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72 Teil II.

Das Ermittlungsverfahren

§ 6 Die speziell geregelten grundrechtsbeeinträchtigenden


Maßnahmen im Ermittlungsverfahren

198 Das Gesetz stellt den Strafverfolgungsorganen ein umfangreiches Instrumentarium


von Maßnahmen, die mit – zum Teil erheblichen – Grundrechtsbeeinträchtigungen
verbunden sind und deshalb in den Generalklauseln der §§ 161 I 1, 163 I 2 keine
hinreichend bestimmte Grundlage finden können, zur Verfügung.

I Grundlagen
1. Terminologie
199 In der Literatur werden die Eingriffsbefugnisse der Strafverfolgungsorgane häufig
pauschal als strafprozessuale Zwangsmaßnahmen bezeichnet. Dieser Terminus
kennzeichnet jedoch nur einen Teil der grundrechtsbeeinträchtigenden Ermitt-
lungshandlungen. Zahlreiche Maßnahmen im Ermittlungsverfahren sind zwar
tatsächlich zwangsbewehrt, d.h., sie können durch die Androhung und Anwendung
von Beugemitteln oder von unmittelbarem Zwang gegen den Willen des Betroffe-
nen durchgesetzt werden. Zwangsmaßnahmen beeinträchtigen deshalb die allge-
meine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) bzw. die körperliche Unversehrtheit und
die Freiheit der Person (Art. 2 II 1,2 GG). Nicht wenige Maßnahmen greifen aber
in andere Grundrechte ein, z.B. in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis
(Art. 10 I GG), das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) oder
das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Für alle diese Maßnahmen
gilt, dass sie eine spezielle gesetzliche Grundlage erfordern, wenn sie das betrof-
fene Grundrecht wesentlich beeinträchtigen (Rn. 134 f., 147). Dies ist bei den
Zwangsmaßnahmen ebenso der Fall wie bei Eingriffen in Art. 10, 13 GG, und
auch Zugriffe auf nicht allgemein zugängliche personenbezogene Daten sind als
wesentliche Beschränkungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung
nur auf einer speziellen gesetzlichen Grundlage zulässig (Rn. 135).

2. Die unterschiedlichen Zweckrichtungen der Maßnahmen


200 Die mit Grundrechtsbeeinträchtigungen verbundenen Ermittlungsmaßnahmen
verfolgen unterschiedliche Ziele1.
(a) Sicherung des Erkenntnisverfahrens
201 Ganz überwiegend bezwecken sie die Sicherung des Erkenntnisverfahrens. Die
StPO gestattet den Strafverfolgungsorganen zur Klärung des Tatverdachts und
zur Vorbereitung des Hauptverfahrens zahlreiche Ermittlungshandlungen, z.B.
die körperliche Untersuchung, die Durchsuchung oder die Beschlagnahme, um die
Herbeischaffung der Beweise zu ermöglichen, die für die Beurteilung der Schuld
und für die Bemessung der Sanktionen voraussichtlich bedeutsam sein werden.
Der Sicherung des Erkenntnisverfahrens dient darüber hinaus die Sicherstellung
der Anwesenheit des Beschuldigten – notfalls durch seine Inhaftierung –, weil
—————
1
Amelung, JZ 1987, 737, 738 ff.; Schroeder, JZ 1985, 1028 ff.
§ 6 Geregelte grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen im Ermittlungsverfahren 73

gegen einen abwesenden Angeklagten die Hauptverhandlung nicht durchgeführt


werden kann (§ 230 I).
(b) Sicherung des Vollstreckungsverfahrens
Andere mit Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen im Stadium des Er- 202
mittlungsverfahrens dienen der Sicherung des Vollstreckungsverfahrens. Beispiele
für diese „Art“ von Ermittlungsmaßnahmen sind §§ 111b, 111d, die zur Sicherung
des Verfalls, der Einziehung, der Wertersatzeinziehung, der Geldstrafe und sogar
der Kosten des Strafverfahrens die Anordnung der Beschlagnahme von Gegen-
ständen und des dinglichen Arrests erlauben. Diese Sicherungsmaßnahmen garan-
tieren die Vollstreckung der Rechtsfolgen, die endgültig erst im Urteil festgesetzt
werden, indem sie das Beiseiteschaffen der Sachen oder der sonstigen Vermö-
gensgegenstände durch den Beschuldigten oder einen Dritten und damit das Leer-
laufen des Urteils verhindern.
(c) Vorläufige Maßregelverhängung zur Sicherung der Allgemeinheit
Völlig anders geartet ist die dritte Kategorie von Maßnahmen im Ermittlungs- 203
verfahren, die eine vorläufige Maßregelverhängung zur Sicherung der Allgemein-
heit zum Gegenstand haben. Es handelt sich dabei um einen „Vorwegvollzug“
einer strafrechtlichen Sanktion ohne rechtskräftiges Urteil. Der Vollstreckung
einer Strafe ohne abschließende richterliche Entscheidung steht die Unschulds-
vermutung des Art. 6 II EMRK entgegen. Für die Maßregeln der Besserung und
Sicherung (§ 61 StGB), die nicht notwendig ein schuldhaftes Handeln des Täters
voraussetzen, gilt die Unschuldsvermutung dagegen naturgemäß nicht. Einzelne
dieser Maßregeln, die dem Schutz der Allgemeinheit dienen, können vorläufig,
d.h. vor Rechtskraft der strafrichterlichen Entscheidung, verhängt werden.

Beispiel: Der Polizeibeamte P hielt den Pkw des B um 1.30 Uhr an, weil B in Schlan-
genlinien fuhr. P bemerkte, dass B angetrunken war. Ein Atemlufttest ergab eine Blut-
alkoholkonzentration in Höhe von etwa 1,5‰. P veranlasste daraufhin die Entnahme ei-
ner Blutprobe zur exakten Bestimmung der Blutalkoholkonzentration.

Die Blutentnahme (§ 81a I 2) dient der Sicherung des Erkenntnisverfahrens, 204


indem der Beweis für die Fahruntüchtigkeit des B, eine tatbestandliche Vorausset-
zung des § 316 StGB, erhoben wird. Damit ist es in dieser Situation aber nicht
getan. Zum einen besteht die Gefahr, dass B nach der Blutentnahme in sein Auto
steigt und im fahruntüchtigen Zustand weiterfährt, zum anderen ist zu vermuten,
dass sich B durch die Trunkenheitsfahrt als ungeeignet zum Führen eines Kraft-
fahrzeuges erwiesen hat (vgl. § 69 II Nr. 2 StGB) und er deshalb, auch wenn er in
nüchternem Zustand mit seinem Auto fährt, die Allgemeinheit gefährdet. Die
Ungeeignetheit des B wird aber erst später durch ein – rechtskräftiges – Strafurteil
festgestellt. Das Gesetz gewährt den Interessen der Allgemeinheit gleichwohl den
Vorrang, indem es vorläufige Sicherungsmaßnahmen zulässt. In unserem Fall wird
folgendermaßen verfahren: P stellt gemäß § 94 III den Führerschein des B sicher.
Die Beschlagnahme erfolgt zwar nicht zur Beweissicherung, weil der Führer-
schein keine Bedeutung für die Beweisführung im Strafverfahren gegen B besitzt.

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