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Université de Neuchâtel

Faculté des lettres et sciences humaines


Institut de langue et littérature allemandes

Seminar: (Post-)Kolonialismus in der deutschsprachigen Literatur der Schweiz, FS 2017

Dozent: Prof. Dr. Lucas Marco Gisi

Der Realitätseffekt in Christian Krachts Roman


Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Seminararbeit

Verfasser:
Valentin Tanner
Route de l’Orée du Bois 130
2300 La Chaux-de-Fonds
Tel.: 032 968 11 68; E-Mail: valentin.tanner@unine.ch

Abgabedatum: 29.08.2017
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ................................................................................................................... 3

2. Christian Kracht als Schriftsteller ............................................................................. 4

3. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten .............................................. 5

4. Die Elemente der Realität in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

und der Realitätseffekt ..................................................................................................... 6

4.1 Historische und politische Fakten ..................................................................................... 7

4.1.1. Die politische Ordnung ......................................................................................................... 7

4.1.2. Die Schweizer Sowjetrepublik ............................................................................................. 8

4.1.3. Die Persönlichkeiten und andere wichtige Details ............................................................. 10

4.2 Geografische Fakten ....................................................................................................... 12

4.2.1 Das Schweizer Alpenréduit .............................................................................................. 12

4.2.2 Die Orte und die Landschaft der Schweiz ........................................................................ 12

5. Funktion des Realitätseffekts ................................................................................... 14

6. Schluss ...................................................................................................................... 18

7. Literaturverzeichnis ................................................................................................. 20

8. Erklärung ................................................................................................................. 22

- -
2
1. Einleitung

Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten1 ist der dritte Roman des Schweizer
Schriftstellers Christian Kracht und ist 2008 erschienen. Oft wird es als eine „kontrafaktische
Geschichtsschreibung“2 betrachtet, da Kracht in 13 Kapitel eine total verrückte Geschichte
der Schweiz beschreibt: Lenin verlässt 1917 die Schweiz nicht in einem plombierten Zug, um
nach St. Petersburg zu fahren, sondern entwickelt seine kommunistische Revolution
zusammen mit den bekannten Agitatoren Grimm und Trotzki im Schweizer Exil. Diese
Revolutionäre gründen die Schweizerische Sowjetrepublik (SSR), „[...] die sich nun im
21. Jahrhundert, der Erzählgegenwart des Romans, bereits im 96ten Kriegsjahr gegen die
deutsch-englische faschistische Koalition befindet [...]“3. Tatsächlich beschreibt ein Ich-
Erzähler – ein namenloser Soldat – eine Welt des Krieges in der Schweiz, wo die Soldaten
von den Schweizern zu Afrikanischen Soldaten ausgebildet werden.

Zu beachten ist, dass 1991 – also lange vor dem Erscheinen des Romans – die UdSSR (Union
der sozialistischen Sowjetrepubliken) zusammengebrochen ist, und damit die Weltordnung
durch das Wegfallen eines einflussreichen Machtzentrums neu gestaltet wurde. Die Welt
musste sich daraufhin politisch und ökonomisch neu bestimmen, und der freie Mensch soll
gesiegt haben. Doch kann man diese neue Weltordnung auch als „ein Weltgefängnis des
Wahnsinns, der Börsenbeben, der Menschenschinderei, der Langeweile“4 betrachten. Im
Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten scheint diesen Kontext
aufzugreifen, und nach einer tiefer gehenden Lektüre stellen sich verschiedene Fragen.

Im Krachts Roman können die LeserInnen tatsächlich verschiedene Fakten mit einem
geschichtlichen sowie politischen Zusammenhang erkennen. Um die Parallelen zu sehen,
braucht es trotzdem Einiges an Referenzen. Kracht benutzt reale Elemente – nicht nur
historische und politische, sondern auch geografische – für sein Werk. Obwohl die Geschichte
total erfunden ist, können wir als LeserInnen verschiedene typische Besonderheiten erkennen.
Tatsächlich gibt es mehrere Beziehungen zu Namen, Orten oder Ereignissen, die ich
nachfolgend untersuchen werde.


1
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten.
2
von Maltzan, Carlotta: Überlegungen zur Sowejtischen Schweizer Republik, Afrika und Kracht, S. 165.
3
Ebd., S. 165.
4
Ebd., S. 166.

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3
Ich interessiere mich in meiner Arbeit besonders für den Realitätseffekt: Wie entsteht er? Was
ist dessen Ziel und was sind dessen Konsequenzen? Wie funktioniert er eigentlich? Wie
sollen die LeserInnen das Buch lesen? Gibt es nur eine Lesart? Dieser Realitätseffekt scheint
nicht nur existierenden Elemente zu gebrauchen, sondern auch präzise Beschreibungen im
Laufe des Plots selbst.

Am Anfang meiner Arbeit gehe ich auf die wichtigsten Abschnitte von Krachts Leben ein. Ich
benenne dort die Eigenschaften, die für das Verständnis des Werkes relevant und interessant
sind. Dann beschäftige ich mich genauer mit seinem Roman Ich werde hier sein im
Sonnenschein und Schatten. Nach einer kurzen Einführung in das Buch analysiere ich die
verschiedenen Fakten, die einen Bezug zur Realität haben könnten. Erstens geht es mir um die
historischen und politischen Elemente. Zweitens interessiere ich mich für die geografischen
Elemente, bzw. die Landschaft. Diese werden im letzten Kapitel zusammen mit der Frage
nach der Rolle solcher Realitätsbezüge angefügt. Am Schluss fasse ich meine Arbeit
zusammen.

2. Christian Kracht als Schriftsteller

Der Schweizer Autor Christian Kracht wurde am 29. Dezember 1966 in Gstaad geboren5. Er
zählt zu den wichtigsten Schriftsteller „der deutschsprachigen „Popliteratur“ der 1990er Jahre
und hat bisher drei Romane veröffentlicht. Unter Popliteratur versteht man im Deutschen
Sprachraum die verschiedensten Werke, die nach dem Krieg erschienen sind und deren
Autoren häufig Journalisten sind. Nach einer Laufbahn als Journalist für verschiedene
Zeitungen wie die Welt am Sonntag oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte
Kracht sein erstes Werk Faserland im Jahre 1995. Es geht darin um eine Reise durch das
westliche Deutschland „der 1990er Jahre, die den Ich-Erzähler vom nördlichsten Punkt [...]
über diverse, meist in wenig lustvollen Rauscherfahrungen endenden Partys bis zum
südlichsten Punkt, einer Millionärsvilla am Bodensee, und von dort in die Schweiz führt“6.
Als zweites Werk publizierte er 2001 den Roman 1979, der „ [von] eine[r] bourgeois-
dekadenten Gesellschaft unmittelbar vor dem Jahr der iranischen Revolution“7 erzählt.
Gleichzeitig schrieb er die Chronik Brief aus der Vergangenheit im Laufe des Jahres 2007.

5
Bernd, Lutz: Metzler Lexikon Autoren, S. 460.
6
Ebd., S.460.
7
Ebd., S.461.

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4
Wegen der Themen, die Kracht in seinen Werken behandelt, wird er oft als ein
schockierender Schriftsteller betrachtet8.

3. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten

Der utopische und satirische Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten
wurde im September 2008 veröffentlicht und von mehreren Rezensenten als Buch des Jahres
gelobt9. Er wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorabgedruckt und von allen
Rezensenten kritisiert, aufgrund seines Hauptthemas meistens negativ. Der Roman kann als
utopisch oder besser als dystopisch betrachtet werden, weil Kracht unter anderem eine
alternative Geschichtsschreibung als „[...] Mittel, um einen allgemeinen Kriegszustand
literarisch auf Dauer zu stellen“10 benutzt. Nach David Hugendick „führt Kracht eine Flucht
aus einer grausigen Gesellschaft“11 und der Roman kann als eine Erlösungsvision betrachtet
werden. Ausserdem wird er auch als ein kontrafaktischer Roman charakterisiert. Nach Eva
Behrendt hat Kracht einen Roman geschrieben, der „nie richtig packt und hineinzieht“12.
Anders gesagt „lange bleibt ungewiss, was es mit dem Ich-Erzähler auf sich hat. Schliesslich
weiss der selbst noch nicht, dass Kracht ihm die Rolle des afrikanischen Messias zugedacht
hat“13. Oder nach Lorenz: „Christian Kracht has been accused of racism and anti-Semitism,
for example by the magazine Der Spiegel“14.
Nach von Maltzan „schildert [Krachts Roman] die Autodestruktion ganzer Kulturen, den
Zerfall Europas und anderer Weltregionen in einer apokalyptischen, vom Krieg geprägten,
fiktionalen Welt, und kreiert einen Text, der auch viele Elemente des Phantastischen
aufweist“15. Die vielfachen Reaktionen auf den Roman veranschaulichen, dass er ein hoch
sensibles Thema aufnimmt und viele LeserInnen irritiert.

Konkret berichtet das Oeuvre von einer alternativen Geschichte des 20. Jahrhunderts bis in
die Gegenwart. Kracht erzählt „aus der Perspektive eines sowjetischen „Parteikommissärs“


8
Siehe: http://www.deutschlandfunk.de/christian-kracht-ich-mag-bob-dylannicht.700.de.html?dram:article_id=369657
9
Vgl. Hugendick David
10
Bassler, Moritz: Have a nice apocalypse. Parahistorisches Erzählen bei Christian Kracht, S. 264.
11
Hugendick, David: Verloren an diesem Ort. Die Schweiz ist rot, der Krieg tobt, und es liegt ewiges Eis.
Christian Kracht bricht mit den Erzählmoden der Literatur und schreibt den wohl besten Roman dieses Herbstes
12
Vgl. Eva Behrendt
13
Vgl. Eva Behrendt
14
Lorenz, Matthias N.: Intertextualität als Rassismuskritik in Imperium und Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten, S.66.
15
von Maltzan, Carlotta: Überlegungen zur Sowjetischen Schweizer Republik, Afrika und Kracht, S.166.

- -
5
von einem Verhaftungsversuch. Der namenlose Erzähler „verfolgt den polnisch-jüdischen
Oberst und Arzt Brazhinksky durch eine dystopische Schweiz von Neu-Bern bis in die
Réduits der Schweizer Alpenfestung“16. Die Atmosphäre ist die eines Krieges, in dem die
Schweizer Sowjetrepublik (SSR) von Lenin gegründet wird und gegen deutsche und britische
Faschisten kämpft. Ein neues Weltbild wird geschaffen: Ein 96 Jahre dauernder Krieg. Der
Ich-Erzähler kommt – wie die meisten Soldaten – aus Afrika, bzw. aus dem heutigen Malawi.
Die Schweiz wird von den Gegnern mit Zeppelinen bombardiert, um unter der Bevölkerung
Schrecken zu verbreiten. Die Soldaten sprechen eine besondere, mysteriöse und erfundene
Sprache: das sogenannte „Satori“. Endlich „als der Erzähler den Gesuchten, den er
festnehmen soll, im Réduit erreicht, entwaffnet Brazhinsky ihn, führt ihn in die Bergfestung
und blendet sich schliesslich selbst. Der Erzähler verlässt daraufhin die Schweiz und kehrt
durch ein völlig zerstörtes Europa zurück nach Afrika“17

4. Die Elemente der Realität in Ich werde hier sein im Sonnenschein und
im Schatten und der Realitätseffekt

Im Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten geht es um eine Geschichte, die
auf den ersten Blick nicht viel mit unserer Wirklichkeit zu tun hat, da das Werk eine Diegese
zeichnet, in der die uns bekannte Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts auf den Kopf gestellt
wird. Unter Diegese versteht man einen analytischen Begriff der Erzähltheorie, der die
Aufmerksamkeit auf das Faktum lenkt, ob etwas innerhalb oder ausserhalb der Erzählung
liegt.

Dieses Kapitel ist der Hauptteil meiner Arbeit, da es um die Verweise zur Realität und deren
Wirkungen geht. Nach einer präzisen Analyse der historischen und politischen Fakten werde
ich die geografischen Fakten – bzw. Orte und Landschaften –, die alle verschiedene
Referenzen zur historisch belegten Geschichte haben, beleuchten. Nichtsdestoweniger
bemerkt man auf Anhieb, dass es schwierig ist, eine genaue Grenze zwischen diesen
Kategorien zu ziehen, da einige Elemente beiden eingeordnet werden können. Anders gesagt
ist diese Einteilung zwingend. Ausserdem selbst wenn die Tatsachen auf die Realität


16
Lorenz, Matthias N.: Intertextualität als Rassismuskritik in Imperium und Ich werde hier sein im
Sonnenschein und im Schatten, S.70.
17
Ebd., S.70.

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6
anspielen, sind sie nicht immer korrekt oder vollständig und es gibt fast immer eine Mischung
aus Realität und Phantasie.

Nach Boide „[berufen] [l]iterarische Texte [...] sich bei der Darstellung von fiktiven Welten
auf das Prinzip, dass LeserInnen ihr Wissen von der Welt, in der sie realiter verwurzelt sind,
als Grundlage für die Ordnung und die Orientierung in der fiktiven Welt zu Grunde legen“18.
Mit anderen Worten sollten die LeserInnen etwas über die Realität – bzw. die Geschichte, die
Geografie, die Typologie und die Kartografie – wissen, um eine Verbindung mit dem Werk –
bzw. dessen fiktiver Welt – herstellen zu können. Obwohl die LeserInnen sich in einem
historischen Roman – wie Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten – keine
Einheit von Raum und Textwelt – bzw. der realen Welt – erhoffen, können sie einige
Elemente verstehen, die einen Realitätseffekt produzieren. Der Text vertritt „eine bis dahin
eigentümliche Strategie der Verschränkung von Wirklichkeit und Erfindung“19, schreibt
Volger. Diese Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität ist tatsächlich charakteristisch
für den Schriftsteller, da dieser Roman nicht sein einziger ist, der diesem Prinzip folgt20.
Trotzdem gibt es immer Raum sowohl für die Bedeutung wie auch für die Interpretation21.
Anders gesagt hat Kracht nicht vor, die ganze Wahrheit über die verschiedenen Fakten
mitzuteilen, er lässt immer dem Leser die Möglichkeit, selbst das Werk in Bezug auf seine
Wissenswelt zu interpretieren.

4.1 Historische und politische Fakten

4.1.1. Die politische Ordnung

In Krachts Utopie steigt der Revolutionär Wladimir Iljistsch Uljanow (anders gesagt Lenin)
1917 nicht, wie es sich historisch ereignet hat, in den Zug in Richtung Petrograd, sondern
bleibt in der Schweiz, in Zürich, und das Land erlebt einen kommunistischen Umsturz.

Tatsächlich wird der Plot in einer besonderen politischen Ordnung beschrieben: Der
unbekannte Ich-Erzähler – ein Parteikommissär – schildert am Anfang des Buches eine Welt
des Krieges, in der alle Mächte sich bekämpfen: „in Rumänien und am Schwarzen Meer


18
Boide, Silvia: Transformierte Geographien und Alternate Histories am Beispiel von Christian Krachts Ich
werden hier sein im Sonnenschein und im Schatten, S.1.
19
Volger, Ingo: Realitätseffekt in der deutschprachigen Gegenswartsliteratur, S. 162.
20
z. B. Imperium ein Roman von Kracht, der im Jahre 2012 publiziert wurde.
21
Vgl. Boide, S. 2.

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7
wüten die hindustanischen Armeen [...]“22. Gleichzeitig halten sich andere Länder, wie z. B.
Korea, das grossaustralische Reich und „Amexiko“ aus den verschiedenen Konflikten heraus.
Das Russische Reich wird von einer Seuche befallen, deren Ursache eine Explosion ist. Und
Afrika wird nicht nur im Norden von den Engländern, sondern auch im Süden von den Buren
bezwungen. In der Mitte sind die sozialistisch-schweizerischen Truppen an der Macht.
Zusammengefasst beschreibt Kracht einen politischen Schrecken mit verschiedenen
Terrorszenarien:

„Der englische König, so hörten wir, hatte sich mit den Faschisten, den Deutschen, gegen uns
verbündet; sie planten, ein dekadentes Grossreich zu schaffen, in dem wir Afrikaner Sklaven sein
würden und sie die grinsenden Herren. Ein Ausbilder zeigte uns während einer politischen
Unterrichtstunde den erbeuteten Gürtel eines deutschen Soldaten, er hielt ihn mit spitzen Fingern,
gerade so, als wäre es eine giftige Schlange aus dem Busch“23.

Dieser Auszug steht ganz am Anfang des Romans und beschreibt den Kampf zwischen den
Schweizern und den Deutschen und Britischen Faschisten. Man kann als Leser die
Spannungen fühlen, die etwa an den ersten oder eher an den zweiten Weltkrieg erinnern
mögen. Diese Spannung bleibt durchgehend erhalten. Es gibt mehrere andere Beispiele, die
die Dramatik des Weltkrieges illustrieren.

Ein Beispiel dafür wäre die Anspielung auf die Tungunska-Explosion, da „Russland [...]
durch die Folgen der ungeklärt gebliebenen Tungunska-Explosion von Zentralsibirien bis
nach Neu-Minsk viral verseucht worden [war].“24 Dieses Ereignis geschieht in Wirklichkeit
im Jahre 1908 im sibirischen Gouvernement Jenisseisk im Russland25.

4.1.2. Die Schweizer Sowjetrepublik

Die Schweizer Sowjetrepublik (SSR) steht in Krachts Roman an zentraler Stelle und scheint
eine Anspielung auf die Sowjetunion zu sein. Ziel der SSR ist es, einen modernen
Industriestaat aufzubauen, mit neuen Mittel wie Eisenbahnlinien, einem Kulturangebot und
einem Strassennetz, ein Staat, der für die LeserInnen utopisch sein könnte. Am Anfang


22
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten S. 16.
23
Ebd., S. 58f.
24
Ebd., S. 58.
25
Vgl. Peter, Geiss: Histoire/Geschichte: L’Europe et le monde du congrès de Vienne à 1945, S. 102f.

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8
beschreibt der Ich-Erzähler die unterschiedlichen Intentionen der neuen Republik sehr
ausdruckstark:

„Hier in dieser zerstörten Ödnis werden wir die Theatergebäude errichten, hier den Sowjetrat, hier
die Fabriken, hier die Staatsbank. Berühmte Architekten werden sie bauen, nicht wahr? Ja, modern
wird alles sein, aus Glas und Eisen, modern und vor allem mit menschlichen Zügen und
Proportionen. Wir werden die Kirchen und Kapellen wieder einreissen, die die Deutschen gebaut
haben, diese Stätten der Erniedrigung und der heuchlerischen Anbetung eines toten Gottes. Und
wie gelange ich in die Stadt, wenn ich von Basel komme, von Graz, von Lyon? Über den neuen
Ring, Eidgenosse, dort wird eine silberne Schienenbahn fahren, rund um die Uhr. Und am Steuer
werden jedem Fahrgast salutieren. Wir werden das Strassennetz ausbauen, von Bordeaux bis nach
Laibach, von Karlsruhe bis nach Ventimiglia. Dann die pneumatischen Tunnelbahnen, gigantische,
unterirdische, sich in der von knisternder Elektrizität erhellten Dunkelheit kreuzende Netze. Von
Basel bis Mailand in nur sieben Stunden. Und dann, später: Raketen. Rotbemalte Raketen. Mit
dem weissen Kreuz darauf. Wir werden mit Hindustan Fried schliessen, mit Korea, mit dem
Grossaustralischen Reich. Wir werden die deutschen und die britischen Faschisten besiegen, aber
nicht unterjochen. Das ist unser Weg. Wir werden goldene Dörfer bauen und goldene Städte. Ich
komme nur ganz kurz hierher. Berge und Wolken. Vögel sind dort.“26

In diesem Zitat werden die Hauptziele der neuen Republik deutlich: einerseits beschreibt
Kracht die Fortschritte, die die SSR ebenfalls machen wollte. Das heisst eine allgemeine
Industrialisierung des Landes mittels neuer Materialien wie Glas, Eisen und Elektrizität. Das
Regime wird Fabriken und eine Staatsbank erstellen und gleichzeitig die Kirchen und
Kapellen, die von den Deutschen erbaut worden sind, zerstören. Kracht scheint die Religion
zu kritisieren, da die religiösen Elemente verschwinden sollten.

Anderseits gibt es die Idee von einer weltweiten Vernetzung. Man will die Städte durch Züge
verbinden. Hierbei handelt es sich um tatsächlich existierende Orte wie Basel, Graz, Lyon,
was einen Realitätseffekt, der später diskutiert wird, produziert.

Vor allem wird „bei Kracht SSR nur eine nominelle Republik [dargestellt], genau wie es
historisches Vorbild, die UdSSR es war [– die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken,
die seit dem Jahr 1922 bis zum 1991 in Russland wirklich existiert hat –], durch den fast
100jährigen Krieg aller Merkmale eines republikanischen Verständnisses beraubt“27. Mit

26
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 27.
27
von Maltzan, Carlotta: Überlegungen zur Sowejtischen Schweizer Republik, Afrika und Kracht, S.166.

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9
anderen Worten soll die SSR an die UdSSR erinnern, die ebenfalls utopische Ideen hatte.
Übrigens kann der Leser dank seines Wissens verschiedene Ähnlichkeiten, z. B. bei den
politischen Zielen, bemerken. Tatsächlich wurde Russland anfangs des 20. Jahrhunderts eine
neu wachsende ökonomische Macht, die zu Beginn ländlich und landwirtschaftlich war.
Grosse Fortschritte brachte dann die Industrialisierung. Man baute Unternehmen aller Art –
z. B. Schwerindustrie – und entwickelte das Eisenbahnnetz. Dieser Prozess wird als eine
Frieden bildende Massnahme dargestellt, die zukunftsfähig sein soll28.

Das Vermischen einer karikaturierten Republik mit realen Fakten (Industrialisierung,


Eisenbahnnetze, Modernität) produziert einen Realitätseffekt auf die LeserInnen. Erstens
enthält die Beschreibung selbst viele Details: die Städte sowie die Eisenbahn werden mit
Adjektiven (z. B: „goldene“, „gigantische“, „silberne“) unterstrichen. Hiermit schafft Kracht
einen Eindruck von Moderne, von Reichtum, da alle Adjektive etwas Schönes, Teures dieser
Zeit beschreiben.

Zweitens ist die Beschreibung präzis und erlaubt fast den LeserInnen eine Mentalkarte zu
schildern: Kracht benutzt tatsächlich gewisse europäische Orte (Lyon, Maibach, Basel,
Bordeaux, ...). Er könnte Namen erfinden, doch dies ist nicht der Fall. Auf diese Weise ist es
für die LeserInnen sehr einfach, sich diese Welt des Krieges vorzustellen, denn Kracht setzt
voraus, dass sie Kenntnisse darüber haben. Man stellt sich eine Kartografie dieses neuen
Reiches vor, weil die Orte Sinn machen. Ausserdem sind sie Knotenpunkte eines Netzwerks
und von grosser Bedeutung.

4.1.3. Die Persönlichkeiten und andere wichtige Details

Obwohl manche Charaktere erfunden zu sein scheinen – beispielsweise die Hauptfiguren – ist
es möglich, geschichtlich belegte Persönlichkeiten zu erkennen, die somit den Realitätseffekt
verstärken. Ich stelle sie in diesem Kapitel vor. Erstens ist der Pionier der SSR – Wladimir
Iljitsch Uljanow – eine Anspielung auf den bekannten Lenin (Wladimir Iljitsch Lenin), da er
diesen Revolutionär und marxistischen Theoretischer darstellen soll. Im Laufe des Buches
wird er nicht der einzige sein, den Kracht zitiert. Tatsächlich benutzt der Schriftsteller viele
andere Figuren. Ein wichtiges Beispiel, das das Treffen hochrangiger Revolutionäre
beschreibt, kommt im Kapitel 8 vor:


28
Vgl. Peter, Geiss: Histoire/Geschichte: L’Europe et le monde du congrès de Vienne à 1945, S. 170ff.

- -
10
„In einem ähnlichen Dorf hier ganz in der Nähe hatte sich vor vielen Jahren die Eidgenossen
Lenin, Grimm und Trotzki getroffen und auf einer geheimen Konferenz sowohl unsere
kommunistische Revolution geplant als auch die Gründung der SSR. Das Dorf war von den
Deutschen und ihren Flammenwerfern mit bestialischer Radikalität dem Erdboden gleichgemacht
worden, nichts sollte mehr daran erinnern, kein Stein, kein Baum sollte unsere Mythenbildung
mehr nähren können“29.

Hier beschreibt der Ich-Erzähler seine Fahrt ins Alpenréduit, das er am Ende des Romans
erreicht, indem er mehrere Dörfer durchquert. Dieses Treffen wurde vom Schweizer
Sozialdemokraten Robert Grimm mit dem Ziel organisiert, die Sozialistische Internationale
neu vorzubereiten, und versammelte an die vierzig Teilnehmer30.

Unter anderen Persönlichkeiten (sie treten besonders am Ende des Werkes im Schweizer
Alpenréduit auf), die wirklich gelebt haben, kommt auch le Corbusier (bzw. Charles-Edouard
Jeanneret) vor, ein Schweizer Architekt aus La Chaux-de-Fonds. Wie viele andere dient er
der SSR und zeichnet die Pläne verschiedener Schweizer Städte: „Der Schweizer Architekt,
der sie so sogfältig am Reissbrett geplant und hatte erbauen lassen [...]. Der Architekt, ein
Welschschweizer mit Namen Jeanneret, stand machtlos und stumm im leeren
Administrationsgebäude [...].“31

Auch gibt es einige Anspielungen auf verschiedene Maler, beispielsweise Nicholas Roerich32,
ein russischer Maler, oder Walter Spies33, ein deutscher Maler und Musiker. Man findet
andere Berühmtheiten wie Zwingli, ein schweizer Theologe und erster Schweizer, „der für die
Abschaffung der niederträchtigen Kirche gekämpft hatte“34. Endlich können wir noch Niklas
Leuenberger nennen, Anführer der Berner Untertanen im Schweizer Bauernkrieg und
gleichzeitig Bundesobmann.


29
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 93.
30
Vgl. Peter, Geiss: Histoire/Geschichte: L’Europe et le monde du congrès de Vienne à 1945, S. 188ff.
31
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 148f.
32
Vgl. Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S.117.
33
Ebd., S.119.
34
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 101.

- -
11
4.2 Geografische Fakten

4.2.1 Das Schweizer Alpenréduit

Ziel des Ich-Erzählers ist es, das Schweizer Alpenréduit zu erreichen, um es gegen den Terror
zu schützen. Wieder benutzt Kracht ein bekanntes Element, denn dieses Réduit während des
zweiten Weltkrieges hat es tatsächlich gegeben. Man könnte diesen Bestandteil auch den
historischen und politischen Fakten zuordnen.

Mehrmals im Lauf der Erzählung gibt es Anspielungen auf dieses Alpenréduit: „Ich wusste,
dass Brazhinsky längst weg war. Er würde die Aare hinaufreiten, Richtung Alpenréduit, und
von dort aus versuchen, sich in das afrikanisch verwaltete Oberitalien durchzuschlagen. So
hätte ich es auch gemacht.“35. Hier ist der Ich-Erzähler auf der Suche von Brazhinsky, der
wahrscheinlich schon auf dem Weg ins Réduit ist. Natürlich ist es ein Phantasiegespinst, da
das Réduit niemals unter afrikanische Kontrolle war, wie es im Roman steht. In Wirklichkeit
war das Schweizer Réduit ein Begriff, der die schweizerischen Alpenbefestigungen
charakterisiert, die während des zweiten Weltkrieges geplant worden sind. In dem man sich in
unwegsames Gelände zurückzog, zum Beispiel ins Gebirge, konnte man sich vor dem Feind
schützen. Im Buch ist es ähnlich, da die Leute sich vor den Faschisten im Alpenréduit
verstecken möchten.

Trotzdem wird das Réduit bei Kracht positiv und als bequem beschrieben, obwohl es in
Wirklichkeit eher ein rudimentärer Ort war. Wieder entfremdet Kracht die Realität:

„Schweizer Soldaten dekorierten mit Volants aus gerafftem Damast; Dutzende von
Maschinenräumen standen entweder leer oder waren zu grossen Salons umfunktioniert worden, in
denen Offiziere präparierte Tiere zu Schau stellten [...]. Andere Zimmer wiederum beherbergten
zu Bergen aufgeschichtete, unzählbare Mengen von Kämmen [...], wieder andere Zimmer bargen
Gold in allen nur erdenklichen Formen und Variationen.“36

4.2.2 Die Orte und die Landschaft der Schweiz

Kracht zeichnet im Laufe der Geschichte ein fiktives Bild der Schweiz, aber mit
verschiedenen realen Orten. Das ist das Thema dieses Kapitels: Der Schauplatz Neu-Bern


35
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 48.
36
Ebd., S. 121.

- -
12
selbst erinnert an die Hauptstadt Bern. Auch andere Städte sollten den LeserInnen bekannt
sein: La Chaux-de-Fonds, das am Anfang des Buches als Symbol der Uhrmacherei bezeichnet
wird. Wie schon im Kapitel 4.1.2 diskutiert, benutzt der Autor andere reale, grosse Städte, wie
zum Beispiel Lyon, Basel usw.

Wichtig ist auch die Landschaft, die Kracht genauestens beschreibt: Tatsächlich gibt es viele
Referenzen zu Gegenden, die wirklich bestehen und mit denen er eine Kartografie sowie eine
„Bildpostkarte“ der Schweiz herstellt. Zwei längere Auszüge, die von Bedeutung sind, wollen
wir hier wiedergeben:

„Nach einigen Stunden erreichte ich das Ufer des Thuner Sees, der sich vereist, dunkel und abweisend
südostwärts zu den Bergen hinstreckte. Steil zum See abfallende Hügel, vereinzelte Birkenhaine und
immer wieder verlassene Bauernhöfe, deren Hausmauern mit getrocknetem Schlamm und der
Zähigkeit dieses Volkes repariert worden waren, bis die Landwirte eines Tages aufgegeben hatten;
dann Ortschaften, die ich stets umritt, um Menschen zu vermeiden. Es hatte in der Nacht nicht
geschneit, ab und zu traf ich auf die beiden Pferdespuren meiner Appenzeller“37.

„Endlich nun erschienen mir die Ausläufer der Berge. Die Spitze des Schreckhorns war von Wolken
verhangen, weit dahinter lagen, für mich unsichtbar, der Piz Lenin und jene Gebirgszüge, die das
Réduit in ihrem Inneren bargen. Ich war Dutzende von Werst durch das langgedehnte Tal galoppiert,
das sich zwischen den Vorgebirgszügen hinstreckte, und erreichte gegen Mittag die bescheidene
Ortschaft Meiringen. Einige Soldaten standen in der Nähe eines Fabrikgebäudes, in dessen Seite und
Dach ein grosses Loch klaffte, sie hatten hinter Sandsäcken am Dorfausgang Position eingenommen,
die Sonne stiess ab und zu durch die Wolken“38.

Hier werden tatsächlich Teile der Schweizer Geographie beschrieben: es gibt einerseits
Anspielungen auf den existierenden Thunersee, andererseits gibt es wieder einen Bezug zu
kleinen Bergdörfern, wie Meiringen. Es gibt noch weitere Beispiele dieser Art, wie die Aare39
oder die Reichenbachfälle40. Ausserdem kann man auch andere Textelemente erkennen, die
ein typisches Bild der Schweiz zeigen sollen: der Verweis auf den Schnee, sowie die
Darstellung eines landwirtschaftlich geprägten Landes. So beschreibt er die Schweiz als ein
„Bauernland“ und „verwildert“ (verlassene Bauernhöfe, vereinzelte Birkenhaine usw.),


37
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 52.
38
Ebd., S. 92.
39
Vgl. Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 94.
40
Ebd., S.95.

- -
13
obwohl die Bauernhöfe verlassen sind. Zudem gibt es auch Anspielungen auf verschiedene
existierende Gebirgszüge, das Schreckhorn etwa.

5. Funktion des Realitätseffekts

Kracht scheint, wie weiter oben ausgeführt, die Geschichte – unterteilt in politisch-historische
sowie geografische Elemente – zu benutzen, um einen Realitätseffekt zu erzeugen. Jedoch
behauptet der Autor, dass „[a]lle hier beschriebenen Personen und alle Begebenheiten sind,
von den gelegentlich erwähnten Personen des öffentlichen Lebens abgesehen, frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder tatsächlichen Ereignissen ist unbeabsichtigt.“41.
Wozu nutzen also die Referenzen zur Realität? Und welche Wirkung haben diese
Realitätsbezüge auf den Leser? Zu diesen beiden Fragen möchte ich nachfolgend zu
antworten versuchen.

Nach Birgfeld „[entfalten] die Romane [...] häufig genug eine eigentümliche Wirkung auf ihre
Leser. Beim ersten Zugriff bereiten die Texte kaum Widerstand, [...] [und der Stil ermöglicht]
eine schnelle und genussreiche erste Lektüre. Wer jedoch einen zweiten Blick wagt, wer
genauer nach Bedeutung oder Sinn der Bücher fragt [, stösst] auf eine komplexe Welt hinter
der Oberfläche der Texte“42. Tatsächlich können die LeserInnen durch eine wiederholte,
tiefere Lektüre in die komplexe Welt hinter der Oberfläche der Texte eindringen.

Kracht beschreibt in seinem Roman eine Reise in einer Welt des Krieges, indem er nicht nur
wahre Ereignisse und Orte benutzt, sondern auch eine präzise Beschreibung von diesen gibt,
die zusammen einen Realitätseffekt erzeugen. Man kann verschiedene Hypothesen in Bezug
auf die Nützlichkeit solcher Elemente formulieren.

Der Handlungsraum selbst erlaubt den LeserInnen die Epoche einzuordnen. Schon in den
ersten Seiten merkt der Leser, dass es um einen Weltkrieg geht. Tatsächlich scheint die
Situation etwa an den ersten oder eher an den zweiten Weltkrieg zu erinnern. Die politische
Ordnung ist für den Leser von Anfang an klar: Die heutige bekannte Schweiz ist zur
Sowjetrepublik geworden und befindet sich im Krieg gegen faschistische Mächte. Das
Russische Reich, das Grossautralische, England oder das Deutsche Reich sind Konnotationen,

41
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 7.
42
Birgfeld, Johannes: Morgenrötes des Post-Humanismus. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im
Schatten und der Abschied vom Begehren, S. 252.

- -
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die den Leser wachrütteln sollten. Nur „Amexiko“ scheint erfunden zu sein, obwohl der
Name natürlich an das gegenwärtige Amerika erinnert, vermutlich um seinen südlichen
Nachbarn Mexiko erweitert. Ausserdem teilt die SSR die fast gleichen Werte wie die
realexistierende UdSSR: der Name ist nicht nur analog, sondern absichtlich gewählt. Er soll
auf eine industrialisierte, reiche Schweiz deuten, weil die heutige noch zu landschaftlich ist,
wie die UdSSR ihre Industrialisierung im 20. Jahrhundert vorangetrieben hatte. Anders
gesagt, stellt Kracht die SSR als eine Lösung für die Schweiz vor.

Diese Komponenten erlauben es dem Leser vor allem, die Fiktion zu verlassen, der Roman
erscheint ihm wie eine Berichterstattung. Tatsächlich erleben die LeserInnen eine Kriegsreise
im Laufe der Geschichte, es ist fast so, als ob sie eine Fernsehreportage anschauen würden.
Unterschiedliche Ereignisse werden benannt, um die Weltlage zu erklären. Wir wissen schon,
was geschehen ist – zum Beispiel die Explosion in Tungunska, die Begegnung der
Revolutionäre Lenin, Trotzki und Grimm oder auch die Bildung der grossen Mächte, sowie
deren Fortschritte. Diese verschiedenen Ereignisse verwandeln die Handlung in eine
Reportage. Vor diesem Grund – wenn man annimmt, dass sie den LeserInnen bekannt sind –
können wir uns als Leser vielleicht einen anderen, ähnlichen Weltkrieg vorstellen. Man
könnte zudem die heutige politische Ordnung sowie den Kontext besser verstehen. Auch
könnten einige ältere Menschen, die vielleicht den letzten Weltkrieg erlebt haben, sich an ihn
erinnern.

Ein weiterer Bericht wäre die Funktion der Information. Tatsächlich könnte das Buch der
jüngeren Generationen einige Informationen über den Krieg geben. Mit anderen Worten wird
die Fiktion eine Reportage, die für die Leute, die den Kontext kaum kennen, eine informative
Funktion behält. Sie erlaubt ihnen ein ähnliches Umfeld zu finden, wie es mit den Medien
betont worden wäre. Die LeserInnen können der Reise und den Hauptfiguren gut folgen.

Auch die geografischen Elemente erfüllen einen bestimmten Zweck. Sie erlauben uns, die
historischen und politischen Ereignisse besser einzuordnen. Tatsächlich benutzt Kracht reale
Orte, die man einfach erkennen kann: Neu-Bern ist eine Anlehnung an Bern, Lenin verlässt
den Zug in Zürich, die Beschreibung der Ziele der SSR nennt verschiedene europäische
Städte (Basel, Graz, Lyon, Laibach, Karlsruhe, Ventimiglia usw.). Im Laufe des Werkes
macht Kracht weitere Anspielungen wie Zimmerwald, oder er erwähnt auch Flüsse (z. B. die
Aare), Berge (z.B. das Spitzhorn) und Seen (z. B. den Thunersee). Die Fiktion wird zur einer

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Art Reportage: erstens können sich die Leser eine „Mindmap“ mit den topografischen
Elementen bilden, sie können sich so eine klare Idee der repräsentierten Welt machen und so
der Entwicklung der Figuren folgen. Anders gesagt spielt Kracht mit bekannten,
topografischen Elementen, die den LeserInnen vertraut sein könnten. Es ist so auch einfacher
sich die geografische Lage der Orte vorzustellen, sowie welche Anstrengungen, die die
Menschen im Roman unternehmen mussten, um ins Alpenréduit zu gelangen.

Wichtig sind auch die Landschaftsbeschreibungen. Mit grosser Präzision zeichnet der Autor
die Landschaften, damit sie für den Leser plastischer wirken. Tatsächlich sind diese
Beschreibungen präzise geschildert, wie bereits im Kapitel 4.2.2 erläutert. Man kann sich die
Landschaft gut vorstellen, da Kracht im Laufe des Plots viele Details beschreibt. In diesem
Zusammenhang könnten wir verschiedene Fakten mit den „effet de réel“ von Roland Barthes
vergleichen. Nach Barthes hat die Beschreibung für längere Zeit eine ästhetische Funktion,
was andere Schriftsteller später auch übernehmen43. Er gibt das Beispiel von Flaubert, der die
Stadt Rouen in Madame Bovary auf authentische Art beschreibt. Wie Kracht in Ich werde
hier sein im Sonnenschein und im Schatten vermischt Flaubert in seinem Roman Realität und
Fiktion: Während der Schauplatz real ist, sind die Figuren erfunden. Die genaue Beschreibung
hat eine ästhetische sowie eine desillusionierende Funktion. Den LeserInnen bleibt keine
Möglichkeit mehr, ihrer Fantasie freien Raum zu lassen. Nach Barthes „[le] réel devient la
référence essentielle dans le récit, qui est censé rapporter „ce qui s’est réellement passé“:
qu’importe alors l’infonctionnalité d’un détail, du moment qu’il dénote „ce qui a eu lieu“: le
44
„réel concret devient la justification suffisante du dire““ . Mit anderen Worten wird die
Wirklichkeit der grundlegende Verweis im Plot, der normalerweise berichten sollte, was
wirklich geschehen ist.

Ausserdem erfüllt die Beschreibung ein Bedürfnis nach Authentifizierung, wie die Fotografie,
die Reportage, die Ausstellung von Altbau-Objekten, die die gleiche Funktion haben. Wieder
finden wir in Krachts Beschreibung die Idee der Reportage, die vorher besprochen wurde.

Es gibt ausserdem verschiedene Figuren, die für die LeserInnen erkennbar sind, obwohl diese
– Brazhinsky, Favre usw. – niemals existieren haben. So ist der Maler Roerich mit seinen
Gemälden zum Beispiel keine fiktionale Figur und seine Darstellung im Roman ist absolut

43
Vgl. Barthes, Roland, S.86ff.
44
Barthes, Roland: L’effet de réel, S. 87.

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realistisch, bis auf das Faktum des Lebens im Reduit. Es werden auch andere erwähnt, wie Le
Corbusier oder Zwingli. Das erlaubt ein Miterleben oder Mitempfinden beim Leser: sie
können sich mit diesen Charakteren identifizieren. Nicht nur deren Ideen, sondern auch deren
Persönlichkeiten, deren Werte sind ihnen bekannt. Man kann auch z. B. besser Lenins Ziele
im Zusammenhang mit der SSR verstehen, wenn man weiss, dass er Sozialist war. Ausserdem
wählte vielleicht Kracht seine Figuren, um einige Begriffe wie die Religion zu kritisieren.
Zwingli wäre ein gutes Beispiel dafür.

Vielleicht möchte Kracht durch das Vermischen von Fiktion und Realität, die LeserInnen
irritieren oder sie zu einer Selbstreflexion verleiten. In der Tat spielt der Roman im
21. Jahrhundert und entspricht nicht historischen Fakten. Die Schweiz ist und war immer ein
neutrales Land. Hier aber wird sie als ein Staat dargestellt, der nach Dominanz und Macht
strebt. Es könnte also eher als negativ konnotiert sein, dass die Schweiz einst eine andere
Rolle gehabt hätte, als die eines neutralen Landes. Vielleicht versucht Kracht hier mehr
Abstand zu gewinnen. Soll dies eine Kritik an der Neutralität der Schweiz darstellen? Warum
ist es irritierend für die LeserInnen? Die Anlehnungen zur Realität und ihre mögliche
Irritation könnten einige zum Nachdenken über die Weltgeschichte bringen.
Übrigens scheinen die Ereignisse selbst auch irritierend zu sein: Die Zimmerwald Konferenz
hat im Jahre 1905 stattgefunden, und das Alpenréduit entstand während des zweiten
Weltkrieges. Der Moment der Handlung ist für uns als Leser schwierig zu situieren, da viele
Jahre zwischen beiden Ereignissen liegen.

Das Réduit im Krachts Roman erhält eine positive Konnotation, indem es ein Idealbild zeigt.
In Wirklichkeit war es sehr rudimentär, weg von den Städten, weg von der Gesellschaft, weg
von allem. Es scheint beinahe ein Rückschritt zu sein, der in gewisser Weise die Schweiz
abwertet. Die Soldaten im Réduit prüfen diesen Rückschritt, da sie keine Bücher mehr
brauchen. Bald werden sie die Schrift nicht mehr benutzen: „Nur Bücher gab es nicht, so weit
ich auch während meiner tagelangen Streifzüge in die verschiedenen Kavernen und Räume
des Réduits vordrang, nie sah ich ein Buch, nie auch nur einen einzigen geschriebenen
Satz.“45. Die Nutzung von Pferden als Transportmittel verstärkt diesen Niedergang: Kracht
beschreibt mehrmals den Gebrauch von Pferden: „Ich stieg unbewaffnet vom Pferd [...]46“
oder „die Beiden Rotgardisten hatte ich früh am Abend vorgeschickt, noch nachts sollten sie

45
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 92.
46
Ebd., S. 93.

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dem Polen hierherreisen, der nur einen Vorsprung von einem halben Tag hatte, als höchsten
dreissig Werst die Aare hinauf“47. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Erzählung im
21. Jahrhundert spielt und dass solche Details für uns moderne Menschen eher negativ und
nervtötend sein können. Kracht scheint eine in Traditionen verhaftete Schweiz zeigen zu
wollen, die für die LeserInnnen irritierend ist.

Also kann der Realitätseffekt sich auch negativ auswirken. Ihm sind Grenzen gesetzt.
Einerseits müssen die LeserInnen etwas über die reale Geschichte, die Schweiz – bzw. ihre
Merkmale wie die Landschaft usw. – und die historischen Figuren wissen. Wer keine
Kenntnisse darüber hat, wird Krachts Werk als eine banale Geschichte lesen. Zwei
Hypothesen möchte ich hier formulieren: Entweder setzt Kracht voraus, dass seine Leser
historisch gebildet sind, oder sein Ziel ist es, den Leser zu provozieren, zu irritieren und zum
Nachdenken anzuregen.

Letztlich sind die im Roman vorkommenden wahren Elemente nicht vollständig wahr und es
gibt eine grosse Mischung aus Fiktion und Realität, wie ich es im Laufe dieser Arbeit zu
zeigen versucht habe. Die Ähnlichkeiten bleiben subjektiv und oberflächlich, obwohl Kracht
einen Realitätseffekt zu bilden versucht. Aus diesem Grund könnte das Vorwort von Kracht
am Anfang zum Teil begründet werden. Noch einmal, das Réduit ist eine realistische
Tatsache, aber wird in der Erzählung ganz anders beschrieben: es wird im Buch positiv
konnotiert.

6. Schluss
In dieser Arbeit habe ich Krachts dritten Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im
Schatten untersucht. Ich habe die Wirkungen sowie die Ziele des Realitätseffekts zu
analysieren versucht. Am Anfang der Arbeit zeige ich kurz einige Schlüsselelemente seines
Lebens und wichtige Informationen auf, um ein besseres Verständnis des Werkes zu erhalten.
Kracht – ein wichtiger Vertreter der Pop-Literatur – hat tatsächlich mit seinem utopischen
Werk viele Reaktionen hervorgerufen. Obwohl das Werk Ähnlichkeiten zu seinen ersten
Romanen Faserland und 1979 aufweist, scheint es aus einem anderen Register zu sein. Ich
habe mit einigen konkreten Informationen über das Buch begonnen und habe erwähnt, wie es
von der Öffentlichkeit aufgenommen worden ist, nämlich kritisch.

47
Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und Schatten, S. 49.

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Dann habe ich eine tiefergehende Analyse des Werkes vorgenommen, die den
Zusammenhang mit dem Realitätseffekt beleuchtet. Erstens geht es um die Einordnung der
verschiedenen konkreten Fakten, die für die LeserInnen erkennbar sind. Diese sind in zwei
Teilen getrennt: Einerseits die politischen und historischen Bestandteile, anderseits die
geografischen. Dennoch ist es manchmal schwierig klar getrennte Kategorien zu finden, da
gewisse Elemente in beide Kategorien passen könnten.
In der ersten Kategorie findet man die politische Ordnung, die einem Kriegszustand ähnelt.
Die SSR und einige Persönlichkeiten, wie Niklaus Leuenberger oder Charles-Edouard
Jeanneret, die wirklich gelebt haben.

In der zweiten Kategorie ordne ich das Schweizer Alpenréduit und die verschiedenen Orte
ein. Es gibt auch einige Reflexionen bezüglich der Landschaft, die der Schweiz gleicht: der
Schnee scheint ein Symbol für die Schweiz zu sein, aber auch verschiedene Orte wie
Meiringen. Seen, Flüsse und Berge, die es in der Eidgenossenschaft gibt, finden ihren
Niederschlag in Krachts Buch und bilden alle zusammen eine Art von Postkarte der Schweiz.

Zweitens geht es um den Realitätseffekt selbst und die Ziele, die Krachts mit solchen
Ähnlichkeiten zu wahren Ereignissen und Orten verfolgt. Verschiedene Hypothesen wurden
formuliert: Der Realitätseffekt erlaubt nicht nur den LeserInnen die Epoche einzuordnen und
sich zu situieren, sondern Kracht liefert auch einige Informationen über die Weltgeschichte.
In diesem Fall hätte der Realitätseffekt eine informative Funktion.

Zudem wird die Fiktion fast wie in einer Reportage wiedergegeben: Die LeserInnen haben die
Möglichkeit den Plot so zu erleben, als ob er in den Medien vorgestellt würde. Dank gewisser
Orte und Landschaften können wir uns zudem eine mentale Karte machen. Zu diesem Zwecke
vergleiche ich die Theorie von Roland Barthes „l’effet de réel“, die eine gewisse Ähnlichkeit
mit Krachts Roman hat. Die präzise Beschreibung der Orte und Landschaften haben nicht nur
eine ästhetische Funktion, sondern auch den Zweck, den Leser in der geschilderten Realität zu
verhaften. Allerdings hat der Realitätseffekt auch Grenzen: Als Leser müssen wir Kenntnisse
über die Geschichte und die Schweiz haben, sonst funktioniert dieser Schreibstil nicht.

Es lässt sich also zusammenfassen, dass Kracht einen sehr komplexen – möglicherweise
irritierenden – Roman geschrieben hat. Dank der Nutzung von realen Elementen bildet er eine
utopische Welt, die nach einer zweiten tieferen Lektüre total faszinierend werden kann.

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7. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Kracht, Christian: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Hg. von dtv
Verlagsgesellschaft mbH & Co. 6. Auflage. München 2016.

Sekundärliteratur:

Barthes, Roland: L’effet de réel. In: Gérard Genette, Tzvetan Todorov (Hg.): Littérature et
réalité. Seuil 1982. S. 79-89.

Bassler, Moritz: Have a nice apocalypse! Parahistorisches Erzählen. In: Reto Sorg und Stefan
Bodo Würffel (Hg.): Utopie und Apokalypse in der Moderne. Bonn 2010. S. 257-272.

Behrendt, Eva: Gewaltig west es im Berg. Christian Krachts sozialistischer Schweiz-


Apokalypse fehlt das Kichern. In: Frankfurter Rundschau, 23.09.2008.

Bernd, Lutz und Jessing, Benedikt: Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und
Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Lutz Bernd und Benedikt Jessing.
4. Auflage. Stuttgart 2010. S. 460-462.

Birgfeld, Johannes und Claude D. Conter: Morgenröte des Post-Humanismus. Ich werde hier
sein im Sonnenschein und im Schatten und der Abschied vom Begehren. In: Johannes
Birgfeld und Claude D. Conter (Hg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009.
S. 252-269.

Boide, Silvia: Transformierte Geographien und Alternate Histories am Beispiel von Christian
Kracht Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten.
<http://www.komparatistik-online.de/component/joomdoc/doc_download/210-komparatistik-
online-20151-christian kracht.> (24.04.2017)

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20
Geiss, Peter, Daniel Henri u. Guillaume le Quintrec: Histoire/Geschichte. L’Europe et le
monde du congrès de Vienne à 1945. Hg. von Peter Geiss, Daniel Henri und Guillaume le
Quintrec. Paris 2008.

Hugendick, David: Verloren an diesem Ort. Die Schweiz ist rot, der Krieg tobt, und es liegt
ewiges Eis. Christian Kracht bricht mit den Erzählmoden der Literatur und schreibt den wohl
besten Roman dieses Herbstes. In: die Zeit online, 23.09.2008.

Lorenz, Matthias N.: Intertextualität als Rassismuskritik in Imperium und Ich werde hier sein
im Sonnenschein und im Schatten. In: Acta Germanica. German Studies in Africa. Jahrbuch
des Gemanistenverbandes im südlichen Afrika. 2014. S. 66-77.

Volger, Ingo: Die Ästhetisierung des Realitätsbezugs. Christian Krachts Ich werde hier sein
im Sonnenschein und im Schatten zwischen Realität und Fiktion. In: Birgitta Krumey, Ingo
Volger u. Katharina Derlin (Hg.): Realitätseffekte in der deutschsprachigen
Gegenwartsliteratur. Schreibweisen nach der Postmoderne. Kiel 2014. S. 161-178.

Von Maltzan, Carlotta: Überlegungen zur Sowjetischen Schweizer Republik, Afrika und
Kracht. In: Jürgen Wertheimer (Hg.): Republik. Ursprünge, Ausgestaltungen,
Repräsentationen eines scheinbar universellen Begriffs. Baden-Baden 2014. S. 165-172.

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8. Erklärung

Mit meiner Unterschrift erkläre ich, dass ich diese (Pro-)Seminararbeit ohne unerlaubte
fremde Hilfe verfasst und alle benutzten Quellen und Hilfsmittel vollständig angegeben
habe.

Ort, Datum Unterschrift

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