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2018
A. Völkerrechtlicher Nichteinmischungsgrundsatz
Nachdem Binding noch 1885 den Umfang der nationalen Strafgewalt in die souveräne 2
Entscheidung des einzelnen Nationalstaates gestellt hatte,2 besteht heute Einigkeit darüber,
dass eine unbegrenzte Ausdehnung der nationalen Strafgewalt völkerrechtlich unzulässig ist.
Ebenso wie die staatliche Souveränität selbst wird auch die Strafgewalt durch das Völker-
recht begründet und begrenzt.3 Dies folgt schon aus der – unserem Fall 8 zugrundeliegen-
den – Lotus-Entscheidung des StIGH aus dem Jahre 1927, wenn sie auch wegen durch-
aus widersprüchlicher Passagen häufig zur Stützung der gegenteiligen Ansicht angeführt
wird. Im Lotus-Fall wird zunächst der Nichteinmischungsgrundsatz anerkannt:
„Die erste und wichtigste Einschränkung nun, die das internationale Recht dem Staat auferlegt, ist
der Ausschluss seiner Macht auf dem Gebiet eines anderen Staates, sofern nicht eine Regel besteht, die
dies erlaubt.“4
Dementsprechend geht der StIGH auch von einer grundsätzlich territorial begrenzten
Strafgewalt aus, die nur innerhalb der Grenzen des Völkerrechts überschritten werden
darf:5
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1
StIGH, Frankreich v. Türkei, Urt. v. 7.9.1927 (StIGHE 5, 71); dazu Becker, in: Menzel/Pierlings/
Hoffmann, S. 291 ff.; Gaeta, in: Cassese et al., 2005, S. 503 ff.; David, 2009, Rn. 3.1.2 ff.; Jeßberger, S. 198 ff.;
Schiemann, JR 2017, 339.
2
Binding, Handbuch des Strafrechts I, 1885, S. 374. Dieser traditionelle Ansatz hat seinen Ursprung in ei-
ner positivistischen Völkerrechtslehre, wie sie beispielsweise im 19. Jahrhundert von dem Rechtsphilosophen
John Austin vertreten wurde. Er ging davon aus, dass rechtliche Verpflichtungen nur durch freiwillige Akte
eines Souveräns entstehen können und dass die Souveränität unmittelbare und automatische Folge der staat-
lichen Verfasstheit eines Staates ist, s hierzu Mills, BYIL 84 (2014), 187 (191–193). Als Ausdruck der staatli-
chen Souveränität konnte dementsprechend auch der staatliche Kompetenz- und Zuständigkeitsbereich nur
durch einen freiwilligen Akt des jeweiligen Staates bestimmt werden, wodurch den Staaten faktisch ein
uneingeschränkter Ermessensspielraum eingeräumt wurde, siehe auch Jennings/Watts, Oppenheim, § 143:
„States possessing independence and territorial as well as personal supremacy can naturally extend or restrict
their jurisdiction as far as they like.“; hierzu auch Ambos, Treatise III, S. 206 ff.
3
Mills, BYIL 84 (2014), 187 (193); MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 9; siehe auch Bantekas, IntCrimL,
S. 329 f.; Schneider, in: Asholt et al., S. 103.
4
StIGH, Frankreich v. Türkei, Urt. v. 7.9.1927 (StIGHE 5, 71, 90). Hervorhebung K. A.
5
Vgl. auch Garrod, ICLR 12 (2012), 763 (769 f.) mwN.
23
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Revision, 23.01.2018
3 Der Nichteinmischungsgrundsatz ist heute in Art. 2 Abs. 1 UNS anerkannt; diese Vor-
schrift normiert den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten. Dieser gilt so-
wohl vertikal im Verhältnis der UNO zu den Staaten (Art. 2 Abs. 7 UNS) als auch – in
abgeschwächter Form7 – horizontal im zwischenstaatlichen Verkehr.8 Die Anmaßung na-
tionaler Strafgewalt über extraterritoriale Sachverhalte kann eine Einmischung in die inne-
ren Angelegenheiten des Hoheitsstaates darstellen, denn sie bestreitet dessen ausschließliche
Zuständigkeit zur Ausübung von Strafgewalt auf seinem eigenen Hoheitsgebiet und zwingt
ihn, die „fremde“ Ausübung von Strafgewalt zu dulden; der fremde Staat übt insoweit eige-
ne „Verbotsgewalt“ in fremdem Territorium aus.9 Dies kann zugleich eine völkerrechtswidri-
ge Intervention darstellen, wenn man darin eine ausreichende Zwangswirkung bzw. Ein-
griffsintensität erblickt.
4 Der darin liegende Souveränitätskonflikt birgt erheblichen Konfliktstoff, denn was für
den einen Staat die souveräne Ausübung seines Strafrechts ist, stellt sich für den anderen als
Einmischung in seine inneren Angelegenheiten dar.10 Weil es eine der Aufgaben des Völ-
kerrechts ist, solche Konflikte zu verhindern, stellt der Nichteinmischungsgrundsatz die
völkerrechtliche Grenze staatlicher Strafgewalt dar. Das ist auch in zahlreichen völkerrecht-
lichen Abkommen 11 anerkannt. 12 Die Annahme einer Kompetenz-Kompetenz der Staaten,
kraft derer sie ihre eigene Kompetenz erweitern könnten,13 ist mit dieser Rechtslage unver-
einbar, denn sie impliziert eine Unterordnung des Völkerrechts unter das nationale Recht.
Diese Ansicht verkennt, dass mit der Anerkennung der Gleichheit der Staaten die aus der
Überschneidung staatlicher Hoheitsbereiche entstehenden Konflikte nur durch eine supra-
oder transnationale Rechtsordnung gelöst werden können, wenn sich nicht das Recht des
Stärkeren, scil. des mächtigeren Nationalstaates, durchsetzen soll. Auszugehen ist also von
einer Kompetenz-Kompetenz des Völkerrechts.14
5 Über die allgemeine Grenze des Nichteinmischungsgrundsatzes hinaus enthält das Völ-
kerrecht allerdings keine konkreten Regeln zur Bestimmung der Grenzen nationaler Straf-
gewalt. Das ändert zwar nichts an der Beachtlichkeit des Nichteinmischungsgrundsatzes
und zwar nach deutschem Recht schon deshalb, weil er als allgemeine Regel des Völker-
rechts iSv Art. 25 GG den einfachen Gesetzen vorgeht;15 doch muss zur Klärung der Ver-
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6
StIGH, Frankreich v. Türkei, Urt. v. 7.9.1927 (StIGHE 5, 71, 90 f.).
7
Das zwischenstaatliche Interventionsverbot schützt nur vor einer Einmischung unter Androhung oder
Anwendung von Zwang (Fischer, in: Ipsen, VölkerR, § 59 Rn. 50; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völ-
kerR, § 51 Rn. 48), während Art. 2 Abs. 7 UNS Staaten vor jeglicher Einmischung der UN in Angelegen-
heiten der domaine reservé schützt (Fischer, in: Ipsen, VölkerR, § 59 Rn. 65).
8
Diff. Ziegenhain, S. 33 f.; s. auch Behrendt, S. 42.
9
Vgl. auch Merkel, in: Jeßberger/Geneuss, S. 47.
10
Vgl. Jennings/Watts, Oppenheim, S. 457; auch Roegele, Strafrechtsimperialismus, S. 45 ff.
11
Vgl. etwa die „UN-Konvention gegen das internationale organisierte Verbrechen“ (UN-OK-
Konvention) v. 3.11.2000 (UN-Dok. A/55/383/Add. 1), die das (passive und aktive) Personalitätsprinzip
unter den Vorbehalt der Nichteinmischung stellt (Art. 15 Abs. 2 iVm 4).
12
Aus deutscher Sicht: BVerfGE 63, 343 (369); 77, 137 (153); 92, 277 (320 f.); BVerfG EuGRZ, 76 (81);
BGHSt 27, 30 (32); 34, 334 (336); BGHR § 6 Nr. 1 Völkermord 1; BGH NStZ 1994, 232 (233); NStZ
1999, 236; JR 1977, 422 (423); BayObLG NJW 1998, 393. S. auch Behrendt, S. 41 ff.
13
So etwa Schönke/Schröder/Eser StGB Vor §§ 3–9 Rn. 27; vgl. auch Walter, JuS 2006, 870 f.; SSW-
StGB/Satzger Vor §§ 3–7 Rn. 4; Satzger, 2016, § 4 Rn. 2; Zöller, FS Krey, 2010, S. 505, die aber das Völker-
recht ausdrücklich als Schranke der staatlichen Kompetenz-Kompetenz ansehen; ebenso Safferling, IntStrafR,
§ 3 Rn. 13 f.
14
Vgl. schon Jescheck, IRuD 1956, 83; Rosswog, S. 36 f.; i. Erg. auch Grant, in: Kolb, S. 448, 455. Krit.
Schönke/Schröder/Eser StGB Vor §§ 3–9 Rn. 27; NK-StGB/Böse Vor § 3 Rn. 13.
15
BGHSt 27, 30 (31 f.); vgl. auch Holthausen, NJW 1992, 214.
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§2 8, 9 1. Teil. Strafanwendungsrecht
8 Nur wenn ein legitimierender Anknüpfungspunkt vorliegt, spricht eine Vermutung für
die Völkerrechtsmäßigkeit der Strafgewalterstreckung und es ist auf einer zweiten Stufe zu
prüfen, ob der durch den abstrakten Anknüpfungspunkt legitimierten Strafgewalterstre-
ckung im konkreten Fall ein ausdrückliches völkerrechtliches Verbot entgegensteht.
Als allgemeine Grundsätze kommen insoweit nur das allgemeine Willkür- und das
Rechtsmissbrauchsverbot in Betracht,19 eine spezifischere völkerrechtliche Verbotsnorm
dürfte kaum zu finden sein. In der Sache findet auf dieser zweiten Stufe eine materiell-
völkerrechtliche Prüfung dahingehend statt, ob der abstrakt-generelle Anknüpfungspunkt
auch die konkrete Hoheitsausübung legitimiert, ob er sich also im Hinblick auf die auf ihm
beruhende Strafgewaltserstreckung tatsächlich als sinnvoll („reasonable“20) darstellt. Dies
entspricht im Kern der von Francis Mann entwickelten „rule of reason“21 und dem hieraus
abgeleiteten völkerrechtlichen Grunderfordernis der Vernünftigkeit bzw. Angemessenheit
(„reasonableness“) von Strafgewalterstreckungen. 22 Das Konzept der reasonableness leidet
allerdings unter einem hohen Maß an Unbestimmtheit,23 das damit begründete Entschei-
dungen gefährlich in die Nähe der Willkür rücken kann.24 Wird zudem die Vernünftigkeit
bzw. Angemessenheit zur Voraussetzung eines (legitimen) völkerrechtlichen Anknüpfungs-
punktes gemacht – wie dies zum Beispiel in der Forderung nach einem „sinnvollen“ An-
knüpfungspunkt anklingt – wird das reasonableness-Kriterium redundant und zirkulär. Ent-
scheidend ist es daher, seinen Inhalt in Übereinstimmung mit den völkerrechtlich
anerkannten Anknüpfungspunkten und anderen völkerrechtlichen Prinzipen zu konkreti-
sieren.25 Dabei gilt allgemein der als staatliche Verhaltensregel von Richter Fitzmaurice im
Barcelona Traction-Fall formulierte Grundsatz der Mäßigung und Beschränkung bei Aus-
übung extraterritorialer Strafgewalt.26 Das so verstandene reasonableness-Erfordernis ist Legi-
timationsgrund und -grenze staatlicher Hoheitsausübung, da eine unvernünftige und daher
übermäßige Strafgewalterstreckung einen Verstoß gegen den Nichteinmischungsgrundsatz,
ggf. auch einen Rechtsmissbrauch oder einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipen dar-
stellen kann.27
9 In concreto ist eine Abwägung der betroffenen Staaten- und Souveränitätsinte-
ressen erforderlich, welche im Sinne eines dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der prak-
tischen Konkordanz ähnlichen völkerrechtlichen Optimierungsgebots aufzulösen ist:
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19
Zum Willkürverbot vgl. Wendt, S. 98 f.; Martin, Umweltbeeinträchtigungen, 1989, S. 142; Henrich,
S. 186 ff. Zum Rechtsmissbrauchsverbot vgl. schon Dahm, S. 38 f.; Rosswog, S. 158 ff.; Zieher, S. 67 f.; abl.
Pappas, S. 89.
20
Vgl. Oxman, EPIL III, 1997, 56.
21
Mann, Recueil des Cours 111, 1 (1964), 1 (43): „The problem, properly defined, involves the search for
the State or States whose contact with the facts is such as to make the allocation of legislative competence
just and reasonable.“
22
Zum Kriterium der „reasonableness“ als „Schlüsselbegriff“ zur Auflösung von Jurisdiktionskonflikten im
US-amerikanischen Recht vgl. Henzelin, S. 224 ff.; MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 14; Merkel, in: Lüders-
sen, S. 260; Vagias, Territorial Jurisdiction, S. 33 ff., 88, 106; Mills, BYIL 84 (2014), 187 (200); auch Bantekas,
IntCrimL, S. 331.
23
Krit. auch Meng, AVR 27 (1989), 156 (194); MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 14; Vagias, Territorial Ju-
risdiction, S. 33.
24
Siehe zB die kritischen Überlegungen von Fletcher, HarvLR 98 (1985), 949 (953): „reliance on reason-
ableness facilitates flat legal thinking. With syntactically mobile modifiers like ‘reasonable’ and ‘substantial’,
each rule of the common law can contain placeholders for everything that one needs to know to resolve a
particular problem.“; MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 14; Fletcher, FS Eser, 2005, S. 739 (744): „reasonable-
ness im common law ist wie eine Kanone ohne Zielrichtung“.
25
Ambos, Treatise III, S 210 f.; MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 14; Nach Vagias, Territorial Jurisdiction,
S. 196, 202 sind die allgemeinen völkerrechtlichen Prinzipien Ausdruck und Konkretisierung des „reaso-
nabless“-Kriteriums.
26
Fitzmaurice, ICJ, Belgium v. Spain, Judg. 5.2.1970 (Barcelona Traction), ICJ Reports 1970, 1, 105;
ebenso Council of Europe, S. 21.
27
Siehe auch Vagias, Territorial Jurisdiction S. 127 ff., 196, 202, 207; MüKoStGB/Ambos Vor § 3 Rn. 14.
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