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Dieser Aufsatz ist die Pre-Review und Pre-Publikations-Version von: Hornkohl, NZKart 2020, 661

– 665.

Freie Schätzung der Kartellschadenshöhe nach § 287 ZPO – Eine Reaktion auf jüngste
Entwicklungen
Lena Hornkohl *
Abstract
Das LG Dortmund hat jüngst zum ersten Mal eine von Kühnen entwickelte, neue Methode zur Schätzung
von Kartellschäden über § 287 ZPO nach freier Überzeugung in der Praxis angewandt. Ein
Mindestschaden lässt sich danach unter Zurhilfenahme der aus dem Bußgeldbescheid zu entnehmenden
Umständen des Kartellverstoßes sowie allgemeine Studien zu Kartellschäden Anwendung schätzen. Der
vorliegende Aufsatz untersucht die Methode auf ihre Vereinbarkeit mit schadens- und
europarechtlichen sowie zivilprozessualen Grundlagen.
I. Einleitung
Schadensberechnungen im Kartellschadensersatzrecht sind kompliziert. Die Berechnung eines
konkreten, kausalen Schadens in einer bestimmten Höhe ist die Hauptherausforderung im
Kartellschadenersatzprozess. Die Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie1 hat zu
Erleichterungen geführt. Dazu zählt zum Beispiel die Schadensvermutung in § 33a Abs. 2 GWB. Einige
Rechtsordnungen, wie in Ungarn, Lettland und Rumänien, sehen darüber hinaus sogar gesetzliche
Vermutungen eines bestimmten Kartellaufschlags vor.2 Die Literatur schlug auch in Deutschland
ähnliche Instrumente vor.3 Dem ist der Gesetzgeber jedoch nicht gefolgt. Dennoch erlaubt das deutsche
Schadensrecht weiterhin über einen klarstellenden Verweis in § 33a Abs. 3 GWB die
Schadensschätzung nach § 287 ZPO. Die Geltendmachung von Anknüpfungstatsachen für die
Schadensschätzung ist jedoch ebenfalls mit einem großem Aufwand verbunden. Für die verschiedenen
in Betracht kommenden Methoden sind in der Regel umfangreiche und teure
Sachverständigengutachten notwendig. Diese können die Schadenshöhe, insbesondere bei
Streuschäden, übersteigen.
Das LG Dortmund versucht diesem Dilemma mit einer kürzlich von Kühnen4 vorgestellten Methode
zur Schadensschätzung zu entgehen.5 Danach soll bei follow-on Klagen die freie Schätzung eines
Mindestschadens unter Zurhilfenahme der aus dem Bußgeldbescheid zu entnehmenden Umständen des

*
Lena Hornkohl, LL.M. (College of Europe) ist Research Fellow am Max Planck Institute Luxembourg for
International, European and Regulatory Procedural Law.
1
Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte
Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen
wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. EU 2014 L 349/1
(im Folgenden: Kartellschadensersatzrichtlinie).
2
Das ungarische Gesetz § 88/C Abs. 6 i.d.F. vom 23.3.2009 (abrufbar unter
https://mkogy.jogtar.hu/jogszabaly?docid=a0900014.TV) lautet übersetzt: „Für eine nicht unerhebliche
Verletzung des Wettbewerbsrechts wird vermutet, dass dies zu einem Preisaufschlag von 10 % durch die
Rechtsverletzer geführt hat.“, vgl. Klumpe/Thiede, NZKart 2017, 332, 334. Zur lettischen (10%) und rumänischen
(20%) Regelung: Klumpe, Vermutung von 20% Kartellpreisaufschlag, 26.10.2020, D’Kart Blog, abrufbar unter:
https://www.d-kart.de/blog/2020/10/26/vermutung-von-20-kartellpreisaufschlag-rumaenien-verleiht-der-
privaten-kartellrechtsdurchsetzung-biss/ (zuletzt abgerufen am 29.10.2020).
3
Zur Mindestschadensvermutung: Makatsch/Mir, EuZW 2015, 7, 8; Weitbrecht, WuW 2015, 959, 968f.;
Klumpe/Thiede, NZKart 2017, 332, 334. Zur Mindestschadensschätzung: Kersting/Preuß, Umsetzung der
Kartellschadensersatzrichtlinie (2014/104/EU) – Ein Gesetzgebungsvorschlag aus der Wissenschaft, 1. Aufl.
2015, Rn. 58 ff.; Kersting/Podszun/Kersting, 1. Aufl. Kap. 7, Rn. 40.
4
Kühnen, NZKart 2019, 515 ff.
5
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart).

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Kartellverstoßes sowie allgemeine Studien zu Kartellschäden Anwendung finden. Dies soll eine
effiziente private Kartellrechtsdurchsetzung erlauben. Die Vereinbarkeit dieser Methode mit schadens-
und europarechtlichen sowie zivilprozessualen Grundlagen wird vorliegend in Frage gestellt.
II. Die Entscheidung des LG Dortmunds unter Bezug auf Kühnen
Am 30. September 2020 entschied das LG Dortmund in einer der vielen Schadensersatzklagen rund um
das „Kartell der Schienenfreunde“. Die Entscheidung enthält viele interessante Aussagen, zum Beispiel
zur Frage der Kartellbetroffenheit,6 zur tatsächlichen Vermutung von Kartellschäden7 oder zur
Geltendmachung des Weiterwälzungseinwandes bei Streuschäden8. Sie ist aber vor allem im Hinblick
auf die Schätzung der Schadenshöhe über § 287 ZPO bemerkenswert.
Nach § 287 Abs. 1 ZPO ist die Überzeugungsbildung des Gerichts gegenüber § 286 Abs. 1 ZPO
gemindert. Ausreichend ist eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die richterliche
Überzeugungsbildung.9 Damit geht auch eine geminderte Darlegungslast einher. Geschädigte müssen
diejenigen Tatsachen (sogenannte Anknüpfungstatsachen) vortragen und unter Beweis stellen, die für
eine Beurteilung nach § 287 ZPO ausreichende greifbare Anhaltspunkte bieten.10 Auf Grundlage der
dargelegten Anknüpfungstatsachen schätzt das Gericht den Schaden, also die Differenz des tatsächlich
gezahlten Preises und den hypothetischen wettbewerbsanalogen Preis. Dies geschieht grundsätzlich
unter Anwendung einer anerkannten, zum zugrundeliegenden Sachverhalt passenden
Schätzungsmethode.11
Von diesen anerkannten Methoden verabschiedet sich das LG Dortmund im vorliegenden Fall. Das
Gericht schließt sich hier einer Ansicht von Kühnen an und gibt dessen Aufsatz teilweise wörtlich
wieder.12 Die vollständige Aufklärung aller für die gängige Schadensschätzung maßgeblichen
Umstände sei mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden und stehe zu der Bedeutung des streitigen
Teils der Forderung in keinem Verhältnis.13 Die gängigen Methoden seien nicht passend, da sie „für
den Kartellgeschädigten durchweg mit gravierenden Unwägbarkeiten und Nachteilen verbunden sind
und daher in vielen Fällen für die vom Gesetzgeber gewünschte effektive Durchsetzung von
Kartellschadensersatzansprüchen nicht hinreichend geeignet erscheinen.“14 Dabei lehnt das LG
Dortmund vor allem mehrere Vergleichsmarktmethoden und die kostenbasierte Methode ab.15 Für die
Vergleichsmarktmethode gäbe es vorliegend zum Beispiel keinen zeitlichen und räumlichen
Vergleichsmarkt, da zum Teil die Kartellabsprache schon seit den 80er Jahren betrieben wurde.
Sodann nimmt es eine Schätzung nach freier Überzeugung vor und nimmt eine
Mindestschadensschätzung16 von 15% an. Die Einholung eines Sachverständigen sei für die

6
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 68 ff.
7
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 99 ff.
8
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 197 ff.
9
So selbst das LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 133.
10
BeckOK ZPO/Bacher, 38. Ed. 1.9.2020, ZPO § 287 Rn. 13.
11
Umfassend: Fuchs/Weitbrecht/Fuchs, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 6 Rn. 67
ff, 67a. Siehe auch: BGH, Beschluss vom 9.10 2018, KRB 10/17, Rn. 15 ff.
12
Kühnen, NZKart 2019, 515 ff.
13
Mit ausdrücklichem Verweis auf die hohen Kosten von Sachverständigengutachten, LG Dortmund, Urteil v.
30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 132, 140.
14
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 135.
15
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 136 ff. So auch: Kühnen, NZKart 2019, 515, 517,
518. Umfassend zu den Methoden: Praktischer Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs bei
Schadensersatzklagen im Zusammenhang mit Zuwiderhandlungen gegen Artikel 101 oder 102 des Vertrages über
die Arbeitsweise der Europäischen Union (SWD(2013) 205) (Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs).
16
Eine Mindestschadenschätzung erlaubt § 287 ZPO immerhin. In ständiger Rechtsprechung des BGH gilt, dass
sofern der Eintritt eines Schadens feststeht, es dem Gericht verwehrt ist, die Klage allein deshalb abzuweisen,
weil der Kläger nicht substantiiert zur Höhe vorgetragen hat, BGH, Urteil vom 24.9.2014, VIII ZR 394/12, Rn.

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Berechnung nicht notwendig.17 § 287 ZPO erlaube hier eine Einschränkung des Gebots der Erschöpfung
von Beweisanträgen, weil schon hinreichende Grundlagen für ein Wahrscheinlichkeitsurteil vorliegen
würden. Die erforderlichen Anknüpfungstatsachen würden sich schon aus der Bußgeldentscheidung
ergeben. Danach „können Art, Inhalt und Umfang der streitbefangenen Kartellabsprache sowie die
Einzelheiten ihrer Umsetzung hinreichende Anknüpfungspunkte für die Schätzung des kartellbedingten
Preisaufschlags liefern, gepaart mit einer Gesamtschau weiterer Sachverhaltsaspekte.“18
Das LG Dortmund geht detailliert auf die Art und Umstände der Kartellabsprache ein.19 So führt es zum
Beispiel an, dass es der kaufmännischen Vernunft entspricht, dass beteiligte Unternehmen einen hohen
Preissetzungsspielraum ausschöpfen. Der konkrete Wert von 15 % ergebe sich dann erstens daraus,
dass eine pauschalisierte Schadensersatzklausel in derselben Höhe in einem der zugrundeliegenden
Verträgen enthalten war. Zweitens würde dies auch die Dauer und den Umfang des Kartells abdecken.
Drittens liege 15 % unterhalb des Durchschnitts der Mediane bekannter Studien und auf dem Median
anderer Entscheidungen europäischer Gerichte.
III. Freie Schätzung der Kartellschadenshöhe – eine Kritik
Die Ausführungen des LG Dortmunds überzeugen nicht. Soweit das Gericht anführt, dass die gängigen
Methoden im konkreten Fall keine Anwendung finden können, so ist daran zunächst zu kritisieren, dass
sich das Gericht vorliegend gar nicht mit allen anerkannten Berechnungsmethoden auseinandergesetzt
hat. Das Gericht geht nur auf zwei Vergleichsmarktmethoden und die kostenbasierte Methode ein.
Simulationsmodelle und finanzgestützte Methoden erwähnt es nicht einmal.20 Obwohl der Tatrichter
hier viele Freiheiten hat, sind die Anforderungen nicht gering: es obliegt ihm nachvollziehbar
darzulegen, warum eine bestimmte Schätzungsmethode gegenüber anderen Methoden gewählt wurde.21
Dem wird es nicht gerecht, wenn das Gericht einige Methoden überhaupt nicht in Betracht zieht. Bei
der Wahl einer Methode muss sich das Gericht auch insbesondere mit der Wahrscheinlichkeit und dem
Umfang systematischer Schätzfehler auseinandersetzen.22 Das Gericht entfernt sich hier aber von einer
nachvollziehbaren Prüfung und nimmt Schätzungsfehler in Kauf. Es soll gerade keine anerkannte
Methode angewendet werden, bei denen Schätzungsfehler nachprüfbar wären.
Nach Ansicht des LG Dortmund soll sogar die freie Schätzung unter Zurhilfenahme der in dem
Bußgeldbescheid festgestellten Umstände und allgemeiner Erwägungen auch dann angewendet werden,
wenn eine andere Ermittlungsmethode in Betracht kommen würde.23 Die Methode des LG Dortmunds
genießt also nach Ansicht des Gerichts als alternative Ermittlungsmethode einen allgemeinen Vorrang.
Dafür führt das Gericht an, dass eben nur das Vorliegen geeigneter und nicht der bestmöglichen
Anknüpfungstatsachen gewählt werden muss.24 Auch wenn dem grundsätzlich zuzustimmen ist, so
müssen erstens alle Methoden gegeneinander abgewogen werden, was vorliegend, wie angesprochen,
nicht geschehen ist. Zweitens muss die freie Schadensschätzung unter Zurhilfenahme der Umstände des
Verstoßes auch tatsächlich eine geeignete Methode darstellen. Dass dies nicht der Fall ist, stellen die
hiesigen Ausführung sogleich klar. Darüber hinaus sieht auch der Leitfaden zur Ermittlung des

73. Der Eintritt des Schadens hat das LG Dortmund bereits unter Zurhilfenahme von § 287 ZPO und einer
tatsächlichen Vermutung angenommen, LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 126.
17
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 168.
18
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 143. So auch: Kühnen, NZKart 2019, 515, 518, 519.
19
Zu den Gründen umfassend: LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 146 – 166. So auch:
Kühnen, NZKart 2019, 515, 518, 519.
20
Dazu siehe: Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, Rn. 38 ff., Rn. 106 ff.
21
Fuchs/Weitbrecht/Fuchs, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 6 Rn. 67a. Siehe auch:
BGH, Beschluss vom 9.10 2018, KRB 10/17, Rn. 18.
22
Fuchs/Weitbrecht/Fuchs, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 6 Rn. 67a. Siehe auch:
BGH, Beschluss vom 9.10 2018, KRB 10/17, Rn. 18.
23
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 143, 171.
24
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 171.

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Schadensumfangs der Kommission, der viele der benannten Berechnungsmethoden ausführlich
erläutert, vor, dass grundsätzlich auch andere als die herrschenden Methoden in Betracht kommen
können.25 Dazu gehören auch ungefähre Schätzungen.26 Dies gilt jedoch nur vor dem Hintergrund, dass
die Methode nach mitgliedstaatlichem Recht „für die Schadensermittlung in einem bestimmten Fall
Anwendung finden darf.“27
Eine freie Schadensschätzung wird aber im deutschen Zivilprozess- und Schadensrecht sehr kritisch
gesehen.28 Zum einen lässt eine freie Schätzung das Erfordernis haftungsausfüllender Kausalität außer
acht.29 Der bestimmte Schaden lässt sich nicht mehr ursächlich auf das Kartell zurückverfolgen, wenn
er nach freier Überzeugung ohne nachvollziehbare Anhaltspunkte geschätzt wird. Zum anderen spricht
auch das schadensrechtliche Bereicherungsgebot30 gegen eine freie Schadensschätzung. Es kann nicht
ausgeschlossen werden, dass der Geschädigte aus dem schädigenden Ereignis einen Vorteil erhält, wenn
die Berechnung auf einer freien Schätzung beruht, die einen hypothetischen Wettbewerbspreis nur an
den Umständen des Verstoßes und allgemeinen Studien ermittelt. Schienenkartell II31 hat zwar gezeigt,
dass der hypothetische Wettbewerbspreis oft nur anhand Indizien ermittelt werden kann und auch
Sachverständige sich mit ökonometrischen Methoden regelmäßig dem kontrafaktischen Szenario eines
hypothetischen Wettbewerbspreises nur annähern können. Jedoch bedienen sich die Sachverständigen
im Rahmen der ökonometrischen Methoden zumindest solcher Anknüpfungstatsachen, die eine
Ermittlung in Zahlenwerten zulassen. Dies vermindert das Risiko einer Überkompensation. Die
Umstände des Verstoßes allein lassen hingegen keinen Rückschluss auf einen hypothetischen
Wettbewerbspreis in einem Zahlenwert zu, da sie unabhängig von der Verfügbarkeit von Daten zur
Ermittlung der tatsächlichen Schadenshöhe eingreift.32
Das LG Dortmund hält dem Bereicherungseinwand entgegen, dass die Schätzung eines zu hohen
Schadens dadurch begegnet werden kann, dass der Kartellant „den durch das Kartell tatsächlich
realisierten Preisaufschlag nachvollziehbar aufdecken“ kann.33 Dies führt jedenfalls im vorliegenden
Fall aber zu einer Umkehr von Darlegungs- und Beweislast hinsichtlich der Anknüpfungstatsachen zu
Lasten des Beklagten. Es obliegt dem Kläger, die Anknüpfungstatsachen darzulegen und zu beweisen.34
Erst wenn dies nachvollziehbar und in einer § 138 Abs. 1 ZPO entsprechenden Weise geschehen ist –
was hier zu bezweifeln ist – muss der Beklagte durch Gegenbeweis reagieren.35 Das LG Dortmund führt
selber an, dass der klägerische Vortrag vorliegend lückenhaft ist.36
Obwohl auch nach dem Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs der Kommission die jeweilige
Methode nach mitgliedstaatlichem Recht erlaubt sein muss, gilt dies nur „solange der Effektivitäts- und
der Äquivalenzgrundsatz des EU-Rechts beachtet werden“.37 Das LG Dortmund stellt als Begründung
ebenfalls maßgeblich auf die effektive Durchsetzung von Kartellschadensersatzansprüchen ab.38 Auch
wenn der EuGH gerade im Rahmen des Kartellrechts den Effektivitätsgrundsatz weit einsetzt,39 so stellt

25
Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, Rn. 119, 120.
26
Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, Rn. 120.
27
Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, Rn. 121.
28
BAG, Urteil v. 17.12.2014, 5 AZR 663/13 Rn. 29; BAG, Urt. v. 26.9.2012, 10 AZR 370/10, Rn. 27; BGH, Urt.
v. 24.4.2012, XI ZR 360/11, Rn. 13; differenzierend noch: BGH, Urteil vom 8. 5. 1973, VI ZR 101/71.
29
Musielak/Voit/Foerste, 17. Aufl. 2020, ZPO § 287 Rn. 8.
30
Dazu: MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, BGB § 249 Rn. 20.
31
BGH, Urteil v. 28.1.2020, KZR 24/17 – Schienenkartell II, NZKart 2020, 136 ff.
32
Ähnlich schon: Bernhard, NZKart 2013, 488, 49; Müller-Graff, ZHR 2015, 691, 699.
33
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 172. So auch: Kühnen, NZKart 2019, 515, 520.
34
Dafür kann er sich künftig den Offenlegungsregeln der §§ 33g, 89b, 89d Abs. 4 GWB bedienen, dazu siehe
auch unten IV.
35
Zu den maßgeblichen Pflichten umfassend: Kühnen, NZKart 2019, 515, 519.
36
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 133.
37
Leitfaden zur Ermittlung des Schadensumfangs, Rn. 121.
38
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 135. So auch: Kühnen, NZKart 2019, 515, 520.
39
Dazu zum Beispiel: Cullen, JECLAP 10 (2019), 618 ff.

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sich hier durchaus die Frage, ob das Argument greift und gegenüber anderen europarechtlich fundierten
Prinzipien überwiegt. Eine effektive Durchsetzung des Kartellschadensersatzes erfordert so eine freie
Schätzung nicht, besonders wenn andere alternative Berechnungsmethoden in Betracht kommen. Diese
wurden hier, wie angesprochen, nicht ausgeschöpft. Die Schadensersatzrichtlinie selbst erfordert
darüber hinaus Kohärenz, Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des Schadensersatzanspruches.40 Bei
einer freien Schätzung unter Zurhilfenahme der Umstände des Verstoßes ohne Hinweis auf einen
Zahlenwert ist dies nicht möglich. Die Kartellschadensersatzrichtlinie spricht sich zudem gerade gegen
jegliche Pauschalisierungen zur Schadenshöhe aus.41 Das schadensrechtliche Bereicherungsverbot gilt
darüber hinaus auch im EU-Recht. Die Richtlinie enthält in Art. 3 Abs. 3 das Verbot der
Überkompensation.42
Dem kann das LG Dortmund auch nicht entgegenhalten, dass der für die Umsetzung der
Kartellschadensersatzrichtlinie federführend zuständige Dr. Jungbluth die Rechtsprechung aufgefordert
hat, „Mut zur Schätzung“ zu bewahren.43 Ob, wie vom LG Dortmund angedeutet, die Ansicht eines
Minesterialrats eine gesetzgeberische Intention darstellt, bleibt dahingestellt. Jedoch bedeutet „Mut zur
Schätzung“ auch nicht die Abkehr von zivilprozessualen und schadensrechtlichen Grundlagen. Auch
dem Verweis auf § 287 ZPO im neuen § 33a Abs. 3 S. 2 GWB lässt sich, entgegen der Ansicht des LG
Dortmunds, nichts anderes entnehmen.44 Die kartellschadensrechtliche Grundnorm verwies auch schon
vorher in § 33 Abs. 3 S. 3 GWB a.F. auf § 287 ZPO und ist ohnehin nur deklaratorischer Natur. Laut
der (tatsächlichen) Gesetzesbegrünung handelt es sich bei dem erneuten Verweis in § 33a Abs. 3 S. 2
GWB nur um eine „redaktionelle Anpassung“.45 Daraus lässt sich insbesondere keine inhaltliche
Adaption von § 287 ZPO an kartellrechtliche Besonderheiten entnehmen, die eine freie
Schadensschätzung rechtfertigen würde. Das Gericht will hier vielmehr unter dem Vorwand der freien
Schätzung entgegen gesetzgeberischer Intention eine pauschale Mindestschadensschätzung
durchsetzen.46
Der BGH verlangt allgemein, dass eine Schätzung nach § 287 ZPO mangels greifbarer Anhaltspunkte
nicht völlig in der Luft hängen kann.47 Das LG Dortmund stellt zwar auf Anhaltspunkte ab.48 Es
wiederholt hier vor allem Punkte, die sonst für die Rechtfertigung einer Schadensvermutung
herangezogen werden.49 Die angeführten allgemeinen Erwägungen, wie zum Beispiel der Umstand,
dass Kartellanten Preissetzungsspielräume in der Regel zur Gewinnmaximierung nutzen und die
konkreten Punkte, zum Beispiel die lange Dauer des Kartells, die hohe Marktabdeckung oder geringe
Ausweichmöglichkeit sprechen dafür, dass eine Schadensentstehung wahrscheinlich ist. Daraus lassen
sich hinsichtlich der Höhe des Schadens in einem Zahlenwert jedoch keine Rückschlüsse ziehen.
Da sich aus den Umständen des Kartellverstoßes allein kein Zahlenwert ermitteln lässt, musste das LG
Dortmund bezüglich des Mindestschadens von 15%, die AGB eines Liefervertrages, Mediane einiger
bekannter Studien und Mediane aus Entscheidungen anderer europäische Gerichte heranziehen.50 Dabei
übersteigt das LG Dortmund ohne erkennbare Notwendigkeit deutlich die Vorschläge von Kühnen, der

40
Vgl. Erwägungsgrund 46 Kartellschadensersatzrichtlinie.
41
So soll nach Erwägungsgrund 47 der Kartellschaden bei der Schadensvermutung nicht die konkrete Höhe des
Schadens erfasst sein.
42
Dazu: Bernhard, NZKart 2013, 488, 49; Müller-Graff, ZHR 2015, 691, 699.
43
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 143.
44
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 143.
45
BT-Drs. 18/10207, S. 56.
46
Siehe dazu unter I.
47
BGH, Urteil v. 6. 12. 2012, VII ZR 84/10, Rn. 23.
48
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 146 ff.; Kühnen, NZKart 2019, 515, 518 ff.
49
Umfassend: Zwade/Konrad, NJW 2020, 807, 811. Dazu auch: BGH, Urteil v. 11.12.2018, KZR 26/17, Rn. 55
ff.
50
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 164, 165.

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Werte von 3, 5 oder 8 % in den Raum gestellt hatte.51 Gerade vor dem schon angesprochenen
schadensrechtlichen Bereicherungsverbot ist dies problematisch. Darüber hinaus darf das Gericht zwar
bei häufig wiederkehrenden Konstellationen eine typisierende Betrachtungsweise vornehmen und in
geeigneten Fällen auch Listen und Tabellen verwenden.52 Hinsichtlich der Höhe des Kartellschadens
erlaubt sich jedoch auch unter Zurhilfenahme von Studien keine typisierende Betrachtungsweise.53 Die
unterschiedlichen Koordinationstypen eines Kartells und verschiedene Markt- und
Wettbewerbsverhältnisse lassen eine solche Typisierung hinsichtlich der Schadenshöhe nicht zu.54
Gerade unter Zurhilfenahme der vom LG Dortmung aufgeführten Studien lässt sich feststellen, dass es
deutliche Unterschiede bei der Höhe des kartellbedingten Preisaufschlags und es deshalb gerade keinen
typischen prozentualen Preisaufschlag gibt.55 Die Studien stellen zudem oft auf einen
durchschnittlichen Kartellschaden ab und eignen sich aufgrund ihrer notwendigen Summierung deshalb
nicht für den Einzelfall.56
Das Gericht hätte, was es vorliegend nicht getan hat, auch nicht einzelne Feststellungen im Rahmen der
Bußgeldbemessung zur Schadensbemessung hilfsweise heranziehen können. Kartellbehörden ermitteln
zu diesen Punkten nicht. Das Bundeskartellamt ermittelt beispielsweise die Bußgelder nicht mehr
vorwiegend auf Basis des kartellbedingten Mehrerlöses (§ 81 Abs. 2 GWB 1999), sondern auf Basis
des tatbezogenen Umsatzes (§ 81 Abs. 4, 4a GWB). Auch die Abschöpfung des wirtschaftlichen
Vorteils nach § 81 Abs. 5 GWB dient dem Ahndungszweck. Dies zeigt sich daran, dass der § 81 Abs.
5 GWB den § 17 Abs. 4 OWiG zur Kann-Regelung deklassiert. Deshalb werden auch mittlerweile keine
Ermittlungen zum Mehrerlös angestellt. Ausnahmsweise kann dies in Fällen anders sein, in denen das
Bundeskartellamt den Mehrerlös nach § 34 GWB abschöpfen will. Von § 34 GWB hat das
Bundeskartellamt aber bisher keinen Gebrauch gemacht.57 Zwar ist bei der Bußgeldberechnung
allgemein das Ausmaß des Schadens zu beachten. Dies erfordert aber keine konkrete
Schadensberechnung, sondern eine allgemeinere Betrachtung.58
Die hier getätigten Ausführungen zeigen auch, dass die Annahme des LG Dortmunds, es müsse den
Beweisantritten durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht nachkommen, fehlgeht.59
Dabei geht das Gericht zwar zu Recht davon aus, dass es nach § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO freier und an
Beweisanträge grundsätzlich nicht gebunden ist.60 Insbesondere ist richtigerweise der mit der
Beweisaufnahme verbundene Aufwand und dessen Verhältnis zu dem in Streit stehenden Betrag zu
berücksichtigen.61 Die Berechnung der Kartellschadenshöhe ist unumstritten mit viel Aufwand
verbunden. Im Rahmen von § 287 Abs. 1 S. 2 ZPO darf der Tatrichter deshalb berechtigterweise „von
einer weiteren Beweisaufnahme absehen, wenn ihm bereits hinreichende Grundlagen für ein
Wahrscheinlichkeitsurteil zur Verfügung stehen“62 und auch von der Einholung eines
Sachverständigengutachtens darf es absehen, wenn es über hinreichende eigene Sachkunde verfügt.63
Hier zeigt sich aber wieder das Kernproblem der Ansicht des LG Dortmunds: anhand von Umständen
des Kartellverstoßes ist keine Schätzung der Schadenshöhe in einem Zahlenwert möglich. Hinreichende

51
Kühnen, NZKart 2019, 515, 519.
52
BeckOK ZPO/Bacher, 38. Ed. 1.9.2020, ZPO § 287 Rn. 15.1 ff.
53
Schon kritisch hinsichtlich der Schadensentstehung: BGH, Urteil v. 11.12.2018, KZR 26/17, Rn. 47 ff.
54
Umfassend: Fuchs/Weitbrecht/Inderst/Maier-Rigaud/Schwalbe, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung,
1. Aufl. 2019, § 7.
55
Galle, NZKart 2016, 214, 219; Thomas, ZHR 2016, 45, 50.
56
Müller-Graff/Kainer, WM 2013, 2149. 2150 ff.
57
Angedacht, jedoch nicht angeordnet in: Bundeskartellamt, B9-121/13 – Meistbegünstigstenklauseln bei
Booking.com, Rn. 343.
58
Schaper/Stauber, NZKart 2017, 279, 281.
59
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 168.
60
BGH, Urteil v. 28.1.2020, KZR 24/17 – Schienenkartell II, NZKart 2020, 136 ff., Rn. 36
61
BeckOK ZPO/Bacher, 38. Ed. 1.9.2020, ZPO § 287 Rn. 19.
62
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 170 mwN.
63
BGH, Urteil v. 6.10.2005, I ZR 266/02, Rn. 28.

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Grundlagen für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Schadenshöhe und eigene Sachkunde liegen
demnach nicht vor und das LG Dortmund hätte Sachverständigenbeweis einholen müssen.
IV. Offene Punkte und Ausblick
Der Entscheidung sind zwar die hier vorgetragenen gewichtigen Kritikpunkte entgegenzuhalten,
dennoch ist es wahrscheinlich, dass die Entscheidung zumindest auf Berufungsinstanz Bestand haben
wird. Das LG Dortmund schloss sich einer Ansicht von Kühnen an, der als Vorsitzende des 1.
Kartellsenats des OLG Düsseldorfs möglicherweise über eine Berufung zu entscheiden hat. Der
Bundesgerichtshof wird auf Revisionsebene das letzte Wort haben. Der BGH kann die Einschätzungen
des Tatrichters auf die Verkennung von Rechtsgrundsätzen der Schadensbemessung, die mangelnde
Berücksichtigung wesentlicher Bemessungsfaktoren oder die Heranziehung unrichtiger Maßstäbe bei
der Schadensschätzung überprüfen.64 Dies wäre vorliegend erfüllt. Auch der Europäische Gerichtshof
wird sich in einem spanischen Vorabentscheidungsverfahren bald zur Schätzung von Kartellschäden
äußern können.65
Selbst wenn die Entscheidung höchstrichterlich gebilligt werden würde, bleiben noch einige Fragen
offen. So stellt sich insbesondere die Frage, ob sich die Rechtsprechung des LG Dortmunds auch auf
die Weiterwälzungsschätzung übertragen lässt. Dies ist abzulehnen. Mittlerweile erlaubt § 33c Abs. 5
GWB zwar eine entsprechende Anwendung von § 278 ZPO auch bei der Schadensabwälzung. Einige
Studien und Leitlinien zur Schadensabwälzung sind auch vorhanden und deren Mediane könnten
herangezogen werden.66 Die Umstände und der Art des Verstoßes lassen sich jedoch keine
Anhaltspunkte für die Weiterwälzung des Schadens auf die nächsten Marktstufen entnehmen.
Im Übrigen muss auch der Zusammenhang zwischen der mittlerweile in § 33a Abs. 2 GWB geregelten
Schadensvermutung und der freien Schadensschätzung geklärt werden. Das LG Dortmund hat
vorliegend schon eine tatsächliche Vermutung angenommen. 67 Es wird vertreten, dass wegen der
Schadensvermutung zwingend ein bestimmter Mindestschaden festgestellt werden muss, da der
vermutete Schaden jedenfalls nicht mit null bemessen werden kann.68 Dies verkennt aber die strikte
Trennung von Schadensgrund und Schadenshöhe bei der Schadensvermutung.69 Die
Vermutungswirkung wird auch nicht ausgehöhlt, wenn es an Grundlagen zur Schadensschätzung fehlt.
Der Anspruchsteller muss hinreichende Anknüpfungstatsachen darlegen und beweisen. Sofern ihm das
nicht gelingt, sind auch keine Grundlagen für Mindestschadensschätzungen vorhanden.
Darüber hinaus ist es fraglich, ob einige Argumente des LG Dortmunds vor dem Hintergrund der
Offenlegungsregeln der 9. GWB-Novelle in Zukunft Bestand haben werden.70 Diese waren vom LG
Dortmund nicht zu beachten, da die Entscheidung noch zur Rechtslage vor der 9. GWB-Novelle ergang.
Soweit das Gericht auf den zeit- und kostenintensiven Ermittlungsaufwand abstellt, wird in Zukunft der
Kläger Offenlegungsregeln nach §§ 33g, 89b, 89d Abs. 4 GWB gebrauchen können. So kann er an
Informationen gelangen, um für die anerkannten Methoden vom Beklagten oder Dritten Beweismittel
zu erlangen. Insbesondere die Argumente, die das LG Dortmund zur Ablehung einiger der aufgeführten

64
Fuchs/Weitbrecht/Fuchs, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 6 Rn. 68.
65
Vorabentscheidungsersuchen Rechtssache C-267/20, eingereicht von der Audiencia Provincial de León
(Spanien) am 15. Juni 2020 – AB Volvo und DAF TRUCKS N.V./RM.
66
Siehe vor allem: Leitlinien für die nationalen Gerichte zur Schätzung des Teils des auf den mittelbaren
Abnehmer abgewälzten Preisaufschlags (2019/C 267/07).
67
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 85 ff.
68
Kersting/Podszun/Kersting, Die 9. GWB-Novelle, 1. Aufl. 2017, Kap. 7 Rn. 60. Konkret im Kontext des Urteils
des LG Dortmunds: Kersting, Paukenschlag in Dortmund: Freie Schätzung von Kartellschäden, 7.10.2020, D’Kart
Blog, abrufbar unter: https://www.d-kart.de/blog/2020/10/07/paukenschlag-in-dortmund-freie-schaetzung-von-
kartellschaeden/ (zuletzt abgerufen am 21.10.2020).
69
So auch: Fuchs/Weitbrecht/Fuchs, Handbuch Private Kartellrechtsdurchsetzung, 1. Aufl. 2019, § 6 Rn. 70.
70
Zum Verhältnis von Offenlegungsregeln und Schadensschätzung allgemein: Isikay, Schadensschätzung bei
Kartellverstößen, 1. Aufl. 2020, 115 ff.

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Methoden darbietet, werden diesbezüglich in Zukunft nur noch von geringer Bedeutung sein. Das
Gericht führt zum Beispiel bei der kostenbasierten Methode an, dass ein kartellgeschädigter Abnehmer
keine Kenntnisse von der Preiskalkulation und der ihr zugrunde liegenden Preisbildungsfaktoren der
Gegenseite hat und diese Informationen auch dem Geheimwettbewerb unterliegen.71 Genau solche
Unterlagen werden zukünftig über die Offenlegungsregeln heraus verlangt werden können. Dabei ist
auch der Geheimnisschutz zu beachten, § 89b Abs. 7 GWB.72
Eins ist dem LG Dortmund und Kühnen dennoch beizupflichten: Kartellschadensersatzansprüche
müssen effektiver werden – sie sind immer noch teuer und dauern lang. Gerade bei mittelbaren
Abnehmern, die nur Streuschäden geltend machen können, stehen Aufwand und Kosten oft außer
Verhältnis zur Schadenssumme. Für diese fehlt es insbesondere auch an effektiven kollektiven
Rechtsschutzmöglichkeiten.73 Dies erklärt auch die zurückhaltenden Zahl an Verfahren in Deutschland.
Wie die Ausführungen hier gezeigt haben, heiligt der Zweck jedoch nicht alle Mittel. Selbst der
Vorsitzende der hier maßgeblichen Kammer des LG Dortmunds geht in einem kürzlich veröffentlichten
Beitrag von der „Vorzugswürdigkeit einer gesetzlichen Regelung“ aus.74 Die
Kartellschadensersatzrichtlinie hat Maßnahmen zur Erleichterung der Durchsetzung von
Kartellschadensersatzansprüchen geschaffen. Diese müssen sich erst noch in der Praxis bewehren. Bei
der alsbald vorgesehenen Überprüfung der Kartellschadensersatzrichtlinie75 sollte auch die Schließung
von gesetzgeberischen Lücken vorgeschlagen werden.76 Dazu zählen unter anderem Regelungen zur
Verfahrenseffizienz, Verfahrenskonzentration und Kostenregelungen, die der Richtlinie derzeit
fehlen.77
Aber auch der deutsche Gesetzgeber sollte tätig werden. Dies gilt nicht im Hinblick auf gesetzliche
Pauschalen, denen hier aufgeführte Argumente im Bezug auf das schadensrechtliche
Bereicherungsverbot und das richtliniennormierte Verbot der Überkompensation entgegengehalten
werden können. Es könnten jedoch unter anderem außergerichtliche Vergleiche lange und
kostenspielige Prozesse vermeiden. Der GWB-Gesetzgeber wollte zum Beispiel durch die
vorprozessual geltend zu machenden Herausgabe- und Auskunftsansprüche für Beweismittel in § 33g
GWB auch Vergleichsanreize schaffen.78 Da diese aber für den Beklagten vorprozessual zur
Geltendmachung des Weiterwälzungseinwands gar nicht einsetzbar sind, wird dieser sich auch auf
keine (vorprozessualen) Vergleiche einlassen.79 Dies ist nur ein Beispiel, welches zeigt, dass im
Kartellschadensersatzrecht weiterhin erhöhter Effektivierungsbedarf besteht.
Parteien bleiben demnach in der Zwischenzeit selbst in der Pflicht. Es ist deshalb erneut besonders auf
die Möglichkeit der Aufnahme von pauschalisierenden Schadensersatzklauseln in Liefer- und
Abnahmeverträgen hinzuweisen.80 Diese können den langwierigen und kostenspieligen Beweis eines
konkreten Schadens in einer bestimmten Höhe vermeiden, ohne dass es zu einem, wie vorliegend vom
LG Dortmund vorgenommen, Bruch mit zivilprozessualen und schadensrechtlichen Grundsätzen des §
287 ZPO kommen muss. Sie beruhen auf einer privatautonomen Entscheidung der Parteien.

71
LG Dortmund, Urteil v. 30.9.2020, 8 O 115/14 (Kart), Rn. 138
72
Siehe dazu ausführlich: Hornkohl, ECLR 2020, 105 ff..
73
Vgl. Kredel/Brückner, BB 2015, 2947 ff.; Schäfers, ZZP 2019, 231 ff.
74
Klumpe, Vermutung von 20% Kartellpreisaufschlag, 26.10.2020, D’Kart Blog, abrufbar unter: https://www.d-
kart.de/blog/2020/10/26/vermutung-von-20-kartellpreisaufschlag-rumaenien-verleiht-der-privaten-
kartellrechtsdurchsetzung-biss/ (zuletzt abgerufen am 29.10.2020).
75
Art. 20 Kartellschadensersatzrichtlinie.
76
Kritisch hinsichtlich der Effektivität der Regelungen der Kartellschadensersatzrichtlinie: Rodger/Sousa
Ferro/Marcos, JECLAP 10 (2019), 129 f.
77
Wurmnest, NZKart 2017, 2, 10.
78
BT-Drs. 18/10207, S. 62.
79
Kern, Urkundenvorlage bei Kartellschadensklagen, 1. Aufl. 2020, 140, 141.
80
Hornkohl, GPR 2018, 44 ff.; umfassend: Sirakova, Pauschalierter Kartellschadensersatz in Einkaufs- und
Lieferbedingungen als Alternative zur Schadensschätzung, 1. Aufl. 2020, passim.

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V. Fazit
Die freie Schätzung eines Mindestschadens unter Zurhilfenahme der aus dem Bußgeldbescheid zu
entnehmenden Umständen des Kartellverstoßes sowie allgemeine Studien zu Kartellschäden
verstößt gegen schadens- und europarechtlichen sowie zivilprozessualen Grundlagen. Aus den
Umständen des Kartellverstoßes allein lässt sich kein Zahlenwert ermitteln. Aufgrund ihrer
notwendigen Summierung eignen sich Mediane bekannter Studien und Entscheidungen anderer
europäische Gerichte nicht zur Ermittlung eines Zahlenwertes.

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