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La ndgericht Berlin

Beschluss
Geschäftsnummer: (525 KLs) 254 Js 157/22 (1 i/23) Datum: 13.11 .2023 ctk

In der Strafsache

gegen

Verteidiger:
Rechtsanwalt Johannes Eisenberg, Görlitzer Str. 74, 10997 Berlin ,
Rechtsanwalt Franz von Wolffersdorff, Lindenstr. 91, 10969 Berlin,
Rechtsanwalt Philipp Bruckmann, Görlitzer Straße 74, 10997 Berlin,

Anklagebehörde: Staatsanwaltschaft Berlin, Turmstraße 91 , 10559 Berlin

wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz

hat die 25. große Strafkammer des Landgerichts Berlin beschlossen:

1. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur
Auslegung der Richtlinie 2014/41 (im Folgenden: RL EEA) vorgelegt:

i. Zu Art. 6 Abs. 1 b) RL EEA


Steht Art. 6 Abs . 1 b) RL EEA einer Europäischen Ermittlungsanordnung (im Folgenden: EEA)
zur Übermittlung von im Vollstreckungsstaat (Frankreich) schon vorhandenen
Telekommunikationsdaten entgegen, wenn nach dem Recht des Anordnungsstaats
(Deutschland) eine vergleichbare innerstaatliche Überwachungsmaßnahme unzulässig wäre
und die daraus gewonnenen Daten aus diesem Grund auch nicht für die Strafverfolgung in
einem anderen Verfahren verwendet werden dürften?

2. Zu Art. 6 Abs. 1 a) RL EEA


"···-·· - -- ------- · --ä) ~Steht Art. 6 Abs .· 1 a) RL EEA einer EEA zur Ubermittlung v~n ' im VoUstr-~-;k~~-g~s-~;;t ···--····''·

(Frankreich) schon vorhandenen Daten aus einer Telekommunikationsüberwachung -


insbesondere Verkehrs- und Standortdaten sowie Aufzeichnungen von
Kommunikationsinhalten - entgegen , wenn

e die vom Vollstreckungsstaat durchgeführte Überwachung sich auf sämtliche


Anschlussnutzer eines Kommunikationsdienstes erstreckte,

o mit der EEA die Übermittlung der Daten sämtlicher auf dem Hoheitsgebiet des
Anordnungsstaates genutzten Anschlüsse begehrt wird ,

o weder bei der Anordnung und Durchführung der Überwachungsmaßnahme noch bei
Erlass der EEA konkrete Anhaltspunkte für die Begehung von ihrer Art nach
bestimmbaren schweren Straftaten durch diese individuellen Nutzer bestanden und

"' deshalb im Rahmen der Abwägung keine auf den Einzelfall bezogenen, nur von der
nationalen Anordnungsbehörde bzw. dem zuständigen nationalen Gericht zu
beurteilenden Umstände existieren?

b) Steht Art 6 Abs. 1 a) RL EEA einer solchen EEA entgegen, wenn die Integrität der durch die
Überwachungsmaßnahme abgeschöpften Daten wegen umfassender Geheimhaltung durch
die Behörden im Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann?

3. Rechtsfolgen einer unionsrechtswidrigen Beweiserlangung


Ergibt sich aus dem Unionsrecht, insbesondere dem Grundsatz der Effektivität, dass
Unionsrechtsverstöße bei der Beweismittelerlangung in einem nationalen Strafverfahren auch
bei schweren Straftaten nicht vollständig ohne Folge bleiben dürfen und daher entweder als
Hindernis .für die Beweisverwertung oder bei der Beweiswürdigung oder bei der
Strafzumessung zugunsten des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen?

IL Es wird beantragt, über das Vorabentscheidungsersuchen im beschleunigten Verfahren,


hilfsweise mit Vorrang zu entscheiden.

Gründe:

1 Das Vorabentscheidungsersuchen hat grundsätzlich denselben Gegenstand wie das zum


Aktenzeichen C-670/22 beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen ,
konzentriert sich aber auf einige aus Sicht der Kammer besonders bedeutsame
Gesichtspunkte.

2 Es geht um ein Strafverfahren , in dem die Tatvorwürfe des Betäubungsmittelhandels


ausschließlich auf der Auswertung von EncroChat-Daten beruhen. Diese Daten bzw. die
Genehmigung zu deren justizieller Verwendung wurden zumindest zum Teil auf der Grundlage
der EEA der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt/Main (im Folgenden: GStA Frankfurt) vom

2
~ - -- ---·· - - ··· 2. Juni 2020, 9.~ September . 2020 . und s2. Juli 2021 von F~~~-l~~;i~h - -n~ch Deutschl~nd .
übermittelt.

3 Als Besonderheit des vorliegenden Verfahrens gab es zudem weitere speziell auf den hiesigen
Angeklagten und einen mutmaßlichen Mittäter bezogene EEAs und Datenübermittlungen,
wobei die genaue Herkunft einzelner Daten weiterhin unklar ist. Die dadurch gegebenenfalls
aufgeworfenen zusätzlichen unionsrechtlichen Fragen sind jedoch nicht Gegenstand des
vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.

4 Die dem Gerichtshof unterbreiteten Fragen gehen nicht über diejenigen im Verfahren C-670/22
hinaus. Vielmehr sollen - unter Berücksichtigung der mündlichen Verhandlung in der Sache C-
670/22 und der Schlussanträge der Generalanwältin vom 26. Oktober 2023 - einige aus Sicht
der Kammer für die Entscheidung besonders bedeutsame Aspekte aufgegriffen und vertieft
werden , nämlich

0 der von der Kammer nach ausführlicher Beweisaufnahme festgestellte Sachverhalt,


der sich in wesentlichen Punkten von der (in der Stellungnahme der Generalanwältin
übernommenen) Darstellung der deutschen Behörden unterscheidet,

G die Anforderungen des deutschen Rechts an die Rechtmäßigkeit der Daiengewinnung


als Voraussetzung für die innerstaatliche Weiterleitung der Daten an eine andere
Staatsanwaltschaft,

0 die bei der Verhä!tnismäßigkeitsprüfung nach Art. 6 Abs. ; a) RL-EEA von der
Anordnungsbehörde zu berücksichtigenden Umstände und deren Überprüfung durch
den Gerichtshof der Europäischen Union und

41 die Bedeutung des Effektivitätsgrundsatzes für die Rechtsfolgen von Verstößen gegen
Unionsrecht.

A. Gegenstand und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

1. Gang des Verfahrens und Erheblichkeit der Vorlagefragen

5 1. Die Staatsanwaltschaft Berlin legt dem Angeklagten zur Last, in der Zeit vom 1. März 2020
bis zum i 1. Juni 2020 mit insgesamt 855 kg Marihuana, 400 kg Haschisch und 17 kg Kokain
Handel getrieben zu haben . Die Taten soll er teilweise mit einem weiteren Täter und teilweise
als Mitglied einer aus drei Personen bestehenden Bande begangen haben. Zur Abwicklung
seiner Geschäfte soll er sich des als besonders abhörsicher beworbenen
Kommunikationsdienstes „EncroChat" bedient und darüber per Chat- und Bildnachrichten
kommuniziert haben.

6 Die Kammer hat mit Beschluss vom 29. Juni 2023 die Anklage unter Eröffnung des
Hauptverfahrens zur Hauptverhandlung zugelassen . Zugleich hob sie den gegen den
Angeklagten bestehenden Haftbefehl auf und setzte das Verfahren aus, um - wie von der

3
·verteidigung angeregt - dem·- Ge-r1chtshoT -Fragen-zur·-·vorä6enfscfieiauri'g--vorzu1egeff--·uifü··- ,---,
dessen Entscheidung abzuwarten .

7 Auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft setzte das !<ammergericht mit Beschluss vom 24. Juli
2023 den Haftbefehl wieder in Kraft. Der Angeklagte wurde daraufhin am 28. Juli ·2023
verhaftet. Mit Verfügung vom 31 . Juli 2023 forderte die Kammer die Staatsanwaltschaft bzw.
das Landeskriminalamt zur Übermittlung ergänzender Informationen und Beweismittel auf.
Nachdem sich die Beantwortung der Anfrage verzögert hatte und zum Teil ganz ausgeblieben
war, hob die Kammer am 20. Oktober 2023 unter Hinweis auf den Beschleunigungsgrundsatz
in Haftsachen den Haftbefehl erneut auf und entließ den Angeklagten aus der
Untersuchungshaft. Über die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat das
Kammergericht noch nicht entschieden .

8 Mit Beschluss vom 13. September 2023 - i Ws 88/23 - hob das Kammergericht auf
..,• Beschwerde der Staatsanwaltschaft zudem die Entscheidung der Kammer über die
Aussetzung des Verfahrens auf. Das Kammergericht führte aus, grundsätzlich sei die
Verfahrensaussetzung zur Klärung von Rechtsfragen unzulässig. Eine Verfahrensaussetzung
für ein „Musterverfahren" vor dem Gerichtshof der Europäischen Union erscheine
„ausnahmsweise vertretbar", allerdings wegen des Beschleunigungsgebots nur dann, wenn
eine Entscheidung in dem „Musterverfahren" unmittelbar bevorstehe und die Verzögerung für
den Angeklagten keine unzumutbaren Belastungen mit sich bringe. Mit Blick auf den
besonderen Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen sei die Aussetzungsentscheidung der
Kammer „ersichtlich ermessensfehlerhaft", weil nicht bekannt sei, wann mit einer Entscheidung
des Gerichtshofs zu rechnen sei. Dies gelte umso mehr, als wegen der Besonderheiten des
vorliegenden Falls ein weiteres Vorabentscheidungsersuchen erforderlich werden könnte.
Zudem bestehe nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kein
Beweisverwertungsverbot für die Daten.

9 2. Die Kammer ist weiterhin der Ansicht, dass das berechtigte Interesse des Angeklagten an
einer nicht nur schnellen , sondern auch inhaltlich richtigen Entscheidung sowie sein
verfassungsmäßig garantiertes Recht auf den gesetzlichen Richter es gebieten, eine Antwort
des zur Entscheidung über unionsrechtliche Fragen allein berufenen Gerichtshofs einzuholen
und abzuwarten . Die Urteilsfindung hängt maßgeblich davon ab. Die Anklagevorwürfe beruhen
im Wesentlichen auf mutmaßlich von dem Angeklagten verfassten bzw. an ihn übermittelten
Text- und Bildnachrichten, die nach Aktenlage mit überwiegender Wahrscheinlichkeit im
Wesentlichen die in der Anklage beschriebenen Handelsgeschäfte zum Gegenstand haben
und seine Identifizierung ermöglichen würden .

II. Sachverhalt

1. Gang der Ermittlungen

4
·"··-•-····'·-··---······ . fö "äT Die·-fran'zösischen Ermittlungsbehörden stellten ab dem J~hr 2()1-7 in ~~hr~~;~·\1~rt~h·~;~·-····- ~-

fest, dass Beschuldigte bei der Begehung von Straftaten, überwiegend aus dem Bereich der
Betäubungsmittelkriminalität, f<rypto-Handys des Anbieters „EncroChat" nutzten. Diese
Mobiltelefone ermöglichten mit einer speziellen Software und einer modifizierten Hardware
über einen in Roubaix stationierten Server eine Ende-zu-Ende-verschlüsselte Kommunikation,
die mit herkömmlichen Ermittlungsmethoden nicht zu überwachen war.

11 Mit richterlicher Genehmigung gelang es der französischen Polizei in den Jahren 2018 und
2019, Images der Serverdaten zu sichern. Auf der Grundlage der daraus gewonnenen
Erkenntnisse wurde in Zusammenarbeit mit niederländischen Experten im Rahmen einer
gemeinsamen Ermittlungsgruppe (Joint lnvestigation Team) eine Trojaner-Software entwickelt,
die mit Genehmigung des Strafgerichts Lille im Frühjahr 2020 auf den Server in Roubaix
aufgespielt und von dort aus über ein simuliertes Update auf den Endgeräten installiert wurde.
Insgesamt waren von der Maßnahme 32.477 Nutzer (von insgesamt 66. i 34 eingetragenen
Nutzern) in 122 Ländern betroffen. 380 Nutzer befanden sich in Frankreich, der weit
übeiwiegende Teil hingegen im Ausland , darunter ca . 4.600 Nutzer in Deutschland. Die
technischen Einzelheiten der Maßnahme sind nicht bekannt, da sie dem französischen
Militärgeheimnis unterliegen. Inwieweit Informationen, die nicht diesem Geheimnis unterfallen,
an die deutschen Behörden weitergegeben wurden, ist nicht abschließend überprüfbar, weil
das deutsche Bundeskriminalamt (im Felgenden: BKA), die GStA Frankfurt und die
europäischen Agenturen insoweit keine Akteneinsicht gewähren.

12 Zwischen dem 1. April 2020 und dem 28. Juni 2020 ermöglichte es die Trojaner-Software den
französischen Behörden , die Gerätekennungen (lMEls) der in den jeweiligen Ländern
festgestellten Endgeräte, E-Mail-Adressen, Datum und Uhrzeit der Kommunikation, den
Standort des Funkmastes, übei den das Endgerät eingebucht war, sowie die in den laufenden

,·· Chats übermittelten Texte und Bilder abzufangen. Außerdem wurden die Gerätespeicher
l\ ,,__ .·
einschließlich der dort noch nicht gelöschten Chats aus der Zeit vor dem 1. April 2020
ausgelesen.

13 Soweit die Endgeräte sich im Ausland befanden, wurden die abgeschöpften Daten ab dem
3. April 2020 dem BKA und anderen nationalen Ermittlungsbehörden, die vorab ihr Interesse
bekundet hatten, über einen Europol-Server zur Verfügung gestellt.

14 Die GStA Frankfurt leitete am 20. März 2020 ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein
(Az.: 62 IJs 50005/20) . Auf der Grundlage einer EEA der GStA Frankfurt vom 2. Juni 2020 und
ergänzender EEAs vom 9. September 2020 und 2. Juli 2021 wurden die justizielle Verwertung
der Daten genehmigt und weitere Daten zur justiziellen Nutzung übermittelt.

15 b) Die Generalanwältin geht in ihren Schlussanträgen in der Sache C-670/22 von folgenden
weiteren tatsächlichen Annahmen aus:

5
... ., . . . . ~ . Bei der Uberwachungs~ aßnahme.. h~ndel~- es sich um eine franzö~ j~~h~--- ~ ti;i~~ f ~r

eigene Ermittlungen der französischen Behörden (aaü., Nr. 72) .

(!) Die Ausforschung der deutschen Nutzer sei nur die Folge dieser französischen
Ermittlungen gewesen , nicht deren Grund (aaO ., Nr. 72).

e Frankreich habe die Datenerhebung nicht für die Zwecke deutscher Strafverfahren
durchgeführt (aaO., Nr. 50). Die im Vorabentscheidungsersuchen behauptete
Überwachung im deutschen Interesse sei eine Vermutung , die von der Kammer nicht
substanziiert werde und über die der Gerichtshof nicht befinden könne (aaO ., Nr. 55).

e Der Zugang zu den Daten in der „Live-Phase" ab dem 1. April 2020 sei den deutschen
Behörden nicht für Zwecke der Strafverfolgung , sondern für präventivpolizeiliche Zwecke
ermöglicht worden (aaO ., Nr. 15).

~ Die EEA vom 2. Juni 2020 sei auf den Verdacht des Betäubungsmittelhandels gegen
t'-
', bisher nicht identifizierte Personen gestützt gewesen; diese seien der Mitgliedschaft in
einer organisierten kriminellen Verein igung in Deutschland verdächtigt worden (aaO., Nr.
8).

16 Demgegenüber geht das Vorabentscheidungsersuchen C-670/22 - genauso wie das hiesige -


von folgenden abweichenden Annahmen aus:

0 Bei der Überwachungsmaßnahme handelte es sich um eine von den europäischen


Agenturen koordinierte Mat1nahme im gemeinsamen Interesse mehrerer Staaten, die von
Frankreich nur deshalb durchgeführt wurde, weil der Server sich auf französischem
Staatsgebiet befand (aaO ., Rn . 18-21).

0 Die .Ausforschung der im nichtfranzösischen Ausland ansässigen Nutzer war deshalb für
die französischen Behörden von vornherein kein bloßes „Nebenprodukt", sondern ein der
'·-.... Überführung der EncroChat-Betreiber gleichwertiges Ziel (aaO ., Rn. 18-21).

0 Auch wenn die Daten während der Live-Phase zum Schutz der verdeckten Maßnahme
zunächst nur zu Auswertezwecken übermittelt wurden, zielte das Projekt aus Sicht aller
Beteiligten von Beginn an in erster Linie auf die Strafverfolgung der Telefonnutzer (aaO. ,
Rn . 9-22).

c Bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens am 20. März 2020 und beim Erlass der EEA
am 2. Juni 2020 hatte die GStA Frankfurt keine konkreten Erkenntnisse über die Aktivitäten
der deutschen Nutzer (aaO ., Rn. 9, 11f.). Die Deliktsbezeichnungen des
Betäubungsmittelhandels und der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung
entsprachen denen des französischen Verfahrens. Anhaltspunkte für eine Mitgliedschaft in
einer kriminellen Vereinigung unter Beteiligung der deutschen Nutzer gab es nicht (aaO. ,
Rn . 63).

6
• • • • • • •• • • •. ' • .,_. •·• - • • ' •••--~_, ,- ..... -.,...:: ~ --•--~--~·••• - • ·•.,.••~r••-- · - .-. •• ---~ - - • · •-,--~..;•- ,.;:. .,._. _ .. _.,.. ,-,.;.-, ..,.,._,__.., _ ___, __ •••---•-- •,..•-, -•

· ···· ----····· -·-- --- ·17 "biese Feststellungen der Kammer sind das Ergebnis einer mehrtägigen Beweisaufnahme, bei
der diverse Zeugen gehört und Urkunden eingeführt wurden . Die Kammer hat im
Vorabentscheidungsersuchen C-670/22 ausführlich dargelegt, auf welcher Grundlage ihre
Annahmen jeweils beruhen. Soweit die behördlichen Vermerke und die im Verfahren C-670/22
eingereichten Stellungnahmen abweichende Behauptungen aufstellen , setzen sie sich mit den
von der Kammer erhobenen Beweisen nicht auseinander und erbringen auch keine
Gegenbeweise, die die Schlussfolgerungen der Kammer in Frage stellen könnten . Insofern ist
derzeit davon auszugehen , dass sowohl die - nach der Aussetzung der Hauptverhandlung
erforderliche - erneute Beweisaufnahme im Parallelverfahren als auch die noch ausstehende
Beweisaufnahme im vorliegenden Verfahren dasselbe Ergebnis erbringen werden .

18 Der Kammer ist bewusst, dass die Bedeutung der Entscheidung des Gerichtshofs weit über die
von ihr vorgelegten Fälle hinausreicht und dass andere Gerichte möglicherweise andere
Beweise erheben oder die erhobenen Beweise anders - unter Umständen auch mit dem von
der Generalanwältin zugrunde gelegten Ergebnis - würdigen würden . Jedoch würde eine
Antwort des Gerichtshofs, die von abweichenden Sachverhaltsannahmen ausgeht, jedenfalls
die vor der Kammer anhängigen Verfahren nicht fördern . Der Gerichtshof wird daher gebeten,
die von der Kammer unterbreiteten Sachverhaltsvarianten zumindest alternativ zu
berücksichtigen.

ß. Erläuterung der Vorlagefragen

L Nationales Recht

19 1. §§ 100 a ff. StPO regeln die Telekommunikationsüberwachung zum Zweck der


Strafverfolgung. § 100 a Abs. 1 S. 1 StPO gestattet die Überwachung der laufenden
Kommunikation in Form der „klassischen" Telekommunikationsüberwachung . Ferner ist es
zulässig, mittels Installation einer Spähsoftware auf den Endgeräten die laufende
Kommunikation zu überwachen (sog . ,,Quellen-TKÜ", § 100 a Abs. 1 S. 2 StPO), die im
Anordnungszeitpunkt entstandenen bereits abgeschlossenen auf dem Gerät gespeicherten
Kommunikationsvorgänge zu erfassen (sog. ,,kleine Online-Durchsuchung", § 100 a Abs . 1 S. 3
StPO) sowie sämtliche auf dem Endgerät gespeicherten Daten auszulesen (sog . ,,Online-
Durchsuchung", § 100 b StPO) .

20 Die französische Maßnahme gegen den EncroChat-Dienst und dessen Nutzer ähnelt nach den
bisher dazu bekannt gewordenen Informationen im Wesentlichen einer Kombination aus einer
Online-Durchsuchung i.S.d. § 100 b StPO und einer oder mehrerer der in§ 100 a Abs. 1 StPO
geregelten Maßnahmen (vgl. etwa OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 - 1 Ws
2/21 - , juris Rn . 59, 93; KG, Beschluss vom 30. August 2021 - 2 Ws 79/21 -, juris Rn. 41; i.E.
ähnlich BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 - , juris Rn . 67) . Da derzeit nicht
ausgeschlossen werden kann, dass auch in der „Live-Phase" weiterhin sämtliche Daten des
Endgeräts ausgelesen wurden, erscheint es geboten, die strengeren gesetzlichen
Anforderungen an eine Online-Untersuchung zugrunde zu legen (vgl. BGH aaO., Rn . 68).
7
:·-·. •-·- ... -.. · .. , ... -·. -··---·~-- .. . ... · -; .
....... . . -- . - .. - • . -~-.:->-- -~-- .-. -·- ....- ....... - . ·.:,.;..._,.,__,~-~........ ,~-~ ··-· ---- ------•.- ~- ....... :...-.•.:- • .. _._. . .,..., ~ •.. ~ --· ~., ..---

- - - --- ----·-· -·-21 ä) -§ 100 b StPO setzt - wie auch die in § i 00 a StPO geregelten Überwachungsmaßnahmen -

den konkreten Verdacht einer Straftat voraus, wobei der Kreis der Anlasstaten auf bestimmte
l<atalogtatbestände eingeschränkt wird . Die Überwachung darf nur aus Anlass eines konkreten
Sachverhalts und gegen bestimmte Beschuldigte erfolgen . Sie setzt einen qualifizierten, auf
bestimmte Tatsachen geg ründeten Verdacht voraus ; eine verdachtslose
Kommunikationsüberwachung ist hingegen unzulässig (KG , Beschluss vom 30. August 2021 -
2 Ws 93/21 - , juris Rn . 38 f.). Entsprechend den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts
sind wegen der besonderen Schwere der Grundrechtseingriffe erhöhte Anforderungen nicht
nur an die Bedeutung der aufzuklärenden Straftat, sondern auch an den Verdachtsgrad zu
stellen . Die den Verdacht begründenden Tatsachen müssen jeweils so beschaffen sein , dass
sie den Schluss nicht nur auf irgendein strafbares Verhalten , sondern auf ein wenigstens
seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen . Vage
Anhaltspunkte, bloße Vermutungen oder allgemeine Erfahrungssätze reichen nicht (BVerfG ,
Urteil vom 27. Februar 2008 - 1 BvR 370/07 - , juris Rn . 250 f.). Gemäߧ 100 e Abs . 2 Nr. 2
StPO muss das anordnende Gericht den konkreten Tatvorwurf in der Beschlussformel
angeben.

22 Bei der nachfolgenden Verwendung der Daten im Strafvetiahren ist das erkennende Gericht
verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Maßnahme, insbesondere die Voraussetzung des
konkreten Tatverdachts zum Zeitpunkt der Anordnung , zu überprüfen. Allerdings gesteht die
Rechtsprechung dem anordnenden Gericht einen Beurteilungsspielraum zu. Das erkennende
Gericht muss nur überprüfen, ob dieser Spielraum bei der Anordnung überschritten wurde.
Wenn die Darstellung der Verdachts- und Beweislage im Anordnungsbeschluss plausibel ist,
kann der erkennende Richter sich hierauf in der Regel verlassen . Ist dies nicht der Fall, muss
der erkennende Richter selbst die Verdachts- und Beweislage, die im Zeitpunkt der Anordnung
bestand, rekonstruieren (zum Ganzen BGH , Beschluss vom i . August 2002 - 3 StR 122/02 -,
(. juris Rn. ·1 Off.) .

23 Wenn die an diesem Maßstab ausgerichtete Prüfung ergibt, dass zum Zeitpunkt der
Anordnung kein auf bestimmte Tatsachen gestützter Tatverdacht bestand, dürfen die Daten
nicht für Strafverfolgungszwecke genutzt werden . Nach dem deutschen Recht ist der konkrete
Tatverdacht eine wesentliche sachliche Voraussetzung für eine
Telekommunikationsüberwachung ; wenn diese fehlt, sind die aus der Maßnahme gewonnenen
Daten in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren - unabhängig von der Schwere der Taten -
unverwertbar (BGH aaO ., Rn . 10 m.w.N.) .

24 b) Die im Falf EncroChat vor Beginn der Maßnahme gegebenen unspezifischen


Verdachtsmomente und die Aufzählung diverser alternativ denkbarer Straftatbestände erfüllen
die Anforderungen der Rechtsprechung an einen konl<reten Taterdacht nicht, so dass eine
Überwachung sämtlicher EncroChat-Nutzer nach§§ 100 a ff., 100 e Abs. 3 Nr. 2 und 4 StPO
nicht zulässig gewesen wäre (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 - , juris

8
Rn. 55 : ,,nicht spezifizierte Verdachtslage" hinsichtlich der )n Frage kommenden vielfältigen
Straftaten"; KG, Beschluss vom 30 . August 2021 - 2 Ws 93/2 1 -, juris Rn. 39, 42 ; OLG
Schleswig, Beschluss vom 29. April 2021 - 2 Ws 47/21 - , juris Rn . 35) .

25 Bei den hier gegebenen Verdachtsmomenten handelte es sich zum einen um kriminalistische
Erkenntnisse aus einer im Verhältnis zur Gesamtzahl der Nutzer sehr geringen Zahl früherer
Strafverfahren ohne individuellen Bezug zu den von der EEA betroffenen Nutzern. Zum
anderen legten Besonderheiten der Funktionen und Vertriebsmodalitäten der EncroChat-
Telefone es nahe, dass diese für kriminelle Nutzer besonders attraktiv waren. Ermittlungen zu
legalen Nutzungsmöglichkeiten für Personen mit einem ebenfalls überdurchschnittlichen
Sicherungsbedürfnis waren dabei allerdings zu keinem Zeitpunkt angestellt worden . Konkrete
strafbare Sachverhalte waren nicht einmal in groben Umrissen bekannt; sogar der Deliktstyp
(Betäubungsmittelhandel? Waffenhandel? Gewaltdelikte? Geldwäsche?) blieb offen. Soweit es
Anhaltspunkte dafür gab, dass die EncroChat-Betreiber ihr System gezielt auf die Bedürfnisse
von Kriminellen ausrichteten, erlaubte dies nur den ohnehin naheliegenden Schluss auf
kriminelle Aktivitäten einiger, aber keinesfalls aller oder auch nur fast aller Nutzer. Zwar mag es
gegen die EncroChat-Betreiber den Verdacht der Mitgliedschaft in einer kriminellen
Vereinigung gegeben haben. Auf die Nutzer trifft dies jedoch nicht zu. Dass diese sämtlich
Mitglieder einer untereinander in Verbindung stehenden kriminelfen Gruppierung sein könnten,
lag schon angesichts der hohen Zahl (allein in Deutschland über 4.000, weltweit ca . 60.000)
und deren Verteilung auf eine Vielzahl von Ländern fern .

26 Eine vergleichbare innerstaatliche Maßnahme wäre damit rechtswidrig gewesen, und dieser
Fehler würde so schwer wiegen, dass die Daten im Strafverfahren nicht verwertbar wären.

27 2. § 161 Abs . 1 StPO gestattet einer innerstaatlichen Staatsanwaltschaft grundsätzlich,


Ermittlungsergebnisse aus Verfahren ,einer anderen Staatsanwaltschaft anzufordern . Die
Vorschrift lautet:

§ 161 Allgemeine Ermittlungsbefugnis der Staatsanwaltschaft


1
(1) Zu dem in § 160 Abs. i bis 3 bezeichneten Zweck ist die Staatsanwaltschaft befugt, von
allen Behörden Auskunft zu verlangen und Ermittlungen jeder Art eniweder selbst
vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu
lassen, soweit nicht andere gesetzliche Vorschriften ihre Befugnisse besonders regeln. 2 Die
Behörden und Beamten des Polizeidienstes sind verpflichtet, dem Ersuchen oder Auftrag
der Staatsanwaltschaft zu genügen, und in diesem Falle befugt, von allen Behörden
Auskunft zu verlangen.

( .. .)

28 Bei der Anforderung von Daten aus Telekommunikationsübervvachungen sind die Vorgaben
des § 479 Abs . 2 StPO und - für die hier einschlägige Online-Durchsuchung - des § 100 e
Abs. 6 Nr. 1 StPO zu beachten. § 100 e Abs. 6 Nr. 1 StPO lautet:

§ 100e Verfahren bei Maßnahmen nach den §§ 1O0a bis 100c


9
........ ~-. - ...... - ....... "-· - .. - ·--- .. --- ..... ·-- - . -- -- -- - .- . - ,- -- -
(6) Die durch Maßnahmen nach den §§ 100b und i 00c erlangten und verwertbaren
personenbezogenen Daten dürfen für andere Zwecke nach folgenden Maßgaben verwendet
werden:

1. Die Daten dürfen in anderen Strafverfahren ohne Einwilligung der insoweit überwachten
Personen nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer Maßnahmen nach § 100b oder
§ 100c angeordnet werden könnten , oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen
Straftat beschuldigten Person vervvendet werden.

( .. . )

29 Diesen Regelungen liegt die verfassungsrechtliche Vorgabe zugrunde, dass die


Weiterverwendung von personenbezogenen Daten in anderen Verfahren einen eigenständigen
Grundrechtseingriff darstellt (Köhler in: Meyer-Goßner/Scrimitt, StPO 66 . .Aufl. 2023, § 100 e
Rn . 22 m .w .N.). Personenbezogene Daten unterliegen dem Zweckbindungsgebot und dürfen
ohne Weiteres nur zu dem Zweck verwendet werden , für den sie erhoben wurden . Die
Verwendung zu anderen Zwecken bedarf einer gesonderten Rechtfertigung , d.h. einer
Rechtsgrundlage, die diesen Eingriff gestattet. Während Beweisverwertungsverbote nur
ausnahmsweise ein Hindernis für die Führung des Tatnachweises begründen können, wird die
Verwendung der Daten durch VerwendunQsregelungen als Rechtsgrundlagen überhaupt erst
ermöglicht.

30 Für die Rechtfertigung einer zweckändernden Datenverwendung sieht das deutsche


Strafprozessrecht ein gestuftes Regelungssystem vor. Besonders hohe Anforderungen gelten
dabei gemäß § 100 e Abs. 6 StPO für Daten aus einer Online-Durchsuchung , die in besonders
intensiver Form in das besonders hochrangige Grundrecht der informationellen
Selbstbestimmung eingreift. Die Weiterverwendung setzt voraus, dass das neue Strafverfahren
eine schwerwiegende Katalogtat betrifft, zu deren Aufklärung die Maßnahme auch im neuen
Verfahren hätte angeordnet werden können . § 100 e Abs. 6 StPO bestimmt darüber hinaus,
dass in dem neuen Verfahren nur verwertbare" Daten verwendet werden dürfen, wobei die
11

Verwertbarkeit im Ausgangsverfahren gemeint ist (vgl. Rückert in : MünchKomm-StPO, 2. Aufl.


2023 § 100 e Rn . 91 ; vgl. zu § 479 Abs. 2 StPO: Köhler in: Meyer/Goßner, StPO 66 . Aufl.
2023, § 479 Rn . 9) . Die zweckändernde Weiterverwendung wird damit nur für solche Daten
gestattet, die im Ausgangsverfahren verwertbar sind . Daten, die mit einem solchen
Verwertungsverbot „bemakelt" sind, dürfen im neuen Verfahren - auch wenn dieses schwere
Straftaten zum Gegenstand hat - weder zum Tatnachweis noch als Spurenansatz verwendet
werden (vgl. Rückert aaO ., Rn . 77, 89) . Erfasst sind dabei zum einen die im Gesetz
ausdrücklich geregelten Erhebungs- und Verwertungsverbote nach § 100 d StPO, zum
anderen auch die von der Rechtsprechung entwickelten ungeschriebenen Verwertungsverbote ·
(Rückert aaO., Rn . 91 ; Hauck in: Löwe-Rosenberg , StPO 27. Aufl. 2019, § 100 e Rn . 63;
ebenso der Gesetzesentwurf, BT-Drs. 15/4533, S. 17f.).

10
,. ·-- --· --· ··-3f.Fü r die danach vor der Weiterverwendung gebotene Prüfung, ob i1~ A~sg.ang~~~~rf;h;;~--~i~-·-· ---·

Verwertungsverbot besteht, gelten dieselben Grundsätze wie bei einer Verwertbarkeitsprüfung


im Ausgangsverfahren selbst (BGH, Beschluss vom 1. August 2002 - 3 StR 122/02 -, juris
Rn . 12; vgl. oben Rn. 22) . In dem von der Generalanwältin (aaO., Nr. 42) verwendeten
Beispiel, in dem Daten aus einem Münchener Ve1fahren in einem Berliner Verfahren
verwendet werden sollen , wäre demnach zu untersuchen, ob das Münchener Gericht bei der
Anordnung der Maßnahme seinen Beurteilungsspielraum eingehalten hat. Dies wäre bei der
Anordnung einer Telekommunikationsübervi1achung ohne konkreten Tatverdacht nicht der Fall,
so dass die Daten im Berliner Verfahren nicht verwendet werden dürften.

II. Erläuterung der Frage zu 1. : Auslegung des Art. 6 Abs. 1 b) RL EEA

32 a) Nach Art. 6 Abs. 1 b) RL EEA mu~s die Anordnungsbehörde die in der EEA angegebene
Maßnahme am Maßstab des innerstaatlichen Rechts überprüfen. In dem bereits anhängigen
Vorabentscheidungsersuchen C-670/22 hat die Kammer die Ansicht vertreten, dass sich diese
Prüfung bei einer Beweistransfer-EEA auf die der Beweiserhebung im Vollstreckungsstaat
zugrunde liegende Ermittlungsmaßnahme (hier: die Telekommunikationsüberwachung)
erstrecke_n müsse. Der Verlauf der mündlichen Verhandlung und die Schlussanträge der
Generalanwältin deuten allerdings darauf hin, dass stattdessen auf die innerstaatliche
Übermittlung von Daten aus einem Strafverfahren zum Zweck der Nutzung in einem anderen
Strafverfahren abzustellen ist.

33 Auch bei dieser Betrachtungsweise ist es allerdings nach dem Verständnis der Kammer
erforderlich, die Zulässigkeit einer vergleichbaren innerstaatlichen Überwachungsmaßnahme
nach deutschem Recht zu prüfen mit der Folge, dass - mangels konkreten Tatverdachts - hier
auch die Beweistransfer-EEA nicht hätte erlassen werden dürfen.

34 Nach § 100 e Abs. 6 StPO ist - wie oben unter 1.2 dargelegt - die Weiterverwendung von
Daten aus einer Online~Durchsuchung unzulässig, wenn bei Anordnung der Maßnahme kein
konkreter Tatverdacht bestand . Diese Voraussetzung ist nicht erst im Rahmen der
gerichtlichen Hauptverhandlung zu überprüfen, sondern bereits bei der Anforderung der Daten.
So darf die Berliner Staatsanwaltschaft keine Daten aus einer Online-Durchsuchung der
Staatsanwaltschaft München anfordern, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt erkennbar ist, dass
in dem Münchener Verfahren die grundlegenden Voraussetzungen des § 100 b StPO,
insbesondere ein konkreter Tatverdacht, nicht vorlagen . Bereits die Übermittlung der Daten
von München nach Berlin als solche ist ein erheblicher Grundrechtseingriff. Dieser Eingriff ist
nicht gerechtfertigt, wenn von vornherein feststeht, dass die Daten im neuen Verfahren in
keiner Weise - weder unmittelbar für den Tatnachweis noch mittelbar als Ermittlungsansatz für
andere Maßnahmen - genutzt werden dürfen .

35 Auf das unionsrechtliche Vertrauensprinzip kommt es an dieser Stelle nicht an. Das
Vertrauensprinzip verbietet es zwar grundsätzlich, ausländische Maßnahmen auf ihre
Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Darum geht es hier aber nicht: Die im Rahmen des Art. 6 Abs .
11
1 b) RL EEA zu überprüfende Maßnahme ist keine ausländische, sondern eine (fiktive)
innerstaatliche. Wenn man dabei auf die innerstaatliche Datenübermittlung abstellt und deren
Zulässigkeit nach nationalem Recht prüft, muss diese Prüfung sich auf sämtliche in diesem
Zusammenhang nach innerstaatlichem Recht erforderlichen Schritte erstrecken. Soweit also
das innerstaatliche Recht die Datenübermittlung von der Rechtmäßigkeit der Maßnahme
abhängig macht, muss für die Zwecke der Vergleichsprüfung nach Art. 6 Art. 1 b) RL EEA auch
die Rechtmäßigkeit der Maßnahme am Maßstab des innerstaatlichen Rechts geprüft werden.

II!. Erläuterung der Frage zu 2.: Ausleg ung des A rt 6 Abs. 1 a} RL EEA

36 Nach Art .. 6 Abs . 1 a) RL EEA muss der Erlass der EEA für die Zwecke des Verfahrens
notwendig und verhältnismäßig sein. Die Kammer ist der Ansicht, dass diese Voraussetzung
hier nicht en<üllt ist und dass diese Frage auch in die Prüfungskompetenz des Gerichtshofs fällt.

37 1. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vorratsdatenspeicherung greift der


behördliche Zugang zu Daten , die Informationen über Kommunikation des Nutzers oder
dessen Stando1i liefern, in schwerwiegender Weise in die Grundrechte aus Art. 7 und 8 GRCh
ein (Urteil vom 2. März 202i - C-746/18 - ,,Prokuratuur", Rn . 39) . Ein Zugriff auf solche Daten
für Strafverfolgungszwecke kann nur unter folgenden Bedingungen gerechtfertigt sein :

e Es geht um die Bekämpfung schwerer Kriminalität (aaO. , Rn. 35).

o Die schweren Taten werden nicht nur vermutet, sondern es besteht gegen die Person ,
zu deren Daten Zugang begehrt wird , ein konl<reter Verdacht (aaO., Rn . 50).

8 Ein Gericht muss die Einhaltung dieser Voraussetzungen vor dem Zugriff kontrollieren
(aaü., Rn. 51) .

,;, Eine spätere Kontrolle bei der Verwendung der Daten im Strafverfahren macht die
vorherige Kontrolle des Datenzugriffs nicht entbehrlich (aaO., Rn. 58).

38 Diese Rechtsprechung lässt sich auf die hier gegebene Situation übertragen (vgl. dazu das
Vorabentscheidungsersuchen C-670/22 , Rn. 52 ff., 66 ff.; ebenso grundsätzlich auch die
Schlussanträge der Generalanwältin in der Sache C-670/22, Nr. 80 f.). Der Grundrechtseingriff
ist hier sogar noch schwerwiegender als bei der Vorratsdatenspeicherung, da der Zugriff sich
nicht auf Metadaten beschränkt, sondern auch - und in erster Linie - Kommunikationsinhalte
erfasst.

39 Allerdings weist die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen (Nr. 95 ff.) darauf hin, dass es
sich bei der Vorratsdatenspeicherung um eine Massenüberwachung handele und deshalb auf
den konkreten Nutzer bezogene individuelle Umstände erstmals bei der Entscheidung über
den Zugriff auf die Daten geprüft werden könnten . Demgegenüber seien die Daten hier nicht
unterschiedslos von der gesamten Bevölkerung, sondern für die Zwecl<e konkreter
strafrechtlicher Ermittlungen in Frankreich erhoben worden. Der Zugriff durch die EEA habe

12
---·---" - ·- -- · ·skh zudem auf die Nutzer in Deutschland besch~änkt. E~ habe d~r V~rd-~~h·t -b~;t;;d~~-:· cl~;;-·· "·
EncroChat vorwiegend zur Begehung von Straftaten vervvendet werde .

40 Dagegen möchte die Kammer Folgendes zu bedenken geben:

e Eine Speicherung von Vorratsdaten betrifft nur denjenigen Teil der „gesamten
Bevölkerung", der Nutzer des betreffenden zur Speicherung verpflichteten Providers ist.
Dies ist vergleichbar mit der hiesigen Maßnahme, die sich unterschiedslos gegen
sämtliche Nutzer des EncroChat-Dienstes richtete .

~ Die Ermittlungen in Frankreich betrafen in erster Linie die EncroChat-Betreiber.


Individuelle Umstände der Nutzer waren den französischen Behörden nicht bekannt.
Die französischen Gerichtsbeschlüsse, mit denen die Maßnahme genehmigt wurde,
enthalten keine auf sie bezogenen Verhältnismäßigkeitserwägungen .

(,J Ein konkreter Verdacht, dass EncroChat vorwiegend zur Begehung von Straftaten
genutzt werde, bestand weder zum Zeitpunkt der Überwachungsmaßnahme noch zum
Zeitpunkt der EEA. Die Generalanwältin legt hier einen anderen Sachverhalt zugrunde
· als den von der Kammer festgestellten . Das bloße Nutzen von verschlüsselter
Kommunikation begründet für sich genommen keinen konkreten Tatverdacht
irgendeiner Straftat (vgL EGMR, Yai9inkaya v_ Türkiye, Nr. 15669/20, § 9; Akgün v.
Türkiye, Nr. 19699/18, § 173).

o Es kann dahinstehen, ob die unterschieds- und verdachtslose Überwachung sämtlicher


EncroChat-Nuizer nach französischem Recht rechtmäßig war. Ohne spezifische, auf
die betroffenen Nutzer bezogene Erwägungen können die französischen
Gerichtsbeschlüsse jedenfalls die in den Schlussanträgen (Nr. 95 f.) angesprochene
vorgelagerte Kontrollwirkung nicht entfalten und deshalb auch das Kontrollbedüncnis
beim Zugriff auf die Daten nicht verringern. Die Situation ist insofern ähnlich wie in dem
Fall, dass das französische Recht keinen Richtervorbehalt vorsieht und deshalb auch
kein französischer Richter entschieden hat. Für diesen Fall hat die Kommission in der
mündlichen Verhandlung einen Richtervorbehalt für die Beweistransfer-EEA
befürwortet (vgL Schlussanträge Nr. 67) .

41 All dies spricht aus Sicht der Kammer dafür, den Datenzugang nach Art. 6 Abs. 1 a) RL EEA
denselben strengen inhaltlichen Anforderungen zu unterwerfen wie bei Vorratsdaten und die
Prüfung dieser Voraussetzungen einem nationalen Richter zuzuweisen.

42 Die Kammer ist ferner der Ansicht, dass die Beurteilung dieser Fragen in die Kompetenz des
Gerichtshofs fällt. Zwar erscheint es richtig, dass der Gerichtshof zu einer vollständigen
Verhältnismäßigkeitsprüfung häufig nicht in der Lage sein wird, weil ihm die volle Kenntnis aller
relevanten Gesichtspunkte fehlt (vgl. Schlussanträge C-670/22 , Nr. 83) . Dies könnte dafür
sprechen, der Anordnungsbehörde insoweit einen nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum
zuzugestehen . Dieser Spielraum kann sich jedoch nach dem Verständnis der Kammer nicht
13
·-- --- - -· -· · · - auf · die vorgelagerte Frage erstrecken , , welche rechtlich~n -Vorgabe;, ,des,·~;-c:;;;~~~ hts·-···" ..._,_

{vgl. Schlussanträge Nr. 77) die Anordnungsbehörde bei ihrer Abwägung zu beachten hat.

43 Dem Gerichtshof sollte es danach jedenfalls obliegen zu überprüfen, ob die


Anordnungsbehörde ihrer Abwägung einen zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt hat. Dazu
gehört auch die Frage, welche Umstände mit welchem Gewicht in die
Verhältnismäßigkeitsprüfung eingestellt werden dürfen und ob die mit der EEA verfolgten
Zwecke grundsätzlich geeignet sind, den Grundrechtseingrifi zu rechtfertigen. Die Kammer
versteht die Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung dahin , dass der Gerichtshof auch
dort seine Zuständigkeit in diesem Sinne angenommen hat.

44 Wenn also - wie hier - nach dem Unionsrecht der mit der EEA verbundene Eingriff den
konkreten Verdacht einer schweren Straftat voraussetzt, kann die EEA in einem Fall, in dem -
wie hier - ein solcher Verdacht fehlt, unter keinem denkbaren Gesichtspunkt verhältnismäßig
sein . Wenn die Anordnungsbehörde die EEA dennoch erlässt, überschreitet sie den ihr
eingeräumten Spielraum. Es handelt sich dabei nicht um einen Abwägungsfehler im Einzelfall,
sondern um eine der Abstraktion zugängliche Frage. Würde man gleichwohl - wie die
Generalanwältin in den Schlussanträgen Nr. 83 vorschlägt - dem Gerichtshof die
Entscheidung darüber entziehen, würde dies den von Art. 6 Abs. 1 a) RL EEA bezweckten
Schutz leerlaufen lassen und die Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts gefährden.

45 2. Nach P,nsicht der Kammer ist eine Beweistransfer-EEA auch dann unverhältnismäßig, wenn
die Authentizität und Integrität der Daten wegen Geheimhaltungsvorschriften im
Vollstreckungsstaat nicht überprüft werden kann (vgl. dazu zunächst die Ausführungen im
Vorabentscheidungsersuchen C-670/22 , Rn . 69 ff.). Das Recht auf ein faires Verfahren
erfordert es insbesondere, der Verteidigung die den Vorwürfen zugrunde liegenden
Originaldaten zur Verfügung zu stellen (vgl. dazu zuletzt EGMR, Yalyinkaya v. Türkiye,
Nr. 15669/20, §§ 325 ff.; Corte Suprema di Cassazione, sez. 6 vom 26. Oktober 2023
n. 44154/23, unter Nr. 5.1).

46 Auch die Generalanwältin (Schlussanträge C-670/22, Nr. 85) neigt zu der Ansicht, dass die
französische Geheimhaltung die Verteidigungsmöglichkeiten der Betroffenen beeinträchtigt,
meint aber, dies betreffe nur die Zulässigkeit der Beweisverwertung. Dem stimmt die Kammer
insoweit zu , als ein Verstoß gegen die Grundsätze des fairen Vertahrens durch eine
Beschränkung von Verteidigungsmöglichkeiten in jedem Fall - unabhängig von Fragen im
Zusammenhang mit der RL EEA - vom erkennenden Gericht bei der Frage der Verwertbarkeit
zu berücksichtigen ist. Das schließt es aber nicht aus, diesen Umstand auch schon in die
Prüfung nach Art. 6 Abs. i a) RL EEA einzustellen. Wenn - wie hier - schon zum Zeitpunkt der
EEA ausgeschlossen ist, dass die Verteidigung die Beweise in der durch den Grundsatz des
fairen Verfahrens gebotenen Weise wird nachprüfen können, ist es für die Zwecke eines fairen
Strafvertahrens nicht erforderlich und damit auch nicht verhältnismäßig , diese Beweise
anzufordern.

14
47 Auch auf diese Frage sollte sich nach dem Verständnis der Kammer die Zuständigkeit des
Gerichtshofs erstrecken . Es handelt sich um eine der Verallgemeinerung zugängliche Frage
des Unionsrechts, an deren einheitlicher Beantwortung durch den dazu berufenen Gerichtshof
ein erhebliches, über den hiesigen Einzelfall hinausreichendes Interesse besteht. Individuelle
Umstände, von denen der Gerichtshof keine ausreichende Kenntnis haben könnte, sind hier
nicht betroffen. Auch ein de~ Anordnungsbehörde zuzugestehender Beurteilungsspielraum ist
hier nicht betroffen, zumal die Anordnungsbehörde die Frage der Geheimhaltung offensichtlich
in ihre Abwägung nicht eingestellt, sondern im Gegenteil im Verlauf des weiteren Verfahrens
die Beeinträchtigung der Verteidigungsmöglichkeiten durch die Verweigerung der Einsicht in
ihre Ermittlungsakten weiter vertieft hat.

IV. Frage zu 3.: Rechtsfolgen von Verstößen gegen Unionsrecht

48 Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es grundsätzlich Sache


des nationalen Rechts, die Rechtsfolgen von Verstößen gegen Unionsrecht zu regeln . Die
C Generalanwältin vertritt dementsprechend in ihren Schlussanträgen in der Sache C-670/22 die
Ansicht, dass auch die Rechtsfolgen etwaiger Unionsrechtsverstöße im Zusammenhang mit
den EncroChat-Daten allein von den nationalen Gerichten zu beurteilen (aaO ., Nr. 116 ff., Nr.
127) und die unionsrechtlichen Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität insoweit nicht
anwendbar seien (aaO ., Nr. 128).

49 Demgegenüber entnimmt die Kammer der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Urteil vom
2. März 2021 - C-746/18 - ,, Prokuratuur"), dass

0 die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der Effektivität


begrenzt wird (aaO. , Rn . 42),

(')
der Effektivitätsgrundsatz den Beschuldigten eines Strafverfahrens vor Nachteilen
durch unionsrechtswidrig erlangte Beweise schützen soll (aaO ., Rn. 43) ,
(
das nationale Gericht zur Umsetzung dieser Vorgabe mehrere Möglichkeiten hat
(Ausschluss der Beweise, Berücksichtigung bei der Beweiswürdigung oder bei der
Strafzumessung - aaO ., Rn . 43), von denen es aber mindestens eine nutzen muss,
und

e im Einzelfall der Effektivitätsgrundsatz das Gericht sogar zum Ausschluss der Beweise
verpflichten kann (aaO. , Rn . 44).

50 Nach den Schlussanträgen der Generalanwältin soll der Grundsatz der Effektivität hier nicht
einschlägig sein, weil dieser nur der Durchsetzung von unionsrechtlichen Individualrechten
diene, das Unionsrecht aber kein Individualrecht auf die Unzulässigkeit von Beweisen kenne
(Schlussanträge Nr. 129) . Demgegenüber soll nach dem Verständnis der Kammer die
Unzulässigkeit der Beweise kein durchzusetzendes Individualrecht sein , sondern ein Mittel zur
Durchsetzung der Individualrechte aus Art. 6 Abs. 1 a), b) sowie Art. 31 RL EEA. Die Kammer
entnimmt der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich aus dem Effekiivitätsgrundsatz
Vorgaben insbesondere für die Durchsetzung des Rechts auf Beachtung des unionsrechtlichen
Verhältnismäßigkeitsgebots ergeben können. Für den Fall, dass dieses Verständnis der
Kammer unzutreffend sein sollte, wird der Gedchtshof um eine Erläuterung gebeten , wie die
oben zitierten Passagen zu verstehen sind.

C. Eilbedürftigkeit

51 Der Gerichtshof wird gebeten, die Sache im beschleunigten Verfahren bzw. mit Vorrang zu
behandeln . Es ist offen, ob die Aufhebung des Haftbefehls und Entlassung des Angeklagten
aus der Untersuchungshaft Bestand haben werden . Das hiesige Vorabentscheidungsersuchen
könnte sich allerdings erledigen und zurückgenommen werden, wenn die Fragen im Rahmen
der Entscheidung im Verfahren C-670/22 beantwortet werden.

(
Klimke Petersen Koch
Vorsitzende Richterin am Landgericht Richterin Richter am Landgericht

Strafkammer 525

Für die Richtigkeit der Abschrift


Berlin, 14.11 .2023

Durch maschinelle Bearbeitung beglaubigt - ohne Unterschrift gültig.

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