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Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft

Überlegungen zum epistemischen Status


kriminalwissenschaftlicher Forschung

Christian Bachhiesl

1. Kriminalwissenschaftliches Methodenkarussell

Die Geschichtswissenschaft und die Kriminalwissenschaft haben, obwohl als uni-


versitäre Fachwissenschaften mittlerweile etabliert (die eine mehr, die andere weni-
ger), eine gewisse Unsicherheit in ihrer epistemologischen Grundlage gemein, so-
dass es weder dem interessierten Laien noch dem gelehrten Fachmann leicht fällt,
in nuce zu sagen, worin denn nun genau das Wissenschaftliche dieser Disziplinen
bestehe� Vielleicht beruht gerade hierauf das recht beliebte Hin- und Herverwei-
sen zwischen diesen beiden Fächern: Die Historiker behaupten, sie arbeiten wie
die Kriminalwissenschafter, und die Kriminalwissenschafter ihrerseits verweisen
bisweilen auf die Vorbildwirkung der Geschichtswissenschaft� Zwei Beispiele mö-
gen dies belegen� So schreibt etwa der Wissenschaftstheoretiker Helmut Seiffert
über die Arbeitsweise der Historiker: „Die unabsichtlich überlieferten Quellen sind
im laufenden Alltag ohne Gedanken an geschichtliche Information entstanden� Sie
werden daher vom Historiker als ‚Indizien‘ ausgewertet, so wie die Tatspuren durch
den Kriminalisten�“1 Und weiter: „Gerade weil wir, wie die Kriminalisten, die Ge-
schichte aus der unabsichtlichen Überlieferung rekonstruieren, verfügen wir über
ein Geflecht sich gegenseitig stützender, gegen Fälschung, im ganzen genommen,
völlig immuner Belege�“2
Auf der anderen Seite verwies schon Hans Gross, einer der Gründerväter der Kri-
minalwissenschaft als eigener universitärer Disziplin,3 der in dieser kurzen Untersu-

1 Helmut Seiffert, Einführung in die Wissenschaftstheorie, Bd� 2: Geisteswissenschaftli-


che Methoden: Phänomenologie – Hermeneutik und historische Methode – Dialektik
(München 112006), S� 75�
2 Seiffert, Wissenschaftstheorie, Bd� 2, S� 98; weitere Verweise auf den kriminalistischen
Charakter der historiographischen Methodik finden sich u� a� auf S� 128 und 142f�
3 Zu Hans Gross und seiner Bedeutung für die Institutionalisierung der Kriminologie
vgl� u� a� Christian Bachhiesl, Die Grazer Schule der Kriminologie� Eine wissenschafts-
geschichtliche Skizze, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 91, 2
(2008), S� 87 – 111, 88 – 93; Christian Bachhiesl, Blutspuren� Zur Bedeutung des Blutes
in der Kriminalwissenschaft um 1900, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33, 1
(2010), S� 7 – 29, 8 – 11, jeweils mit weiterführenden Literaturangaben�
82 Christian Bachhiesl

chung als Stellvertreter und Musterbeispiel gleichsam pars pro toto für seine Disziplin
stehen soll, auf die ähnliche Methodik von Geschichts- und Kriminalwissenschaft:
„In gewisser Richtung steht unserer Arbeit vielleicht die des Historikers am nächs-
ten, der in der eigentlichen wissenschaftlichen Untersuchung nichts anderes thut,
als Menschen und Ereignisse in geordnetes Causalitätsverhältnis zu bringen�“4 – Die
Menschen und Ereignisse in ein „geordnetes Causalitätsverhältnis“ zu bringen, das
ist in der Tat eine für den Historiker unumgängliche Sache, da die Quellen, auf de-
nen die Arbeit des Historikers beruht, für sich selbst genommen noch keine Sinnzu-
sammenhänge offenbaren� Das Verständnis dessen, das da historiographisch rekon-
struiert werden soll, der Nachvollzug der kausalen Zusammenhänge und damit die
Konstitution ‚geordneter Kausalitätsverhältnisse‘ mag in oder hinter den Ereignissen
verborgen liegen, darstellbar sind sie aber nur mit Hilfe von Ordnungsschemata, die
die Geschichtsschreiber über die zu erforschenden und nachzuerzählenden Ereig-
niszusammenhänge (eben der „Menschen und Ereignisse“, von denen Hans Gross
sprach) legen:5 „Es ist die Aufgabe des Historikers, der den Zeugnissen der Vergan-
genheit begegnet, Ordnung in das Chaos der historischen Funde zu bringen� Die
Geschichte ist die Entlegitimierung, die Vernichtung der gelebten Vergangenheit�
Die Geschichte ist unvernünftig, vernünftig ist höchstens deren Analyse�“6 Hans
Gross scheint hier mit der Verwandtschaft zwischen historischer und kriminalwis-
senschaftlicher Methode eine strukturelle Gemeinsamkeit zweier an sich nicht un-
mittelbar miteinander in Bezug stehender Wissenschaftszweige angesprochen zu
haben, und die Beeinflussung historiographischer Methodik durch strafrechtliche
und kriminalwissenschaftliche Vorgaben und umgekehrt (sowie beider Disziplinen
durch die Kriminalliteratur und umgekehrt) und das dabei sichtbar werdende Zu-
sammenwirken von Rechtswissenschaft, Geisteswissenschaft und Literatur ist auch
in der Tat ein spannendes Kapitel der Wissenschafts- und Kulturgeschichte, das
hier allerdings nicht im Zentrum stehen und daher auch nicht weiter nachvollzogen
werden soll�7

4 Hans Gross, Criminalpsychologie (Graz 1898), S� 146�


5 Zum Verhältnis von historischen Ereignisabläufen und den von Historikern darüber
gelegten Sinn- und Ordnungsstiftungsschemata in Bezug auf die Geschichte der Kri-
minologie vgl� Christian Bachhiesl, Das Jahr 1938 und die Grazer Kriminologie� Gebro-
chene Kontinuitäten in einer aufstrebenden Wissenschaftsdisziplin, in: Friedrich Bou-
vier, Nikolaus Reisinger (Hrsg�), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd� 38/39 (Graz
2009), S� 93 – 120, 93 – 95�
6 Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte� Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault
(München 2005), S� 26� Etwas weniger dramatisch formuliert diesen Umstand Günter
Vogler: „Historische Epochen mit ihren unterschiedlichen Tendenzen in ihrem Sinn-
gehalt zu ergründen und Zäsuren zu setzen, ist eine Aufgabe des Historikers�“ (Günter
Vogler, Probleme einer Periodisierung der Geschichte, in: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg�),
Geschichte� Ein Grundkurs (Reinbek bei Hamburg ³2007), S� 253 – 263, 253�)
7 Vgl� Achim Saupe, Der Historiker als Detektiv – der Detektiv als Historiker� Historik,
Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman (Bielefeld 2009); vgl�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 83

Aber ist, wenn Hans Gross von Kausalität spricht, wirklich dieselbe Sache ge-
meint, die die Historiker mit diesem Terminus bezeichnen? Vordergründig scheint
ja alles klar zu sein: Wie gewisse soziale, politische, militärische etc� Ursachen zu
historischen Ereignissen führen (etwa zur Französischen Revolution), so führen
eben auch bestimmte gesellschaftliche und individuelle Ursachen zu Verbrechen�
Gross erläutert dies unter Verwendung eines längeren Zitats des Experimentalpa-
thologen (und nicht etwa eines Historikers!) Salomon Stricker:8

„‚Die Geschichte wird erst durch die causale Verknüpfung der Ereignis-
se geschaffen� Unverknüpft bleibt jedes Ereignis für sich stehen, sie sind
nur Chroniken� Der Historiker, der z� B� die französische Revolution be-
schreibt, könnte nur wirken, wenn er sagt: das ist die causale Kette, aus
der sich die Revolution ergeben hat� Nun stelle ich Euch das Frankreich
v o r der Revolution her und schalte nur jene Ereignisse ein, die ich als
Bedingungen anerkenne – und die Revolution kommt� Jetzt stelle ich das
Frankreich nochmals her vor der Revolution und schalte die Bedingun-
gen aus – und die Revolution kommt nicht�‘ Niemand zweifelt, dass dies
die ideale und einzig belehrende, weil überzeugende Art der Geschichts-
schreibung ist, ebenso kann aber auch niemand zweifeln, dass genau die-
selbe Methode der Beweisführung in unserem Fache ebenfalls die ideale
sein muss: Das ist die causale Kette, aus der sich das vom A begangene
Verbrechen ergeben hat� Nun stelle ich Euch die ganze Sachlage vor dem
Verbrechen her und schalte nur jene Ereignisse ein, die sich ausschließ-
lich mit der Thäterschaft des A verknüpfen lassen – und das Verbrechen
erscheint begangen� Jetzt stelle ich die Sachlage wieder her vor dem Ver-
brechen und schalte alle Ereignisse aus, welche ausschließend nur dann
verknüpfbar sind, wenn der A nicht der Thäter ist – und das Verbrechen
bleibt aus�“9

Hans Grossens in dieser Passage plastisch zum Ausdruck kommendes Verständnis


von Kausalität ist ein positivistisches� Die historischen Ereignisse wie die indivi-
duellen und sozialen Umstände, die zu Verbrechen führen, erscheinen als faktisch
Gegebenes, das durch wissenschaftliche, soll heißen empirische Beobachtung und

auch Karl Härter, Die Entwicklung des Strafrechts in Mitteleuropa 1770 – 1848: Defen-
sive Modernisierung, Kontinuitäten und Wandel der Rahmenbedingungen, in: Rebek-
ka Habermas, Gerd Schwerhoff (Hrsg�), Verbrechen im Blick� Perspektiven der neuzeitli-
chen Kriminalitätsgeschichte (Frankfurt am Main, New York 2009), S� 71 – 107�
8 Gross zitiert hier aus Strickers 1883 in Wien erschienenem Werk „Studien über die
Association der Vorstellungen“; zu Salomon Stricker vgl� Allgemeine Deutsche Biogra-
phie (ADB), Bd� 54 (Nachträge bis 1899: Scheurl-Walther) (Leipzig 1908), S� 622f�, s�v�
Stricker: Salomon�
9 Gross, Criminalpsychologie, S� 147�
84 Christian Bachhiesl

durch das Durchführen von (Gedanken-)Experimenten10 ohne weiteres erklärt


werden könne� Kausalität wird somit als etwas aufgefasst, das stets in der gleichen
Weise zwischen Ursachen und Wirkungen die nämlichen Bande knüpft, und zwar
notwendig und alternativenlos� Eine so verstandene Kausalität weise demnach na-
turgesetzlichen Charakter auf�11 Hans Gross hat hierbei nicht beachtet, dass in den
Geisteswissenschaften und somit auch in der Geschichtswissenschaft auch schon zu
seiner Zeit ein anderes Verständnis von Kausalität die Basis methodologischer Über-
legungen bildete, demzufolge Kausalität nicht zwingend naturgesetzlicher Status
zukommt� Hier ist auf Wilhelm Dilthey zu verweisen, der anstelle des in den Natur-
wissenschaften üblichen, auf Naturgesetze rekurrierenden Erklärens auf das geis-
teswissenschaftliche Verstehen setzte; nicht das streng gesetzmäßige Zurückführen
von Phänomenen und Ereignissen auf mit deterministischer Unausweichlichkeit
ablaufende Kausalketten war das Credo von Diltheys „Kritik der historischen Ver-
nunft“, sondern das „Oszillieren zwischen psychologischer und hermeneutisch-kul-
turphilosophischer Argumentation“�12 Anstatt sich der Aufdeckung angeblich klarer
naturgesetzlicher Abläufe zu verschreiben, schuf Dilthey „einen neuen Typus der
philosophischen Fundamentallehre, in dem Transzendentalität und Faktizität eine
sich differenzierende Einheit bilden�“13 Unter diesem Blickwinkel verliert das schein-
bar so einfache Verweisen auf die sich in Kausalabläufen notwendigerweise abbil-
dende Naturgesetzlichkeit an Überzeugungskraft – wie bei genauerer Betrachtung
der Begriff des Naturgesetzes auch, der nur vordergründig erklären kann, warum
sich die Dinge so und nicht anders ereignen�14 Selbst Naturwissenschafter sprachen
schon in den 1870er-Jahren davon, dass das naturwissenschaftliche Naturerkennen
vorwiegend das Kausalitätstbedürfnis der Naturforscher befriedige und dass der
strenge naturwissenschaftliche Kausalbegriff bloß das „Surrogat einer Erklärung“
sei, wie der Physiologe Emil Du Bois-Reymond in seiner berühmten „Ignorabimus-
Rede“ formulierte�15 Und Geisteswissenschafter wie der Neukantianer und Wissen-

10 Dass derlei Gedankenexperimente, wie sie Hans Gross hier im Sinn hat, bei genauerer
Betrachtung eher als bloße Gedankenspielereien zu betrachten sind, weil sie auch in Ge-
danken keinen experimentellen Charakter aufweisen, ist ein hier nicht weiter zu erör-
ternder Punkt; vgl� Ulrich Kühne, Die Methode des Gedankenexperiments (Frankfurt
am Main 2005)�
11 Zur naturwissenschaftlichen Kausalität aus heutiger Sicht vgl� Michael Esfeld, Christi-
an Sachse, Kausale Strukturen� Einheit und Vielfalt in der Natur und den Naturwissen-
schaften (Berlin 2010)�
12 Zu Diltheys historischer Hermeneutik vgl� Erwin Hufnagel, Einführung in die Herme-
neutik (St� Augustin 2000), S� 140 – 254; hier: 216�
13 Hufnagel, Einführung in die Hermeneutik, S� 238�
14 Zu verschiedenen Konzepten der Naturgesetzlichkeit vgl� Michael Hampe, Eine kleine
Geschichte des Naturgesetzbegriffs (Frankfurt am Main 2007)�
15 Emil Du Bois-Reymond zit� nach Myriam Gerhard, Du Bois-Reymonds Ignorabi-
mus als naturphilosophisches Schibboleth, in: Kurt Bayertz, Myriam Gerhard, Walter
Jaeschke (Hrsg�), Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19� Jahrhun-
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 85

schaftsphilosoph Heinrich Rickert zeigten auf, dass „Kausalität und Naturgesetz


(der Kausalität) […] also scharf zu unterscheiden“ seien, dass grundsätzlich „Gesetze
keine Realität begründen“ können und dass die Gesetzesbegriffe der Wissenschaf-
ten keine Wirklichkeiten erzeugen, sie aber umbilden – kurzum: neben dem (natur-
wissenschaftlichen) Kausalitätsgesetz gebe es noch die „geschichtliche Kausalität“,
die nicht allgemein, sondern individuell und nicht notwendig, sondern kontingent
sei�16 Rickert unterschied also folgerichtig zwischen dem Kausalitätsprinzip (alles hat
eine Ursache) und dem Kausalitätsgesetz (gleiche Ursachen haben immer gleiche
Wirkungen): „Die Voraussetzung, daß alles Geschehen seine Ursache hat, wollen
wir, um sie von den Naturgesetzen der empirischen Wissenschaften zu unterschei-
den, nicht Kausalitätsgesetz, sondern Grundsatz der Kausalität oder Kausalitätsprin-
zip nennen� Es ist damit nichts anderes gesagt, als daß die Kategorie der Kausalität
für jede empirische Wirklichkeit gilt�“17
Grundsätzlich ist also festzuhalten, dass „im 19� Jahrhundert in Philosophien,
Wissenschaften und Künsten ein neuer Geist [entsteht], der sein Veto gegen den
Materialismus und den Positivismus einlegt; er ist auf das Subjekt zentriert, kritisch
und methodisch skeptisch�“18 Diesen methodisch skeptischen Geist aber negierten
Hans Gross und die ihm folgenden Kriminalwissenschafter geflissentlich� Obwohl
Hans Gross sich recht eingehend mit den heißen epistemologischen Eisen Beweis,
Kausalität, Skepsis, Empirie usw� auseinandersetzte, Gedanken über die Natur des
Wissens wälzte und dabei auf erkenntnistheoretische Klassiker ebenso wie auf zahl-
reiche zu seiner Zeit brandaktuelle Autoren verwies19 – sein Lesepensum war of-
fensichtlich enorm – blieb sein Begriff von Kausalität doch einem positivistischen
(oder vielleicht besser: naiv realistischen), eher unkritischen empirischen Programm
verpflichtet� Der Vergleich der Kriminalwissenschaft mit der Geschichtswissen-
schaft und der Hinweis auf die Verwandtschaft dieser beiden Fächer waren doch
nur recht oberflächlicher Natur bzw� wurzelten in einem unvollständigen, selekti-
ven Verständnis von Geschichtswissenschaft� Wenn es um die grundlegende Me-
thode ging, so hatte Gross geisteswissenschaftliche Konzepte kaum im Sinn – er
huldigte dem Motto „Die Jurisprudenz muss eine Naturwissenschaft werden“,

dert, Bd� 3: Der Ignorabimus-Streit (Hamburg 2007), S� 241 – 252, 246�


16 Alle hier gebrachten Zitate bei Alexander Riebel, Die Konstitution der Wirklichkeit
in den Wissenschaften – Zur philosophischen Begründung des Gesetzesbegriffs bei
Heinrich Rickert, in: Wolfgang Bock (Hrsg�), Gesetz und Gesetzlichkeit in den Wissen-
schaften (Darmstadt 2006), S� 157 – 168, 166�
17 Heinrich Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung – Eine lo-
gische Einleitung in die historischen Wissenschaften (Tübingen 51929), S� 376�
18 Hans Jörg Sandkühler, Repräsentation – Grenzen und Entgrenzung der Erkenntnis� Von
der Abbildung der Realität zur Befreiung des Sehens phänomenaler Wirklichkeit, in:
Bayertz, Gerhard, Jaeschke, Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft, Bd� 3,
S� 205 – 240, 212�
19 Vgl� Gross, Criminalpsychologie, S� 130 – 235�
86 Christian Bachhiesl

begrüßte euphorisch, dass es nun so scheine, „als ob man darankäme, wirklichen,


naturwissenschaftlichen Zug in die Disciplin und ihre Anwendung zu bringen“, 20
und beharrte darauf, dass „das eigentliche, moderne, naturwissenschaftliche Ver-
fahren“ darin bestehe, „dass man den C o m p l e x von Bedingungen, die sich für
das Zustandekommen eines gewissen E f f e c t e s als maßgebend erwiesen haben,
c o n s t a n t zu erhalten sucht, dass man eine dieser Bedingungen v a r i i e r t ,
isoliert von den übrigen und in numerisch f i x i e r b a r e r Weise, und dass man
auf der Seite des Effectes in einer Messung oder Zählung die begleitende V e r ä n -
d e r u n g constatiert�“21 Es ging Gross also darum, in seit Francis Bacon üblicher
und stets verfeinerter Manier reproduzierbare Versuchsanordnungen zu schaffen,
deren verschiedene Elemente verändert werden sollten, worauf die dadurch erzielten
Abweichungen der Versuchsergebnisse im Hinblick auf die Aussagekraft der hin-
ter der Versuchsanordnung stehenden Modelle bzw� Prämissen analysiert werden
sollten�22 Kausalität hat hierbei wie gesagt streng naturgesetzlichen Charakter, und
ein fundamentales Vertrauen in die Verlässlichkeit von Beobachtungen und Mes-
sungsergebnissen wird hier ebenfalls sichtbar�23 Hans Gross ging also davon aus,
dass Menschen und ihr Verhalten im Grunde quantifizierbar, kategorisierbar und
messbar sind – Prämissen, die einem in der jüngeren wissenschaftsgeschichtlichen
Forschung als mechanisch bezeichneten Konzept von Objektivität 24 verpflichtet sind
(und das, obwohl es mittlerweile von anderen Idealformen von Objektivität abgelöst
resp� ergänzt wurde, auch so manchem heutigen Naturwissenschafter so fremd nicht
sein dürfte)�
Dennoch war Hans Gross davon überzeugt, den Anforderungen der geisteswis-
senschaftlichen Methodik ebenso genüge zu tun wie den Vorgaben der Naturwis-
senschaften� Der methodologische Eklektizismus, dem Gross huldigte, stand eben
unter positivistischen Vorzeichen und führte dazu, dass ein zu unkritisches grund-
sätzliches Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der methodisch scheinbar vielfältig
abgesicherten kriminologischen Forschung die epistemischen Mängel überdeckte,
welche dem festen Glauben an die unumstößliche Begründetheit der eigenen Po-

20 Gross, Criminalpsychologie, S� 12�


21 Gross, Criminalpsychologie, S� 13�
22 Zu Francis Bacons Konzept von Wissenschaft vgl� Martin Carrier, Wissenschaftstheo-
rie zur Einführung (Hamburg 2006), S� 16 – 26; James Ladyman, Understanding Philo-
sophy of Science (London, New York 62008), S� 18 – 27�
23 Zum wissenschaftlichen Beobachten und Messen vgl� Olaf Breidbach, Bilder des Wis-
sens� Zur Kulturgeschichte der wissenschaftlichen Wahrnehmung (München 2005);
Volker Hess, Messen und Zählen� Die Herstellung des normalen Menschen als Maß
der Gesundheit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 22 (1999), S� 266 – 280� Als
Klassiker der Kritik am wissenschaftlichen Messen sei genannt: Stephen Jay Gould, Der
falsch vermessene Mensch (Frankfurt am Main 1988)�
24 Zur „mechanischen Objektivität“ vgl� Lorraine Daston, Peter Galison, Objektivität
(Frankfurt am Main 2007), S� 121 – 265�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 87

sition des Öfteren entspringen mögen� Hans Grossens Konzept einer „‚enzyklopä-
dischen‘ Kriminologie“25 musste, wollte sie ihrem wissenschaftsuniversalistischen
Selbstverständnis gerecht werden, gleichsam zwangsläufig zu einer Blindheit den
damit einhergehenden epistemologischen Schwierigkeiten gegenüber führen�26 Die
Berufung auf naturwissenschaftliche, programmatisch an der (klassischen) Physik
orientierte, vor allem aber biologistisch inspirierte und motivierte methodologische
‚Tugenden‘ brachte, in Verbindung mit einem durchaus als naiv zu bezeichnenden
Realismus, eine epistemologische Skepsisvergessenheit mit sich, die dem Absolutset-
zen von Spekulationen und vor- und außerwissenschaftlichen (etwa politischen und
weltanschaulichen) Positionen Tür und Tor öffneten�27 Daran konnte dann auch die
immer wieder von Gross propagierte Vorsicht vor voreiligen Verallgemeinerungen
und unzulässigen forscherlichen Kurzschlüssen und Schnellschüssen nichts mehr
ändern� Die gravitätische Gewissheit des methodologisch sich auf festem Boden
wähnenden Fachmanns ließ schwerwiegendere Zweifel gar nicht erst aufkommen�28
Eine Berücksichtigung der von Gross geflissentlich außer Acht gelassenen, nicht
mit starrer Naturgesetzlichkeit verbundenen Formen von Kausalität – hier sei noch-
mals auf Heinrich Rickerts „geschichtliche Kausalität“29 verwiesen – wäre allerdings
bei den vielschichtigen und heterogenen Untersuchungsgegenständen der Kriminal-
wissenschaft durchaus angebracht gewesen� Bei nahezu allen Sachverhalten, Ereig-
nisabläufen, Objekten, Sinnzusammenhängen und individuellen Prädispositionen
sowie ‚Wesenszügen‘ von Zeugen, Opfern und Kriminellen nämlich, die krimi-
nalwissenschaftlich unter die Lupe genommen wurden, scheint es mir so zu sein,
dass nicht nach einer – naturwissenschaftlich-exakt letztlich immer zu fassenden –
Wahrheit gesucht wurde, sondern nach verschiedenen Aspekten der Wahrheit, die
sich in ihrer epistemischen Erfassbarkeit und damit auch in den methodologischen
Voraussetzungen für ihre Erforschbarkeit fundamental unterscheiden�

25 Hans Göppinger, Kriminologie (München 41980), S� 1�


26 Vgl� hierzu Bachhiesl, Blutspuren, v�a� S� 9 – 11 und 19 – 22�
27 Vgl� hierzu Christian Bachhiesl, Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit
biologistisch zentrierter Kriminalwissenschaft, in: Kriminologisches Journal 42� 4
(2010), S� 263 – 275�
28 Zur Überlagerung bester methodologischer Absichten und Vorsätze durch sozusagen
durch untersuchungsrichterliche und kriminalwissenschaftliche Weihen geadeltes All-
tagswissen vgl� Christian Bachhiesl, Bemerkungen zur kriminologischen Physiognomik
und zu ihren antiken Wurzeln, in: Peter Mauritsch u� a� (Hrsg�), Antike Lebenswelten�
Konstanz – Wandel – Wirkungsmacht� Festschrift für Ingomar Weiler zum 70� Ge-
burtstag (Wiesbaden 2008), S� 829 – 859�
29 Riebel, Die Konstitution der Wirklichkeit in den Wissenschaften, S� 166�
88 Christian Bachhiesl

2. Ein kurzer Exkurs zum Wahrheitsbegriff

Zunächst eine kurze Bemerkung zum Begriff der Wahrheit: In unseren angeblich
postmodernen Tagen ist es üblich geworden, über Wahrheit gar nicht mehr oder
wenn doch, so nur mehr in metaphorischem Sinne zu sprechen� Wahrheit wird häu-
fig nicht mehr als eine gleichsam metaphysische Verbindung zu oder wenigstens als
Verweis auf eine hinter den Erscheinungen stehende Wirklichkeit verstanden, son-
dern nur mehr als funktionelles Element in der wissenschaftlichen Kommunikation,
das vornehmlich dazu dient, eine gemeinsame Sprache der beteiligten „Mittäter bei
dem, was man heute gern ‚Diskurs‘ nennt“30 zu ermöglichen� Ob diese der ‚klassi-
schen‘ Erkenntnistheorie mit ihren metaphysischen Implikationen ablehnend ge-
genüberstehenden Auffassungen von Wahrheit nun unter den Begriffen analytische
Philosophie, Antirealismus, Kohärenztheorie, Relativismus, Konstruktivismus oder
sonst wie zusammengefasst werden, spielt hier eine untergeordnete Rolle�31 Ent-
scheidend ist, dass Wahrheit dabei als etwas verstanden wird, das letztlich im Sub-
jektiven verortet bleibt und bestenfalls als ein Prozess mit intersubjektiver Funktion
bezeichnet werden darf� Der Terminus „objektiv“ ist zu einem Unwort geworden,
das sogleich Assoziationen zu angemaßter, von einem Standpunkt im Nirgendwo
erworbener Allwissenheit hervorruft� Letztlich löse sich Wahrheit in bloß subjektive
Perspektivität auf�
Im Gegensatz dazu soll hier an einer Unterscheidung von Wahrheit und Überzeu-
gung festgehalten werden, und damit auch an der epistemologischen Berechtigung
von Objektivität, die allerdings nicht als Allwissenheit oder Blick aus einer dem
Menschen niemals zugänglichen Beobachterposition außerhalb des konkreten Seins
(resp� Seienden), als „God’s-eye view“ also,32 missverstanden werden darf� Objekti-
vität im hier verstandenen Sinne soll hier als Objektbezogenheit verstanden werden,
was bedeutet, „dass mit der ‚Objektivität‘ der Wahrheit die prinzipielle Differenz von
Wahr-sein und Für-Wahr-Halten (oder Für-Wahr-Gehalten-Werden) gemeint ist�

30 Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt� Herausgegeben von Manfred Sommer (Ber-
lin 2010), S� 10�
31 Einen Überblick über ‚klassische‘ und ‚alternative‘ Konzeptionen von Wahrheit bieten
Karen Gloy, Wahrheitstheorien� Eine Einführung (Tübingen, Basel 2004); Peter Bau-
mann, Erkenntnistheorie (Stuttgart, Weimar ²2006), S� 141 – 178� Zu den verschiedenen
theoretischen Positionen in den Sozial- und Geisteswissenschaften und zu ihrer manch-
mal bizarren Terminologie vgl� Jochen Hörisch, Theorie-Apotheke� Eine Handreichung
zu den humanwissenschaftlichen Theorien der letzten fünfzig Jahre, einschließlich ihrer
Risiken und Nebenwirkungen (Frankfurt am Main 2010)�
32 Zur Bezeichnung eines Standpunktes „außerhalb unserer selbst“ als „God’s-eye view“
durch Richard Rorty (im Anschluss an Hilary Putnam) vgl� Rüdiger Graf, Geschichts-
wissenschaft zwischen Ironie und Bullshit� Pragmatische Überlegungen zum Dissi-
denzpotential historischer Wahrheit, in: Andreas Frings, Johannes Marx (Hrsg�), Er-
zählen, Erklären, Verstehen� Beiträge zur Wissenschaftstheorie und Methodologie der
Historischen Kulturwissenschaften (Berlin 2008), S� 71 – 96, 75�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 89

Mit anderen Worten: die prinzipielle Differenz von Wahrheit und Überzeugungen
(die ja sowohl wahr als auch nicht wahr oder falsch sein können)�“33 Das macht frei-
lich nur dann Sinn, wenn man den Objekten wissenschaftlicher Erforschung eine
vom erkennenden Subjekt unabhängige Existenz zubilligt, wenn man also einer kor-
respondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit verpflichtet ist� Meines Erach-
tens ist auch dann, wenn man sich der stets gegebenen Perspektivität wissenschaftli-
chen Erkennens und der damit verknüpften (je nach Untersuchungsgegenstand und
gewählter Methode in geringerem oder höherem Grade) unvermeidlichen narrativen
Komponente wissenschaftlicher Prosa bewusst ist, nur ein korrespondenztheoreti-
sches Verständnis von Wahrheit für wissenschaftliches Wirken zielführend, wenn
denn Wissenschaft mehr sein will als bloße Erzählung oder simples Schwadronieren�
Denn nur dann, wenn ich davon ausgehe, etwas real Existierendes oder existiert Ha-
bendes in meinem Forschen und Darstellen zu erfassen, kann ich begründet anneh-
men, mit meiner Argumentation zu stichhaltigen Ergebnissen zu kommen und als
Produkt meiner historischen Forschung mehr zu liefern als bloß Erdichtetes� Wenn
man nicht in einem fundamentalen Solipsismus enden will, bleibt also lediglich der
„Pfad zur korrespondenztheoretischen Auffassung gangbar“, wie der Logiker und
Metaphysiker Crispin Wright ausführt, womit gesagt ist, „daß wir, auch wenn keine
befriedigende Analyse der Wahrheit in korrespondenztheoretischen Begriffen vor-
gelegt werden kann, nichtsdestotrotz aus Gründen der Redlichkeit zu einer korre-
spondenztheoretischen Auffassung von Wahrheit verpflichtet sind – das heißt, daß
wir gar nicht anders können als zu denken, daß die Wahrheit einer Proposition im
allgemeinen durch deren Relationen zur nicht-propositionalen Wirklichkeit gestif-
tet wird�“34 Nun mag man hiergegen einwenden, dass damit eine Wiederbelebung
von in der modernen und erst recht in der postmodernen Wissenschaftsphilosophie
als metaphysisch gebrandmarkten Positionen verbunden sei; hierzu sei bloß festge-
stellt, dass es trotz strenger Verbannung des Wortes Metaphysik aus dem Bereich
der Wissenschaften nicht gelungen ist, die Metaphysik (im Sinne von Fragen nach
der Gesamtheit dessen, was ist) inhaltlich zu verdrängen und dass es nach wie vor
„eine ganze Menge von impliziten Formen der Metaphysik in antimetaphysischen,
ideologisch dominierten und szientistisch verkürzten Philosophien“ gibt�35 Es gebe,
so Heinrich Schmidinger, eben „das Grundparadox der Erkenntnis“: „Der Mensch
hat in aller Relativität Objektivität, in aller Selbstbefangenheit Wirklichkeit, in aller
Subjektivität Wahrheit�“36
Außerdem drängt sich die Frage auf, ob das Leugnen von sogenannter objektiver
Wahrheit nicht schlichtweg sinnlos ist, da schon die bloße Behauptung, eine solche

33 Baumann, Erkenntnistheorie, S� 146�


34 Crispin Wright, Wahrheit: Besichtigung einer traditionellen Debatte, in: Matthias Vo-
gel, Lutz Wingert (Hrsg�), Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion� Erkennt-
nistheoretische Kontroversen (Frankfurt am Main 2003), S� 55 – 106, 84�
35 Heinrich Schmidinger, Metaphysik� Ein Grundkurs (Stuttgart ²2006), S� 273f�
36 Schmidinger, Metaphysik, S� 355�
90 Christian Bachhiesl

Wahrheit gebe es nicht, selbst durch ihre Äußerung einen Wahrheitsanspruch er-
hebt (zumindest, wenn sie ernst gemeint ist), in sich also einen performativen Wi-
derspruch birgt, da ihr propositionaler Gehalt durch ihre Performation aufgehoben
wird�37 Selbst Teile der analytischen Philosophie halten am Wahrheitsbegriff fest
und sehen in einer objektiven Wahrheit und in einer vom erkennenden Subjekt un-
abhängigen Realität Grundvoraussetzungen für menschliche Kommunikation, ob
es sich dabei nun um Alltags- oder um wissenschaftliche Kommunikation handeln
mag�38
Damit sei hierzu auch schon genug gesagt, auch wenn da noch viel zu sagen blie-
be� Abschließend zu diesem erkenntnistheoretischen Exkurs zur Wahrheit sei ein
mitten in die kriminalwissenschaftliche Thematik zurückführendes Argument vor-
gebracht, das darlegt, warum gerade in diesem Fach die Annahme einer hinter den
Erscheinungen und Indizien stehenden, günstigenfalls auch erkennbaren Wahrheit
für den Kriminalwissenschafter notwendig ist und weshalb kohärenztheoretische
(oder gar konsenstheoretische, konstruktivistische und andere subjektzentrierte)
Ansätze hier fehlgehen:

„Zu jedem kohärenten System von Überzeugungen gibt es mindestens


ein anderes, ebenfalls kohärentes System von Überzeugungen derart, dass
die beiden Systeme sich gegenseitig logisch ausschließen� Der Kommissar
mag eine andere Version des Verbrechens haben als der Hauptverdächtige
und beide Versionen mögen gleichermaßen kohärent sein� Nur eine von
beiden kann aber wahr sein� Man kann kohärente Märchen erzählen�
Mit anderen Worten: Kohärenz mag notwendig für die Wahrheit eines
Systems von Überzeugungen sein, aber sie ist sicherlich nicht hinreichend
dafür�“39

Was hier in Bezug auf die juristischerseits sogenannte Wahrheitsfindung gesagt


wird, gilt nicht nur für die Rekonstruktion der Ereignisabläufe eines Verbrechens,
sondern auch für die Motive und die individuellen Prädispositionen des Täters und

37 Zum retorsiv argumentierten performativen Widerspruch der Behauptung, es gebe kei-


ne Wahrheit, vgl� Béla Weissmahr, Die Wirklichkeit des Geistes� Eine philosophische
Hinführung (Stuttgart 2006), S� 57 – 86�
38 So konstatiert z� B� John R� Searle, dass wir für eine funktionierende Kommunikation
„die Voraussetzung einer unabhängig existierenden Realität brauchen� Eine öffentliche
Sprache setzt eine öffentliche Welt voraus� Realismus funktioniert nicht als eine These,
Hypothese oder Voraussetzung� Er ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer
bestimmten Reihe von Praktiken, insbesondere sprachlicher Praktiken�“ John R� Searle
zit� nach Andreas Frings, Johannes Marx, Analytische Philosophie, Wissenschaftstheo-
rie und die Methodologie (historischer) Kulturwissenschaften� Plädoyer für einen wert-
vollen Dialog, in: Frings, Marx, Erzählen, Erklären, Verstehen, S� 7 – 26, 18�
39 Baumann, Erkenntnistheorie, S� 176�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 91

für die gesellschaftlichen Bedingungen, sodass nicht nur der kriminalistisch ermit-
telnde Kommissar oder der Richter, sondern ebenso der Kriminalpsychologe und
der Kriminalsoziologe40 als Wahrheitssucher in korrespondenztheoretischem Sinne
angesprochen sind – Kriminalistik und Kriminologie (um die heute häufig als mit-
einander nicht mehr viel zu tun habend verstandenen Disziplinen zu nennen, die
Hans Gross noch in seiner ‚enzyklopädischen‘ Kriminologie zu einen hoffen durfte)
sind hier also betroffen�

3. Die ‚zwei Wahrheiten‘ in der Kriminalwissenschaft


Wenn also hier der unzulängliche Umgang der Kriminalwissenschafter mit Wahr-
heit moniert wird, so nicht in einem postmodernen Sinne, der das Überzeugtsein
von und Festhalten an Wahrheit überhaupt als wissenschaftlich unzulänglich ab-
stempelt� Ich bin davon überzeugt, dass dem Kriminalwissenschafter (wie vielleicht
dem Wissenschafter gemeinhin) ein wissenschaftlicher Realismus angeraten ist, der
aber ein „skeptischer Realismus“ sein muss, also ein Realismus, der eine „vermitteln-
de Position zwischen Realismus und Interpretationismus“ einnimmt und der dem
Streben nach Erkenntnis der Wahrheit ebenso seine Berechtigung und Bedeutung
zuerkennt wie der Skepsis der einmal für erkannt geglaubten Wahrheit gegenüber� 41
Es soll gezeigt werden, dass die Hans Gross und anderen Kriminologen des späten
19� und frühen 20� Jahrhunderts eigene Denk- und Arbeitsweise nur eine von (zu-
mindest) zwei Erscheinungsformen von Wahrheit zu ergründen geeignet war, wobei
ihnen der Umstand, dass es da nicht bloß eine Erscheinungsform von Wahrheit zu
ergründen gibt, wohl nicht bewusst war, zumindest nicht in vollem Umfang und mit
seinen Konsequenzen�
Die zwei Erscheinungsformen von Wahrheit, von denen ich hier spreche, möchte
ich zum einen die ‚faktische Wahrheit‘, zum anderen die ‚transzendente Wahrheit‘
benennen� Sie sind insofern ein und dasselbe, als es eben um Formen der Wahr-
heit geht, das heißt, dass damit Fragen bezeichnet werden, die mit ‚wahr‘ oder
‚falsch‘ oder zumindest mit ‚approximativ wahr‘ oder ‚approximativ falsch‘ bzw� mit
‚wahrscheinlich wahr‘ oder ‚wahrscheinlich falsch‘ beurteilt werden können�42 Sie

40 Allfällige Leserinnen und mit ihnen solidarische Leser mögen die bloße Nennung der
männlichen Form verzeihen, die hier wie anderswo aus Gründen der Platzökonomie
und der Leseästhetik gewählt wurde, aber selbstverständlich sämtliche biologischen wie
sozialen Geschlechter umfasst�
41 Zum „skeptischen Realismus“ vgl� Hans Krämer, Kritik der Hermeneutik� Interpretati-
onsphilosophie und Realismus (München 2007), S� 206 – 210�
42 Zur approximativen Wahrheit vgl� Alan F� Chalmers, Wege der Wissenschaft� Einfüh-
rung in die Wissenschaftstheorie (Berlin u� a� 52001), S� 189 – 192; Ladyman, Understan-
ding Philosophy of Science, S� 216f�, 231 – 234� Zur wahrscheinlichen Wahrheit vgl�
Chalmers, Wege der Wissenschaft, S� 141 – 154; Ladyman, Understanding Philosophy of
Science, S� 50f�, 206f�; Baumann, Erkenntnistheorie, S� 55 – 64�
92 Christian Bachhiesl

unterscheiden sich aber in der Art und Weise ihrer Erkennbarkeit, also in ihrer
epistemologischen Fassbarkeit – man könnte sie also als ontologisch Eines, aber epi-
stemologisch Verschiedenes bezeichnen�
Der interessierte Leser sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass es in der Ge-
schichte der Philosophie und Wissen(schaft)stheorie bereits mehrmals eine Konsta-
tierung von ‚zwei Wahrheiten‘ gegeben hat, so z� B� bei Gottfried Wilhelm Leibniz
(„Tatsachenwahrheiten“ und „Vernunftwahrheiten“),43 bei David Hume („matters of
fact“ und „relations of ideas“)44 und bei Immanuel Kant („synthetische“ und „analy-
tische“ Erkenntnisse, jeweils „a priori“ und „a posteriori“)45 – ein Umstand, der mir
erst nach meiner aus dem Studium der Kriminologiegeschichte hervorgegangenen
dichotomischen Einteilung in faktische und transzendente Wahrheit bewusst wur-
de, hier aber nicht weiter erörtert werden soll�
Als faktische Wahrheit bezeichne ich eine Wahrheit der Dinge, die naturwissen-
schaftlich erfasst werden können� Hier sind vor allem die Spuren betroffen, der so-
genannte materielle Beweis oder Sachbeweis, auf den Hans Gross so großen Wert
legte,46 aber eben nicht nur – es geht um „epistemische Dinge“, die nicht bloß Ma-
terielles umfassen, wie Hans-Jörg Rheinberger sie definiert: „Dinge, denen die An-
strengung des Wissens gilt – nicht unbedingt Objekte im engeren Sinn, es können
auch Strukturen, Reaktionen, Funktionen sein�“47 Es handelt sich hier also um eine
dingliche Wahrheit, die mit Hilfe naturwissenschaftlich-‚exakter‘ Methoden zwar
erst nachgewiesen werden muss, im Grunde aber ‚objektiv‘ gegeben und erkennbar

43 Vgl� Schmidinger, Metaphysik, S� 189f�


44 Vgl� Schmidinger, Metaphysik, S� 245f�; Ladyman, Understanding Philosophy of Science,
S� 32f�
45 Vgl� Schmidinger, Metaphysik, S� 252 – 259; Ladyman, Understanding Philosophy of Sci-
ence, S� 33f�
46 Vgl� Peter Becker, Zwischen Tradition und Neubeginn: Hans Gross und die Krimino-
logie und Kriminalistik der Jahrhundertwende, in: Albrecht Götz von Olenhusen, Gott-
fried Heuer (Hrsg�), Die Gesetze des Vaters� 4� Internationaler Otto Gross Kongress
(Marburg an der Lahn 2005), S� 290 – 309; Gernot Kocher, Von der Theresiana bis Hans
Gross� Zum Methodenwandel in der Beweisführung, in: Gerhard Dienes, Ralf Rother
(Hrsg�), Die Gesetze des Vaters� Problematische Identitätsansprüche� Hans und Otto
Gross, Sigmund Freud und Franz Kafka (Ausstellungskatalog) (Wien u� a� 2003), S�
60 – 69; Christian Grafl, Hans Gross und die Methode der Kriminalistik, in: Dienes,
Rother, Die Gesetze des Vaters, S� 70 – 81; Thomas Mühlbacher, Kazneni postupak pro-
tiv Eustacha Holzbauera / Die Strafsache gegen Eustach Holzbauer, in: Gerhard M�
Dienes, Ervin Dubrović, Gernot Kocher (Red�), Očeva država – majčin sin / Vaterstaat
– Muttersohn (Ausstellungskatalog) (Rijeka 2007), S� 72 – 97; Thomas Mühlbacher, „Al-
lerdings ist’s löb- und preislich…“ Hans Gross aus kollegialer Sicht, in: Friedrich Bou-
vier, Nikolaus Reisinger (Red�), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd� 38/39 (Graz
2009), S� 329 – 342�
47 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge� Eine Geschichte
der Proteinsynthese im Reagenzglas (Frankfurt am Main 2006), S� 27�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 93

ist, um eine Wahrheit also, die dem „Erklären“ im Sinne Wilhelm Diltheys zugäng-
lich ist und die mittels Beobachtung, Vermessung und experimenteller Überprüfung
erkannt werden kann� Das Operieren mit naturgesetzlicher Kausalität, wie sie das
methodische Denken von Hans Gross bestimmte, kann hier zur Erkenntnis führen,
wenn auch Irrtum, falsches Schließen und irregeleitetes kausales Verknüpfen nicht
ausgeschlossen werden können� Die dingliche, faktische Wahrheit ist eine Wahrheit
des Konkreten und intersubjektiv grundsätzlich Nachvollzieh- und Überprüfbaren�
Faktische Wahrheit ermöglicht die Erlangung objektiven Wissens und einen wis-
senschaftlichen Realismus,48 der gerne die „inference to the best explanation“49 und
das „no-miracles-Arguments“50 bemüht�
Bei der transzendenten Wahrheit hingegen handelt es sich um eine viel weniger
objektiv-exakt beschreibbare oder gar nachweisbare Wahrheit, die im Inneren der
Menschen verborgen liegt, in ihrem Denken, Fühlen, Glauben und Vorstellen, für
das es allemal keinen einheitlichen Maßstab und keine auch nur annähernd ‚exakte‘
Messmethode gibt und das allenfalls klassifiziert und systematisiert werden kann�
Hier geht es um den Versuch des Erkennens von Motiven, individuellen Eigenschaf-
ten und Dispositionen, Neigungen und Wünschen von (kriminellen) Menschen, um
ihre Intentionen und um ihr Bestreben, dasselbe zumindest zeitweise zu verbergen�
Hier sind wir – und dies sei hier so formuliert, obwohl die „Droysen-Dilthey-These
von Erklären und Verstehen“ in jüngeren geschichtstheoretischen Reflexionen als
„künstlich und unplausibel“ erkannt wurde51 – im Reich von Diltheys „Verstehen“,
in dem naturgesetzliche Kausalitätsketten bestenfalls ein biologisch-physikalisches
Hintergrundrauschen abgeben und in dem die sozusagen kontingente, „geschichtli-

48 Vgl� Christian Suhm, Wissenschaftlicher Realismus� Eine Studie zur Realismus-Anti-


realismus-Debatte in der neueren Wissenschaftstheorie (Frankfurt am Main, Lancaster
2005)�
49 Vgl� Ladyman, Understanding Philosophy of Science, S� 213, 244 – 252�
50 Vgl� Ladyman, Understanding Philosophy of Science, S� 46f�, 219 – 227�
51 Vgl� Oliver R� Scholz, Erkenntnis der Geschichte – eine Skizze, in: Frings, Marx, Er-
zählen, Erklären, Verstehen, S� 111 – 128, 119� „Künstlich und unplausibel“ sei diese
Dichotomie v�a� deswegen, weil Erklären und Verstehen keine Gegensätze, sondern
Korrelativbegriffe darstellten und somit bei der Interpretation historischer Untersu-
chungsgegenstände zusammenwirkten: „Typischerweise geht Verstehen mit der Fä-
higkeit einher, Erklärungen geben zu können� Und: Erklärungen führen, wenn sie er-
folgreich sind, zu Verstehen�“ Überhaupt sei es ein Kategorienfehler, das Verstehen als
wissenschaftliche Methode zu bezeichnen� (S� 120) – Auch wenn der strikte kategoriale
Gegensatz zwischen Verstehen und Erklären nicht haltbar und die Ansicht zutreffend
sein sollte, dass diese Begriffe miteinander korrelieren, so bleibt m�E� doch ein Unter-
schied in der inhaltlichen Bedeutung dieser Begriffe bestehen, der eine epistemologi-
sche Trennung zweier wenn auch aufeinander angewiesener Erkenntnisweisen verlangt,
weshalb es keineswegs überholt und irrelevant ist, weiterhin zwischen Verstehen und
Erklären zu distinguieren (was nicht heißen soll, dass Diltheys Sicht der Dinge vollauf
zuzustimmen ist) – doch dies weiter auszuführen, fehlt hier der Platz�
94 Christian Bachhiesl

che Kausalität“ im Sinne Rickerts ergründet werden müsste, um ein wirkliches Ver-
ständnis der untersuchten Phänomene zu ermöglichen�52 Nur ist diese individuelle,
geschichtliche Kausalität um vieles schwieriger zu fassen als die naturgesetzliche
Kausalität, die ja an sich für alle Menschen die gleiche ist und nicht erst von Indi-
viduum zu Individuum neu ausgelotet werden muss� (Abgesehen davon, dass auch
bei der naturgesetzlichen Kausalität „empirisch außer Regularität nichts zu holen
ist“, wie schon David Hume aufgezeigt hat, und dass „also der Grund für die Kau-
salität zwischen zwei Ereignissen letztlich doch im bewirkten Ereignis selber liegt,
womit „anscheinend der Animismus nicht aus der Welt ist“53 – aber diese in letzter
Konsequenz zur Auflösung aller Kausalität führende Argumentation sei hier nicht
weiter erörtert�) Selbst wenn, wie z� B� in der (Kriminal-) Psychologie nicht selten,
naturwissenschaftliche Methodik den Rahmen vorgibt, so stehen hier eher die „pes-
simistische Meta-Induktion (PMI)“54 und die „empirische Unterbestimmtheit von
Theorien (EUT)“55 und damit erkenntnisskeptische Überlegungen im Vordergrund�
Hauptsächlich aber geht es bei der transzendenten Wahrheit um Fragen der Pers-
pektivität, der erzählten Erkenntnis und der Narrativität, und damit eines weiten
Methodenpluralismus und erkenntnistheoretischen Alternativenreichtums�56

52 Der Leser kann hier leicht ersehen, dass ich kein Anhänger einer reduktionistischen Ver-
kürzung mentaler Eigenschaften auf hirnphysiologische Prozesse bin; diese ausufernde
Diskussion um Hirnforschung, Determinismus und Willensfreiheit und ihre Folgen
für die Kriminalwissenschaft und Strafrechtsordnung soll hier allerdings nicht einmal
angerissen werden; vgl� hierzu Christian Geyer (Hrsg�), Hirnforschung und Willensfrei-
heit� Zur Deutung der neuesten Experimente (Frankfurt am Main 2004); Klaus-Jürgen
Grün, Michel Friedman, Gerhard Roth (Hrsg�), Entmoralisierung des Rechts� Maßstäbe
der Hirnforschung für das Strafrecht (Göttingen 2008); Ernst-Joachim Lampe, Michael
Pauen, Gerhard Roth (Hrsg�), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung (Frankfurt am
Main 2008); Tillmann Vierkant (Hrsg�), Willenshandlungen� Zur Natur und Kultur der
Selbststeuerung (Frankfurt am Main 2008)�
53 Cord Friebe, Das bleibende Rätsel der Kraft: Du Bois-Reymonds erstes Ignorabimus im
Lichte der modernen Physik, in: Bayertz, Gerhard, Jaeschke, Weltanschauung, Philoso-
phie und Naturwissenschaft, Bd� 3, S� 117 – 131, hier: 117 und 125� Zu Humes Argu-
menten gegen induktiv erschlossene Kausalität vgl� Gottfried Gabriel, Grundprobleme
der Erkenntnistheorie� Von Descartes zu Wittgenstein (Paderborn ³2008), S� 63 – 70�
54 Vgl� Ladyman, Understanding Philosophy of Science, S� 230 – 252; Suhm, Wissenschaft-
licher Realismus, S� 83 – 88�
55 Vgl� Ladyman, Understanding Philosophy of Science, S� 221; Suhm, Wissenschaftlicher
Realismus, S� 89 – 99�
56 Vgl� Frings, Marx, Erzählen, Erklären, Verstehen; Bruce Mazlish, The Uncertain Sci-
ences (New Haven, London 1998); Jens Pape, Der Spiegel der Vergangenheit� Ge-
schichtswissenschaft zwischen Relativismus und Realismus (Frankfurt am Main 2006);
Geoffrey Roberts (Hrsg�), The History and Narrative Reader (London, New York 2001);
Jürgen Paul Schwindt (Hrsg�), Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung
einer theoretischen Einstellung (Frankfurt am Main 2009)�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 95

Es könnte nun auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, die faktische Wahr-
heit im Bereich der Kriminalistik zu verorten, und die transzendente Wahrheit im
Bereich der Kriminologie: Unter Kriminalistik versteht man gemeinhin die prak-
tische kriminaltaktische und kriminaltechnische Arbeit, bei der es ja vorwiegend
um faktische Wahrheiten zu gehen scheint (Kommt diese Kugel aus jenem Lauf?
Stammt dieser Fingerabdruck von jenem Daumen?)� Die Kriminologie befasst sich
mit eher theoretischen und politischen Fragen, die zur Erklärung und Vermeidung
von Verbrechen dienen sollen und deren Wahrheit eher Aspekte des Transzenden-
ten (im Sinne von über den Bereich faktischer Wahrheit hinausweisender Erkennt-
nisinhalte) zu finden zu sein scheint (Welche gesellschaftlichen Strukturen führen
vermehrt zu Kriminalität? Welche Maßnahmen kann der Staat ergreifen, um Si-
cherheit zu schaffen?)�57 Aber in der Erkenntnistheorie ist es schon lange ein Ge-
meinplatz, dass Theorie und Praxis nicht ohne einander zu haben sind, und so ist
auch für die Kriminalwissenschaft und ihre Unterdisziplinen, seien diese nun mehr
praxis- oder theorieorientiert, festzuhalten, dass „Tatsachen ‚kleine Theorien‘ sind“�58
Ob ein Kriminalwissenschafter sich nun also auf die praktische Tatortarbeit stürzt
oder auf die Typisierung von Motiven oder Persönlichkeitsformen, stets sind fakti-
sche und transzendente Wahrheit ineinander verwoben, und den damit verbundenen
epistemologischen Schwierigkeiten entgeht man auch dadurch nicht, dass man sich
als ‚praxisgestählter Außendienstmitarbeiter der Wissenschaft‘59 geriert�

57 Robert Weihmann benennt den Unterschied so: „Die Kriminologie beschreibt die Er-
scheinungsformen der Verbrechen und bietet Erklärungsansätze für deren Ursachen
an� Die Kriminalistik nennt die Methoden der Verbrechensverhütung und Strafver-
folgung mit Beweisfindung, Beweissicherung und Beweisführung� Sie bedient sich der
Natur- und Geisteswissenschaften�“ Robert Weihmann, Kriminalistik� Ein Grundriss
für Studium und Praxis (Hilden 72004), S� 32� Hans Gross verwendete Kriminolo-
gie als Überbegriff für viele kriminalwissenschaftliche Teildisziplinen, unter denen die
Kriminalistik die „Theoretische Erscheinungslehre des Verbrechens“ und die „Prakti-
sche Untersuchungskunde“ umfasste; Hans Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter
als System der Kriminalistik (München 51908), Bd� 1, S� XIII-XVI� Der Wust an mit
„Kriminal-“ anhebenden Wissenschaftszweigen war allerdings stets recht unübersicht-
lich (Kriminalpolitik, Kriminalanthropologie, Kriminalbiologie, Kriminalsoziologie,
Kriminalstatistik, Kriminalpsychologie etc� etc�); vgl� hierzu Miloš Vec, Sichtbar/Un-
sichtbar: Entstehen und Scheitern von Kriminologie und Kriminalistik als semiotische
Disziplinen, in: Habermas, Schwerhoff, Verbrechen im Blick, S� 383 – 414, 384 – 400�
58 Sandkühler, Repräsentation – Grenzen und Entgrenzung der Erkenntnis, S� 213�
59 Einen derartigen Berufsstolz weisen auch manche grabungserfahrene Archäologen auf,
die sich ab und an als „Cowboys der Wissenschaft“ begreifen, vgl� Reinhard Bernbeck,
Theorien in der Archäologie (Tübingen, Basel 1997), S� 343�
96 Christian Bachhiesl

4. Kriminologiehistorisches Beispiel: ‚Zwei Wahrheiten‘ und


die Brandlegung

Faktische und transzendente Wahrheit sind also ineinander verwoben, und zwar in
der Kriminologie ebenso wie in der Kriminalistik, und diese beiden Subdisziplinen
der Kriminalwissenschaft sind ihrerseits wieder auf vielfältige Weise miteinander
verknüpft� Wir wollen uns nun diese doppelte Verwobenheit anhand eines Beispiels
aus der Kriminologiegeschichte näher vor Augen führen: Anhand des Verbrechens
der Brandlegung und des kriminalwissenschaftlichen Umgangs damit lässt sich das
Gesagte sehr plastisch demonstrieren; Untersuchungszeitraum sei die Zeit um 1900�
Die Verknüpfung von Theorie und Empirie beginnt schon bei der Frage nach
dem, was eigentlich geschah� Dass es brannte, ist ja klar – aber wie konnte das Feu-
er entstehen? Der findige Kriminalist wird bei seiner Suche nach Spuren bald auf
Schwierigkeiten stoßen, denn es „wird die Thätigkeit des UR [Untersuchungsrich-
ters, Ch� B�] in solchen Fällen dadurch sehr erschwert, dass die etwa verwendeten
Vorrichtungen in den meisten Fällen mitverbrennen werden�“60 Schon bei der Suche
nach materiellen Spuren ist der Ermittler also auf scharfsinnige Schlüsse und Ver-
mutungen angewiesen� Dabei war – neben stets nützlicher Berufserfahrung – bis-
weilen auch ein ordentlich Quantum an Phantasie gefragt� So schildert Hans Gross
einen erstaunlichen Fall:

„In einem alten Acte (aus den Dreißigerjahren) [des 19� Jhs�, Ch� B�] las
ich von einem Brande, bei welchem eine besonders verwickelte Verwen-
dung eines Brennglases a n g e n o m m e n wurde� Bewiesen konnte
die Sache nicht werden, da nur wenige Reste des Apparates vorgefun-
den wurden� Der Mühljunge einer großen Mühle war auf einen wohl-
habenden Bauer erbost, der sein Haus der Mühle gegenüber (jenseits der
Straße) hatte� Der Mühljunge verließ den Dienst und etwa dreiviertel
Jahre später brannte das Haus des Bauern in den Nachmittagsstunden,
da alles auf den Feldern war, ab� Es wurde nun angenommen, dass der
Mühljunge auf dem Dache der Mühle eine Vorrichtung angebracht habe,
um das gegenüberliegende Haus anzuzünden� Er hätte den obersten Theil
des Mühlenbodens, der nie betreten wurde, dazu auserwählt und habe
vor einer Dachluke eine starke eiserne Feder mit einer Schnur niederge-
spannt und an dem Ende der Feder einen Pechkranz befestigt� Unter der
Schnur brachte er Zündmateriale und ein Brennglas so an, dass dieses in
gewisser Jahreszeit und zu gewisser Stunde von der Sonne erreicht wur-
de� Als alles fertig war, bedeckte er das Brennglas und wartete einviertel

60 Hans Gross, Handbuch für Untersuchungsrichter, Polizeibeamte, Gendarmen u� s� w�


(Graz ²1894), S� 762� Das im Folgenden verwendete Kurzzitat „Gross, Handbuch“ ver-
weist stets auf die 2� Auflage 1894�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 97

Jahr, bis es die Sonne für heuer nicht mehr erreichte� Dann verschwand
der Mühljunge� Nach weiteren dreiviertel Jahren erreichte nun die Son-
ne eines Tages das Brennglas wieder und der Zündstoff kam in Brand;
hiedurch wurde zweierlei erreicht: der Pechkranz kam auch in Flammen
und gleichzeitig wurde die Schnur durchgebrannt, welche die Feder in
Spannung hielt� Diese schnellte nun auf und schleuderte den brennenden
Pechkranz durch die Dachlucke auf das gegenüberliegende Strohdach,
welches natürlich Feuer fieng� Unmöglich ist die Sache in der That nicht,
sie zeigt wenigstens, dass sich bei einiger Geschicklichkeit auch da Un-
wahrscheinliches leisten lässt�“61

Hier findet sich doch einiges an Gedankenexperimenten und diesen zugrunde lie-
gender Theorie – und das schon beim Rekonstruieren bloßer Ereignisabläufe� Das
Motiv steht hier noch gar nicht im Vordergrund (es wird recht allgemein Ärger des
vermuteten Täters über einen wohlhabenden Bauern angeführt); dabei spielt jedoch
gerade dann, wenn Ereignisabläufe nicht einwandfrei dokumentiert sind und erst
erschlossen und wahrscheinlich gemacht werden müssen, das Motiv eine wichti-
ge Rolle, da es den zusammengetragenen Indizien erst rechte Überzeugungskraft
verleiht� Man mag die Rekonstruktion von Ereignisabläufen dem Bereich der fak-
tischen Wahrheiten zuschlagen; das Eruieren von Motiven aber ist (auch in Fällen,
wo diese scheinbar offensichtlich und gut dokumentiert, ja vom Täter selbst einge-
standen sind) dem Bereich der transzendenten Wahrheit im oben dargelegten Sinn
zuzurechnen, da es sich mit psychischen Befindlichkeiten und somit mit Erlebnis-
wahrnehmungen der ersten Person Singular, mit sogenannten Qualia,62 mit subjekti-
ven Wahrnehmungs- und Bewusstseinsschemata (und mit deren Nachvollzieh- und
Verstehbarkeit aus der Perspektive der 3� Person Singular) auseinanderzusetzen hat�
Dies ist aus erkenntnistheoretischer Sicht nun schon nicht unbedingt einfach, wenn
es sich um sogenannte ‚normale‘63 Menschen handelt� Die Brandleger aber wurden
von den Kriminalwissenschaftern in der Regel als von der Normalität weit entfernte
Menschen angesehen� In den medizinischen, psychologischen und strafrechtlich-
kriminologischen Diskursen vom 18� Jahrhundert an spielte die Brandlegung eine
besondere, selbst nach kriminellen Maßstäben abnorme Rolle�

61 Gross, Handbuch, S� 762�


62 Vgl� hierzu Jürgen Mittelstraß (Hrsg�), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschafts-
theorie, 4 Bde� (Stuttgart, Weimar 2004), Bd� 3, S� 426f�, s�v� Qualia; Michael Pauen,
Grundprobleme der Philosophie des Geistes� Eine Einführung (Frankfurt am Main
4
2005), S� 175 – 216; Jürgen Schröder, Einführung in die Philosophie des Geistes (Frank-
furt am Main 2004), S� 222 – 232 und 246 – 258�
63 Zum Normalitätsbegriff vgl� Dominik Groß, Sabine Müller, Jan Steinmetzer (Hrsg�),
Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kon-
text der Medizin (Berlin 2008)�
98 Christian Bachhiesl

Immer wieder wurde von Juristen, Medizinern und Psychologen ein spezieller
Drang zum Brandlegen, eine spezifische Lust an Feuersbrünsten festgestellt� Diese
Lehre von einem eigenständigen Brandlegungstrieb, der mit dem wissenschaftli-
chen Terminus „Pyromanie“ belegt wurde, wies Parallelen zu den vom französischen
Psychiater Esquirol postulierten, sogenannten Monomanien auf, also zu isolierten
Störungen gewisser psychischer Funktionen, die aber auf andere Bereiche des See-
lenlebens keine Auswirkungen hätten�64 Als offizieller Begründer der Lehre von
der Pyromanie gilt der deutsche Mediziner Adolph Henke, 65 der der Ansicht war,
dass der Brandstiftungstrieb bei pubertierenden Jugendlichen besonders häufig zum
Durchbruch komme� Der Turiner Kriminalanthropologe Cesare Lombroso sprach
dann von „krankhaften Impulsen“, die Verbrechen verursachen konnten – darunter
die „Sucht, Feuer anzulegen“�66
Die Existenz eines spezifischen krankhaften Triebes zur Brandlegung blieb al-
lerdings nicht unwidersprochen, das ganze 19� Jahrhundert hindurch wurde in psy-
chiatrischen, psychologischen, kriminologischen und juristischen Fachkreisen die
Frage, ob der Drang zur Brandlegung und die sogenannte Feuerslust nicht eher doch
Nebenerscheinungen anderer, nicht spezifisch pyromanischer Geistesdefekte wären,
aufs heftigste diskutiert� Wie meist, wenn psychiatrische Fragestellungen das Straf-
recht berühren, ging es vor allem darum, die Schuldfähigkeit und Strafbarkeit der
Brandleger festzustellen – jemanden, der nicht geistig gesund und somit Herr seines
freien Willens ist, kann man für sein Tun ja nicht strafrechtlich zur Rechenschaft
ziehen, sondern bestenfalls einer psychiatrischen Behandlung unterziehen, wenn er
denn tatsächlich geisteskrank sein sollte� Aber die Grundsätze des Schuldstrafrechts
und der biologisch-psychologischen Grenzen desselben hier zu erörtern, würde den
Rahmen sprengen – daher sei nur das Resultat dieser Debatten in aller Kürze fest-
gehalten: Zu Beginn des 19� Jahrhunderts ging ein großer Teil der Kriminalwissen-
schafter ebenso wie der Psychiater davon aus, dass von einem eigenen Brandlegungs-
trieb nicht gesprochen werden könne, dass also die Pyromanie im klassischen Sinne
gegenstandslos sei� Sehr deutlich bringt dies der Psychiater Otto Mönkemöller, der
in seinem in Hans Grossens 1898 gegründeter Zeitschrift „Archiv für Kriminalan-
thropologie und Kriminalistik“67 erschienenen Aufsatz „Zur Psychopathologie des
Brandstifters“ diesen Diskurs in lobenswerter Ausführlichkeit zusammenfasst, zum

64 Zu Jean-Etienne Esquirol als Vertreter einer „romantischen Psychiatrie“ vgl� Edward


Shorter, Geschichte der Psychiatrie (Berlin 1999), S� 54 – 112�
65 Vgl� ADB, Bd� 11 (Hassenpflug-Hensel) (Leipzig 1880), S� 751 – 753, s�v� Henke: Christ�
Heinr� Adolph�
66 Cesare Lombroso, Der Verbrecher (Homo delinquens) in anthropologischer, ärztlicher
und juristischer Beziehung� In deutscher Bearbeitung von M� O� Fraenkel, 2 Bde�, (Bd�
1: Hamburg ²1894; Bd� 2: Hamburg 1890), Bd� 2, S� 104f�
67 Hans Grossens „Archiv“ erscheint auch heute noch, nun vom Gerichtsmediziner Stefan
Pollak in Freiburg im Breisgau herausgegeben; seit 1916 lautet der Titel „Archiv für
Kriminologie“�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 99

Ausdruck: „Ein (sic!) Brandstiftungstrieb, der sich auf eine Form psychischer Stö-
rung beschränkte, der in dieser ganz isoliert dastände und sich wesentlich von allen
anderen Entladungsformen der Psyche, die sich den kriminellen Weg ausersehen,
unterscheidet, gibt es nicht�“68 Stattdessen bleibe es, „was den Einfluß der Psycho-
pathologie auf die Brandstiftung anbetrifft, dabei, daß diese auf der Grundlage der
verschiedensten psychischen Affektionen aus den mannigfachsten normalen und
pathologischen Motiven heraus entstehen kann�“69 Alles kann also einen Brandleger
zu seinem Tun bewegen, psychisch normale Motive ebenso wie verschiedenste Er-
scheinungsformen verschiedener Geisteskrankheiten� Aber auch wenn die Existenz
der Pyromanie als spezifische Form von Geistesstörung bestritten wurde, so wurde
doch immer wieder eine besondere Nähe der Brandlegung zu Geistesschwäche und
Geistesstörungen festgestellt� In der Kriminalwissenschaft jener Zeit war es nicht
ungewöhnlich, zwischen Kriminalität und Geistesschwäche oder gar Geisteskrank-
heit eine wenn auch diffuse Verbindung herzustellen;70 die relevanten Stichworte
lauten hier „moral insanity“ und „Degeneration“�71 Bei Brandlegern aber vermuteten
die Kriminologen diese Verbindung besonders stark ausgeprägt, wie etwa das fol-
gende Zitat aus einem Aufsatz des Leobener Richters Karl Freiherr von Rokitansky
belegt: „Hinsichtlich der Motive der Begehung ist unstreitig die Brandlegung eines
der interessantesten Verbrechen� Selten hat man es bei einem Brandleger mit einem
‚Normalmenschen‘ zu tun� Fast regelmäßig spielen anormale Empfindungen in dem
Seelenleben des Täters mit, um ihn zu seinem Tun zu veranlassen�“72
Grundsätzlich wurde die Brandlegung als ein Verbrechen klassifiziert, das – an-
ders als so mancher kühne Raubzug, geschickt geplante Diebstahl oder unverfroren
ausgeführte Mord – kaum Anforderungen an den Mut und an die Klugheit stellt�
Jeder Mensch, auch wenn er noch so plump, schwach an Körper und Geist und mut-
los ist, könne eine Brandlegung in Angriff nehmen: „Sie ist ja ein Verbrechen, zu
dem kein persönlicher Mut gehört, das keine Aufwendung von körperlicher Kraft
und Gewandtheit voraussetzt, das ohne jede lange Überlegung und Anspannung der

68 Otto Mönkemöller, Zur Psychologie des Brandstifters, in: Archiv für Kriminalanthropo-
logie und Kriminalistik 48, 3 – 4 (1912), S� 193 – 310, 277�
69 Mönkemöller, Zur Psychologie des Brandstifters, S� 309�
70 Vgl� Christian Bachhiesl, Das Verbrechen als Krankheit� Zur Pathologisierung eines
strafrechtlichen Begriffs, in: Virus� Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 7 (Wien
2008), S� 11 – 40; Rolf van Raden, Patient Massenmörder� Der Fall Ernst Wagner und
die biopolitischen Diskurse (Münster 2009)�
71 Zur „Degeneration“ und zur „moral insanity“ vgl� Shorter, Geschichte der Psychiatrie,
S� 148; Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang� Der apokalyptische Bevöl-
kerungsdiskurs im 20� Jahrhundert (Bielefeld 2007); Peter Becker, Verderbnis und Ent-
artung� Eine Geschichte der Kriminologie des 19� Jahrhunderts als Diskurs und Praxis
(Göttingen 2002), S� 255 – 329�
72 Karl von Rokitansky, Zweimalige Brandlegung aus Heimweh, in: Archiv für Kriminal-
anthropologie und Kriminalistik 38, 1 – 2 (1910), S� 138 – 142, 138�
100 Christian Bachhiesl

geistigen Fähigkeiten ins Werk gesetzt werden kann�“ Auch wenn der Brandleger
als „normal“ einzustufen ist, wäre es keinesfalls so, dass man bei ihm „das Maß von
Überlegung zu hoch bewerten dürfte�“ Und so sei die Brandlegung das ureigenste
Verbrechen für die verwerflichsten Charaktere, für die besonders Feigen, Dummen
und Gehässigen: „Tückischen und Boshaften, die über geringen Mut und ungenü-
gende Kräfte verfügen, gibt die Brandstiftung ein Mittel in die Hand, sich an ihren
Feinden in der empfindlichsten Weise zu rächen� Der Mutwillige hat durch sie die
Gelegenheit, mit den kleinsten Mitteln die größten Wirkungen hervorzurufen�“ Die
Brandleger bedächten oft gar nicht, welche fatalen Folgen aus ihren niedrigen und
geringfügigen Motiven entspringen, und auch bei zum Zwecke des Versicherungsbe-
truges verübten Brandlegungen (Stichwort ‚warmes Abtragen‘), die ja doch ein gewis-
ses Mindestmaß an Rechenarbeit voraussetzen, verkalkulierten sich die Brandleger
nicht selten, da „die verdiente Versicherungssumme durchaus nicht die vernichteten
Werte wieder ein“ bringe� Kurz gesagt, die
Klügsten seien die Brandleger nicht, auch
diejenigen nicht, die an sich nicht als geis-
tesschwach oder gar geisteskrank zu be-
zeichnen seien� „Hält man sich vor Augen,
daß man Häuser anzündete, um sie schön
und billig wieder aufbauen zu können, um
eine mehr konkurrenzfähige Mühle zu ge-
winnen, um ein neues Mobiliar zu erwer-
ben, um Gelegenheit zur freien Zeche zu
bekommen, so wird man vor dem geistigen
Hochstande der Gemüter, in denen ein sol-
cher Entschluß groß wurde, keinen unbe-
grenzten Respekt haben�“73
Abb 1: Einer der „Tückischen und Boshaften, die über
geringen Mut und ungenügende Kräfte verfügen“
(Mönkemöller, Zur Psychologie des Brandstifters,
S. 206): Der Brandleger Balthasar Schober (Kriminalmu-
seum Graz, Registratur 78)

Die zeitgenössische Fachliteratur nennt eine große Fülle an Fällen, in denen dezi-
diert Geisteskranke und Schwachsinnige zu Brandlegungen schritten� Gelegentlich
wurde dabei auf die an sich veraltete Lehre von der Pyromanie zurückgegriffen,
wobei darauf hingewiesen wurde, dass es sich bei den sogenannten Pyromanen ge-
wöhnlich „um schwachsinnige oder nervöse Personen, oft sogar um Geisteskranke
oder Degenerirte“ handle, die nicht selten den Anstoß zu ihren Verbrechen in Träu-

73 Alle in diesem Absatz gebrachten Zitate finden sich in Mönkemöller, Zur Psychologie
des Brandstifters, S� 206f�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 101

men empfingen�74 Ein großer Teil der Geisteskranken, die vor etwa hundert Jahren
noch häufig mit der Bezeichnung „Irre“ tituliert wurden, wurde als von Geburt an
schwachsinnig eingestuft: „In fast der Hälfte unserer Fälle von Brandstiftung durch
Irre ist die Strafthat von Schwachsinnigen verübt, welche in der überwiegenden
Mehrzahl mit angeborenem Geistesdefect behaftet sind�“75 Nicht selten weist die-
ser Schwachsinn skurrile Züge auf – eine zwanzig Jahre junge Frau etwa drohte in
Brandbriefen mit dem Anzünden von mehreren Gebäuden; sie hatte den Verdacht
dadurch auf sich gelenkt, dass sie sich auffallend häufig danach erkundigte, ob nicht
vielleicht ein Nachtwächter oder Gendarm zur nächtlichen Bewachung der gefähr-
deten Objekte abgestellt werde� Die als „männersüchtig und überspannt“ geschil-
derte Frau „gab schließlich das Legen der Brandzettel zu und als Grund an, daß sie
hoffte, es werde ein Gendarm, den sie öfters gesehen und der ihr Gefallen erregt hat,
als Brandwache bestellt werden und sie so Gelegenheit zu einem Umgang mit ihm
finden�“76 Solche und ähnliche Fälle von Brandlegungen durch Geistesschwache und
Geisteskranke finden sich im zeitgenössischen Diskurs zuhauf�77
Dass hier vermeintlich unzweifelhafte transzendente Wahrheiten verkündet wur-
den, ist meines Erachtens unübersehbar; ein näherer Blick zeigt, dass diese trans-
zendenten Wahrheiten aufs engste mit der Feststellung von faktischen Wahrheiten
verbunden sind, so innig, dass erstere von den letzteren nicht selten völlig überdeckt
zu sein scheinen� Gerade die Ausforschung der faktischen Wahrheiten verleiht der
Brandermittlung, die hier als Beispiel für kriminalwissenschaftliches Forschen ste-
hen soll, ihren scheinbar exakt-naturwissenschaftlichen, auch für ein weiteres Pu-
blikum faszinierenden Nimbus der scharfsinnigen Aufdeckung auch noch des ver-
borgensten Geheimnisses� Letztlich, so die landläufige Meinung, sei alles mit Hilfe

74 Paul Näcke, Die forensische Bedeutung der Träume, in: Archiv für Kriminalanthropo-
logie und Kriminalistik 5, 1 (1900), S� 114 – 125, 119�
75 Ulrich Scheven, Geistesstörung und Verbrechen in Mecklenburg-Schwerin, in: Archiv
für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 4, 3 – 4 (1900), S� 193 – 272, 235�
76 Rudolf Ehmer, Zwei Kriminalfälle, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Krimina-
listik 20, 1 – 2 (1905), S� 86 – 90, 86f�
77 Vgl� z� B� Richard Bauer, Eine 14jährige Brandlegerin, in: Archiv für Kriminalanthro-
pologie und Kriminalistik 21, 3 – 4 (1905), S� 269 – 271; Kurt Boas, Forensisch-psych-
iatrische Kasuistik, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 37, 1 – 2
(1910), S� 1 – 114; Georg Ilberg, Die forensische Bedeutung der Dementia paralytica,
in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 46, 1 – 2 (1912), S� 102 – 117;
August Mehl, Die Geschichte eines geisteskranken Brandstifters, in: Archiv für Kri-
minalanthropologie und Kriminalistik 20, 3 – 4 (1905), S� 257 – 268; W� [Vorname nicht
näher angegeben] Rosenberg, Ein jugendlicher Brandstifter, in: Archiv für Kriminalan-
thropologie und Kriminalistik 25, 3 – 4 (1906), S� 282 – 285; [Vorname nicht genannt]
Ungewitter, Brandstiftung und Raubversuch eines Geisteskranken, in: Archiv für Kri-
minalanthropologie und Kriminalistik 25, 3 – 4 (1906), S� 356f�; eine besonders reich-
haltige Zusammenstellung von solchen Fällen findet sich im bereits mehrfach zitierten
Aufsatz Mönkemöller, Zur Psychologie des Brandstifters�
102 Christian Bachhiesl

wissenschaftlicher Nüchternheit und genauer Beobachtung entschlüsselbar – und


so konnte sich die Figur des Detektivs als Musterbeispiel wissenschaftlicher Akri-
bie festsetzen,78 eine Figur, die ihre literarische Verkörperung in Sherlock Holmes
fand und der im ‚wirklichen Leben‘ Hans Gross in so mancher Hinsicht entsprach�79
Dabei waren die Fortschritte in der Brandermittlung (chemische Analysemetho-
den, Anwendung der Photographie zur optischen Konservierung der Situation der
Brandstätte unmittelbar nach dem Brand usw�) um 1900, in der Zeit Hans Gros-
sens, erst am Anfang, so manche entscheidende Neuerung wurde erst nach Grossens
Tod 1915 eingeführt – erwähnt sei hier nur das von Roland Graßberger entwickelte,
in verbesserter Form auch heute noch gültige „Eliminationsverfahren“, das seiner-
seits auf stringenter Kausalitätsermittlung beruht�80 Der stete technische Fortschritt
brachte auch für die Brandermittlung immer neue Möglichkeiten mit sich, und auch
heute ist dieser Zweig der Kriminalwissenschaft ein dynamisches Feld�81 Die Krimi-
nalwissenschafter haben nach wie vor die Enthüllung der faktischen Wahrheit auf
ihr Banner geschrieben, und sie erklären – heute wie zu Zeiten Hans Grossens – so
viele Erkenntnisgegenstände wie möglich als in den Bereich der faktischen Wahr-
heit gehörig� Dabei wird bisweilen übersehen, dass die scheinbar faktischen Wahr-
heiten sich bei genauerem Hinsehen als transzendente Wahrheiten erweisen oder
zumindest von Fragen nach transzendenten Wahrheiten begleitet werden, mit denen
sie sich aber nicht decken – nicht selten werden, um 1900 wie heute, geistige Be-
schränktheit und soziale Gefühlskälte der Brandleger etwa aus Spuren, corpora delicti
und Ereignisabläufen erschlossen, und nach wie vor werden auf Basis des Geisteszu-
standes von Brandlegern oder aufgrund ihrer (vermuteten oder erwiesenen) Motive
Klassifikationen oder gar Typologien von Brandstiftern vorgenommen�82

78 Vgl� Jürgen Thorwald, Das Jahrhundert der Detektive� Weg und Abenteuer der Krimi-
nalistik (Berlin u� a� 1965)�
79 E� J� [Vornamen nicht näher angegeben] Wagner, Wissenschaft bei Sherlock Holmes
und die Anfänge der Gerichtsmedizin (Weinheim 2008), S� 89 – 102� Zum Vergleich
von Hans Gross mit Sherlock Holmes vgl� weiters William M� Johnston, Österreichische
Kultur- und Geistesgeschichte� Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848 bis 1938
(Wien u� a� 1974), S� 108; Gerhard M� Dienes, Hans Gross: Sherlock Holmes und Ver-
folger des Bösen, in: Gerhard M� Dienes u� a� (Hrsg�), Gross gegen Gross� Hans & Otto
Gross: Ein paradigmatischer Generationenkonflikt (Marburg 2005), S� 11 – 23�
80 Vgl� Frank D� Stolt, Roland Graßberger (1905 – 1991)� Akademischer Lehrer, Wissen-
schaftler und Praktiker bei der Ermittlung von Branddelikten, in: http://www�kripo�at/
FACHARTIKEL/2010/Brand/grassberger�htm (eingesehen am 5�5�2010)�
81 Vgl� Jörg Cicha, Die Ermittlung von Brandursachen (Stuttgart 2004); Wolfgang Holz-
mann, Brandermittlung (Hilden 2008); Frank D� Stolt, Das Praxishandbuch der Bran-
dermittlung (Renningen 2010)�
82 Vgl� Winfried Barnett, Psychiatrie der Brandstiftung� Eine psychopathologische Stu-
die anhand von Gutachten (Darmstadt 2005); Rebecca Bondü, Die Klassifikation von
Brandstraftätern� Eine Typologisierung anhand des Tatmotivs und anderer Variablen
(Frankfurt am Main 2006)�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 103

Wie geschwind von Sachbeweisen und ihren Konstruktionsdetails, also vorder-


gründig Fragen der faktischen Wahrheit, auf den Geisteszustand der Brandleger,
also auf transzendente Wahrheiten, geschlossen wurde, soll am Beispiel der Inter-
pretation eines mithilfe eines hölzernen Brandlegungsapparates vorgenommenen
Brandlegungsversuchs demonstriert werden� Der fragliche Brandlegungsapparat
ist heute im Kriminalmuseum der Karl-Franzens-Universität Graz ausgestellt�83 Es
handelt sich da um ein aus kleinen Holzbrettchen zusammengezimmertes Kästchen,
in dem gerade zwei Zündholzschachteln Platz fanden, „von denen man so viel der
Schachtelwände entfernt hat daß die Köpfchen frei zu liegen kommen“, wie Her-
mann Kalmann, ein Mitarbeiter des Grazer Kriminologischen Universitätsinstituts,
der diesen Apparat untersucht hat, bemerkte�84 Die zwei Zündholzschachteln wur-
den „derart eingelegt, daß die Zündhölzchen mit den Köpfchen einander gegenüber
angeordnet erscheinen�“ Zwischen die Köpfchenphalangen der Streichhölzer hatte
der Täter zwei an den Rückseiten aneinander geklebte Reißflächen von Streich-
holzschachteln geklebt, an denen eine Schnur befestigt war, die aus dem Apparat
heraushing� Der Täter deponierte diesen Brandlegungsapparat in einer Tenne „unter
angehäuftem altem Dachstroh“ und rechnete offenbar mit dem Spieltrieb von Kin-
dern, da es bekannt war, dass in dieser Tenne täglich Kinder zum Spielen zusam-
menkamen� Die Kinder sollten die aus dem Stroh herausschauende Schnur ergrei-
fen, sie herausziehen und so einen Brand entfachen� Allerdings wurde der Apparat
entdeckt, bevor spielende Kinder
Notiz von der fatalen Schnur neh-
men konnten�
Dieser Brandlegungsapparat
scheint nun auf den ersten Blick
zu komplex zu sein, um einem
geistesschwachen Gehirn ent-
sprungen zu sein; doch die Krimi-
nalwissenschafter sind nur dann
in ihrem Beruf erfolgreich, wenn
sie es nicht bei einem ersten Blick
belassen, und so schaute Hein-
Abb 2: Brandlegungsapparat, in dem zwei Zündholz- rich Kalmann ein zweites Mal
schachteln so angebracht wurden, dass die Köpfe hin und bemerkte: „Bei genauer
zueinander standen. Wenn man nun die zwischen Untersuchung des in Rede stehen-
den beiden Streichholzschachteln hineingesteckten,
den Brandlegungsapparates tritt
rückseitig zusammengeklebten Reißflächen durch einen
Zug an der Schnur entfernte, so entzündeten sich die uns eine Tatsache vor Augen, die
Streichhölzer bei aller Schlauheit und Sorgfalt,

83 Hans Gross Kriminalmuseum, Registratur 2480�


84 Heinrich Kalmann, Ein merkwürdiger Brandlegungsapparat, in: Archiv für Kriminal-
anthropologie und Kriminalistik 60, 1 – 2 (1914), S� 88 – 93, 89 – 92�
104 Christian Bachhiesl

mit der der Apparat konstruiert


erscheint, doch ein bedenkliches
Licht auf die verbrecherische In-
telligenz des Verfertigers wirft�“
Der Apparat war nämlich viel zu
kompakt gebaut, der Täter hatte
nicht genügend Raum für aus-
reichende Luftzufuhr und leicht
brennbares Material gelassen, so-
dass, wie am Kriminologischen
Institut durchgeführte Versuche
Abb 3: Ansicht von oben auf den Innenraum des in der
ergaben, die beim Herausziehen
vorigen Abbildung gezeigten Brandlegungsapparates der Reibflächen erzeugte Stich-
(Kalmann, Ein merkwürdiger Brandlegungsapparat, flamme nicht ausgereicht hätte,
S. 90) um den aus massiven Brettchen
verfertigten Apparat in Brand zu
setzen� Kalmann konnte sich diesen Konstruktionsmangel nur mittels zweier Hy-
pothesen erklären: Erstens, der Täter wollte die Erfolgschancen seines Anschlags
von vornherein minimieren; oder aber, zweitens, er weise ein „auffallend fehlerhaf-
tes Schlußverhalten auf “, sei also schlichtweg zu dumm für die Konstruktion eines
funktionierenden Brandlegungsapparates�

Abb 4: Zu Lehrzwecken angefertigter Nachbau des Brandlegungsapparates Reg. 2480, ausgestellt im


Grazer Kriminalmuseum

Kalmann verhehlt nicht, was er für die wahrscheinlichere Antwort hält: „Man ist
geneigt, die zweite Erklärungsmöglichkeit für die wahrscheinlichere zu nehmen�
Dieses plötzliche Fehlen jedes Kombinationsvermögens, das Aussetzen aller rich-
tigen, logischen klaren Überlegung und das Auftreten von so groben Denkfehlern
sind eine Erscheinung, die sich so oft bei Verbrechern findet� Es ist ‚die eine große
Dummheit‘ von der auch Prof� Hans Groß in seinem ‚Handbuch für Untersuchungs-
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 105

richter‘ spricht […] Es handelt sich hier um gedankliche Gegensätze, die so unge-
wöhnlich und in krassen Fällen so unerklärlich fremd sind, daß man, wenn man
nicht an das Einwirken und Mitwirken eines anderen Individuums glauben will,
Störungen und Fehler im Gehirn anzunehmen gezwungen ist, die uns immer wieder
und immer eindringlicher darauf hinweisen, daß wir es beim Verbrecher vielleicht
doch nicht so sehr mit einem moralisch verkommenen, als vielmehr mit einem in
gewisser Richtung intellektuell minderwertigen Menschen zu tun haben�“85 Zumin-
dest dieser gescheiterte Brandstifter war nach Meinung der Kriminalwissenschafter
eindeutig zu dumm, um einen funktionierenden Brandlegungsapparat zusammen-
basteln zu können, weshalb er auch von Franz Georg Strafella der Gruppe der „sozi-
al Primitiven“ zugerechnet wurde� Strafella bringt die eben beschriebene Apparatur
als Musterbeispiel für einen einfachen und primitiven Brandlegungsapparat�86 Nun,
die allermeisten Brandleger dürften sich ihrer „sozialen Primitivität“ bewusst gewe-
sen sein, da sie, so sie überhaupt Brandlegungsapparate anfertigten, zu simplen Kon-
struktionen Zuflucht nahmen,
die die Kriminologen zwar in
ihrer Auffassung von der Geis-
tesschwäche der Kriminellen
bestärken mochten, dafür aber
einwandfrei funktionierten; als
Beispiel sei hier nur ein auf ein
Brett genageltes, mit Werg um-
wickeltes und mit Petroleum ge-
tränktes Bündel Reisig genannt,
das von einem Müller in Brand
gesteckt und in einem Mehl-
kasten seiner Mühle deponiert
worden war, um dieselbe „warm
abzutragen“, aber gerade noch
rechtzeitig von einem Müllers-
burschen, der den Mehlkasten
Abb 5: Brandlegungsapparat, bestehend aus einem mit reinigen wollte, entdeckt wurde
Werg umwundenen, ölgetränkten Bündel Reisig, das und sich nun ebenfalls im Gra-
auf ein Brett genagelt und im Mehlkasten einer Mühle zerKriminalmuseum befindet
brennend deponiert wurde (Kriminalmuseum Graz, Reg. (Reg� 808b)�87
808b)

85 Kalmann, Ein merkwürdiger Brandlegungsapparat, S� 92f�


86 Franz Georg Strafella, Der sozial Primitive� Die Hilfsmittel des Verbrechers und das
Primitive an ihm, in: Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 68, 1 (1917),
S� 1 – 72, 51�
87 Hans Gross Kriminalmuseum, Registratur 808b�
106 Christian Bachhiesl

Abb 6: Der Brandlegungsapparat Reg. 808b, ausgestellt im Grazer Kriminalmuseum

Von faktischen Baumängeln des einen Brandlegungsapparates wird hier unvermit-


telt und ohne Scheu auf transzendente Dummheit und soziale Primitivität geschlos-
sen, und flugs verwandelt sich kriminalistische Praxis in kriminologische Theorie�
Der andere Brandlegungsapparat aber zeigt, dass es von Vorteil ist, faktisch dumm
oder doch einfach strukturiert genug zu sein, um einen tatsächlich entflammbaren
Brandsatz zu bauen – was das wohl für die transzendente Wahrheit betreffend die
Geistesverfassung dieses tüchtigeren Brandlegers bedeuten mag?
Damit sei die Brandlegung als kriminologiehistorisches Beispiel für das Inein-
andergreifen von faktischer und transzendenter Wahrheit ebenso wie von krimina-
listischer Praxis und kriminologischer Theorie ausreichend abgehandelt, wiewohl
es dazu noch viel zu sagen gäbe, etwa über die steigende Bedeutung transzendenter
Wahrheit, wenn Brandlegung dem Heimweh oder gar abergläubischen Motiven
entspringt�88 Allein, hier ist nicht endlos Platz� Aus diesem Grund muss auch die
Besprechung eines weiteren kriminologiehistorischen Beispiels für die Verwobenheit
von faktischer und transzendenter Wahrheit unterbleiben: Blutspuren nämlich stell-
ten für die Kriminalwissenschafter einerseits bloße Gegenstände exakt-naturwis-
senschaftlicher Erforschung dar und wurden mittels Spektralanalyse, Teichmann-
scher Hämin-Probe, Van Deenscher Guajakprobe und seit 1901 auch mit Hilfe der
Uhlenhuthschen Präzipitinprobe auf faktische Wahrheiten hin überprüft (Liegt
überhaupt Blut vor? Handelt es sich um Menschen- oder um Tierblut?)� Andererseits
waren mit Blutspuren stets auch abergläubisch-magische Vorstellungen verbunden,
die die Kriminalwissenschafter mit Herzfresserei, rituellem Blutmord, Zauberfor-
meln für Blutstillung und Vampirglauben konfrontierten – mit Vorstellungen also,
die zu Schlüssen auf die transzendenten Wahrheiten betreffend die Gedankenwelten
der superstitiös inspirierten Kriminellen in geradezu kecker Weise herausforderten�
Doch auch hier sei der Leser auf anderweitig Publiziertes verwiesen�89

88 Vgl� hierzu (leider etwas kryptisch publiziert): Christian Bachhiesl, Schwachsinni-


ge Branddämonen und heimwehkranke Feuerfeen� Zur Geschichte der kriminalwis-
senschaftlichen Erforschung der Persönlichkeit des Brandlegers, in: Otto Widetschek
(Hrsg�), Brandschutzforum Austria: 10� Internationales Aprilsymposion 2009� Aspekte
des Brandschutzes im neuen Jahrtausend (Graz 2009), S� 30 – 54�
89 Vgl� Bachhiesl, Blutspuren�
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 107

5. Ein erkanntes Erkenntnisproblem – ein adhortativer


Schluss

Die um 1900 tätigen Kriminalwissenschafter haben also sozusagen in epistemologi-


scher Sorglosigkeit die Differenz zwischen faktischer und transzendenter Wahrheit
nicht oder doch nicht ausreichend beachtet und alle sich ihnen stellenden Probleme
als Fragen faktischer Wahrheit behandelt� Das sei konstatiert, ohne es ihnen vorweg
zum Vorwurf zu machen – es ist müßig zu fragen, ob sie das denn bei den herrschen-
den Rahmenbedingungen und methodologischen Grundüberzeugungen überhaupt
anders hätten sehen können� Dies festzustellen soll auch nicht heißen, dass alles von
ihnen als faktisch wahr Erkanntes von vornherein als wertlos und irrelevant zu be-
trachten ist, und ebenso wenig sollen die kriminalwissenschaftlichen Zuschreibungen
im Bereich der transzendenten Wahrheiten rundweg und ohne genaueren Augen-
schein als unsinnig bezeichnet werden – bei aller berechtigter Kritik ihnen gegen-
über� Dazu ist anzumerken, dass seit den 1920er-Jahren in der Kriminalwissenschaft
eine verstärkte Hinwendung zur Erforschung transzendenter Wahrheiten erfolgt ist,
die sich in Form der ganzheitlichen, dezidiert auf irrationale Methoden aufbauenden
Kriminalbiologie manifestiert hat, die mitnichten zu tragfähigeren Ergebnissen ge-
führt hat als die auf faktische Wahrheiten versessene Kriminalwissenschaft der Jahr-
hundertwende – ganz im Gegenteil� Mit geradezu atemberaubender Nonchalance
wurde da durch „innere Schau“ und freihändige Interpretation von Körpermessungen
auf die angeblichen Persönlichkeitsstrukturen von Rechtsbrechern geschlossen, und
die holistisch-irrationale Erkenntnis angeblich dem Geist unmittelbar zugänglicher
Wahrheiten führte nicht etwa zu einer ätherischen Vergeistigung, sondern zu einer
verstärkten Biologisierung der Kriminalwissenschaft, was erst recht nach der Macht-
übernahme der Nationalsozialisten verheerende Folgen nach sich ziehen sollte�90 Es
führt also das Besinnen auf transzendente Wahrheiten allein keineswegs zu einer
höheren epistemischen Qualität wissenschaftlicher Arbeit�
Es ist mir vielmehr ein Anliegen zu zeigen, dass es einer eingehenden epistemolo-
gischen Untersuchung wissenschaftshistorischer Entitäten wie etwa der Geschich-
te und Entwicklung der Kriminalwissenschaft bedarf, um ein tieferes Verständnis
dieser untersuchten Entität zu erschließen� Nur so kann „sich die Geschichte nicht
nur als primäre Erfahrungsquelle, sondern auch als methodisches Korrektiv in der
Funktion eines Experimentallabors und Praktikums der Systematik“ erweisen, wie
Hans Krämer sagt�91 Denn:

90 Zur ganzheitlichen Kriminologie vgl� Christian Bachhiesl, Zur Konstruktion der kriminel-
len Persönlichkeit� Die Kriminalbiologie an der Karl-Franzens-Universität Graz (Hamburg
2005); Christian Bachhiesl, Der Fall Josef Streck� Ein Sträfling, sein Professor und die Erfor-
schung der Persönlichkeit (Wien u�a� ²2010); Bachhiesl, Das Jahr 1938 und die Grazer Kri-
minologie; Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur� Eine Geschichte der Krimi-
nologie und Kriminalpolitik in Deutschland 1880 bis 1980 (Göttingen 2006), S� 151–174�
91 Krämer, Kritik der Hermeneutik, S� 129�
108 Christian Bachhiesl

„Wir müssen uns dabei von dem auf einer Abstraktion beruhenden Ge-
danken freimachen, daß der Wandel von Systemen rein linear fortschrei-
te� Die Strukturen geschichtlichen Wandels sind – dies hat die neuere
metahistorische Besinnung selbst für die exakten Wissenschaften gezeigt
– in Wirklichkeit komplexer: Sie schließen potentielle Rückbeugungen,
Spiralbewegungen, retrograde Rotationsbewegungen ein, die zur Enthis-
torisierung und Neuintegration einmal ausgestoßener Elemente führen
können� Darin liegt der Grund der Möglichkeit, daß Historie und Syste-
matik produktiv miteinander zu kommunizieren und aneinander zu par-
tizipieren vermögen�“92

Gerade in der Kriminalwissenschaft gemahnt etwa das erneute Infragestellen des


Schuldstrafrechts aufgrund des angeblich die Obsoletheit des überkommenen Men-
schenbildes demonstrierenden Erkenntnisfortschritts in der Hirnforschung an die Dis-
kussionen um Strafrechtsreform vor etwa einhundert Jahren93 – ein schönes Beispiel
für die erwähnten „retrograden Rotationsbewegungen“� Das soll nicht heißen, dass die
Geschichte der Kriminologie ein so unbeackertes Feld wäre, dass man sich beliebig
an unfruchtbaren oder politisch gefährlichen methodologischen Versatzstücken aus
ihrer Requisitenkiste bedienen könnte� Im Gegenteil, es ist in den letzten Jahren eine
erfreuliche Hinwendung zur Erforschung der Kriminologiegeschichte festzustellen,
die reiche Früchte getragen hat�94 Diese Forschung ist vorwiegend diskursanalytisch

92 Krämer, Kritik der Hermeneutik, S� 132�


93 Vgl� Stefan Krauth, Die Hirnforschung und der gefährliche Mensch� Über die Gefahren
einer Neuauflage der biologischen Kriminologie (Münster 2008)�
94 Vgl� u� a� Imanuel Baumann, Dem Verbrechen auf der Spur; Peter Becker, Dem Täter auf
der Spur� Eine Geschichte der Kriminalistik (Darmstadt 2005); Peter Becker, Physiog-
nomie aus kriminologischer Sicht� Von Lavater und Lichtenberg bis Lombroso und A�
Baer, in: Gert Theile (Hrsg�), Anthropometrie� Zur Vorgeschichte des Menschen nach
Maß (München 2005), S� 93 – 124; Peter Becker, Verderbnis und Entartung; Peter Be-
cker, Richard F� Wetzell (Hrsg�), Criminals and their Scientists� The
The History of Crim-
inology in International Perspective (Cambridge u� a� 2006); Michel Foucault, Über-
wachen und Strafen� Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt am Main 1977); Silviana
Galassi, Kriminologie im Deutschen Kaiserreich� Geschichte einer gebrochenen Ver-
wissenschaftlichung (Stuttgart 2004); Ylva Greve, Verbrechen und Krankheit� Die
Entdeckung der Criminalpsychologie im 19� Jahrhundert (Köln u� a� 2004); Habermas,
Schwerhoff, Verbrechen im Blick; David von Mayenburg, Kriminologie und Strafrecht
zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus� Hans von Hentig (1887 – 1974) (Baden-
Baden 2006); Christian Müller, Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat� Psychiatrie,
Kriminologie und Strafrechtsreform in Deutschland 1871 – 1933 (Göttingen 2004); Kai
Naumann, Gefängnis und Gesellschaft� Freiheitsentzug in Deutschland in Wissen-
schaft und Praxis 1920 – 1960 (Berlin u� a� 2006); Peter Strasser, Verbrechermenschen�
Zur kriminalwissenschaftlichen Erzeugung des Bösen (Frankfurt am Main, New York
²2005); Miloš Vec, Defraudistisches Fieber� Identität und Abbild der Person in der
Wahrheit(en) in der Kriminalwissenschaft 109

und durchaus wissenschaftshistorisch ausgerichtet, aber dies großteils mit instituti-


onen-, politik-, ideen-, ideologie- oder sozialgeschichtlichem Schwerpunkten� Eine
Ergänzung dieser Forschung um eine stärkere erkenntnistheoretische Komponente ist
meines Erachtens notwendig, und dazu beizutragen habe ich hiermit versucht� Welche
Konsequenzen sich daraus für wissenschaftliches Arbeiten und vor allem für die Kri-
minalwissenschaft ergeben, dies zu bedenken sei der Leser aufgefordert�

Literatur
Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd� 11 (Hassenpflug-Hensel) (Leipzig 1880);
Bd� 54 (Nachträge bis 1899: Scheurl-Walther) (Leipzig 1908)�
Jörg Baberowski, Der Sinn der Geschichte� Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault
(München 2005)�
Christian Bachhiesl, Bemerkungen zur kriminologischen Physiognomik und zu ihren
antiken Wurzeln, in: Peter Mauritsch u� a� (Hrsg�), Antike Lebenswelten� Konstanz –
Wandel – Wirkungsmacht� Festschrift für Ingomar Weiler zum 70� Geburtstag (Wies-
baden 2008), S� 829 – 859�
Christian Bachhiesl, Bemerkungen zur strukturellen Skepsisvergessenheit biologis-
tisch zentrierter Kriminalwissenschaft, in: Kriminologisches Journal 42, 4 (2010), S�
263 – 275�
Christian Bachhiesl, Blutspuren� Zur Bedeutung des Blutes in der Kriminalwissenschaft
um 1900, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33, 1 (2010), S� 7 – 29�
Christian Bachhiesl, Das Jahr 1938 und die Grazer Kriminologie� Gebrochene Kontinui-
täten in einer aufstrebenden Wissenschaftsdisziplin, in: Bouvier, Reisinger, Historisches
Jahrbuch, Bd� 38/39, S� 93 – 120�
Christian Bachhiesl, Das Verbrechen als Krankheit� Zur Pathologisierung eines strafrecht-
lichen Begriffs, in: Virus� Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 7 (Wien 2008),
S� 11 – 40�
Christian Bachhiesl, Der Fall Josef Streck� Ein Sträfling, sein Professor und die Erfor-
schung der Persönlichkeit (Wien u� a� ²2010)�
Christian Bachhiesl, Die Grazer Schule der Kriminologie� Eine wissenschaftsgeschicht-
liche Skizze, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 91, 2 (2008),
S� 87 – 111�

Kriminalistik, in: Anne-Kathrin Reulecke (Hrsg�), Fälschungen� Zu Autorschaft und


Beweis in Wissenschaften und Künsten (Frankfurt am Main 2006), S� 180 – 215; Miloš
Vec, Die Spur des Täters� Methoden der Identifikation in der Kriminalistik (1879 – 1933)
(Baden-Baden 2002); Miloš Vec, Die Seele auf der Bühne der Justiz� Die Entstehung
der Kriminalpsychologie im 19� Jahrhundert und ihre interdisziplinäre Erforschung,
in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 30 (2007), S� 235 – 254; Richard F� Wetzell,
Inventing the Criminal� A History of German Criminology 1880 – 1945 (Chapel Hill,
London 2000)�
110 Christian Bachhiesl

Christian Bachhiesl, Schwachsinnige Branddämonen und heimwehkranke Feuerfeen� Zur


Geschichte der kriminalwissenschaftlichen Erforschung der Persönlichkeit des Brand-
legers, in: Widetschek, Brandschutzforum Austria, S� 30 – 54
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