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BERN D H EI M ERL

»Wir müssen für heute schließen«


Zum Beendigungssatz einer analytischen Sitzung aus literatur-
wissenschaftlicher und psychoanalytischer Perspektive*

Übersicht: Das Stundenprotokoll ermöglicht einen Blick in die Behandlungspra-


xis des Analytikers: Wie beginnt und beendet der Analytiker die Sitzung? Die
Beendigungsmarkierung einer analytischen Sitzung ist zum einen aufgrund des
formalen Charakters und zum anderen wegen der dem letzten Satz innewoh-
nenden Übertragungsdynamik besonders erhellend und untersuchungswürdig.
Dem Autor zufolge lassen sich zwei Begründungen dafür anführen, den Beendi-
gungssatz als Teil des Stundenprotokolls sowohl literaturwissenschaftlich als auch
psychoanalytisch zu untersuchen. Der Beendigungssatz ist Teil der analytischen
Erzählung sowie Teil der analytischen Praxis von Übertragungs- und Gegenüber-
tragungsgeschehen. Er schließt und zugleich öffnet er einen intermediären Raum.
Daher kann er, so der Autor, in der Sprache Winnicotts als Übergangsobjekt und
Übergangsphänomen beschrieben werden.
Schlüsselwörter: Fallgeschichte; Stundenprotokoll; Beendigungsmarkierung; Be-
endigungssatz; intermediärer Raum; Übergangsraum; Übergangsobjekt

1. Einleitung
Die Erfindung der Psychoanalyse kann ohne die Entwicklung der Dar-
stellungspraktiken der Krankengeschichten nicht gedacht werden. Zeul
(1996) definiert die Krankengeschichte als eine

»narrativ dargestellte Rekonstruktionsarbeit mit ihrer Ausrichtung auf das


Aufdecken unbewussten Erlebens und die Vermittlung der Entfaltung und
Verfügbarmachung von Lebensgeschichte über die Analyse von Übertra-
gung und Gegenübertragung« (S. 8).

Begriffe wie Krankengeschichte, Lebensgeschichte, Fallgeschichte, Fallstu-


die, Fallvignette1 und derzeit Stundenprotokoll2 kursieren in der analy-
tischen Nomenklatur und bezeichnen narrative Darstellungspraktiken in

* Bei der Redaktion eingegangen am 24. 7. 2016.


1
»Vignette« ist eine Verkleinerungsform von frz. vigne (Rebe, Weinstock) und bedeutet
ursprünglich künstlerische Ausschmückung in der Buchkunst.
2
Die aktuelle Debatte innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft und die Über-
sichtsarbeiten bezüglich der Validität von Stundenprotokollen sowie die detaillierte

Psyche – Z Psychoanal 71, 2017, 214–234. DOI 10.21706/ps-71-3-214 www.psyche.de

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der analytischen Wissensvermittlung über einen Fall. Die Fallgeschichte


ist eine moderne Wissensform (Düwell & Pethes 2014, S. 13). Doch fehlt
es an einheitlichen Definitionen und Abgrenzungen der jeweiligen Erzähl-
technik: so ist zum Beispiel die Lebensgeschichte Teil der Krankenge-
schichte und diese wiederum als Symptomgeschichte zu verstehen. Die
Fallvignette dient meist dazu, ein Fallbeispiel als Supplement einer Theorie
wiederzugeben. Es herrscht aktuell wenig Konsens darüber, welchen Stel-
lenwert die Lebensgeschichte in den Fallgeschichten einnimmt. Derzeit
wird einheitlich das Stundenprotokoll verwendet, es gilt seit vielen Jahren
als international anerkannter Standard der Falldarstellung in Ausbildung,
Supervision, Intervision und fachöffentlichen Kasuistiken sowie Lehrana-
lytikerprüfungen.
In der theoretischen und praktischen Wissensvermittlung spielt die Fall-
geschichte und die Darstellung derselben schon seit Beginn der psychoana-
lytischen Bewegung eine wichtige Rolle. Mit der nahezu ausschließlichen
Verwendung von Stundenprotokollen in der mündlichen Falldarstellung
und der Wissensvermittlung im fachöffentlichen Raum wird der münd-
lichen Erzählung des Analysanden3 heute eine zentrale Rolle zugeschrie-
ben, und diese ist ein wesentlicher Teil der analytischen kollegialen Arbeit.
Durch die schriftliche Darstellung der mündlichen Erzählung erhält die
analytische Situation eine performative Note und erinnert an die frühen
Falldarstellungen bei Charcot: eine Inszenierung oder eine Performanz
einer Symptomatik und einer darauf bezogenen Lebensgeschichte. Die
hermeneutische Erkenntnispraxis, mit Hilfe des Stundenprotokolls das
unbewusste Geschehen zu erschließen, häufig unter Verwendung der
Gruppenmethode Weaving Thoughts (Norman & Salomonsson 2006),
stellt den formalen Rahmen der Arbeit mit dem Stundenprotokoll dar.
Das Stundenprotokoll soll als Gedächtnisprotokoll verstanden und do-
kumentiert werden. Die Erzählung des Analysanden geschieht assoziativ,
hält sich aber formal an Regeln der Semiotik und der Semantik. Damit
begründet sich neben der inhaltlichen Übertragungsanalyse die formale
Untersuchung anhand der Narrationsanalyse.
Das Stundenprotokoll ermöglicht auch einen genauen Blick in die
Behandlungspraxis des Analytikers: Wann und wie werden Deutungen
ausgesprochen? Wie und wann setzt der Analytiker Interventionen (und

Auseinandersetzung um die Fallgeschichte in der analytischen Literatur sind für die vor-
liegende eng umschriebene interdisziplinäre Arbeit nur von geringer Bedeutung.
3
Im Interesse einer leichteren Lesbarkeit wähle ich im Folgenden die männliche Form
Analysand und Analytiker.

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wann nicht)? Welche Bedeutung haben das Schweigen, die Pausen oder
das (Zuviel-)Sprechen des Analytikers? Und: Wie beginnt und wie be-
endet der Analytiker die Sitzung? Mit welchem Satz oder mit welchem
Zeichen? Bemerkenswert ist die Verwendung des Stundenprotokolls als
ein Text ausschließlich innerhalb der analytischen Gemeinschaft – so wird
das Stundenprotokoll nach der Präsentation vernichtet und schließt die
breite Öffentlichkeit aus. Die Fallgeschichte wird gelesen und interpretiert,
mit dem Stundenprotokoll wird gearbeitet und gedeutet.
Die Darstellung der mündlichen Erzählung des Analysanden im Stun-
denprotokoll lässt sowohl die Erzählstruktur als auch die Erzählsequenzen
in den Vordergrund einer analytischen Untersuchung rücken: den Beginn,
die Haupterzählung und die Beendigung. Dabei ist die Beendigungsmar-
kierung einer analytischen Sitzung zum einen aufgrund des formalen Cha-
rakters und zum anderen wegen der dem letzten Satz innewohnenden
Übertragungsdynamik besonders instruktiv und untersuchungswürdig.
Der Beendigungssatz ist eine Möglichkeit der Beendigungsmarkierung; er
leitet sowohl eine gegenseitige Körper-Bewegung als auch eine wechsel-
seitige Übertragungs-Bewegung ein.
Es lassen sich zwei Begründungen dafür anführen, den Beendigungssatz
als eine Form der Beendigungsmarkierung sowohl literaturwissenschaft-
lich als auch psychoanalytisch zu untersuchen:
1. Der Beendigungssatz ist Teil der analytischen Erzählung. Er schließt
den Raum der Sitzung, öffnet aber zugleich einen anderen, nämlich den
Vorgang des Beendigens. Der Beendigungssatz bewegt sich in einem inter-
mediären Raum und ist ein Dazwischen im analytischen Erzählen.
2. Der Beendigungssatz ist Teil der analytischen Praxis von Übertra-
gung- und Gegenübertragungsgeschehen. Er schließt, und gleichzeitig öff-
net er einen Übergangsraum. In der Sprache Donald Winnicotts kann er
als Übergangsobjekt und Übergangsphänomen beschrieben werden.

2. Von der Fallgeschichte zum Stundenprotokoll


2.1. Freud als literarischer und wissenschaftlicher Autor

Die Verbindung zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft hat


eine lange Tradition, die sowohl den wissenschaftlichen Forscher Freud
als auch den literarischen Autor Freud umschließt (Thonack 1997). Seine
Krankengeschichten bestehen in der Montage vieler einzelner Episoden,
die sich in der Behandlung zutragen. Diese Episoden können in verschie-
dene Teile zerlegt, neu zusammengesetzt und in andere Sinnzusammen-

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hänge gebracht werden. Nach Winnicott braucht es zumeist die Über-


setzungsarbeit des Analytikers, um der Re-Konstruktion einen Sinn zu
verleihen. Nicht umsonst hatte Freud die Unfähigkeit seiner Patienten,
ihre Lebensgeschichte zusammenhängend zu erzählen, mit ihrer neuro-
tischen Erkrankung in Zusammenhang gebracht: Die erste Erzählung in
der Behandlung sei

»einem nicht schiffbaren Strom vergleichbar, dessen Bett durch Felsmassen


verlegt, bald durch Sandbänke zerteilt und untief gemacht wird. Ich kann
mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten
Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die
Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben« (1905e, S. 173).

Schon 1895 bemerkt Freud selbst, dass seine Krankengeschichten sich


wie Novellen lesen. Diese Aussage wurzelt in der Würdigung Arthur
Schnitzlers, den Freud als Autor novellenartiger Fallgeschichten außeror-
dentlich schätzte. Seine zu diesem Zeitpunkt in den Studien über Hysterie
mit Breuer publizierten Krankengeschichten I–IV (Breuer & Freud 1991
[1895]) lesen sich eben wie kleine Erzählungen im formalen Rahmen der
zur damaligen Zeit üblichen medizinischen Verschriftlichungspraxis (We-
gener 2014). Damit figuriert Freud sowohl als literarischer als auch als
wissenschaftlicher Autor.4
Der Vergleich mit einer Novelle ist erhellend. In der Novelle wird in
der Regel ein einziges Ereignis, ein Konflikt zwischen Ordnung und Auf-
lösung, erzählt, sie wird deshalb zumeist als kleine Erzählung bezeichnet.
In der Regel ist sie sehr klar strukturiert und verfügt über eine geschlos-
sene Form und ein Leitmotiv. Freud war es ein großes Anliegen, seine
Theorie lebendig, offen, aber in der Begrifflichkeit genau und gut lesbar
zu entwickeln.
Schon vor dem Aufsatz Der Dichter und das Phantasieren (1908e), in
welchem er die kreative Arbeit des Autors als Parallele zum Tagtraum be-
schreibt, kreierte Freud mit der Traumdeutung (1900a) einen neuen Typus
von wissenschaftlicher Literatur: die Wissenschaftsprosa. Er legte mit der
Traumdeutung eine akribisch ausgearbeitete und höchst folgenreiche neue
wissenschaftliche Begrifflichkeit in der Medizin vor; andererseits streute
er in den Text viele Fallbeispiele mit metaphernreichen Wendungen und
Windungen des Gedankengangs ein. Freud bewegte sich weit vom na-

4
Dies begründet die Zuordnung des Autors Freud zur literaturwissenschaftlichen For-
schungsrichtung der Literarischen Anthropologie.

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turwissenschaftlich geprägten Denk- und Stilideal seiner Zeit weg.5 Mit


seiner Theorie von den wirk- und manchmal übermächtigen Triebkräften
des Unbewussten bringt er einen Gedanken in eine systematische Fas-
sung, der zuvor von Arthur Schnitzler literarisch gestaltet worden war.
Die Wissenschaftsprosa (engl. science writing) ist eine Literaturgattung,
die tradiertes theoretisches Wissen vermitteln und sichern möchte und
Lesbarkeit intendiert. Sie vermittelt zwischen (Fach-)Wissen und (Wissen-
schafts-)Sprache: die Sprache der Wissenschaftsprosa soll offen, für Laien
verstehbar und spannend sein.6
Einen weiteren Bezug zur Vermittlungsfunktion der Erzählung führt
der Literaturwissenschaftler und Hermeneutiker Paul Ricœur mit dem
Begriff der narrativen Identität ein:

»Mit ›narrative Identität‹ bezeichne ich jene Art von Identität, zu der das
menschliche Wesen durch die Vermittlung der narrativen Funktion Zugang
haben kann« (Ricœur 2005, S. 209 f.).

Die Lebensgeschichte ist für ihn eine Narration, welche durch die Dialek-
tik und die Antinomie von Selbst- und Gleichheit geprägt ist. Gleichheit
bedeutet für ihn die Unveränderbarkeit in der Zeit, Selbstheit mit sich
selbst identisch und veränderbar in der Zeit zu sein. In diesem Sinne hat
die Erzählung der Lebensgeschichte stets eine Vermittlungsfunktion. Sich
der eigenen Lebensgeschichte zu nähern, wirft nach Ricœur für das Sub-
jekt mehr Fragen als Antworten auf.
Freud (1937d) erkannte zwei Schwierigkeiten in der Verwendung von
Fallgeschichten zur Wissenserweiterung: zum einen die Problematik der
Vermittlung von psychoanalytischer Arbeit und Erfahrung mit unter-
schiedlichen Erzähltechniken als wissenschaftliche Beweisführung, zum
anderen die Problematik der Konstruktion. Der Analytiker konstruiere
drei Dinge in seiner Fallgeschichte: eine Subjekt-Geschichte, eine Be-
schreibung einer Erfahrung und eine Theorie des Verstehens und Erklä-

5
Kant stellte seiner Kritik der reinen Vernunft die Silemus-Norm voran: »De nobis ipsis
silemus« (»von uns selber schweigen wir«), eine Forderung, die von dem Philosophen
F. Bacon stammt. Wissenschaft soll objektiv und die Ergebnisse sollen unabhängig von
Person und sozialem Kontext der Forscher sein.
6
Für Arbeiten dieser Literaturgattung wird seit 1964 der Sigmund-Freud-Preis für wis-
senschaftliche Prosa von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen.
Ausgezeichnet werden Wissenschaftler, die in deutscher Sprache publizieren und durch
einen herausragenden Sprachstil entscheidend zur Entwicklung des Sprachgebrauchs in
ihrem wissenschaftlichen Fachgebiet beitragen. Hier wird die sprachliche Vermittlung
honoriert.

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rens. Die Fallgeschichte war für Freud sowohl inhaltlich als auch formal
immer auch ein wesentliches Forschungsinstrument.
Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit von Fallgeschichten und deren
Evidenz für die Bildung psychoanalytischer Theorien ist somit für die
Psychoanalyse zentral.

2.2. Freud als Diskursivitätsbegründer

Michel Foucault würdigt Freud in einem Vortrag 1969 als einen Autor,
»der in einer Wissenschaft Wandlungen herbeigeführt hat, die man frucht-
bar nennen kann« (Foucault 2000, S. 220). An anderer Stelle schreibt er,
dass Freud nicht einfach der Autor der Traumdeutung oder des Witzes sei,
sondern Freud habe eine »unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaf-
fen« (S. 219). Foucault nennt den Autor Freud deshalb einen »Diskursi-
vitätsbegründer« (ebd.). Für Foucault sind es Sigmund Freud und Karl
Marx, die diese Bezeichnung verdienen:

»[Sie sind] zugleich die ersten und die wichtigsten […]. Sie haben Raum
gegeben für etwas anderes als sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie
begründet haben« (S. 219 f.).

Zum anderen bescheinigt Foucault Freud, dass eine Besonderheit seiner


Texte die Wandlungsfähigkeit (nicht die Willkürlichkeit) sei, jede neuer-
liche Überprüfung seiner Texte modifiziere stets die Psychoanalyse selbst.
Und last but not least betont Foucault, dass Freud der Erste gewesen ist,
der die Grenzziehung zwischen Normalem und Pathologischem, Versteh-
barem und Unkommunizierbarem, Bedeutendem und Unbedeutendem
radikal zu beseitigen suchte:

»Freud nahm den Wahnsinn auf der Ebene seiner Sprache wieder auf,
stellte eines der wesentlichen Elemente einer durch den Positivismus zum
Schweigen gebrachten Erfahrung wieder her; […] er stellte innerhalb des
medizinischen Denkens die Möglichkeit eines Dialogs mit der Unvernunft
wieder her« (Foucault, zit. nach Derrida 1998, S. 75).7

Diese Diskursivität begründet die häufig geforderte und sprichwörtlich


gewordene Rückkehr zu Freud.
Die Psychoanalyse ist für den Wissenschaftsdiskurs insofern gewinn-
bringend, als sie die Ablösung von den konstituierten Formen eines

7
Das Zitat stammt aus dem Epilog von Foucaults Histoire de la folie à l’âge classique
(1961, S. 411). In der deutschen Übersetzung ist der betreffende Absatz nicht enthalten.

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positiven Wissens, dem sogenannten Positivismus, ermöglicht. In der


Freud’schen Grundregel, nach der man alles sagen soll, dem Sagen als
solchem im Sinne der Notwendigkeit, »bis an die Grenzen des Möglichen
zu gehen, zeigt sich, dass die Erfahrung in der Sprache selbst angesie-
delt ist« (Foucault 1973, S. 97). Die Rückkehr zu Freud ist damit immer
auch eine Modifikation und kann nicht nur das historische Wissen verän-
dern, sondern auch das theoretische Feld und die Akzente verschieben.
Im Sinne der Darstellungspraxis heißt dies: Freuds Texte lesen sich stets
performativ, sie entwickeln immer neue Interpretationsmöglichkeiten im
Kontext der Behandlungspraxis.
Dieses Verständnis entspricht der Haltung, die Freud als junger Arzt
bei Charcot gelernt haben mag und die er in den frühen Analysen bis zur
Traumdeutung auch auf seine eigene Praxis übertragen hat. Die Sprache
ist auf das Symptom ausgerichtet und beschreibt das sexuelle Subjekt. Die
freudianische Erzählung bedeutet,

»dass das infantile Drama, wenn man es so auffasst, […] als wiederhol-
tes Drama vom Analysanden in den analytischen Dialog eingeführt wird«.
(Gill 1997, S. 185).

Die Sprache selbst grenzt das Symptom aus der Beliebigkeit der Phänomene
aus, sei es eine unbewusste Geste eines Patienten, sei es ein Widerspruch in
einem Traumbild oder eine Auslassung in einem literarischen Text. Dies
löst einen nicht zu Ende kommenden Prozess der Reflexion aus, der eine
erreichte Position durch eine genauere zu ersetzen sucht. Für Freud war der
Umgang mit dem Wort und seiner Abbildungsqualität zentral.
Jenseits der Novelle hat eine weitere Erzähltechnik für die Fallgeschich-
ten Freuds eine große Bedeutung: der stream of consciousness. Der deut-
sche Ausdruck Bewusstseinsstrom beschreibt ein literarisches Verfahren
mit dem Anspruch, die Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Refle-
xionen einer Erzählfigur subjektiv so wiederzugeben, wie sie ins mensch-
liche Bewusstsein fließen.8 Die Erzähltechnik des Bewusstseinsstroms ist
die direkte Rede mit syntaktischer Unabhängigkeit sowie Verwendung
des Präsens und des Indikativs. Zur Bezeichnung der denkenden und spre-

8
Die Entwicklung dieses Verfahrens geschah in Anlehnung an die Erforschung psycholo-
gischer Entitäten durch William James und dessen auf Charles S. Peirce zurückgehende
Idee eines kontinuierlich ablaufenden »Bewusstseinsstroms« im Subjekt. In der Litera-
tur geht dieser Begriff auf den Roman Geschnittener Lorbeer (1887) des französischen
Schriftstellers Edouard Dujardin zurück. Dujardin nannte diese Technik monologue in-
térieur, ein stummes, inneres Sprechen.

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chenden Figur dient die erste Person, es wird also aus der Ich-Perspektive
erzählt. Der allgemeine Begriff für die Mitteilung unausgesprochener Ge-
danken der Figuren in Form von direkter Rede ist der innere Monolog.9
Es werden Wahrnehmungen, Empfindungen, Assoziationen aller Art, Er-
innerungen, Überlegungen ohne Eingriff einer Erzählinstanz aufgezeich-
net. Sachverhalte, die dem Sprecher selbstverständlich sind, etwa weil die
Figur sie gerade ausführt, werden nicht genannt und müssen vom Leser
selbst rekonstruiert werden. Damit soll ein Höchstmaß an Authentizität
und Nähe zum eigenen Erleben erreicht werden. Der Erzählerbericht hat
lediglich die Funktion, die Figur und ihren inneren Monolog in der Au-
ßenwelt zu situieren und damit einen Erzählrahmen zu schaffen, den die
Figur nicht erzeugen könnte. Das äußere Geschehen tritt jedoch in den
Hintergrund der Analyse und ist nur als Anreiz und Auslöser innerer Pro-
zesse wichtig. Der Literaturwissenschaftler F. K. Stanzel (1995) bezeichnet
den Bewusstseinsstrom als die Radikalisierung personalen Erzählens, da
dort die Innenwelt der Figur kommentarlos präsentiert wird und der Er-
zähler aus dem Geschehen zurücktreten soll.

2.3. Das neue Kleid der Fallgeschichte: Das Stundenprotokoll als moderne
Erzähltechnik und das Auftauchen des Beendigungssatzes

Die gesamten angeführten Merkmale und Beschreibungen des Bewusst-


seinsstroms als moderne Erzähltechnik lassen sich instruktiv auf das Stun-
denprotokoll anwenden. Hervorzuheben ist der Aspekt, dass der Erzähler
bzw. die Lebensgeschichte des Erzählers aus dem Geschehen zurücktreten
soll. Diese Besonderheit soll eine maximale assoziative Freiheit der Zu-
hörer ermöglichen. Eine weitere Besonderheit ist die Tatsache, dass das
Stundenprotokoll ein Gedächtnisprotokoll ist. Der Analytiker wiederholt
im eigenen Bewusstseinsstrom das Erzählte des Analysanden. Der innere
Monolog des Analytikers zeigt sich als Spur im Stundenprotokoll und
eröffnet die assoziativen Freiheiten der Zuhörer.10 Durch die Verwen-
dung von Stundenprotokollen rückt die Analyse des Beendigungssatzes
als Beendigungsmarkierung in den Bereich des literarischen und psycho-
analytischen Forschungsinteresses, da dieser den Bewusstseinsstrom aktiv

9
Im deutschen Sprachraum wurde dieses Stilmittel erstmals von Arthur Schnitzler in den
Novellen Leutnant Gustl und Fräulein Else konsequent eingesetzt.
10
In Kasuistiken wird immer wieder die kritisch gefragt, inwiefern im Gedächtnisprotokoll
primärprozesshaftes Denken durch sekundärprozesshaftes Denken ersetzt wird. Diese
Diskussion verliert sich häufig in der Frage nach der Wahrheit im Gedächtnisprotokoll.

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unterbricht und beendet. Dies gilt sowohl für den literarischen als auch für
den psychoanalytischen Text.
Mit der Einführung des Stundenprotokolls vollzieht sich ein Paradig-
menwechsel in der Darstellungspraxis der Psychoanalyse, und gleichzeitig
ist es eine Rückkehr zur Freudschen dramatischen Falldarstellung. Die
Lebensgeschichte des Analysanden weicht einer Untersuchung des Ge-
sprächs bzw. der Interaktion zwischen Analytiker und Analysand, was
eine neue Verschriftlichung des analytischen Wissens begründet.
Es lassen sich einige allgemeine formale und inhaltliche Merkmale des
Stundenprotokolls als Fallgeschichte beschreiben:
1. Dem Stundenprotokoll liegt die Einheit von Ort, Zeit und Hand-
lung zugrunde. Es hat einen geordneten Aufbau, eine einfache Sprache
und eine einfache Zeichenstruktur. Das protokollierte Gespräch findet an
einem bestimmten Ort in einer kurzen Zeitspanne statt.
2. Im Stundenprotokoll herrscht die wörtliche Rede ohne Anführungs-
zeichen vor. Es liest sich zumeist wie ein Drehbuch einer freien Szene
ohne Handlungsanweisungen.
3. Inhalt und Bedeutungen des Stundenprotokolls werden durch ein
Subjekt im Außen angeeignet, um sie in einem weiteren Schritt zu transfor-
mieren. Die Aneignung oder Auslegung geschieht über Identifikation und
Projektion. Sich eine Figur durch Identifikation und Projektion aneignen
bedeutet, sich selbst dem Spiel imaginativer Variationen zu unterwerfen.
Die psychoanalytische Grundregel und der Begriff der gleichschweben-
den Aufmerksamkeit fassen diese imaginative Variation des Selbst zusam-
men und wenden sie auf die Vermittlung von Wissen an. Damit kann das
Stundenprotokoll und die mediale Präsentation desselben als eine genuin
psychoanalytische Wissensform gelesen werden.
Das Stundenprotokoll steht in der Tradition der Darstellungspraxis
(der Fallgeschichte) und der Publikationspraxis (der Wissenschaftsprosa);
beide Praxen verbinden sich in der psychoanalytischen Praxis miteinander.
Es zielt stets auf einen Erkenntnisgewinn mit dem Anspruch auf Rück-
führung in den Fall. Dies klingt nach einem Vorgehen im hermeneuti-
schen Zirkel: eine Fallgeschichte F1 wird durch die Präsentation zu einer
Fallgeschichte F2, diese wird in die analytische Situation rückgeführt, um
eine neue, erweiterte Fallgeschichte F3 zu entwickeln, usw. Lediglich der
Beendigungssatz bleibt in der Regel unverändert.
In der Narrationsanalyse der Literaturwissenschaft wird der Been-
digungssatz einer Erzählung unter der Kategorie Rahmen verortet und
diskutiert. Dies gilt auch für den Beendigungssatz im Stundenprotokoll.
Der Beendigungssatz einer mündlichen Erzählung wird Erzählcoda bzw.

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Coda – ursprünglich die Bezeichnung für den Schlussteil eines Musik-


stücks11 – genannt. Dies impliziert die Annahme einer Sequenzialität in
Erzählungen: der Schlusssatz ist eine Sequenz einer Erzählung und kann
eigenständig untersucht werden.
Coda wird in der Ursprungsbedeutung auch Moralsatz genannt und ist
die formale Beendigung einer Erzählung. Das Codazeichen erscheint, be-
vor die Wiederholung ganz beendet ist. Hanke (2001) definiert Coda aus
seiner Kommunikationsfunktion heraus, insofern mit dem Codazeichen
die vergangene Geschichte verlassen wird und der Erzähler und Hörer
in die gegenwärtige Kommunikationssituation zurückversetzt wird. La-
bov & Waletzky (1973) definieren Coda unter psychologischen Gesichts-
punkten: Mit dem Beendigungssatz soll die Sprecherperspektive wieder
auf den Gegenwartszeitpunkt eingestellt werden. An anderer Stelle be-
schreiben die Autoren die Funktion:

»Das Bekenntnis des Nichtwissens in Verbindung mit einer Beendigungs-


markierung entbindet den Erzähler vom Gestaltschließungszwang und
macht die ›unvollständige‹ Gestalt akzeptabel für den Zuhörer. Eine Been-
digung schaltet zurück in die alltagsweltliche Bezugswirklichkeit; geleistet
wird diese Markierung durch einen Wechsel im Tempus, eine Coda oder
semantisch-inhaltlich durch Konstatieren des Erwachens, […] oder implizit
auch Ebenenwechsel von Traum zu Wachwelt« (Labov & Waletzky 1973,
S. 78 f.).

Wie bereits angedeutet: der Beendigungssatz beendet die Wiederholung,


d. h. die (wiederholende) Frage »Und dann?« darf sich nach der Coda
nicht mehr stellen.
Dieser Ebenenwechsel der Kommunikation, des psychischen Erlebens,
der Übertragungsdynamik und anderen Formen des Seins evoziert Zwi-
schen- und Übergangsräume. Zwischenräume scheinen vor allem in Form
von Brüchen, Störungen, Interventionen, Deutungen erfahrbar zu werden
und sind an den Begriff des Transitorischen geknüpft. Problematisch bleibt
die Metaphorik Drinnen als psychische Realität und Draußen als äußere
Realität für das psychoanalytische Denken, da sich innerhalb der psychi-
schen Struktur nicht binär denken lässt. Die Bedeutung des Raumes zwi-
schen Drinnen und Draußen ist für die Psychoanalyse zentral und wird
von unterschiedlichen analytischen Schulen und Richtungen verschieden

11
Als ein Phrasenteil ist eine Coda eine (meist repetierte) funktionale Kadenzformel nach
dem Erreichen des Zeitpunkts des Phrasenschlusses, insofern also ein Anhang oder
»Schwanz«.

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ausgelegt. Es war Winnicott, der diesem intermediären Raum einen gro-


ßen Stellenwert in der psychischen Entwicklung und der psychoanalyti-
schen Behandlungspraxis bescheinigt hat. Dieser intermediäre Raum ist
kulturell aktueller denn je: Begriffe wie Intertextualität, Intermedialität,
Interkulturalität, Intersexualität, Intersubjektivität haben Hochkonjunk-
tur. Wir leben in einer Epoche des Inter.

3. Der letzte Satz einer analytischen Sitzung im psychoanalytischen


Kontext
Im analytischen Kontext kann das Konzept des Übergangsobjektes und
des Übergangsraumes von Winnicott eine Grundlage schaffen, um die Be-
endigungsmarkierung einer analytischen Sitzung theoretisch und klinisch
zu erschließen. Wie kann der Beendigungssatz mit dieser Begrifflichkeit
gedacht werden?
1. Der letzte Satz ist ein Objekt an der Grenze zwischen Drinnen und
Draußen. Um diesen intermediären Raum zu kennzeichnen, hat Winni-
cott praxisrelevante Begrifflichkeiten gefunden, die auch bei der Analyse
des Beendigungssatzes angewandt werden können: (1) das Übergangsob-
jekt und (2) die Übergangsphänomene, ferner (3) die Objektverwendung
und (4) die Destruktion sowie (5) die Desillusionierung.
2. Nach dieser Definition gehören Worte oder Sätze als Übergangs-
phänomene ebenso in den intermediären Raum wie die Verwendung von
Objekten. Das Übergangsobjekt kann mit einem Zeichen, einem Wort
oder Satz belegt werden, die dieses repräsentieren können.
3. Die drei Bereiche des menschlichen Lebens fließen im Beendigungs-
satz zusammen: die innere psychische Realität, das äußere Leben und der
intermediäre Seinsbereich. Das philosophische Dazwischen oder der psy-
choanalytische Übergangsraum ist der Bereich, welcher innere und äußere
Realität voneinander trennt und doch in wechselseitiger Verbindung hält.
Für die psychoanalytische Situation heißt das: Der Beendigungssatz reizt
die Übertragung. Er versetzt die Übertragung in Unruhe.
Für Winnicott dienen kindliche Übergangsphänomene allgemein der
Abwehr von Ängsten, vor allem depressiven Ängsten, wenn sich ein Kind
vom Verlust eines Liebesobjektes bedroht fühlt. Die Angst ist Ausdruck
sowohl der Potentialität der Möglichkeiten als auch ihrer Realisierung:
Trennen oder Verbinden. Winnicott beschreibt Merkmale der Beziehung
zum Übergangsobjekt; so darf es nicht verändert werden, außer wenn das
Kind selbst es verändert. Des Weiteren muss das Übergangsobjekt sowohl
Liebe als auch Hass überleben. Für das Objekt gehört das Übergangsob-

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ZUM BEENDIGUNGSSATZ EINER ANALYTISCHEN SITZUNG 225

jekt der Außenwelt an, nicht aber für das Subjekt; andererseits gehört es
auch nicht zur inneren Welt, es ist in der Sprache Winnicotts keine Hallu-
zination. Dies begründet aber gerade, dass das Übergangsobjekt für jenen
Prozess Raum lässt, durch den das Kind erst fähig wird, Unterschied und
Ähnlichkeit zu akzeptieren. Das Übergangsobjekt steht für die Brust oder
für das Objekt der ersten (Teil-)Objektbeziehung und geht der gesicherten
Realitätsprüfung voraus. In der Beziehung zum Übergangsobjekt gelangt
das Kind von der (magischen) Kontrolle durch Allmachtsphantasien zu
einer Kontrolle durch Handhabung. Dafür braucht es ein sicheres Ob-
jekt. Das Übergangsobjekt steht weder unter magischer Kontrolle wie das
innere Objekt, noch stellt es äußere Kontrolle dar, die der realen Mutter
zukommt. Winnicott schreibt,

»dass der wesentliche Gesichtspunkt im Konzept der Übergangsobjekte


und -phänomene […] ein Paradoxon und die Annahme dieses Paradoxon
ist: das Kleinkind erschafft das Objekt, aber das Objekt war bereits vorher
da, um geschaffen und besetzt zu werden« (Winnicott 2012, S. 104).

Der Übergangsraum ist nicht als der Dritte zu denken, er ist der Ort, an
dem der Dritte (noch) nicht auftaucht und die Möglichkeit geschaffen
ist, Verbindung und Trennung in der Dyade stattfinden zu lassen. Der
Übergangsraum ist liminal zu denken: an der Grenze, wobei das Über-
gangsobjekt ein fragiles und irritierbares Wechselspiel zwischen Trennung
und Verschmelzung ermöglicht. Mit seiner Begrifflichkeit eröffnet Winni-
cott ein Denken und Konzeptualisieren von psychischen Konzepten wie
Integration, Personalisierung, Realisierung der Wirklichkeit, der Anerken-
nung von Raum und Zeit und anderen Realitätsfaktoren, aber auch von
Illusion, Desillusionierung, Rücksichtslosigkeit und Verlässlichkeit. Dies
erklärt die große Relevanz des Winnicott’schen Konzepts des Übergangs-
raumes und der Übergangsobjekte für kulturelle und individualpsycho-
logische Fragen. Eine wesentliche und weitreichende Annahme Winni-
cotts für die psychoanalytische Praxis ist, dass die Beziehung zwischen
Mutter und Säugling das Vorbild für die psychoanalytische Situation ist.
In der analytischen Situation beleben sich die frühesten Beziehungen wie-
der. Für ihn ist es der Beweis für eine wirkliche bzw. wahre Beziehung.
Die Konzeptualisierung folgt der Annahme, dass der psychoanalytische
Prozess – mikroskopisch jeweils die psychoanalytische Sitzung – einem
entwicklungspsychologischen Ablauf unterliegt.
Vereinfacht und grob schematisch heißt das für die psychoanalytische
Situation: Die Sitzung beginnt mit einem Zustand primärer Unintegriert-
heit; dieser Angst vor Desintegration folgt ein unspezifisches Fürsorge-

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226 BERND HEIMERL

bemühen von Seiten des Analytikers, indem die Person des Analytikers
in Erscheinung tritt. Der erste Kontakt des Analysanden mit der äußeren
Realität werde durch etwas ermöglicht, das Winnicott illusionäre Mo-
mente nennt und das dem kindlichen Entwicklungsprozess entspricht.
Über die Illusion kommt der Analysand wie auch ein Kind zur Realität.
Die Triebbedürfnisse des Babys und die Brust der Mutter: diese beiden
Phänomene treten erst dann in eine Beziehung zueinander, wenn Mutter
und Kind eine gemeinsame Erfahrung machen. Für die analytische Si-
tuation bedeutet das: wenn Analysand und Analytiker eine gemeinsame
Erfahrung machen. Dies taucht schmerzhaft als gemeinsame Figur des
Analysanden und Analytikers vor allem im Beendigungssatz auf, da sich
die analytische Situation unabwendbar schließt: Wir müssen für heute
schließen.
Wie zwei Linien, die aus diametralen Richtungen aufeinander zukom-
men entsteht für einen Augenblick an der Grenze eine Illusion. Diese
Erfahrung kann der Analysand entweder als eine Halluzination oder als
etwas, das der äußeren Realität angehört, wahrnehmen. Für das Zustande-
kommen dieses illusionären Augenblicks sind zwei Subjekte nötig. Nur
wenn die Erfahrung gemacht wurde, dass das Objekt, wenn es begehrt
wird, auch zugegen ist, kann allmählich darauf gewartet und kann es
schließlich ersehnt werden. Gemäß Winnicott wirkt Realität, zumindest
zu Beginn, potentiell bereichernd und in der Art, wie sie der Phantasie
Grenzen setzt, auch beruhigend. Der Beendigungssatz kann als ein Auf-
wachen aus einem Traum betrachtet werden oder implizit als Ebenen-
wechsel von Traum zu Wachwelt. Diese Entwicklung endet mit der Rea-
lisierung der Getrenntheit.
Psychische Entwicklung entsteht nach Winnicott somit bevorzugt im
Übergangsraum, der durch das Überkreuzen zweier psychischer Ordnun-
gen entstanden ist. Auf der einen Seite steht das Subjekt, auf der anderen
Seite das Objekt. Auf der einen Seite steht das Verbinden, auf der anderen
Seite das Trennen. Dies ist eine psychische Interferenz und eine Antino-
mie, in psychoanalytischer Terminologie: eine Konfusion um Projektion
und Introjektion. Den Fluchtpunkt bildet der illusionäre Moment. In die-
sem Raum wird nach Winnicott entrechtet, gehasst, geliebt, enteignet,
zerstört, aufgelöst und entwickelt. Es lässt sich leicht eine Nähe zum psy-
chotischen Erleben erahnen.

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ZUM BEENDIGUNGSSATZ EINER ANALYTISCHEN SITZUNG 227

4. Der Beendigungssatz und die Übertragung


Der Beendigungssatz gehört zum Übergangsraum und kann als Über-
gangsobjekt verstanden werden. In der Regel wird er mit einem »wir«
formuliert. In der analytischen Gesprächssituation wird ein »wir« selten
konkret, regelhaft und feststehend formuliert. Das »wir« ist grammatisch
der Plural von »ich« und bedeutet im analytischen Diskurs den Ausschluss
des Dritten. Das polyvalente »wir« bezieht sich auf den Augenblick des
Schließens der analytischen Sitzung (»Wir müssen für heute schließen«)
und der Hinwendung zur äußeren Realität.
Weitere bekannte Objektivierungsmöglichkeiten aus der Literatur sind
die Verwendung von indikativ-apodiktischen Formulierungen oder sug-
gestiven Evidenzformeln (»Wir sehen also …« oder »Damit wird deut-
lich …« oder »Es ist Zeit«)12; es können Passivsätze gebildet werden
(»Dieser Interpretation soll hier gefolgt werden …«) oder man kann den
Text zum Autor-Subjekt machen (»Der Text geht von der Überzeugung
aus …« oder »Die Absicht des Buches ist …«). Außerdem kann in das
neutrale man ausgewichen werden, das in Verbindung mit einer Möglich-
keitsform eine weitere Distanzierung vom bekennenden oder glaubenden
Ich ermöglicht. Wenn wir also über den Beendigungssatz sprechen, dann
reflektieren wir dabei immer auch über den Rahmen, die Bedeutung und
teleologische Implikation sowie die Übertragungsdynamiken am und im
Rahmen. Mit dem »wir«‹ wird der Analytiker zu einem realen Objekt.
Zurück zu Winnicott. Für ihn bleibt die Frage zentral, wie ein Kontakt
zu und eine Wahrnehmung von realen Objekten entsteht. Er schildert
diesen Prozess

»der vielleicht schwierigsten Sache innerhalb der menschlichen Entwick-


lung […] als einen Wechsel von einem Bezogensein auf Objekte hin zu dem
Gebrauch, der von ihnen gemacht wird« (Winnicott 2012, S. 165).

Von Beziehung zu Gebrauch ist eine Formel für den Wechsel von einem
subjektiven Objekt zu einem, das objektiv wahrgenommen wird und sich
der omnipotenten Kontrolle entzieht, in der Erfahrung des Säuglings. Die
Fähigkeit, von Objekten Gebrauch zu machen, kommt nicht automatisch

12
»Und Freud sagte beschwichtigend: das Unbewusste will es nicht hergeben. Er verab-
schiedete mich ungefähr mit den Worten: Jetzt versuchen Sie Ihr Glück als Analytiker.
Die Analyse ist beendet. Sie hatten keine Neurose« (Blum 2008, S. 402). Literaturwis-
senschaftlich kann Freuds Beendigungssatz als indikativ-apodiktische Formulierung oder
suggestive Evidenzformel gelesen werden.

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228 BERND HEIMERL

zustande, sie bedarf unbedingt eines Objekts, das sie unterstützt. Das
Winnicott’sche Objekt wird aus der omnipotenten Kontrolle entlassen,
indem es zerstört wird, während es gleichzeitig die Zerstörung überlebt.
Es ist diese Vorstellung von der Zerstörung in der Phantasie, durch die
das Objekt erst in den Bereich außerhalb der omnipotenten Kontrolle des
Subjekts gestellt wird. Es wird jetzt real und nicht mehr als etwas Projizier-
tes wahrgenommen und kann als Objekt, das es überlebt hat, verwendet
werden. Aber um verwendet werden zu können, muss der Analytiker mit
seinem Beendigungssatz »Wir müssen für heute schließen« in seiner vom
Analysanden »unabhängigen Existenz« (Winnicott 2012, S. 104) auch da
sein.
Für Winnicott ist es der Zerstörungsdrang, der Realität schafft, und
nicht die Realität, die den Zerstörungsdrang auf den Plan ruft. Das Subjekt
und das Objekt müssen in diesem Punkt gleichsam zusammenarbeiten; sie
erschaffen beide füreinander ihre gegenseitige Wirklichkeit: das Ende der
Übertragung, das Ende der Sitzung, das Ende des analytischen Raums und
damit das Ende der analytischen Zeit. Zu diesem Gedanken der notwendi-
gen Zerstörung oder Destruktion gehört, dass der Beendigungssatz nicht
wohldosiert, passend, zusammenfassend, harmonisierend sein soll; er soll
gerade eine Unterbrechung, eine Störung und eine (ritualisierte) zeitlich
exakte, aber inhaltlich unabhängige Intervention sein. 13 Nur dann birgt
der Beendigungssatz die Möglichkeit der Entwicklung einer gelungenen
Objektverwendung. Die Lacan’sche Technik der Skandierung kann als
eine besondere Form der Beendigungsmarkierung gedeutet werden.
Die Mutter bzw. der Analytiker muss laut Winnicott »robust« sein:
Verhält sich der Analytiker abweisend im Sinne einer Schuld oder einer
aggressiven Neutralität, dann hat der Analysand keine andere Möglich-
keit, als sich an ihn anzupassen, um das Objekt zu schützen. Es darf nicht
zerstört werden. Dieses Anpassungsmanöver nennt Winnicott die Orga-
nisation des falschen Selbst, das aus Identifikationen besteht: Das falsche
Selbst sorgt sich zum einen um die Mutter im Sinne einer Anpassung
und Verleugnung und bleibt in der höflichen Selbstgenügsamkeit, zum
anderen versteckt es das wahre Selbst, das nach Zerstörung drängt. Der
Beendigungssatz entsteht nicht zufällig. Der Beendigungssatz wird somit
in einem Raum, an einem Ort und zu einem Zeitpunkt gesprochen, den
es zu analysieren gilt.

13
Diese Forderung eines aktiv eingesetzten letzten Satzes einer analytischen Sitzung steht
konträr zur Auffassung Ferenczis von der passiven Beendigung einer Psychoanalyse:
»die Analyse soll sozusagen an Erschöpfung sterben« (Ferenczi 1984 [1928], S. 377).

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ZUM BEENDIGUNGSSATZ EINER ANALYTISCHEN SITZUNG 229

Die Bedeutung, die dem Beendigungssatz zukommt, haben wir damit


einigermaßen erfasst.
Allerdings bleibt zu fragen, wo, auf welche Weise und unter welchen
Bedingungen der Beendigungssatz überhaupt entsteht. »Wo sind wir,
wenn wir tun?«, fragt Winnicott (2012, S. 123). Und ich frage: Woher
nehmen wir den letzten Satz? Und gibt es eine Verbindung zwischen dem
Beendigungssatz des Analytikers in der Behandlung und einer gelungenen
Objektverwendung von Seiten des Analytikers aus seiner Lehranalyse?
Der Begriff der Objektverwendung ist für Winnicott wesentlich.

»Wenn ich jedoch von Objektverwendung spreche, setze ich Objektbe-


ziehungen voraus und füge weitere Aspekte hinzu, die sich auf das Wesen
und das Verhalten des Objekts beziehen. Das Objekt muss, wenn es ver-
wendet werden soll, […] real sein und nicht etwa ein Bündel von Pro-
jektionen. […] Untersucht man […] die Objektverwendung, so gibt es
keinen anderen Weg, als das Wesen des Objektes mit in Betracht zu ziehen,
und zwar nicht als Projektion, sondern als Ding an sich« (Winnicott 2012,
S. 103 f.).

Und dafür muss (auch) das Objekt etwas tun. Dies ist ein zentraler Punkt
in der analytischen Behandlung: den Analysanden von der Objektbezie-
hung zur Objektverwendung zu »führen«. Es wäre denkbar, dies auch als
Auflösung der Übertragungsdynamik zu lesen. Das erste ist die Objektbe-
ziehung und am Ende folgt die Objektverwendung oder die Anerkennung
des Objekts als ein eigenständiges Wesen. In Begriffen der Oralität gespro-
chen, kann sich der Analysand laut Winnicott zunächst nur an sich selbst
nähren und nicht die Brust benutzen, um satt zu werden. Die Wandlung
von der Objektbeziehung zur Objektverwendung bedeutet, dass das Sub-
jekt das Objekt zerstört, weil es nicht den omnipotenten Vorstellungen
und Wünschen des Subjekts entspricht. Die Realität und Eigenständigkeit
des Objektes steht dem entgegen. Das Subjekt kann das Objekt, das die
Zerstörung – in der unbewussten Phantasie – überlebt hat, verwenden.
Auf diese Weise verbindet Winnicott die Fähigkeit zur Objektverwendung
mit dem Destruktionstrieb des Subjekts und der Destruktion des Objekts.

»Der Begriff ›Destruktion‹ ist also eigentlich nicht für die Beschreibung des
destruktiven Impulses des Kleinkindes erforderlich, sondern für die Eigen-
schaft des Objektes, häufig nicht zu überleben, womit eine Veränderung
seiner Eigenschaften und Verhaltensweisen verbunden ist« (S. 108).

Tatsächlich verhält es sich so, dass mit dem Schritt zur Objektverwendung
die Objektbeziehung nicht einfach verfällt. Im Gegenteil: Das Objekt wird

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230 BERND HEIMERL

in der Phantasie ständig wieder zerstört. Wie passt das zusammen? Auf
diese Weise kann sich das Subjekt autonom entwickeln, kann Ambiva-
lenzen in Beziehungen regulieren und steuern, trennen und verbinden,
kann selbst psychischen Angriffen eines anderen Subjekts – das Subjekt
ist ja immer gleichzeitig Objekt – standhalten und sie überleben. Im Kern
bedeutet Überleben für Winnicott Sich-nicht-Rächen und keine Vergel-
tung, keine Vernichtung. Das heißt, dass der Analytiker die Angriffe des
Analysanden körperlich (im Sinne einer vegetativen Gegenübertragung)
und psychisch (im Sinne einer psychischen Gegenübertragung) überlebt.
So kann zum Beispiel eine Deutung eine Art Selbstverteidigung auf einen
Angriff sein. Winnicott empfiehlt beim Auftauchen solcher Impulse zu
warten, bis diese Phase vorüber ist, um dann mit dem Analysanden zu be-
sprechen, was und wie etwas geschehen ist. Diese behandlungstechnische
Vorgehensweise beinhaltet deutlich das »wir«. Der Analysand und der
Analytiker bewegen sich gemeinsam in einem Raum der Übertragungen.
Dem Analytiker kommt die Aufgabe zu, diese gemeinsame Bewegung zu
ermöglichen: den Übertragungsraum lebendig zu machen. Der Analysand
tritt sein omnipotentes Kontrollbedürfnis ab, der Analytiker hat überlebt
und macht somit den analytischen Raum begehbar.
Winnicott spricht von einem »abgestuften Versagen der Anpassung«
(graduated failure of adaption) 14 als einer Fähigkeit der Mutter, durch
dosierten Mangel Entwicklung und Denken anzustoßen. Das Baby ge-
rät in ein Dilemma, es will seine Omnipotenzphantasie retten und sich
gleichzeitig weiterentwickeln. Um sich weiterentwickeln zu können, ist
es auf die mütterliche Fähigkeit zum Anpassungsversagen angewiesen. Die
notwendige Beweglichkeit dieses Anpassungsversagens je nach den Mög-
lichkeiten des Babys, damit umzugehen, verweist auf die sensiblen, emp-
findlichen und verletzbaren Aspekte der Mutter-Baby-Beziehung. Dies
gilt wiederum auch für die analytische Situation. Bezogen auf die Angst
heißt das, Analysand und Analytiker befinden sich in einem psychischen
Raum, der als ein angstvoller Raum figuriert. Peter Schraivogel unterstützt
diese Annahme mit dem Verweis auf Bion, indem er schreibt:

»Der Analyse der Trennungsangst kommt eine besondere Bedeutung zu,


weil jede Trennung dieses Containment in Frage stellen kann. Trennungs-
angst ist dabei ein zentrales Gefühl, das aufkommt, wenn die Verbindung
zum Analytiker gefährdet scheint. Diese Verbindung und die Angriffe auf

14
»Die gewöhnliche gute Mutter ist gut genug. […], aber es ist auch eine charakteristische
Funktion der Mutter, ein abgestuftes Versagen der Anpassung bieten zu können« (Win-
nicott 1983 [1954], S. 168 f.).

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ZUM BEENDIGUNGSSATZ EINER ANALYTISCHEN SITZUNG 231

sie beschrieb Bion (1959) in seiner Arbeit ›Attacks on linking‹. […] Die
Reaktionen des Patienten auf Unterbrechungen des analytischen Prozesses
von einer Stunde zur nächsten, am Wochenende und bei Urlaubsunter-
brechungen müssen deshalb detailliert analysiert werden. […] Wenn wir
die Trennungsangst des Analysanden analysieren und deuten, greifen wir
seine Omnipotenz an und lösen eine bestimmte Beziehungsform auf. Dies
bedeutet für den Patienten einen Objektverlust, den er nur ertragen kann,
wenn wir einen kontinuierlichen Rahmen und eine Beziehung zur Verfü-
gung stellen, in welcher der Patient sich sicher gehalten fühlt« (Schraivogel
1994, S. 42 f.).

Winnicott würde dies bedingungslos auf die Trennungsangst des Analy-


tikers und die Implikationen für die analytische Beziehung ausdehnen.
Der Beendigungssatz löst bewusst und unbewusst diese psychischen
Bewegungen aus. Er evoziert die Destruktion des Analytikers und muss
gleichzeitig von ihm gesetzt werden. Im Beendigungssatz realisiert sich
so gesehen letztendlich etwas, das dem Erwachen aus einem Traum bzw.
einer Illusion (Winnicott) verdächtig nahekommt. Die von Winnicott
prononciert dargelegte Analogie zwischen den ersten Lebensjahren und
der Erfahrung in der analytischen Behandlung reicht aber noch weiter,
denn sie involviert im Kern einen spezifischen Entwurf der Beziehung
zwischen Analysand und Analytiker, der sich im Beendigungssatz viel-
leicht am deutlichsten zeigt.

5. Der Beendigungssatz: Wiederholung oder identische


Reproduktion?
Zur Erinnerung: In Literatur und der Musik erscheint das Codazeichen,
bevor die Wiederholung ganz beendet ist. In der Winnicott’schen Psy-
choanalyse kann der Beendigungssatz als ein Übergangsobjekt verstan-
den werden. Sowohl literatur- und musikwissenschaftlich als auch psy-
choanalytisch ist die Wiederholung des letzten Satzes die Paradoxie einer
Bewegung: eine Bewegung des Übergangs. Als Bewegung der Verfeh-
lung – zum Beispiel ein verpasster Zeitpunkt einer Deutung – artikuliert,
wiederholt die Wiederholung einen Verlust. Damit situiert sie sich in der
Dialektik des Abschieds: der Abschied mit dem Beendigungssatz aus einer
spezifischen Übertragungskonstellation in eine andere. Der Beendigungs-
satz ist als eine Wiederholung und nicht als identische Reproduktion zu
denken, insofern der Beendigungssatz nicht automatisch identisch gesetzt
wird, also nicht in der Konstanz, sondern feststehend in der Bewegung.
Die Übertragungskonstellation, in die der Beendigungssatz einbricht, ist

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232 BERND HEIMERL

singulär und entzieht sich einem Automatismus. In die Bewegung der


Wiederholung schleicht sich ein Moment der Differenz ein, die Zugabe
eines Anderen. In der Beendigungssituation entsteht eine eigene Dynamik,
die durch den Trennungsprozess und die dadurch aktualisierten biogra-
phischen Trennungskonflikte und die Fähigkeit zur Objektverwendung
sowohl beim Patienten wie auch beim Analytiker gekennzeichnet ist.
Aus der psychoanalytischen Praxis kennt jeder Psychoanalytiker die
möglichen Schwierigkeiten, die Sitzung zu beenden: zumeist passt es nicht,
oder es kann ein ungeklärtes Schuld- oder Erleichterungsgefühl zurück-
bleiben, wenn der letzte Satz einer Sitzung gesprochen ist. Ich verweise
nochmals auf das von Winnicott als notwendig erachtete Anpassungsver-
sagen der Mutter, also auch das Versagen und die Verfehlung des Analy-
tikers beim Setzen und Aussprechen des Beendigungssatzes als etwas für
den Analysanden und seine psychische Entwicklung förderliches.
Kontakt: Dr. Bernd Heimerl, Richard-Wagner-Platz 1, 10585 Berlin.
E-Mail: drbernd.heimerl@t-online.de

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Summary
»Our time is up for today.« Session-closing sentences from scholarly and psychoanalytic
perspectives. – Session records enable us to cast a glance at a psychoanalyst’s treatment
practice. How does he/she end the session? Speech acts terminating analytic sessions
are particularly illuminating and worthy of closer inspection (a) for their formal cha-
racter and (b) because of the transference dynamic inherent in that final sentence. The
author contends that there are two good reasons for investigating the closing utterance
(as part of the session protocol) from both a scholarly (literary studies) and a psycho-
analytic viewpoint. The sentence ending the session is part of the analytic narrative
and also part of the way an analyst engages with transference and countertransference.
It closes and opens an intermediary space. Accordingly (so the author), it can be
referred to in Winnicott’s terminology as both a transitional object and a transitional
phenomenon.

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234 BERND HEIMERL

Keywords: case history; session protocol; session-closer; closing sentence; intermedi-


ary space; transitional space; transitional object

Résumé
« Nous sommes obligés de nous arrêter pour aujourd’hui ». La phrase finale d’une séance
analytique dans une perspective narrative et psychanalytique. – Le protocole des séan-
ces est un bon révélateur de la pratique de l’analyste : comment celui-ci commence-t-il
la séance et comment la termine-t-il ? La façon de mettre fin à une séance d’analyse
est riche d’enseignements et mérite toute notre attention, à la fois pour son caractère
formel et à cause de la dynamique de transfert inhérente à la dernière phrase. Deux
critères justifient que la phrase finale, qui fait partie du protocole de la séance, soit étu-
diée tant du point de vue narratif que psychanalytique. La phrase finale fait partie tout à
la fois du récit analytique et de la pratique analytique du transfert et du contre-transfert.
Elle clôt et ouvre à la fois un espace intermédiaire. C’est pourquoi elle peut être décrite
dans la langue de Winnicott comme objet et phénomène transitionnel.
Mots-clés : étude de cas ; protocole de la séance ; marque de fin ; phrase finale ; espace
intermédiaire ; espace transitionnel ; objet transitionnel

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