verwertungsinteressen theoretisch zu definieren und aufzuzeigen, wie
sie sich praktisch durchsetzen. Hierbei wurde von den Sohn-Rethel'schen Begriffen
der Markt- und Zeitökonomie ausgegangen. Im Gegensatz zu Forschungsansätzen,
die den Verwertungszusammenhang als dem Arbeitsprozeß äußerliche Bedingung
auffassen, wird mit Hilfe dieser Kategorien versucht, die Verwertungslogik in der
Struktur der Produktions- und Arbeitsprozesse auszumachen.

2 Markt- und Zeitökonomie als Determinanten der Gestaltung von Produktions-


und Arbeitsprozessen

Ausgangspunkt der Sohn-Rethel'schen Analyse ist die Annahme, daß seit der Jahr-
hundertwende, mit der Entstehung großer Unternehmenseinheiten und organisierter
Märkte auf gesamtwirtschaftlicher Ebene, bei der betrieblichen Gestaltung der Ar-
beitsprozesse sich zunehmend zeitökonomische Organisationsprinzipien herausbil-
den. Diesen Strukturveränderungen des kapitalistisch organisierten Arbeitsprozesses,
als deren ökonomischen Ausdruck er unter Bezug auf Schmalenbach (19 31) die
wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals bzw. den steigenden Fixko-
stenanteil ansieht, mißt Sohn-Rethel eine entscheidende Eigendynamik zu: die inne-
re Logik der zeitökonomischen Gesetzmäßigkeit des Produktionsprozesses sprenge
tendenziell die marktimmanente Verwertungslogik. Zeit- und Marktökonomie be-
greift er als zwei alternative Formen "gesellschaftlicher Synthesis", die sich darin
unterscheiden, daß in der Zeitökonomie die Vergesellschaftung der im Arbeitsprozeß
geleisteten Arbeit unmittelbar über die Kommensuration von lebendiger und verge-
genständlichter Arbeit erfolgt, während die Vergesellschaftung in der Marktökono-
mie dem Warenaustausch überlassen bleibt. Produktions- und Zeitökonomie bezeich-
nen hier zwei verschiedene Betrachtungsweisen des gleichen Sachverhalts: die pro-
duktionsökonomische Interpretation der inneren Verwertungslogik bezieht sich auf
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 105

kostenstrukturelle Aspekte, während die Zeitökonomie die Quantifizier- und Ver-


gleichbarkeit der Teilarbeiten betrifft und als solche die Basis der einzelnen Stück-
kostenpositionen darstellt. Ihren empirischen Ausdruck findet sie in der Reorganisa-
tion der Produktionsprozesse, die die zeitliche Integration der verschiedenen Teilar-
beiten als auch die Integration von Arbeits-, Material- und Maschinenzeiten zum Ge-
genstand hat.
Sohn-Rethel räumt in seinen früheren Arbeiten dem Prinzip der Zeitökonomie
eine systemübergreifende Qualität ein. Dieser Auffassung nach kann die Zeitökono-
mie als alternatives Vergesellschaftungsprinzip einer Produktion gelten, das eine
planvolle Regelung der gesellschaftlichen Arbeit impliziert 3 . Gerade an dieser Posi-
tion setzt zunächst die im Rahmen des Forschungsprojekts "Computer und Arbeits-
prozeß" vorgenommene Revision des Sohn-Rethel'schen Theorieentwurfs an. Kern-
punkt dieser Reformulierung ist, daß Zeitökonomie im Gegensatz zu Sohn-Rethel,
der darin die Keimform sozialistischer Vergesellschaftung sieht, als Ökonomie der
reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital' zu begreifen ist: "Der quantitative
Vergleich gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, welcher bislang nur indirekt über
den Austausch vergegenständlichter Arbeit in Warenform stattfand, greift nun auf
der Stufe der vergesellschafteten Arbeit als Zeitökonomie der Arbeit in den Produk-
tionsprozeß selbst ein. Damit wird die Arbeit nicht mehr nur formal, außerhalb des
Arbeitsprozesses, sondern real über ihre direkte Quantifizierung im Arbeitsprozeß
dem Kapital subsumiert" (Brandt u. a., S. 31). Die Quantifizierung der qualitativ
verschiedenen Arbeitsleistung etfolgt auf der Basis eines einheitlichen Zeitmaßsta-
bes, dem der abstrakten Arbeit. Diese Argumentation schließt an die Marxsche Kate-
gorie vom Doppelcharakter des Gebrauchswerts der menschlichen Arbeitskraft an,
derzufolge die Arbeitskraft Quelle abstrakter Arbeit ist und als solche Wert und
Mehrwert für das Kapital produziert, gleichzeitig aber Quelle nützlicher Arbeit ist,
die auch unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen elementare Produktions-
voraussetzung bleibt. Wohl gerät die Zeitökonomie tendenziell in Widerspruch zur
Marktökonomie, doch diese Tendenz ist gerade nicht abgelöst von den Verwertungs-
imperativen, sondern transformiert diese in den Arbeitsprozeß. Dieser Widerspruch
zwischen Zeit- und Marktökonomie ist zwar keiner zwischen alternativen Produk-
tionsweisen mehr, wird aber in dieser theoretischen Fassung - als Folge der in der
zeitökonomischen Gestaltung der Produktionsprozesse angelegten Tendenz zur Über-
kapazität - noch als Ursache krisenhafter Entwicklung angesehen.
Diese hier in Kürze wiedergegebene Reinterpretation der Sohn-Rethel'schen Ka-
tegorien der Zeit- und Marktökonomie liegt auch der Untersuchung von Bedingun-
gen und Folgen der Reorganisation von Produktionsprozessen mit Hilfe von Com-

3 Diese früher von Sohn-Rethel ins Zentrum gestellte Position einer bewußten Inregienahme
der Zeitökonomie durch die unmittelbaren Produzenten als Basis einerneuen Synthesis von
körperlicher und geistiger Arbeit ist in der Neufassung seiner Arbeit zwar in den Hintergrund
getreten, erscheint jedoch weiterhin im Sinne einer neutralen Qualität, die sowohl kapitali-
stischen Zielsetzungen dienen als auch alternativ die gesellschaftliche Notwendigkeit der
Kommensaration lebendiger und toter Arbeit leisten könnte (Sohn-Rethel 1978).
106 Karin Benz-Overhage u.a.

puter-Technologien in Branchen der Fertigungstechnik zugrunde, da diese Katego-


rien in besonderer Weise einen Beitrag zur empirischen Analyse des Zusammenhangs
von ökonomischen und stofflich-technischen Determinanten der Gestaltung von Pro-
duktions- und Arbeitsprozessen leisten. Die dem Ansatz zugrundeliegende These,
daß die Reorganisation nach zeitökonomischen Organisationsprinzipien eine der in-
dustriell-kapitalistischen Entwicklung und dem Wertgesetz immanente Notwendig-
keit sei, läßt sich zwar auf alle Produktionszweige beziehen, bedeutet jedoch nicht,
daß zeitökonomische Durchdringung sich in den verschiedenen Produktionszweigen
parallel und in gleichen Erscheinungsformen durchsetzt. Vielmehr zeigt sich in der
historischen Analyse, daß die Erscheinungsformen, in denen sich die zeitökonomi-
sche Gesetzmäßigkeit jeweils geltend macht und durchsetzt, weitgehend von markt-
ökonomischen Bedingungen und produktionstechnischen und stofflichen Besonder-
heiten der Produktion abhängt. Konnte zum Beispiel die Darstellung der Reorgani-
sation von Produktionsprozessen in der Stahlindustrie (vgl. Sohn-Rethel 1970;
Schmiede/Schudlich 1976; Brandt u. a., 1978) sich noch auf die historische Erfah-
rung stützen, daß die in diesem Sektor vornehinlieh technisch vermittelte Durchset-
zung zeitökonomischer Prinzipien weitgehend mit fortschreitender Massenproduk-
tion gleichzusetzen ist, mit Erweiterung und Vergrößerung der Produktionskapazi-
täten und also mit einer schwindenden Möglichkeit flexibler Anpassung der Produk-
tion an Schwankungen der Absatz-, Beschaffungs- und Arbeitsmärkte einhergeht,
so verweist die historisch später einsetzende und in spezifischer Gestalt erfolgende
zeitökonomische Durchdringung von Produktions- sowie Arbeitsprozessen in den
Fertigungs- und Montageindustrien auf bedeutende, in marktökonomischen Kon-
stellationen und in der stofflich-technischen Eigenart der Produktion begründete
Restriktionen.
In der Stahlindustrie wurde die reelle Subsumtion bereits im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts begünstigt durch die beherrschende Marktposition der Stahlerzeu-
gung als industrieller Schlüsselindustrie wie auch durch ihre stoffliche Seite, deren
Flußcharakter schon frühzeitig den Einsatz von fortgeschrittenen Produktionstech-
nologien und deren Integration zu kontinuierlich arbeitenden Prozessen erlaubte.
Die uniforme Massenproduktion ermöglichte eine Zwangsläufigkeit des Produktions-
ablaufs, die später noch durch die Verkoppelung von technisch unabhängigen Teil-
produktionen zu einer Verbundwirtschaft auf der Grundlage von gemeinsamer Ener-
gienutzung verstärkt wurde. Funktionsprinzip der komplexen Verbundwirtschaft ist
eine zeitlich genaue Abstimmung der einzelnen Prozesse. Die mit dieser Entwick-
lung einhergehende wachsende organische Zusammensetzung des Kapitals, imma-
nente Zwänge der Kapazitätsauslastung und die prozeßmäßig bedingte Kontinuität
des Produktionsablaufs führen zu einer Reduktion der lebendigen Arbeit auf gewis-
se, weitgehend vom technischen Prozeß her bestimmte Restfunktionen. Dem kor-
respondiert eine Entwicklung von Arbeits- und Zeitstudien in den stoffumwandeln-
den Industrien, die weniger die zeitökonomische Gestaltung der einzelnen Arbeits-
gänge als vielmehr die Untersuchung des Verhältnisses effektiver Arbeits- und Ver-
lustzeiten und der daraus folgenden Veränderungen der Besetzungszahl der Anlagen
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 107

mit Arbeitskräften zur Aufgabe haben (Schmiede/Schudlich 1976, Schmiede 1979).


Im Gegensatz zur Stahlindustrie stößt der Prozeß der reellen Subsumtion in der
Fertigungs- und Montagetechnik auf vielfältige Restriktionen und bezieht sich vor-
nehmlich auf die zeitökonomische Gestaltung der lebendigen Arbeit. Barrieren ge-
gen zeitökonomische Durchdringung sind zum einen die stoffliche Eigenart bearbei-
tender und montierender Fertigungsprozesse (Vielfalt des Materials und der Bearbei-
tungsvorgänge, Qualitäts- und Genauigkeitsstandards), zum anderen die marktöko-
nomisch bedingte Produktdiversifikation dieser Konsum- oder Investitionsgüter
herstellenden Branchen. Zwar verbesserte die Entwicklung der Revolverdrehbank,
der automatischen Drehmaschinen und Universalmaschinen in den letzten Jahrzehn-
ten des 19. Jahrhunderts die technische Grundlage für eine stärker arbeitsteilig und
industriell organisierte Produktionsweise, die Arbeit blieb jedoch weitgehend nicht
integrierbare Einzelarbeit und die Kontrolle über den zeitlichen Ablauf und die F ol-
ge der Arbeitsgänge in der Verantwortung der Arbeiter selbst. Die in Erfordernissen
des Marktes und des Fertigungsprozesses begründeten Restriktionen gegenüber einer
stärker technisch bestimmten, d. h. vor allem die Kontinuität des Ablaufs sichern-
den Rationalisierung des Produktionsprozesses differieren nach dem spezifischen
Charakter der Prozesse (Massen- und Großserienfertigung einerseits, Einzel- und
Kleinserienfertigung andererseits). So bestanden in jenen Bereichen der Konsum-
güterindustrie, in denen Möglichkeiten der Massenfertigung gegeben waren, bessere
Voraussetzungen für eine zeitökonomische Integration der Teilarbeiten als in den
durch Einzel- und Kleinserienfertigung geprägten Bereichen der Investitionsgüterin-
dustrie. Die spezifischen historischen Formen zeitökonomischer Gestaltung unter
Bedingungen der Massenfertigung waren neben partieller Technisierung der Produk-
tionsabläufe Methoden tayloristischer Organisation der Teilarbeiten und deren In-
tegration durch das Fließprinzip. Auch in der Einzel- und Kleinserienfertigung wur-
den die Produkte normiert, standardisiert und spezialisiert, um Vorteile der Serien-
produktion so weit wie möglich zu nutzen. Insofern setzten sich auch hier nur bis zu
einem gewissen Grad zeitökonomische Kriterien der Produktionsgestaltung durch.
Darüber hinaus war die Realisierung taylorisierter Arbeitsorganisation wegen der be-
sonderen Qualitäten der lebendigen Arbeit nur eingeschränkt möglich.
Der hier skizzierte Verlauf der reellen Subsumtion hat zum einen dazu geführt,
daß in der Massenfertigung relativ starre organisatorische Strukturen (taylorisierte
Arbeit und Fließarbeit) sowie inflexible Produktions- und Automatisierungstechni-
ken (Einzweckautomaten, automatische Aggregatsysteme mit fest verdrahteter Lo-
gik) entstanden sind, dieangesichtsveränderter marktökonomischer Anforderungen
(Typendifferenzierung, Produktinnovationen) auf immanente Grenzen stoßen. Zum
anderen konnte in der Einzel- und Kleinserienfertigung - insbesondere des Ma-
schinenbaus4 - die zeitökonomische Durchdringung der Fertigung bislang nur be-

4 Wenn hier in erster Linie auf den Maschinenbau rekurriert wird, so geschieht dies, weil der
Maschinenbau sowohl von den sich verändernden Marktanforderungen als auch den ferti-
gungstechnologischen und organisatorischen Strukturen her historisch und aktuell als Anti-
pode der Stahlindustrie zu sehen ist. Eine Klärung des Einflusses markt· und zeitökonomi-
108 Karin Benz-Overbage u. a.

schränkt realisiert werden, was sich ebenso in der Abhängigkeit des betrieblichen
Managements von den intellektuellen Kompetenzen und dem handwerklichen Ge-
schick menschlichen Arbeitsvermögens wie in dem hohen Grad der den Arbeitern
verbliebenen Kontrolle über den Arbeitsprozeß äußert. Gerade das flexible Arbeits-
vermögen der Facharbeiter garantierte in der Vergangenheit die rasche Anpassung
an Veränderungen der Nachfrage. Als unter wertökonomischen Aspekten nachteilig
erwies sich jedoch die Erhaltung einer qualifizierten Stammbelegschaft und das da-
mit verbundene hohe Niveau fixer Kosten.
Sind es so die durch den Prozeß der reellen Subsumtion in der Massenproduktion
generierten inflexiblen technisch-organisatorischen und personellen Strukturen, die
eine Anpassung an Marktschwankungen und Strukturveränderungen erschweren, so
sind es im Maschinenbau die hohen Fixkostenanteile an den Personalkosten, der
technologische Ruckstand der Produktionstechniken sowie die relativ langfristige
Bindung von Kapital im Fertigungsprozeß, die seit Mitte der sechziger Jahre zu
wachsenden Schwierigkeiten der Kapitalverwertung geführt haben. Die seither zu-
nehmenden konjunkturellen und strukturellen Krisenerscheinungen, die sich ver-
schlechternden Absatzchancen auf nationalen und internationalen Märkten und das
hohe Lohnniveau haben neue Formen unternehmenscher Abstimmung zwischen
den markt- und produktionsökonomischen Erfordernissen notwendig werden lassen.
Der beschleunigte Wandel von Technik, Arbeitsorganisation und marktökonomischen
Rahmenbedingungen erzwingt eine Flexibilisierung aller relevanten Produktionsdi-
mensionen. In diesem Prozeß übernehmen die seit Mitte der sechziger Jahre in der
industriellen Anwendung expandierenden Computer-Technologien eine entscheiden-
de Funktion. Der Einsatz von Computer-Technologien war sowohl eine Reaktion
auf marktbedingte Flexibilisierungsimperative als auch der Schlüssel zur Durchset-
zung flexibler arbeitsorganisatorischer Strukturen in der Fertigung -wie sie in neu-
en Formen der Arbeitsgestaltung Niederschlag finden - und zu einer entsprechen-
den Flexibilisierung des Einsatzes der Arbeitskräfte. Während diese Strategien einer-
seits eine partielle Rücknahme der durch zeitökonomische Produktionsgestaltung
gesetzte Rigiditäten bedeuten und somit eine besser den Marktanforderungen ange-
paßte Fertigungsgestaltung zum Ziel haben, ermöglichen Computer-Technologien
offensichtlich eine neue Qualität zeitökonomischer Durchdringung der Produktion.
Diese wird empirisch darin deutlich, daß Fertigungsbereiche, die sich bislang als Fol-
ge variierender Markterfordernisse und der stofflich-technischen Natur der Ferti-
gungsprozesse gegen eine zeitökonomische Durchdringung der Produktion sperrten,
nun hierfur zuganglich werden. Die Voraussetzung hierzu ist - wie weiter unten
ausgeführt wird -in den Computer-Technologien selbst angelegt, da sie herkömmli-

Fortsetzung Fußnote 4
scher Bestimmungsgrößen im Maschinenbau kann insofern in besonderer Weise dazu beitra-
gen, die am Beispiel der Analyse der Stahlindustrie gewonnenen Annahmen und Entwick-
lungstendenzen zu überprüfen.
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 109

ehe technische und organisatorische Aspekte der Produktions- und Arbeitsgestaltung


auf einem neuen technologischen Niveau integrieren.
Angesichts dieser Entwicklung läßt sich die Annahme einer krisenhaften Zuspit-
zung des Widerspruchs von Zeit- und Marktökonomie (aufgrund der tendenziellen
Dominanz zeitökonomischer Imperative), wie sie am Beispiel der Untersuchung in
der Stahlindustrie entwickelt wurde, für Bereiche der Fertigungstechnik nicht mehr
ohne weiteres halten. Der technisch-organisatorische Wandel in diesen Industrien,
soweit er geprägt ist durch die Diffusion von Computer-Technologien, legt vielmehr
eine modifizierte Einschätzung des Verhältnisses von markt-und zeitökonomischen
Determinanten der Produktionsgestaltung nahe: die Durchsetzung zeitökonomischer
Organisationsprinzipien zeichnet sich aus und ist bedingt durch die wachsende Fä-
higkeit des Einzelkapitals, markt- und zeitökonomische Bestimmungsgrößen bei der
Gestaltung von Teilarbeiten, von Arbeits- und Fertigungsprozessen miteinander zu
vereinbaren und aufeinander abzustimmen.

3 Computer-Tecbnologien und ihre Funktion bei der Reorganisation von Produk-


tions- und Arbeitsprozessen

Wenn die besondere Leistung der Computer-Technologien darin besteht, variierende


Markterfordernisse in zeitökonomisch optimale Produktionsvorgaben zu transfor-
mieren, so stellt sich die Frage nach den Funktionen, die sie dabei im einzelnen über-
nehmen. Im Vergleich zu herkömmlichen Automatisierungstechniken weisen Com-
puter-Technologien eine Reihe von besonderen Eigenschaften auf. Sie unterschei-
den sich von der fest verdrahteten Logik automatisierter Systeme insofern, als sie
eine ungleich höhere Vielfalt von Daten und Informationen speichern, bearbeiten
und auswerten können. Sie sind darüber hinaus in der Lage, planende Funktionen
zu übernehmen sowie Entscheidungen vorzubereiten und zu treffen. Als Folge ihrer
Fähigkeit, weit über die Kapazitäten des menschlichen Gehirns hinauszugehend In-
formationen zu verarbeiten, Erfahrungswissen, Kombinationsvermögen, Entschei-
dungsfindung und dergleichen technisch auf Datenträgern zu objektivieren, haben
sie beim Einsatz in der materiellen Produktion vornehmlich zwei Funktionen: als
Steuerungstechnologie und als Organisationstechnologie. Zwar wurden diese Funk-
tionen auch in der Vergangenheit durch konventionelle Produktionstechniken und
Organisationsmethoden erfüllt. Mit ihrer Übernahme durch Computer-Technologien
ist jedoch' ein neuer Schritt der Unterordnung der lebendigen Arbeit unter den Ver-
wertungsprozeß getan, der auch komplexe geistige Tätigkeiten einbezieht.
Als Steuerungstechnologie übernimmt die Computer-Technologie die Funktio-
nen konventioneller Produktionstechniken und verändert das durch sie bestimmte
Verhältnis zwischen lebendiger und vergegenständlichter Arbeit. In stoffumwandeln-
den Produktionsprozessen dient die EDV in Gestalt von Prozeßrechnern der Steue-
rung physikalisch-chemischer Vorgänge und fungiert damit als Produktionstechnik.
So geht es bei der rechnergestützten Steuerung von Hochöfen und Stahlkonvertern
110 Karin Benz-Overhage u.a.

unter anderem um die laufende Berechnung der chemischen Struktur des Endpro-
dukts und seiner metallurgischen Qualität und, ähnlich, in der Walzstraßensteuerung
und in der Metallverarbeitung um die Grenzüberwachung und die Berechnung von
Korrekturangaben. Hier wie dort ist die EDV als Steuerungseinheit ebenso wie bei
konventionellen Technologien auch Teil des Produktionsaggregats und beeinflußt
seine Erzeugungskapazität. In den Fertigungs- und Montageindustrien übernehmen
Computer-Technologien in Gestalt von Rechnern zunehmend die Steuerung einzel-
ner Maschinen sowie von Maschinen- und Aggregatsystemen. Gerade am Beispiel der
rechnergesteuerten Werkzeugmaschinen und deren Integration über Prozeßrechner
zu flexiblen Fertigungssystemen läßt sich anschaulich zeigen, wie Computer-Tech-
nologien in Fertigungsprozessen, die sich bislang einer arbeitsorganisatorischen Ra-
tionalisierung und Automatisierung sperrten, sowohl die Teilarbeiten als auch deren
Integration zeitökonomisch durchdringen.
Die bis heute bestehenden Grenzen der Unterwerfung der Arbeit unter den kapi-
talistisch organisierten Produktionsprozeß können vor allem am Beispiel der Werk-
zeugmaschine deutlich gemacht werden. Der Schlüssel für die Kontrolle über den
Arbeitsprozeß in diesem Bereich ist die Steuerung der Maschine. Wegen der im Ma-
schinenbau dominierenden Einzel- und Kleinserienfertigung blieb die Steuerung der
Maschine bis heute in der Regel dem einzelnen Arbeiter überlassen. Kontinuierliche
und automatisierte Systeme waren nicht anwendbar. So war der Bereich der Klein-
serienfertigung im Maschinenbau die Domäne des qualifizierten Facharbeiters, der
mit der Steuerung der universellen oder Mehrzweckmaschine zugleich die Kontrolle
über seinen Arbeitsprozeß behaupten konnte. Die reelle Subsumtion der Arbeit un-
ter das Kapital war historisch abhängig davon, ob es gelang, die Führung des Werk-
zeugs unter die Kontrolle des Kapitals zu bringen. Zwar hat sich das Kapital im Pro-
zeß der reellen Subsumtion partiell aus der Abhängigkeit vom menschlichen Arbeits-
vermögen gelöst, indem die Funktionen der Führung des Werkzeugs und der An-
triebskraft auf die Werkzeugmaschinen übertragen wurden. Ihre Einstellung und
Steuerung blieb aber weiterhin dem Arbeiter überlassen, und somit blieb auch die
Sicherung der Kontinuität des Arbeitsprozesses weitgehend in seiner Regie. Die Ein-
heit von praktischem und intelligentem Arbeitsvermögen wurde jedoch kaum ange-
tastet ( Braverman 1977; Müller 1979). Mit der Substitution herkömmlicher Steue-
rungen durch Computer-Steuerungen eröffnet sich dem Kapital die Chance, sich
auch von den funktionalen Fesseln menschlicher Arbeit zu befreien. Da Computer-
Technologien eine neue Teilung der Arbeit in geistige und körperliche Elemente
und folglich eine fortgeschrittenere zeitökonomische Gestaltung der Teilarbeiten
erlauben, wird der Arbeitsprozeß systematisch dem Verwertungsprinzip unterwor-
fen. Die Konstruktion der rechnergesteuerten Werkzeugmaschinen beruht auf dem
Prinzip der Zerlegung von geistiger Arbeit in zwei getrennte Bereiche: die unmittel-
bare Steuerung der Maschine wird automatisiert; das Steuerungsprogramm (d. h. die
Planung der Arbeitsablauffolge) wird in vorgelagerten Planungs- und Programmier-
abteilungen erstellt. Die Einheit von Programmplanung und Steuerung der Mass:hine
wird damit aufgehoben und unter der Kontrolle des Managements neu kombiniert.
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 111

Gleichzeitig sichert die externe Steuerung der Maschine auch eine zeitliche Voraus-
bestimmung der verbleibenden Arbeit. Der Produktionsablauf wird kontinuierlich
gestaltet und durch die Verkettung maschineller Teilarbeiten und Zentralisierung ih-
rer Steuerungsfunktionen zu immer größeren Einheiten zusammengeschlossen.
Die Funktion von Computer-Technologien als Organisationstechnologien in der
industriellen Produktion besteht vor allem darin, die Elemente des Produktionspro-
zesses, Anlagen- und Maschinenleistungen einerseits, menschliche Arbeitsleistungen
andererseits, den Anforderungen der Kapitalverwertung zu unterwerfen und damit
die Rentabilität der Produktion zu sichern. Während bis in die Phase der Teilmecha-
nisierung hinein die Technisierung und Organisierung im Rahmen einzelner, relativ
unabhängig voneinander betriebener Innovationen voranschritt und der Einsatz der
menschlichen Arbeit durch mehr oder weniger variable Formen der Arbeitsgestal-
tung geregelt wurde, stellt sich das Integrationsproblem auf avancierten Stufen der
technischen Entwicklung mit ganz anderer Dringlichkeit. Fortgeschrittene und inte-
grierte Systeme von Produktionstechnologien zeichnen sich durch erhöhte Selbst-
steuerung der technischen Anlagen und durch eine Steigerung der fixen Kosten aus.
Hieraus folgt, daß der Handlungsspielraum betrieblicher Organisationsstrategien, vor
allem der des Arbeitseinsatzes, sich verringert und durch die Eigendynamik des Pro-
duktionsabtaufs ganz verloren zu gehen droht. Für die Unternehmensleitung ergibt
sich deshalb die Notwendigkeit, durch eine integrierte Gestaltung des Produktions-
prozesses menschliche Arbeits- und Maschinenleistungen zu synchronisieren und auf
die teilweise gegenläufigen Anforderungen des Marktes abzustimmen. Als Grundla-
ge dieser Integration fungiert ein abstraktes Zeitmaß als gemeinsamer Nenner ma-
schineller und menschlicher Leistungen. Die überkommenen, entweder technischen
oder organisatorischen Formen der Zeitwirtschaft werden mit der Entwicklung der
Computer-Technologie der Automatisierung zugänglich. Informations- und organi-
sationstechnologische Fähigkeiten der Datenverarbeitung setzen sich bei der Ab-
stimmung markt- und produktionsökonomischer Daten und bei der organisatori-
schen Integration von Teilabschnitten der Fertigung und von Teilarbeiten wechsel-
seitig voraus. Als Informationstechnologie stellt die EDV ein Instrument unterneh-
menscher Organisationsstrategien dar und ist darauf angelegt, den Fertigungs- und
Arbeitsablauf in einer Symbolsprache zu erfassen, deren Abstraktionsgrad es erlaubt,
nicht unmittelbar vergleichbare Gegenstände oder Situationen auf einen gemeinsa-
men Nenner zu bringen. Gewährleistet ist dies aber nur dann, wenn die zu erfassen-
den Gegenstände und Situationen und, was den Arbeitsprozeß angeht, die diesen
konstituierenden Teilarbeiten der Logik der Informationstechnologie und ihrer ab-
strakten Symbolsprache entsprechen. Hierauf zielt die organisationstechnische
Funktion der EDV ab, indem sie die qualitativen Aspekte des Arbeitsprozesses, die
konkreten Teilarbeiten, faktisch auf abstrakte und quantifizierbare Größen in Ge-
stalt der abstrakten Arbeit reduziert. Hieraus folgt aber, daß der von der EDV ge-
tragene Informationsprozeß die materielle Produktion selbst organisiert und die
EDV nicht nur eine Informations-, sondern vor allem und darüber hinausgehend
eine Organisationstechnologie darstellt.
112 Karin Benz-Overbage u.a.

In der möglichen Verknüpfung von Steuerungs- und Organisationstechnologien


schließlich gewinnt die Vision einer vollautomatischen Fabrik konkrete Gestalt.
Sind die einzelnen Maschinen über einen Prozeßrechner zusammengeschlossen, so
kann der Produktionsprozeß direkt durch externe Daten und Programmplanungen
gesteuert werden. Nicht nur in der Produktion, auch in den arbeitsvorbereitenden
Abteilungen und in der Auftragsabwicklung geht die Entwicklung dahin, Prozeß-,
Planungs- und zentrale Rechner durch eine zentralisierte Datenspeicherung und über
Datenaustausch zu einem integrierten Steuerungs- und Entscheidungssystem auszu-
bauen. Indem die Daten über Marktlage, Auftragseingang, Lieferfristen und derglei-
chen nahezu zeitgleich bei der Produktionssteuerung eingegeben werden, können
Marktschwankungen besser aufgefangen und neutralisiert werden. Nehmen die hier
bezeichneten Möglichkeiten von Computer-Technologien auch vorerst nur sehr zö-
gernd konkrete Gestalt an, so ist es trotzdem sinnvoll, ihren Implikationen für das
Verhältnis von Wert- und Zeitökonomie und konkreter und abstrakter Arbeit am
Beispiel realisierter Teilstrategien nachzugehen.

4 Auswirkungen der Reorganisation der Produktion auf die lebendige Arbeit '

Die Sohn-Rethel'sche These von der tendenziellen Dominanz der Zeitökonomie und
ihrer systemsprengenden Qualität enthält krisentheoretische Annahmen, die einer
näheren Überprüfung bedürfen. Die emanzipative Strategie des "Put Politics in Com-
mand", d. h. der Übernahme der Produktionskontrolle durch die Arbeiterklasse,
wie Sohn-Rethel sie ursprünglich vertreten hatte, scheint nach der hier dargelegten
Interpretation der Zeitökonomie als Ökonomie der reellen Subsumtion ihre theore-
tische Grundlage zu verlieren. Gleichwohl ist nach möglichen, im Prinzip der Zeit-
ökonomie angelegten ökonomischen Krisentendenzen zu fragen. Der Zwang, die
kapitalintensiven Anlagen auszulasten, und die zeitökonomische Strukturierung der
Produktionsprozesse induzieren eine Tendenz zu überschüssiger Produktion. In der
Vergangenheit hat sich diese Tendenz insofern bestätigt, als nach der Sättigung der
Märkte im industriellen "Take-Qff" die Stahlindustrie nur gestützt und gefördert
durch die Rüstungswirtschaft expandieren konnte, in der Bundesrepublik nach der
Wiederaufbauphase in der Nachkriegszeit nur noch durch Spezialisierung auf hoch-
wertige Stähle und Sicherung von Marktanteilen auf dem Weltmarkt. Auch diese
Expansion ist jedoch, wie die chronische Stahlkrise zeigt, inzwischen auf Grenzen
gestoßen.
Wenn gegenwärtig die Fertigungstechnik in der metallverarbeitenden Industrie
durch den Einsatz von Computer-Technologien -insbesondere der Mikroelektro-
nik -sich in einerneuen Phase zeitökonomischer Durchdringung befindet, so stellt
sich die Frage, ob dabei mit dem Auftauchen ähnlicher Überproduktionsprobleme
zu rechnen ist. Erste Ergebnisse der Untersuchung der Reorganisation von Ferti-
gungsprozessen in der Automobilindustrie, der Elektrotechnischen Industrie und im
Maschinenbau lassen vermuten, daß die zeitökonomische Strukturierung hier in an-
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 113

derer Weise als in der Stahlindustrie und mit anderer Konsequenz für die Kapazitäts-
entwicklung erfolgt. Verdeutlicht sei dies am Beispiel aktueller Entwicklungen im
westdeutschen Maschinenbau. War der Prozeß zeitökonomischer Durchdringung in
der Stahlindustrie vor allem abhängig vom stofflich-technischen Charakter des Pro-
duktionsprozesses, gilt für die Industrien der Fertigungstechnik eher, daß spezifische
markt- und produktionsökonomische Konstellationen sowie stoffliche Anforderun-
gen eine zeitökonomische Strukturierung erfordern. So kennzeichnet den Maschi-
nenbau gegenwärtig die die Profitabilität gefährdende Klemme zwischen veränder-
ten marktökonomischen Anforderungen und steigenden Fixkostenanteilen der Fer-
tigung. Die veränderten Marktanforderungen, die in stärkerer Produktdiversifikation
und verschärfter Konkurrenz zum Ausdruck kommen, sind dem Strukturwandel des
Weltmaschinenmarkts zuzuschreiben. Kostenüberlegungen haben dazu geführt, daß
die Herstellung von Standardmaschinen zunehmend in Billiglohnländern erfolgt, zu-
mal das zur Produktion dieser Maschinen erforderliche "Know how" relativ gering
ist. Die Produktion von technisch komplexen Anlagen und von Sondermaschinen
für spezifische Anwenderproblerne konzentriert sich dagegen auf die hochindustria-
lisierten Länder. Zwar ist die Bundesrepublik auf diesem Teilmarkt des Weltmaschi-
nenhandels noch führend, jedoch verschärft sich die Konkurrenz mit jenen Anbie-
tern, die qualitätsgleich produzieren, aber aufgrund traditionell anderer Arbeitsbe-
dingungen (vor allem Schichtarbeit) mit niedrigeren Preisen und günstigeren zeitli-
chen Konditionen aufwarten können. Dieser Konkurrenz kann nur durch eine flexi-
bel reagierende Fertigungsorganisation und flexibel einsetzbaren Fertigungstechni-
ken begegnet werden. Konnte diese Flexibilität bisher noch durch den variablen Ein-
satz von qualifizierten Arbeitskräften gewährleistet werden, so erzwingen die stei-
genden Fixkosten heute durchgreifende Rationalisierungsmaßnahmen. Während in
der Stahlindustrie vor allem die anlagebedingten Fixkosten die Tendenz zur Über-
produktion induzieren, sind es in den Fertigungsbereichen der Metallverarbeitung
meist die Fixkosten einer qualifizierten Stammbelegschaft, die Kosten von For-
schung und Entwicklung sowie die des zirkulierenden Kapitals (überdurchschnitt-
lich lange Bindung des Kapitals im Fertigungsprozeß), die auf eine zeitökonomische
Strukturierung der Fertigungsprozesse durch Computer-Technologien drängen.
Eine solche Entwicklung ist gegenwärtig in den fertigenden Bereichen der Metall-
verarbeitung zu beobachten. Als Beispiele seien genannt: Einführung von rechner-
gesteuerten Werkzeugmaschinen und sonstigen Automaten; Verkettung von Werk-
zeugmaschinen und Automaten durch Prozeßrechner; rechnergestütztes Konstruie-
ren und computergestützte Fertigungsplanung; EDV-gestützte Verfahren der Ferti-
gungsplanung, -steuerung und Auftragsabwicklung. Obwohl die hier skizzierten Ent-
wicklungstendenzen des Einsatzes von Computer-Technologien - sowohl in ihrer
Funktion als Steuerungs- wie als Organisationstechnologie - sich bisher nur langsam
durchsetzen, machen sie doch die Unternehmerischen Motive sichtbar, die sich mit
dem Einsatz von Computer-Technologien verbinden. Betrachtet man die zeitöko-
nomischen Wirkungen des Einsatzes von Computer-Technologien in Industrien der
Fertigungstechnik, lassen sie insgesamt vermuten, daß ihnen keine eigendynamische
114 Karin Benz-Overbage u.a.

Tendenz zeitökonomischer Durchdringung innewohnt. Steuerungstechnologien


strukturieren zwar die Teilarbeiten, Computer-Technologien verdichten und integrie-
ren die Fertigungszeiten und -abschnitte, computer-gestütztes Konstruieren reduziert
die Fertigungszeiten und zielt auf eine direkte Integration konstruierender, arbeits-
vorbereitender und fertigender Prozesse, doch der mit diesen Entwicklungen ver-
bundene zunehmende Integrationsgrad des Fertigungsprozesses findet jeweils dort
seine Grenzen, wo er eine flexible Anpassung an variable Marktanforderungen ge-
fährdet und unter wertökonomischen Aspekten nicht tragbar erscheint.
Als Fazit der nur kurz umrissenen Analyse der Reorganisation von Produktions-
prozessen mittels Computer-Technologien läßt sich konstatieren: stärker als in den
Industrien stoffumwandelnder Prozesse scheint in den fertigenden Industrien das
Kapital die Zeitökonomie in Regie zu nehmen und als Instrument zu benutzen,
markt-und zeitökonomische Anforderungen unter Verwertungsaspekten in der Ge-
stalt der Fertigungsstrukturen zu integrieren. Somit zeichnet sich im Verlauf der
zeitökonomischen Neugestaltung der Fertigungsprozesse - soweit überschaubar -
keine neue Tendenz ökonomischer Systemgefährdung ab, sondern eher eine Ent-
schärfung des tendenziellen Widerspruchs zwischen Markt- und Zeitökonomie.
Gleichwohl bleibt offen, ob nicht die Veränderungen, die die lebendige Arbeit dabei
erfährt, neue subjektive Krisenpotentiale provozieren.
Folgt man den in der Studie "Computer und Arbeitsprozeß" entwickelten ana-
lytischen Dimensionen, so lassen sich hinsichtlich der Konsequenzen für die mensch-
liche Arbeit ähnliche Entwicklungstendenzen in der Stahlindustrie wie in den Indu-
strien der Fertigungstechnik beobachten, obwohl der Einsatz von Computer-Tech-
nologien unterschiedlichen Zielsetzungen folgt. Die Veränderungen der lebendigen
Arbeit wurden unter drei Gesichtspunkten untersucht, dem des Integrations- und
Abstraktionsgrades der Arbeit sowie des verbleibenden quantitativen Gewichts der
menschlichen Arbeit. Dabei wurden qualitative Beschäftigungseffekte unter dem
Aspekt des Integrationsgrades des Arbeitsprozesses und des Abstraktionsgrades der
Arbeit, quantitative unter dem Aspekt des quantitativen Gewichts der menschlichen
Arbeit behandelt, wobei auf gängige Erhebungskategorien der industrie-und arbeits-
soziologischen Forschung als Indikatoren zurückgegriffen wurde.
Als zentrale These zu den Auswirkungen von Computer-Technologien auf die
Reorganisation der Arbeitsprozesse gilt, daß mit ihrem fortschreitenden Einsatz der
Integrations- bzw, Vergesellschaftungsgrad des Arbeitsprozesses wie auch der Ab-
straktionsgrad der Arbeit sich erhöhen und daß das quantitative Gewicht der mensch-
lichen Arbeit sich verringert. Die Annahme, daß die menschliche Arbeit zunehmend
abstrakter wird, erfährt dadurch eine Einschränkung, daß die unterstellten Entwick-
lungstendenzen sich nur widersprüchlich durchsetzen. In ungeplanten Situationen
treten gegenläufige Anforderungen auf, die die Unternehmensleitungen zu Konzes-
sionen an die konkrete Arbeit veranlassen. Zeitbestimmung und Integration der Teil-
arbeiten verlaufen in den Industrien der Fertigungstechnik nach ähnlichen Mustern
wie in der Stahlindustrie. Hier wie dort gilt, daß die zunehmende, organisationstech-
nologisch vermittelte Integration von Teilarbeiten und Teilabschnitten der Produk-
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 115

tion wesentliche Determinanten der Arbeitssituation verändert: herkömmlich arbeits-


organisatorisch und personell vermittelte Formen der Kooperation gehen in der
Anonymität computer-gestützter Integration auf, ohne daß mit der Formalisierung
von Kooperationsstrukturen und Leitungsfunktionen eine Enthierarchisierung er-
folgt. Vielmehr ergibt sich eine Zentralisic:rung von Leitungsfunktionen Die organi-
sationstechnologische Integration von Teilarbeiten verringert erheblich die Hand-
lungs- und Dispositionsspielräume der Beschäftigten. Verfügten diese in der traditio-
nellen Arbeitsorganisation sowohl über zeitliche wie über sachlich-arbeitsmethodi-
sche lmprovisationschancen, so wird ihr Arbeitshandeln nun in wachsendem Maß
zeitlich und inhaltlich vorausbestimmt, da die Computer-Technologien die disposi-
tiven Momente der Kopfarbeit übernehmen. Mit dieser Ubernahme traditionell ar-
beitsorganisatorischer Funktionen geht schließlich eine "Objektivierung" und Ver-
scharfung der Leistungskontrolle einher. Grundlage der Effektivierung der Kontrol-
le ist eine tendenzielllückenlose Dokumentation des Arbeitsablaufs, die zwar als Er-
gebniskontrolle angelegt ist, gleichwohl anband der dokumentierten Arbeitsergeb-
nisse auch eine Kontrolle der persönlichen Arbeitsleistung erlaubt. Verändert wer-
den auch die Leistungsziele, die im Rahmen der konventionellen Arbeitsorganisa-
tion vorwiegend quantitativer Art waren und sich auf das Arbeitstempo bezogen,
im computerisierten Arbeitsprozeß aber vorwiegend qualitativen Charakter anneh-
men. Zeitgerechtes Handeln, das die Kontinuität des Produktionsprozesses sichert,
Fehler und Störungen vermeidet, wird wichtiger als quantitative Leistungssteige-
rung.
Zeigen die Tendenzen in der Veränderung der Arbeitsanforderungen durch Com-
putereinsatz in der Stahlindustrie und in den Industrien der Fertigungstechnik zwar
ähnliche Verlaufsmuster, so muß doch berücksichtigt werden, daß sie zumindest für
die abhängig Beschäftigten in der Einzel- und Kleinserienfertigung ein anderes Ge-
wicht erlangen können. Stärker als in den stoffumwandelnden Industrien und in
den Bereichen der Massenproduktion, in denen die Atomisierung der lebenden Ar-
beit und ihre Reduktion auf Restfunktionen schon früher erfolgte, zielt der Compu-
tereinsatz hier auf die Zerstörung traditioneller Schlüsselpositionen der lebendigen
Arbeit, die sich auf eine wenn auch begrenzte Einheit von geistiger und körperlicher
Arbeit stützten.
Noch einschneidender als die Folgen der Integration dürften so die Auswirkun-
gen der neuen Teilung von Kopf- und Handarbeit für die lebendige Arbeit sein. Der
Prozeß der reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital impliziert nicht nur
eine zeitliche und organisatorische Integration des Arbeitsprozesses; indem er ihn
den Erfordernissen des Verwertungsprozesses direkt unterwirft, wird das Verhältnis
von konkreter und abstrakter Arbeit selbst bestimmend für den unmittelbaren Ar-
beitsprozeß. Da die einzelnen Teilarbeiten zeitlich und organisatorisch integriert,
d. h .. zeitökonomisch kommensurabel gemacht werden, verlieren sie tendenziell ihre
Erscheinungsform als konkret-nützliche Arbeit. Computer-Technologien überneh-
men und erweitern hier die Aufgabe der - traditionell arbeitsorganisatorisch vermit-
telten - Reduktion komplexer Arbeit auf einfache Teilarbeit: in ihrer Funktion als
116 Karin Benz-Overbage u.a.

Steuerungstechnologie treibt die Computer-Technologie den Prozeß der Trennung


von Kopf- und Handarbeit voran; in ihrer Funktion als Organisations- und Informa-
tionstechnologie verstärkt sie die Dominanz vergegenständlichter Arbeit über die
lebendige Arbeit. Erscheinungsform dieses Prozesses der Abstraktifizierung der Ar-
beit ist zum einen die Reduktion von Arbeitsbereichen mit komplexen Arbeitsan-
forderungen, zum anderen die fortschreitende Polarisierung der Qualifikationsanfor-
derungen entlang der Trennung von Kopf- und Handarbeit. Sieht man Veränderun-
gen von Qualifikationsanforderungen und Austauschbarkeit der Arbeitskräfte als In-
dikatoren einer zunehmenden Verallgemeinerung der Arbeitsplatzanforderungen an,
lassen sich auch hier ähnliche Entwicklungstendenzen wie in der Stahlindustrie in
der Fertigungstechnik ablesen. Wenn auch die Ablösung prozeß- und fachspezifischer
Qualifikationskomponenten durch prozeßunspezifische, in ihrem Charakter abstrak-
tere, universell einsetzbare Qualifikationselemente in der Stahlindustrie weiter fort-
geschritten zu sein scheint, trifft diese Entwicklung gleichwohl für die Fertigungs-
technik zu. Sie wird mit unterschiedlichen Formen traditioneller Qualifikationen
konfrontiert. Dabei könnte die Bedrohung von Kompetenzen der Facharbeiter und
technischen Angestellten politisch brisant werden.
Da der Einsatz vonComputer-Technologien neue Dimensionen zeitökonomischer
Gestaltung von Produktionsbereichen - insbesondere der "Kopfarbeit" - erschließt,
entstehen andererseits komplexe Restfunktionen menschlicher Arbeit, die sich vor
allem aus abstrakten Elementen des Arbeitsvermögens konstituieren. Arbeit bleibt
jedoch auch in dieservon der stofflichen Besonderheit losgelösten Erscheinungsform
konkret-nützliche Arbeit. Sie bleibt somit elementare Produktionsbedingung, die
dem Abstraktionsprozeß Grenzen zu setzen scheint. Hierin äußert sich zugleich die
Widersprüchlichkeit der zeitökonomischen Durchdringung der Produktion. Wenn
auch zunehmend die stofflich-besondere Arbeit aus dem Arbeitsprozeß hinausge-
drängt w1rd, bleibt doch - vor allem bei Störungen im Produktionsablauf und in
Ausnahmesituationen - die Abhängigkeit von jener Restfunktion konkreter Arbeit
für die Aufrechterhaltung der Produktion und damit für die Kapitalverwertung rele-
vant. Die Autoren der Studie "Computer und Arbeitsprozeß" räumen diesen Rest-
funktionen menschlicher Arbeit ein "Störpotential für den Prozeß der Kapitalver-
wertung" ein (Brandt u. a., S. 60), ohne jedoch den Stellenwert konkreter Arbeit
für die Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Produktionsablaufs per se als kon-
stitutiv für ein neues Krisenpotential anzusehen. Die Auswirkungen der Reorganisa-
tion von Produktionsprozessen in Industrien der Fertigungstechnik legen es nahe,
die allgemeine Gültigkeit der Entwicklungstendenzen, auf denen die These von der
Existenz eines Störpotentials beruht, noch einmal zu überprüfen. Zwar muß berück-
sichtigt werden, daß die Kontinuität und der stofflich-technische Charakter der Pro-
duktionsprozesse in stoffumwandelnden Industrien ein größeres Störpotential bei
Fehlhandlungen zur Folge haben können, als dies in Industrien der Fertigungstech-
nik - auch bei zunehmend integrierter Fertigung -der Fall sein kann. Hier zeich-
net sich - nimmt man vor allem Entwicklungen in den Bereichen geringer qualifi-
zierter Arbeit in der Elektrotechnischen Industrie und im Fahrzeugbau als Beispiel
Computereinsatz und Reorganisation von Produktionsprozessen 117

- eher eine Tendenz zu größerer Unabhängigkeit von der Besonderheit der Rest-
funktionen menschlicher Arbeit ab. Selbst im Hinblick auf die auf dem gegenwärti-
gen Stand des Einsatzes von Computer-Technologien verbleibenden komplexen Rest-
funktionen qualifizierter Arbeit gilt es zu fragen, ob die noch bestehenden Abhän-
gigkeiten nicht nur Lücken eines technologisch zu schließenden Systems der Inte-
gration und Kontrolle sind. Was die politisch emanzipative Bedeutung der Restfunk-
tionen menschlicher Arbeit im Produktionsprozeß angeht, zeichnet sich eher die
Tendenz ab, daß "die Arbeiter, gemessen am Maßstab des modernen Systems, macht-
loser sind, als sie jemals seit den Zeiten der Sklaverei waren, was auf die Geringfü-
gigkeit jedes individuellen Arbeitsbeitrages zurückzuführen ist" (Sohn-Rethel197 8;
158). Wird hiermit zwar die politische Potenz der verbleibenden individuellen Ar-
beit durch Sohn-Rethellegitimerweise in frage gestellt, gilt es gleichwohl in Forschun-
gen zum quantitativen Gewicht und zur Funktion menschlicher Arbeit im compu-
tensierten Arbeitsprozeß jenen Annahmen nachzugehen, die im disponiblen und al-
ler "Beruflichkeit" entledigten Gesamtarbeiter erst den Träger des Prozesses zur
Überwindung von Entfremdung und für eine emanzipative Strategie sehen (Tronti
1974, Cacciari 1973).

Literatur
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Systemen und ihre Auswirkungen auf die Organisation der Arbeit und die Arbeitsplatzstruk-
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puter-gestützter Produktionsprozesse, 1. Zwischenbericht Frankfurt 1978; 2. Zwischenbe-
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politische und gewerkschaftliche Aufgabe, Frankfurt
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Schmiede, R., 1979: Taylorismus, Zeitökonomie und Kapitalverwertung in der Entwicklung
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Alfred Sohn-Rethel, Bremen
Sohn-Rethel, A., 1970: Geistige und körperliche Arbeit, Frankfurt
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-, 1978: lntellectual and Manual Labour, London
Tronti, M., 1974: Arbeiter und Kapital, Frankfurt
Eckart Teschner!Kiaus Hermann

Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit

Empirische Befunde und theoretische Vberlegungen

Überlegungen, die dem Verhältnis von Technikern und Ingenieuren zur Rationalisie-
rung ihrer eigenen Arbeit gelten, kommen nicht umhin, einen Unterschied zwischen
Arbeitern und technischen Angestellten im Auge zu behalten, der die sozialstruk-
tureilen Beziehungen beider Gruppen im Prozeß der Industrialisierung stark be-
stimmt hat. Von Anbeginn war die moderne Industriearbeit ständigen Rationalisie-
rungsprozessen durch arbeitsorganisatorische Veränderungen und die Einführung
neuer Technologien ausgesetzt, haben Industriearbeiter die dauerhafte historische
Erfahrung gemacht, Objekte dieser Rationalisierungen zu sein. Ingenieurs- und Tech-
nikerarbeit war, seit sie sich gegen Mitte des letzten Jahrhunderts ausdifferenziert
und als eigenständige Funktionen in der Industrie etabliert hat, letztlich immer
eben auf die Rationalisierung der Produktion bezogen. Hier liegt der real wirksame
Gegensatz zwischen körperlicher und geistiger Arbeit begründet, der sich bei den Ar-
beitern stets als Mißtrauen gegenüber der Ingenieur- und Technikerarbeit geäußert
hat. Daß die Tätigkeiten technischer Angestellter nun auch zum Gegenstand ernst-
hafter und systematischer Rationalisierungsmaßnahmen werden, und daran schei-
nen kaum Zweifel angebracht, ist für Techniker und Ingenieure eine relativ neue Er-
fahrung.
Zwar waren auch Techniker und Ingenieure ihrem formellen Status nach immer
Lohnabhängige. Aber zwischen ihnen und den Industriearbeitern bestand eine poli-
tisch und sozial sehr wirksame Kluft, die etwa auch darin sich zeigte, daß die einen
eher berufsständisch und mit einem kooperativen Verständnis der industriellen Be-
ziehungen, die anderen in Gewerkschaften mit einem zwangsläufig konfliktreichen
Verhältnis zum industriellen Management sich organisierten. Diese Differenz hatte
objektive Gründe. Weit weniger als bei Industriearbeitern waren die Techniker und
Ingenieure von den sozialen Widersprüchen industriell-kapitalistischer Arbeit betrof-
fen. Ihre erhebliche materielle Privilegierung, die sehr gemilderten Erfahrungen öko-
nomischer Krisen und die zum Teil umfangreichen Dispositions- und Kompetenz-
spielräume bei der Arbeit ermöglichten es Ihnen, ein Bewußtsein relativer materiel-
ler und arbeitsinhaltlicher Autonomie auszubilden. Angesichts der strukturellen Ver-
änderungen in den industriellen Bedingungen ihrer Tätigkeiten wird die entscheiden-
de Frage sein, ob die heutigen Arbeitsverhältnisse die Reproduktion dieses Bewußt-
seins weiter sichern oder ob neue industrielle Erfahrungen zwangsweise auferlegt
werden, die das alte Bewußtsein "relativer sozialer Autonomie" allmählich auflösen.
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 119

Bei unserer Studie sind wir von der zentralen Annahme ausgegangen, daß politi-
sches, gesellschaftliches und gewerkschaftliches Bewußtsein nicht aus Kategorien
wie produktive und unproduktive Arbeit abgeleitet werden kann. Das Beharren dar-
auf, diese Begriffe seien zugleich die entscheidenden klassenanalytischen Kategorien,
verfährt unhistorisch. Es unterstellt eine eiserne Logik der ökonomisch-politischen
Entwicklung, nach der "sich historisch alsbald vollenden muß, was logisch vollendet
erscheint" (Rudolf Bahro 1977, 51). Die Übereinstimmung von logischen Begriffen
und historisch empirischen Verhältnissen, das Zusammenfallen von produktiver Ar-
beit und Lohnarbeiterklasse, sie sind selber historische Phänomene und unterliegen
geschichtlichen Veränderungen. Das dem klassischen Begriff nach in produktiven
Funktionen eingesetzte Personal stellt heute innerhalb der Lohnarbeiterklasse nur
noch eine Minorität dar.
Die im folgenden formulierten Thesen zur Rationalisierung von Arbeitsprozessen
technischer Angestellter beruhen auf Untersuchungen, die in zwei Industrieunter-
nehmen der elektrotechnischen Industrie durchgeführt wurden. Die Produkte dieser
Unternehmen -elektrotechnische Massenkonsumgüter bzw. EDV-Anlagen mittlerer
Größe - definieren einen bestimmten Typus von Ingenieur- und Technikertätigkei-
ten. Bei der Generalisierung unserer Thesen ist daher eine gewisse Vorsicht geboten.
In den ersteren Teilen werden empirisch ermittelte Entwicklungstrends thesenhaft
zusammengefaßt, in den letzteren Teilen wird - sicherlich skizzenhaft -versucht,
diese Befunde im Rahmen klassentheoretischer Reflektionen zu überdenken. Solche
Überlegungen nur auf eine soziale Gruppe oder Fraktion der Lohnarbeiterklasse zu
beschränken, greift wesentlich zu kurz. Die Entwicklung des spätkapitalistischen
Produktionsprozesses modelt die sozialstruktureilen Linien innerhalb der Lohnar-
beiterklasse insgesamt um.

I. Methoden und Tendenzen der Rationalisierung technisch-wissenschaftlicher Ar-


beit in der Industrie

"Im Betrieb", schrieb Carl Dreyfuss 1933 in seiner umfangreichen Untersuchung


über ,Beruf und Ideologie der Angestellten·, "ist die Grenze zwischen Geschäftslei-
tung und Angestellten keineswegs klar gezogen" (11). Diese Feststellung galt damals
um so mehr für Angestellte mit technischen Qualifikationen, die als Techniker, In-
genieure und Naturwissenschaftler in ihrer übergroßen Mehrheit mit Funktionen des
"wissenschaftlichen Managements" betraut waren. Während in den kaufmännischen
und administrativen Bereichen seit langem das Heer der Sachbearbeiter und Schreib-
kräfte dem Management definitiv nicht mehr zuzurechnen ist und ihre sozialen Fak-
ten die Entstehung dieser Illusionen kaum noch zulassen, setzt sich heute auch in
den großdimensionierten Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Industrie
die Trennung von ausführenden technischen Funktionen und Management durch.
Vor allem in der Großindustrie haben sich die Arbeits- und Berufsbedingungen
der Angestellten in den letzten zwanzig Jahren in einem Ausmaß verändert, daß von
120 Eckart Teschner/Klaus Hermann

einem strukturellen Wandel in den Arbeitssituationen von Angestellten gesprochen


werden kann. Die sprunghafte Zunahme der Zahl der Angestellten, die in den näch-
sten zehn Jahren die der Arbeiter übersteigen wird, hat zwangsläufig zu einer Reor-
ganisierung und fortschreitenden Arbeitsteilung der Angestelltentätigkeiten geführt.
Die betriebsökonomischen Zwänge zur Rationalisierung dieser Tätigkeiten resultie-
ren aus den Verschiebungen der betrieblichen Kostenstrukturen, vor allem dem An-
steigen der fixen und der Overhead-Kosten.
Von allen technischen Neuerungen hat am stärksten die elektronische Datenver-
arbeitung die Arbeitsbedingungen auf dem Sektor der Büroarbeit umgestaltet. Ihre
Wirkung reicht sowohl in die kaufmännischen als auch in die technischen Bereiche
der Angestelltentätigkeiten hinein. Parallel und im Zusammenhang mit der Mecha-
nisierung und Technisierung der Büroarbeit werden arbeitsorganisatorische Maßnah-
men notwendig, die gleichfalls die Arbeitsbedingungen der Angestellten nachhaltig
verändert. Die Reorganisierung der Arbeitszusammenhänge und Arbeitsvollzüge ver-
läuft mehr und mehr nach arbeitswissenschaftliehen Methoden mit dem Ziel der
Standardisierung und Normierung von Arbeitsvollzügen und Arbeitsinhalten bis hin
zur Anwendung des Arbeitsstudiums und der Analyse von Zeiten und Mengen.
Kennzeichnend dafür ist der- zumindest in der großen Industrie- sich ausbreiten-
de Einsatz von Methoden der Arbeits- und Leistungsbewertung bei Angestellten-
tätigkeiten.
Technische Angestellte, deren Anteil an der Gesamtheit der Angestellten über-
proportional wächst, sind ihrer Qualifikation und ihren Einsatzbereichen nach eine
höchst heterogene soziale Gruppe, die sich kaum noch unter der ein Moment von
Einheit suggerierenden soziologischen Kategorie "Angestellte" fassen läßt. Entspre-
chend den differierenden Arbeitsinhalten und Arbeitsvollzügen sind die einzelnen
technischen Angestelltentätigkeiten von Reorganisierungs- und Rationalisierungs-
maßnahmen sehr unterschiedlich betroffen. Dafür lassen sich als Ergebnis unserer
Untersuchungen drei empirische Trends formulieren:
a) Prozesse fortschreitender Arbeitsteilung, Schematisierung und Standardisierung
von Arbeitsinhalten unter Einschluß EDV-spezifischer Mechanisierungen bilden
vor allem in den mittleren und unteren technischen Angeslelltenfunktionen For-
men repetitiver Tätigkeiten aus. In ihnen kommen am stärksten Angleichungsten-
denzen zwischen gewerblicher und angestellter Lohnarbeit zum Ausdruck, die
nicht - und das sei zur Angleichungsthese einschränkend hinzugefügt - die so-
ziale Lage von Arbeitern und Angestellten insgesamt nivellieren, sondern den
Grad der Objektivierung und den Charakter der strukturierenden Prinzipien der
Arbeitsprozesse betreffen.
b) Die für qualifizierte und hochqualifizierte technische Angestelltentätigkeiten tra-
ditionelle Verbindung von planend-organisierenden und inhaltlich-ausführenden
Funktionen, Kennzeichen ihrer bisherigen spezifischen Arbeitsautonomie, löst
sich auf, diese Funktionen werden organisatorich voneinander getrennt.
c) Als Folge dieser Tendenzen wird die Mehrheit der technischen Angestellten auch
mit partiell innovativen Funktionen auf den Status von ausführenden Sachbear-
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 121

beitern reduziert, und zunehmend wird sich der Typus des technischen Detail-
arbeiters herausbilden.
Der Wandel der Ingenieur- und Technikertätigkeiten läßt sich idealtypisch so be-
schreiben, daß die ehemals komplexen Funktionen des Konstrukteurs und Entwick-
lungsingenieurs, dessen Aufgaben den Gesamtkomplex von der Ideenkonzeption bis
zur Fertigungsreife der Produkte umfaßten, im großindustriellen Forschungs- und
Entwicklungsprozeß heute strikt ausdifferenziert und arbeitsteilig ablaufen. In die-
sem Prozeß hat die Ebene der organisatorischen Grundstruktur von Forschungs-
und Entwicklungsabteilungen nicht nur formale Bedeutung für die Analyse der Ar-
beitssituation technischer Angestellter. Mit der rasch wachsenden Bedeutung der
geistigen Funktionen für den Arbeitsprozeß - sowohl innerhalb der unmittelbaren
Produktion wie auch in den vor- und nachgelagerten Abteilungen - entstand für die
Industrie das Problem, jene expandierenden Funktionen wie Forschung und Ent-
wicklung zu reorganisieren und den qualitativ und quantitativ veränderten Propor-
tionen von geistiger und manueller Arbeit in der Unternehmensorganisation Rech-
nung zu tragen. Angesichts einer immer unübersichtlicheren Differenzierung von
Funktionen und Tätigkeiten ergab sich für die Unternehmen die Notwendigkeit,
Komplexität zu reduzieren und die ökonomischen und marktstrategischen Ziele des
Managements auch in diesen Arbeitsprozessen mit ihren relativ großen Dispositions-
spielräumen zu sichern und durchzusetzen. Charakteristisch für die erfolgte Reorga-
nisation technisch-naturwissenschaftlicher Funktionen innerhalb wie auch außer-
halb des unmittelbaren Produktionsprozesses ist die bereits in den Zielsetzungen an-
gelegte Widersprüchlichkeit: die erhöhte Potenz des Managements zur Intervention
in die Arbeitsprozesse dieser Funktionen fördert die Tendenz zur Zentralisierung
von Entscheidungsprozessen, die damit einhergehende arbeitsorganisatorische
Durchgestaltung technisch qualifizierter Arbeitsprozesse hat jedoch restriktive Aus-
wirkungen auf die geforderte Effizienz und Produktivität geistiger Arbeit, insbeson-
dere auf die kreativ innovative Potenz ihrer Träger.
Die von uns untersuchten Unternehmen haben in den siebziger Jahren die Funk-
tionsbereiche, denen die im Rahmen unserer Studie untersuchten Arbeitsplätze über-
wiegend angehören, reorganisiert. Obgleich die in beiden Unternehmen angewandten
Instrumente und Methoden ähnlicher Natur waren, unterschieden sich die ökonomi-
schen Motive, die diesen Prozessen zugrunde lagen, erheblich.
Die Belegschaft des Unternehmens aus dem EDV-Bereich hatte sich innerhalb
der letzten zehn Jahre um das Zehnfache erhöht. Dieser Tatbestand sowie die ver-
größerte Produktpalette erforderten eine Neubestimmung der bisher weitgehend
gleichgebliebenen betriebs- und arbeitsorganisatorischen Strukturen.
Das Unternehmen aus dem Bereich der elektrotechnischen Konsumgüterindustrie,
das zu Beginn der Rezession 197 4 den Personalbestand infolge abnehmender Er-
tragslage durchgängig um 10% reduziert hatte, stand zwar nicht unmittelbar vor be-
drohlichen ökonomischen Problemen, seine Stellung und Konkurrenzfähigkeit auf
dem nationalen und internationalen Märkten war aber insofern labil geworden, als
122 Eckart Teschner!Klaus Hermann

die Gewinne im wesentlichen nur durch ein - sehr erfolgreiches - Produkt erzielt
wurden, während die Rentabilität aller anderen Produkte äußerst gering war.
Aus dieser Situation ergaben sich für das Management des Unternehmens zwei
strategische ökonomische Ziele: zum einen mußte die bedrohliche Abhängigkeit der
Ertragslage von nur einem Produkt durch Produktinnovationen reduziert und "ein
zweites Bein auf den Markt gebracht werden", zum anderen mußte die Kostenstruk-
tur der übrigen Produkte so geändert werden, daß sie von den Produktionskosten
her mit einem konkurrenzfähigen, d. h. gewinnbringenden Preis auf dem Markt ver-
kauft werden konnten.
Die unmittelbare Fertigung, in großen Bereichen feinmechanische Montagepro-
zesse, hatte einen Grad der Mechanisierung und Automatisierung erreicht, der, um
spürbare Kostenvorteile zu erzielen, zumindest kurzfristig nicht mehr gesteigert wer-
den konnte. Unter diesem Gesichtspunkt wurde, um die Rentabilität des Unterneh-
mens zu stärken, den technischen Abteilungen eine Schlüsselfunktion zugewiesen.
Mit der Reorganisierung dieser Bereiche verfolgte das Unternehmen drei Ziele:
a) Marktanalysen, auf ihnen basierende Marktstrategien und Produktentwicklungen
sollten in der Weise enger aufeinander abgestimmt werden, daß die vom Business-
Management terminierten Marktstrategien und die Projektabläufe von Konstruk-
tion und Entwicklung einem einheitlichen Zeitrahmen unterworfen werden, der
die verbindliche Grundlage für die Zeitökonomie der Entwicklungstätigkeiten
bildet.
b) Um die Konkurrenzbedingungen des Unternehmens gegenüber anderen Unterneh-
men mit vergleichbaren Produkten zu verbessern, d. h. um die laufenden Produk-
te kostengünstiger durchzukonstruieren, sie neueren technologischen Entwick-
lungen (z. B. der Mikroelektronik) anzupassen und um neue konkurrenzfähige
Produkte auf dem Markt durchzusetzen, mußte die Effektivität und das techni-
sche Entwicklungspotential der F-undE-Bereiche gesteigert werden.
c) Darüber hinaus sollten Konstruktion und Entwicklung vom ersten Schritt einer
Produktentstehung an unter fertigungsökonomische Zwänge gestellt werden, um
die Überleitungszeiten in die Fertigung zu verkürzen.
in beiden Unternehmen wurden die für technische Angestellte typischen Arbeitspro-
zesse in Forschung, Entwicklung, Konstruktion usw. auf verschiedenen Ebenen un-
ter marktökonomischen, fertigungstechnischen und produktionsökonomischen Kri-
terien, sowohl in ihrem Verhältnis zur unmittelbaren Produktion wie auch in ihrer
Beziehung zu den unternehmensspezifischen Marktstrategien, enger und verbindli-
cher in die Unternehmensorganisation eingebunden. Mit der Realisierung dieser Kri-
terien setzt sich ein Integrationsprozeß von Produktion und KonstruKtion/Entwick-
lung durch, der auf der Ebene der Unternehmensorganisation als systematische Zu-
ordnung und Verknüpfung technischer Funktionen sich widerspiegelt. Von hier aus
lassen sich erste Bestimmungen gewinnen, die in Form normierter Ablauf- und Ko-
operationsprozeduren, als Zeit- und Kostenbudgets in die Organisation der Arbeits-
prozesse technischer Angestellter eingehen, bevor in den einzelnen Abteilungen und
Arbeitsgruppen die im engeren Sinn "technische" Arbeitsteilung (Zerlegung der Ar-
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 123

beitsaufgabe in technische Tätigkeiten, Einsatz technischer Normen, standardisier-


ter Verfahren usw.) wirksam wird.
Unter dem technischen Vorstand gliedern sich die technischen Funktionsgebiete
in Forschung und Entwicklung, Qualitätswesen, Manufacturing Engineering und Pro-
duktion. Parallel dazu steht das nach Produktlinien gegliederte Product Program
Management (PPM) oder Projektmanagement, das zwischen den technischen Funk-
tionen einerseits und Business Management andererseits vermittelt. Alle Informatio-
nen, die vom Markt kommen, Entscheidungen über Stückzahlen, Herstellungskosten,
Innovationen usw. werden in technische Entwicklungsziele übersetzt und als Vorga-
ben für die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen verarbeitet. Das Projektmana-
gement - gleichsam als Arbeitsvorbereitung und -kontrolle wirksam - stellt einen
einheitlichen Zeitrahmen auf für die abgestimmten und koordinierten Aufgaben der
Entwicklungsabteilungen, des Manufacturing Engineering (Fertigungsüberleitung)
und der Produktion, um zu vermeiden, daß Produktentwicklungen ohne Rücksicht
auf Produktionszeiten, Produktionsökonomie, verfügbare Produktionstechnik und
Marktstrategien abgeliefert werden.
In der früheren Unternehmensstruktur war PPM als Projektmanagement in die
Entwicklungsabteilungen integriert. Es ist jetzt dem technischen Vorstand direkt
unterstellt, keinem Funktionsgebiet angegliedert und fungiert daher praktisch als
"neutrale" Stelle, die ohne Rücksicht auf Interessen einzelner Abteilungen Schwä-
chen und Stärken aufzudecken und alle am Entwicklungsprozeß eines Produktess
beteiligten Abteilungen zu koordinieren hat. Von der Idee eines Produktes, der Ziel-
definition, der Formulierung des Entwicklungsauftrages über Prototypen bis zur Se-
rienreife und Fertigung organisiert PPM nach relativ strengen Verfahren stufenweise
die Abläufe, fixiert und kontrolliert Kosten- und Zeitbudgets, führt Entscheidungen
herbei über die Gestaltung technischer Details, über Eigen- und Fremdproduktion
von Bauteilen etc. - Die organisatorische Herausnahme und die Kompetenzerwei-
terung sollen zum einen die Friktionen zwischen markt- und produktionsökonomi-
schen Bestimmungen reduzieren; zum anderen soll der Gesamtablauf des Entwick-
lungsprozesses zeitökonomisch kalkulierbarer werden, damit die Marktziele von der
technischen Seite her mit höherer Wahrscheinlichkeit erreicht werden können.
Die Entstehung und Weiterentwicklung von PPM-ähnlichen Funktionen indiziert
einen bestimmten Grad der Vergesellschaftung dieses Typus geistig-technischer Ar-
beit, dessen neue Größenordnung und Ausdifferenzierung das alte Prinzip der Selbst-
organisation nicht mehr zuläßt und einer den Beschäftigten gegenüber eigenständi-
gen und äußeren Instanz der Steuerung und Koordination bedarf. PPM oder Projekt-
management bezeichnet also eine technisch-organisatorische Funktion, die unmittel-
bar in Arbeitsprozesse der technischen Funktionsgebiete und Abteilungen interve-
niert und Bedingungen für die konkrete Arbeit setzt, die bis in die Struktur einzel-
ner Tätigkeiten wirksam werden. Im Unterschied zur unmittelbaren Produktion -
das sei am Rande angemerkt - werden diese Bestimmungen im Arbeitsprozeß abge-
koppelt vom hierarchischen Herrschaftssystem des Betriebes durchgesetzt, es bildet
sich, indem sich diese technisch-organisatorischen Leitungs- und Koordinations-
funktionen etablieren, insgesamt ein duales Leitungssystem heraus.
124 Eckart Teschner!Klaus Hermann

Für die einzelnen Arbeitsplätze liegt die Bedeutung dieser Funktion darin, daß
mit der Formalisierung von Richtlinien und Verfahrensweisen Elemente von Regel-
haftigkeit und Vereinheitlichung in die konkrete Arbeit der technischen Abteilun-
gen getragen werden. Prozesse geistiger Arbeit werden dadurch einer Strukturie-
rung zugänglich gemacht. Zufälligkeiten und Störungen werden kontrollierbar, das
empirische Vorgehen bei der Lösung technisch-naturwissenschaftlicher Aufgaben-
stellungen wird eingeschränkt und durch analytisch-formalisierte Anleitung der Ar-
beit, die sich von individuellen Arbeitsstilen löst, ersetzt.
Eine zweite Tendenz, die konkrete technische Arbeit zu systematisieren und de-
ren bisherige Freiheitsgrade einzuschränken, geht von der ebenfalls neu geschaffe-
nen Funktion Manufacturing Engineering aus. Die expandierende Produktpalette
und die Anwendung unterschiedlichster Technologien und Materialien lassen sich
unter vorgegebenen Kosten-, Qualitäts- und Zeitbestimmungen - und forciert un-
ter dem Druck der internationalen Konkurrenz und dem beschleunigten "morali-
schen Verschleiß" neuer Technologien - nicht mehr ohne systematische Verknüp-
fung in die Planung der Produktion überführen. Probleme in der Produktion müssen
frühzeitiger erkannt und durch ihre Simulation systematischer erarbeitet und in die
Konstruktionsarbeit zurückgegeben werden, damit Zielsetzungen der Arbeitsvor-
bereitung und Produktplanung in einem einheitlichen Zeitrahmen realisiert werden
können. Um Standardisierungsmomente und Rationalisierungsansätze in der Pro-
duktion zu erschließen, müssen die Produkte schon im frühesten Stadium ihrer kon-
zeptionellen Entwicklung und Mustererstellung auf ihre produktionstechnischen
und produktionsökonomischen Aspekte überprüft werden. Die Chancen zur auto-
matisch gesteuerten Fertigung von Einzelteilen ergeben sich nicht nur durch die ver-
fügbaren Produktionstechnologien, sondern auch dadurch, daß das Fertigungsteil so
konstruiert wurde, daß es sowohl seine technische Funktion in einem Aggregat er-
füllen kann, wie auch mit den vorhandenen Produktionstechniken herzustellen ist.
Als wichtiges Instrument, markt- und produktionsökonomische Determinanten
in der Konstruktions- und Entwicklungsarbeit unmittelbar zur Geltung zu bringen,
gewinnt die Wertanalyse immer mehr an Bedeutung. Als betriebswirtschaftliche Ra-
tionalisierungsmethode zielt die wertanalytische Betrachtung zunächst und vor al-
lem auf Kostensenkung und Kostenkontrolle. Die Analyse von Materialien, Verfah-
ren und konstruktiven Auslegungen dient dazu, den Aufwand zu minimieren und
die Produktivität zu steigern. Darüber hinaus vermittelt die Wertanalyse markt- und
produktionsökonomische Kriterien bei der Entwicklung von Produkten und Verfah-
ren. Schon auf den ersten Stufen der konzeptionellen Konkretion von Funktionen
und Gebrauchswerten werden alternative Lösungen unter Aspekten der Ertragsstei-
gerung und der Kostenstruktur analysiert und entschieden. Systematisch dringen
mit der wertanalytischen Betrachtung als Methode - über die Vorgabe pauschaler
Kosten- und Zeitbudgets hinaus - Kriterien der Kapitalverwertung in die konkreten
Arbeitsprozesse der technischen Angestellten ein und werden konstitutiv für ihren
betrieblichen Erfahrungszusammenhang.
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 125

In Forschung, Entwicklung und Konstruktion läßt sich die Wertanalyse nicht ge-
trennt vom beruflichen Wissen der Techniker und Naturwissenschaftler anwenden
und weiterentwickeln. Sie und nicht die Betriebsökonomen allein vermögen die
konkrete und besondere technische Lösung unter Wert- und Kostengesichtspunkten
zu analysieren und zu realisieren. Die Integration der Funktion ,Wertanalyse' in die
Anforderungsstruktur technisch-wissenschaftlicher Arbeitsplätze und Berufe ist da-
her ein zentrales Ziel der betrieblichen Qualifikationspolitik und charakterisiert eine
neue spezifische Widersprüchlichkeit im Status technischer Angestellter.
Erst dann, wenn komplexe geistige Tätigkeiten analytisch zerlegt werden können,
kann die Zeitökonomie als Prinzip der Planung und der Koordination auch in diese
Arbeitsprozesse eindringen. Die Abgrenzung von kleinen Arbeitsschritten und De-
tailaufgaben macht es möglich, planbare Leistungsnormen zu definieren. Daß die
analytische Arbeits- und Leistungsbewertung in diesen Bereichen immer mehr ange-
wandt wird, mag als äußeres Kennzeichen dafür angesehen werden. Zugleich erlaubt
das analytische Durchdringen komplexer geistiger Tätigkeiten, Arbeitsanteile zu rou-
tinisieren, zu formalisieren und zu standardisieren und kreativ geistige Tätigkeiten
im engeren Sinne einzugrenzen.
Unter dem Zwang, ihre Arbeitsvollzüge, ihre Zeit- und Kooperationsstruktur mit-
tels formalisierter Verfahren wie Stellen- und Funktionsbeschreibungen, technische
Dokumentationen etc. schriftlich festzuhalten, haben die Techniker und Naturwis-
senschaftler in der Industrie die Selbstorganisation ihrer Arbeit offengelegt. Die
Nachbildung der Elemente und Strukturen geistiger Arbeitsprozesse ist Bedingung
und Möglichkeit, Ieistungs- und lohnpolitische Überlegungen des Managements in
die Arbeitssitutation zu vermitteln. Dieser Sachverhalt demonstriert zugleich eine
weitere für Prozesse technisch-geistiger Arbeit charakteristische Widersprüchlichkeit:
Organisation und Realisierung der Arbeit sind ohne die Kooperationsbereitschaft
der Ingenieure und Naturwissenschaftler nicht denkbar. Ist also ihr Arbeitsprozeß
zunächst von nebeneinanderstehenden Elementen der Selbstorganisation und sol-
chen der Strukturierung von außen bestimmt, so erfahren sie andererseits das fort-
schreitende Zergliedern ihrer Tätigkeiten und die Durchsetzung von Planungs- und
Kontrollsystemen als Ausdruck einer sich gegen sie kehrenden Objektivierung des
Arbeitsprozesses. Verfahren wie das Management by Objectives erinnern an diese
Widersprüchlichkeit, zeigen aber auch die Tendenz, es zum Partizipationsmodell un-
ter der Direktive des Managements aufzulösen.
Technische Angestelltentätigkeiten werden gegenwärtig vorrangig mittels arbeits-
organisatorischer Rationalisierungen ökonomisiert und intensiviert. Im Unterschied
zu bestimmten kaufmännischen und administrativen Angestelltentätigkeiten ist die
EDV-spezifische Technisierung in den Forschungs- und Entwicklungsbereichen
noch relativ gering entwickelt. Abgesehen von ihrer Bedeutung für das Archivieren
und Bereitstellen von technischen Zeichnungen und Stücklisten und ihrer Rechner-
kapazität für aufwendige mathematisch-technische Probleme werden EDV-Anlagen
für unmittelbar konstruktive Funktionen selten einsetzt. Sie dienen auch heute noch
im wesentlichen als Informationstechnologien. CAD-Systeme (computer aided
126 Eckart Teschner/Klaus Hermann

design) sind zwar entwickelt, ihr Einsatz beschränkt sich aber noch auf relativ weni-
ge technische Aufgabenstellungen, wie z. 8. Rohrleitungsberechnungen bei Raffine-
rien oder Leiterbahnentwürfe bei gedruckten Schaltungen. Gleichwohl gilt die The-
se, daß die arbeits-organisatorischen Rationalisierungen technischer Tätigkeiten An-
satzpunkte EDV-spezifischer Technisierungen vorbereiten und freilegen (G. Sech-
mannet al., 1979).
Am weitesten fortgeschritten ist die Substitution menschlicher Arbeitskraft durch
EDV-Technologien in den Abteilungen, die die Funktions- und Qualitätskontrollen
der Entwicklungsprojekte durchführen. Hier sind der unmittelbaren Produktion
strukturell vergleichbare Arbeitsbedingungen mit kurztaktigen repetitiven Arbeits-
abläufen und starkem Qualifikationsverlust des eingesetzten Personals zu registrie-
ren. Mit Hilfe neu entwickelter Prüfautomaten und Prüfprogramme konnten die
durchschnittlichen Qualifikationsanforderungen, die bisher dem Niveau eines gra-
duierten Ingenieurs entsprachen, auf das eines zum Techniker ausgebildeten Fachar-
beiters gesenkt werden.

li. Rationalisierung und technische Kreativität

Das technische Management reagiert auf die Rationalisierung seiner Funktionsberei-


che häufig ambivalent, gelegentlich sogar ablehnend. Darin drückt sich weniger ein
borniertes, idealisierendes Beharren auf der Kreativität technisch-wissenschaftlicher
Arbeit aus, das eher verzweifelt wäre angesichts der "Entwenung" dieser Arbeit,
viel eher und sehr realistisch reflektieren diese ambivilanten Reaktionen die Wider-
sprüche, die eine kapitalistische Rationalisierung dieses Typs geistiger Arbeit hervor-
ruft und die der Abhängigkeit dieser Arbeitsprozesse von der konkreten Arbeit zuzu-
rechnen sind.
Das Ziel aller technischen und arbeitsorganisatorischen Rationalisierungen unter
kapitalistisch-industriellen Bedingungen war immer die Steigerung der Produktivität
der Arbeit, gemessen als Leistungshergabe pro aufgewandter Arbeitszeit. Dieser Lei-
stungsbegriff basiert auf einem mengenmäßigen Arbeitsergebnis, auf dessen Steige-
rung pro Zeiteinheit und Arbeitskraft die Rationalisierungsmethoden ausgerichtet
sind. Wertmäßig drückt sich die höhere Arbeitsproduktivität in sinkenden Stückko-
sten aus.
Dieses Modell der Rationalisierung ist historisch in der unmittelbaren Produktion
entwickelt worden. Es zielt auf eine Quantifizierung des Leistungsbegriffs, die in die-
sem Bereich durch Stückzahlen, Gewichtseinheiten oder Längenmaße durchgesetzt
wurde. Auch in vielen Bereichen der Büroarbeit wie Vertrieb, Buchhaltung, Schreib-
tätigkeit ist der mengenmäßige Leistungsbegriff zum Maßstab von Rationalisierungs-
ansätzen geworden. Gemessen werden hier die Anzahl der zu bearbeitenden Ge-
schäftsvorgänge, Korrespondenzen, Belege, Anschläge auf der Schreibmaschine. Es
zeigt sich schon in dieser Aufzählung, daß die Quantifizierbarkeit des Arbeitsergeb-
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 127

nisses eine gewisse Repetitivität der Arbeitsvorgänge einschließt, d. h. die Wiederho-


lung ein und derselben Tätigkeit nach relativ kurzer Zeit.
Die Produktivität einer technischen Entwicklungsabteilung läßt sich vordergrün-
dig ebenfalls auf einen quantifizierbaren Leistungsbegriff beziehen. Sie ist um so
größer, je mehr produktionsfähige und verkaufbare Produkte die Entwicklung her-
vorbringt. Ob aber ein Entwicklungsprojekt erfolgreich abgeschlossen wird, das
heißt: kostengünstig produzierbar und auf dem Markt erfolgreich, hängt davon ab,
ob die sogenannte ,intelligente Lösung' gefunden wurde. Dieser Begriff hat einen
sehr komplexen Inhalt und umreißt die spezifische Leistung der Entwicklungstätig-
keit. Technische Kreativität liegt dann vor, definiert ein Leiter der Entwicklungsab-
teilung, "wenn man auf Grund des bekannten Grundlagenwissens in der Lage ist,
daraus eine technische Problemlösung abzuleiten; das ist kreativ in unserem Sinne,
an dem wir interessiert sind."
Diese spezifische Denkleistung eines Entwicklungsingenieurs entzieht sich im
Kern einer quantifizierenden Arbeitsorganisation. Eine ,intelligente' technische Lö-
sung ist gelungen, wenn unter den festgelegten Rahmenbedingungen wie Design, Ko-
stenniveau, verfügbare Entwicklungszeit, hohe technische Reproduzierbarkeit in der
Fertigung zugleich eine gebrauchstechnische Funktionsfähigkeit des Gerätes erzielt
wird, die die Anforderungen, die als Rahmenbedingungen vorgegeben sind, mit er-
füllt. Wie eine solche technisch ,intelligente' Lösung konkret aussehen könnte, ist
-bei aller Organisierung - kaum auf Abruf zu planen. Neben gutem theoretischen
Grundlagenwissen und technischen Spezialkenntnissen, langjähriger Produkterfah-
rung, Materialgespür und fertigungstechnischen Kenntnissen, neben diesen kom-
plexen technischen Kenntnissen spielen technische Fantasie und spontane Einfälle
eine große Rolle bei der Bestimmung des Begriffs technischer Kreativität: es ist der
Einfall, der vom Himmel technischer Erfahrungen kommt und in sich die divergen-
ten Anforderungen synthetisiert. Dieses spezifisch subjektive Moment in der Entwick-
lungstätigkeit entzieht sich den traditionellen Organisationsformen der industriellen
Arbeit und gilt als nicht organisierbar. Die Entwicklung selber spricht daher nicht
von der Produktivität der Arbeit, die zu steigern sei, sondern von der "Stärkung des
innovativen Potentials". Innerhalb des Managements der technischen Funktionsbe-
reiche besteht daher die Befürchtung, daß eine unbedachte Durchrationalisierung
diesem nicht - oder noch nicht - objektivierbaren Moment der Entwicklungstätig-
keit jenen Spielraum nehmen könnte, in dem die Kreativität des Entwicklers sich
entfalten kann.
Im Gegensatz zur Produktivität der Produktionsarbeit, deren Ausmaß durch das
Niveau der technischen und organisatorischen Bedingungen bestimmt ist, ist der Be-
griff des innovativen Potentials weitgehend von den subjektiven Momenten der Lei-
stungsfähigkeit und der Leistungsbereitschaft der Ingenieure und Techniker abhän-
gig. Wie stark dieses Moment technischer Kreativität, nicht zu planender subjekti-
ver Leistung dem vorgegebenen arbeitsorganisatorischen Rahmen sich entzieht, zeigt
sich auch daran, daß in den entscheidenden Projektphasen, wenn die Termine auf
die Lösung der Konstruktionsprobleme drängen, der Unterschied zwischen Arbeits-
128 Eckart Teschner/Klaus Hermann

zeitund Nichtarbeitszeit für die Entwicklungsingenieure aufgehoben ist. So berich-


teten uns Ingenieure, daß es in solchen Phasen durchaus üblich sei, die Arbeitsun-
terlagen mit nach Hause zu nehmen, da sie nur dort die notwendige Ruhe und Kon-
zentration finden könnten. Selbst in Zeiten des scheinbaren Entspannens-am Wo-
chenende, bei Haus- und Gartenarbeiten, beim Lesen, bei Gesprächen mit Freun-
den - seien sie dann beständig mit ihren technischen Konstruktionsproblemen be-
schäftigt.
Das bedeutet nicht, daß die Entwicklungstätigkeit als Ganze sich der technischen
und arbeitsorganisatorischen Rationalisierung entzöge. Sie ist ein kooperativer, ar-
beitsteiliger Prozeß, an dem eine Reihe ausführender Funktionen wie die des techni-
schen Zeichner, des Detailkonstrukteurs, des Labortechnikers usw. beteiligt sind,
die nicht zum innovativen Personal gezählt werden, deren Tätigkeiten sich häufig
wiederholen und stark routinehaften Charakter haben.
Auch die Funktion des Entwicklungsingenieurs ist während des gesamten Projekt-
ablaufs nicht durchgehend technisch kreative Arbeit. Ein Großteil seiner Arbeit wie
Beschaffung von Konstruktionszeichnungen, Kontakte mit Lieferfirmen über
Fremdteile, Stücklistenaufstellung, Normenvorschriften usw. ist immer wiederkeh-
rende Routine. Von den Leitern der F-undE-Abteilungen wurde der Anteil am Per-
sonal, der tatsächlich innovativ tätig ist und unbedingt erhalten bleiben sollte, auf
15 bis 20 Prozent geschätzt.

III. Das Interesse am Inhalt der Arbeit

Die von uns skizzierten Rationalisierungsprozesse strukturieren Arbeitsbedingungen


zumindest für relevante Gruppen von Technikern und Ingenieuren in folgenreicher
Weise um, ihrer Tendenz nach wird auch dieser Typus geistiger Arbeitsprozesse zu-
nehmend von seinen qualitativ-individuellen Bestimmungen entbunden. Oder wie
Marx es im Hinblick auf die Entwicklung des unmittelbaren Produktionsprozesses
formuliert hat: "Die Arbeit hat aufgehört, als Bestimmung mit dem Individuum in
seiner Besonderheit verwachsen zu sein." Die Objektivierung und - als Kehrseite -
Entsubjektivierung dieser Arbeitsprozesse wird die Grundlagen des bisherigen beruf-
lichen Selbstverständnisses von Technikern und Ingenieuren erodieren. "Als Ende
des Jahrmarkts der Eitelkeiten" beschrieb ein Fertigungsingenieur diese Verände-
rungen und meinte damit in metaphorischer Umschreibung das Ende dessen, was
traditionell als die Autonomie technisch-kreativer Arbeit verstanden wurde und den
Fertigungsingenieuren häufig genug Verdruß bereitet hat.
Wie immer das unter bisherigen Produktions- und Arbeitsweisen entstandene Inge-
nieur- und Technikerbewußtsein begrifflich gefaßt wird: ob als borniertes, subalter-
nes oder technologisches Bewußtsein (alle Bestimmungen drücken dem Kern nach
die ideologisch-affirmativen Momente des Denkens aus), es ist fraglich, ob unter
heutigen industriellen Arbeitsverhältnissen dieses Bewußtsein sich reproduzieren
kann oder ob neue, individuelle und kollektive Erfahrungen zwangsweise auferlegt
werden, die das alte Bewußtsein "durchstoßen".
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 129

In diesem Sinne unterstellen wir, und die von uns erhobenen empirischen Befun-
de belegen die Annahme als sich realisierende Tendenz, daß die Arbeitssituationen
von Technikern und Ingenieuren in der großen Industrie seit geraumer Zeit einem
strukturellen Wandel unterworfen sind, den wir als nachholende Industrialisierung
und als Tendenzen zur Taylorisierung geistiger Arbeitsprozesse bezeichnen. Dieser
Wandel zerstört jene objektiven Grundlagen, die es Technikern und Ingenieuren bis-
lang erlaubten, ein Bewußtsein relativer Autonomie auszubilden, materiell und in
Bezug auf die Inhalte ihrer Arbeit, und sich von den sozialen Widersprüchen indu-
striell-kapitalistischer Arbeit weit weniger betroffen zu zeigen, als es den Industrie-
arbeitern möglich war. Es waren und es sind zum Teil immer noch gerade jene "rea-
len" Illusionen von weitreichender Autonomie, jene Vorstellungen, Subjekt des kon-
kreten Arbeitsprozesses zu sein, die konstitutiv waren für das soziale Bewußtsein
von Technikern und Ingenieuren.
Je nachdem, wie stark die Prozesse der Industrialisierung (und das heißt: reeller
Subsumtion und kapitalistischer Vergesellschaftung) die einzelnen technischen Ab-
teilungen und technischen Qualifikationsgruppen betreffen und durchdringen, wird
sich nach unserer Annahme das Bewußtsein "relativer sozialer Autonomie" auflö-
sen zu Gunsten eines Bewußtseins, das sich zwar sozialstrukturell nicht den Arbei-
tern zurechnet, aber mehr und mehr als Verkäufer einer besonders qualifizierten
Ware versteht. Einige Befunde unserer Befragung mögen in diesem Zusammenhang
von Interesse sein. Auf die Frage, ob den Technikern und Ingenieuren bei der Ent-
wicklung und Herstellung technischer Produkte schon einmal Zweifel an dem Sinn
ihrer Arbeit gekommen seien, hat - für uns völlig unerwartet- fast die Hälfte mit
"Ja" geantwortet. In der Qualifikationsdimension ergeben sich dabei kaum Variatio-
nen in der Verteilung der Antworten. Sie sind gleichmäßig über alle Qualifikations-
gruppen gestreut.
Welches Bild vermitteln nun die Befunde der Befragung? Zunächst ist festzustel-
len, daß etwa die Hälfte der von uns Befragten eine zunehmende Restriktivität ih-
rer Arbeitsbedingungen in der Weise wahrnimmt, daß sie auch ihr Verhältnis zu den
Inhalten ihrer Arbeit berührt sieht. Läßt bei den befragten technischen Angestellten
aus der Computerindustrie sich der Verdacht nicht von der Hand weisen, daß ihre
kritischen Anmerkungen zum Sinn ihrer Arbeit einen Reflex öffentlicher Diskus-
sion über die ökonomischen und sozialen Folgen der Automation darstellen, so ist
dieser Verdacht bei der zweiten von uns befragten Gruppe nicht angebracht. Die
von ihnen entwickelten und konstruierten Produkte sind elektro-technische Kon-
sumgüter, massenhaft produziert und in jedem Haushalt zu finden. Eine öffentli-
che Debatte um diese Produkte hat nicht stattgefunden. Gleichwohl ist der Zwei-
fel am Sinn ihrer Arbeit bei dieser Gruppe von Technikern und Ingenieuren ebenso
ausgeprägt wie bei den EDV-Konstrukteuren. Auch wenn die Akzente bei dieser
Gruppe etwas anders gesetzt sind - und das geht in der Regel auf den unterschied-
lichen Verwendungszusammenhang des Produktes zurück -, der gemeinsame Nen-
ner der Kommentare ist der Zweifel am Gebrauchswert der entwickelten techni-
schen Produkte, und darin konvergieren sie mit den Begründungen der EDV-Inge-
nieure.
130 Eckart Tescbner/Klaus Hermann

Summiert man die kritischen Anmerkungen, so wiederholen sich die Argumen-


te, daß die entwickelten Produkte keinen wirklichen Bedarf decken (das ist auch
überraschend angesichts des relativen Verkaufserfolges), nicht nützlich und nicht
zum Vorteil der Menschen sind. Gedeutet wird dies als Folge des ,Profitdenkens',
das sich nur an den Verkaufschancen, der Realisierung von Marktchancen orien-
tiert.
Betont wird der Einfluß dieser Faktoren auf die technische Konstruktionsarbeit.
Sie ließen - aus technischer Sicht ·- kaum noch Neues und Innovatives zu, mit der
Folge, daß Geräte entwickelt würden, die es schon zu zigtausend gebe, daß "Schund"
produziert werde, während das Unternehmen manchmal Produkte ablehne, die un-
ter technischen Gesichtspunkten gut und sinnvoll seien. Ein Großteil der Konstruk-
tions- und Entwicklungsarbeit bestehe in "dauernden Formveränderungen bei tech-
nisch gleichbleibendem Gerät".
Der Einfluß des ökonomischen Kalküls, der Marktökonomie, auf die technische
Konstruktionsarbeit hat Folgen für die Arbeits- und Leistungsmotivation der Techni-
ker und Ingenieure. So wird der Effekt der "Demoralisierung auf die eigene Tätig-
keit" beklagt, daß "die Motivation nachläßt bei Gerätekonstruktionen, deren Vor-
teil nicht einsehbar ist" oder daß ein "Gefühl der Überflüssigkeit der eigenen Arbeit"
sich einstelle, wenn "andere Firmen die gleichen Geräte entwickeln".
In keinem Kommentar der befragten Ingenieure und Techniker klang so etwas
wie Gleichgültigkeit gegenüber den Arbeitsinhalten und Arbeitsgegenständen an,
ließ sich so etwas wie ein "Job bewußtsein" ausmachen, das seine Qualifikation und
Arbeitskraft für beliebige Aufgaben instrumentell begreift. Immer wieder und zum
Teil sehr prononciert, stellen die Techniker und Ingenieure den Sinn der von ihnen
entwickelten technischen Produkte infrage und bezweifeln deren Nutzen, deren
Gebrauchswert.
Auffällig in den Kommentaren der Ingenieure und Techniker zu diesen Fragen
ist immer wieder, daß das "technologische Bewußtsein" der technischen Angestell-
ten die Arbeitsinhalte und die Arbeitsbedingungen nach einheitlichen Kriterien beur-
teilt. Die Regeln technischer Problemlösungen (Arbeitsinhalte) und die Regeln der
Organisation der Arbeit (Arbeitsbedingungen) entspringen einem einheitlichen Be-
griff von Rationalität, aus dem in einem technologischen Verständnis Maßstäbe für
sinnvolles Arbeiten abgeleitet werden. Das auf Kompetenz und Fachwissen beruhen-
de Bewußtsein der Arbeitsautonomie, das die Einstellung der Techniker und Ingeni-
eure zur Arbeit traditionell bestimmt hat, hält, und das scheinen die Kommentare
anzudeuten, in seinem technologischen Verständnis von Rationalität an der Einheit
von Arbeitsinhalten und Arbeitsbedingungen fest. Verlust der Arbeitsautonomie
hieße dann, im traditionellen Sinn nicht mehr über die Organisation der Arbeit und
über die Inhalte der Arbeit entscheiden zu können. Daß traditionelle Ingenieurarbeit
sich durch diese spezifische Arbeitsautonomie einmal ausgezeichnet hat und im
Vorbild des Ingenieurunternehmers idealisiert wurde, hat wohl gerade jene "realen
Illusionen" hervorgebracht, die es dem technischen Angestellten erlaubten, sich je-
nen gegenüber, die als Arbeiter im Produktionsprozeß keine Spur von Eigenständig-
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 131

keit mehr vorweisen konnten, als etwas Besonderes zu verstehen, Die Vermutung, es
könnte gerade das technologische Bewußtsein der technischen Angestellten sein, das
zwischen Arbeitsbedingungen und Arbeitsinhalten so vermittelt, daß sie als Einheit
betrachtet werden, hat zugleich etwas Plausibles wie auch sehr Problematisches,
wenn nicht gar Widersprüchliches. Denn die Struktur der industriellen Arbeit im en-
geren Sinn, die Struktur des Fertigungsprozesses, ist ja gerade durch die Trennung
von Arbeitsinhalten und dem lebendigen Arbeitsvermögen, durch die Trennung von
geistiger und körperlicher Arbeit, gekennzeichnet. Diese Trennung ist eine Objekti-
vation des technologischen Bewußtseins, oder anders acsgedrückt: das, was das tech-
nologische Bewußtsein als Rationalität der Produktion versteht, kommt eben auch
in dieser Trennung zum Ausdruck. Daß heute auch das Privileg der geistigen Arbeit
nicht mehr vor den Konsequenzen dieser Rationalität schützt, ist eine neue soziale
Erfahrung von Technikern und Ingenieuren.
So gebrochen und widersprüchlich technische Angestellte diese Prozesse auch
wahrnehmen, eine Schlußfolgerung scheint wichtig zu sein: daß nämlich jene be-
rühmte, strukturell bedingte Gleichgültigkeit gegenüber den Inhalten der Arbeit, wie
sie die Industriesoziologie für die Produktionsarbeiter wohl zu Recht unterstellt, für
die technischen Angestellten so nicht gilt. Wenn man davon ausgehen kann, daß die
restriktiven Bedingungen auch in geistigen Arbeitsprozessen zunehmen werden, daß
sich auch in diesen Bereichen - wenn der Begriff zulässig ist - ein spezifisch kapi-
talistischer Arbeitsprozeß herauszubilden beginnt, dann erfahren die technischen
Angestellten diese Veränderungen vor allem durch eine ihnen bewußt werdende
"Störung" ihres inhaltlichen Interesses an der Arbeit. Dieses inhaltliche Interesse an
der Arbeit wird geradezu zum Nervenpunkt betrieblicher und sozialer Erfahrungen.
Daß subjektive Orientierungen und Interessen der Techniker und Ingenieure an den
Gegenständen der Arbeit und Verwertungsinteressen des Unternehmens nicht in
Einklang stehen, scheint ein Erfahrungsmoment zu sein, das spezifisch für techni-
sche Angestellte gilt und durch ihre besondere arbeitsinhaltliche Orientierung ver-
mittelt wird. Ob der von den Technikern und Ingenieuren erfahrene Gegensatz von
subjektiven Interessen und Interessen des Unternehmens auf ein widersprüchliches
Verhältnis von technischer Rationalität und Verwertungsrationalit ät zurückgeht, ist
ein theoretisch offenes Problem, das auf die Zwiespältigkeit des Begriffs technolo-
gischer Rationalität selbst verweist.
Es scheint einer inneren Logik zu entsprechen, daß die aus der Ökonomisierung
und Umstrukturierung der Arbeitsprozesse resultierenden Konflikte im beruflichen
Selbstverständnis sich im Zweifel am Sinn der eigenen Arbeit niederschlagen. In den
Kommentaren und Statements der Ingenieure und Techniker kommt zwar eine ge-
brochene Identifikation mit den Inhalten der Arbeit zum Ausdruck, sie aber als Mo-
mente einer sich herausbildenden Gleichgültigkeit zu interpretieren hieße, die Kri-
tik zu übersehen, die in den Kommentaren am Verwendungs- und Verwertungszu-
sammenhang der technischen Produkte mitformuliert wird. In der Einschätzung
dessen, was für die Techniker und Ingenieure als wirklicher technischer Fortschritt
zählt, schimmert so etwas wie ein an menschlichen Bedürfnissen nach Lebenserleich-
132 Eckart Tescbner/Klaus Hermann

terung orientiertes Technikverständnis durch. ,Menschliche Bedürfnisse' und der


,Nutzen' eines Produktes werden der ,Profitorientierung' und reiner ,Marktorientie-
rung' gegenübergestellt, oder, um es in anderen Begriffen zu formulieren: die Tech-
niker und Ingenieure drücken hier eine durch die Arbeitsinhalte vermittelte Erfah-
rung aus, daß die wertschaffende und die konkret nützliche Seite der Arbeit nicht
identisch sind, sondern eher in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander ste-
hen.
Das Ineinssetzen von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Fortschritt
ließe sich geradezu als "Weltdeutungsformel" interpretieren, die, auf einem techno-
logischen Mißverständnis beruhend, im Bewußtsein der Techniker und Ingenieure
immer ein Stück Versöhnung zwischen der Praxis der Subjekte und dem gesell-
schaftlichen Ganzen geleistet hat, gleichsam unabhängig vom Charakter sozialer und
politischer Institutionen. Wenn diese nicht-technologische Grundlage als Angelpunkt
des technischen Bewußtseins angesehen werden kann, daß es technischen Fort-
schritt und gesellschaftlichen Fortschritt gleichsetzt, daß Konzipieren, Entwickeln
und Herstellen von technischen Produkten unmittelbar Grundlagen gesellschaftlichen
Fortschritts sind, so legen die in den Kommentaren ausgedrückten Sinnzweifel die
Vermutung nahe, daß eine solche Identifikation heute nicht mehr umstandslos
vorgenommen werden kann.
In dem Maße, wie, neben der materiellen Privilegierung, die Identifikation mit
den Arbeitsinhalten zugleich ein wichtiger Mechanismus zur Integration der tech-
nischen Angestellten in das Unternehmen und zur Bindung an die Unternehmens-
ziele war, im gleichen Maße werden diese traditionellen Loyalitäten brüchig, wenn
die Erfahrung sich verstärkt, daß die individuellen Maßstäbe technisch-wissen-
schaftlicher Arbeit mit den Maßstäben des Unternehmens sich nicht mehr decken,
daß die Ökonomie der Gebrauchswerte, wie sie in den Kommentaren der Techni-
ker und Ingenieure ausgedrückt wird, und die Ökonomie des Marktes, wie sie das
Unternehmen vertritt, einer je verschiedenen Logik folgen.
Habermas hat in "Technik und Wissenschaft als Ideologie" die These vertreten,
daß mit der den Spätkapitalismus kennzeichnenden Verwissenschaftlichung der
Technik und der Industrieforschung großen Stils sich ein gesellschaftliches Be-
wußtsein herausbilden könnte, dem die Entwicklung des gesellschaftlichen Sy-
stems durch die Logik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bestimmt zu
sein scheint. Diese sich durchsetzende Hintergrundideologie des technokratischen
Bewußtseins löse die Ideologie des freien und gerechten Tauschs als Legitimations-
form von Herrschaft ab. "Im technokratischen Bewußtsein spiegelt sich nicht die
Diremption eines sittlichen Zusammenhangs, sondern die Verdrängung der ,Sitt-
lichkeit' als einer Kategorie für Lebenszusammenhang überhaupt" (Jürgen Haber-
mas 1968; 90). Es ist zumindest erstaunlich und bemerkenswert, daß eine große
Anzahl der von uns befragten Techniker und Ingenieure, bei denen gerade auf
Grund ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Tätigkeit Elemente des technokrati-
schen Bewußtseins zu vermuten wären, in der Beurteilung des technischen Fort-
schritts sich eher an einem Ökonomieverständnis orientieren, nach dem Produktion
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 133

und Technik zum Zwecke der Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen und der
Befreiung von überflüssiger Arbeit da zu sein haben. Ökonomie der Gebrauchswerte
und Ökonomie der Arbeit erinnern mehr an Reste der bürgerlichen Ideologie vom
richtigen Leben denn ans technokratische Bewußtsein.

IV. Veränderungen im Verhältnis von körperlicher und geistiger Arbeit

Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Interpretationsmuster liegt es nahe, die be-


schriebenen Veränderungen analog zur historischen Entwicklung der unmittelbaren
Produktionsarbeit als Tendenzen zur Industrialisierung, wenn nicht gar als Tenden-
zen zur Taylorisierung geistiger Arbeit zu deuten. Diese Prozesse sind keineswegs
entfaltet und treffen die technischen Angestellten je nach Qualifikationsstufe und
Funktionsbereich unterschiedlich.
In der Frühphase der kapitalistischen Produktion war die Trennung von körper-
licher und geistiger Arbeit nur in Ansätzen vollzogen. Umfangreiche arbeitsorgani-
satorische, arbeitsvorbereitende und konstruktive, entwicklungstechnische Funktio-
nen gehörten zum Aufgabenbereich der Arbeiter. Erst mit der Durchsetzung des
Taylorismus nach der Jahrhundertwende wurden die intellektuellen Funktionen
und Anforderungen aus dem unmittelbaren Produktionsprozeß herausgenommen
und eigenständig, aber in unmittelbarer Zuordnung zum leitenden Management or-
ganisiert. Produktionsarbeiter, kaufmännisches und technisches Personal sind also
Differenzierungen der Lohnarbeiterklasse, die sich mit der Enrfaltung des Produk-
tionsprozesses und der Kapitalakkumulation auf erweiterter Stufenleiter vollzogen
haben.
Während die Entwicklung des unmittelbaren Produktionsprozesses relativ früh ei-
ne Form angenommen hat, die sich von den handwerklichen Grundlagen und von
den besonderen Qualifikationen der Arbeiter weitgehend - wenn auch nicht völlig
- ablöste und schließlich mit dem Fordismus ihnen in objektivierter Form gegen-
übertrat, verblieben andere Arbeitsfunktionen (technisch-wissenschaftliche, kauf-
männische, bürokratisch-administrative), obgleich auch als Lohnarbeiten angekauft,
in Arbeitsprozessen, die bei weitem nicht jenen Grad an reeller Subsumtion und ka-
pitalistischer Vergesellschaftung erreicht hatten. Dadurch hatten sie auch subjektiv
nicht jenen Punkt erreicht, wo diese äußere Zwangsstruktur des Arbeitsprozesses ins
Bewußtsein gehoben und auf diese Weise praktisch durchbrachen werden konnte.
Die im Bewußtsein vorhandene und als Folge auch politisch-organisatorische Kluft
zwischen körperlicher und geistiger Arbeit in der Geschichte der Arbeiterbewegung
wäre demnach der Ungleichzeitigkeit zuzurechnen, in der diese Funktionen den Pro-
zessen kapitalistischer Vergesellschaftung ausgesetzt sind.
Braverman sieht darin, und nicht in der Unterscheidung von produktiven und un-
produktiven Funktionen, die für die Struktur der Lohnarbeiterklasse relevanten ob-
jektiven Veränderungen. Einerseits ist, schreibt er, "der produktive Arbeitsprozeß
mehr als je zuvor zu einem kollektiven Prozeß geworden", der es kaum noch zuläßt,
134 Eckart Tescbner!Klaus Hermann

den einzelnen Arbeiter, sondern nur die Gesamtheit der Arbeiter als produktiv zu
bestimmen. Andererseits, und das ist wohl der entscheidende Einwand, "folgt die
Arbeitsorganisation in den unproduktiven Bereichen der Unternehmenstätigkeit den
im produktiven Sektor festgelegten Maßstäben; die Arbeit beider Sektoren entwik-
kelt sich immer mehr zu einerundifferenzierten Masse" (Braverman 1977; 316). Die
Veränderungen der Arbeitsprozesse sogenannter unproduktiver Tätigkeiten verän-
dern die erfahrbare kapitalistisch-industrielle Welt der Menschen, die in ihr arbeiten.
Große Gruppen des unproduktiven Personals, der angestellten Lohnarbeiter, teilen
heute mit den Arbeitern Unterwerfung, Unterdriickung, "wie sie für das Leben der
produktiven Arbeiter charakteristisch sind" ( Braverman 1977; 317). Ob Lochpresse
oder Schreibmaschine, Lochkartenmaschine oder Fließband, Lager oder Registratur,
Werkzeugmaschine oder Buchungsmaschine: die Unterschie<fe zwischen den ver-
schiedenen konkreten Formen der Arbeit verlieren ihre trennende Kraft. "Im mo-
dernen Büro und in der modernen Fabrik schwindet heute die Kluft zwischen den
Formen und Bedingungen der Arbeit, die sich zwischen dem friihen Kontor und der
friihen Werkstatt so gewaltig auftat" ( Braverman 1977; 317). J
Nicht die Differenz zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit entscheidet
über Formen und Inhalt des Bewußtseins, sondern die Erfahrung der kapitalistischen
Arbeitsorganisation und die aus ihr hervorgehende Repression. Der Grad der Repres-
sion ist bei den einzelnen Gruppen der Lohnabhängigen historisch-empirisch unter-
schiedlich ausgeprägt. Er folgte lange Zeit den Bestimmungen von produktiver und
unproduktiver Arbeit, die ihrerseits eng mit dem Ausmaß des affirmativen Bewußt-
seins korrelierten. Aber es läßt sich kein systematischer oder prinzipieller Grund
angeben, demzufolge sich sogenannte unproduktive Tätigkeiten einer durchkapita-
lisierten Arbeitsorganisation entziehen sollten. In diejenigen Bereiche von sogenann-
ten unproduktiven Tät.igkeiten, die ehemals sehr privilegiert waren und in enger
Zusammenarbeit mit der Unternehmensleitung und mit Management ausgeführt
wurden, dringen heute zunehmend auch Prinzipien der kapitalistischen Arbeits-
organisation ein.
In neueren Theorieansätzen, etwa bei Sohn-Rethel (1972), fällt der Gegensatz
von Hand- und Kopfarbeit mit dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital zusam-
men. Die Affinität dieser beiden Formen des gesellschaftlichen Widerspruchs ist un-
bestritten. Empirisch läßt sie sich an der Entstehung des wissenschaftlichen Mana-
gements belegen. Theoretisch fallen beide Gegensätze im Begriff des konstanten Ka-
pitals (Maschinerie) als der Vergegenständlichung der geistigen Produktivkräfte zu-
sammen. Dies ist der eine Aspekt.
Der andere Aspekt ist der, daß der Prozeß der Verwissenschaftlichung der Kapi-
talakkumulation alle Stufen der Kapitalproduktion durchdringt: unmittelbare Pro-
duktion und deren Vorstufen wie technisch-wissenschaftliche Projektarbeit, Organi-
sation und Leitungsfunktionen, Realisierungsphäre mit all ihren Aspekten. Entspre-
chend subsumiert das Kapital technisch-wissenschaftliche Intelligenz nicht nur in
den Funktionen des wissenschaftlichen Managements, sondern auch, und das ist
wichtig, in Funktionen der unmittelbaren Produktion und der Produktion von tech-
Zur Taylorisierung technisch-geistiger Arbeit 135

nologischem Wissen in Form der Lohnarbeit. Dieser Subsumtionsprozeß ist nicht


nur ein formaler (als Lohnarbeit), sondern er entwickelt mehr und mehr Züge der
reellen Subsumtion (Reduktionsprozesse auf abstrakte Arbeit, das vergegenständ-
lichte Wissen wendet sich gegen die technische Intelligenz).
Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, vor allem die ihrer tech-
nischen Grundlage, hat das Verhältnis der technischen Intelligenz zum Kapital prin-
zipiell verändert. War sie einst als Voraussetzung der weiteren Entfaltung der Pro-
duktion des relativen Mehrwerts das Produkt der vollzogenen Trennung von körper-
licher und geistiger Arbeit, die wesentlich durch den Taylorismus und Fordismus
realisiert wurde, so erschöpft sie sich heute nicht mehr in der intellektuellen Assi-
stenz der herrschenden Klasse zum Zwecke der Ausbeutung der Lohnarbeit. Große
Gruppen der technischen Intelligenz scheinen nach allen Bestimmungen der politi-
schen Ökonomie selbst in den Status der ausgebeuteten Lohnarbeit zu geraten.
Damit ist der Widerspruch zwischen geistiger und körperlicher Arbeit nicht auf-
gehoben. Aber er verläuft nicht mehr nur "parallel" zum Gegensatz von Lohnar-
beit und Kapital, sondern ist unter spätkapitalistischen Verhältnissen ein wider-
sprüchliches Moment der Lohnarbeiterklasse an sich geworden. Im spätkapitali-
stischen Produktionsprozeß ist das Ausmaß der Spaltung von manueller und intel-
lektueller Arbeit durch die "Intellektualisierung des Arbeitsprozesses" selbst und
durch die wachsende Zahl der in ihm beschäftigten intellektuellen Arbeiter verrin-
gert.
Die Strukturveränderungen in der Lohnarbeiterklasse, die sich nicht auf die Fi-
gur des Produktionsarbeiters allein reduzieren läßt, spiegeln die Veränderungen in
der Struktur des Gesamtarbeiters wider. Im modernen Produktionsprozeß, der von
früheren Formen der Fließ- und Bandarbeit zu unterscheiden ist, wird intellek-
tuelle Arbeit in einem weitergehenden Sinne kapitalistisch vergesellschaftet, gegen-
über dem die bisherige strikte Trennung von Hand- und Kopfarbeit nur ein charak-
teristisches Phänomen in einer spezifischen Phase der Entwicklung der reellen Sub-
sumtion zu sein scheint. Um es pointiert zu formulieren: Denken wird Arbeit -
das gilt für viele Techniker und Ingenieure, und Arbeit wird Denken - das gilt für
viele Arbeiterfunktionen im modernen Produktionsprozeß.

Literatur

Bahro, Rudolf, 1977: Die Alternative - Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Frank·
furt am Main - New York.
Bechmann G./Vahrenkamp, R./Wingert, B., 1979: Mechanisierung geistiger Arbeit. Frankfurt
am Main - New Y ork.
Braverman, Harry, 1977: Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß. Frankfurt am Main -
NewYork.
Dreyfuss, Carl, 19 33: Beruf und Ideologie der Angestellten. München -Leipzig.
Habermas, Jürgen, 1968: Technik und Wissenschaft als ,Ideologie'. Frankfurt am Main.
Sohn-Rethel, Alfred, 1972: Geistige und körperliche Arbeit - Zur Theorie der gesellschaft-
lichen Synthesis. Frankfurt am Main.
Helgard Kramer

Hausarbeit und taylorisierte Arbeit

1. Fragestellung

Die hier formulierten Thesen greifen zwei auf den ersten Blick disparate Kontrover-
sen auf. Die eine hatte sich an Sohn-Rethels Theorie der Zeitökonomie entzündet,
die andere an der politisch-ökonomischen Charakterisierung der Hausarbeit.
Im folgenden beziehe ich mich, wenn von Zeitökonomie die Rede ist, auf die
Taylorisierung der Arbeit, die zwar einen wesentlichen, aber eben nur einen histori-
schen Spezialfall von Zeitökonomie darstellt. Wie in anderen Beiträgen dieses Heftes
näher ausgeführt, enthält die Zeitökonomie Sohn-Rethel zufolge ein primäres Ver-
gesellschaftungsprinzip von Arbeit, das von seinen kapitalistischen Ursprüngen ab-
gelöst werden kann. Die historische Möglichkeit für die Arbeiterklasse, die kapita-
listische Gesellschaft zu überwinden, läge demnach darin, den Produktionsprozeß
für sich selbst nach den Prinzipien der Zeitökonomie zu organisieren und so die ge-
sellschaftlich notwendige Arbeitszeit systematisch zu verringern. Gegenthese dieser
theoretischen und politischen Argumentation in der Kontroverse um die Bedeutung
der Zeitökonomie war die Behauptung, die Taylorbewegung sei keineswegs als weni-
ger relevant anzusehen, jedoch sei Zeitökonomie als ein grundlegend kapitalistisches
Prinzip zu betrachten. Dieses könne nicht von seinen Wurzeln im kapitalistischen
Produktionsprozeß abgelöst werden, könne daher auch von der Arbeiterklasse in ei-
ner sozialistischen Gesellschaft nicht gleichsam "benutzt" werden. Ein solches Ver-
fahren würde den Entfremdungscharakter der Arbeit ebensowenig aufheben wie
das Arbeitsleid, das den Menschen im Produktionsprozeß zugefügt wird und ihre Le-
benssituation auch im familialen und reproduktiven Bereich bestimmt.
Die andere Kontroverse, um die es im folgenden gehen soll, ist die Frage des Ver-
hältnisses von Lohn- und Hausarbeit, die zuerst im Kontext der feministischen Dis-
kussion um "Lohn für die Hausarbeit" aufgeworfen wurde (dalla Costa 1973). Aus-
gehend von der Tatsache, daß Hausarbeit von Frauen unbezahlt geleistet wird
und gleichzeitig eine Art unsichtbaren Fundaments des Systems der Lohnarbeit bil-
det, wurde die Frage gestellt, was der Ausschluß der Hausarbeit aus der kapitalisti-
schen Tauschwirtschaft für die Situation der Hausfrau und der Frauen allgemein be-
deutet. Die anschließenden Versuche, diese Problematik in Kategorien der politi-
schen Ökonomie zu fassen (Secombe 1974), führten zu einer Kontroverse darüber,
ob und wie die Hausfrau, indem sie Arbeitskraft herstellt und wiederherstellt, an
der Mehrwertproduktion beteiligt sei und damit auch zu der Frage, wem (Kapital,
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 137

Ehemann oder Staat) ihre Arbeit zugute komme und wer nach den Maßstäben des
Systems Lohnarbeit dafür bezahlen müßte. Ein weiterer Ansatz der Diskussion be-
zog sich auf das ökonomische Verhältnis zwischen kapitalistischen Ländern und Drit-
ter Welt (Senghaas-Knobloch 1976). Behauptet wird eine analoge Struktur im Ver-
hältnis zwischen entwickelten kapitalistischen Gesellschaften, die auf die immer wie-
derholte Einbeziehung von Arbeitskräften aus den noch verbleibenden Subsistenz-
wirtschaften der Dritten Welt angewiesen sind einerseits, und dem Verhältnis von
Lohn- und Hausarbeit innerhalb der kapitalistischen Ökonomie andererseits. "Typi-
sche Frauenarbeit ist diejenige im Bereich der fortgesetzten ursprünglichen Akkumu-
lation, ob in oder außerhalb der Familie. Dieses, dem Kapitalverhältnis angeblich
nicht entsprechende Produktionsverhältnis ist die Basis der Kapitalakkumulation
und logische Ergänzung des Lohnverhältnisses einerseits sowie Basis der Reproduk-
tion, nicht nur der Arbeitskraft, sondern auch des Lebens andererseits" (v. Werl-
hoff 1978; 29).
Damit wird die Dissoziation von Erwerbs- und Hausarbeitssphäre zwangsläufig:
die Ausdehnung der in der Produktion unmittelbar wirksamen kapitalistischen Lo-
gik auf den dieser Logik noch nicht unterworfenen Bereich der Hausarbeit würde
zur Selbstzerstörung des Systems beitragen. Dieses wäre nämlich auf den komple-
mentären, gerade nicht nach dem Tauschprinzip funktionierenden Bereich der Re-
produktionsarbeit angewiesen, um schließlich Arbeitskräfte für den kapitalistischen
Arbeitsmarkt bereitstellen zu können.
In die hier dargestellte Diskussion spielte immer die Frage hinein, ob Hausarbeit
als vorkapitalistisches Relikt oder als mit der kapitalistischen Produktionsweise ent-
standene und dieser entsprechende Form von Arbeit zu gelten habe. Die erste Posi-
tion vertritt Engels, dessen Theorie der Frauenemanzipation für die Marx-Orthodoxie
leitend wurde. Er hatte eine lineare Tendenz der Einbeziehung der Frauen in die
Lohnarbeit und der Auflösung der Hauswirtschaft in eine öffentliche Industrie als
Entwicklung des Kapitalismus prognostiziert. Die Fabrikarbeit von Frauen nahm
zwar im 19. Jahrhundert zu, stagniert jedoch seit der Jahrhundertwende; einige
der Ursachen werden in der folgenden Diskussion behandelt. Die zweite Position,
die die bestehende Form der Hausarbeit als genuin kapitalistische Entwicklung sieht,
hat Parsons - in interaktionistischen Kategorien und in anderem Zusammenhang -
vertreten. Er interpretiert die (Nur-)Hausfrauenrolle als eine dem Privatbereich zu-
geordnete, primär emotionale und diffuse - also auf Beziehungsarbeit konzentrier-
te - Arbeitsrolle in der Familie, die den notwendigen Gegenpol zur Berufsrolle des
Mannes bildet und insofern für das kapitalistische System funktional notwendig ist,
und er sieht in dieser Polarisierung gleichzeitig ein Spezifikum der sich entwickeln-
den kapitalistischen Gesellschaftsformation.
Der feministische Argumentationsansatz erfordert die Erweiterung der traditio-
nellen marxistischen Perspektive, die auch die oben dargestellte Theorie Sohn-Rethels
charakterisiert. Diese traditonelle marxistische Perspektive ist bisher beschränkt auf
die Wahrnehmung der im Kapitalismus dominanten Form von Arbeit, auf Lohnar-
beit, und hat andere Formen der Arbeit, nämlich "Arbeit aus Liebe"- Hausarbeit,
138 Helgard Kramer

die neben Zwangsarbeit dauernd die Randbedingung des Systems Lohnarbeit gebil-
det hat, ignoriert und auf Grund dieser Sichtweise problematische Schlußfolgerun-
gen über die politische Bedeutung der Vergesellschaftung von Arbeit gezogen.
In diesem Beitrag soll das Problem der Komplementarität von Lohn- und Haus-
arbeit an Hand der Frage unterschiedlicher Arbeitsformen, bezogen auf den Arbeits-
gegenstand und die Arbeitsorganisation aufgenommen werden. Eine genauere Dis-
kussion dieser Komplementarität soll die These begründen, daß Hausarbeit mit
Lohnarbeit, die den Prinzipien der Zeitökonomie unterliegt, inkompatibel ist. Aus
der Bindung an Hausarbeit speisen sich frauenspezifische Formen des Widerstandes
gegen Taylorisierung. Beides belegt die enge Verbindung von Zeitökonomie und
kapitalistischen Verwertungszwängen, gegen die die Gesellschaft gleichsam Residuale
zulassen muß und gegen die teilweise unbewußte Verhaltensweisen der Frauen, die
an beide Formen der Arbeit gebunden sind, sich richten. Denn obschon gewisse
Tendenzen der reellen (nicht jedoch der formellen) Subsumtion auch die Hausarbeit
überformen, hat sich die Hausarbeit als Frauenarbeit, zu der sie durch die geschlecht-
liche Arbeitsteilung geworden ist, in einer besonderen Weise entwickelt und frauen-
spezifische Arbeitserfahrungen und Verhaltensweisen hervorgebracht. An sie
knüpfen "konservative" Strategien des Alltagshandeins von Frauen an, d. h. Verhal-
tensweisen, die gegen Normen und Anforderungen der Lohnarbeit und nur-techni-
sche Effizienzkriterien gerichtet sind.
Daß andererseits geschlechtliche Arbeitsteilung eine der wesentlichen, die Frauen
unterdrückenden Strukturen der Gesellschaft ist, soll damit nicht geleugnet werden.
Mit Recht ist die Frauenbewegung - und zwar die alte wie die neue -eine "Bewe-
gung der Verweigerung von Hausarbeit" genannt worden (Bock/Duden 1977); sie
war und ist eine Bewegung von bürgerlichen, später von aus der Mittelschicht kom-
menden Frauen, die als Recht aller Frauen forderten, sich zu qualifizieren und in
die Lohnarbeit integriert zu werden, die dieses Recht für sich selbst in Anspruch
nahmen und daher die aus der geschlechtlichen Arbeitsteilung erwachsenden
Anforderungen und vor allem die quasi natürliche gesellschaftliche Zuweisung der
Hausarbeit an Frauen kritisierten und teilweise verweigerten (z. B. durch Ehe- und
Kinderlosigkeit). Das hat jedoch den Blick verstellt für eine gleichzeitig stattfinden-
de, nicht öffentliche und nicht artikulierte "Bewegung" von Frauen der Arbeiter-
klasse, die eine "Bewegung der Verweigerung von Lohnarbeit" genannt werden
könnte, und die an Beispielen einer empirischen Untersuchung über Arbeiterinnen
der Elektro- und Textilindustire (Eckart et al. 1979) belegt werden soll. Außerdem
werden Unterschiede zwischen Haus- und lohnarbeitsbezogener Arbeitsorganisation
an Beispielen der Vergesellschaftung von Hausarbeiten wie der Rationalisierung
hausarbeitsnaher, feminisierter Lohnarbeitsbereiche diskutiert.
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 139

2. Unterschiede zwischen privater Reproduktionsarbeit und taylorisierter Arbeit

Mit der räumlichen Trennung von Produktions- und Reproduktionssphäre im Ver-


lauf der kapitalistischen Entwicklung haben sich auch die Arbeitsformen verschie-
den entwickelt. Hausarbeit als privat und unbezahlt von Frauen geleistete Arbeit ist
nicht, unter das Kapitalverhältnis subsumiert worden. Die aus dem Vergesellschaf-
tungsprozeß bisher ausgesparten und in der Familie, d. h. bei den hier arbeitenden
Hausfrauen und Müttern verbleibenden Funktionen der Sozialisation und Reproduk-
tion der Arbeitskraft, werden erst im Kapitalismus zur einzigen ökonomischen
Funktion in der Familie. Sie produziert nur noch, indem sie konsumiert. Gleichzei-
tig wird diese ökonomische Funktion auf Grund der mit ihr verknüpften Lebens-
und Beziehungsinteressen von den Betroffenen nicht in erster Linie unter ökonomi-
schen Gesichtspunkten wahrgenommen (vgl. Kontos/Walser 1979).
Während sich die Lebensbedingungen im Reproduktionsbereich immer mehr der
Verstädterung anpassen, und während die Arbeit im allgemeinen zunehmend mecha-
nisiert beziehungsweise automatisiert und arbeitsteiliger verrichtet wird, ist die Haus-
arbeit aus dieser Entwicklung ausgespart geblieben: sie verbleibt im Privatbereich
und wird isoliert verrichtet; ihr "Gebrauchswert" wird zunehmend durch die emo-
tionalen Komponenten bestimmt. In Reaktion auf die komplementären Entwicklun-
gen im Produktionsbereich werden immer neue, von kommunikativen Bedürfnissen
bestimmte, Hausarbeiten "nachgeschoben". Auch die parallele Entstehung einer
großen Anzahl bezahlter psychologischer Dienstleistungen (Erziehungs-; Schul- und
Eheberatungsstellen, alle Arten von Therapien) scheint die Frauen in der Familie ge-
rade nicht von Beziehungsarbeit entlastet zu haben; die Spezialisierung der Bezie-
hungsarbeit und ihre Professionalisierung als Lohnarbeit trägt vielleicht im Gegenteil
eher dazu bei, daß auch die Ansprüche an Beziehungsarbeit innerhalb der Familie
differenzierter und die Erwartungen erweitert, also die Standards eher hochge-
schraubt werden.
Gegenüber der Produktionsarbeit zeichnet sich Hausarbeit aus durch Momente ei-
ner naturgebundenen Arbeitsweise, durch von menschlichen Bedürfnissen bestimm-
te Zeitrhythmen, durch zeitliche Unbegrenztheit und durch ihren ganzheitlichen
Charakter; materielle und emotionale Aspekte der Arbeit sind so miteinander ver-
schränkt, daß technische Effizienzkriterien nicht in derselben Weise für Arbeiten im
vergesellschafteten Bereich gelten können (vgl. Ostner 1978, Beck-Gernsheim 1976).
So behilft sich aus Mangel an objektivierbaren Kriterien die Haushaltswissenschaft
bei dem Versuch, der Produktionsarbeit analoge arbeitswissenschaftliche Kriterien
aufzustellen, mit der Benennung sogenannter prädikativer Standards für die Verrich-
tung von Hausarbeit.
Für die Resistenz der Hausarbeit gegen Vergesellschaftungstendenzen wird auch
ein Grund in den anscheinend unverzichtbaren Funktionen der Kleinfamilie für die
primäre Sozialisation vermutet. Letztlich wäre der Bestand der Gesellschaft gefähr-
det, wenn in massivem Ausmaß abweichendes Verhalten die Funktionsfähigkeit der
Arbeitskräfte im vergesellschafteten Produktionsprozeß beeinträchtigte und das auf
140 Helgard Kramer

eine unzureichende primäre Sozialisation dieser Arbeitskräfte in der Familie zurück-


geführt werden müßte. Für die Möglichkeit eines solchen Bestandsproblems spricht
allerdings, daß frühkindliche Heimerziehung nie ebenso funktionstüchtige Arbeits-
kräfte hervorgebracht hat wie Familiensozialisation. Würde also die gesamte Soziali-
sationsarbeit unter Lohnarbeit subsumiert, so ließen sich schwerwiegende Sozialisa-
tionsdefizite vorhersehen.
Wenn die privat und isoliert verrichtete Arbeit der Hausfrau also nicht zu tren-
nende materielle und emotionale Komponenten umfaßt, und wenn der Charakter die
ser Arbeit als konkret nützlicher Arbeit eine Vorbedingung der Bereitstellung mensch-
licher Arbeitskräfte für den kapitalistischen Markt ist, so ist konkret nützliche Arbeit
hier nicht nur eine Restgröße. Hausarbeit erscheint vielmehr als in letzter Instanz
unter kapitalistischen Bedingungen nicht vergesellschaftungsfähige Arbeit, insofern
sie notwendig Prozessen kapitalistischer Rationalisierung und mithin einer Anwen-
dung der Prinzipien der Zeitökonomie entzogen bleiben müßte.
Die bisherige Charakterisierung der Hausarbeit (vgl. vor allem Ostner 1978) ver-
fährt idealtypisch und ist zudem eine Beschreibung, die Hausarbeit den zentralen
Merkmalen der Berufsarbeit im Kapitalismus kontrastieren soll. Deshalb rückt sie
den Gebrauchwertcharakter der Hausarbeit in den Vordergrund. Sie trägt nicht genü-
gend dem Umstand Rechnung, daß Hausarbeit generell gesellschaftlich vorstruktu-
riert ist, daß sie mit Lohnarbeit verschränkt ist, und sie berücksichtigt nicht genü-
gend, daß auch zeit- und marktökonomische Anforderungen der Produktion sich in
der Hausarbeit niederschlagen. Denn einmal werden durch Absatz- und Bedarfspla-
nung der Konsumgüterindustrie scheinbar individuelle Bedürfnisse in der Familie ex-
tern beeinflußt, manipuliert und auch ihre Befriedigungsmöglichkeiten präformiert.
Der gesamte Nicht-Lohnarbeitshereich wird in diesem Sinn kapitalistisch durchdrun-
gen (man denke etwa an die (lohn-)arbeitsähnlichen männlichen Freizeitbeschäfti-
gungen und Hobbies). Markt- oder tauschbezogene Strukturen verändern die Familie
gleichermaßen: die Bedürfnisse, die durch neu erzeugte Waren und Dienstleistungen
entstehen, können nur befriedigt werden, indem die Lohnarbeiterfamilie neue Lohn-
arbeiter, die verheirateten Frauen und Mütter, aus sich entläßt. Umgekehrt erzeugt
deren Integration in den Produktionsprozeß neue Bedürfnisse weiblicher Lohnarbei-
ter, zum Beispiel Erziehung, Ausbildung, Bekleidung, Fertiggerichte, Transport usw.
Dieser kreisförmige Prozeß "changes the structure of the household and moves its
functions increasingly out of the private and into the public sphere" (Bridenthal
1979; 19 3). Soweit dieser Trend sich durchsetzt, gerät er in Widerspruch zu der an-
deren behaupteten Tendenz, daß Frauen immer mehr auch die im Produktionspro-
zeß erfahrenen Deprivationen durch psychische Hausarbeit kompensieren müssen,
also entsprechend mehr Beziehungsarbeit leisten, - auch in ihren professionalisier-
ten, vergesellschafteten Formen der Therapie und Beratung.
Außerdem ist an die Form gedacht, in der Zwänge des kapitalistischen Produk-
tionsprozesses in die Arbeit auch der nicht berufstätigen Hausfrau eindringen, über-
haupt die zeitlichen Rahmenbedingungen dieser Arbeit bilden und gleichzeitig als
Verwaltung der Zeitzwänge, denen die übrigen Familienmitglieder ausgesetzt sind,
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 141

als Koordination von Arbeits- und Öffnungszeiten, die im vergesellschafteten Bereich


Ehemann und Kinder betreffen, einen wichtigen Arbeitsinhalt der Hausfrau bilden.
Was die behaupteten unentbehrlichen Sozialisationsaufgaben der Familie betrifft,
wird neuerdings jedoch auch die Qualität der primären Sozialisation in der Familie
in Zweifel gezogen. Für den angeblich in westlichen Industriegesellschaften vorherr-
schend gewordenen narzißtischen Persönlichkeitstypus, der unselbständig und im
Grunde handlungsunfähig ist, wird eine vaterlose Familie verantwortlich gemacht
(Lasch 1979). Sei es nun, daß die Kompensation väterlicher Schwächen von den
Hausfrauen nicht mehr geleistet werden kann, oder daß auch intensive und qualifi-
zierte weibliche Erziehungsarbeit diesgar nicht vermöchte, ein Beweis für verminder-
te Hausarbeit von Frauen oder eine Veränderung in der Orientierung auf Hausarbeit
findet sich darin nicht. Auch ein den Bestand der Gesellschaft gefährdendes Pro-
blem der Funktionsfähigkeit von Arbeitskräften, ist, wie heruntergekommen der
durchschnittliche Sozialcharakter auch immer sein mag, bisher nicht erkennbar. Be-
fürchtungen in dieser Richtung sind von Staat und Interessengruppen, die eine er-
neute oder intensivierte Bindung der Frau ans Haus anstrebten, historisch öfters vor-
gebracht worden. Die Frage, wie weit abnehmende Sozialisationsarbeit der Familie
eine reale Gefahr bezeichnet, muß auch schon deswegen offenbleiben, weil ein sol-
ches Problem in unserer Gesellschaft bislang immer über den Arbeitsmarkt lösbar
war, nämlich durch die Absorption von Schichten oder Arbeitskräften aus der kapi-
talistischen Peripherie, die bis dahin dem kapitalistischen Arbeitsprozeß noch nicht
unterworfen waren. Diese Überlegungen werden daher hier nicht weiter verfolgt.

3. Entwicklung der Hausarbeit: Hausfrauen halten an traditioneller Arbeitsweise


und Arbeitsform fest

Trotz Mechanisierung keine Taylorisierung

Daß die privat verbleibende Reproduktionsarbeit in der Familie den Prinzipien kapi-
talistischer Arbeitsorganisation entzogen bleibt, läßt sich unter anderem dadurch
belegen, daß auch die Mechanisierung des Haushalts durch den massiven Einsatz zeit-
und arbeitssparender Geräte, forciert etwa seit dem Zweiten Weltkriegtrotz durch-
schnittlich abnehmender Familiengröße, nicht zu einer Reduzierung der von Haus-
frauen benötigten Arbeitszeit geführt hat. Die Mechanisierung des Haushalts, die
bisher stattgefunden hat, ist nur additiv, ohne das innovatorische Potential koope-
rativ organisierter Arbeit, das an das arbeitsteilige Zusammenwirken vieler speziali-
sierter Arbeitskräfte zur Erreichung festgelegter Ergebnisse gebunden ist. Nur auf
dieser Basis sind in der Industrie jeweils neue Stufen von Mechanisierung und Ratio-
nalisierung durchgesetzt worden, d. h. neue Formen der Zusammenfassung von Ar-
beitsfunktionen und ihre Übertragung oder teilweise Übertragung auf Maschinen.
"Es ist keinesfalls gesagt, daß der hochtechnisierte Haushalt mit geringeren Ar-
beitskraftstunden für seine Versorgungsleistung auskommt als der weniger techni-
142 llelgard J(rar.ner

sierte, auch ist nicht nachweisbar, daß technische Anschaffungen Arbeitszeitverkür-


zungen im Haushalt erbringen. Die Gründe für diese Feststellung liegen darin, daß
sich mit der Haushaltstechnisierung fast immer Zielfunktionsveränderungen in den
Haushaltungen ergeben ... so führt ein Waschvollautomat zu einer Arbeitserleichte-
rung und Arbeitsverkürzung, gleichzeitig kann er eine erhebliche Steigerung des
Wäscheverbrauchs bewirken, wodurch die Arbeiten des Schrankfertigmachens die
Zeitersparnis wieder ganz oder teilweise aufheben" (v. Schweitzer; 258). Das Motiv
der Zeitersparnis selber ist lohnarbeitsbezogen, nicht nur, insofern die Ideen der Ef-
fektivierung der Hausarbeit, die schon vor dem Ersten Weltkreig vertreten wurden,
zu dem Versuch führten, Taylors Prinzipien der Ökonomisierung auf die Arbeit im
Haushalt zu übertragen, sondern auch, insofern es vor allem von Frauen vertreten
wurde, die selbst berufstätig waren (einschließlich professioneller Hausfrauen), oder
die Berufstätigkeit für die richtige Emanzipationsstrategie hielten. Ein solcher Ver-
gleich zwischen dem materiellen Hausarbeitsprozeß der Hausfrau und mechanisierten
bzw. automatisierten Arbeitsprozessen in der Produktion hat nur begrenzte Reich-
weite; die ökonomische Situation der Hausfrau könnte genauso mit der des kleinen
Warenproduzenten verglichen werden. Betont werden soll hier nur, daß in der Ver-
gleichsperspektive von Hausarbeit und taylorisierter Lohnarbeit die Verfügungschan-
cen der Hausfrau, ihre Möglichkeiten, im Haushalt selbständig zu disponieren, durch
die Mechanisierung nicht eingeschränkt werden. Eine Einschränkung der Disposi-
tionsmöglichkeiten hat - im längerfristigen Vergleich - eher die Vergesellschaf-
tung produktiver Tätigkeiten (wie z. B. die Herstellung von Kleidern) gebracht. Die
Vielfalt im Haushalt anfallender handwerklicher Tätigkeiten überhaupt ist mit deren
Auslagerung in die Produktion quantitativ reduziert worden, während die verblei-
benden Arbeitsprozesse durch die inzwischen erfolgte Mechanisierung nicht ent-
scheidend verändert worden sind.
Solche Technisierungsprozesse sind nicht unabhängig von Veränderungen der Fa-
milie. Die wichtigste ist zweifellos die Reduzierung der durchschnittlichen Kinder-
zahl, denn sie bedeutet eine Veränderung der Beziehungsqualität. Der emotionale
Aspekt der Hausarbeit, die gefühlsmäßige Aufladung auch der materiellen Arbeiten
ist zwangsläufig, insofern Hausarbeit immer Beziehungsträger ist, da sie im Rahmen
eines persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses - der Ehebeziehung - verrichtet
wird, und da zweitens primär-prozeßhafte Elemente (Versorgtwerden, Essen etc.)
in der Hausarbeit eine wichtige Rolle spielen. Die Redewegung: "Eine Hausfrau hat
sechzehn Berufe ... " macht deutlich, daß jede einzelne Tätigkeit der Hausfrau sich
sehr wohl vergesellschaften ließe, darunter auch die Beziehungsarbeit als isolierte
Arbeit (Therapie), aber der Beziehungsaspekt läßt sich nur in der Arbeitsrolle Haus-
frau ausdrücken. In Haushalten, in denen eine Hausfrau und Mutter viele Kinder zu
versorgen hat, steht zwangsläufig die materielle Seite der Hausarbeit in den Bezie-
hungen zwischen Mutter und Kindern im Vordergrund, die Beziehung als solche
kann kaum gepflegt werden. Öffentliche Problematisierung, partielle Auslage-
rung und Professionalisierung von Kinderversorgung und -erziehung begleiten den
Schrumpfungsprozeß der Familie.
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 143

Eine weitere wesentliche Veränderung von Arbeitserfahrungen in der Familie er-


gibt sich daraus, daß Arbeiten, mochten sie nun handwerklich qualifiziert oder ein-
fach sein, nicht mehr mit Kommunikation verbunden sind. Wurden sie früher von
der Hausfrau mit anderen weiblichen Verwandten und Kindern oder Dienstboten
zusammen erledigt, so hat heute eine isolierte Hausfrau die entsprechenden Arbei-
ten allein zu bewältigen.
Vergesellschaftung einzelner Arbeiten und Verstädterung haben weiter dazu ge-
führt, daß Hausarbeit nun nicht mehr von jahreszeitlichen Rhythmisierungen (Ein-
machzeit, Waschtage) geprägt ist, wodurch wahrscheinlich die Hausarbeit monoto-
ner wird. Die Monotonieerlebnisse von Nur-Hausfrauen scheinen jedenfalls weniger
in der Eintönigkeit eines einzelnen Arbeitsganges zu gründen, als in der Wiederho-
lung des täglich identischen Hausarbeitsprozesses insgesamt, im Sysiphuscharakter
der Hausarbeit (Kontos/Walser; 1979). Die Mechanisierung des Haushalts läßt also
den zwar geschmälerten Hausarbeitsprozeß als Prozeß unberührt, denn die Integra-
tion und Abfolge der Teilarbeiten bleibt weiter Sache der Hausfrau und führt erst in
zweiter Linie eventuell zu Arbeitserleichterungen. Jedenfalls hat sie nicht zur Ar-
beitszeitverkürzung im Haushalt geführt, weil die Hausfrauen daran nicht interessiert
sind. Ihr Motiv ist eher, sich die Arbeit zu erleichtern, als die Arbeitszeit zu verkür-
zen, das entspricht auch mehr der immanenten Logik der Hausarbeit. Die Diskus-
sion um Arbeitszeitverkürzung im Haushalt dagegen war immer ein wissenschaftli-
cher Diskurs von Frauen, die gerade nicht festhielten an Hausarbeit als Alternative
zur Lohnarbeit.
Generell ist zu vermuten, daß die Resistenz der Hausarbeit gegen Vergesellschaf-
tung im Beziehungsaspekt begründet ist, in der Tatsache, daß auch die materiellen
Hausarbeiten mit Beziehungsaspekten überfrachtet sind.

Hausarbeit bildet eine Subsistenztalternative

Auch in unserer Studie "Frauenarbeit in Familie und Fabrik" läßt sich die Unverein-
barkeit der Hausarbeit mit Prinzipien der Zeitökonomie belegen, infolge der subjek-
tiven Bedeutung, die die Hausarbeit als Gegenerfahrung zur taylorisierten Fabrikar-
beit hat: die befragten Industriearbeiterinnen halten an der Hausarbeit als an ihrer
alltäglichen Arbeit fest; aufgrund ihrer Doppelbelastung sind sie zwar gezwungen,
ihre Ansprüche an die Qualität von Hausarbeit zu senken, sie versuchen aber kaum
je, eine Teilung dieser Hausarbeit mit anderen -Mann und Kindern- durchzuset-
zen, und sie halten trotz ihrer Belastung an sehr hohen Qualitätsmaßstäben fest. Sie
verwenden ihre lohnarbeitsfreie Zeit überwiegend für Hausarbeit und hausarbeitsnahe
Freizeitbeschäftigung wie etwa Handarbeiten. Hausarbeit bekommt für sie diese star-
ke subjektive Bedeutung, weil sie gegenüber der extrem zerlegten Arbeit, die sie in
der Fabrik verrichten müssen, eben auch Momente von Selbstbestimmung, Ge-
brauchswert und persönlichen Beziehungen enthält. Gerade in der Selbstdeutung
der älteren Arbeiterinnen, die über langjährige Erfahrungen mit Fabrikarbeit verfü-
144 Helgard Kramer

gen, ist der Bezug auf die Hausfrauenrolle als identitätsstiftendes Element zentral.
Ähnlich läßt sich die Tatsache interpretieren, daß ein Teil der jungen Fabrikarbeite-
rinnen einen Ausgleich zur Industriearbeit in einer sehr strikten Trennung beider
Bereiche, das heißt in einer emotionalen Abclichtung gegen die Fabrikarbeit und ei-
nem Rückzug auf den Privatbereich und die Hausarbeit sucht. In der lebensgeschicht-
lichen Perspektive zeigt sich, daß die Frauen ökonomisierter Arbeit ausweichen, daß
die meisten die Bedingungen ihrer Lohnarbeit sehr kritisch sehen und davon ausge-
hen, daß sie diese Arbeit nicht ein Leben lang aushalten können und wollen. Sie hal-
ten an der Ehe als Subsistenzalternative fest und gleichzeitig auch an sogenannten
traditionellen Normen der familialen Arbeitsteilung, die die ausschließliche Hausar-
beit legitimieren. Sie repräsentieren die Möglichkeit, sich auf die "erste Arbeit" der
Frauen zurückzuziehen. Ehe und Familie bleiben so für Industriearbeiterinnen aller
Lebensphasen Fluchtpunkt des Lohnarbeiterschicksals.
Umgekehrt erscheint die extreme Form von Taylorisierung, der ein Teil typischer
Frauenfabrikarbeit unterliegt, nur möglich, weil im Normalfall die dort beschäftig-
ten Frauen diese Perspektive von Ehe und Familie haben. Hier sind also Lohn- und
Hausarbeit komplementär, insofern die taylorisierte Arbeit nurangesichtsder Alter-
native der ausschließlichen Hausarbeit erträglich wird. Das gilt im allgemeinen für
Frauenfabrikarbeit, wenngleich im Einzelfall auch einmal vorkommen mag, daß ei-
ne Frau zwanzig oder mehr Jahre im Akkord arbeiten muß. In der Kurzfristigkeit
der Lohnarbeitsperspektive besteht eine Parallele zur Lage der Arbeiterbauern (vgl.
Müller et. al.; 193 ff), die taylorisierte Lohnarbeit mit einer ähnlich kurzfristigen
Orientierung aufnehmen in der Hoffnung, nach einigen Jahren Zuverdienst ihre Exi-
stenz wieder auf Landarbeit gründen zu können. Auch die alternative Form von Ar-
beit und Subsistenz, in die die Arbeiterbauern zurückstreben, hat einige Charakte-
ristika mit der Hausarbeit gemeinsam.
Durch die Behauptung der Hausarbeit als ihre Arbeit versuchen Frauen, einer le-
benslangen Bindung an Lohnarbeit und einer Unterwerfung unter die Zwänge der
Subsumtion unters Kapital auszuweichen. Zwar bleibt die Zuweisung der Hausarbeit
als der "ersten" Arbeit für die Frauen gesellschaftlicher Zwang, aber ein Teil der
Frauen nutzt diese für sie auch repressive geschlechtliche Arbeitsteilung, um sich
den komplementären Zwängen der Lohnarbeit jedenfalls zeitweise zu entziehen. In
der Konfrontation mit Zumutungen und Verhaltensforderungen aus der Lohnarbeit
bekommen traditionelle Orientierungen und konservative Normen einen spezifi-
schen Sinn. Ist etwa die Aussage "die Frau gehört ins Haus" - beliebtes Glaubens-
bekenntnis rechter Politiker - ein Ausdruck des Patriarchatismus von Männern, so
ist dieselbe Aussage doch anders zu bewerten, wenn Frauen selbst, wie es in der dar-
gestellten Untersuchung der Fall ist, und zwar langjährige Industriearbeiterinnen auf
diese Norm pochen. Im Zusammenhang der doppelten Frauenarbeit hat sie nämlich
eine Funktion für die Bewältigung des Alltags, konkret für die Verminderung von
Arbeit, indem sie der Abwehr der modernen Norm, "die Frau soll auch berufstätig
sein", dient.
Hausarbeit und ta:ylorisierte Arbeit 145

4. Die Entwicklung der feminisierten Lohnarbeit: verzögerte oder verhinderte Sub-


sumtion unters Kapital

Wie unvollständig Gefühlsarbeit sich einfügt in taylorisierte Arbeit, zeigt sich sowohl
im Dienstleistungsbereich, in solchen Berufen, in denen Gefühlsarbeit eine wichtige
Aufgabe bildet, wie in jenen, wo sie zum extrafunktionalen Bestandteil geworden
ist.

Grenzen der Vergesellschaftung familialer Funktionen

Die Vergesellschaftung familialer Funktionen bringt immer eine "Bereinigung" der


Arbeitsaufgaben von sozialen und kommunikativen Aspekten mit sich. Werden Tei-
le der Hausarbeit nach außerhalb verlagert, also Arbeitsfunktionen der Hausfrau
vergesellschaftet und Privatarbeit in Lohnarbeit umgewandelt, so geht das mit mehr
oder minder ausgeprägten Versuchen einher, die Prinzipien zeitökonomisch regle-
mentierter und kontrollierter Arbeitsorganisation auf diese Arbeitsaufgaben zu über-
tragen -man stelle sich dazu die Säuglingsstation in einem großen, modernen Kran-
kenhaus vor. Unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisbefriedigung der zu pflegen-
den oder zu sozialisierenden Personen - der Differenziertheit, mit der ihre Bedürf-
nisse wahrgenommen und befriedigt werden, bedeutet die Reglementierung und
Kontrolle auch immer eine Rotqualifizierung der Arbeitsanforderungen im Hinblick
auf den Beziehungsaspekt der Arbeit, obwohl die Mutter, die als Krankenschwester
Säuglinge versorgen will, sich formell qualifizieren muß, um im vergesellschafteten
Bereich ihre Arbeitsaufgabe erneut ausführen zu können. Mit der Ökonomisierung
der Arbeit vermindern sich die Interaktionsmöglichkeiten (beispielsweise diejenigen
bei der Versorgung eines Säuglings durch die Mutter, die für seine Sozialisation ent-
scheidend sind) zwischen der berufstätigen Frau und den Personen, die Objekt ihrer
Arbeit sind. Der Interaktionsteil der Arbeit wird von vornherein ignoriert, weil er
sich nicht in einzelne Arbeitsschritte zerlegen und quantifizieren läßt.
Der Beziehungsaspekt läßt sich zwar ignorieren, aber schließlich nicht endgültig
unterdrücken. So bleibt im Dienstleistungsbereich eine Reihe von Berufen erhalten,
die mit der "Bearbeitung" von Menschen zu tun haben und nach den Prinzipien tay-
lorisierter Arbeit als hoffnungslos ineffektiv gelten müssen (IfS, 1979). Daß sie
es unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisbefriedigung der Betreuten auch sind, steht
auf einem anderen Blatt; wären sie deren Bedürfnissen angemessener, so wären sie
wahrscheinlich vom tayloristischen Standpunkt noch unannehmbarer.
Daß der emotionale Aspekt eine umstandslose Subsumtion personenbezogener
Hausarbeiten erschwert, erklärt, warum sich historisch die Vergesellschaftung sol-
cher Dienstleistungsarbeiten systematisch verzögert hat. Während es bei den mate-
riellen Hausarbeiten (Instandhaltungs- und Wiederherstellungsarbeiten wie Putzen,
Waschen, Kochen, Nähen) schon frühe und relativ problemlose Ansätze zur Verge-
sellschaftung gegeben hat, sind die psychischen Hausarbeiten (Versorgung kranker
146 Helgard Kramer

und alter Menschen, Kinderbetreuung) zum großen Teil in einem ersten Schritt zur
ehrenamtlichen, - wie die Hausarbeit - nichtbezahlten Arbeit überwiegend von
Frauen in Einrichtungen der privaten Wohlfahrt und Kirchen geworden. Bei solcher
ehrenamtlichen Arbeit ist die traditionelle Moral von "Dienen und Helfen" hand-
lungsleitend geblieben. Erst allmählich wurden personenbezogene Hausarbeiten zu
Aufgaben des Staates und damit als Lohnarbeit verrichtet. Denn auch staatliche
Einrichtungen zeichnen sich durch nicht unmittelbar profitbezogene Organisa-
tionszwecke aus, wenngleich die Arbeitsorganisation derjenigen kapitalistischer Be-
triebe immer mehr angeglichen wird.
Ein anderes praktisches Beispiel wäre das Verhalten der Erzieher/innen und Be-
zugspersonen in einem mittlerweile gescheiterten Reformprojekt der Vorschuler-
ziehung, das sich beschreiben ließe als Versuch der Reintegration von Gefühlsarbeit
in Lohnarbeit (vgl. Flaake et. al.; 1978). Ihre Forderungen in Bezug auf die Erzie-
her-Kind-Relationen und die Begründung dieser Forderung mit Qualität und Intensi-
tät der Beziehungen in Kindergruppen, versuchten gleichsam eine schon stattgefun-
dene Quantifizierung und Effektivierung (im Sinne des Einsatzes knapper Mittel -
d. h. möglichst weniger bezahlter Arbeitskräfte) wieder rückgängig zu machen. Hin-
ter diesen Forderungen stand auch die Erfahrung, daß der Zwang, sich wie ein Lohn-
arbeiter zu verhalten, inkompatibel ist mit den Beziehungen zu den Kindern, die ja
die Arbeitsaufgabe sind, und die Erfahrung, daß die Charakteristika von Lohnarbeit
desto schärfer in diese Beziehungen eingreifen, je knapper die zeitlichen und finan-
ziellen Mittel sind.

Rationalisierung personenbezogener Arbeitsvorgänge

Aber auch in anderen, scheinbar sachlicheren Arbeitsbezügen stößt die Taylorisie-


rung auf ähnliche Grenzen. Die Unvereinbarkeit hausarbeitsnaher Arbeitsanforde-
rungen mit den Prinzipien taylorisierter Arbeit zeigt sich dort, wo in den feminisier-
ten Bereichen der Dienstleistungsarbeit Rationalisierungsprozesse einsetzen. In die
meisten dieser Berufsrollen sind sogenannte spezifisch weibliche, also hausarbeitsbe-
zogene Fähigkeiten, die entweder den hierarchisch übergeordneten Männern oder all-
gemein personenbezogenen Geschäften zugute kommen, traditionellerweise in die
Arbeitsanforderungen integriert, die unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsprozesses
als extrafunktionale Qualifikationen gelten müssen. Je größer nun die Bedeutung
dieser extrafunktionalen Qualifikationen ist, das heißt, je personenbezogener die
Arbeitsvorgänge sind, desto schwieriger dürfte es sein, sie der Taylorisierung zu un-
terwerfen. Das zeigt sich gegenwärtig in den Büroberufen, wo, indem die Zeitöko-
nomie oktroyiert wird, auch die bisher in die Sekretärinnenarbeit integrierten ex-
trafunktionalen Qualifikationen beseitigt werden. Die dequalifizierten Sekretärin-
nen werden in fabrikähnlichen Schreibsälen zusammengeiaßt und als Stenotypistin-
nen zum Anhängsel elektronisch gesteuerter Anlagen gemacht; die persönliche Zu-
ordnung zum nächsthöheren männlichen Vorgesetzten, für dessen Bedienung und
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 147

psychisches Wohlbefinden die klassische Sekretärin zuständig war, wird arbeitsorga-


nisatorisch aufgelöst; außerdem wird den Schreibkräften der Publikums- und Kun-
denverkehr, wo ebenfalls Kontaktfähigkeit und Freundlichkeit eine Rolle spielten,
überhaupt entzogen 1 .
Wenn einerseits bei den Arbeitsanforderungen in feminisierten Bereichen der
Lohnarbeit der Beziehungsaspekt im Mittelpunkt steht, wenn andererseits die Frauen
an nicht der Zeitökonomie unterworfenen Arbeitsbedingungen festhalten, so könn-
te man annehmen, daß Rationalisierungen der Produktion und der Arbeitsorganisa-
tion in Bereichen feminisierter Lohnarbeit wegen des Widerstandes der Frauen
schwerer als anderswo durchzusetzen seien. Daß ein solches Widerstandspotential
empirisch sich kaum zeigt, liegt vermutlich an einem mit diesem Festhalten an haus-
arbeitsähnlichen Strukturen der Arbeit engverknüpften Interesse (eines Teils) weib-
licher Arbeitskräfte, dem Interesse, nur befristet einer Lohnarbeit nachzugehen bzw.
diese für einige Zeit zu unterbrechen. Das heißt, es liegt an der Möglichkeit, auf Ehe
und Familie als Subsistenzsicherung zurückzugreifen.
Bleibt zu fragen, welche Konsequenzen sich umgekehrt aus Ansätzen zur Um-
wandlung der Hausarbeit in Lohnarbeit ergeben. Gemeint ist im Gegensatz zur Ver-
gesellschaftung die Bezahlung einzelner Hausarbeiten durch den Staat, ohne daß die-
se Hausarbeiten aus der Familie herausgenommen werden. Beispiele aus jüngster
Zeit sind dieTagesmütterprojekte, das Erziehungsgeld in Niedersachsen und die Ver-
längerung des Mutterschaftsurlaubs. Soweit bisher abzusehen, wurden anscheinend
für diese Projekte Effizienzkriterien und staatliche Kontrollen bisher nicht einge-
führt. Ob der Taylorisierungsdruck, unter dem auch der Staat steht, sich in diesen
Arbeitsformen durchsetzen wird, hängt zweifellos davon ab, wie weit die betroffe-
nen Frauen Konzepte der Selbstorganisation und Selbsthilfe finden und durchhal-
ten können. In diesen Projekten kamen unterschiedliche politische Interessen zur

Obernimmt man die von Ostner getroffenen Unterscheidungen zwischen der Nähe weibli-
cher Berufe zur Hausarbeit, bezogen auf die Arbeit (Gegenstand, Organisation und Methode)
und bezogen auf das weibliche Arbeitsvermögen (Habitualisierungsvermögen, Ausdauer, Sen-
sibilität), so läßt sich der Rationalisierungsprozeß der Sekretärinnenarbeit als ein typischer
Rationalisierungsprozeß feminisierter Berufe beschreiben. Nach Ostner (218) zeichnen sich
nämlich die höher qualifizierten weiblichen Berufe durch eine Nähe zum Gegenstand der
Hausarbeit (in diesem Fall Beziehungsarbeit im Verhältnis Mann-Frau) aus, während die in
der Hierarchie tiefer stehenden weiblichen Tätigkeitsbereiche in der Lohnarbeit - wie etwa
die Fabrikarbeit - dadurch charakterisiert sind, daß sie unmittelbar auf die Fähigkeiten des
weiblichen Arbeitsvermögens rekurrieren, meist ohne im Hinblick auf Arbeitsgegenstand
oder Methode etwas mit Hausarbeit zu tun haben (in diesem Fall mechanisches Tippen nach
Vorgaben). Genau solch eine Verwandlung eines höher qualifizierten weiblichen Berufes in
eine Arbeit, die nur weibliches Arbeitsvermögen erfordert, fände dann im Fall der Dequalifi-
zierung der Sekretärinnenarbeit statt. Dagegen läßt sich einwenden, daß es sich bei den be-
sonderen Qualitäten des weiblichen Arbeitsvermögens schlicht um ein allgemein menschli-
ches Arbeitsvermögen handelt, abgesehen natürlich von solchen Fähigkeiten, die als hand-
werkliche Qualifikation oft von Frauen im Sozialisationsprozeß konkret erworben werden,
wie z. B. das Nähen. Sonst bestehen diese Fähigkeiten aber vor allem in der "Billigkeit" und
Schnelligkeit (d. h. dem ökonomischen und sozialen Druck der hinter der Arbeit steht) der
Frauen, Fähigkeiten, die das Kapital z. B. ebenso an Kindem schätzt und ausbeutet, solange
der Staat es erlaubt.
148 Helgard Kramer

Geltung: im Fall des inzwischen beendeten Tagesmütterprojektes wurde ein Teil der
Kosten für die Berufstätigkeit der Frauen sozialisiert; im Falle von Erziehungsgeld
und verlängertem Mutterschutz bestand das staatliche Interesse in der Entlastung
des Arbeitsmarktes. Insofern die Umwandlung bestimmter Hausarbeiten in bezahl-
te Tätigkeiten die betroffenen Frauen um ein Stück unabhängiger vom Ehemann
macht und dabei die Hausarbeit als Privatarbeit unangetastet läßt, entspricht sie der
von einem Teil der Frauenbewegung vertretenen Forderung nach "Lohn für die
Hausarbeit", mindestens aber deren Intention.

Das Interesse der Frauen an ausschließlicher Hausarbeit und am Aufstieg in kom-


munikative Berufe

Historisch war die Flucht der Frauen vor dem Fabrikarbeiterschicksal keineswegs
immer dominierend. Im Gegenteil, von Beginn der Industrialisierung an bis in die
Mitte dieses Jahrhunderts läßt sich eine Wanderung der Frauen aus der Landwirt-
schaft in die bezahlte private Hausarbeit und dann aus diesen beiden, nicht im
eigentlichen Sinn tauschförmig organisierten Bereichen, in die Industriearbeit
beobachten. Fabrikarbeit galt gegenüber der Land- und Dienstbotenarbeit als
Gewinn persönlicher Freiheit oder als sozialer Aufstieg. Diese Bewegung einheimi-
scher Frauen aus der Landwirtschaft und dem privaten Haushalt in die Fabrik ist
inzwischen abgeschlossen; sie setzt sich fort in den Lohnarbeitsschicksalen ausländi-
scher Arbeitsimmigrantinnen, die in der Bundesrepublik oft zum ersten Male der
Industriearbeit unterworfen werden.
Geg~nwärtig hat nach den Beobachtungen unserer Studie die Bewegung aus der
Fabrik ins Haus das größte Gewicht. Sie zeigt sich als Versuch des flexiblen Wech-
sels zwischen Ehe und Lohnarbeit als zwei Formen der ökonomischen Absicherung
bei den verheirateten Frauen, die mit der Geburt von Kindern jeweils ihre Lohnar-
beit für mehrere Jahre unterbrochen haben (das hat etwas mehr als die Hälfte der
verheirateten Frauen mit Kindern getan) und in den Wünschen der jungen Arbeite-
rinnen, nach der Geburt des ersten Kindes in der Fabrik aufzuhören. Ihren politi-
schen Ausdruck könnte sie in der von Teilen der Frauenbewegung vertretenen und
hier vorerst abstrakt bleibenden Forderung nach "Lohn für die Hausarbeit" finden;
dem kommen auch die erwähnten, meist von konservativen Politikern unterstützten
Experimente zur Umwandlung einzelner Funktionen der Hausfrau in bezahlte Tätig-
keiten entgegen. Während also ein Teil der Arbeiterinnen sich "ins Haus" zurück-
zieht, versuchen andere einen Aufstieg aus der Fabrik in den un- und halbqualifizier-
ten Dienstleistungsbereich, in dem Teilzeit- und saisonale Beschäftigung häufiger
sind als in der Industrie. Die Frauen umgehen damit gleichsam die geschlechtsspezi-
fischen Zugangsschranken, die die verberuflichte Industriearbeit chrakterisieren.
Gleichzeitig bevorzugen sie solche Bereiche der Lohnarbeit, deren Arbeitsbedin-
gungen bisher einer zeitökonomischen Reglementierung noch nicht unterworfen
waren. Nach den Ergebnissen unserer Studie, die sich auf die Befragung von Indu-
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 149

striearbeiterinnen beschränkte, konnte sich dieser Aufstiegswunsch der Frauen


nicht in Mobilität auf dem Arbeitsmarkt umsetzen, er drückte sich nur in dem Inter-
esse der befragten Frauen an ausschließlich sozialen und kommunikativen Berufen
(Krankenschwester, Kindergärtnerin, Pflegerin, Verkäuferin und Sekretärin) aus.
Für die beruflichen Vorstellungen der Frauen gelten mithin Kriterien, die sich nicht
an den Wertmaßstäben des Berufssystems (Geld, Prestige, Aufstieg in der Hierarchie)
orientieren, sondern eher mit den für Frauenarbeit in der Familie gültigen Wertmaß-
stäben kompatibel sind, von denen ein Teil in die Arbeitsanforderungen im femini-
sierten Dienstleistungsbereich integriert ist. An der Realisierung dieser Wünsche
sahen die in der Studie befragten Arbeiterinnen sich durch die gegenwärtige Wirt-
schaftskrise behindert; anscheinend waren weibliche Arbeitskräfte bisher nur in
Phasen der Hochkonjunktur damit erfolgreich,- dann, wenn das Kapital zu Konzes-
sionen an die Bedürfnisse der bis dahin nicht berufstätigen Ehefrauen und Mütter
kleiner Kinder gezwungen war, um sie aus der häuslichen Reserve zu locken. Die in
der letzten Zeit in den Gewerkschaften begonnene Diskussion der Arbeitszeitfrage
(z. B. der vorerst gescheiterte Versuch des Einstiegs in die 3 5-Studen-Woche der IG
Metall) konzentrierte sich vor allem auf das Problem möglicher beschäftigungspoli-
tischer Konsequenzen einer neuen Arbeitszeitpolitik. Das Interesse von Frauen an
Teilzeitarbeit und flexiblen Arbeitszeitregelungen überhaupt bildet dafür aber
keinen systematischen Bezugspunkt. Eine kollektive Interessenvertretung für
Frauen in diesem Punkt existiert bis heute nicht; die Frauen bleiben weiter auf die
individuelle Regelung ihrer zeitlichen Koordinierungsprobleme verwiesen.
Historisch ließe sich zeigen, daß die Bewegung der verschiedenen Gruppen Iohn-
abhängiger Frauen innerhalb der Grenzen, die durch Kapital, Staat und seitens der
von Männern dominierten Gewerkschaften und Standesorganisationen gesetzt wer-
den, immer in solche Bereiche feminisierter Lohnarbeit führt, die (noch) nicht nach
Prinzipien der Zeitökonomie organisiert sind, das heißt, Frauen versuchen, der reel-
len Subsumtion auszuweichen. Wie weit sie ihre Interessen realisieren können, hängt
dabei jedoch zum kleineren Teil von ihnen selbst ab. Daß die Zugangsschranken
zum stabilen Segment des Arbeitsmarktes (durch die Arbeiterinnenschutzgesetzge-
bung und Ausbildungsbeschränkungen für Frauen) ebenfalls zum Verbleib der Frau-
en in den marginalisierten Bereichen der Lohnarbeit beigetragen haben - und das
natürlich unabhängig von ihrer Motivation - muß dieses Argument freilich relativie-
ren.
Anwendung von Zeitökonomie bedeutet auch eine allgemeine Regulierung der
Relation zwischen Arbeitsaufwand und Arbeitsertrag, die von denen, die Lohnarbeit
leisten müssen, akzeptiert wird. Aus dieser allgemeinen Regulierung versuchen Frau-
en sich und ihre Arbeit herauszuhalten. Das zwiespältige Verhältnis der Frauen zur
Lohnarbeit zeigt sich ebenfalls in der damit verknüpften Relation zwischen Arbeits-
aufwand und Arbeitsertrag auf der einen und Arbeitsentschädigung auf der anderen
Seite. Hier ist zu unterscheiden zwischen acquisitiven Werthaltungen ... "Sparsam-
keit, Bedürfnisaufschub, Konformität mit den herrschenden Autoritäten sowie Si-
cherheitsbedürfnis", die besonders von solchen Gruppen vertreten werden, die tra-
150 Helgard Kramer

ditionellerweise und regelmäßig am Arbeitsmarkt auftreten, und sogenannten post-


acquisitiven Werthaltungen, die im Grunde auf die Ausweitung und qualitative Nut-
zung lohnarbeitsfreier Zeit hinauslaufen (Heinze et. al.; 277). In diesem Interesse
treffen sich Frauen mit Gruppen, die - anders als sie - durch acquisitive Werthal-
tungen hindurchgegangen sind. Denn bei den Frauen entsteht ein manifestes Inter-
esse an einer Flexibilisierung täglicher wie lebenszeitlicher Arbeitszeit gleichsam
"praeacquisitiv" als eine an Hausarbeit gebundene Einstellung. Aufgrund dieser Ein-
stellung haben Frauen in taylorisierten Arbeitsbereichen häufig versucht, um ihre
familiale Arbeit bewältigen zu können, flexible Arbeitszeitregelungen für sich
individuell durchzusetzen und so den starren kapitalistischen Zeitnormen zu ent-
gehen. Da die kollektive Sozialisation der Frauen zu Lohnarbeitern im Sinne einer
Orientierung an lebensgeschichtlich längerfristiger und dauerhafter Berufstätigkeit
eigentlich erst gegenwärtig stattfindet, können sie jedenfalls nur sehr gebrochen eine
acquisitive Werthaltung vertreten. Andererseits ist auch bei Nur-Hausfrauen sehr
schwer vorstellbar, daß sie ihren Kindem gegenüber andere als acquisitive Werte
verträten (denn schließlich gelingt es ihnen ja immer noch, ihre Kinder zu soziali-
sieren). Gleichwohl bleibt ein Widerspruch zwischen solchen acquisitiven Wert-
haltungen und den im Umgang mit Kindern, vielleicht mit Menschen überhaupt
notwendigen Wertorientierungen, die zur Wahrnehmung und Befriedigung elementa-
rer physischer und psychischer Bedürfnisse befähigen.

Zurückkehrend zu den eingangs referierten Kontroversen ist festzustellen: Zeit-


ökonomie als ein gleichsam neutrales, nur-technisches Vergesellschaftungsprinzip
von Arbeit ist in den Entwicklungstendenzen von Hausarbeit nicht angelegt. Dem
entsprechen die angedeuteten historischen und empirischen Ergebnisse der Untersu-
chungen über das Verhalten der Frauen. Daß dennoch die nicht unters Kapital sub-
sumierte Hausarbeit kein vorkapitalistisches Relikt, sondern Systemerfordernis ist,
hat sich an den Grenzen ihrer Vergesellschaftung erwiesen.
Vielleicht machen diese Thesen denjenigen, die bislang der Auffassung waren,
Frauenarbeit als Spezialproblem ansehen zu können, deutlich, daß die Debatte um
Frauenarbeit einen zentralen Aspekt der Sozialismusdebatte bildet, in der es um die
Frage geht, ob Vergesellschaftung der Arbeit, wie bisher angenommen, eines der
wichtigsten und humansten Merkmale einer sozialistischen Gesellschaft sein kann.
Anders ausgedrückt: das bornierte Starren orthodoxer Marxisten auf Arbeit als
Lohnarbeit muß sich in Frage stellen lassen, wenn am Beispiel der Hausarbeit deut-
lich wird, daß Arbeit, sobald sie organisiert wird nach kapitalistischen Prinzipien der
Rationalisierung und Effektivierung, für die sie Ausführenden zur entfremdeten Ar-
beit wird.
Hausarbeit und taylorisierte Arbeit 151

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Cbristopb Deutschmann

Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung

Einleitung

Versucht man, die Ziele der seit Anfang der siebziger Jahre zunehmenden gewerk-
schaftlichen und betrieblichen Abwehrkämpfe gegen Rationalisierungsmaßnahmen
auf einen Nenner zu bringen, so lautet dieser fast immer: "Erhaltung" materieller
Besitzstände und Lohnstrukturen, "Sicherung" von Qualifikationen und der mit
ihnen verbundenen Erwerbschancen, "Schutz" der Arbeitsplätze. Ungeachtet aller
strategischer Debatten über die Rationalisierung scheint die gewerkschaftliche
Politik sich in der Praxis auf eine rein reaktive und defensive Haltung zu beschrän-
ken. Fast immer geht es nur um die Abwehr oder Modifikation bestimmter, vom
Management geplanter Maßnahmen, ganz selten nur um die Durchsetzung eigener
Zielvorstellungen. In diesem Sinne konstatiert Lutz einen "grundsätzlich konserva-
tiven" Charakter von Arbeitnehmerpolitik, der sich etwa bei der Einführung neuer
Lohnsysteme in einer rein traditionalen Fixierung der Beschäftigten an die über-
kommenen Lohnhierarchien äußere (Lutz 1975; 41 f.). An dieser konservativen
Orientierung ändert sich auch nichts, wenn die Abwehrkämpfe, wie etwa in den
USA, mit größerer Militanz als in der Bundesrepublik ausgefochten werden:

"One feature is common, however, to the official and the 'underground' structure of job con-
trol by organized workers, and is not overcome by in formal qualifications of the counter-
vailing power conception: job control is conservative. It is geared to 'preserving' jobs, to
'preclude' changes in operation, to retain 'restrictive rules'. Shopfloor representatives have
seldom come up with proposals for restructuring employment, or, in connection with it and
even more important, for reshaping the work process of a firm or an industry" (Herding
1972; 43).

Die These, daß die gewerkschaftliche Interessenvertretung in ihrer Grundtendenz


überhaupt "konservativ" sei, findet sich in der liberalen wie in der marxistischen
Gewerkschaftskritik in zahlreichen Variationen. Die liberale Argumentation, die
von dem Privatunternehmer als dem dynamischen Zentrum des "technischen
Fortschritts" ausgeht, kann in dem gewerkschaftlichen Widerstand nur einen irra-
tionalen, retardierenden Störfaktor erblicken. Die marxistische Gewerkschaftskri-
tik, zumindest in ihrer leninistischen Variante, kommt von einem ganz anderen
Ausgangspunkt her zu ähnlichen Konsequenzen. Sie sieht den "Trade-Unionis-
mus" als eine politisch konservative, wenn nicht gar "reaktionäre" Kraft, die den
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 153

notwendigen revolutionären Fortschritt über das Lohnsystem hinaus behindere.


In jüngster Zeit hat Bahro diese Argumentation wieder aufgegriffen:

"Die unmittelbaren Bedürfnisse der subalternen Schichten und Klassen sind immer konservativ,
antizipieren in Wirklichkeit nie eine neue Lebensform .... Die Gewerkschaften antizipieren
keine neue Kultur" (Bahro 1977; 174/175).

Mit dieser Kritik hängt ein weiterer Vorwurf eng zusammen, nämlich der des
"Sektionalismus", "Partikularismus", der Fixierung an naturwüchsige Gruppen-
interessen statt der Orientierung am gemeinsamen Klasseninteresse. Ihre politische
Pointe besteht stets in der Forderung nach einer von der Gewerkschaftsbewegung
getrennten politischen Avantgarde, die allein die notwendige "Vereinheitlichung"
herstellen und die Arbeiterschaft vom Kampf "innerhalb des Lohnsystems" zum
Kampf "gegen das Lohnsystem" führen könne. Wie Perry Anderson es formuliert:

"Trade unions, then, take on the natural hue of the closed, capital dominated environment
of the factory itself. They are a passive reflection of the organisation of the work force. By
contrast, a political party is a rupture with the natural environment of civil society, a volun-
tarist contractual collectivity, which restructures social contours" (Anderson 1977; 335).

Impliziter Maßstab solcher Einschätzungen der Gewerkschaftsbewegung ist stets


die unterstellte historische Mission der "vereinten" Arbeiterklasse zur Übernahme
der in den Händen des Staates oder großer Konzerne zentralisierten "Kommando-
höhen" der Produktion. Aus einer solchen Sicht kann die nicht auf Produktions-
kontrolle, sondern nur auf Verteidigung der Arbeitsplätze gerichtete Haltung des
gewerkschaftlichen Ökonomismus nur als Rückschritt erscheinen.
Dem kann nur entgegengehalten werden, daß noch alle erfolgreichen Ansätze
im Namen der Arbeiterklasse auftretender Parteien, die Produktionskontrolle zu
übernehmen, nicht zur Emanzipation der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil zu
einer noch vollständigeren Zerstörung ihrer Autonomie geführt haben. Dies war
offensichtlich nicht allein in den historischen Umständen, sondern in der Logik
des zugrundeliegenden Konzepts der Produktionskontrolle selbst begründet. Das in
den heutigen "sozialistischen" Staaten zum Zuge gekommene, der marxistischen
Tradition keineswegs fremde, sondern zweifellos in ihr tief verankerte Programm
der Kontrolle der Produktion durch die "Arbeiterklasse" beruhte auf einer naiven
Gleichsetzung der historischen Klasseninteressen der Arbeiter mit der Dynamik
eines durch den Kapitalismus zwar hervorgebrachten, durch die "Anarchie" des
Konkurrenzsystems in seiner Entfaltung aber angeblich gehinderten "technisch-
wissenschaftlichen Fortschritts". Die Akkumulationsbewegung des Kapitalismus,
die unaufhörliche "Rationalisierung" der Produktion, die "wissenschaftliche
Arbeitsorganisation" sollten im Sozialismus nicht aufgehoben, sondern im Gegen-
teil mit Hilfe planwirtschaftlicher Methoden erst vervollkommnet werden (Breuer
1977, Deutschmann 1977). Daß dieses Rationalitätsmodell seinen inhärenten Herr-
schafts- und Klassencharakter verliert, sofern es nur im Rahmen zentral-planwirt-
154 Christoph Deutschmann

schafdieher Organisationsformen praktiziert wird, ist ein Glaube, dessen ideologi-


sche Natur angesichts der Realitäten in den heutigen "sozialistischen" Staaten
offenkundig geworden ist.
Die Kontinuität des kapitalistischen Rationalitätsmodells im "realen Sozialis-
mus" kommt in kaum einer Tatsache prägnanter zum Ausdruck als im Fortbestehen
der Lohnform als Basis der Kostenrechnung, der Kalkulation des Arbeitskräfte-
einsatzes einerseits, der Reproduktion der Arbeitskraft andererseits. Das Lohn-
system wurde nicht abgeschafft, sondern verallgemeinert, indem alle anderen nicht
lohnförmigen Einkommensquellen (zumindest formal) beseitigt wurden. Diese
Praxis stellt sogar nicht einmal eine "Abweichung" von der ursprünglichen Lehre
dar: Sie kann offiziell mit dem Hinweis auf die Marxsche Kritik des Gothaer Pro-
gramms legitimiert werden, in der Marx die Notwendigkeit einer "Verteilung nach
der Leistung" auch im Sozialismus betont hatte. Das "sozialistische" Management
kann ebensowenig wie das kapitalistische auf den "Zwang des Risikos völliger Un-
versorgtheit für sich selbst und für diejenigen persönlichen 'Angehörigen' (Frauen,
Kinder, eventuell Eltern), deren Versorgung der Einzelne typisch übernimmt"
(Weber 1964; Bd. 1, 79) als wichtigstes Mittel der Motivierung, der Disziplinierung
und der Steuerung der Arbeitskraft verzichten. Daher entwickeln die Arbeiter auch
hier und dort ähnliche Widerstandsformen. Es soll nicht bestritten werden, daß
das Lohnsystem seine Disziplinierungsfunktionen unter den in den staatssozia-
listischen (oder staatskapitalistischen) Ländern herrschenden Bedingungen perma-
nenter Arbeitskräfteknappheit nur sehr unzureichend erfüllt; auch die ergänzenden
politischen und propagandistischen Kontroll- und Lenkungsmechanismen scheinen
dies nicht zu leisten. Das ändert jedoch nichts an der Systemwidrigkeit der rela-
tiven leistungspolitischen Freiräume, die die Arbeiter auf betrieblicher Ebene ge-
nießen; sie schlägt sich in dem ständigen Kampf übergeordneter Instanzen gegen
die "Schlamperei" und Disziplinlosigkeit der Arbeiter nieder. Der Fortbestand
der essentiellen Disziplinierungsfunktion des Lohnes in den Ländern des "realen
Sozialismus" wird auch durch das völlig unzureichende Niveau der Sozialleistun-
~en für alle dem Produktionsprozeß nicht Integrierbaren (Rentner, psychisch Kran-
ke, aus politischen oder persönlichen Gründen Arbeitslose u. a.) unterstrichen.
Nach all diesen Erfahrungen bedürfen die marxistischen Vorstellungen von einer
Produktionskontrolle "durch die Arbeiterklasse" - sollen sie als Programm der
Emanzipation glaubwürdig bleiben - statt der üblichen schlagwortartigen Wieder-
holung einer gründlichen Überprüfung. Sie ist jedoch bis heute, von wenigen An-
sätzen abgesehen, ausgeblieben. 1
Angesichts der Inhaltslosigkeit traditioneller marxistischer Vergesellschaftungs-
konzeptionen gewinnen diejenigen Strategien der Arbeiterschaft an Interesse, die
das Lohnarbeitsverhältnis zwar nicht "prinzipiell", dafür aber in einer praktischen
und alltäglichen Weise unterlaufen und in seinen Wirkungen auf den Einzelnen be-

Einen überblick über die in der Weimarer Republik und damals meist sehr viel differenzier-
ter als heute geführten Debatten gibt Klaus N ovy ( 1978).
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegu ng 155

grenzen. Ein Hauptelement dieser Strategien bildet das "konservative" Verhalten


der Gewerkschaften gegenüber Arbeitsplätzen, Qualifikationen und Lohnstruktu-
ren. So "unpolitisch" und "partikularistisch" dieses Verhalten oft anmutet, so we-
nig es einen formellen Angriff auf die Souveränität des Unternehmers impliziert,
so wirksamer sind oft die faktischen Einschränkungen der Unternehmerischen
Entscheidungsfreiheit, die von ihm ausgehen. Es ist keineswegs nur ein "passiver
Reflex" des Lohnsystems, sondern enthält Elemente, die der Verwertungslogik des
Kapitals strukturell zuwiderlaufen und, wie etwa am Beispiel der britischen Wirt-
schaft noch mehr aber in den staatskapitalistischen Systemen des "realen Sozia-
lismus" sichtbar, langwierige krisenhafte Prozesse mit bedingen können.
Wir wollen den Begriff des "konservativen" Verhaltens hier nicht in einem poli-
tisch wertenden Sinne (als Gegensatz von "progressiv") verstehen. Sein wesentliches
Element sehen wir in dem Streben nach sozialer Sicherheit, nach langfristig gesi-
cherten Arbeitsplätzen und den daran geknüpften Einkommen, die eine entschei-
dende Grundlage individueller Lebensgestaltung und Persönlichkeitsentwic klung
bilden. Da aber soziale Sicherheit an die Verwertbarkeit des individuellen Arbeits-
vermögens und damit an dessen Qualifikationen geknüpft ist, richtet sich das kon-
servative Verhalten zugleich gegen die von der kapitalistischen Entwicklung ausge-
hende Tendenz zur ständigen Umgestaltung der Produktionsprozesse und der damit
verbundenen Entwertung von Qualifikationen. Gegenüber dem "Fortschritt" der
kapitalistischen Rationalisierung bildet es insofern ein passives, retardierendes Ele-
ment. Es strebt danach, die Lebenschancen der Lohnarbeiter so weit wie möglich
von den "Marktchancen", ihren ständigen Risiken und Wechselfällen abzukoppeln
und so eine Grundlage für eine stabile, selbstbestimmte Lebensführung zu schaffen.
Unsere Vermutung ist nun, daß dieses Verhalten für ein theoretisches Verständ-
nis der "Logik" kapitalistischer Entwicklung keineswegs nur von peripherer Bedeu-
tung ist, daß ihm vielmehr systematisches Gewicht zukommt. Eine nähere Begrün-
dung dieser These müßte im Rahmen einer Theorie des Warencharakters der
Arbeitskraft entfaltet werden; dies können wir hier nur in einigen ersten und vor-
läufigen Ansätzen versuchen.

Ökonomische Rationalitiit und Warencharakter der Arbeitskraft

Ökonomische Rationalisierung im Rahmen der Kapitalverwertung ist mehr als nur


technische Rationalisierung. Rationales Handeln im technischen Sinne bedeutet
der üblichen Definition zufolge: "Optimum des Erfolges im Vergleich mit den auf-
zuwendenden Mitteln" (Weber 1964; 45): Das technische Kalkül fragt nur nach der
Relation zwischen Mittel und Ergebnis; für die Rationalität des Ergebnisses selbst
bietet es keinen Maßstab:

"Es könnte jemand etwa, um rein "technischer" Liebhabereien willen, mit allem Aufwand mo-
derner Betriebsmittel atmosphärischer Luft produzieren, ohne daß gegen die technische Ratio-
nalität seines Vorgehens das geringste einzuwenden wäre: wirtschaftlieb wäre das Beginnen in
156 Christoph Deutschmann

allen normalen Verhältnissen irrational, weil irgendein Bedarf nach Vorsorge für die Versorgung
mit diesem Erzeugnis nicht vorläge" (Weber 1964; 46).

Wirtschaftliche Rationalität, d. h. Rentabilitätsrechnung bedeutet dagegen ein


synthetisches Kriterium zur rationalen Wahl nicht nur zwischen alternativen Mit-
teln, sondern auch zwischen alternativen Produktionszwecken. Es umfaßt sowohl
den Gesichtspunkt der Effizienz der eingesetzten Mittel wie den der "Bedarfs"ge-
rechtigkeit der Produktionszwecke. "Rationalität" bedeutet dabei "formale Ra-
tionalität" im Sinne Webers, d. h. eine auf einem quantitativen Vergleich von
"Kosten" und "Ertrag" basierende Erfolgsrechnung. Eine nicht auf Geldwirt-
schaft, sondern auf einer Arbeitszeitrechnung basierende Wirtschaft könnte im
te.:hnischen Sinne rational handeln. Sie würde dann diejenigen Produktionsver-
fahren auswählen, die den Arbeitsaufwand (an lebendiger und vergegenständlichter
Arbeit) zur Realisierung gegebener Produktionsziele minimieren. Sie verfügte aber
über kein Kriterium, um verschiedene Produktionsziele quantitativ gegeneinander
abzuwägen. Zwar ließe sich auch eine integrierte Arbeitszeitrechnung denken, die
den Gesamtaufwand an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit nicht für jede
Produktionsstufe einzeln, sondern in der gesamten, auf ein "Endprodukt" hinfüh-
renden Produktionskette minimiert. Innerhalb jeder Produktionskette ließen sich
so technische und ökonomische Rationalität miteinander verbinden; bei einer
solchen integrierten Rechnung könnte sich eine andere Kombination von Techniken
als optimal erweisen als bei isolierter Betrachtung der einzelnen Produktionsstufen.
Stets wäre man jedoch eine selbst nicht "rational" ableitbare Wahl der Endprodukte
angewiesen. Eine durchgehende, ausschließlich formal-quantitative Rationalität
ökonomischen Handeins ist also in einer auf einer Arbeitszeitrechnung basierenden
Wirtschaft- darin ist der herkömmlichen, auf v. Mises zurückgehenden Sozialismus-
Kritik (v. Mises 1920) Recht zu geben- nicht möglich. Die "Endbedürfnisse" bzw.
der den Endprodukten zugeordnete Nutzwert lassen sich zwar auf dem Papier, in
ausgeklügelten lndifferenzkurvensystemen, nicht aber in der Realität in quantifizier-
te und objektivierbare Entscheidungskriterien umsetzen.
Eine kontinuierliche Rationalität wirtschaftlicher Entscheidungen läßt sich
offenbar nur denken, wenn die "Endprodukte" ihrerseits funktionalisiert und
in den ökonomischen Kreislauf rückbezogen werden, die isolierte Zweck-Mittel-
Relation der technischen Rationalität also zu einem in sich geschlossenen Kreis-
lauf von Zwecken und Mitteln vollendet wird. Das bedeutet die konsequente Funk-
tionalisierung aller "letzten Produktionszwecke"; jedes Produkt gilt wiederum nur
als Produktionsmittel für einen neuen Produktionszweck. 2 Die "offene Zweck-
2 Diese der Arbeit inhärente Tendenz zur Abstraktifizierung und Funktionalisierung aller
Zwecke hat Hege! an der Zweck-Mittel-Dialektik herausgearbeitet: "Diese Zwecke haben
überhaupt, wie gezeigt, einen beschränkten Inhalt; ihre Form ist die unendliche Selbstbe-
stimmung des Begriffs, der sich durch ihn zur äußerlichen Einzelheit beschränkt hat. Der
beschränkte Inhalt macht diese Zwecke der Unendlichkeit des Begriffs unangemessen und
zur Unwahrheit; solche Bestimmtheit ist schon durch die Sphäre der Notwendigkeit, durch
das Sein, dem Werden und der Vergänglichkeit preisgegeben und ein Vergängliches" (Hege!
1934;402).
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 157

struktur" des technischen Rationalitätsmodells (Ullrich 1977; 103) wird damit


auf den wirtschaftlichen Prozeß als Ganzes übertragen.
Den entscheidenden Schritt bei diesem Übergang bildet die Verwandlung der
Arbeitskraft in eine Ware. Die durchgehende Rationalität wirtschaftlichen Handeins
läßt sich nur verwirklichen, wenn auch die menschliche Arbeitskraft selbst als
Subjekt, d. h. als Ausgangspunkt wie als "Endzweck" des wirtschaftlichen Pro-
zesses zur Disposition gestellt wird. Nicht nur die lebendige Arbeit, sondern die
Reproduktion des Arbeitsvermögens selbst wird dem gleichen rationalen Kalkül
unterworfen wie die Produktion und die Reproduktion aller anderen Waren. Erst
mit diesem Schritt verselbständigt die Arbeit sich zum "sich selbst verwertenden
Wert", entsteht die prinzipielle Trennung zwischen "formaler" und "materialer"
Rationalität des Wirtschaftens. Die Arbeit wird zu einem "Produktionsfaktor" ne-
ben anderen auch, dessen Reproduktion nicht mehr in sich selbst, sondern nur noch
aus funktionalen Gründen gerechtfertigt erscheint.
Damit ist zugleich der Ausgangspunkt der Absonderung der Wirtschaft als einer
"autonomen", durch immanente Gesetzmäßigkeiten und nicht mehr durch gesell-
schaftliche Normen regulierten Sphäre gegeben. Das "Wertgesetz" ist nichts anderes
als die auf ihr eigenes Subjekt selbst zurückgewendete und damit potenzierte und
totalisierte "Zeitökonomie". Die naturalwirtschaftliche Organisation z.B. des
mittelalterlichen Handwerks kannte keinen "Arbeitsmarkt", weil die Sicherung der
"Nahrung" für alle Zunftgenossen ihr direktes und ausschließliches Ziel bildete
(Sombart 1919; Bd. 1, 188 f.). Die Verwandlung der Arbeitskraft in eine Ware und
die Entfaltung der quantitativen, über die einfache Reproduktion traditional ge-
gebener Bedürfnisse hinausgreifenden Akkumulationsdynamik des Kapitals bilden
zwei Seiten desselben Prozesses.
Sowohl die marxistische wie die neoklassische Theorie des Arbeitsmarktes sind
dadurch geprägt, daß sie diese in der Logik kapitalistischer Rationalität angelegte
Totalisierung des Warencharakters der Arbeitskraft "wörtlich" nehmen und in ihrer
Definition der idealen Funktionsbedingungen des kapitalistischen Systems immer
schon als vollendet vorausetzen. Aus dieser Annahme werden nur unterschiedliche
Konsequenzen gezogen. Während die marxistische Theorie in der Ausbreitung des
Warencharakters der Arbeitskraft die Grundlage für die Verallgemeinerung ihres
Klassenbewußtseins und damit für eine revolutionäre politische Rolle der Arbeiter-
schaft sieht, leitet die neoklassische Theorie daraus affirmative Schlußfolgerungen
ab: Sie versucht nachzuweisen, daß das volkswirtschaftliche Optimum und damit
die Maximierung des Lohneinkommens sich nur bei uneingeschränkter Gültigkeit
des Prinzips vollkommener Konkurrenz auch auf dem Arbeitsmarkt erzielen lassen.
Die Tatsache, daß der Arbeitsmarkt im Grunde nie "vollkommen" war, daß der
Warencharakter der Arbeitskraft, die freie Disponibilität des "Produktionsfaktors
Arbeit", wie sie die ungehinderte Rationalität der Tauschwirtschaft erfordern wür-
den, nicht oder nur in sehr unterschiedlichem Grade gegeben waren, wird in beiden
Theorien entweder nur als Relikt veralteter Produktionsstrukturen oder als unwe-
sentliche "Störung" des Modells interpretiert.
158 Christoph Deutschmann

Die Kritik an dieser nur "residualen" Betrachtungsweise der Unvollkommenhei-


ten des Marktmodells bildet schon lange eines der Hauptthemen der Sozialwissen-
schaften. Wir verweisen hierzu nur auf das bekannte Buch von K. Polanyi (Polanyi
1978), der die These herausgearbeitet hat, daß eine "wörtliche" Realisierung des
Modells formaler Rationalität die Lebensfähigkeit der Gesellschaft überhaupt in
Frage stellen müßte; in der Folge versucht Polanyi die Entfaltung gesellschaftlicher
"Selbstschutzmechanismen" in Gestalt vor allem staatlich gesetzter Einschränkun-
gen des Marktsystems als notwendiges Resultat kapitalistischer Entwicklung zu in-
terpretieren. Speziell im Hinblick auf Arbeitsmarktprobleme hat sich mit den Theo-
rien des "dualen Arbeitsmarktes" eine starke Gegenbewegung gegen die am Markt-
modell orientierten neoklassischen Lohn- und Arbeitsmarkttheorien entwickelt.
Unsere Überlegungen knüpfen an diese Diskussion an und versuchen, sie nach
zwei Seiten hin weiterzuentwickeln. Im folgenden Abschnitt soll zunächst versucht
werden, den in den Segmentierungstheorien meist vernachlässigten Zusammenhang
zwischen den "Unvollkommenheiten" des Warencharakters der Arbeitskraft und ge-
werkschaftlichem Handeln (wenn auch nur in Form von Thesen) herauszuarbeiten.
In dem darauf folgenden Abschnitt setzen wir uns kritisch mit jenen Theorien der
"reellen Subsumtion" auseinander, die als Folge der kapitalistischen Rationalisie-
rung und Technisierung eine allgemeine Nivellierung und "Degradierung" des ge-
sellschaftlichen Arbeitsvermögens und damit eine tendenzielle Homogenisierung des
Arbeitsmarktes erwarten.

Inhiirente Grenzen des Warencharakters der Arbeitskraft und gewerkschaftliches


Handeln

Das ungehinderte Funktionieren der Gesetze der Marktökonomie setzt voraus, daß
zwischen den Warenbesitzern keine anderen als sachliche, d. h. durch die Tauschge-
genstände vermittelten Beziehungen wirksam sind. Die formale Rationalität der
Tauschwirtschaft basiert auf vollständiger persönlicher Anonymität der Warenbesit-
zer. Diese Voraussetzung mag auf den Gütermärkten mehr oder weniger gegeben
sein; auf dem Arbeitsmarkt jedoch ist sie es nicht und kann es auch nicht sein. Ein
Produktionsvorgang (im Gegensatz zu einem bloßen Austauschvorgang) kann auf
der Basis einer rein sachlich-anonymen Tauschbeziehung gar nicht zustandekom-
men. Anders als bei allen anderen Waren sind bei der Ware Arbeitskraft - wie be-
reits Brentano (1872) hervorgehoben hat -die Person des Warenanbietcrs und seine
Ware nicht trennbar. Das bedeutet zum einen: Die Person des Warenanbietcrs
bleibt vom Schicksal seiner Ware nicht unberührt, nicht nur muß er ihr, anders als
der Kaufmann, der den Umsatz seiner Ware "ruhig zu Hause sitzend" (Brentano)
verfolgen kann, überall hin folgen; seine gesamte Persönlichkeitsstruktur wird viel-
mehr in lebenslangen und gar sich über Generationen hinweg erstreckenden beruf-
lichen Sozialisationsprozessen an die Erfordernisse industrieller Disziplin angepaßt.
Zum anderen aber: Die Nutzung des Gebrauchswerts der Arbeitskraft ist nur über
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 159

die Vermittlung des Arbeitenden als Person möglich. Sie setzt stets einen gewissen,
auf einzelnen Arbeitsplätzen allerdings sehr unterschiedlichen Grad persönlicher
Kooperationsbereitschaft der Arbeitenden voraus, die keineswegs ein selbstver-
ständliches, automatisch mit dem Verkauf mitgeliefertes Attribut der Arbeitskraft
bildet.
Kein Produktionsprozeß kann so perfekt durchorganisiert werden, daß alle
Handlungen und Unterlassungen des einzelnen Arbeiters lückenlos vorgeschrieben,
kontrolliert und überwacht werden können; letztlich bleibt das Management auf ein
freiwilliges "Mitdenken", auf unzählige informelle Kooperationsleistungen der Ar-
beitskräfte angewiesen, die es aufgrund seiner formalen Verfügungsgewalt nicht er-
zwingen kann. Die Abhängigkeit des Managements von dieser Kooperationsbereit-
schaft schafft eine die Tauschrationalität überlagernde soziale Beziehungsebene
(Beck und Brater 1976; Lenhardt 1977; Billerbeck et al. 1977), die es den Arbei-
tern selbst in offen autoritär strukturierten Gesellschaften erlaubt, ihre Interessen
im Betrieb partiell zur Geltung zu bringen. Der Warencharakter der Arbeitskraft
bleibt stets unvollkommen in dem Sinne, daß über sie nie wie über einen bloßen Ge-
genstand nur "verfügt" werden kann, so sehr auch das Streben nach möglichst voll-
ständiger Realisierung dieser Verfügbarkeit (die letztlich eben nur durch Automati-
sierung, d. h. völlige Eliminierung der lebendigen Arbeit denkbar ist), den Inhalt
aller kapitalistischen Rationalisierungs- und Technisierungsprozesse bildet.
Daher reicht es nicht aus, die Grundlagen gewerkschaftlicher Macht allein in dem
Prinzip der Organisation, der möglichst umfassenden Solidarität als solcher zu se-
hen. Die Gewerkschaften konnten ihre Erfolge vor allem deshalb erzielen, weil die
aufgrund ihrer Qualifikationen und ihres "Arbeitsethos" für die Aufrechterhaltung
der Produktion am wenigsten entbehrlichen Facharbeitergruppen es waren, die sich
in ihnen organisierten. Der Aufstieg der Gewerkschaften in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts in Westeuropa läßt sich ohne Zweifel mit der Tatsache in Verbin-
dung bringen, daß die Entwicklung vieler industrieller Arbeitsprozesse in dieser Zeit
durch eine Erhöhung der Qualifikationsanforderungen - teils an spezifische Fertig-
kP.iten, noch mehr aber an allgemeine Qualifikationen wie Genauigkeit, Zuverlässig-
keit, Pünktlichkeit- charakterisiert 3 war.
Wenn die Unternehmer den in diesen Arbeitsprozessen Beschäftigten soziale Si-
cherungen, kürzere Arbeitszeiten und höhere Löhne zugestehen mußten, so war das
nicht allein ihrer kollektiven Organisationsmacht zuzuschreiben, sondern auch der
Tatsache, daß man nicht auf die Dauer einerseits die Person des Arbeitenden im
Produktionsprozeß fordern, andererseits ihr aber die notwendigen Reproduktions-

3 Eine wichtige Ursache hierfür war der Mechanisierungsrückstand in den Investitionsgüter-


industrien, in denen die Industrialisierung erst als Folge des von den früher industrialisierten
konsumnahen Branchen (vor allem der Textilindustrie) ausgehenden starken Nachfragezu-
wachses an Maschinen und Ausrüstungen eintrat. Es entstand hier ein großer Bedarf an me-
chanischen Präzisionsarbeiten, für die qualifizierte Facharbeiter gebraucht wurden. In
Deutschland mußten diese Facharbeiter lange Zeit, bis weit über die Mitte des 19. Jahrhun-
derts hinaus, aus Großbritannien "importiert" werden (Landes 1973).
160 Cbristopb Deutschmann

bedingungen vorenthalten konnte. Auf den Zusammenhang zwischen den gewerk-


schaftlichen Erfolgen und dem Facharbeiterstatus der Mitglieder -An- und Unge-
lernte wurden bekanntlich lange Zeit prinzipiell nicht in die Gewerkschaften auf-
genommen- hat bereits Adolf Weber hingewiesen:

,.Der Kampf mit dem Unternehmertum hat um so eher Erfolg, je schwieriger es dem Arbeitge-
ber gemacht wird, für diejenigen, die aus der Arbeit ausgeschieden sind, vollwertigen Ersatz zu
finden. Der ,.Ungelernte" ist in der Regelleicht ersetzbar;je größer das Heer der Ungelernten
wird, um so leichter. Der Arbeiter aber, der etwas kann, der etwas gelernt hat, wird weit
weniger leicht ersetzt werden können, - sei es nun, weil er sich in die Organisation des Betrie·
bes ,. eingearbeitet" hat, oder weil er in gewisser manueller Geschicklichkeit mit Erfolg ,.ange-
lernt" wurde, oder sei es endlich, weil er durch eine Lehre hindurchgegangen ist, die ihn als
'Gelernten' im engeren Sinne über seine Berufsgenossen hinaushebt. Diese ,.Eingearbeiteten",
"Angelernten", ,.Gelernten" müssen in der Regel den Kern der Gewerkschaften bilden, wenn
diese als Kampforganisationen mit Aussicht auf Erfolg auftreten wollen" (Weber 1921; 218).

Von ihren historischen Entstehungsimpulsen her gesehen, bedeutete es eine höchst


unzulängliche Definition der Gewerkschaften, würde man in ihnen im Sinne
abstrakter ökonomischer Modellkonstruktionen nur Kartelle der Anbieter der Ware
Arbeitskraft sehen. Der klassische Typus einer autonomen Gewerkschaftsbewegung,
die britischen Trade Unions etwa, so, wie sie Brentano (Brentano 1872; 12) in den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschrieb, zeichneten sich durch einen
großen, über die bloße Lohnpolitik weit hinausgehenden Reichtum an Aktivi-
täten aus: Ihre Aktionsfelder reichten von der Arbeitszeit über die Einflußnahme
auf die Arbeitsbedingungen, die Kontroll.e von Einstellungen und Entlassungen,
die Etablierung von Besetzungs- und Senioritätsregeln, die Kontrolle der Produk-
tionsgeschwindigkeit (so wurde z. B. im Kohlenbergbau die Fördergeschwindigkeit
so dem Absatz angepaßt, daß die Anhäufung größerer Halden verhindert wurde, die
dem Unternehmen im Fall eines Streiks einen Handlungsspielraum verschafft hät-
ten), bis hin zu Versicherungskassen gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit. In all
dem drückte sich das Bedürfnis nicht nur nach "höherem Lebensstandard", son-
dern nach einer umfassenden sozialen Existenzsicherung aus, die der Person des
einzelnen Arbeiters Schutz gegen den freien Arbeitsmarkt bieten und so Raum
für seine persönliche und soziale Entfaltung schaffen sollte. Die Verwirklichung die-
ser Bedürfnisse hing aber notwendigerweise davon ab, wieweit es den Gewerkschaf-
ten gelang, die Schlüsselrolle der lebendigen Arbeit im Produktionsprozeß, die Un-
entbehrlichkeit bestimmter Fertigkeiten, Erfahrungen und Qualifikationen auf-
rechtzuerhalten. Es ging den Gewerkschaften folglich nicht nur um den möglichst
teuren Verkauf der Ware Arbeitskraft, sondern darum, diesen Warencharakter der
Arbeitskraft selbst - gegen die von der kapitalistischen Entwicklung ausgehenden
Tendenzen zur Mobilisierung und Flexibilisierung des Einsatzes lebendiger Arbeit
einerseits, seiner Standardisierung andererseits - so weit wie möglich zu begrenzen,
wie Morse es ausdrückt: den "Status" des Arbeiters zu erhalten:
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 161

"The fundamental aim of a worker's institution must be to provide status. lt must define the
boundary between those who have a stake in the society and the outsider. Wages are impor-
tant, it is true, but the measure of success of a trade union can never be simply its ability to
raise wages. Above all, a trade union exists to try to prevent its members from being treated as
if they were peripheral ...
An employer may be quite unwilling to raise wages, particulary above the industrial Ievel,
but he may be quite willing to change hiring and firing practices to provide greater security to
the worker, particulary if the union can provide him with workers whose average productivity
is higher than what an unstructured Iabor market could provide him and if the provision of
security has a favourable effect upon the morale of his workers" (Morse 1969; 63/64, vgl.
auch Shister 1950).

Gingen die Gewerkschaften (zumindest in ihrer klassischen Gestalt des britischen


Trade-Unionismus) insoweit in ihrer Praxis weit über die ihnen von marxistischen
Theoretikern gern zugesprochene Funktion der "Verteidigung unmittelbarer Tages-
interessen" hinaus, so bildet eben diese Tatsache auch eine Erklärung dafiir, daß
die Gewerkschaftsbewegung in ihrem Handeln so oft den von der politischen Lin-
ken proklamierten Prinzipien der Einheit und Solidarität der Arbeiterklasse wider-
sprach, d. h. eine Erklärung für den häufig fraktionierten und differenzierten Cha-
rakter gewerkschaftlicher Interessenvertretung. Diese Aufspaltung ist für offen frak-
tioneil organisierte Gewerkschaftsbewegungen wie die britische oder amerikanische
nicht typischer als für die stärker von sozialistischen Ideen dominierte deutsche Ge-
werkschaftsbewegung, in der die gleichen Differenzierungsprozesse sich nur mehr
unter der Hand durchsetzten (hierzu zuletzt Herding und Sabel1979).
Die marxistischen Theoretiker des Klassenbewußtseins sahen die Grundlage des
proletarischen Klassenbewußtseins in dem Prozeß der "Abstraktifizierung" der Ar-
beit, der das gemeinsame Grundmerkmal der Klassenlage, die Lohnabhängigkeit,
immer stärker gegenüber allen Besonderheiten der Stellung verschiedener Arbeits-
gruppen im Produktionsprozeß herausarbeiten würde. Sie setzten einen idealen Zu-
stand einer vollständigen und universellen realen Subsumtion der lebendigen Arbeit
unter das Kapital voraus, in dem die Selbsterkenntnis des Arbeiters mit der Er-
kenntnis seiner allgemeinen Klassenlage zusammenfallen würde, derart, wie G. Lu-
kacs formuliert:

"Und indem er diese seine einzige Ware verkauft, fugt er sie (und da die Ware von seiner physi-
schen Person unabtrennbar ist: sich selbst) in einem mechanisch-rationell gemachten Teilprozeß
ein, den er unmittelbar fertig, abgeschlossen und auch ohne ihn funktionierend vorfindet, worin
er als eine rein auf abstrakte Quantität reduzierte Nummer, als ein mechanisiertes und rationa-
lisiertes Detailwerkzeug eingefügt ist" (Lukas 1923, 182).

In dieser Betrachtungsweise ist ein doppelter Trugschluß enthalten: Zum einen wird
der tatsächliche und in den meisten industriellen Arbeitsprozessen auch überhaupt
nur erreichbare Grad der Standardisierung und Mechanisierung überschätzt: Selbst
extrem durchrationalisierte Prozesse können durch Fehler oder Unterlassungen
der Arbeiter empfindlich gestört werden und bleiben insoweit von ihrer Koopera-
tionswilligkeit abhängig. Zum anderen aber: Wenn die Annahme einer völligen
162 Christoph Deutschmann

Durchmechanisierung tatsächlich zuträfe, so könnte man sich - hierauf hat S.


Breuer mit Recht verwiesen - eine gewerkschaftliche, politische oder gar revo-
lutionäre Subjektrolle der Arbeiterschaft wohl kaum mehr vorstellen. Der Prozeß
der kapitalistischen Rationalisierung mag zwar zu einer Nivellierung von Bewußt-
seinsdifferenzen innerhalb der Arbeiterschaft führen, soweit er dies tut, zerstört er
aber mit den Differenzen des Bewußtseins, der konkreten Qualifikationen und Tä-
tigkeiten zugleich wesentliche subjektive Momente der proletarischen Opposition
gegen die bestehenden Produktionsverhältnisse. Die Fähigkeit der Arbeiterschaft
zum Widerstand ist daran gebunden, daß die Stellung des Arbeiters im Produktions-
prozeß sich eben nicht auf die des bloßen, in mechanisierte Teilprozesse eingepaß-
ten Lohnarbeiters - die ohnehin nur als idealer "Fluchtpunkt" der kapitalistischen
Entwicklung, nicht aber im wörtlichen und vollständigen Sinn als Realität denkbar
ist - reduziert. Die "Arbeiterklasse" bildet nur insoweit einen aktiven Gegenpol
zum Kapital, als die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung sich noch nicht
vollständig an ihr verwirklicht haben. Die die Person des Einzelnen völlig negieren-
de soziale Existenzbestimmung des bloßen "Lohnarbeiters" kann für eine Solidari-
tät von solcher Konkretion, Intensität und Dauerhaftigkeit, wie sie für eine Politik
kontinuierlicher Kontrolle und Verteidigung der Arbeitsplätze erforderlich ist, kei-
ne Grundlage sein. Arbeitsplatzbezogene Handlungszusammenhänge können sich
nur dort etablieren und stabilisieren, wo der Arbeitsprozeß noch "berufliche" Ele-
mente enthält, d. h. gegenüber der konkreten Arbeit noch nicht völlig gleichgültig
geworden ist und daher einen Anknüpfungspunkt für die Identität des einzelnen
Arbeitenden bildet. Eine militante Politik der Arbeitsplatzkontrolle ist fast stets
nur von Arbeitergruppen betrieben worden, bei denen solche subjektiv geprägten
Bindungen an die Arbeit noch eine Rolle spielten.
Eben dies bedingt aber zugleich die Tendenz zur Fraktionierung, zur gruppen-
und berufsspezifischen Verfestigung arbeitsplatzbezogener Handlungszusammen-
hänge. Der gewerkschaftliche Kampf um die Arbeitsplätze ist fast immer auch ein
Kampf gegen die durch die kapitalistische Entwicklung vorangetriebene Standardi-
sierung und Egalisierung des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens, gegen das Eindrin-
gen neuer Arbeiterschichten (Frauen, Angelernte) in "etablierte" Berufe gewesen.
Die hierarchische Struktur der beruflichen Arbeitsteilung und Segmentierung des
Arbeitsmarktes war damit keineswegs nur, wie Reich u. a. (Reichet al. 1978) be-
haupten, ein Resultat untemehmerischer Strategien zur Spaltung der Arbeiter-
schaft; sie wurde vielmehr von den Gewerkschaften selbst aktiv unterstützt und bis-
weilen sogar hervorgebracht.
Der Versuch von K. H. Rothund E. Brockhaus (Roth 1974; Brockhaus 1975),
das Bestehen einer autonomen "zweiten" Arbeiterbewegung der Massenarbeiter,
die alle diese "Mängel" der professionellen Arbeiterbewegung nicht teilt, nachzu-
weisen, hält einer genaueren historischen Nachprüfung wohl kaum stand. S. Stearns
hat in einerneueren Veröffentlichung (Stearns 1976) die schon oben erwähnte Tat-
sache bekräftigt, daß die Kämpfe und die organisatorischen Fortschritte der euro-
päischen Arbeiterbewegung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert fast aus-
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 163

schließlich von Facharbeitern getragen wurden. Wo es zu eigenständigen Aktionen


der Ungelernten, wie etwa den großen Hafenarbeiterstreiks gegen Ende des 19.
Jahrhunderts kam, hatten diese den Charakter von zwar militanten, aber punktu-
ellen Revolten, die keine dauerhaften organisatorischen Konsequenzen zeitigten.
Ebensowenig wie der Ansatz von Roth und Brockhaus können solche opti-
mistischen Interpretationen der Gewerkschaftsbewegung wie die von F. Deppe
(1979) befriedigen, die die berufsgewerkschaftlichen Organisationsformen des
klassischen Trade-Unionismus als bloßes Relikt handwerklicher Produktionsweisen
betrachten und in der allmählichen Durchsetzung des Industrieverbandsprinzips
ein Anzeichen für die zunehmende Verbreitung von Klassenorientierungen in der
Arbeiterschaft sehen. Die Fixierung auf einen abstrakten Begriff der Klasseneinheit
läßt auch hier die komplementäre inhaltliche Verarmung und "Entqualifizierung"
der gewerkschaftlichen Interessenvertretung, die mit dem Übergang zum Industrie-
verbandsprinzip einherging, übersehen. Der Prozeß der Transformation von Berufs-
in Industriegewerkschaften spiegelt keineswegs nur die zunehmende "Solidarität"
der Arbeiterschaft, sondern zugleich den Verlust an beruflichem Selbstbewußtsein,
die "reelle Subsumtion" der Arbeit unter das Kapital und damit gerade die Schwä-
chung arbeitsplatzbezogener Handlungszusammenhänge wider. Er ging einher mit
einer zunehmenden Hinnahme von Leistungslohnsystemen, Rationalisierungsmaß-
nahmen, der Unternehmerischen Autonomie in der Gestaltung der Produktionsbe-
dingungen durch die Gewerkschaftsbewegung. Darüberhinaus wurden die traditio-
nellen sozialpolitischen Aktivitäten der Gewerkschaften mehr und mehr durch
staatliche Sozialbürokratien übernommen, was zwar eine Generalisierung und eine
bessere Absicherung sozialer Versorgungsleistungen bedeutete, für die Gewerk-
schaftsbewegung aber auch einen Verlust an Autonomie zur Folge hatte. In der
Veränderung gewerkschaftlicher Organisationsstrukturen läßt sich somit ein Prozeß
beobachten, der den Veränderungen im Verhältnis von lebendiger und vergegen-
ständlichter Arbeit im Zuge der "reellen Subsumtion" der Arbeit unter das Kapital
korrespondiert. So wie die Arbeiter im Zuge der Mechanisierung die Kontrolle über
den Produktionszusammenhang verlieren, verlieren sie auch die Kontrolle über ihren
gewerkschaftlichen Zusammenhang, die vielmehr von einer Bürokratie hauptamtli-
cher Funktionäre übernommen wird. Mit der Bürokratisierung der Gewerkschaften
verändert sich zugleich die Weise, in der Konflikte zwischen Kapital und Arbeit
wahrgenommen, ausgetragen und "bearbeitet" werden. Institutionalisierte und
formalisierte Konfliktrituale ersetzen die Ausübung von Organisationsmacht, an die
Stelle direkter Vertretung von Mitgliederinteressen treten hochgradig generalisierte
und abstraktifizierte Surrogate dieser Mitgliederinteressen. Daß die Ausweitung
gewerkschaftlicher Organisationsmacht, welche die Durchsetzung des Industriever-
bandsprinzips mit sich zu bringen scheint, zugleich einen Machtzuwachs der Ge-
werkschaften über ihre Mitglieder bedeutet, ist in der Gewerkschaftsoziologie oft
genug hervorgehoben und beschrieben worden (zuletzt Streeck 1979).
Der Prozeß der Generalisierung gewerkschaftlicher Organisationsprinzipien
kann nicht fortschreiten, ohne von einem bestimmten Punkt an die Substanz ge-
164 Christopb Deutschmann

werkschaftlieber Handlungsfähigkeit in Frage zu stellen. Als bloße "Lohnmaschi-


nen" wären die Gewerkschaften jedenfalls im Sinne ihrer ursprünglichen Aufgaben
nicht mehr funktionsfähig. Hierin ist wohl eine wichtige Ursache dafür zu sehen,
daß die Organisationswirklichkeit der Gewerkschaften in der Bundesrepublik
trotz des formal dominierenden Industrieverbandsprinzips faktisch weiterhin durch
das Fortbestehen starker "berufsgewerkschaftlicher" Elemente geprägt ist. Die
Facharbeiter sind bis heute der handlungsfähige Kern der Industriegewerkschaften
geblieben.
je erfolgreicher die Gewerkschaften sind, je mehr sie eine langfristige Sicherung
von Einkommen und Arbeitsgelegenheiten zumindest für die dominanten "Kern-
gruppen" der Arbeiterschaft durchsetzen können, desto zuverlässiger schaffen sie
die materielle Grundlage für eine bewugte Ausprägung konservativer Lebenshaltun-
gen bei ihren Mitgliedern. Es wächst der Wunsch nach "Bewahrung des Erreichten",
die Abwehr gegen politische Experimente. Die erreichte, langfristig gesichert
erscheinende Lebensperspektive soll nicht gefährdet werden. Die Gewerkschaft wird
weniger als Kampfinstrument zur Durchsetzung von Interessen denn als Bestandteil
der gegebenen sozialen Lebensform und damit als Selbstzweck betrachtet; sie dient
nur mehr der Sicherung des "Besitzstandes". Diese Interessenlage der die Gewerk-
schaft tragenden Arbeiterschichten deckt sich mit derjenigen der hauptamtlichen
Funktionäre (häufig aufgestiegene Facharbeiter), für die Organisation materielle
Existenzgrundlage ist und die schon deshalb einer "ruhigen" und "geordneten"
gegenüber einer militanten Politik den Vorzug zu geben tendieren. Die partielle
"Dekommodifizierung" der sozialen Existenz mehr oder weniger großer Teile der
Arbeiterklasse bildet so eine wesentliche soziale Basis des Reformismus und Kar-
poratismus in der Arbeiterbewegung. Dieser intermediären Rolle des Korparatismus
als einer weder gegen das Lohnsystem gerichteten noch lediglich innerhalb des
Lohnsystems verbleibenden sozialen Grundhaltung wird die von einer abstrakten
Einheit der Arbeiterklasse ausgehende marxistische Gewerkschaftskritik nicht
gerecht.
Werden andererseits traditionelle, längerfristig bestehende soziale "Besitz-
stände", auf deren Grundlage Gruppen und Schichten der Arbeiterklasse ihre
soziale Identität aufbauen konnten, durch Krisen, Rationalisierung oder neue Tech-
nologien gefährdet, so kann gerade aus der "konservativen" Mentalität dieser
Gruppen ein Widerstandspotential entstehen, das über das Niveau eines nur "ge-
werkschaftlichen" Bewußtseins weit hinausgeht und antikapitalistische Dimen-
sionen annimmt. Als Beispiele aus jüngster Zeit für eine solche Situation können
vielleicht die militanten Aktionen der Arbeiter im Jahre 1978 in den (bisher poli-
tisch stark konservativ geprägten) lothringischen Stahlrevieren gegen die von der
Regierung geplanten Stillegungen (Sozialistisches Büro Saarbrücken 1979) oder
auch die Kämpfe gegen die Einführung elektronischer Satzherstellung in der Druck-
industrie gelten.
Dieser Antikapitalismus der Arbeiterklasse ist seinem Wesen nach jedoch kon-
servativ: Er zielt nicht auf die Durchsetzung eigener Vorstellungen, Ideale und Uto-
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 165

pien, sondern wendet sich gegen die Zerstörung bestehender Lebenszusammenhänge


durch das Kapital. Er ist primär durch Sicherheitsbedürfnisse bestimmt. Aber ist
nicht die sozialistische Idee von einer Übernahme der Produktionsmittel durch die
Arbeiter selbst, soweit sie in der Arbeiterschaft tatsächliche Resonanz fand (im
Gegensatz zu den leninistischen Vorstellungen über die Funktionen des Sozialismus
für die Produktivkraftentwicklung) in diesem Sinne von Anfang an, seit der Zerstö-
rung der handwerklichen Einheit von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit
durch das sich entwickelnde industrielle Kapital im 19. Jahrhundert, konservativ
gewesen?

Automation und Warencharakter der Arbeitskraft

Wenn die Arbeitskraft bis heute auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern
in durchaus unterschiedlichem Grade "Waren"charakter hat, so ist dies nicht allein
auf die Durchsetzung gewerkschaftlicher Strategien der Arbeitsplatzkontrolle zu-
rückzuführen. Die Unterschiede in der Warenförmigkeit der Arbeitskraft entspre-
chen vielmehr Differenzierungen in der organischen Zusammensetzung des Kapitals
selbst, die ihrerseits komplementäre Differenzierungen in den Unternehmerischen
Strategien des Arbeitskräfteeinsatzes bedingen. Die These der Theorien der "reellen
Subsumtion" der Arbeit unter das Kapital, vertreten insbesondere durch H. Braver-
man (1977) geht nun dahin, da~ die kapitalistische Akkumulation die Abhängig-
keit des Produktionsablaufs von synthetischen Leistungen der lebendigen Arbeit
immer vollständiger aufhebe. Als Folge ergebe sich einerseits eine wachsende Homo-
genität der lebendigen Arbeit, eine Auslöschung der Differenzierungen nicht nur
zwischen verschiedenen Arten der körperlichen Arbeit, sondern auch zwischen kör-
perlicher und geistiger Arbeit, andererseits eine wachsende Disponibilität, Ver-
schiebbarkeit und "Entbehrlichkeit" der Arbeitskraft: So, wie die Arbeitskraft von
den Produktionsmitteln getrennt ist, muß auch das Kapital sich von der Arbeit
distanzieren, seine faktische materielle Abhängigkeit von der lebendigen Arbeit
aufheben. Die vollständige Herausbildung des Warencharakters der Arbeitskraft
erscheint nur als notwendiges, durch gewerkschaftliche Aktionen zwar zu verzö-
gerndes, nicht aber prinzipiell aufzuhaltendes Ergebnis dieser Entwicklung.
Die Thesen Bravermans scheinen eine Stütze in den Ergebnissen der industrie-
soziologischen Forschung in Bundesrepublik über die Konsequenzen der Automa-
tion für Qualifikation und Arbeitsorganisation zu finden; einige dieser Ergebnisse
sollen hier nur kurz resümiert werden:

a) Eine Reihe von Untersuchungen (Baethge 1978; Brandt et. al. 1978) hat die
These bestätigt, daß der Prozeß der Polarisierung von Qualifikationsanforderungen
sich als Folge des EDV-Einsatzes und der damit verbundenen Verwertungsstrate-
gien fortsetzt. Während auf der einen Seite neue, qualifizierte Tätigkeiten entste-
hen, werden auf der anderen Seite die "mittleren" Qualifikationen (bekannt sind
die Sachbearbeiter im Büro) in großer Zahl entwertet und auf den Status einfacher,
166 Christoph Deutschmann

an- und ungelernter Arbeiten herabgedrückt. Zudem reproduziert sich der Prozeß
der Polarisierung wiederum bei den neu entstandenen qualifizierten Tätigkeiten
(etwa indem Reparatur- und Instandhaltungsarbeiten standardisiert und routinisiert
werden). Insgesamt überwiegt somit die Tendenz zur Dequalifizierung, die zur ver-
stärkten Austauschbarkeit der Arbeitskraft führen muß.
b) Nicht nur die unqualifizierten, sondern auch die qualifizierten Tätigkeiten wer-
den von einem Prozeß erfaßt, den eine Projektgruppe am Institut für Sozialfor-
schung in Frankfurt (Brandt et. al. 1979) als "Abstraktifizierung" der Arbeit be-
zeichnet hat. Gemeint ist damit, daß Tätigkeiten unabhängig von ihrem Qualifika-
tionsgrad prozeßunspezifisch werden. Die Beziehung des Beschäftigten zum kon-
kreten Material und Produkt seiner Tätigkeit geht mehr und mehr verloren, bzw.
wird nur mehr in Ausnahmesituationen, bei Störungen des Produktionsablauf ak-
tualisiert. Die Folge ist eine größere Austauschbarkeit auch qualifizierterer Ar-
beitskräfte:

"In diesem Sinn sind etwa die Qualifikationen eines qualifizierten Systemanalytikers, der über
ein allgemeines, auf die universelle EDV-Technologie bezogenes Systemwissen verfügt, im Ver-
hältnis zur Eigenart des Arbeitsprozesses, in den die EDV eingesetzt wird, ebenso abstrakt wie
die unspezifische Fähigkeit eines angelernten Arbeiters, auf ganz bestimmte und normierte Zei-
chen aufmerksam achten und unverzüglich reagieren zu können" (Brandt et al 1979; 393).

Aus diesem Grunde entwickeln, wie bereits Kern/Schumann festgestellt haben, auch
die qualifizierten Automationsarbeiter kein beruflich geprägtes Expertenbewußt-
sein. Anders als die Fähigkeiten des klassischen Facharbeiters sind die der Automa-
tionsarbeiter zu einem großen Teil durch betriebliche Qualifizierungsprozesse
erworben, was ein stärkeres Abhängigkeitsverhältnis vom Betrieb und das bei ihnen
weit verbreitete Gefühl der Austauschbarkeit der eigenen Arbeitskraft, begründet
(Kern und Schumann 1977; 245 und 251).
c) Die Autonomie der Individualleistung geht mit wachsendem Mechanisierungs-
grad verloren; in automatisierten Produktionsprozessen wird sie noch weiter redu-
ziert. Das ist eine Folge der Versachlichung der Arbeitsorganisation, der Ersetzung
persönlicher durch anonyme, im Ablauf der Maschinerie selbst verkörperte Lei-
stungskontrollen und zum anderen der zunehmenden Interdependenzen der Einzel-
arbeiten. Gegenüber der Einzelleistung wird der funktionelle Zusammenhang der
Teilarbeiten für die Effektivität des Produktionsprozesses immer wichtiger. Im
Bewußtsein der Automationsarbeiter schlägt sich das so nieder, daß die "verschie-
denen Tätigkeiten in ihrer Bedeutung für den Betrieb (als) mehr oder weniger
gleichwertig betrachtet" (Brandt et al. 1979; 397) werden.
Aus allen diesen, hier nur kurz skizzierten Befunden scheint sich die These von
der zunehmenden Homogenität des Arbeitsmarktes, der zunehmenden Austausch-
barkeit, Mobilität und Disponibilität und somit der zunehmenden "Warenförmig-
keit" der Arbeitskraft unwiderleglich zu ergeben. Zugleich werden daraus pessi-
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 167

mistische Prognosen für die Zukunft der Gewerkschaften abgeleitet. Nicht nur wird
mit der konkreten, beruflich geprägten manuellen Arbeit die traditionelle Basis
gewerkschaftlicher Organisationsmacht untergraben; die automationsbedingten
Freisetzungen lebendiger Arbeit begünstigen darüberhinaus die Expansion eines
durch niedrige Löhne, unqualifizierte Tätigkeiten und automatisierte Arbeitssitua-
tionen charakterisierten "Dienstleitungssektors", der einen immer größeren Teil des
gesellschaftlichen Arbeitspotentials auf sich konzentriert, gewerkschaftlichem
Einfluß jedoch nur sehr schwer zugänglich ist. Diese Entwicklung ist in den USA,
wo die Produktionsarbeiter nur mehr ein Drittel der abhängig Beschäftigten aus-
machen, erheblich weiter fortgeschritten als in der Bundesrepublik; Galbraith etwa
sieht hier schon ein "Ende der Gewerkschaften" voraus.
So folgerichtig und überzeugend die an der Marxschen These der "reellen Sub-
sumtion der Arbeit" unter das Kapital anknüpfenden Interpretationen der kapita-
listischen Entwicklung erscheinen, sie bleiben dennoch in einem zentralen Punkt
kurzschlüssig, den die moderne Arbeitsmarktforschung aufgedeckt hat. Die neuen
Forschungen über die Entwicklungstendenzen der Arbeitsmarktsegmentierung (vgl.
Cain 1976; Sengenherger 1975 und 1978) haben zu der Einsicht geführt, daß der
zweifellos festzustellende Bedeutungsverlust berufsfachlicher Teilarbeitsmärkte
nicht notwendigerweise zu einer stärkeren Homogenisierung des Arbeitsmarktes
führt. Sowohl auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes wir-
ken vielmehr starke Kräfte und Interessen, die auf die Etablierung neuer Segmentie-
rungslinien hinarbeiten, welche mit den Konzepten des "internen Arbeitsmarktes"
oder der "betriebszentrierten Arbeitsmarktsegmentierung" umschrieben werden.
An der Stelle des Berufes bildet sich der Betrieb als ein Bereich heraus, in dem die
Beschäftigten nur eingeschränkt den Allokationsregeln des Marktes unterworfen
sind, der Warencharakter der Arbeitskraft also nur beschränkt gegeben ist. Empiri-
sche Arbeiten haben gezeigt, daß die betriebszentrierte Arbeitsmarktsegmentierung
gerade in jenen Branchen am stärksten ausgeprägt ist, die sich durch ein hohes Ni-
veau der Kapitalintensität, der Prozeßtechnologie und durch einen hohen Automa-
tisierungsgrad, mithin durch den am weitesten fortgeschrittenen Stand der "reellen
Subsumtion der Arbeit unter das Kapital" auszeichnen; so etwa die chemische In-
dustrie, die Eisen- und Stahlindustrie, die Energiewirtschaft und die Papierindustrie.
Anders als in den weniger mechanisierten Branchen, wie z. B. in der Metallindustrie,
sind hier nicht nur die "Stammbelegschaften", sondern mehr oder weniger die ge-
samten Belegschaften in die von Management und Betriebsräten verfolgte Politik
der Personalstabilisierung einbezogen (Schultz-Wild 1978; 59, 60). Auch wenn die
spezifischen Arbeitsmarktbedingungen in diesen Branchen bis heute sicherlich noch
nicht als repräsentativ für die Industrie oder gar die gesamte Wirtschaft gelten kön-
nen, muß bedacht werden, daß die gegenwärtige "industrielle Revolution" im Be-
reich der Mikroelektronik in weiten, bisher als automations-resistent geltenden Be-
reichen der Fertigung, der Montage und des Dienstleistungssektors ungeahnte und
noch gar nicht absehbare Automatisierungsmöglichkeiten eröffnet. Die Arbeits-
168 Christoph Deutschmann

platz- und Kostenstruktur des automatisierten Betriebes könnte im Zuge dieser Ent-
wicklung für immer weitere Bereiche der Wirtschaft bestimmend werden.
Bedeutsam an dem Konzept der betriebszentrierten Arbeitsmarktsegmentierung
scheint uns vor allem zu sein, daß es den doppelgesichtigen Charakter des Prozesses
der "reellen Subsumtion" der Arbeit sichtbar macht: Die Trennung der lebendigen
Arbeit vom Kapital, ihre Abstraktifizierung, Mobilisierung und Flexibilisierung
stellt sich zugleich als ein Prozeß ihrer Inkorporation in das Kapital, ihrer Fixierung
und Immobilisierung dar. Der Warencharakter der Arbeitskraft wird uno actu ak-
zentuiert und untergraben. Das läßt sich von zwei Seiten her deutlich machen:
Zum einen an den Veränderungen der Qualifikationsstruktur, zum anderen an den
Veränderungen der produktionsökonomischen Bedingungen des Arbeitskräfteein-
satzes.
Eine Hauptursache der Absonderung interner Arbeitsmärkte besteht, wie Lutz
und Sengenherger im Anschluß an die US-amerikanische Literatur über die "internal
markets" (Kerr, Dunlop, Doeringer, Priore, Thurow u. a.) dargelegt haben, zunächst
darin, daß der Schwerpunkt von Qualifizierungsprozessen sich unter Bedingungen
fortschreitender technologischer Entwicklung immer mehr von der fachlichen und
außerbetrieblichen auf die betriebliche Ebene verlagert. Der sich ständig beschleuni-
gende Wandel und die Komplexität der Produktionstechnik führen dazu, daß die
Betriebe die benötigten Qualifikationen immer weniger auf dem allgemeinen Ar-
beitsmarkt bzw. den national ohnehin sehr unterschiedlich institutionalisierten
fachlichen Teilarbeitsmärkten vorfinden; ein wachsender Teil des qualifizierten Per-
sonals muß daher, teils mit hohen Kosten, im Betrieb ausgebildet werden. Als Folge
dieser Entwicklung kann das überkommene neoklassische "Humankapital"-Kon-
zept, das die einzelne Arbeitskraft als Träger und Anbieter von Qualifikationen
behandelt, weniger denn je als haltbar gelten. Qualifikationen sind nicht mehr an
Subjekte, sondern an Arbeitsplätze gebunden; die Qualifikationsstruktur der Ar-
beitskräfte ist nicht länger ein den Unternehmen extern vorgegebenes Marktdatum,
sondern wird zu einem "Aktionsparameter" des Managements. Angebots- und
Nachfragefunktionen auf dem Arbeitsmarkt verlaufen damit aber, wie Thurow
(1975) gezeigt hat, r:icht mehr unabhängig voneinander; das den tatsächlichen Er-
fordernissen der Produktionstechnik entsprechende Angebot muß ja erst betriebs-
intern hervorgebracht werden und wird so zu einer Funktion der Nachfrage.
Dieser Autonomiezuwachs, den das Management durch die Abkoppelung von
den externen, fachlichen Arbeitsmärkten gewinnt, hat jedoch seine Kehrseite. Je
langwieriger und kostspieliger betriebsinterne Ausbildungsprozesse werden, desto
mehr muß das Management an einer möglichst langfristigen Betriebsbindung der
Beschäftigten interessiert sein. Es entsteht ein ökonomischer Zwang zur Ver-
wertung des in die Ausbildung von Arbeitskräften investierten und damit festge-
legten Kapitals, dem nur durch möglichst weitreichende Einschränkung der Fluk-
tuation Genüge getan werden kann. Die Arbeitskraft wird damit, ganz ähnlich wie
Maschinen und Anlagen, gleichsam zu einem Bestandteil des fixen Kapitals. Darauf
hat schon Friedrich Pollock hingewiesen:
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 169

"Es ist richtig, daß ein Betrieb, in dem die automatische Produktionsweise weitgehend durchge-
führt ist, nicht annähernd dieselbe Freiheit besitzt, sich an Absatzrückgänge durch Arbeiter-
entlassungen anzupassen, wie eine Firma, bei der die Lohn- und Gehaltskosten einen sehr
großen Teil der Produktionskosten ausmachen. Nicht nur fallen beim automatisierten Betrieb
diese Ausgaben weniger ins Gewicht, nicht nur wird der größte Teil der Arbeitskräfte für die
Wartung und Reparatur der Maschinen oder die weitere Ausgestaltung des Produktionsprozesses
und der Produkte auch dann gebraucht, wenn die Produktionskapazität nur zu einem Bruchteil
ausgenutzt wird, sondern viele Arbeitskräfte stellen im Gegensatz zu den früheren Verhältnissen
eine Art Investierung dar. Sie sind teilweise mit großen Kosten ausgebildet worden und, wenn
man sie bei Zeiten schlechten Geschäftsganges entläßt (sofern das im Hinblick auf bestehende
Tarifverträge überhaupt möglich ist), dann kann das bei Wiederaufnahme der Produktion zu den
größten Schwierigkeiten führen. Man hat daraus die Konsequenzen gezogen, daß es bei einem
automatisierten Betrieb notwendig ist, einen großen Teil der Lohnausgaben als "fixe Kosten"
zu betrachten und deshalb die Kalkulationsmethoden von Grund auf zu verändern" (Pollock
1964; 239).

Der Autonomiegewinn, den der einzelne Betrieb durch die Inkorporierung von
Qualifizierungsprozessen erzielt, stellt sich so zugleich als ein Autonomieverlust,
als ein Verlust von Dispositionsfreiheit über den Faktor Arbeitskraft dar. Dieser
Autonomieverlust ist nicht allein in veränderten Qualifikationsbedingungen und
(grundsätzlich auch reversiblen) personalpolitischen Strategien des Managements,
sondern auch in einer Verschiebung produktionsökonomischer Strukturen begrün-
det. Nicht nur die Beschäftigung bestimmter Arbeitskräfte, sondern die Arbeits-
plätze selbst werden im Gefolge dieser Strukturveränderungen dem Einfluß markt-
ökonomischer Kalküle und unmittelbarer Kostenrechnungen mehr und mehr ent-
zogen. Mit fortschreitender Automatisierung wird die lebendige Arbeit (soweit sie
nicht ohnehin von vornherein, wie in der chemischen Industrie, in die Prozesse
selbst kaum involviert war) mehr und mehr aus prozeßgebundenen Funktionen
verdrängt. Ihr Einsatz konzentriert sich zunehmend auf die dem eigentlichen Pro-
duktionsprozeß vor- und nachgelagerten Aufgaben wie Produktionsvorbereitung,
Wartung, Überwachung, Kontrolle, wobei auch diese Funktionen wiederum be-
trächtliche Automatisierungspotentiale enthalten können. Alle diese Aufgaben
fallen aber mehr oder weniger unabhängig vom Grad der Kapazitätsauslastung an.
Die Gefährdung der Arbeitsplätze, die von Schwankungen der Nachfrage und der
Kapazitätsauslastung unter traditionellen, arbeitsintensiven oder teilmechanisierten
Produktionsbedingungen ausgeht, ist damit weitgehend aufgehoben: Schon aus
technologischen Gründen werden die Personalkosten, die allerdings nur mehr einen
sehr kleinen Teil der Gesamtkosten ausmachen, ebenso wie die Anlagekosten größ-
tenteils zu fixen Kosten. Größere Einschnitte in die Personalkosten sind allenfalls
mittel- und langfristig, im Zuge der Beseitigung noch vorhandener Rationalisierungs-
lücken möglich. Die Lohnkosten verlieren ihr bestimmendes Gewicht für personal-
politische Entscheidungen des Managements; wichtiger werden Gesichtspunkte der
Kontinuität und der zeitökonomischen Optimierung des Produktionsablaufs. Die
von Sohn-Rethel (1971) beschriebene Gewichtsverschiebung von marktökonomi-
schen hin zu produktionsökonomischen Regulativen wirkt sich so auch auf die Ein-
satzbedingungen der lebendigen Arbeit aus.
170 Cbristopb Deutschmann

Der Entkoppelung des Arbeitskräfteeinsatzes von marktökonomischen Regulati-


ven entspricht die Aufhebung marktökonomischer Regulative des Lohnes. Das gilt
zum einen für den Marktmechanismus als Form der Lohnregulierung. Die Ausschal-
tung der Lohnkonkurrenz auf den internen Arbeitsmärkten und folglich auch zwi-
schen internem und externem Arbeitsmarkt bildet, wie Thurow dargelegt hat, eine
der Hauptbedingungen der Produktivität des modernen Betriebes, ohne die ein
funktionierendes innerbetriebliches Ausbildungssystem auch gar nicht denkbar
wäre. Thurow fügt damit der bekannten "institutionalistischen" Kritik an der
neoklassischen Lohntheorie (Taylor und Pierson 1957; Külp 1965) nur ein weiteres
gewichtiges Argument hinzu. Weiterhin setzt die Automation die individuelle
Arbeitsleistung als wichtigste inhaltliche Determinante einer marktmäßigen Lohn-
bestimmung außer Kraft. Da das Produktionsergebnis in keinerlei sinnvolle Bezie-
hung zur Einzelleistung mehr gebracht werden kann, entfallen die Anwendungsbe-
dingungen der - von ihrem sachlichen Inhalt ohnehin schon immer problemati-
schen - "kausalen" Lohnbestimmung, also der Lohnbestimmung nach der indivi-
duellen Arbeitsleistungaufgrund objektivierender Leistungsmeßverfahren:

"As industry becomes more automatic, ... the tendency will grow to recognize the cooperati-
ve and interrelated character of every man's contribution to production, rather than metici-
ously to isolate and pay for segments of individual effort. In fact as the trend toward auto-
matic machinery advances it may be said that the distinction between direct or productive
Iabor and indirect or non-productive Iabor tends to loose its old significance. Alllabor becomes
concemed with the uninterrupted maintenance of a high production rate" (Walker 1957; 143).

Diese Problematik ist bekanntlich schon seit Ende der fünfziger Jahre unter dem
Stichwort der "Krise der Leistungsentlohnung" (Lutz 1975; Schmiede und Schud-
lich 1976; Offe 1970) diskutiert worden. Auch wenn "leistungsabhängige" Lohn-
bestandteile wie z. B. Prämien oder Ertragsbeteiligungen auch heute noch in auto-
matisierten Betrieben weiterbestehen, so ändert das nichts daran, daß ihre Natur
sich grundlegend gewandelt hat. Es handelt sich hier, wie K. Reisch es formuliert,
um Lohnbestimmungsprinzipien "finaler" Art, bei denen auch der Schein einer
Beziehung zwischen Lohnhöhe und individuellem Produktionsergebnis hinfällig
wird; vielmehr tritt ausschließlich die ideologische Funktion des Lohnes als "Moti-
vationsmittel" in den Vordergrund.

"In automatisierten Betrieben scheint die finale Lohnfindung immer aktueller zu werden.
Eine Ursache hierfür dürfte in den wachsenden Unsicherheiten der kausalen Lohnbegründung
liegen. Bedeutsamer erscheint jedoch die Tatsache, daß eine ertragsbezogene Entlohnung ein
geeignetes Mittel darstellt, eine kooperative Einstellung der betrieblichen Mitarbeit zur Be-
triebsleitung und den Unternehmungszielen zu wecken und zu fördern. Gerade in automati·
sierten Betrieben kommt es weniger darauf an, daß der einzelne Mitarbeiter Höchstleistungen
erbringt, als daß der gesamte Produktionsablauf kontinuierlich aufrechterhalten bleibt. Voraus·
setzung dafür ist ein Abstimmen der einzelnen Arbeitsleistungen auf ein überzeugend vorgege-
benes Unternehmensziel" (Reisch 1972; 172).
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 171

Der Lohnfonds in automatisierten Industrien ist nicht mehr als Summe von Entgel-
ten für Einzelleistungen ableitbar. Der einzelne Beschäftigte in automatisierten In-
dustrien bezieht keinen "Lohn" mehr, sondern nur mehr einen bestimmten Anteil
aus einem kollektiven betrieblichen Reproduktionsfonds. Damit werden nicht mehr
die Prämissen des traditionellen, auf dem Prinzip der Äquivalenz von individuellem
Lohn und Leistung basierenden Lohnbegriffs der bürgerlichen Betriebswirtschafts-
lehre hinfällig; die Grundlagen der Lohnform selbst werden vielmehr an einem zen-
tralen Punkt in Frage gestellt. Der Marx'schen Lohntheorie zufolge wird der Lohn
durch den zur Reproduktion der Arbeitskraft (unter den gegebenen historischen
und kulturellen Umständen) notwendigen Aufwand an gesellschaftlich notwendiger
Arbeit bestimmt. Diese Bestimmung gewinnt einen präziseren Sinn nur dann,
wenn sie mit einer Aussage über das Quantum des gesellschaftlichen Arbeitsvermö-
gens verbunden wird, dessen Reproduktion als "gesellschaftlich notwendig" gilt.
"Gesellschaftlich notwendig" im Sinne des kapitalistischen Prinzips formaler öko-
nomischer Rationalität ist nur die Reproduktion derjenigen Individuen, deren Ar-
beitskraft sich auch tatsächlich im Produktionsprozeß verwertet; die Sicherung des
Lebensunterhalts nicht arbeitsfähiger und auch nicht indirekt zur Produktion bei-
tragender Personen (dauerhaft Arbeitslose, Rentner u. a.) ist dem strikten Sinn
dieses Prinzips nach irrational. In dieser Funktionalisierung der Reproduktion
durch den Verwertungsprozeß besteht ja, wie wir oben schon hervorgehoben haben,
das Charakteristikum einer auf der Lohnarbeit begründeten Gesellschaft im Gegen-
satz zu bedarfswirtschaftlich organisierten Systemen; sie impliziert zugleich die Not-
wendigkeit einer klaren Scheidung zwischen "produktiven", d. h. zum Verwer-
tungsprozeß beitragenden Arbeitern und "unproduktiven" Personen.
Wie läßt sich dieses Volumen an "notwendiger", produktiver Arbeit (ohne
dessen Definition der Lohnbegriff seinen bestimmten Inhalt verlöre) genauer be-
stimmen? Solange der Produktionsprozeß noch durch die lebendige Arbeit be-
herrscht wird, läßt sich dieses Problem (wenn zwar nicht empirisch, so aber doch zu-
mindest theoretisch) leicht lösen: Da der Beitrag jedes einzelnen Arbeiters zum
Verwertungsprozeß noch durchsichtig und die Individualleistung in direktem Zu-
sammenhang zur Höhe des outputs steht, bestehen auch direkte Zusammenhänge
zwischen dem Niveau des gesellschaftlich notwendigen - d. h. verwertungsopti-
malen - Produktionsvolumens und dem Volumen lebendiger Arbeit, folglich
(bei gegebenen individuellen Lohnsätzen) auch dem Umfang des gesellschaftlich
notwendigen Reproduktionsfonds; das Problem des "notwendigen" Arbeitsvolu-
mens läßt sich dann theoretisch durch eine einfache Optimierungsrechnung nach
dem Vorbild der Grenzproduktivitätstheorie lösen. Mit wachsender Mechanisierung,
vor allem aber mit der Automatisierung, wird die lebendige Arbeit jedoch, wie
wir oben ausgeführt haben, mehr und mehr zu einem "fixen" Faktor, ähnlich dem
fixen Kapital. Damit gehen die beschriebenen Zusammenhänge verloren; der
Umfang des gesellschaftlich notwendigen Volumens an gesellschaftlich notwendiger
Arbeit läßt sich nicht mehr vom Produktionsvolumen her bestimmen. Ein bestimm-
ter, festgelegter Personaleinsatz ist ebenso für hohe wie für niedrige Niveaus von
172 Cbristopb Deutschmann

Produktion und Kapazitätsauslastung erforderlich; das gleiche gilt für den zur Re-
produktion dieser Arbeitskräfte erforderlichen Lohnfonds. Damit verliert aber der
"Lohn" nicht nur der akademischen, sondern auch der Marxschen Theorie seine
Konturen. Wenn der Aufwand zur Reproduktion eines Arbeiters "gesellschaftlich
notwendig" sein soll, so nur dann, wenn dessen Arbeitskraft selbst "produktiv"
eingesetzt wird, d. h. einen quantifizierbaren Beitrag zum Verwertungsprozeß
leistet. Diese eng begrenzten Kriterien der Reproduktion treten aber in automati-
sierten Betrieben mehr und mehr in den Hintergrund; statt der individuellen Ar-
beitsleistung wird mehr und mehr die bloße "Betriebszugehörigkeit" zur Basis des
Lohnanspruchs. Der Lohn nähert sich dem Charakter einer an die Betriebszugehö-
rigkeit gebundenen Unterhaltszahlung an; Sengenherger verweist auf amerikanische
Untersuchungen, die in diesem Zusammenhang wohl nicht zufällig den Ausdruck
"Industrial Feudalism" (Ross 1958) gebrauchen.
Wir hatten oben das Streben nach Einschränkung des Warencharakters der
Arbeitskraft, nach sozialer Existenzsicherung als eines der Hauptelemente des
gewerkschaftlichen Konservativismus definiert. Wir können nun feststellen, daß die
kapitalistische Entwicklung mit fortschreitender Automatisierung keineswegs nur,
wie in marxistischen Entwicklungstheorien unterstellt, zu einer Zerstörung des ge-
werkschaftlichen Konservativismus führt; im Gegenteilläßt sie mit der ihr inhären-
ten Tendenz zur Einverleibung der lebendigen Arbeit in das fixe Kapital neue und
mächtige Grundlagen für ihn entstehen. Zu beobachten ist allerdings ein Struktur-
wandel dieses Konservativismus von fachlichen zu betrieblichen Organisationsprin-
zipien, von der "Facharbeiter"- zur "Betriebsgewerkschaft", einer Gewerkschafts-
struktur, die ihre Basis nicht mehr in fachlichen, sondern in betriebsinternen Teil-
arbeitsmärkten findet. Eine solche Tendenz zur "Betriebsgewerkschaft", d. h. zu
einer zunehmenden Verfestigung und Autonomisierung betrieblicher gegenüber
überbetrieblicher Repräsentationsstrukturen, läßt sich heute überall in den Groß-
betrieben der Chemie, der Erdöl- und Nahrungsmittelindustrie, also der durch
hohen Automatisierungsgrad und Prozeßtechnologie charakterisierten Branchen
beobachten. Der hier entstehende "neue" Konservativismus ist in mancher Hinsicht
noch ausgeprägter als der alte, da er seine Grundlage nicht mehr in der (durch
neue Technologien stets gefährdeten) subjektiven Qualifikation, sondern in der
objektiven Existenz des Betriebes und in langjähriger "Betriebszugehörigkeit"
findet. Die betriebszentrierte Arbeitsmarktsegmentierung bildet hier zugleich die
materielle Grundlage für die Entstehung fest institutionalisierter kooperativer Be-
ziehungen zwischen der Belegschaftsvertretung und dem Management. Darin wird
eine spezifische Komplementarität der Interessen sichtbar: Das Interesse der Beleg-
schaften an sozialer Sicherheit ergänzt sich mit dem des Managements an einer
möglichst weitgehenden Vermeidung von Konflikten und Störungen des Produk-
tionsablaufs, die sich bei automatisierten Anlagen so empfindlich auf die Rentabili-
tät des Betriebes auswirken ..
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 173

Schlußfolgerungen

Unsere Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß die Vorstellung von einer
linearen Durchsetzung und Verallgemeinerung des Warencharakters der Arbeits-
kraft, die als Hintergrund marxistischer Theorien der kapitalistischen Entwicklung
und des Klassenbewußtseins der Arbeiterschaft, aber auch der neoklassischen
Gleichgewichtstheorie, eine wichtige Rolle spielt, als irreal bezeichnet werden muß.
Die Arbeitskraft kann zwar so behandelt werden, als ob sie eine Ware sei, kann es
realiter jedoch niemals vollständig werden. 4 Wir haben dies zunächst aus den in
härenten Chrakteristika des lebendigen Arbeitsvermögens, der Nicht-Trennbarkeit
von Ware und Person, die zugleich die Grundlage gewerkschaftlicher Organisations-
macht bildet, zu begründen versucht. Weiterhin haben wir in Anknüpfung an
die Ergebnisse der neueren Arbeitsmarktforschung zu zeigen versucht, daß der kapi-
talistische Akkumulationsprozeß, gerade indem er zu einer fortschreiten Abstrakti-
fizierung der Arbeit führt, zugleich Gegentendenzen gegen die Mobilisierung und
Flexibilisierung des Arbeitskräfteeinsatzes entstehen läßt, die sich in der zuneh-
menden Kristallisierung betriebsinterner "Arbeitsmärkte" in automatisierten Be-
trieben, in dem zunehmenden Funktionsverlust marktökonomischer Regulative des
Personaleinsatzes in diesen Betrieben niederschlagen. Im Gegensatz zu den tradi-
tionellen, berufsspezifischen Formen der "Fixierung" der Arbeitskraft lassen sich
diese Formen der Arbeitsplatzstrukturierung nicht mehr zureichend aus den subjek-
tiven Qualifikationen, aus dem für den Unternehmer nicht leicht ersetzbaren und
teils mit hohen Kosten erst erzeugten Wissen und Können des einzelnen Arbeiters
erklären, sondern sind (zumindest für große Beschäftigtengruppen) in der Funk-
tionsweise der automatisierten Produktionsaggregate selbst begründet. Hieraus folgt
aber, daß eine adäquate Theorie kapitalistischer Entwicklung die Grenzen des
Warenchrakters der Arbeitskraft nicht nur residual, als bloßes anachronistisches
Relikt oder als "Störung" des Gleichgewichts behandeln kann: Sie müssen vielmehr
systematisch in die Theorie mit aufgenommen werden. Die Konsequenzen, die sich
daraus ergeben, betreffen freilich nicht nur die Funktionsweise des Arbeitsmarktes,
den möglichen Wirkungsgrad arbeitsmarktpolitischer Eingriffe der Regierungen oder
die Struktur der Gewerkschaften. Die neoklassische Arbeitsmarkttheorie, die den
Gegenstand der Kritik der neueren Arbeitsmarktforschung bildet, ist ein integraler
Bestandteil einer allgemeinen Gleichgewichtstheorie, die sich auf die Funktions-

4 Am Beispiel der niedrig qualifizierten Frauenarbeit, d. h. denjenigen Arbeitsmärkten, die in


ihrer Struktur in vieler Hinsicht dem Idealbild des Warencharakters der Arbeitskraft am
nächsten kommen, kann gezeigt werden, daß derartige Formen der Verausgabung der Ar-
beitskraft nur vor dem Hintergrund anderweitiger, nicht durch Lohnarbeit begründeter
Existenzsicherung (in diesem Fall durch die Arbeit des Ehemanns im Rahmen der Familie)
möglich sind. Die Frauen betrachten die Arbeit nicht als Lebensschicksal, sondem als
zeitlich begrenzte, durch außergewöhnliche finanzielle Aufwendungen für Haushaltsgrün-
dung, Hausbau u. a. bedingte Ausnahmesituation (Eckart et al. 1979). Ähnliches gilt vermut-
licht für große Teile der Arbeitsemigranten, für die Perspektive des Aufbaus einer selbstän-
digen Existenz im Heimadand den Fluchtpunkt ihrer Lebensplanung bildet.
174 Cbristoph Deutschmann

weise des Marktsystems als Ganzes bezieht; wird jene hinfällig, so wird damit die
Theorie insgesamt in Frage gestellt. Die Folgen, die die nicht marktförmige Alloka-
tion und Reproduktion der Arbeitskraft in wichtigen Teilbereichen der Wirtschaft
für den Funktionsmechanismus des kapitalistischen Systems als Ganzes hat, sind
bisher kaum diskutiert und erforscht worden.
Die "Fixierung" von Arbeitsplätzen gegen Umsatz-, Produktions- und Rentabi-
litätsschwankungen impliziert, daß der Lohn sich nicht mehr aus dem spezifischen
Beitrag des einzelnen Arbeiters zum Produktergebnis bzw. zur Produktion des rela-
tiven Mehrwerts ergibt; der Arbeitsplatz per se wird zu einem "Titel" auf Einkom-
men. Damit wird aber die Durchgängigkeit des Modells formaler Rationalität an
einem zentralen Punkt in Frage gestellt. Die formale Rationalität ist systematisch
mit Elementen materialer Rationalität durchsetzt; der kapitalistische Akkumula-
tionsprozeß enthält Elemente einer latenten "Bedarfswirtschaft", die keineswegs
bloßes Relikt vorkapitalistischer Produktionsweisen sind, sondern mit dem Fort-
schritt der kapitalistischen Produktionsweise auf stets wachsender Stufe reprodu-
ziert werden, und von der nicht nur die kapitalistischen Rentiers, sondern auch Tei-
le der Arbeiterschaft profitieren. Die Frage, ob diese bedarfswirtschaftlichen Sub-
systeme sich relativ zu dem Akkumulationsprozeß, in den sie eingebettet sind, aus-
dehnen und ihn möglicherweise schließlich insgesamt zu durchdringen und zu pa-
ralysieren tendieren, oder ob sie relativ zu ihm zurückgehen, dürfte wohl als eine
der zentralen Fragen einer Theorie des zeitgenössischen Kapitalismus gelten.
Bei der Untersuchung dieser Frage werden nicht nur die aktuellen von der Mi-
kroelektronik ausgehenden Tendenzen zur Automatisierung scheinbar automations-
resistenter Fertigungsprozess in der Metallverarbeitung sowie weiter Bereiche des
Büro- und Dienstleistungssektors und ihre Konsequenzen für die Arbeitssituation
und die Arbeitsplatzstruktur in Rechnung gestellt werden müssen. Als wichtiger
Faktor wird hier auch das Handeln der Gewerkschaften gelten müssen. Dabei wird
nun eine eigentümliche Ambivalenz des gewerkschaftlichen Verhaltens sichtbar.
Faktisch bildet es eine der wesentlichen Kräfte, die auf eine Ausdehnung oder zu-
mindest Stabilisierung der bedarfswirtschaftlichen Enklaven innerhalb des kapita-
listischen Systems hinwirken. Ganz offensichtlich wird dies bei den verschiedenen
Praktiken der Politik des "Featherbedding", d. h. der Aufrechterhaltung technolo-
gisch obsolet gewordener Arbeitsplätze, oder bei der "Sanierung" unrentabler Be-
triebe mit Staatshilfe, um "Arbeitsplätze" zu erhalten. Überall werden hier "öko-
nomische" zugunsten sozialer Gesichtspunkte der Lohnbestimmung und der Allo-
kation von Arbeitskräften durchbrachen; der Lohn verwandelt sich tatsächlich in
eine Rente. So hartnäckig und zäh, wie die Gewerkschaften (allerdings weniger die
deutschen als die angelsächsischen) diese Politik in der Praxis verfolgen, so hart-
näckig weigern sie sich freilich, sie offen zu proklamieren und beim Namen zu
nennen. Es gehört offenbar zu den organisationsstrukturell begründeten Axiomen
gewerkschaftlichen Verhaltens, an der Rechtfertigung des Lohnes durch Leistung
und "Arbeitsplatz" auch dann festhalten zu müssen, wenn sowohl Leistung wie
"Arbeitsplatz" längst zu Fiktionen geworden sind. So kommt es zur Fortsetzung
Das konservative Moment der Gewerkschaftsbewegung 175

auch offensichtlich unsinniger Produktionsprozesse, nur weil "Arbeitsplätze"


erhalten werden müssen.
Anstelle solcher Politik wäre eine offene Kritik an dem Prinzip der individuellen
Lahn/Leistungsäquivalenz zweifellos problemadäquater. Die Forderung nach einem
gesellschaftlichen Kollektiveinkommen, nach übertragung des einzelnen automati-
sierten Betrieb ja schon praktizierten Prinzips des kollektiven Lohnfonds auf die
ganze Gesellschaft in Form eines "Grundbedarfssektors", wie ihn Gunnar-Adler-
Karlsson (1977) gefordert hat, kannangesichtsder anstehenden, von der Mikroelek-
tronik ausgehenden neuen technologischen Revolution sicherlich nicht mehr ohne
weiteres als "utopisch" abgetan werden. Denn: Läßt sich der von Walker betonte
"cooperative and interrelated character of every man's contribution to produc-
tion", die Nivellierung des Unterschiedes zwischen "productive and indirect produc-
tive Iabor" unter diesen Bedingungen überhaupt noch sinnvoll auf die Arbeitszusam-
menhänge eines einzelnen Betriebes eingrenzen? Für die Zukunft der Gewerkschaf-
ten wird jedenfalls vieles davon abhängen, wieweit sie die betriebszentrierte Arbeits-
marktsegmentierung als Grundlage ihres Handeins hinnehmen und damit vollends
zu "Verbänden von Arbeitsplatzbesitzern" degenerieren, oder ob sie auf eine nicht
betriebsspezifisch eingeschränkte Politik der Reproduktionssicherung für die gesam-
te Iohnabhängige Bevölkerung hinarbeiten. Letzteres wäre ohne tiefgreifende Ver-
änderungen des politischen Selbstverständnisses, der sozialen und organisatorischen
Struktur der Gewerkschaften allerdings wohl kaum denkbar.

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Waltber Müller-]entscb

Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter und seiner theoretischen


Auflösung im Neokorporatismus

Über Gewerkschaften zu schreiben, ist heute kaum möglich, ohne sich mit einem
verbreiteten Topos auseinanderzusetzen, der bereits im Titel oder Untertitel vieler
Bücher über die Gewerkschaften anklingt:
"Zwischen Kapitalismus und Syndikalismus" (Briefs 1952),
"Zwischen Stillstand und Bewegung" (Horne (Hg.) 1965),
"Anpassung oder Widerstand" (Papcke (Hg.) 1969),
"Ordnungsfaktor oder Gegenmacht" (Schmidt 1971),
"Zwischen Mitgliederinteressen und ökonomischen Systemzwängen" (Bergmann/
Jacobi/Müller-Jentsch 1975),
"Autonomie und Integration" (Deppe 1979). .
Diese Gegensatzpaare markieren entweder ein die gewerkschaftliche Politik be-
stimmendes Spannungsfeld oder verweisen auf eine der gewerkschaftlichen Praxis
eigentümliche Ambivalenz, die auch noch in Pirkers bekanntem Titel, "Die blinde
Macht" (1960) - als contradictio in adiecto - mitschwingt. Sofern man in der
häufigen Variation oppositioneller Begriffe nicht einfach eine Verlegenheit der
Autoren oder gar eine Insuffizienz ihres analytischen Zugriffs sehen will, lassen sich
die zitierten Titel unschwer als Paraphrasen über den "Doppelcharakter der Gewerk-
schaften" -dies ebenfalls ein Buchtitel (Zoll 1976) -begreifen.

I. Varianten des Doppelcharakters

Mit "Doppelcharakter" ist der gemeinte Topos noch nicht inhaltlich, sondern nur
formal benannt, insofern Gewerkschaften in sich Widersprüchliches, Ambivalentes,
Gegensätzliches vereinen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich erst, mit welch ver-
schiedenen Inhalten diese Sprachhülse gefüllt ist. Grob gegliedert, lassen sich drei
analytische Zugänge unterscheiden: ein marxexegetischer ein historischer und ein
makrosoziologischer.
Vom gewerkschaftlieben Doppelcharakter 179

I. 1. Lohnkampf - Klassenkampf

Beim ersten handelt es sich um Versuche, die verstreuten Äußerungen von Marx
und Engels über Gewerkschaften zu systematisieren und ihren theoretischen Ort in
der Kritik der politischen Ökonomie sowie der Revolutionstheorie zu bestimmen 1 •
Aus der Analyse der gewerkschaftlichen Rolle im kapitalistischen Verwertungszu-
sammenhang einerseits und im Prozeß revolutionärer Umwälzungen andererseits
ergibt sich der gewerkschaftliche Doppelcharakter, gewöhnlich mit den Kurzfor-
meln "Kampf im Lohnsystem" und "Kampf gegen das Lohnsystem" bezeichnet.
Die Systemimmanenz des Lohnkampfes beruht darauf, daß die Gewerkschaften
als "Preisfechter der Arbeiterklasse" ihre organisatorische Macht gegen die lohn-
drückenden Tendenzen des Kapitals einsetzen müssen, um überhaupt den vollen
Wert der Ware Arbeitskraft durchzusetzen, ohne dabei die kapitalistische Lohnform
als solche in Frage zu stellen. "In 99 von 100 Fällen", so Marx, bleiben die Anstren-
gungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse, "den Arbeitslohn zu he-
ben, bloß Anstrengungen zur Behauptung des gegebenen Werts der Arbeit" (MEW
16; 151). Wenngleich damit eine Erhöhung des Reallohns nicht ausgeschlossen wird,
schätzte Marx die ökonomischen Erfolgsmöglichkeiten der Gewerkschaften lang-
fristig als sehr begrenzt ein, bedroht vor allem durch die zyklischen Krisen der
Kapitalakkumulation 2 .
Die ökonomische Tätigkeit der Gewerkschaften hat in der Marxschen Analyse
- nach einem bekannten Wort von Rosa Luxemburg - den Charakter von "Sisy-
phusarbeit". Gleichwohl ist sie notwendig, und nicht nur, um die Reproduktion

1 Quellensammlungen der Marx-Engelsschen Auslassungen über die Gewerkschaften s. Hert-


neck (Hg.) 1928; Marx/Engels 1971. Frühe Darstellungen und Interpretationen der Marx-
schen Gewerkschaftstheorie s. Müller 1918; Auerbach 1922; Losowski 1934;jüngere s. Mül-
ler-Jentsch 1975; Zoll1976.
2 Als eine Prognose für viele: ,.Diese wenigen Andeutungen werden genügen, um zu zeigen,
daß die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten
des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muß und daß es folglich die allgemeine
Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht
zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner
Minimalgrenze zu drücken (Hervorhebung Marx) (MEW 16; 151).
Die pessimistische Einschätzung der Erfolgsmöglichkeiten des gewerkschaftlichen
Kampfes durch Marx und Engels hatte freilich ihre revolutionsstrategische Seite, wie aus
den beiden folgenden Zitaten aus dem Kommunistischen Manifest und der Engelssehen Vor-
rede von 1890 deutlich hervorgeht: ,.Die Arbeiter beginnen damit, Koalitionen gegen die
Bourgeoisie zu bilden; sie treten zusammen zur Behauptung ihres Arbeitslohns. Sie stiften
selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verprovian-
tieren. Stellenweise bricht der Kampf in Erneuten aus. Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter,
aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare
Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter" (MEW 4;
470 f.). - ,.Die Ereignisse und Wechselfälle im Kampf gegen das Kapital, die Niederla-
gen noch mehr als die Erfolge, konnten nicht umhin, den Kämpfenden die Unzulänglich-
keit ihrer bisherigen Allerweltsmittel klarzulegen und ihre Köpfe empfänglicher zu ma-
chen für eine gründliche Einsicht in die wahren Bedingungen der Arbeiteremanzipation"
(MEW 4; 585).
180 Waltber Müller-jentsch

der Lohnarbeiter zu sichern, sondern auch, um die Voraussetzungen für den "Kampf
gegen das Lohnsystem" zu schaffen. Denn als elementare Klassenorganisationen
tragen Gewerkschaften zum Konstitutionsprozeß des Proletariats als Klasse fur
sich bei; die gesellschaftlichen Verhältnisse machen sie zu "Schulen für den Sozia-
lismus" (Marx gegenüber Hamann) 3 • Reifen auf diese Weise, durch gewerkschaft-
liche Organisierung und ökonomischen Kampf, die subjektiven Voraussetzungen
revolutionärer Umwälzungen heran, so befördern die ökonomischen Krisengesetz-
lichkeiten die objektiven Voraussetzungen, so daß schließlich der Umschlag vom
ökonomischen in den politischen Kampf zugleich möglich und notwendig wird.
Mit dem Umschlag vom Lohnkampf in den Klassenkampf ist eine theoretische
Nahtstelle zwischen Kapitalismus-Analyse und Revolutionstheorie bezeichnet, aus
deren Einheit der Doppelcharakter der Gewerkschaften begründet wird. Dieser im
Kontext der Marxschen Kritik überzeugenden Verknüpfung beider Theorien ist
heute der reale Boden weitgehend entzogen; das läßt die Marxsche Bestimmung des
gewerkschaftlichen Doppelcharakters nicht unberührt. Unbeschadet dessen hat der
im Gefolge der studentischen Protestbewegung, als eine Spielart der marxisti-
schen Renaissance entstandene "Ableitungsmarxismus" sich auch der Marxschen
Gewerkschaftstheorie bemächtigt und sie mit Hilfe von Deduktionen und Extra-
polationen auf die gegenwärtigen Verhältnisse abzubilden versucht4 • Ein solches
Verfahren, für die engere Analyse des Kapitalverhältnisses, der Mehrwertproduktion
etc. durchaus angemessen, ist für das Verständnis von Organisationen und Institu-
tionen, in denen sich Geschichte abgelagert hat, von zweifelhaftem Nutzen. Wo auf
diesem Gebiet aus den blauen Bänden auf die graue Gegenwart geschlossen wurde,
hat es unbefriedigende Resultate erbracht; dies gilt auch für die Arbeit von Zoll
(1976), der zwar eher zu den undogmatischen Vertretern dieses Genres gehört,
aber durch seine theoretische Vorentscheidung sich in Sackgassen hineinmanövriert,
aus denen er um den Preis problematischer Analogien und einer voluntaristischen
Auflösung der theorie-und-praxis-vermittelnden Einheit von Kapitalismus-Analyse
und Revolutionstheorie wieder herausfindet. Wiewohl er mit vielen Beispielen aus
der neueren Gewerkschaftsgeschichte Westeuropas aufzuwarten weiß, geraten sie
ihm allein zu Illustrationen kategorial abgeleiteter Bestimmungen und Relationen,
nicht aber zum Nachweis der "Aktualität der Marxschen Gewerkschaftstheorie"
(so der Untertitel).

3 Das umstrittene Hamann-lnterview zitierten Hermeck (1928; 142) u. Losowski (1934; 128)
sowie Zoll (1976; 122 f.) u. Deppe (1979; 99).
4 Ein eher abschreckendes Beispiel dieser Art von Ableitungsliteratur ist die "Marxistische
Gewerkschaftstheorie" des von J. Bisehoff angeführten Autorenkollektivs (1976) aus dem
Umkreis des ehemaligen Berliner Projekts Klassenanalyse. Kennzeichnend für die darin zum
Ausdruck gebrachte und um historische Entwicklungen unbekümmerte Ableitungsmanier
ist die sprachliche Mimesis, die der zitierenden Anführungszeichen nicht mehr bedarf, um
den Meister zu Wort kommen zu lassen; bis in Wortwahl, Duktus, rechthaberisches Auftrum-
pfen, Gift & Galle wird dieser kopiert. Zur inhaltlichen Kritik vgl. meinen Beitrag "Die
Neue Linke und die Gewerkschaften", in: Das Argument 20 (1978), Nr. 107, S. 17-28.
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 181

Schon die erste Seite seines Textes enthält eine bezeichnend-fragwürdige Analo-
gie: die Marxschen Formeln "Kampf im Lohnsystem" und "Kampf gegen das
Lohnsystem" werden mit dem Begriffspaar Ordnungsfaktor und Gegenmacht kur-
zerhand zur Deckung gebracht - ein historischer faux pas; denn Ordnungsfunktio-
nen, wie sie heute die Gewerkschaften, etwa im Rahmen der Tarifautonomie,
ausüben, waren zu Marxens Zeiten weitgehend unbekannt; und die Entfaltung von
Gegenmacht zählte für Marx, noch weit vor dem Kampf gegen das Lohnsystem, zu
den selbstverständlichen Voraussetzungen des gewerkschaftlichen Kampfes im
Lohnsystem. Ähnlich gravierende Bedeutungsverschiebungen erfährt im Zollsehen
Text auch die Kategorie des politischen Kampfes. Von Marx einerseits als genuiner
Klassenkampf ("Klasse gegen Klasse"), andererseits als Kampf gegen die politische
Herrschaft der Bourgeoisie, den Staat, verstanden, subsumiert Zoll darunter Ge-
werkschaftskämpfe mit "politischen Dimensionen", "politischer Bedeutung"
oder "politischen Folgen" (117 ff.). Schließlich sieht sich Zoll durch die gesell-
schaftlich-historischen Gegebenheiten und die reale Praxis der Gewerkschaften
genötigt, die von Marx zur Einheit verknüpfte Kapitalismus-Analyse und Revoluti-
onstheorie in eine analytische und eine imperativische Hälfte zu zerteilen: Da
trotz der vielen Krisen der Kapitalakkumulation, die doch die Notwendigkeit des
antikapitalistischen Kampfes lehren sollten, die Gewerkschaften "beim Handeln
im Lohnsystem stehengeblieben" (135) sind, kann Zoll die zweite, die revolutio-
näre Seite des gewerkschaftlichen Doppelcharakters nur noch als "einen aus der
Analyse der kapitalistischen Produktionsverhältnisse abgeleiteten Imperativ" (129)
retten 5 • Nicht ohne Grund wird damit die Behauptung aufgegeben, daß die Revolu-
tion für das Proletariat eine praktische Notwendigkeit sei. Damit wird jedoch
ungewollt die Korrektur- und Revisionsbedürftigkeit jener Gewerkschaftstheorie
dokumentiert, deren Aktualität der Autor nachzuweisen trachtete. Und zwar
revisionsbedürftig deshalb, weil wesentliche Voraussetzungen, die in die Marxsche
Gewerkschaftsanalyse eingegangen sind, ihre Evidenz verloren haben 6 . Das Proleta-
riat, ehedem designierter Totengräber der bürgerlichen Gesellschaft, hat heute -
nicht zuletzt dank der historischen Erfolge der Arbeiterbewegung - nicht mehr jene
"exterritoriale" Stellung zu dieser Gesellschaft inne wie zu Marxens Zeiten, als die
Verschlechterung der sozialen Lage der arbeitenden Klasse noch als kapitalistisches

5 Im Zusammenhang zitiert: "Zwischen den beiden Aufgaben der Gewerkschaften gibt es


einen deutlichen Unterschied: Den Kampf im Lohnsystem - das stellen Marx und Engels
fest - führen die Gewerkschaften (ob gut oder schlecht, das ist hier nicht die Frage). Vom
Kampf der Gewerkschaften zur Abschaffung des Lohnsystems ist dagegen immer nur im
Sinn einer Aufforderung die Rede: die Gewerkschaften ,müssen jetzt lernen', " sie müssen
jede soziale und politische Bewegung unterstützen" usw. Es handelt sich also nicht um
eine Tatsachenfeststellung, sondern um einen aus der Analyse der kapitalistischen Produk-
tionsverhältnisse abgeleiteten Imperativ" (Zoll1976; 129).
6 In seinem jüngsten Buch hat F. Deppe (1979) daraus die Konsequenz gezogen, die Marxsche
Gewerkschaftstheorie mit Hilfe der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu
historisieren- ein nicht uninteressanter, wenngleich heroischer Rettungsversuch.
182 Waltber Müller-]entscb

Naturgesetz angesehen werden konnte 7 . Daß das Proletariat heute mehr als seine
Ketten zu verlieren hat, ist ebenso trivial, wie das Gegenteil damals evident war.
Jedenfalls zählt heute in vielen kapitalistischen Gesellschaften die gewerkschaftlich
organisierte Arbeiterschaft eher zu den beharrenden und - im nicht-politischen
Sinne -konservativen, als zu den vorwärtstreibenden, revolutionären Kräften 8 , was
indessen noch nicht die Schlußfolgerung erlaubt, daß sie sozial pazifiziert sei und
einen gesellschaftlichen Stabilisierungsfaktor darstelle 9 .

I. 2. Soziale Bewegung - Tarifpartei

Eine andere Begründung des gewerkschaftlichen Doppelcharakters, die dem offiziel-


len Selbstverständnis zumindest der deutschen Gewerkschaften sehr nahekommt,
findet sich häufig in historisch orientierten Arbeiten über die Gewerkschafts-
bewegung. Sie beruht auf dem Spannungsverhältnis zwischen gewerkschaftlichen
Traditionen und tagespolitischer Praxis. Die Traditionen, die Elemente sozialisti-
scher Theorie aufbewahren und in denen sich die Entstehungsbedingungen, aber
auch historische Schlüsselereignisse wie große Arbeitskämpfe, gewerkschaftspoli-
tische Durchbrüche etc. reflektieren, gehen in das gewerkschaftliche Selbstver-
ständnis als soziale Deutungsmuster und Orientierungen für Problemlösungen der
Gegenwart ein. In diesem traditionellen Kontext verstehen sich Gewerkschaften
als soziale Bewegung zur Emanzipation der Arbeiterklasse. Demgegenüber definiert
die tarif- und sozialpolitische Tagespraxis sie als Arbeitsmarkt- oder Tarifvertrags-
partei, die die unmittelbaren ökonomischen Interessen der abhängig Beschäftigten
im Rahmen der bestehenden Wirtschafts- und Sozialordnung wahrnimmt.
Der "Dualismus Interessenpartei - soziale Bewegung" (Limmer 1966; 144)
ist insofern als widerspruchsvolle Einheit zu sehen, als die soziale Bewegung in dem
Maße an gesellschaftsverändernden Impulsen verliert, wie die Interessenpartei er-
folgreich ist, da tarif- und sozialpolitische Verbesserungen der Arbeits- und Lebens-
bedingungen der abhängig Beschäftigten die Tendenzen zur gesellschaftlichen In-
tegration der Lohnabhängigen verstärken. Solange jedoch die gesellschaftliche
Stellung der abhängig Beschäftigten eine sozial benachteiligte bleibt, können Ge-
werkschaften ihre emanzipatorischen Ziele als Anspruch und historische Aufgabe
nicht einfach annullieren. Je mehr aber ihre eigenen Erfolge das -von ihnen nie
akzeptierte -Wort von der "Sisyphusarbeit" Lügen straft, um so weiter entfernen
sie sich von dem grundsätzlichen Ziel. Die Neigung unter Gewerkschaftsführern

7 Wie es beispielsweise in der Marxschen Formulierung, daß es in der britischen Gesellschaft


"keine feststehendere Tatsache als die (gibt), daß der Pauperismus im gleichen Maße an-
wächst wie der moderne Reichtum" (MEW 12; 533), treffend zum Ausdruck kommt.
Bekanntlich sahen Marx und Engels die britischen Verhältnisse als prototypisch für alle
kapitalistische Entwicklung an.
8 Vgl. dazu auch den Beitrag von C. Deutschmann in diesem Heft.
9 Vgl. dazu die weiteren Ausführungen im Abschnitt 111.
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 183

und deren Hofhistorikern ist daher groß, diesen Widerspruch gradualistisch zu


glätten, indem sozialpolitische Durchbrüche als Schritte auf dem Weg, wenn nicht
zur Überwindung des Kapitalismus, so doch zur Gleichberechtigung der arbeiten-
den Menschen im Kapitalismus interpretiert werden. Damit gerät der hier skiz-
zierte gewerkschaftliche Doppelcharakter in einen Erosionsprozeß, der das "histo-
rische Erbe der Arbeiterbewegung" nach und nach zugunsren der pragmatisch
orientierten Tagespolitik auflöst.

I. 3. Intermediäre Organisationen

In den bisher skizzierten Ansätzen ist der gewerkschaftliche Doppelcharakter durch


Rekurs auf Funktionen und Aufgaben der Gewerkschaften, die sie als Organisa-
tionen der Arbeiterklasse übernehmen, begründet worden. Sowohl die marxistische
wie die historische Begründung gehen davon aus, daß Gewerkschaften - wie auch
immer begrenzt und geprägt durch die gesellschaftlichen Verhältnisse - unabhängi-
ge Interessenorganisationen der Lohnarbeiter sind, mit denen sie ihre ideologischen
Befangenheiten (.,Lohnschleier") wie ihre sozialen Aspirationen teilen.
Demgegenüber hebt die makrosoziologische Begründung des gewerkschaftli-
chen Doppelcharakters, wie wir sie im Rahmen der ersten Gewerkschaftsstudie am
Institut für Sozialforschung entfaltet haben (Müller-} entsch 197 3, Bergmann/
Jacobi/Müller-Jentsch 1975), generell auf gesellschaftliche Funktionen der Gewerk-
schaften in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften ab. Mit dem dort formulier-
ten theoretischen Bezugsrahmen haben wir Gewerkschaften als Vermittlungsinstitu-
tionen oder intermediäre Organisationen beschrieben, deren politische Praxis von
Mitgliederinteressen einerseits und den Imperativen der Kapitalverwertung anderer-
seits bestimmt wird, und deren Doppelcharakter sich aus ihrer Rolle als freiwillige
Mitgliederorganisationen und als sozial- und wirtschaftspolitische Hilfsorgane des
Staates ergibt.
Ausgegangen wurde dabei von relevanten historischen Veränderungen, die die
gesellschaftliche Position der Gewerkschaften maßgeblich modifiziert haben; un-
ter diesen vornehmlich: (a) die Entwicklung der Gewerkschaften zu Massenorga-
nisationen, deren Tarifpolitik eo ipso wirtschaftspolitisches Gewicht zukommt;
(b) die mit ihrer Anerkennung als legaler und legitimer Interessenvertretung der ab-
hängig Beschäftigten verknüpfte institutionelle Einbindung in das bürgerliche
Rechtssystem; (c) der mit fortschreitender Kapitalakkumulation anwachsende Be-
darf an staatsinterventionistischer Wirtschaftsregulierung; und schließlich (d) die
mit diesen Entwicklungen korrespondierenden innerorganisatorischen Prozesse
der Zentralisierung und Bürokratisierung in den Gewerkschaften.
Diesen sozialen Prozessen wurde es zugeschrieben, daß die gewerkschaftliche In-
teressenvertretung traditioneller Art ihre Unschuld verlor und durch die ncueren
Tendenzen in eine vermittelnde Rolle zwischen Kapital- und Arbeiterinteressen ge-
drängt wurde. Dies zum einen, weil mit dem Anwachsen der Gewerkschaften zu
184 Watther Müller-jentsch

bürokratisch-zentralistisch geführten Massenorganisationen, die für ganze Wirt-


schaftszweige Tarifverträge abschließen, die gewerkschaftliche Lohnpolitik in öko-
nomische Funktionsabläufe hineinwirkt, so daß sie nolens volens Distribution,
Produktivität und Preisniveau beeinflußt. Und zum anderen, weil mit dem Über-
gang zum wirtschaftspolitischen Keynesianismus die Gewerkschaften den wieder-
holten Aufforderungen und Angeboten seitens des Staates, mit ihm in der Ein-
kommenspolitik zu kooperieren, nur um den (hohen) Preis eines Dauerkonflikts
mit der staatlichen Exekutive sich widersetzen konnten. So folgte der objektiven
Einbeziehung der Gewerkschaften in das dichter werdende Netz makroökonomi-
scher Interdependenzen häufig ihre politische Kooptation in Institutionen und
Gremien, die staatlich induzierter Wirtschaftssteuerung dienen.
Als Substrat der gewerkschaftlichen Vermittlungsleistungen ließ sich ein Konglo-
merat konvergierender Arbeiter-, Organisations- und Systeminteressen ausmachen,
dessen raison d'etre darin bestand, daß staatliche Wirtschaftspolitik mit der Selbst-
verpflichtung zur Vollbeschäftigungs- und Wachstumspolitik, weil sie ein Verspre-
chen auf verbesserte Erfolgschancen gewerkschaftlicher Tarifpolitik einschloß,
seitens der Gewerkschaften jene Kooperationsbereitschaft erzeugte, auf deren Basis
die wirtschaftspolitische Intention erst praktische Gestalt annehmen konnte. Auch
wenn Gewerkschaftsführungen zunächst nur aus strategischem Kalkül die ökonomi-
schen Auswirkungen ihrer Lohn- und sonstigen Tarifpolitik in Rechnung stellen, um
deren künftige Erfolgschancen nicht zu verschlechtern (in der Sprache gewerk-
schaftlicher Pragmatik: "die Kuh nij;_J?.t zu schlachten, die man melken will"), so
berücksichtigen sie damit zugleich wichtige Stabilitätsimperative des Systems, d. h.
sie erkennen die "Spielregeln" des kapitalistischen Systems an. Des weiteren, da
Arbeiterinteressen - oberhalb eines historisch bestimmbaren Reproduktionsniveaus
- plastisch sind, können sie durch die Selektionsmechanismen der innerorganisato-
rischen Willensbildung - von Ausnahmesituationen abgesehen - kompromißfähig
gemacht werden.
Gleichwohl hielten wir es für unwahrscheinlich, daß selbst unter diesen Bedin-
gungen sich ein dauerhaftes, stabiles Arrangement zwischen Gewerkschaften,
Staatsapparat und Unternehmerverbänden ergeben könnte. Aufgrund des fortbe-
stehenden Interessenantagonismus zwischen Kapital und Arbeit wurde ein solches
Arrangement nur erwartet, solange die ökonomischen Spielräume die manifesten
oder Basisinteressen der Lohnabhängigen zu befriedigen erlauben, wobei diese
Interessen nicht als statisches, sondern dynamisches Konzept (Stichwort: "steigen-
de Erwartungen") begriffen wurden. Sollten die Mitgliederinteressen ernsthaft
verletzt werden, rechneten wir mit Kooperationsentzug seitens der Gewerkschaften;
dies aufgrund der Überlegung, daß den zweifellos vorhandenen Verselbständigungs-
tendenzen des gewerkschaftlichen Führungsapparates deutliche Grenzen dadurch
gesetzt seien, daß den Mitgliedern negative Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung
stehen, die nicht nur die Kompromiß- und Verpflichtungsfähigkeit, sondern generell
die Handlungsfähigkeit der Organisation in Frage stellen können. Mit dieser theore-
tischen Konstruktion wurde die Stabilität des Arrangements zwischen Staat und
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 185

Tarifverbänden primär von der Kompatibilität der artikulierten Mitgliederinteressen


mit den jeweiligen Stabilitätsbedingungen (dem ökonomisch Möglichen und Gebo-
tenen) abhängig gemacht. In diesem Kontext hatte auch die Bildung zweier Typen
gewerkschaftlicher Politik ihren Stellenwert: mit der kooperativen Politik wurde ein
Typus gekennzeichnet, der auf einer starken Konvergenz zwischen Mitglieder-,
Organisations- und Systeminteressen beruht, während der - etwas abstrakt geratene
- Gegentypus der konfliktarischen Politik als Ausdruck eines relativ geringen
Grades von Interessenkonvergenz zu begreifen ist. Aber selbst noch im kooperativen
Gewerkschaftstypus konnten wir ein Widerspruchspotential identifizieren, das sich
unter günstigen Bedingungen als organisatorisches Dilemma, unter weniger günstigen
als Krise der kooperativen Gewerkschaftspolitik manifestierte.

11. Die Auflösung des gewerkschaftlichen Doppelcharakters

Seine endgültige Auflösung erfährt der gewerkschaftliche Doppelcharakter in Ana-


lysen, die mit dem neokorporatistischen "Paradigma" arbeiten 10 • Zwar gehen diese
von ähnlichen Problemstellungen aus wie die zuletzt dargestellten, gelangen aber
zu gegenteiligen Konsequenzen. Das den Gewerkschaften inhärente gesellschaft-
liche Widerspruchspotential, in den bisher skizzierten Ansätzen aus dem fortbe-
stehenden Klassenantagonismus gefolgert, wird in neokorporatistischen Ansätzen
zu einer Restproblematik verdünnt, die es nicht mehr gerechtfertigt erscheinen läßt,
von einem Doppelcharakter der Gewerkschaften zu sprechen.
In der Version von Streeck (1978a, 1978b), die uns hier hauptsächlich beschäf-
tigen wird, gehen Arbeiter-, Organisations- und Systeminteressen eine zwar nicht
widerspruchsfreie, aber prinzipiell stabile Verbindung ein: Staat und Tarifverbände
werden darin zu einem effektiven Steuerungsverbund zusammengeschlossen. Durch
Verknüpfung politologischer und organisationssoziologischer Theorieansätze führt
Streeck zwei historische Entwicklungstendenzen zusammen: die Herausbildung
westlicher Demokratien zu Sozialstaaten mit liberalkorporatistischen Strukturen
sowie den säkularen Wandlungsprozeß der Gewerkschaften von sozialen Bewegun-
gen zu freiwilligen Organisationen formalen Typus. Im Zuge erfolgreicher Auseinan-
dersetzungen mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Umwelt haben sich dem-
zufolge die ehemaligen Kampforganisationen der Arbeiterbewegung im entwickel-
ten Kapitalismus in rechtlich befestigte Trägerinstitutionen des politischen Pro-
zesses mit Verfassungscharakter verwandelt (1978a; 10). Zwecks Regulierung des
Klassenkonflikts sind sie vom modernen Sozialstaat in ein "organisiertes System der
kooperativen Konfliktverarbeitung" kooptiert worden, wodurch es zur "engen ge-
genseitigen Verklammerung zwischen staatlichen Bürokratien und gesellschaftlichen
Interessenorganisationen" gekommen ist (1978a; 1). Gründe und Motive hierzu

10 Zum Diskussionsstand über den Neokorporatismus bzw. Neokorporativismus vgl. Alemann


und Heinze 1979; Schmitter und Lehmbruch 1979; Kastendiek 1980.
186 Waltber Müller-jentscb

lagen auf beiden Seiten vor. Aufseiten des Staates: Die ihm im wachsenden Maße
abgeforderten Steuerungsleistungen stehen - in privatwirtschaftlich organisierten
Gesellschaftssystemen - im Mißverhältnis zu seinen begrenzten Steuerungsmit-
teln, so daß er durch die Einbindung von Interessenorganisationen wie den Gewerk-
schaften sein Steuerungspotential zu verlängern trachtete, indem er die in der li-
beral-pluralistischen Phase gewährte Tarif- und Verbandsautonomie unter Dauer-
vorbehalt stellte und in "eine funktionalisierte, kontrollierte, zweckgebundene
Autonomie zur Kooperation" transformierte (1978a;4).
Auf seiten der Gewerkschaften entspringt die Bereitschaft zur Kooperation
einem "organisationsstrategischen Kalkül": Ihre Beteiligung an korporatistischen
Formen der Konfliktregulierung wird für sie unter bestimmten Voraussetzungen
die "optimale Strategie zur Durchsetzung des durch die Organisation interpretierten
Mitgliederinteresses" (1978a; 7). Stärker noch als die organisatorisch "verarbeite-
ten" Interessen sind es "sekundäre Interessen" der Organisationssicherung, auf-
grund derer die Gewerkschaften der "korporatistischen Versuchung" (1978b; 1)
erliegen. Kritische Organisationsprobleme (wie rückläufige Mitgliederzahlen, zuneh-
mende Finanzklemme), die als Folgeerscheinungen des -dem von Max Weber ana-
lysierten Prozeß der Veralltäglichung des Charisma nachgebildeten - organisato-
rischen Wandels von sozialen Bewegungen zu freiwilligen Organisationen zwangs-
läufig auftreten, erzeugen den Bedarf an Organisationssicherung durch externe
Unterstützung. Dies ist die Gelegenheit für den modernen Sozialstaat, sich die Koo-
peration zu sichern, um das pluralistische System der Interessenvertretung in ein
korporatistisches zu transformieren, freilich unter Beibehaltung formeller Verbands-
autonomie, die den Staat vom Geschäft der "Enttäuschungsverarbeitung" weiterhin
entlastet.
Die staatlicherseits gestützte Organisationssicherung läuft zum einen darauf
hinaus, den obligatorischen Charakter der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft zu
stärken, und zum anderen, die etablierten vor der Konkurrenz neuentstehender
Organisationen zu schützen. Als Gegenleistung wird von den Gewerkschaften
erwartet, daß sie die extern ausgehandelten Kompromisse intern, als Ergebnis
eines Prozesses freiwilliger Mitgliederpartizipation reproduzieren. Die Gewerk-
schaften sollen, mit anderen Worten, die Bedürfnisse und Interessen ihrer Mitglieder
den gegebenen Konzessionsmöglichkeiten anpassen bzw. ihren Mitgliedern nur sol-
che Forderungen erlauben, die mit den Voraussetzungen politischer Stabilität kom-
patibel sind.
In dem Einheits- und Industriegewerkschaftsprinzip, wie es in der Bundesrepu-
blik und in Skandinavien vorherrscht, sieht Streeck günstige organisationsstruktu-
relle Bedingungen für eine erfolgreiche korporatistische Kooperation. Denn
aufgrund ihres größeren Aktionsspielraums schließt die strategische Perspektive
von Industriegewerkschaften makroökonomische Konsequenzen ihrer Politik ein,
und die Heterogenität ihrer Mitgliederschaft macht die Aggregation und die Trans-
formation partikularer Interessen in ein einheitliches Gesamtinteresse zwingend er-
forderlich.
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 187

"Der Allgemeinheit und 'Abgehobenheit' des von Industriegewerkschaften vertretenen Interes-


ses entsprechen auf der strukturellen Ebene starke interne Kontrollmechanismen, mit denen die
Mitglieder auch dann auf eine bestimmte Politik verpflichtet werden können, wenn diese ihren
in der jeweiligen Situation wahrgenommenen Interessen nur teilweise gerecht wird. Industrie-
gewerkschaften sind deshalb besser als andere gewerkschaftliche Organisationsformen in der
Lage, in ihrer Politik die Interessen ihrer Mitglieder gegebenenfalls so ('langfristig') zu inter-
pretieren, daß sie im Rahmen einer gemeinsam mit Staat und Arbeitgebern betriebenen ver-
antwortlichen Systempolitik hineinpassen" (Streeck 1979; 209).

Die damit angedeutete Gefahr innergewerkschaftlicher Konflikte zwischen par-


tikularen und allgemeinen Interessen einerseits, kurz- und langfristigen andererseits
sieht Streeck deshalb als weniger brisant an, weil er das von den Gewerkschaften
vertretene Interesse gleichsam als "aufgeklärtes Selbstinteresse" der Arbeitnehmer
begreift, das von kurzsichtigen oder im Standesdenken befangenen Forderungen
gereinigt ist; ja, er steht nicht an, das durch die Selektionsmechanismen interner
Willensbildung als formal-allgemeines Interesse herausgefilterte mit dem "Klassen-
interesse" in eins zu setzen (1979; 207). Probleme der Nichtvertretung oder Unter-
repräsentation von Interessen werden beiseite geschoben oder bagatellisiert.
Nicht in der Dimension der Interessen, sondern in den durch die korporatistische
Kooperation entstehenden Folgeproblemen siedelt Streeck die "Restproblematik"
an: im Rückgang an Partizipationspotential, im Verlust an sozialer Kohäsion und
Integration der Mitglieder (1978b; 47f.). Soweit diese Phänomene bereits Ausdruck
des säkularen organisatorischen Wandels sind, werden sie durch die neuere Entwick-
lung nochmals verstärkt. Aber selbst hier läßt Streeck die Bäume in den Himmel
wachsen: vermittels des durch staatliche (Rechts-)Hilfen erweiterten Instrumenta-
riums der gewerkschaftlichen Organisationssicherung würden die Mitglieder mehr
oder weniger zu obligatorischen Klienten oder Kunden ihrer Interessenorganisatio-
nen gemacht. Folgerichtig sieht er in den hier und dort in den Gewerkschaften
empirisch beobachtbaren Widerständen und oppositionellen Strömungen gegen die
korporatistische Kooperation nicht mehr als eine ideologisch-tradionalistische Be-
wegung, die, da ohne strukturelle Basis und interessenrelevante Substanz, die
Attraktivität einer rationalen, instrumentellen und geschäftsmäßig ("businesslike")
geführten Interessenvertretung nicht beeinträchtigen könne (1978b; SOf.). In diesen
Schlußfolgerungen klingen vertraute Töne aus den frühen sechziger Jahren herüber:
"end of ideology" (D. Bell) oder "mature unionism" (R. Lester)- Formeln, die das
Ende des Klassenkampfes als säkulare Tendenz suggerierten. Nach dem Aufschwung
der Arbeiterkämpfe Ende der sechziger Jahre in Westeuropa nahezu in Vergessen-
bei~ geraten, erleben sie heute ihre intellektuelle Wiederbelebung.
Zweifellos hat die Streecksche Analyse durch die Verknüpfung neokorporati-
stischer und organisationssoziologischer Konzepte zu bemerkenswerten Einsichten
in das Verhältnis von Staat und Gewerkschaften geführt. Vornehmlich gilt dies für
die Austauschproblematik ( trade-offs) zwischen gestiegenem staatlichen Steuerungs-
bedarf und den Notwendigkeiten gewerkschaftlicher Organisationssicherung. Was
Streeck jedoch als irreversible und für die entwickelten kapitalistischen Gesellschaf-
188 Waltber Müller-jentscb

ten mehr oder weniger als alternativlose Entwicklungsperspektive darstellt, muß im


Hinblick auf seinen Realitätsgehalt relativiert werden. Kastendiek (1980), der un-
längst das Spektrum der analytischen Konzepte des Neokorporatismus ausbreitete,
hat- im Anschluß an Leo Panitch (1980) -globale Konzepte (wie die von Pahl/
Winkler; Schmitter; Jessop), die von einem neuen Charakter gesellschaftlicher und
politischer Gesamtsysteme ausgehen, als methodisch fragwürdige Verallgemeine-
rungen von partikularen Strukturen kritisiert und in diesem Zusammenhang die
These vertreten, daß zwar "innerhalb der bestehenden Politikerorganisation" westli-
cher Demokratien korporative Strukturen entstanden sind, aber zur Zeit wenig
dafür spräche, "daß daraus ein 'System' jenseits des Parlamentarismus, der Klas-
senauseina:tdersetzungen oder gar des Kapitalismus" entstehe (Kastendiek 1980;
96).
Zu relativieren ist die Streecksche Globalaussage insbesondere dort, wo er eine
staatliche Strategie zur Einbindung der Gewerkschaften (Panitch: "control over
labour") als bereits realisierte und praktizierte Klassenkollaboration unterstellt.
Ohne Frage bezieht diese gesellschaftspolitische Strategie ihre Attraktivität aus
der Tatsache, daß sie historische Kräfte- und Interessenkonstellationen sowie or-
ganisationsstrukturelle Bedürfnisse der Gewerkschaften in Rechnung stellt (so etwa,
daß die Tarif- und Organisationsautonomie nur unter großen politischen Risiken
aufhebbar ist; daß die Gewerkschaften einen sozialen Machtfaktor darstellen, ohne
dessen Kooperation politische Stabilität, sozialer Friede und wirtschaftliches Wachs-
tum schwer zu realisieren sind; daß schließlich die gewerkschaftliche Kooperation
nicht ohne politische und institutionelle Entschädigungen und das heißt letztlich
nicht ohne organisatorische Stärkung der Gewerkschaften zu erreichen ist). Diese
Konstellation, die eine Neutralisierung von Klassenmacht nur durch die Stärkung
gewerkschaftlicher Organisationsmacht zuläßt, hat Streeck mit subtilen Überlegun-
gen analysiert. Allerdings ist er dabei in seine eigene funktionalistische Falle gera-
ten. Daß er den Staat in der Rolle des großen Regisseurs sieht, der mit Hilfe gewerk-
schaftlicher Führungseliten die Massen lohnahhängiger Komparsen nach dem Script
des Wirtschaftsministers agieren läßt, beruht auf dem generellen Quidproquo, funk-
tionalistische Erfordernisse für den wirklichen "policy output" zu halten 11 •
Was der (vollen) Realisierung korporatistischer Strategien entgegensteht, das
gesellschaftliche Widerstands- und Widerspruchspotential, welches in den Gewerk-
schaften noch präsent ist, hat Streeck systematisch ausgeblendet bzw. auf ein bear-
beitbares Störpotential reduziert. Auch die These, daß korporatistische Strategien
nicht alternativlos sind, sondern ihre restriktiven und repressiven Pendants haben,
wird in der global orientierten Streeckschen Analyse nicht systematisch aufgenom-
men. Zwar hat er in einer Arbeit über den britischen Industrial Relations Act von

11 Da bei Streeck die Rolle des Staates theoretisch ungeklärt bleibt, changiert seine Argumen-
tation; zuweilen nähert sie sich, wenn auch mit anderen politischen Akzenten, den Vorstel-
lungen des italienischen Operaismus vom "Pianstaat", an anderen Stellen wiederum beruht
sie stärker auf der Vorstellung des "muddling through".
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 189

1971 (Streeck 1978c) den Versuch einer alternativen Strategie von konservativer
Seite dargestellt, deren Scheitern er indessen aus prinzipiellen Erwägungen für un-
vermeidbar hält - ein vorschnelles Urteil, wie die - zumindest zeitweilig erfolg-
reiche - Strategie der Thatcher-Regierung gegenüber den Gewerkschaften zeigt.
Nicht nur dieses Beispiel, sondern auch Phasen der bundesdeutschen Nachkriegs-
geschichte (s. dazu Kastendiek 1980; 99ff.) legen die Vermutung nahe, daß unter
bestimmten Bedingungen restriktiv-repressive Strategien zur Herrschaftssicherung
durchaus erfolgreich sein können. Selbst in der sozial relativ befriedeten Bundes-
republik stehen gegenwärtig wieder alternative Strategien zur Einbindung der
Gewerkschaften zur Diskussion, die sich zwischen den Polen "Verbändegesetz"
(CDU/CSU-Position) einerseits und "konzertierter Aktion" (SPD-Position) anderer-
seits bewegen (vgl. dazu Hübner und Moraal 1980). Befruchtend für die gegenwär-
tige Korporatismus-Debatte könnte der von Crouch (1978 u. 1979) geäußerte
Gedanke sein, daß korporatistische Strategien des Staates häufig erst in der Kom-
bination mit alternativen Strategien (z. B. staatlichem Zwang) oder Disziplinierungs-
mechanismen (z. B. Hinnahme von Massenarbeitslosigkeit seitens des Staates)
erfolgreich sind 12 • In ähnlicher Weise argumentiert auch Panitch (1979), der den
staatlichen Zwang zur Eindämmung und Unterdrückung von gewerkschaftlichen
Basisbewegungen als unerläßlich für stabile korporative Strukturen ansieht.

III. Kritik der neokorporatistischen Stabilitätsannahmen

Theoretiker des Neokorporatismus knüpfen häufig an eine am Problem gesellschaft-


licher Ordnung und Stabilität orientierte Theorietradition an, die zum konservati-
ven Bestand der Sozialwissenschaften zählt. Im inflationären Wachstum sozialwissen-
schaftlicher Korparatismus-Konzepte in jüngster Zeit - Panitch (1980) spricht
von einer "growth industry" - reflektieren sich zum einen reale gesellschaftliche
Zustände der spätsiebziger Jahre, zum anderen theoretische Idiosynkrasien gegen-
über Gesellschaftsanalysen neomarxistischer Provenienz, die in jedem größeren sozi-
alen und industriellen Konflikt sogleich die Zuspitzung von Klassenauseinanderset-
zungen zu erkennen glaubten. Den Umschlag vom Konflikt- in das Stabilitätsparadig-
ma, für die Wissenschaftsgeschichte kein Novum, haben jene mitzuverantworten,
die vor lauter Krisen, Konflikten, Klassenkämpfen dem Stabilitätspotential und so-
zialen Kitt dieser Gesellschaft wemg Bedeutung beimaßen. Schließlich läßt sich im
Zustand permanenter Zuspitzung auf Dauer nicht leben; irgendwann muß der Um-
schlag erfolgen, wenn nicht real, dann eben theoretisch - als Rückschlag.

12 "Not surprisingly, the new corporatism can as yet lay claim to few major advances. By and
large it is seen in operation only when buttressed by those alternative sources of order
the inadequacies of which it is designed to replace: continued prosperity (as in West Ger-
many) or high unemployment (as in Britain)" (Crouch 1978; 219).
190 Watther Müller-]entsch

War es falsch, das - gemessen an der Legion von Krisen- und Zusammenbruchs-
prognosen - erstaunliche Stabilitätspotential in materialistischen Gesellschafts-
analysen nur am Rande zu berücksichtigen, so ist es jetzt nicht minder falsch,
enttäuscht das intellektuelle Gepäck über Bord zu werfen, mit dem wir in die
soziale Revolution zu reisen wähnten. Aus dem factum brutum, daß die moderne
kapitalistische Gesellschaft 13 2 Jahre nach dem Erscheinen des Kommunistischen
Manifests immer noch besteht, eine gesellschaftliche Ultrastabilität anzunehmen, ist
töricht. Denn die moderne Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lehrt uns, daß nicht
nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die soziale Bewegung ihre
Zyklen hat: Wellen sozialer Unruhen und Konflikte folgen häufig längere Stabili-
tätsperioden und umgekehrt. Um nicht jeweils von dem einen oder anderen Zustand
theoretisch wie politisch überrascht zu werden und nicht kurzschlüssig von anwach-
senden Konflikten auf Klassenkampf und von gesellschaftlicher Stabilität auf den
ewigen sozialen Frieden zu schließen, ist es angebracht, im Stabilitätspotential auch
die Widersprüche und Konfliktquellen zu erkennen und umgekehrt im Krisenpoten-
tial die stabilisierenden Momente wahrzunehmen.
In den nachfolgenden Überlegungen werden einige zentrale Stabilitätsannahmen
neokorporatistischer Theorien in Frage gestellt. Diese Argumentation beruht auf
der Annahme, daß die entwickelten kapitalistischen Länder weiterhin Klassengesell-
schaften sind, in denen das Verhältnis zwischen den beiden Hauptklassen, Kapital
und Arbeit, einerseits durch "allgemeine", d. h. ihnen gemeinsame oder miteinan-
der kompatible Interessen und andererseits durch antagonistische Interessen struk-
turiert wird. Zu den ersteren können generell die Interessen an geregelten Vertrags-
verhältnissen und an einer florierenden Wirtschaft gezählt werden. Hingegen ist
über die Verteilung des erwirtschafteten Volkseinkommens, die Verwendung des
gesellschaftlichen Mehrprodukts und über angemessene Lohn-Leistungs-Relationen
im Produktionsprozeß ein zwangsfreier Konsens grundsätzlich ausgeschlossen;
diese Interessenkomplexe werden primär durch Machtmechanismen geregelt (wobei
zu bedenken ist, daß auch dem Marktmechanismus bereits Machtbeziehungen zu-
grunde liegen). Zwischen Kapital und Arbeit besteht insofern eine soziale Macht-
asymmetrie, als sich die Macht des Kapitals im Eigentum an beliebig aggregierba-
ren Produktionsmitteln materialisiert und kapitalistische Expansionsinteressen zu
den ökonomischen Stabilitätsvoraussetzungen des gesellschaftlichen Systems gehö-
ren, während die Macht der Arbeiterklasse sich erst durch die Bildung neuer kollek-
tiver Einheiten, Gewerkschaften und Parteien konstituiert. Für das Kapital stellt
die Assoziation von Einzelkapitalisten eine sekundäre, zusätzliche Machtquelle dar.
Unter diesen Prämissen werden im folgenden zwei fundamentale Stabilitätsan-
nahmen der neokorporatistischen Theorie diskutiert und in Frage gestellt: zum
einen die Annahme zunehmender Handlungsautonomie gewerkschaftlicher Organi-
sationen gegenüber ihren Mitgliedern und deren Interessen, zum anderen die An-
nahme eines optimalen Interessenausgleichs zwischen allen an korporatistischen
Arrangements Beteiligten. Dieser Diskussion werden sich abschließend einige
allgemeine Schlußfolgerungen über das gesellschaftliche Stabilitäts- und Instabili-
tätspotential im Bereich der "industriellen Beziehungen" anschließen.
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 191

III. 1. Mitglieder- und Interessenabhängigkeit der Gewerkschaften

Als eine wichtige Stabilitätsbedingung gilt den Neokorporatisten die Sicherung der
Handlungsautonomie von Gewerkschaftsführungen gegenüber ihren Mitgliedern
bzw. die Abkoppelung der Organisationsziele von den Mitgliederinteressen. Zwar
wird in Analysen dieses Genres darin ein schwieriges Problem, gleichsam die "Achil-
lesferse des Korporatismus" (Teubner 1980), gesehen, jedoch grundsätzlich als lös-
bares behandelt.
Auch wenn nicht bestritten wird, daß zwischen Organisations- und Mitglieder-
interessen gravierende Differenzen auftreten (können), so sind doch diese Stabili-
tätsannahmen in Frage zu stellen. Die Kritik daran läßt sich in zwei Thesen zusam-
menfassen:
1. Gewerkschaften sind und bleiben mitgliederabhängige Organisationen, und zwar
nicht allein und primär wegen ihrer beitragsabhängigen Finanzierungsbasis, son-
dern weil ihre zentrale Aktivität, die Tarifpolitik, nicht ohne Folgebereitschaft
und Mobilisierbarkeit ihrer Mitglieder denkbar ist.
2. Gewerkschaften stehen unter dem strukturellen Zwang, artikulierte Mitglieder-
interessen wahrzunehmen, da ihnen andernfalls durch negative Sanktionen der
Mitglieder (z.B. Austritt, Verweigerung von Beitragserhöhungen, wilde Streiks)
Legitimations- und Handlungsressourcen entzogen werden können.
Die erste These beruht auf folgenden Überlegungen: Die vom Staat geförder-
ten Tendenzen zur Einbindung der Gewerkschaften in das gesellschaftliche Institu-
tionensystem und zu ihrer Einbeziehung in die wirtschaftliche Globalsteuerung
beruhen auf der Anerkennung der Gewerkschaften als sozialem Machtfaktor; dar-
aus erklären sich auch die Konzessionen und Kompensationen, die ihnen gewährt
werden (müssen). Gewerkschaftliche Macht ist Organisationsmacht, die sich auf
Mitgliederzahlen und Mobilisierungspotential gründet. Da mit abnehmender Orga-
nisationsmacht auch erreichbare Konzessionen und politischer Einfluß schwinden,
liegen Erhaltung und Ausweitung dieser Machtbasis im organisatorischen Interesse.
Als gefestigt kann diese Macht freilich nur gelten, wenn es den Gewerkschaften -
neben der Sicherung ihrer Mitgliederstärke - gelingt, die Folgebereitschaft und
Mobilisierbarkeit der Mitglieder aufrechtzuerhalten. Konkret bedeutet dies, daß
Gewerkschaften zugleich Verpflichtungs- und streikfähig bleiben müssen. Denn um,
erstens, als Verhandlungspartner akzeptiert zu werden, sind Gewerkschaften ge-
halten, ihre Mitglieder auf die ausgehandelten Kompromisse zu verpflichten. Sollten
diese statt dessen - etwa durch wilde Streiks - unterlaufen werden, wird der ge-
werkschaftliche Anspruch auf das Vertretungsmonopol und den Schutz gegenüber
evtl. neu auftretenden Konkurrenzorganisationen geschwächt. Und um, zweitens,
als Machtfaktor ernst genommen zu werden, müssen Gewerkschaften von Zeit zu
Zeit ihre Streikfahigkeit unter Beweis stellen. Da im Streikfall die Mitglieder als
Exekutive ihrer eigenen Interessen handeln, impliziert dies, daß die Organisations-
bindung eine andere sein muß als die von Kunden und Klienten (Offe und Wiesen-
thai 1980). Hierin liegt übrigens ein organisatorisches Problem, das in den mei-
192 Walther Müller-jentsch

sten Arbeitskämpfen als Dilemma von Übermotivation (bei Kadern und aktiven Mit-
gliedern) und Untermotivation (bei den passiven Mitgliedermassen) zutage tritt.
Die zweite These ist eine Schlußfolgerung aus der ersten. Denn die bisherigen
Erörterungen ergaben, daß gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit und Organisa-
tionsmacht - je nach Situation - einmal von der (passiven) Mitgliederzustimmung,
ein andermal vom (aktiven) Eintreten für die eigenen Interessen abhängig bleibt.
Und da Mitgliedschaft in Gewerkschaften freiwillig und interessenbezogen ist,
können Gewerkschaften nicht umhin, auch die artikulierten Interessen ihrer Mit-
glieder wahrzunehmen. Diese Interessen haben ihr Substrat in der sozialen Lage von
abhängig Beschäftigten, was bedeutet, daß sie weder von vornherein - quasi als
objektive - feststünden, noch daß sie beliebig form- und interpretierbar, und -
nach Maßgabe ökonomischer und politischer Stabilitätserfordernisse - voll zu
funktionalisieren wären.
Vier Kategorien von Arbeitnehmerinteressen können unterschieden werden:
Beschäftigungsinteressen (sichere Arbeitsplätze), Lohninteressen (Sicherung und
Erhöhung des Reallohns), Arbeitszeitinteressen (kürzere Arbeitszeit), Job-Inte-
ressen ("humane" Arbeitsbedingungen). Die angegebene Reihenfolge kennzeichnet
ceteris paribus auch die Dringlichkeitsfolge der Interessen (freilich unter der Vor-
aussetzung, daß bestimmte Mindeststandards der Arbeitsbedingungen und der
Normalarbeitszeit nicht unter- bzw. überschritten werden): Erst der Arbeitsplatz,
als die Quelle ständigen Einkommens, dann die Lohnerhöhung, sei's zur Erhaltung
oder Verbesserung des Lebensstandards, dann die Arbeitszeitverkürzung oder Ur-
laubsverlängerung und schließlich die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Dies
ist im groben die Prioritätenliste, die jedoch wenig über die tatsächlichen Abstim-
mungs- und Abwägungsprozesse bei der Interessenformulierung vor Tarifrunden
aussagt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß Arbeitnehmerinteressen als
konkrete Forderungen sich zwar erst im Prozeß innerorganisatorischer Willensbil-
dung konstituieren, daß sie aber ihre außerorganisatorischen Determinanten haben.
Es versteht sich von selbst, daß hier der komplexe Prozeß der Interessenkonsti-
tution nicht Gegenstand systematischer Reflexion sein kann. Allein die Wahrschein-
lichkeit, daß unter angehbaren Bedingungen, im Zusammenspiel von außer- und
innerorganisatorischen Faktoren, handlungsleitende Interessen formuliert werden,
die in Widerspruch zu den Imperativen der Kapitalverwertung geraten können,
sei hier an zwei relevanten Konfliktkonstellationen dargelegt.
Zu den Charakteristika der kapitalistischen Verwertungsdynamik gehört be-
kanntlich die - manchmal rascher, manchmal langsamer erfolgende - Umwäl-
zung des Produktionsprozesses, seiner Technologie und seiner Arbeitsorganisation.
Wenn die daraus resultierenden Folgen sich auch nicht zwangsläufig in den durch-
schnittlichen Reallöhnen, als Senkung oder Stagnation, noch als Erhöhung der
durchschnittlichen Arbeitslosigkeit niederschlagen müssen, so haben sie doch nega~
tive Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen bestimmter Gruppen
von Arbeitern, die freigesetzt, dequalifiziert, abgruppiert, umgesetzt werden. Zu-
mindest für diese Beschäftigtengruppen nehmen technischer Fortschritt und Ratio-
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 193

nalisierung einen bedrohlichen Charakter an. Sind sie gewerkschaftlich gut organi-
siert, werden sie die Organisationsmacht als Hebel gegen die Bedrohung ihres
sozialen Status zu benutzen versuchen, was ihnen um so eher gelingen wird, je stär-
ker die Organisation in den bedrohten Gruppen ihren vitalen, aktiven Kern hat 13 .
In letztem Fall konvergieren Organisations- und Mitgliederinteresse in der Abwehr
der Bedrohung beziehungsweise der Sicherung des Erreichten. In Situationen dieser
Art, die für die kapitalistische Entwicklung durchaus nicht untypisch sind, müssen
die von den Gewerkschaften vertretenen Interessen in Widerspruch zu den Bedin-
gungen ökonomischer und politischer Stabilität geraten. Unter dem Aspekt kapitali-
stischer Verwertungslogik und fortschreitender Produktionstechnologie erscheint
dieses Verhalten der Gewerkschaften als "konservatives Moment" (Deutschmann),
das die kapitalistischen Expansionsinteressen hemmt.
Für die andere Konfliktkonstellation ist die Unterrepräsentation von Interessen
und Interessengruppen das kritische Moment. Unter der Voraussetzung, daß die
Gewerkschaften als Globalstrategie die korporatistische Kooperation anstreben,
müssen sie aus dem möglichen Interessenspektrum bestimmte Dimensionen heraus-
filtern. Dazu zählen (a) konjunkturell: Interessen, die den situationsbedingten Sta-
bilitätserfordernissen zuwiderlaufen und dadurch die ökonomische Dynamik hem-
men könnten (etwa "überhöhte" Lohnforderungen, die den Akkumulationsfonds,
die Investitionsneigung, die internationale Konkurrenzfähigkeit, die Stabilität des
Geldsystems etc. beeinträchtigen können) sowie (b) strukturell: Interessen, die der
kapitalistischen Verwertungslogik entgegenstehen (etwa job-control-Forderungen,
die die Ausschöpfung technologisch gegebener Rationalisierungs- und Veränder-
ungspotentiale behindern oder ernsthafte Eingriffe in Produktionsentscheidungen
des Managements darstellen; im weiteren Sinn, generell Forderungen, die auf die
Gestaltung des Arbeitsprozesses zielen und Einschränkungen des Leistungsprinzips
implizieren). Es bedarf wohl kaum des Hinweises, daß der Stellenwert der "struk-
turellen" Interessen auch durch konjunkturelle Faktoren tangiert oder verschoben
werden kann.
Die Nichtvertretung der angeführten Interessendimensionen hat nicht für alle
Beschäftigten die gleichen Effekte; sie werden vielmehr durch die je spezifische Ar-
beitsmarktposition der einzelnen Gruppen abgemildert oder kumulativ verstärkt.
So kann jene Gruppe, für die der deutsche männliche Facharbeiter mittleren Alters
prototypisch ist, zusätzlich zu den gewerkschaftlich durchgesetzten Mindesbedin-
gungen z. T. erhebliche außertarifliche Lohnzuschläge und in der Regel auch gün-
stigere Arbeitsbedingungen realisieren - im Gegensatz zu jenen "marginalisierten"
Gruppen (also ungelernte, ausländische, weibliche, jugendliche, ältere Arbeitneh-
mer), die aufgrund ihrer schwächeren Arbeitsmarktposition nur geringe Kompensa-

13 Vorgänge dieser Art spielten z. B. in den großen Arbeitskämpfen des Jahres 1978, besonders
in der Druckindustrie, mit Abstrichen auch in der Metallverarbeitung und Stahlindustrie,
eine wichtige Rolle. Vgl. Projektgruppe Gewerkschaftsforschung 1979a und Müller-Jentsch
1979.
194 Walther Müller-]entsch

tionschancen für die nicht-vertretenen Interessen haben. Die in neueren Arbeits-


marktanalysen ("Segmentationstheorien ") herausgearbeiteten Differenzierungen
zwischen den genannten Gruppen, von denen erstere typischerweise die Stammbe-
legschaften, letztere die Randbelegschaften stellen, finden sich, mutatis mutandis,
in den gewerkschaftlichen Organisationen wieder: die durch ihre Arbeitsmarktpo-
sition begünstigten Gruppen sind gewöhnlich auch die gewerkschaftlich überreprä-
sentierten und umgekehrt (Projektgruppe Gewerkschaftsforschung 1979 b; 59 ff.).
Daher läßt sich mit einiger Plausibilität argumentieren, daß die häufig konstatierte
Interessenfilterung im gewerkschaftlichen Willensbildungsprozeß ebensosehr einem
Koppelungseffekt von gruppenspezifischer Interessendifferenzierung mit organisa-
tionsinterner Unter- bzw. Überrepräsentation zu danken ist wie·der den Organisa-
tionsinteressen verpflichteten kooperativen Politik des gewerkschaftlichen Füh-
rungsapparates14.
Soweit die stabilitätskonforme Interessenselektion auf den genannten inneror-
ganisatorischen Strukturen beruht, sind für die Zukunft erschwerte Bedingungen
zu erwarten. Dies aus drei Gründen: erstens werden im Zuge der technisch-orga-
nisatorischen Rationalisierungen des Produktionsprozesses auch die gewerkschaft-
lichen Kerngruppen der männlichen Facharbeiter stärker als früher von Arbeits-
platzunsicherheit, Lohneinbußen und - gravierender noch, weil damit ihre Arbeits-
marktposition unterminiert wird -von Dequalifikation bedroht; zweitens zeichnen
sich in der Beschäftigtenstruktur Veränderungen ab, die zur Verringerung dieser
Kerngruppen führen werden, mit der Folge, daß die Handlungsfähigkeit der Ge-
werkschaften zunehmend von den sogenannten marginalisierten Gruppen abhängig
wird (Heinze et. al. 1980); drittens spricht dies mit einer Reihe weiterer Anzeichen
dafür, daß für diese Gruppen das "Ende der Bescheidenheit" gekommen ist und sie
ihre bislang nachgeordneten Interessen stärker zur Geltung bringen werden 15 .
Angesichts dieser Entwicklungen wäre es naiv zu glauben, daß die gewerkschaft-
lichen Vorkehrungen zur Einschätzung der Willensbildung im Prozeß der Inter-
essenformulierung ausreichen, um auszuschließen, daß Stabilität und Kooperation
beeinträchtigende Interessen formuliert und in der gewerkschaftlichen Praxis band-

14 Die Erklärung der organisationsinternen Interessenselektion durch die gewerkschaftliche


Mitglieder- und Repräsentationsstruktur ist ein wesentlicher Befund der zweiten großen Ge-
werkschaftsuntersuchung (Projektgruppe Gewerkschaftsforschung) am Institut für Sozial-
forschung. Mit dieser organisationspolitischen "Segmentationsthese" wird die in der ersten
Gewerkschaftsstudie (Bergmann/Jacobi/Müller-Jentsch 1975) vertretene These restriktiver
Willensbildung um eine wichtige Erklärungsvariable ergänzt.
15 Zu diesen Anzeichen gehören: (a) die Tatsache, daß arbeitslose Frauen nicht mehr in dem
Ausmaß wie früher (z. 8. in der Rezession 1966/67) als "stille Reserve" an den Herd zurück-
kehren, sondern als Arbeitslose Ansprüche geltend machen; (b) der überproportionale An-
stieg der gewerkschaftlichen Organisierung von Frauen seit Anfang der siebziger Jahre;
(c) die Verlängerung der durchschnittlichen Verweildauer von ausländischen Arbeitern in
der Bundesrepublik, die eine Annäherung an die Anspruchshaltung deutscher Arbeitnehmer
begünstigt; (d) die verbreitete Unzufriedenheit jugendlicher Gewerkschafter mit den tradi-
tionellen gewerkschaftlichen Vertretungsformen.
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 195

lungsrelevant werden. Wenn auch unwahrscheinlich ist, daß sich daraus schon gesell-
schaftsverändernde Strategien entwickeln könnten, da die Gewerkschaften weder
real noch programmatisch auf realistische und attraktive Alternativen zur beste-
henden Gesellschaftsordnung zurückgreifen können, so sind doch politische Alter-
nativen "mittlerer Reichweite" denkbar, welche die Aufkündigung der korpora·
tistischen Kooperation implizieren.
Da jede globale strategische Perspektive Unsicherheiten und Risiken birgt, ist
kaum zu erwarten, daß die Funktionäre einer Organisation geschlossen hinter der
jeweils eingeschlagenen Strategie stehen; häufig gibt es Strömungen und Fraktionie-
rungen, die anderen strategischen Vorstellungen Priorität einräumen (Sabel 1978).
Brechen sich, unter welchen externen Bedingungen auch immer, die nicht-vertrete-
nen Interessen in Form negativer Mitgliederreaktionen und/oder kumulativer
innerorganisatorischer Auseinandersetzungen Bahn, so können die bestehenden
Fraktionierungen in eine interne Führungskonkurrenz um die bessere/effektivere
Interessenvertretung umschlagen, ja unter Umständen kann es sogar zu organisatori-
schen Abspaltungen und Neugründungen kommen 16 •

111. 2. Klasseninteressen und Machtasymmetrie

Viele neokorporatistische Ansätze gehen- explizit oder implizit- von der Voraus-
setzung aus, daß die korporatistische Kooperation ein Nichtnullsummenspiel dar-
stellt, von dem alle Beteiligten gleichermaßen profitieren. Unmißverständlich bringt
dies Streeck in der folgenden Formulierung zum Ausdruck:

"Ja, geht man davon aus, daß die Substanz einer für alle akzeptablen, sozusagen 'pareto-optima-
len' Systempolitik durch die Sach- und Systemzwänge der 'politischen Ökonomie' von vorn-
herein weitgehend festgelegt ist, so stellt die Organisierung von Konsens: die Integration unter-
schiedlicher Interessen, Erfahrungen, 'Lebenswelten' in das unter den gegebenen Bedingungen
'Mögliche' unter korporativistischer Perspektive die im Grunde einzig verbleibende, allerdings
um so entscheidendere Funktion organisierter Interessenvertretung dar" (Streeck 1978a; 67).

Annahmen dieser Art eskamotieren das asymmetrische Machtverhältnis, das zwi-


schen Staat und Kapitalverbänden auf der einen, Staat und Gewerkschaften auf der
anderen Seite besteht, und das sich in den unterschiedlichenTransmissionsleistungen,

16 Beispiele für "break-away unions" (z. B. Hafenarbeitergewerkschaft in Schweden), für die


Entstehung neuer militanter Organisationen (z. B. Technikergewerkschaften in Großbri-
tannien) und für radikalen Kurswechsel etablierter Gewerkschaften (z. B. CFDT in Frank-
reich, CGIL und CCIL in Italien) lassen sich in der jüngeren Geschichte Westeuropas nicht
wenige finden. Im Gewerkschaftssystem der Bundesrepublik sind gleichfalls Polarisierungen
und Fraktionierungen in den letzten Jahren sichtbar geworden: in der IG Metall zwischen
dem Bezirk Stuttgart (Steinkühler) und den Bezirken Nordrhein-Westfalens über tarifpoli-
tische Konzeptionen; in der IG Chemie zwischen Hauptvorstands-Mehrheit und örtlichen
Funktionärsgruppen über die Rolle der Vertrauensleute; in der IG Druck zwischen gewerk-
schaftspolitisch radikalisierten und pragmatisch orientierten Gruppierungen.
196 Waltber Müller-]entscb

die den intermediären Organisationen von Kapital und Arbeit abgefordert werden,
widerspiegelt. Mit anderen Worten, für die "allgemeinen" oder Systeminteressen
müssen unterschiedliche Opfer gebracht werden. Da das Kapital mit der Investitions-
und Preisautonomie über die relevanten Aktionsparameter zur Durchsetzung der
wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziele verfügt, kann der Staat die Systemziele
wirtschaftliche Expansion und hohen Beschäftigungsstand nur in Übereinstimmung
mit den Unternehmerinteressen durchsetzen. Einbeziehung der Organisationen des
Kapitals heißt im wesentlichen: Vertrauenswerbung für die Wirtschaftspolitik der
jeweiligen Regierung, Schaffung eines günstigen Investitionsklimas; allenfalls wird
1m sie noch die Erwartung gerichtet, kurzfristige Interessen (etwa die Ausnutzung
sich bietender Preiserhöhungsspielräume) zeitweilig zurückzustellen. Die weitaus
effektiveren Maßnahmen bestehen indessen in der wirtschaftspolitischen Begünsti-
gung der Unternehmerischen Gewinninteressen. Da somit das Privateigentum als
Basisinstitution des ökonomischen Prozesses nicht nur unangetastet bleibt, sondern
als solches auch in die Rolle eines systemfunktionalen Steuerungselements hinein-
wächst, wird die Machtposition des Kapitals gestärkt. Unter Stabilitätsgesichtspunk-
ten erscheint demgegenüber gewerkschaftliche Mobilisierung - die Machtbasis der
Lohnabhängigen -, wird sie voll zur Geltung gebracht als systemwidriges Störpo-
tential, das es zu neutralisieren gilt. Das heißt, die Einbeziehung der Gewerkschaf-
ten in wirtschaftspolitische Steuerungsprozesse zielt nicht auf die Stärkung und
Funktionalisierung ihrer traditionellen ökonomischen Aufgaben auf dem Gebiet der
Lohn- und Sozialpolitik, sondern auf tarifpolitische Selbstbeschränkung und
Verzicht auf organisatorische Machtentfaltung; sie läuft somit auf Unterordnung
unter kapitalistische Klasseninteressen hinaus.
Ein korporatistischer Interessenverbund zwischen Staatsapparat, Unternehmer-
verbänden und Gewerkschaften, der auf solch unterschiedlichen Voraussetzungen
beruht, bleibt ein prekäres Arrangement, dessen (temporäre) Stabilität und Effek-
tivität von weiteren Konditionen abhängt. Vereinfacht gesagt, muß der Nutzen, den
die Gewerkschaften daraus ziehen können, die Kosten und Risiken überkompen-
sieren. Auch der Staat muß die Kosten-Nutzen-Relation der korporatistischen
Kooperation optimieren und die denkbarer Alternativstrategien verschlechtern.
Vollbeschäftigungsgarantie und Wachstumspolitik allein reichen auf Dauer nicht
aus, um gewerkschaftliche Vorleistungen und tarifpolitische Selbstbeschränkung
gegenüber der Mitgliederschaft zu legitimieren. Erforderlich werden zusätzliche
Kompensationen, sei es in Form verbesserter institutionalisierter Einflußchancen,
politischer und sozialer Reformen oder steuerlicher Entlastungen. Diese können
jedoch nicht offen als Kompensationsgeschäfte gehandelt werden, da sie in der
Regel parlamentarischer Bearbeitung unterliegen; damit bleibt ihre Einlösung
prinzipiell ungesichert. Durch die Beteiligung von den Gewerkschaften nabestehen-
den (Arbeiter-)Parteien an der Regierung kann dieses Ungewißheitsmoment für die
Gewerkschaften reduziert und ihre Kooperationsbereitschaft erhöht werden.
Arbeiterparteien an der Regierung, in der Regel eine conditio sine qua non für
dauerhafte korporatistische Kooperation (vgl. Schweden, Österreich) werfen neue
Vom gewerkschaftlichen Doppelcharakter 197

Probleme auf 17 • Einerseits vergrößern sich dadurch die staatlichen Steuerungsres-


sourcen, da die soziale Kontrolle der Gewerkschaften aufgrund der traditionellen
und personellen Bindungen zwischen Arbeiterpartei und Gewerkschaften erleichtert
wird. Andererseits wachsen in den Gewerkschaften die Erwartungen an die Regie-
rung, daß diese ihren Zielen positiv gegenübersteht, daß sie vor allem den Ambitionen
des gewerkschaftlichen Führungsapparates nach Verbesserung des politischen und in-
stitutionellen Einflusses nachgibt. Mit den staatlichen Zugeständnissen an die Ge-
werkschaften wächst indessen die Wahrscheinlichkeit, daß das korporatistische
Arrangement vom "bürgerlichen" Lager als bedrohlich für die eigene Machtposi-
tion wahrgenommen wird (Stichwort "Gewerkschaftsstaat"). Für das Kapital gibt
es kritische Grenzen, jenseits deren es Widerstand gegen Konzessionen an die Ge-
werkschaften mobilisieren wird; dies gilt insbesondere für solche Zugeständnisse,
die den gewerkschaftlichen Zugriff auf Eigentum und Profit ermöglichen oder die
Prärogative des Mangements durch Ausweitung der institutionalisierten Mitbestim-
mung in Betrieb und Unternehmen ernsthaft einzuschränken drohen. Wenn auch
nicht von einem einheitlichen Kapitalblock, sondern von inneren Differenzierungen
-etwa zwischen Groß- und Kleinkapital, export-und importorientierten Branchen
etc. - auszugehen ist, so lehrt doch die Erfahrung, daß in solchen kritischen Fragen
die Kapitalverbände Einheitlichkeit herzustellen vermögen. Die Schlußfolgerung,
die aus diesen Überlegungen zu ziehen ist, besagt, daß das staatliche Kompensa-
tionspotential nicht nur durch seine materiellen Ressourcen, sondern auch durch
politische Gegenmobilisierung beschränkt wird.

111. 3. "Politischer Zyklus"

Stabilität in Klassengesellschaften heißt, auf den Kern gebracht, den Klassenkon-


flikt latent zu halten. Das impliziert, daß die durch die gesellschaftliche Klassenspal-
tung bedingten Konflikte über die Verteilung des erwirtschafteten Volkseinkom-
mens, über die Verwendung des gesellschaftlichen Mehrprodukts und über die an-
gemessene Lohn-Leistungs-Relation im Produktionsprozeß prinzipiell nur durch
temporäre Kompromisse gelöst werden können. Bleibt somit das Potential gesell-
schaftlicher Instabilität grundsätzlich erhalten, dann können "funktionslose Ver-
teilungskämpfe" (Sachverständigenrat), "anomische Arbeitsbeziehungen" (Gold-
thorpe 1974) oder paralysierte Tarifvertragssysteme auch nicht als pathologische
Erscheinungen abgetan werden, sondern sind - ebenso wie stabile institutionelle
Arrangements zwischen Kapital und Arbeit - als immanente Möglichkeiten fortbe-
stehender Klassenantagonismen anzusehen.
Die Strategie korporatistischer Einbindung bleibt in den entwickelten kapi-
talistischen Ländern notwendigerweise nur eine unter anderen Strategien, um den

17 Hierzu hat Panitch ( 1976) eine aufschlußreiche Fallstudie über die Labour Party als Regie-
rungspartei und ihre politische Rolle im Verhälmis zu den britischen Gewerkschaften
vorgelegt.
198 Waltber Müller-]entscb

Klassenkampf latent zu halten. An spezifische Voraussetzungen gebunden, kön-


nen korporatistische Arrangements zeitweise durchaus effektive Formen der Politik-
organisation bilden. Gleichwohl tendieren sie dazu, die Bedingungen ihrer eige-
nen Auflösung zu produzieren. Da zu ihren Erfolgen die Verstetigung von Wachs-
tum und Beschäftigung gehören, erhöhen sich mit der Zeit die objektiven Durch-
setzungsmöglichkeiten der Gewerkschaften wie die subjektiven Erwartungen ihrer
Mitglieder. Überdies wird infolge der korporatistischen Politik die Mitgliederbin-
dung an die Organisation gelockert, und individuelle Interessenstrategien und/oder
informelle Verhandlungs- und Aktionsformen auf betrieblicher Ebene erhalten grö-
ßeres Gewicht. Dadurch gewinnen in den Gewerkschaften Tendenzen zur aktiveren
und militanteren Interessendurchsetzung, die geeignet sind, die Notwendigkeit der
Gewerkschaften wieder stärker zur Geltung zu bringen, an Auftrieb. Gewöhnlich
ist dies - wie Erfahrungen in den meisten westlichen Ländern lehren - der Anfang
vom Ende jeglicher Einkommenspolitik auf freiwilliger Basis. Infolgedessen werden
neue politische Strategien und/oder ökonomische Disziplinierungsmechanismen
erforderlich, um die Gewerkschaften in ihren Forderungen und Aktivitäten zu be-
schränken.
Kaleckis (1943) oft zitierter "politischer Zyklus" läßt sich auch als zyklische
Abfolge politischer Strategien zur Einbindung der Gewerkschaften verstehen. Jede
dauerhafte gesellschaftliche Situation - sei es die der Vollbeschäftigung oder die
der Unterbeschäftigung - fördert auf seiten der Arbeiterklasse Lernprozesse und
politische Entwicklungen, welche die jeweiligen Stabilitäts- und Disziplinierungs-
ressourcen aufzehren, so daß die kapitalistische Gesellschaft nur durch die Verände-
rung der ökonomischen Bedingungen und den Wechsel der Strategien ihre gefähr-
dete Stabilität wiedergewinnen kann. Politische Reinigungskrisen, die die "An-
spruchsinflation" dämpfen und die "Arbeitsmoral" heben, sind ebenso notwendig
wie ökonomische Krisen, um den Akkumulationsprozeß zu sichern. Und umgekehrt
kann politische Massenloyalität auf Dauer schwerlich ohne wiederkehrende Bemü-
hungen zur ökonomischen Ankurbelung und zur Erhöhung des Beschäftigungsstan-
des gesichert werden. Daß in diesem "Stellungskrieg" (Gramsci) zwischen den
Klassen jede Umbruchsituation nicht nur die Bedingungen erneuter gesellschaftli-
cher Stabilität erzeugen, sondern auch zu einer Radikalisierung des Klassenkampfes
führen kann, ist eine durch die historische Entwicklung nur selten bestätigte, aber
immerhin nicht falsifizierte Erfahrung, die gegenwärtig in Vergessenheit zu ge-
raten droht; nicht zuletzt deshalb, weil das Fehlen realer politischer und ökono-
mischer Alternativen zum Bestehenden 18 zwangsläufig eine Verengung für die Ge-
werkschaftspolitik bedeutet und ihre pragmatische Orientierung als einzig mög-
liche erscheinen läßt.

18 Daß der "real existierende Sozialismus" im Osten für die Arbeiter des Westens seine Attrak-
tivität verloren hat, ist offensichtlich. Der ironische Klang, der heute dem ehemals heroi-
schen Epitheton für die Sowjetunion - "Vaterland aller Werktätigen"- anhaftet, ist kaum
zu überhören.
Vom gewerkschaftlieben Doppelcharakter 199

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Rainer Erd

Probleme einer, Theorie der Verrechtlichung industrieller Beziehungen


-Am Beispiel von Franz L. Neumann

Bürgerliches Recht ist der deutschen Arbeiterbewegung seit ihren Anfängen ein
unbewältigtes theoretisches und politisches Problem. Die orthodox marxistische
Interpretation staatlicher Normen als "Klassenrecht" bestimmte weitaus mehr
die Diskussion jener Teile der Arbeiterbewegung, die als Außenstehende über
keinen bedeutsamen Einfluß auf die Gewerkschaften verfügten. So bildete sich
schon gegen Ende des letzten Jahrhunderts in den dominierenden sozialdemokra-
tischen und vor allem in den stärker pragmatisch orientierten Gewerkschaften ein
Verhältnis zum bürgerlichen Recht heraus, das von Kritikern als "legalistisch"
etikettiert wurde. Legalismus wird als Kennzeichnung dafür verwendet, daß die Ge-
werkschaften ihr Handeln nicht allein an Kriterien der Interessenartikulation
und der strategischen Abwägung von politischen Zielen und organisatorischen
Ressourcen orientieren, sondern auch normative Elemente berücksichtigen. Lega-
lismus bezeichnet für seine Kritiker eine gewerkschaftliche Praxis, die politische
Ziele nur dann propagiert, wenn sie sich in das Korsett der herrschenden Rechts-
ordnung einfügen. Einem Iegalistischen Selbstverständnis ist das staatlich-rechtliche
Diktum Schranke der Artikulation von Forderungen. An eine nicht-legalistische,
instrumentelle Gewerkschaftspolitik hingegen wird die Erwartung gerichtet, daß
sie die Formulierung, Artikulation und Durchsetzung von Forderungen an die
Interessen der Lohnabhängigen knüpft und auch dann daran festhält, wenn staat-
lich gesetztes Recht entgegensteht. Legalismus ist die klassische Strategie des Re-
formismus, während revolutionäre Gewerkschaftstheorien im Recht zwar auch eine
Schranke politischen Handeins sehen, die indes nicht akzeptiert, sondern überwun-
den werden soll.
Diese, in der deutschen Gewerkschaftsbewegung zum letztenmal während der
Generalstreik-Debatte 1905 folgenreich diskutierte Alternative hat in der rechtspo-
litischen Diskussion in den Gewerkschaften nach 1945 kaum mehr eine Rolle ge-
spielt. Obwohl die "legale" Machtergreifung der Nationalsozialisten die Gewerk-
schaften - entgegen ihren Kooperationsangeboten - für zwölf Jahre gewaltsam aus-
schaltete, blieb die auf den bürgerlichen Staat gerichtete Hoffnung der Gewerk-
schaften nach 194 5 nahezu unerschüttert. Die Verrechtlichung der industriellen
Beziehungen wird von den Gewerkschaften weit eher als Zeichen der Konsolidie-
rung ihrer gesellschaftlichen Stellung denn als Dilemma angesehen. Einem solchen
gewerkschaftlichen Selbstverständnis ist die Kenntnis "herrschender" juristischer
202 Rainer Erd

Meinungen und Normen bedeutsamer als die theoretische Frage nach der Struktur
und Funktion des bürgerlichen Rechts. Die Gewerkschaften konzentrieren sich des-
halb darauf, Mitglieder und Funktionäre im "herrschenden" Recht sowie in den
Formen seiner praktischen Realisierung zu schulen. Rechtstheorie kann einer sol-
chen Politik nur als "überflüssiger Ballast" erscheinen, der von der "eigentlichen"
Arbeit ablenkt. Selbst in den Konzeptionen einiger kritischer Arbeitsrechtler, die
sich den Gewerkschaften politisch verbunden fühlen, ist diese Vorstellung noch do-
minant (Erd 1978; 1979).
Gewerkschaftstheorien dagegen, die die Politik der Gewerkschaften kritisch re-
flektieren, weisen dem bürgerlichen Recht in der Regel die Funktion einer "Rah-
menbedingung" zu, die gewerkschaftliche Handlungspotentiale beschränkt (Berg-
mann u. a. 1975; 221 ff.). Recht wird als eine repressive oder restriktive Bedingung
"kooperativer" Gewerkschaftspolitik interpretiert, deren Veränderung Möglichkei-
ten für eine alternative Politik eröffnet. Verkannt wird in diesem Verständnis
bürgerlichen Rechts, daß dieses nicht nur Handlungschancen der Gewerkschaften
blockieren kann (das tut es in bestimmten Bereichen), sondern daß es auch posi-
tive Funktionen für die Stabilität der gewerkschaftlichen Organisationsstruktur
zu erfüllen vermag. So verstanden ist bürgerliches Recht nicht so sehr Rahmenbe-
dingung gewerkschaftlicher Politik als vielmehr integratives Element der Struktur
der Gewerkschaften und ihrer Politik. Die in der kritischen gewerkschaftstheore-
tischen Literatur überwiegend vertretene Interpretation des Rechts ist das Gegen-
bild der gewerkschaftlichen Vorstellung. Anerkennt diese Recht als Schranke ge-
werkschaftlicher Handlungsmöglichkeiten, so kritisiert jene Recht als Hindernis
für eine interessenorientierte Politik. Ebenso wie gewerkschaftlicher Rechtspoli-
tik wird der kritischen Gewerkschaftstheorie eine Theorie der Verrechtlichung
industrieller Beziehungen (bisher) nicht zum Bedürfnis.
Anlaß dazu besteht freilich genug. Denn zu oft hat gewerkschaftliche Rechts-
politik Niederlagen erlitten, als daß es sich die Gewerkschaften "leisten" könn-
ten, ihr Handeln allein pragmatisch zu bestimmen. Und zu sehr haben Gewerk-
schaftstheoretiker bisher gehofft, staatliche Normen unterdrückten kämpferische
Momente in den Gewerkschaften, die durch eine Entrechtlichung freigesetzt wer-
den können. Die mangelnden rechtspolitischen Erfolge der Gewerkschaften,
gerade seit der ökonomischen Krise, und die zunehmende Anerkennung der Fol-
gen kapitalistischer Krisenbereinigung durch Gewerkschaften und Arbeiterschaft
provozieren die Frage nach einer präziseren Bestimmung der Verrechtlichung in-
dustrieller Beziehungen. Angesichts des theoretischen Vakuums in der Nachkriegs-
literatur scheint ein Rückgriff auf die rechts- und gewerkschaftstheoretische Dis-
kussion zur Zeit der gescheiterten Weimarer Republik und des sich etablierenden
Nationalsozialismus von Interesse zu sein. Denn der Untergang der Weimarer Re-
publik zwang gewerkschaftlich orientierte Juristen zu einer theoretischen Refle-
xion über das Scheitern legalistischer Gewerkschaftspolitik, deren Niveau seitdem
unerreicht ist.
Verrechtlichung industrieller Beziehungen 203

In keinem anderen Autor hat sich die Tragik des gewerkschaftlichen Legalis-
mus der Weimarer Republik stärker verkörpert als in Franz L. Neumann'. Seine
rechts- und gewerkschaftstheoretischen Schriften sollen hier interpretierend skiz-
ziert und kritisiert werden, um auf diese Weise zu Fragestellungen und Hypothesen
für eine theoretische Formulierung der Verrechtlichung von Kapital und Arbeit im
gegenwärtigen (bundesrepublikanischen) Kapitalismus zu gelangen. Wenn im fol-
genden allein die Schriften von Franz L. Neumann rezipiert und interpretiert
werden, so darf das nicht in der Weise mißverstanden werden, als sei Franz L.
Neumann der einzige gewerkschaftsorientierte Wissenschaftler in der Weimarer
Republik gewesen, der sich theoretisch mit dem Problem der Verrechtlichung von
Klassenkonflikten beschäftigte. Die erste deutsche Republik brachte vielmehr -
nicht zuletzt wegen der historischen Neuheit der weitgehenden staatlichen Aner-
kennung rechtspolitischer Forderungen der Gewerkschaften -eine Reihe brillanter
"linker" Arbeitsrechder hervor, deren Werk zu entdecken nicht minder bedeutsam
ist: Hugo Sinzheimer, Ernst Fraenkel, Otto Kahn-Freund, Otto Kirchheimer und
Kar! Korsch.
Die Beschränkung auf Franz L. Neumann sei knapp begründet. Hugo Sinzheimer,
der "Vater" des Weimarer Arbeitsrechts und Lehrer von Fraenkel, Kahn-Freund,
Kirchheimer und Neumann, hat wie kein anderer die dogmatischen Grundlagen für
das neu entstandene Arbeitsrecht geschaffen. Sinzheimer war jedoch weniger
Rechtstheoretiker als Rechtspolitiker. Er hat kein im strikten Sinne theoretisches
Werk verfaßt; seine Schriften und seine Lebensgeschichte waren vielmehr in hohem
Maße von der Arbeit innerhalb der Weimarer Mehrheitssozialdemokratie bestimmt
(vgl. Luthardt 1977; 443ff., Kahn-Freund; Band 1, 1 ff.). Das gilt für Kar! Korsch
sicherlich nicht. Mit seinem "Arbeitsrecht für Betriebsräte" (1922) publizierte er

Neumanns Arbeiten sind in der Bundesrepublik, anders als in den Vereinigten Staaten, wenig
bekannt. Ein Grund dafür ist zunächst die Tatsache, daß noch vor wenigen Jahren, mehr als
30 Jahre nach dem 2. Weltkrieg, der überwiegende Teil seiner Schriften in Deutschland un-
veröffentlicht war. Mit Ausnahme eines Artikels in Thilo Ramms verdienstvollem Sammel-
band "Arbeitsrecht und Politik" von 1966 und der Zusammenstellung einiger Aufsätze
durch Herbert Marcuse, einem langjährigen Freund Neumanns, in dem Band "Demokrati-
scher und autoritärer Staat" (1967) konnte der deutsche Leser Neumanns Arbeiten nur in
englischen Ausgaben oder in Archiven über die Weimarer Republik erhalten. Der liebe-
vollen editorischen Arbeit Alfons Söllners (1978, 1979, 1980) und Gert Schäfers (1977)
ist es zu verdanken, daß seit 1977 die wichtigsten Bücher und Aufsätze von Neumann in
deutscher Sprache erschienen sind. (Die Europäische Verlagsanstalt will, nachdem sie von
den Gewerkschaften verkauft worden ist, ab Herbst 1982 mit einer Gesamtausgabe von
Neumanns Schriften beginnen.) Die Gewerkschaften, als deren Rechtsvertreter Neumann
lange Jahre in der Weimarer Republik vor Gericht auftrat, schienen an seinen Werken eben-
sowenig interessiert wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung, dessen Mitarbeiter er
zwischen 1936 und 1942 im New Yorker Exil war. So blieb es bis heute nahezu unbekannt,
daß Franz L. Neumann sechs Jahre zusammen mit Max Horkheimer, Theodor W. Adorno,
Herbert Marcuse, Leo Löwenthal, Erich Fromm, Kar! August Wittfogel u. a. forschte (Inter-
national Institute of Social Research 1938; 4). Zur Rolle Neumanns im Institut vgl. Jay
(1976; 175 ff.); Dubiel (1978; 56 ff., 197 ff.); Söllner (1979; 165 ff.); Löwenthai (1980;
103 ff.). Biographische Notizen finden sich bei Hughes (1969) und Pross (1967), nicht bei
Kirchheimer (1957) und Kettler (1957).
204 Rainer Erd

eine historisch-theoretische Analyse der Geschichte des Arbeitsrechts und zugleich


eine programmatische Schrift für Betriebsräte, die bis heute einzigartig ist. Was
Korsch indes nicht ausdrücklich thematisierte, war der historisch-systematische Zu-
sammenhang von Gewerkschaftspolitik und staatlicher Verrechtlichung. Das trifft
gleichermaßen für die Arbeiten von Fraenkel, Kahn-Freund und Kirchheimer zu.
Kirchheimer (1930) beschäftigte sich mit gewerkschaftstheoretischen Fragen nur
am Rande, und Kahn-Freund (1931) verfaßte seine arbeitsrechtlichen Analysen
mehr aus einem liberalen Habitus der Empörung über die konservativ-faschistische
Rechtsprechung des Reichsarbeitsgerichts heraus als durch theoretische Überlegun-
gen angeleitet. Franz L. Neumanns Denken am nächsten stand die theoretische
Position seines Freundes und Kollegen Ernst Fraenkel (1927, 1929, 1930, 1932),
mit dem er mehrere Jahre zusammen ein Anwaltsbüro betrieb. Aber auch Fraenkels
Arbeiten konzentrierten sich nicht explizit auf das Verhältnis von Gewerkschaften
und Staat. So bleibt Franz L. Neumann der einzige gewerkschaftlich orientierte
Arbeitsrechtler, der dem Verhältnis von Recht und Gewerkschaften, wenn auch
nicht in einer systematischen Arbeit, so doch in verschiedenen Aufsätzen nachge-
gangen ist.
Die Fragestellung, unter der ich Neumanns Arbeiten analysieren möchte, zwingt
zu einer gewissen Stilisierung seiner Lebensgeschichte. Franz L. Neumanns wis-
senschaftliches Werk läßt sich -wie A. Söllner herausgearbeitet hat (1978, 11) -in
drei Phasen einteilen: In der ersten, reformistischen Phase (1928 bis 1933) beschäf-
tigte er sich vor allem mit rechtspolitischen Problemen und der Ausarbeitung
eines juristischen Beitrags für eine "Wirtschaftsdemokratie". Diese theoretisch
wenig fruchtbare Zeit wird im folgenden weitgehend außer acht gelassen. Die Unter-
suchung konzentriert sich vielmehr auf die zweite, "materialistische" Arbeitsphase
(1933 bis 1942), in der Neumann den Grundstein für seinen spezifischen Beitrag
zur Rechts-, Staats- und Gewerkschaftstheorie legte. Der dritte Abschnitt in Neu-
manns Lebenswerk (1950 bis 1954), sein Versuch, Politikwissenschaft als kriti-
sche Gesellschaftstheorie zu entwickeln, kann eher beiläufig gestreift werden, da
er sich in dieser Zeit nur noch gelegentlich mit gewerkschaftstheoretischen Fragen
befaßte. Die Auseinandersetzung mit Neumann, das wollen die folgenden Ausfüh-
rungen belegen, ist von mehr als wissenschaftshistorischem Interesse. Mit Franz
L. Neumanns Fragestellungen und Interpretationen wird sich eine Theorie der
Verrechtlichung industrieller Beziehungen besd.äftigen müssen, wenn sie mehr als
"alternative Dogmatik" sein will.

1. Souveränität und Freiheit- Die Ambivalenz des bürgerlichen Rechtsstaats

Eine Theorie der Verrechtlichung industrieller Beziehungen ist bei Franz L. Neu-
mann als komplexer Beziehungszusammenhang von politisch-ökonomischen, ge-
werkschafts- und staatstheoretischen Überlegungen konzipiert. Anders als heutigen
Gewerkschaftstheorien, denen vielfach bürgerliches Recht allein als "Rahmenbe-
Verrecbtlicbung industrieller Beziehungen 205

dingung" gewerkschaftlichen Handeins erscheint, war für Neumanns Ansatz die


Vermittlung von marxistischer Gesellschafts- und Staatstheorie konstitutiv. Für ihn
als Praktiker der Gewerkschaftsbewegung in der Weimarer Republik, der den Auf-
stieg der ersten deutschen "kollektiven Demokratie" ebenso erlebte wie ihren
Niedergang, konnte die Möglichkeit einer sozialistischen Gewerkschaftspolitik
nicht allein aus der Analyse der Entwicklung des Kapitalismus, der Sozialstruktur
der Gesellschaft, der Strategien von Kapital und Arbeit und der Wirtschaftspolitik
des Staates begründet werden. Eine Transformation der bürgerlichen Gesellschaft
setzte gleichermaßen voraus, daß die Struktur des bürgerlichen Rechts, historisch
ein bedeutendes Medium zur Unterdrückung der kollektiven Organisationsinteressen
der Lohnabhängigen, die Möglichkeit einer Umwandlung der Gesellschaft einschloß.
Neumann vermochte sich die Veränderung der Gewaltstruktur der kapitalistischen
Gesellschaft nicht anders vorzustellen als auch im Medium des Rechts. Die Herausbil-
dung des bürgerlichen Rechtsstaats ist deshalb für Neumann nicht nur aus histori-
schen Gründen, infolge des Zusammentreffens von Rechtsstaat und rechtlicher An-
erkennung der Gewerkschaften, sondern aus systematischen Gründen eine Bedin-
gung für eine sozialistische Transformation. Die Struktur des Gesetzes im bürgerli-
chen Rechtsstaat ist eine elementare Voraussetzung für den potentiellen Erfolg
einer sozialistischen Bewegung.
Neumann konzentrierte sich deshalb, vor allem nach der Emigration, auf die
Ausarbeitung einer Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats. Hatte er sich vor der
Emigration, in seinen "reformistischen" Schriften, überwiegend damit beschäftigt,
für die Gewerkschaften rechtliche Alternativen zur herrschenden Meinung in der
Rechtsprechung und Arbeitsrechtswissenschaft zu formulieren (1930, 1931, 1932)
und dabei unreflektiert die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Transformation
auch im Medium des Rechts vorausgesetzt, so problematisierte er nun seine "refor-
mistische" Naivität. Im Londoner Exil promovierte er an der London School of
Economics (bei Harold Laski) mit einer Arbeit, die den Widerspruch von Souverä-
nität und Freiheit als unversöhnlichen Elementen des modernen Staates zum The-
ma hat (1936; 16). Der bürgerliche Rechtsstaat erscheint ihm als rechtliche Basis
für eine sozialistische Transformation, was indes den Umschlag in eine faschisti-
sche Diktatur nicht ausschließt. "Die ... zentrale These, die wir hier zu belegen ver-
suchen, ist die, daß die Herrschaft des generellen Gesetzes einen desintegrierenden
Effekt hat, weil sie Freiheit in einer Gesellschaft gewährt, die auf Ungleichheit
beruht" (1938; 18). Worin, so ist zu fragen, besteht für Neumann der freiheitsstif-
tende Charakter des bürgerlichen Rechtsstaats, der ihn für eine Veränderung der
kapitalistischen Gesellschaft prädestiniert?
Gegenüber Interpretationen des bürgerlichen Rechtsstaats als eines Systems der
"Freisetzung der kapitalistischen Ökonomie" oder der "Anerkennung der Persona-
lität und Subjektqualität des Individuums" (vgl. Preuß 1979; 22) beharrt Neumann
darauf, daß der bürgerliche Rechtsstaat, "in dem Gesetze, aber nicht Menschen
herrschen sollen, ... auf zwei Elementen (beruht): auf Gewalt und Gesetz, auf Sou-
veränität und Freiheit. Der Souveränität bedarf das Bürgertum, um lokale und par-
206 Rainer Erd

tikulare Gewalten zu vernichten, die Kirche aus den weltlichen Angelegenheiten


zurückzudrängen, eine einheitliche Verwaltung und Rechtsprechung herzustel-
len, die Grenzen zu sichern und Kriege zu führen und alle diese Aufgaben zu finan-
zieren. Politische Freiheit braucht das Bürgertum, um seine ökonomische Freiheit
zu sichern. Beide Elemente sind konstitutiv" (1937; 31). Souveränität und Freiheit
stehen indes zueinander in Widerspruch: Um die Freiheit zu sichern, muß der bür-
gerliche Rechtsstaat den Bürgern gegenüber souverän sein, ihre Freiheit beschränken
können. So wie der bürgerliche Rechtsstaat die Freiheit des Individuums bejaht und
garantieren will, stellt er sie zugleich in Frage. Eine Auflösung dieses Widerspruchs
ist nur um den Preis einer Beseitigung des modernen Staates möglich.
Um den Widerspruch zwischen Souveränität und Freiheit aufrechtzuerhalten,
hat das System des bürgerlichen Rechtsstaats eine Institution geschaffen, die staat-
liche Eingriffe in die Freiheitssphären des Individuums gestattet, ohne die Freiheit
aufzuheben: das allgemeine Gesetz. Dieses Gesetz, in seiner Satzbildung generell
(nicht auf eine einzelne Person oder Institution bezogen), in seiner Allgemeinheit
bestimmt (präzise Beschreibung der Voraussetzungen, die eine bestimmte Rechts-
folge auslösen) und ohne rückwirkende Kraft (193 7; 3 7), so argumentiert Neumann
weiter, ist gegenüber dem Naturrecht die Rechtsform, die allein die ökonomische
Emanzipation des Bürgertums ermöglicht. "Die freie Konkurrenz bedarf des allge-
meinen Gesetzes, weil es die höchste Form der formalen Rationalität ist ... Freiheit
des Warenmarktes, Freiheit des Arbeitsmarktes, freie Selektion innerhalb der Unter-
nehmerschicht, Vertragsfreiheit und vor allem Berechenbarkeit der Justiz sind die
wesentlichen Charakteristika des liberalistischen Konkurrenzsystems, das ja Profit
und immer neuen Profit in einem kontinuierlichen, rationalen, kapitalistischen Un-
ternehmen erzeugen will" (1936; 300 ff., 1937; 48). Neben dieser ökonomischen
hat die rechtsstaatliche Doktrin von der Herrschaft des allgemeinen Gesetzes eine
ideologische Funktion: Indem sie behauptet, im bürgerlichen Rechtsstaat herrsch-
ten nicht Menschen, sondern allein Gesetze, vernebelt sie die tatsächlichen gesell-
schaftlichen Machtverhältnisse (1936; 289 ff., 1937; 47).
Damit ist jedoch für Neumann die Analyse des allgemeinen Gesetzes nicht
beendet. Dem allgemeinen Gesetz ist - und darin liegt sein emanzipatorisches
Element - zugleich eine "ethische" Funktion immanent, es garantiert "ein Mini-
mum an persönlicher und politischer Freiheit" (1937; 50). Die freiheitsverbürgende
Funktion des allgemeinen Gesetzes liegt darin, daß es allen Menschen die unein-
geschränkte Rechtsfähigkeit und damit die Gleichheit vor dem Gesetz gewährt,
die nur von einer -gegenüber der Regierung - unabhängigen Justiz eingeschränkt
werden kann. Das allgemeine Gesetz bindet die Herrschaftsmöglichkeiten des
Souveräns, willkürliche individuelle Maßnahmen zu erlassen, an ein Institutionen-
system, das staatliche Souveränität begrenzt. Wenn Neumann die abstrakte Punk-
tionsbestimmung des allgemeinen Gesetzes auch bei der historischen Analyse der
Entwicklung des Gewerkschaftsrechts darauf einschränkt, daß bis zur Revolution
1918 die Rationalität des Rechts "in erster Linie für den Warenmarkt und für die
internen Beziehungen zwischen den herrschenden Klassen realisiert" war (1936;
Verrechtlichung industrieller Beziehungen 207

309), so besteht er dennoch auch für diese Zeit darauf, daß es "überzeitliche"
Elemente des Rechtsstaats gibt: "Sie garantieren Sicherheit und ein gewisses Maß
an Freiheit auch der Arbeiterklasse" (1936; 311). Interpretiert man, wie etwa
Carl Schmitt in der Weimarer Staatsrechts-Diskussion, die Gesetzesgeneralität aus-
schließlich als ein Erfordernis der kapitalistischen Ökonomie, dann ist man zu dem
Schluß genötigt, daß rechtsstaatliche Prinzipien, wie die Generalität des Gesetzes,
die richterliche Unabhängigkeit und die Teilung der Gewalten, zu beseitigen sind,
wenn die Prinzipien der kapitalistischen Ökonomie außer Kraft gesetzt werden
(1936; 303). Der bürgerliche Rechtsstaat, so läßt sich Neumanns Funktionsbe-
stimmung in einer modernen Terminologie resümieren, "muß die Marktmobili-
tät der Ware und die Subjektqualität des Menschen gewährleisten" (Preuß 1979;
20). Die Aufgabe einer soziologischen Analyse des Rechtssystems besteht dann
darin, "auf der einen Seite die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen Staat und
Recht sich relativ autonom entwickeln können, bzw. auf der anderen Seite die Kräf-
te zu analysieren, die diese relative Autonomie zu zerstören und Recht und Staat
mit ganzer Gewalt dem Gleichstrom der sozialen Realitäten zu unterwerfen trach-
ten" (1936; 34).

2. Die Gewerkschaften - Organisationen des Arbeitsmarktes und politische Ver-


blinde

Die theoretische Analyse der widersprüchlichen Struktur des bürgerlichen Rechts-


staats verbindet Franz L. Neumann nun mit einer politisch-ökonomisch begrün-
deten Gewerkschaftstheorie. Das Privateigentum an Produktionsmitteln schafft
für den Eigentümer fünf Herrschaftsbereiche, welche die Aufgaben der Gewerk-
schaften und ihre rechtspolitischen Initiativen bestimmen. 1. Der unmittelbarste
Ausdruck der Herrschaft des Unternehmers über den Lohnabhängigen ist die dik-
tatorische Struktur der Betriebsorganisation, welche durch - auf gewerkschaft-
lichen Druck hin zustandegekommene - gesetzliche Regelungen zum Schutz von
Leben und Gesundheit ("Arbeiterschutz"), zur Begrenzung der Ausbeutung der
Arbeitskraft ("Arbeitszeitschutz") und zur Demokratisierung der Betriebsherr-
schaft ("Betriebsvertretungen") relativiert wird. 2. Das Unternehmen verkörpert
die wirtschaftliche Gewalt des Eigentümers, der die Gewerkschaften mit Forderun-
gen nach Mitbestimmungsrechten in der Unternehmensleitung begegneten. 3. In
dem für die Gewerkschaftsbewegung bedeutendsten Bereich unternehmerischer
Herrschaft über Menschen, dem Arbeitsmarkt, hat die Arbeiterbewegung mit dem
Tarifvertrag ihre größten Erfolge zur Beschränkung kapitalistischer Herrschaft
durchgesetzt. 4. Gegenüber der Herrschaft des Privateigentümers auf dem Waren-
markt, der ihm, sofern er über ein Monopol verfügt, die relativ autonome Bestim-
mung von Preisen und Absatzbedingungen gestattet, erweisen sich indes die traditio-
nellen gewerkschaftlichen Konzepte als untauglich. 5. Ebenfalls postulativ formu-
liert Neumann die Notwendigkeit, den Kampf um die Beseitigung der Herrschaft
208 Rainer Erd

des Privateigentums als politischen Kampf um den Staatsapparat zu führen, da der


Staat die Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsordnung garantiert ( 19 35;
147 ff.).
In deutlicher Kritik (und damit auch Selbstkritik) an der Politik der Gewerk-
schaften in der Weimarer Republik bestimmt Neumann vor diesem Hintergrund die
Funktion der Gewerkschaften in dreifacher Weise. Gewerkschaften sind zunächst
"genossenschaftliche" Verbände, die nach dem Grundsatz der "gegenseitigen Hilfe"
handeln. Sie unterstützen ihre Mitglieder auf den verschiedenen Kampfplätzen
gegen das Kapital, indem sie ihnen Krankheits- und Unfallunterstützung, Arbeitslo-
senhilfe, Alterspensionen, Streik- und Aussperrungsgelder gewähren, Rechtsschutz
vor Gerichten, Verwaltungsbehörden und Sozialversicherungskörpern garantieren
und für diese Zwecke eigene Institutionen ausbilden. Wichtiger als die innerge-
werkschaftliche Funktion erscheint Neumann die Markt- oder Kartellfunktion der
Gewerkschaften, die sie freilich ohne entfaltete innerorganisatorische Solidarität
nur unzureichend ausüben können. Als Kampfverbände stellen die Gewerkschaften
der Gewalt des Privateigentums die kollektive Macht der organisierten Arbeit ent-
gegen, indem sie - durch Tarifverträge - für die abhängig Beschäftigten Lohn- und
Arbeitsbedingungen vereinbaren. Da Gewerkschaftspolitik jedoch nicht allein auf
die Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen gerichtet sein kann, sondern
zugleich die "Idee der Befreiung der Arbeiterklasse" verwirklichen muß, sind
Gewerkschaften auch politische Verbände. Sie müssen den staatlichen Zwangsappa-
rat - auch durch den politischen Streik - beeinflussen, um die "Herrschaft des
Eigentums über den Menschen durch die Herrschaft des Menschen über das Eigen-
tum zu ersetzen" (1935; 152). Mit dieser Funktionsbeschreibung gewerkschaftli-
cher Politik knüpft Neumann an die traditionelle marxistische Gewerkschaftstheorie
an.
Die Vermittlung der staatstheoretischen mit den gewerkschaftstheoretischen
Thesen stellt Neumann nun durch die historische Analyse des Verhältnisses von
Staat und Gewerkschaft her. Die Geschichte des Gewerkschaftsrechts, die Neu-
mann in vier historischen Entwicklungsstadien untersucht, beginnt "in dem Augen-
blick, in dem die kapitalistische Wirtschaft sich die ihr adäquate Rechtsordnung
schafft" (1935; 153), in Deutschland etwa Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Periode
des "autokratischen Liberalismus" entspricht das Verbot der Koalitionen, gerecht-
fertigt durch eine individualistische Ideologie und das Argument, der der Gesell-
schaft zur Verfügung stehende Lohnfonds sei unveränderbar, er sei auch durch kol-
lektive Aktionen nicht zu beeinflussen. In dieser Periode reagierte der Staat allein
mit repressiven Mitteln auf die Organisationsbestrebungen der Lohnabhängigen.
Das Scheitern staatlicher Repressionen angesichts der Entfaltung der Gewerk-
schaftsbewegung leitete in die zweite Phase über, die der Duldung der Gewerk-
schaften. Die soziale Macht der Arbeiterklasse und ihr politischer Kampf gegen den
Staat konnten zwar noch nicht die rechtliche Anerkennung der Koalitionen und
ihrer Verhandlungs- und Kampfmittel durchsetzen, der Staat akzeptierte jedoch
die Gewerkschaften, wenngleich er sie im Wege des Polizei-, Straf- und Vereins-
rechts gängelte.
Verrechtlichung industrieller Beziehungen 209

Die Anerkennung der Gewerkschaften erfolgte erst mit dem "Triumph der
Demokratie" durch die Weimarer Reichsverfassung, die, zusammen mit den in
ihrem Geiste verabschiedeten Gesetzen zur Sicherung von Arbeiter- und Gewerk-
schaftsrechten, den Gewerkschaften einen Einfluß in den verschiedenen Aktions-
bereichen, in Betrieb und Unternehmen, auf dem Arbeits- und Warenmarkt sowie
im Staat sicherte. Die verfassungsrechtliche Verankerung umfassender rechtsstaat-
licher Prinzipien schien, das hatte Neumann während seiner gewerkschaftspoliti-
schen Arbeit in der Weimarer Zeit angenommen, die Chance zu bieten, "daß die
Fremdbestimmung der Arbeit durch die Befehlsgewalt des Eigentümers an den Pro-
duktionsmitteln der Selbstbestimmung weichen muß" (1930; 70). Während das
Betriebsrätegesetz von 1920 den Betrieb von einer "absoluten in eine konstitutio-
nelle Monarchie" verwandelte (1935; 165), der Gefahren- und Arbeitszeitschutz
seinen ausgeprägtesten Stand erreichte, die Tarifvertragsordnung die Handlungsmög-
lichkeiten der Gewerkschaften auf dem Arbeitsmarkt in einem bis dahin einmaligen
Umfang vergrößerte und auch die Einflußmöglichkeiten auf den Staatsapparat ge-
stiegen waren, wurden die verfassungsrechtlichen Versprechen der Demokrati-
sierung der Unternehmensverwaltung und die Umwandlung des Warenmarktes nie-
mals eingelöst (1944; 470 ff.). Die Weimarer Demokratie hatte zwar "dem arbei-
tenden Menschen ein bis dahin ungekannt hohes kulturelles Niveau geschaffen, und
sie hatte den Anfang für einen neuen politischen und sozialen Status der Arbeiter-
schaft erkämpft" (193 5; J 72). Die Periode der Gewerkschaftsanerkennung, welche
die freiheitsverbürgenden Momente des bürgerlichen Rechtsstaats mit den Eman-
zipationsideen der Arbeiterbewegung zu versöhnen schien, schuf jedoch die soziale
Basis für die Periode der Gewerkschaftszerstörung. Um Neumanns theoretische Er-
klärung für die erneute Unterdrückung der Gewerkschaften zu verstehen, müssen
wir die Ebene kategorialer Bestimmungen von Recht und Gewerkschaft verlassen
und uns seiner historischen Untersuchung des Funktionswandels von Staat und
Recht im Monopolkapitalismus zuwenden.

3. Arbeitsrecht im Monopolkapitalismus

Franz L. Neumann hat die dreifache Funktionsbestimmung des allgemeinen Ge-


setzes unter einer Prämisse vorgenommen, die er im Verlaufe seiner Analyse ver-
änderte. "Die Idee des Rechtsstaats repräsentiert das Verfassungssystem des Libe-
ralismus, der ökonomisch auf dem durch den Wettbewerb freier Unternehmer
hergestellten Gleichgewicht, politisch auf dem Gleichgewicht zwischen Krone,
feudalen Resten und Bürgertum beruht, eine einflußreiche politische Arbeiterbe-
wegung nicht vorfindet und seine vorstaatlichen Freiheitsrechte durch Gewalten-
teilung schützt (1934; 132f., vgl. auch 1936; 212 ff., 1937; 55). Im Übergang vom
liberalen zum Monopolkapitalismus, den Neumann mit der Weimarer Republik
gekommen sieht, verändert das allgemeine Gesetz seine Funktion. Die Veränderung
der ökonomischen Struktur des Kapitalismus und die neue Bedeutung der Arbeiter-
210 Rainer Erd

bewegung sind die beiden einflußreichen Faktoren, die Neumann für den
Funktionswandel des Gesetzes im Sinne einer Ablösung von allgemeinen Gesetzen
durch individuelle Maßnahmen und Generalklauseln verantwortlich macht. Für
unsere Argumentation ist allein die Frage wichtig, welche Konsequenzen der Funk-
tionswandet des Gesetzes für seine "ethische", freiheitssichernde Bedeutung hat.
Wir haben gesehen, daß Neumann den freiheitsgarantierenden Charakter des bürger-
lichen Rechtsstaats aus der Generalität der Norm (und der Unabhängigkeit des
Richters) ableitete (1937; 50). Wird nun, im Monopolkapitalismus, das allgemeine
Gesetz zunehmend von Generalklauseln verdrängt, dann fällt das Freiheitsmoment
des Gesetzes dem "politischen Befehl" des Richters, der die Generalklausel inter-
pretiert, zum Opfer (1936; 329 ff., 1937; 63).
Im Arbeitsrecht, dem Rechtsgebiet, das die Auseinandersetzungen zwischen
Kapital und Arbeit normiert, mußte der Funktionswandel des Gesetzes am ekla-
tantesten sichtbar werden. Ausdruck des Funktionswandels ist zunächst die Verän-
derung des Verhältnisses von Richter und Gesetz in der Weimarer Republik. In der
Phase des liberalen Kapitalismus gelangte die "Rationalisierung der Rechtspre-
chung" auf ihren Höhepunkt: Der Richter wandte "das geschriebene Recht ohne
Rücksicht auf seine Zweckmäßigkeit, ohne Berücksichtigung von Gerechtigkeits-
und Billigkeitsprinzipien an" (1929; 116 f.). Der Monopolkapitalismus verdrängte
die dogmatische Jurisprudenz in weiten Teilen und rückte Ermessensentscheidungen
in den Mittelpunkt der Rechtsprechung (wie beispielsweise die Entscheidungen zur
"Betriebsrisikolehre"). In dem Maße, in dem sich die Rechtsprechung in "Verwal-
tung" wandelte, griff sie für die Gewerkschaften substantielle sozialpolitische
Gesetze an, zumal dann, wenn sie ein "richterliches Prüfungsrecht" für sich bean-
spruchte. Damit war indes der Zusammenbruch des rationalen Rechts nicht been-
det, die Rechtsprechung des Reichsgerichts ging noch einen Schritt weiter: Es
maßte sich nicht nur die Kompetenz an, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu
überprüfen, sondern auch ihre Moralität. Nachdem sich die Justiz zunächst Verwal-
tungsbefugnisse zugesprochen und sodann die Stellung einer zweiten Kammer
neben dem Parlament angenommen hatte, erhob sie sich nun über das Parlament
(1929; 117 ff.). Mit der "Politisierung der Justiz" verschwand zunehmend die
"ethische" Funktion des Rechts, einst normative Basis für die Emanzipations-
kämpfe des Proletariats, die Gesellschaft war wieder der Souveränität des Staates
weitgehend schutzlos ausgeliefert (1929; 124).
Der Nationalsozialismus, so Neumanns These in seinen Exilarbeiten, hat das
bürgerliche Recht nicht - entgegen seiner ursprünglichen Intention - für den fa-
schistischen Staat funktionalisiert, er hat es beseitigt. Die nationalsozialistische
Regierung hob die grundlegenden Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats auf:
Zahlreiche Individualgesetze verdrängten das allgemeine Gesetz und reduzierten
damit den Richter auf den "Status eines Polizisten". Wenn vom "Führer" alles
Recht ausging, dann war es auf ein "technisches Mittel zur Durchsetzung bestimm-
ter politischer Ziele" reduziert, Recht war nur noch ein "Befehl des Souveräns"
(1937; 68). Neumann faßte seine Analyse der Rechtsstruktur und der Rechtswis-
Verrecbtlicbung industrieller Beziehungen 211

senschaft im Nationalsozialismus so zusammen: "Ist das generelle Gesetz die


Grundform des Rechts, ist Gesetz nicht nur voluntas, sondern auch ratio, dann muß
man dem Recht des autoritären Staates den Rechtscharakter absprechen" (1937;
74, 1936; 354 f.) 2 •
Der neue Charakter des "Rechts" reflektierte sich weithin sichtbar in der Zer-
schlagung derjenigen Institutionen, die einst das "ethische" Moment des Rechts
für sich reklamiert hatten: der Gewerkschaften. Da der Nationalsozialismus den
Rechtsstaat und die Gewerkschaften beseitigt hatte, mußte Neumann nun, was
freilich auch durch die politische Ohnmacht des Exils bedingt war, seine theoreti-
sche Problemstellung umstrukturieren. Fragte er in der "Blütezeit" der Weimarer
Republik danach, wie der freiheitsgewährende Charakter des Rechts durch kon-
krete rechtspolitische Vorschläge zugunsten der Gewerkschaftsbewegung ausge-
schöpft werden kann, so rückte nun vor allem die Frage nach dem "Schicksal"
des Rechtsstaats im Faschismus und nach den Gründen für das Scheitern der refor-
mistischen Gewerkschaftspolitik in das Zentrum seiner Untersuchungen. Der ge-
werkschaftspolitische Reformist verwandelte sich in einen gewerkschaftskritischen
Theoretiker.
Neumann sah den Sieg des Nationalsozialismus als eine teilweise selbstverschul-
dete Niederlage der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Objektive Basis des Schei-
terns der Gewerkschaften war die seit Mitte der zwanziger Jahre einsetzende
rationalisierungsbedingte Dauerarbeitslosigkeit, die - in ihrem Gefolge beginnende
- veränderte Zusammensetzung der Arbeiterschaft (Verminderung der Zahl der
gelernten Arbeiter, Zunahme des technischen Überwachungsstabs und der Zahl der
ungelernten und angelernten Arbeiter) sowie die zunehmende Verstaatlichung der
Tarifbeziehungen. Diese drei Entwicklungstendenzen schwächten die Gewerkschaf-
ten erheblich: Während der Mitgliederrückgang und die gewerkschaftliche Unter-
stützung für die Arbeitslosen die finanziellen Ressourcen erschöpften, wuchs die
Bedeutung der bürgerlichen Ideen verhafteten Angestelltengewerkschaften stän-
dig. Die zunehmenden staatlichen Interventionen in die Tarifauseinandersetzungen
bewirkten eine Abnahme der Streiks (19 3 5; 179 ff.). Diesen, der Logik der Kapi-
talkonzentration folgenden Prozeß beeinflußten die Gewerkschaften. Darin sieht
Neumann den ersten Fehler der Gewerkschaftspolitik, daß sie nämlich die unter-
nehmerische Rationalisierung bewußt förderten. Sie glaubten, die Freisetzung von
Arbeitern in rationalisierenden Unternehmen führe zu einer erhöhten Beschäf-

2 Neumanns Interpretation des nationalsozialistischen "Rechts" ist nicht unbestritten. Vor


allem sein Freund Ernst Fraenkel (1940) vertrat die konträre These, daß im nationalsozialisti-
schen Deutschland ein "Doppelstaat" herrschte, ein Gesetze beachtender "Normenstaat" und
ein willkürlich handelnder "Maßnahmestaat". Im Gegensatz zu Neumann spricht Fraenkel
diesem "Doppelstaat" nicht den Charakter eines "Staates" ab. Otto Kirchheimers Inter-
pretation des nationalsozialistischen Rechts, die neben der Willkürherrschaft des "Führers"
eine "technische Rationalität" diagnostizierte (1941; 131), widerspricht Neumanns Auffas-
sung nicht, da auch er - trotz der Zerstörung des allgemeinen Gesetzes und einer nach for-
malen Regeln handelnden Bürokratie - dem Nationalsozialismus eine Logik nicht abspricht,
die Logik des Terrors (vgl. zu dieser Diskussion Blanke 1975; 221 ff.; Schäfer 1977; 682ff.).
212 Rainer Erd

tigung in den Industriezweigen, welche die neue technische Apparatur produzieren


werden .. Die damit verbundene Steigerung der Kaufkraft sollte, so das Kalkül der
Gewerkschaften, die Massengüterindustrie anregen, die sodann weitere Arbeitslose
aufnehmen könnte.
Die Erfolgslosigkeit dieser Rationalisierungspolitik sowie die zur gleichen Zeit
forcierte Zentralisierung innerhalb der Gewerkschaften und die Fixierung an den
Staat schwächten das Interessenbewußtsein der Arbeiter und entfremdeten sie zu-
nehmend den Gewerkschaften (1935; 179). Angesichts dieser Konstellation be-
stand für die Gewerkschaften seit 1930 "nur die Möglichkeit, hundertprozentige
politische Verbände zu werden, ihre gesamte Macht dafür einzusetzen, die Demo-
kratie und die politischen Freiheitsrechte aufrechtzuerhalten, weil nur durch die
Erkämpfung der Staatsgewalt ihre Existenz und die Sicherung der Menschenrechte
des Arbeiters gesichert gewesen wären" (1935; 187). Neumann schien- im Exil-
die Konsequenz einer solchen Politik, "Generalstreik und Bürgerkrieg mit unge-
wissem Ausgang", zu akzeptieren, mußte er doch die Erfahrung machen, daß der
von den Gewerkschaften eingeschlagene Weg der (versuchten) Kooperation mit den
Nationalsozialisten in den Untergang führte. Neumanns Kritik an den Gewerkschaf-
ten ist fundamental:

"Derart eng mit dem bestehenden System verbunden und zugleich vollkommen bürokratisiert,
verloren die Gewerkschaften ... ihre Handlung!~freiheit ... Wirkliche Opposition hätte Streiks,
vielleicht sogar Generalstreik und Bürgerkrieg bedeutet. Die Bewegung war weder ideologisch
noch organisatorisch auf eine drastische Auseinandersetzung vorbereitet. Sie war nicht einmal
in der Lage, ihre gewerkschaftliche Interessenfunktion zu erfüllen. Das wenige, was nach der
Wirtschaftskrise übrig geblieben war, steckte sie in prachtvolle Bürogebäude, Gewerkschafts-
schulen, Grundstücke, Baugesellschaften und Druckereien. Für ihre arbeitslosen Mitglieder
reichte es nicht mehr ... Die Spontaneität der Arbeiterklasse war bürokratischen Organisationen
geopfert worden, und die waren unfähig, ihr Versprechen einzulösen, die Freiheit eines jeden
durch Vereinigung der individuellen Rechte in kollektiven Organisationen zu verwirklichen. Auf
diesem Nährboden gedieh der Nationalsozialismus" (1944; 477f.). Oder theoretisch formuliert:
Die sozialistischen Gewerkschaften "waren dem Irrtum erlegen, daß wirtschafdiche Demo-
kratie ohne politische Demokratie möglich sei" (1933; 117).

4. Probleme der theoretischen Konzeption Franz L. Neumanns und Fragestellungen


für eine Theorie der VerrechtZiehung industrieller Beziehungen

Neumanns theoretische Analyse des Verhältnisses von Gewerkschaften und bürger-


lichem Recht war bestimmt durch die Erfahrungen mit der kurzen Phase der ersten
deutschen parlamentatischen Demokratie und dem raschen Einschwenken der deut-
schen Gewerkschaften auf systemimmanente Strategien nach dem zweiten Welt-
krieg. Beide Erfahrungen verhinderten, daß Neumann, der 1954 tödlich verun-
glückte, die Analyse des Funktionswandels des allgemeinen Gesetzes und der Ver-
änderung gewerkschaftlicher Politik theoretisch, über einige Notizen hinaus, weiter-
entwickelte. Während die Analysen zur Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats den
Verrecbtlicbung industrieller Beziehungen 213

1937 ("Funktionswandel des Gesetzes") erreichten Stand nicht bedeutend voran-


trieben (vgl. vor allem 195 3; 106 ff.), blieben seine gewerkschaftstheoretischen
Einschätzungen (nach der zweifachen Enttäuschung 1933 und 1945) eher morali-
sierend-anklagend, die Gründe für das Versagen der Gewerkschaften legten sie nicht
systematisch dar. Dennoch lassen sich aus den im Ansatz richtigen, aber nicht
weiterentwickelten rechts- und gewerkschaftstheoretischen Analysen Neumanns
Fragestellungen und Hypothesen formulieren, die für eine Theorie der Verrecht-
lichung industrieller Beziehungen sinnvoll zu sein scheinen.
Neumann interpretierte den Funktionswandel des Gesetzes in der Alternative all-
gemeines Gesetz und Generalklauself Maßnahmegesetz. 3 Während dieser Funktions-
wandel die ökonomische Absicherungsfunktion des Rechts zunächst nicht tangierte,
löste er das freiheitsverbürgende Element sukzessive auf. Die Beseitigung des bürger-
lichen Rechtsstaats durch den Nationalsozialismus brachte diesen Entwicklungspro-
zeß auf einen extremen Höhepunkt: Indem der Nationalsozialismus Recht durch
Gewalt ersetzte, schuf er die Bedingungen für eine terroristische Entfesselung der
Produktivkräfte und die lückenlose Unterdrückung individueller und kollektiver
Freiheiten. Freilich ist diese Entwicklungsdynamik des allgemeinen Gesetzes keines-
wegs zwingend. So wie das allgemeine Gesetz, das sah Neumann später (1953; 118),
auch auf Unterdrückung zielen kann (etwa heute durch die Vers.:härfung des Straf-
rechts zur Terroristenbekämpfung), kann es, in diesem Punkt ist Neumann zu er-
gänzen, Freiheitsmomente bewahren, die indes zu Systembedingungen funk-
tionalisiert werden. Während sich Neumann die Beseitigung des (tendenziell die
bürgerliche Gesellschaft stets bedrohenden) "ethischen" Elements des allgemeinen
Gesetzes allein durch Generalklauseln und Maßnahmegesetze oder die Beseitigung
des allgemeinen Gesetzes insgesamt vorzustellen vermochte, sind wir heute mit dem
Problem konfrontiert, daß der bürgerliche Staat (neben Generalklauseln und Maß-
nahmegesetzen) am allgemeinen Gesetz festhält, jedoch seine Ambivalenz neutra-
lisiert.
Dieser Prozeß ist mit dem Begriff "Funktionalisierung rechtsstaatlicher Garan-
tien" (Preuß 1970; 97 f.) beschrieben worden. Er soll hier für das Koalitionsrecht
und die subjektiven Rechte der Lohnabhängigen skizziert werden. Wenn Artikel 9
Absatz 3 des Grundgesetzes vorsieht, daß das "Recht, zur Wahrung und Förderung
der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ... für jedermann
und für alle Berufe gewährleistet" ist, dann entspricht diese Formulierung exakt den
Voraussetzungen eines allgemeinen Gesetzes: alle Menschen dürfen zur Erhaltung
und Verbesserung sämtlicher Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Koalitionen bild-

3 Wenn I. Maus (1978; 23) und U. K. Preuß (1970; 82) Neumann entgegenhalten, daß das
allgemeine Gesetz in Deutschland niemals vorherrschte, dann berührt diese Kritik Neu-
manns Analyse nicht. Denn weder hat er behauptet, daß in der Phase des klassischen Libera-
lismus allein allgemeine Gesetze herrschten, noch kritisieren Maus und Preuß Neumanns
These vom Funktionswandel des allgemeinen Gesetzes. Für eine historisch-empirische
Untersuchung der praktischen Relevanz allgemeiner Gesetze im deutschen konstitutio-
nellen Staat muß diese Kritik freilich ernst genommen werden.
214 Rainer Erd

den. Die Rechtsprechung hat daraus folgerichtig den Schluß gezogen, daß auch die
Möglichkeit, für diese Zwecke zu streiken, garantiert ist. Rechtsprechung und herr-
schende juristische Lehre haben freilich dieses klassische allgemeine Gesetz derge-
stalt uminterpretiert, daß sein allgemeiner und abstrakter Charakter eingeschränkt
ist. So fallen als Resultat juristischer Interpretationskunst des Streikrechts weder
Beamte und Lehrlinge unter den allgemeinen Begriff "jedermann", noch Lohnab-
hängige, die unabhängig von ihrer Gewerkschaft die Arbeit niederlegen. Das "jeder-
mann" gewährte Koalitionsrecht ist mit dogmatisch außerordentlich fragwürdigen
Argumenten in ein Streikrecht allein für die Gewerkschaften verwandelt worden.
Der Logik, das Koalitions- und Streikrecht als eine Stabilitätsbedingung der indu-
striellen Beziehungen zu interpretieren, folgt eine weitere Einschränkung. Die
Rechtsprechung hat aus der grundgesetzliehen Regelung, daß zur "Wahrung und
Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen" Koalitionen gebildet werden
dürfen, ohne nähere Begründung den Schluß gezogen, daß das Streikrecht nur dann
ausgeübt werden darf, wenn es sich auf den Abschluß eines Tarifvertrages richtet
(Blanke 1980; Mückenherger 1980). Obwohl zunehmend mehr Arbeitsbedingungen
durch staatliches Gesetz (Sozialpolitik) geregelt werden, untersagt die Rechtspre-
chung, Arbeitskämpfe zur Verbesserung gesetzlicher Regelungen gegen staatliche
Institutionen zu führen. Und schließlich nimmt das Bundesverfassungsgericht im
Mitbestimmungsurteil eine weitere Funktionalisierung des Koalitionsrechts vor,
indem es dieses auf eine ,im allgemeinen Interesse liegende Aufgabe der Ordnung
und Befriedung des Arbeitslebens" reduziert (Mückenberger 1979; 58).
Die dreifache Einschränkung des Streikrechts auf Gewerkschaften, Tarifvertrags-
system und Befriedung des Arbeitslebens verhindert, daß das freiheitliche Element
des Koalitions- und Streikrechts systembedrohend praktiziert werden kann; die
Funktionalisierung von Grundrechten bejaht zwar den "ethischen Charakter"
des Gesetzes, entschärft ihn indes zu einer Stabilitätsbedingung industrieller Bezie-
hungen. Unterstützung findet dieser Prozeß durch die Neutralisierung allgemeiner
Gesetze dergestalt, daß durch juristische Interpretation Gegenrechte konstruiert
werden, die eine Wirksamkeit der ursprünglichen Norm weitgehend verhindern
(z. B. Zulässigkeit der Aussperrung, Erd 1980). Diesen Funktionswandel des allge-
meinen Gesetzes zu einer normativen Bedingung funktionstüchtiger sozialer Bezie-
hungen, den Neumann nicht sehen konnte, wird eine Theorie der Verrechtlichung
rekonstruieren müssen.
Dem analytischen Blick Neumanns entgehen mußte ein weiterer rechtlicher Ent-
wicklungsprozeß, der sich als Monetarisierung subjektiver Ansprüche bezeichnen
läßt (Preuß 1979; 32 ff.). Das klassische Modell des bürgerlichen Rechtsstaats
und des allgemeinen Gesetzes geht selbstverständlich davon aus, daß der in seinen
Rechten Betroffene das verletzte Rechtsgut gerichtlich einklagen kann. Der für
Lohnabhängige existenzielle Anspruch, bei Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten
den Arbeitsplatz zu behalten, wird heute - besonders seit der ökonomischen
Krise - durch finanzielle Kompensationen weitgehend aufgelöst. Die im Kündi-
gungsschutz- und Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Möglichkeit für einen ge-
Verrecbtlicbung industrieller Beziehungen 215

kündigten Arbeitnehmer, klageweise auf Weiterbeschäftigung zu dringen, ist in den


meisten Fällen durch eine gerichtliche Vergleichspraxis ersetzt worden, die dem be-
troffenen Arbeitnehmer Geldleistungen für den Verzicht auf den Arbeitsplatz ge-
währt. Die Monetarisierung von rechtlichen Ansprüchen behält das allgemeine Ge-
setz formal bei, beseitigt indessen seine Konsequenzen durch geldförmige Leistun-
gen. Die (durch das allgemeine Gesetz institutionalisierte) unberechenbare Subjekti-
vität der Lohnabhängigen wird auf diese Weise wieder kalkulier- und berechenbar
gemacht. Der gleiche Prozeß vollzieht sich auf kollektiver Ebene durch den Ab-
schluß von Rationalisierungs-Schutzverträgen, die in der Regel den freiwilligen
Verzicht auf den Arbeitsplatz finanziell honorieren. Die Monetarisierung subjektiver
Rechte ist ein konjunkturpolitisches Instrument, das die Kollision zwischen allge-
meinem Gesetz und ökonomischen Erfordernissen gegenwärtig unmöglich macht.
Funktionalisierung, Neutralisierung und Monetarisierung allgemeiner Gesetze folgen
derselben Logik: sie stellen das allgemeine Gesetz nicht in Frage, binden jedoch
seine Widerspruchsmomente faktisch an ökonomische und gesellschaftliche Stabili-
tätsbedingungen.
So wie Franz L. Neumann den Funktionswandel des Gesetzes in der Alter-
native von Anerkennung und Auflösung sah, interpretierte er die Funktion der Ge-
werkschaften als Entwicklungslinie "Verbot, Duldung, Anerkennung, Zerschla-
gung". Da die Möglichkeit der "Inkorporierung", wie er einmal eher beiläufig
bemerkte (1929, 130 f.), in seinen Untersuchungen nicht explizit enthalten war,
konnte er die Gewerkschaften in dreifacher Weise (siehe oben) bestimmen. Diese
Analyse ist heute ebenso zu korrigieren und zu ergänzen wie die Interpretation des
Funktionswandels des allgemeinen Gesetzes. Die "Inkorporierung" der Gewerk-
schaften in das ökonomische und politische System (dessen Bedingungen werden
nicht dargestellt, vgl. hierzu den Beitrag von Müller-} entsch in diesem Heft, und
Streeck 1978, 1979) ist eine wesentliche Bedingung für die skizzierten Funktions-
veränderungen des allgemeinen Gesetzes, so wie sie diese erst ermöglichen. Eine
Theorie der Verrechtlichung industrieller Beziehungen muß deshalb zwar weiterhin
als Zusammenhang von Staats-, Rechts- und Gewerkschaftstheorie konzipiert
werden, jedoch anders als bei Neumann. Sah er - ähnlich wie derzeit gängige
Gewerkschaftstheorien - das Verhältnis von bürgerlichem Recht und Gewerkschaf-
ten als repressiv oder libertär, so muß es heute in den überwiegenden Bereichen
unter einer integrativen Perspektive untersucht werden. Bürgerliches Recht wirkt
weder allein obrigkeitsstaatlich-unterdrückend auf gewerkschaftliche Handlungspo-
tentiale ein, noch anerkennt es bedingungslos Emanzipationsansprüche lohnahhän-
giger Gruppen. Bürgerliches ~echt hat sich vielmehr zu einem Medium gewandelt,
das den deutschen Gewerkschaften zur zweiten Natur geworden ist, ohne die sie
nicht mehr existieren können. Indem die Gewerkschaften, so ließe sich eine an die
Korporatismus-These anknüpfende Überlegung formulieren, die ökonomischen und
politischen Bedingungen des gegenwärtigen Kapitalismus akzeptieren, tragen sie
entscheidend dazu bei, daß die freiheitsverbürgenden Momente des allgemeinen
Gesetzes stillgestellt werden können. Den Zusammenhang von Gewerkschaften und
216 Rainer Erd

Recht hergestellt zu haben, ist Franz L. Neumanns wissenschaftliches Verdienst,


seine Entwicklungsdynamik nicht geahnt zu haben, ist die Tragik seines durch den
Faschismus gewaltsam korrigierten Reformismus. Franz L. Neumann ist der Be-
gründer der theoretischen Diskussion über die Verrechtlichung industrieller Be-
ziehungen, nicht jedoch der Schöpfer einer Theorie der Verrechtlichung von Klas-
senbeziehungen im entwickelten Kapitalismus.

Literatur
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Verrecbtlicbung industrieller Beziehungen 217

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1951: Das Arbeitsrecht in der modernen Gesellschaft, Recht der Arbeit 1951, S. 1 ff.
1952: Die Arbeiterbewegung in Westdeutschland. In: ders., Wirtschaft, Staat, Demokratie,
a. a. 0., S. 393 ff.
1953: Zum Begriff der politischen Freiheit. In: ders., Demokratischer und autoritärer Staat,
a. a. 0., S. 100 ff.
1955: Ökonomie und Politik im zwanzigsten Jahrhundert. In: ders., Demokratischer und
autoritärer Staat, a. a. 0., S. 248 ff.
Preuß, Ulrich K., 1970: Nachträge zur Theorie des Rechtsstaats. In: Mehdi Tohidipur (Hg.),
Der bürgerliche Rechtsstaat, 1. Band; Frankfurt am Main 1978, S. 82 ff.
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Pross, Helge, 1967: Einleitung zu Franz L. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat,
a. a. 0., S. 9 ff.
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Franz Neumann, Behemoth, a. a. 0., S. 665 ff.
Söllner, Alfons, 1979: Geschichte und Herrschaft. Studien zur materialistischen Sozialwissen-
schaft 1929-1942; Frankfurt am Main
Streeck, Wolfgang, 1978: Organizational Consequences of Capitalist Corporation in West Ger-
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1979: Gewerkschaftsorganisation und industrielle Beziehungen. In: Joachim Matthes (Hg.),
Sozialer Wandel in Westeuropa. Verhandlungen des 19. Deutschen Soziologentags Berlin
1979; Frankfurt am Main, S. 206 ff.
Anhang

Forschungsprojekte am Institut für Sozialforschung 1970 bis 1980

Die wichtigsten Forschungsthemen des Instituts im Zeitraum von 1970 bis 1980
lassen sich mit folgenden Stichworten bezeichnen:
Gewerkschaftliche und betriebliche Interessenvertretung von abhängig Beschäf-
tigten
Technologie und Arbeitsbedingungen
Frauenarbeit
Probleme der Sozialpädagogik und politischen Pädagogik
Zum zuerst genannten Themenkomplex sind für die erste Hälfte der siebziger Jahre
zunächst die 1974 abgeschlossene Arbeit von Joachim Bergmann, Otto Jacobi und
Walther Müller-Jentsch, "Gewerkschaften in der Bundesrepublik" (1975) und die
Habilitationsschrift von Gerhard Brandt, "Gewerkschaftliche Interessenvertretung
und sozialer Wandel - eine soziologische Untersuchung über die Entwicklung der
Gewerkschaften in der britischen Eisen- und Stahlindustrie 1886-1917" ( 1975) zu
nennen. In beiden Studien stehen Fragen des historischen Strukturwandels gewerk-
schaftlicher Organisationen, die Interdependenz von Organisationsstruktur und poli-
tischen Orientierungen sowie das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Staat im
Mittelpunkt. In Ergänzung zu den in den genannten Studien behandelten organisa-
tionstheoretischen Fragestellungen ging es in einer Reihe anderer, im gleichen Zeit-
raum durchgeführter Studien darum, Zugang zu nicht institutionalisierten und nicht
bereits organisationsstrukturell "gefilterten" Formen des Handeins von Lohnarbei-
tern zu gewinnnen, wobei eine Vielfalt unterschiedlicher Methoden - qualitative
Interviews, Experteninterviews, aber auch standardisierte Umfragen - verwendet
wurden. Aktueller politischer Hintergrund war hier die Erfahrung "wilder Streiks"
in den Jahren 1969 und 1973. Zu nennen sind im einzelnen: eine Untersuchung
über betriebliche Lohnpolitik (veröffentlicht unter dem Titel: Eckart Teschner,
"Lohnpolitik im Betrieb", 1977), zwei Studien über Bewußtsein und Interessen-
orientierungen von abhängig Beschäftigten (Thomas von Freyberg, "Die soziale
Situation und die politischen Einstellungen von jugendlichen Arbeitnehmern",
1973; Richard Herding, Berndt Kirchlechner, "Lohnarbeiterinteressen: Homogenei-
tät und Fraktionierung. Eine empirische Untersuchung bei westdeutschen Arbeitern
und Angestellten über soziale Ungleichheit und materielle Ansprüche", 1980), drei
von Ulrich Billerbeck, KlausKörberund Hans Georg Isenberg verfaßte Einzelberich-
te über spontane Kooperation der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst ( "Arbeitssi-
tuationen in drei Tätigkeitsbereichen des Öffentlichen Dienstes", 1976; diese Be-
Forschungsprojekte am Institut für Sozialforschung 219

richte sind aus einer umfassenderen Untersuchung über. Staatsform und Beschäftig-
teninteressen im Öffentlichen Dienst, veröffentlicht als hektrographierter For-
schungsbericht mit dem Titel "Theorie und Empirie des Öffentlichen Dienstes",
1974 und 1977, entstanden), eine auf drei Fallstudien gestützte Untersuchungvon
Rainer Deppe, Richard Herding und Dietrich Hoß, "Sozialdemokratie und Klassen-
konflikte. Metallarbeiterstreik- Betriebskonflikte- Mieterkampf" (1978); und die
Dissertation von Dietrich Hoß über den Metallarbeiterstreik von 196 3 in Baden-
Württemberg ("Die Krise des Institutionalisierten Klassenkampfes", 1974). Das
Thema der "neuen Militanz" der Arbeiterklasse wurde schließlich auch im Rahmen
einer international vergleichenden, sich auf mehrere westeuropäische Länder er-
streckenden Studie behandelt, an der auch Mitarbeiter des Instituts beteiligt waren
(Colin Crouch, Alessandro Pizzorno (ed.) "The Resurgence of Class Conflict in We-
stern Europe Since 1968", 1978).
In den zwischen 1976 und 1980 veröffentlichten Arbeiten der Projektgruppe Ge-
werkschaftsforschung1 wurde der Versuch gemacht, die beiden genannten analyti-
schen Perspektiven, d. h. institutionell-organisationsstrukturelle Fragestellungen ei-
nerseits, die Frage nach dem "Interessensubstrat" der Austauschbeziehungen zwi-
schen Kapital und Arbeit andererseits, in einem einheitlichen Untersuchungsansatz
zu integrieren. Gegenstand dieses breit angelegten Projekts waren Strukturverschie-
bungen im westdeutschen "dualen System" der Interessenvertretung der abhängig
Beschäftigten unter den zunehmend restriktiven ökonomischen Bedingungen der
siebziger Jahre. Im Zusammenhang der Arbeit der Projektgruppe Gewerkschaftsfor-
schung ist auch die Dissertation von Rainer Erd über "Verrechtlichung industrieller
Konflikte. Normative Rahmenbedingungen des dualen Systems der Interessenver-
tretung" (1978) entstanden.
Die Thematik "Technologie und Arbeitsbedingungen" wurde im Rahmen von
fünf Untersuchungen behandelt. Mit der Studie von Rudi Schmiede und Edwin
Schudlich über "Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland" wurde
ein schon in den fünfziger Jahren am Institut bearbeitetes Forschungsthema erneut
aufgegriffen. Ziel der Studie war es, darzustellen, wie sich der langfristige Wandel
der Leistungsentlohnung anband des auf die Marx'sche Kritik der Politischen
Ökonomie zurückgehenden Konzepts der "reellen Subsumtion der Arbeit unter das
Kapital" und der Kategorien Sohn-Rethels interpretieren läßt. Die Auswirkungen
der Automatisierung von Produktion und Verwaltung durch elektronische Daten-
verarbeitung auf die Arbeitsbedingungen wurden in zwei Studien behandelt: Ger-
hard Brandt, Bernard Kündig, Zissis Papadimitriou und Jutta Thomae, "Computer
und Arbeitsprozeß" (1978) sowie in einer an dieses Projekt anknüpfende Studie
mit dem Titel "Bedingungen und Möglichkeiten menschengerechter Arbeitsgestal-
tung im Bereich computer-gestützter Produktionsprozesse", die gegenwärtig von

1 Wissenschaftliche Mitarbeiter der Projektgruppe Gewerkschaftsforschung sind: Ulrich Biller-


beck, Christoph Deutschmann, Giseta Dybowski-Johannson (bis Anfang 1980), Rainer Erd,
Berndt Kirchlechner (seit 1979), Otto Jacobi, Watther Müller-Jentsch, Rudi Schmiede, Ed-
win Schudlich und Gerhard Brandt als Leiter des Projekts.
220 Anhang

Karin Benz-Overhage, Eva Brumlop, Thomas von Freyberg, Zissis Papadimitriou


und Jutta Thomae abgeschlossen wird. Beiden Arbeiten liegt umfangreiches empiri-
sches Material aus Arbeitsplatzbeobachtungen, Expertenbefragungen und standardi-
sierten Interviews mit Vertretern einzelner Beschäftigtengruppen zugrunde. Das gilt
auch für eine Studie von Eckart Teschner und Klaus Hermann, in der das Thema der
"Taylorisierung geistiger Arbeit" am Beispiel der Veränderungen der Arbeitsbedin-
gungen von technischen Angestellten und Ingenieuren in Entwicklungsabteilungen
zweier Großbetriebe untersucht wird; die Ergebnisse dieser Arbeit sind nicht
veröffentlicht. Im Zusammenhang mit dem genannten Schwerpunkt steht auch die
Arbeit von Rainer Deppe und Dietrich Hoß mit dem Thema "Sozialistische Ratio-
nalisierung - Leistungspolitik und Arbeitsgestaltung in der DDR" (1980), in der es
um die Frage geht, welche Konsequenzen sich aus der Einführung fortgeschrittener
Produktionstechniken für die Arbeitsorganisation unter den institutionellen Bedin-
gungen des Staatseigentums an den Produktionsmitteln und zentralisierter Planwirt-
schaft ergeben.
Seit 1974 existiert am Institut für Sozialforschung eine Projektgruppe, die sich
kontinuierlich mit Fragen der Frauenarbeit befaßt hat. Aus ihren Arbeiten ist ein
1979 veröffentlichter Forschungsbericht (Christel Eckart, Ursula G. Jaerisch, Hel-
gard Kramer, "Frauenarbeit in Familie und Fabrik. Eine Untersuchung von Bedin-
gungen und Barrieren der Interessenwahrnehmung von Industriearbeiterinnen")
hervorgegangen, der auf qualitativen Interviews beruht. Die Arbeits- und Lebenssi-
tuation erwerbstätiger Frauen wird in dieser Studie von drei komplementären Blick-
punkten her - der lebensgeschichtlichen Perspektive, der Hausfrauenrolle und der
Stellung der Frauen in der Fabrik - behandelt. Die Projektgruppe, in der seit dem
Weggang von Ursula Jaerisch Karin Walser mitarbeitet, hat anschließend eine sozial-
historisch angelegte Studie über Entwicklungstendenzen der Frauenlohnarbeit in
Deutschland begonnen. Anband historischer Fallstudien - zur Dienstbotenarbeit
vor dem Ersten Weltkrieg, zur Situation weiblicher Angestellter in der Weltwirt-
schaftskrise und zur Entstehung der Teilzeitarbeit Ende der fünfziger Jahre- wer-
den die Veränderungen des Verhältnisses zwischen Lohn- und Hausarbeit unter-
sucht. An dem theoretischen Ansatz der Studie orientiert sich auch die Arbeit von
Ilka Riemann mit dem Thema "Soziale Arbeit als Frauenlohnarbeit", die mit den
sozialen Dienstleistungsberufeil einen weiteren Aspekt der Frauenarbeit untersucht.
Eine seit 1975 am Institut arbeitende Projektgruppe (Karin Flaake, Helene
Joannidou, Berndt Kirchlechner und Ilka Riemann) befaßte sich mit Problemen der
Beschäftigten und Klienten in sozialpädagogischen Institutionen. Sie übernahm die
wissenschaftliche Begleitung eines von der Stadt Frankfurt durchgeführten Modell-
versuchs zur Reform vorschulischer Erziehung (KITA 3000); der Bericht über dieses
politisch brisante, von heftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Eltern,
Erziehern und Stadtverwaltung begleiteten Projekts wurde 1978 veröffentlicht.
1980 wurde ein weiterer Forschungsbericht über öffentliche Kinderhorte ("Kinder-
horte- Sozialpädagogische Einrichtungen oder Bewahranstalten?") vorgelegt.
Forschungsprojekte am Institut für Sozialforschung 221

In den Bereich der politischen Pädagogik fällt der 197 5 veröffentlichte Untersu-
chungsbericht "Bildungsurlaub - Bericht über ein Experimentalprogramm" von
Thomas von Freyberg, Ursula Jaerisch, Helgard Kramer.
Obwohl auf Themen der Industrie-, Betriebs- und Gewerkschaftssoziologie kon-
zentriert, waren die Forschungsarbeiten des Instituts in den siebziger Jahren, wie
dieser Überblick deutlich macht, durch eine Heterogenität der Forschungsthemen
und theoretischen Ansätze gekennzeichnet. (Einzelne, noch weiter von den genann-
ten Forschungsschwerpunkten entfernte Projekte wie ein entwicklungssoziologi-
sches Projekt über die Ujamaa-Landreform in Tansania, das Anfang der siebziger
Jahre durchgeführt wurde, bleiben hier außer Betracht). Mit den für die kommen-
den Jahre vorbereiteten Forschungsprojekten wird eine größere inhaltliche Konzen-
tration und Integration der theoretischen Ansätze angestrebt. Geplant und zum Teil
bereits begonnen sind ein Projekt über die Geschichte der Arbeitszeitpolitik in
Deutschland und zwei international vergleichende Studien über Systeme industriel-
ler Beziehungen und Probleme der Arbeiterorganisation in verschiedenen Wirt-
schaftssystemen sowie ein Projekt über die Veränderung von beruflichen Orientie-
rungen.

Titelübersicht der seit 1970 durchgeführten Studien

STUDIENREIHE DES INSTITUTS FÜR SOZIALFORSCHUNG

(Campus Verlag, Frankfurt am Main)

Dietrich Hoß, 1974: Die Krise des "Institutionalisierten Klassenkampfes", Metallarbeiterstreik


in Baden-Württemberg. Frankfurt - Köln
Joachim Bergmann, Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch, 1979: Gewerkschaften in der Bundes-
republik, Band 1: Gewerkschaftliche Lohnpolitik zwischen Mitgliederinteressen und ökono-
mischen Systemzwängen, 3. Auf!., Frankfurt
Joachim Bergmann und Watther Müller-Jentsch, 1977: Gewerkschaften in der Bundesrepublik,
Band 2: Gewerkschaftliche Lohnpolitik im Bewußtsein der Funktionäre, Frankfurt
Gerhard Brandt, 1975: Gewerkschaftliche Interessenvertretung und sozialer Wandel. Eine sozio-
logische Untersuchung über die Entwicklung der Gewerkschaften in der britischen Eisen-
und Stahlindustrie 1886-1917. Frankfurt- Köln.
Eckart Teschner, 1977: Lohnpolitik im Betrieb. Eine empirische Untersuchung in der Metall-,
Chemie-, Textil- und Tabakindustrie, Frankfurt
Rainer Deppe, Richard Herding, Dietrich Hoß, 1978: Sozialdemokratie und Klassenkonflikte.
Metallarbeiterstreik - Betriebskonflikt - Mieterkampf, Frankfurt
222 Anhang

FORSCHUNGSBERICHTE •

Bedingungen und Möglichkeiten nachholender Entwicklung: eine empirische Untersuchung zu


Problemen traditioneller Produktionsweisen und ihrer Oberwindung durch politische Mobilisie-
rung und sozial-ökonomische Transformation am Beispiel der Ujamaa Strategie in Tansania.
Hektographierter Forschungsbericht 1973 (Jens Peter Bossung, Klaus Hermann, Hans-Georg
Isenberg)

Aspekte betrieblicher Lohnpolitik. Eine empirische Untersuchung in Betrieben der Metall-,


Chemie-, Textil- und Tabakindustrie. Hektographierter Forschungsbericht 1973 (Volkhart
Mosler, Eckart Teschner, Edwin Schudlich)

Die soziale Situation und die politischen Einstellungen von jugendlichen Arbeitnehmern. Ein
Vergleich jugendlicher Erwerbstätiger mit erwachsenen Arbeitern und Angestellten zum Pro-
blem der Wahrnehmung und Interpretation sozialer Ungleichheiten. Hektographierter For-
schungsbericht 1973 (Thomas von Freyberg)

Soziale Ungleichheit und materielle Ansprüche. Veränderungen der Interessenorientierung von


Arbeitern und Angestellten. Hektographierter Forschungsbericht 1974 (Thomas von Freyberg,
Ursula Jaerisch, Berndt Kirchlechner, Helgard Kramer)

Bildungsurlaub - Bericht über ein Experimentelprogramm. Hektographierter Forschungsbericht


1975 (Thomas von Freyberg, Ursula Jaerisch, Berndt Kirchlechner, Helgard Kramer)

Ober die Struktur von Wanderungsbewegungen und ihre Motive - untersucht am Beispiel
Frankfurt am Main. Schreibmaschinenmanuskript 1976 (Rudolf Gunzert)

Bericht über eine Untersuchung von Arbeitssituationen in der Landesversicherungsanstalt 01-


denburg-Bremen. Schriftenreihe des Vereins für Verwaltungsreform und Verwaltungsforschung
e.V., Bonn, Nr. 5, 1976 (Uirich Billerbeck)

Bericht über eine Untersuchung von Arbeitssituationen in der Müllabfuhr der Stadt Frankfurt
am Main. Schriftenreihe des Vereins für Verwaltungsreform und Verwaltungsforschung e. V.,
Bonn, Nr. 6, 1976 (Hans-Georg Isenberg)

Bericht über eine Untersuchung von Arbeitssituationen in der Steuerverwaltung am Beispiel


des Finanzamtes Friedberg/Hessen. Schriftenreihe des Verein für Verwaltungsreform und Ver-
waltungsforschung e. V., Bonn, Nr. 7, 1976 (Klaus Körber)

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Die Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Ar-


beit im Kontext der sozioökonomischen Entwicklung- Zwischenbericht 1976 -Erster Teil:
Theoretische Vorarbeiten. Forschungsbericht Frankfurt 1976

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Die Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Ar-


biet im Kontext der sozioökonomischen Entwicklung- Zwischenbericht 1976- Zweiter Teil:
Methodische Vorarbeiten- Empirische Analysen. Forschungsbericht Frankfurt 1976

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Tarifpolitik unter Krisenbedingungen - Darstellung


und Analyse der Tarifbewegungen 1975 und 1976 in der Chemischen Industrie und in der
Druckindustrie. Forschungsbericht Frankfurt 1977

• seit 1978 erscheinen die Forschungsberichte im Campus Verlag, Frankfurt/Main.


Forschungsprojekte am Institut für Sozialforschung 223

Beiträge zur Theorie und Empirie des öffentlichen Dienstes. Erster Teil: Zum Verhältnis von
Staatsform zu Arbeitsprozessen und Interessen von Beschäftigten im öffentlichen Dienst.
Hektographierter Forschungsbericht 1974; Zweiter Teil: Arbeitssituation und Interessen der
Beschäftigten. Hektographierter Forschungsbericht 1977 (Ulrich Billerbeck, Hunno Hochber-
ger, Hans-Georg Isenberg)

Rudi Schmiede und Edwin Schudlich: Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutsch-
land. Eine historisch-theoretische Untersuchung zum Verhältnis von Lohn und Leistung unter
kapitalistischen Produktionsbedingungen. Forschungsbericht, 3. Auf!., Frankfurt 1978

Gerhard Brandt, Bernard Kündig, Zissis Papadimitriou, jutta Thomae: Sozio-ökonomische As-
pekte des Einsatzes von Computersystemen und ihre Auswirkungen auf die Organisation der
Arbeit und die Arbeitsplatzstruktur (EDV-Systeme und Arbeitsorganisation). Publiziert als
Forschungsbericht (Kurzfassung) durch das Ministerium für Forschung und Technologie, 1977

Gerhard Brandt, Bernard Kündig, Zissis Papadimitriou, Jutta Thomae: Computer und Arbeits-
prozeß. Eine arbeitssoziologische Untersuchung der Auswirkungen des Computereinsatzes in
ausgewählten Betriebsabteilungen der Stahlindustrie und des Bankgewerbes. Frankfurt 1978

Karin Flaake, Helene joannidou, Berndt Kirchlechner, I. Riemann: Das Kita-Projekt. Ergebnisse
einer wissenschaftlichen Begleituntersuchung zu einem Reformmodell öffentlicher Vorschul-
erziehung. Frankfurt 1978

Rainer Erd: Verrechtlichung industrieller Konflikte. Normative Rahmenbedingungen des dualen


Systems der Interessenvertretung. Frankfurt 1978

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Tarifpolitik 1977. Darstellung und Analyse der Tarif-


bewegung in der Metallverarbeitenden, der Chemischen und der Druckindustrie sowie im öf-
fentlichen Dienst. Frankfurt 1978

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Rahmenbedingungen der Tarifpolitik. Band 1: Gesamt-


wirtschaftliche Entwicklung und Organisation der Tarifparteien, Frankfurt 1979; Band 2:
Strukturdaten der Metallverarbeitenden, der Chemischen und der Druckindustrie, Frankfurt
1979; Band 3: Strukturdaten des öffentlichen Dienstes, Frankfurt 1978

Projektgruppe Gewerkschaftsforschung: Tarifpolitik 1978. Lohnpolitische Kooperation und


Absicherungskämpfe. Darstellung und Analyse der Tarifbewegung in der Metallverarbeitenden,
der Chemischen und der Druckindustrie sowie im öffentlichen Dienst, Frankfurt

Christel Eckart, Ursula G. Jaerisch, Helgard Kramer: Frauenarbeit in Familie und Fabrik. Eine
Untersuchung von Bedingungen und Barrieren der Interessenwahrnehmung von Industriear-
beiterinnen, Frankfurt 1979

Richard Herding, Berndt Kirchlechner: Lohnarbeiterinteressen: Homogenität und Fraktionie-


rung. Eine empirische Untersuchung bei westdeutschen Arbeitern und Angestellten über soziale
Ungleichheit und materielle Ansprüche. Frankfurt 1979

Rainer Deppe, Dietrich Hoß: Sozialistische Rationalisierung. Leistungspolitik und Arbeitsgestal-


tung in der DDR, Frankfurt 1980

Karin Flaake, Helene Joannidou, Berndt Kirchlechner, Ilka Riemann: Kinderhorte. Sozialpäda-
gogische Einrichtungen oder Bewahranstalten? Frankfurt 1980
Hochschule für Wirtschaft und Politik Harnburg (Hrsg.)
Arbeitsmarktpolitik
(Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie) 1978.215 S. Folieneinband
Die Hochschule für Wirtschaft und Politik in Harnburg stellt mit diesem Jahrbuch ihr Perio-
dikum vor. Es befaßt sich mit der in Anbetracht eines Millionenarbeitslosensockels beson-
ders aktuellen Arbeitsmarktpolitik. Unter verschiedenen fachdisziplinären Gesichtspunkten
werden Ursachen, Folgen und Erklärungsversuche der Arbeitslosigkeit analysiert. Gemein-
sames Anliegen der Beiträge ist daneben die Entwicklung von Alternativen zur gegenwärti-
gen Krisenverwaltung auf dem Arbeitsmarkt. Autoren sind Wissenschaftler und Studenten
der HWP sowie Praktiker.

Hochschule für Wirtschaft und Politik Harnburg (Hrsg.)


Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen
(Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheoriel. 1980. 205 S. Folieneinband
Dieser Band des Jahrbuchs für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie enthält Aufsätze
zu einigen der vielen Berührungspunkte zwischen Hochschule und Arbeitswelt, die exempla-
risch für die Verflechtungzweier scheinbar so entfernt liegender Teilbereiche unserer Gesell-
schaft sind. Vier Beiträgen geht es um Darstellung und Analyse der Kooperationsbeziehun-
gen zwischen Wissenschaft und Gewerkschaften. Andere Aufsätze fragen nach dem arbeits-
weltorientierten Praxisertrag einzelner Wissenschaftsdisziplinen (lndustriesoziologie, Psycho-
logie). Weiterhin wird das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft
auf theoretischer Ebene dargestellt. Schließlich wenden sich zwei Beiträge gewerkschafts-
geschichtlichen Themen zu.

Hochschule für Wirtschaft und Politik Harnburg (Hrsg.)


Studium und Beruf
Zur Studienreform in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften
(Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheoriel. 1981. ca. 205 S. Folieneinband
Die Beiträge behandeln allgemeine Probleme der Studienreform-Konzeption in den Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften und untersuchen empirisch einige zentrale Fragen der Um-
setzung in der Bundesrepublik, in Frankreich und den USA.

Gert von Eynern und Carl Söhret (Hrsg.)


Wörterbuch zur politischen Ökonomie
(Studienbücher zur Sozialwissenschaft, Bd. 11). 2., neu bearb. u. erw. Aufl. 1977. 584 S.
Folieneinband
Während die meisten der bisher vorhandenen Wörterbücher und Lexika entweder nur öko-
nomische oder nur politische Begriffe erklären, hebt dieses Wörterbuch die politische Be-
deutung der wirtschaftlichen Kräfte und zugleich die ökonomische Relevanz des politischen
Geschehens hervor. Dabei werden unterschiedliche Aspekte, auch marxistische, herausgear-
beitet.
Für die 2. Auflage wurden alle Beiträge kritisch durchgesehen, aktualisiert und z.T. erwei-
tert; 7 Artikel wurden zusätzlich aufgenommen.

Westdeutscher Verlag

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