Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
2023
75
Zu „Traktat“ siehe oben I. 1.
76
Siehe oben II. 3. a.
77
Siehe oben II. 3. b.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
78
Eine Darstellung der hierzu vertretenen Positionen (ein Vorsatz erfordere [1] Kenntnis
der Sozialschädlichkeit, [2] reine Faktenkenntnis, [3] Vermittelndes) gibt Roxin, Festschrift
für Neumann, S. 1023 ff. Roxin selbst stellt darauf ab, ob nach der Kenntnis, die der Täter
aufweist, ein Appell zu erwarten ist, das Verhalten zumindest zu überprüfen, was nach diffe
renzierend gebildeten Fallgruppen (Verstöße gegen soziale Mindeststandards, außerstraf
rechtliche Rechtsirrtümer, Tatbestände mit werthaltigen Merkmalen und Weiterem mehr)
zu beurteilen sein soll, S. 1029 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
79
Jakobs, RPhZ 2017, S. 343 f.
80
Damit bricht die Kernthese des Finalismus zusammen, es sei zwischen der Handlung
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
Stimmt man dem für Taten gegen den personalen Kernbereich zu, bleibt
zu prüfen, ob es sich auf Randbereiche übertragen lässt. Beispielhaft ge
fragt, kann nicht ein Täter, der eine Person für wenige – dem Opfer nicht
sonderlich wichtige – Minuten einsperrt, das Einsperren kennen, aber die
Bagatelle irrig für rechtlich toleriert halten, sie eben nur als (wenn auch
ungehörige) Belästigung, aber nicht als Unrecht verstehen? Bei einer sol
chen Vorstellung nimmt der Täter an, bei Bagatellbeeinträchtigungen ziehe
das Recht seinen Schutz vom Opfer ab; diesem sei insoweit seine Freiheit
nicht garantiert. Damit verkennt der Täter den Umfang der geschützten
Freiheit und geht davon aus, in dem Randbereich, in dem er agiert, sei die
Person nicht rechtlich frei, also überhaupt nicht Person, vielmehr der Will
kür anderer Individuen ausgesetztes Individuum. Dem Täter fehlt also die
Kenntnis des Angriffs auf Personalität und damit der Vorsatz der Freiheits
beraubung.
Zur Verdeutlichung soll das soeben Ausgeführte auf den Prototyp der
normativen Formung eines Tatbestands übertragen werden, scil. auf die
schon zuvor herangezogene Fremdheit bei den Eigentumsdelikten. Eigen
tum wird rechtlich nicht vor sozialadäquaten Einwirkungen geschützt, was
heißt, insoweit ist es kein rechtlich garantiertes Eigentum, sondern allen
falls faktischer Besitz. Zieht nun ein Täter den Umfang des Begriffs des
Sozialadäquaten zu weit, so verkleinert er dadurch in seiner Vorstellung
den Bereich des vom Recht konstituierten Eigentums, kennt also nicht die
Fremdheit des Angriffsobjekts, hält dieses vielmehr für bloßen Besitz, und
deshalb fehlt ihm bei einem Zugriff der Vorsatz für ein Merkmal des Tatbe
stands, eben für die Fremdheit. – Erneut zeigt sich: Eine Trennung von
Vorsatz und Unrechtsbewusstsein ist ausgeschlossen. Jedes andere Ver
ständnis entleert den Tatbestand hin zu einer sozial irrelevanten Anhäu
fung von Naturalismen, facta bruta der schon angeführten Art „ein Mensch
tötet einen anderen Menschen“. Vorsatz erfordert also die Kenntnis vom
rechtlichen Bezug der Täterperson zur Opferperson.
als „Sinnausdruck“ und der Schuld als „Entscheidung zugunsten des niederen Wertes (Un
wertes)“ zu differenzieren (Welzel, ZStW 58, S. 496, 504, und in zahlreichen weiteren Publi
kationen, insbesondere: ders., Strafrecht, S. 48 ff., 138 ff.). Die dadurch zwischen „Finalisten“
und „Kausalisten“ entbrannte heftige Diskussion hat rückblickend nur die Abkehr von der
Irrtumslehre der Rechtsprechung zum Unrechtsirrtum erbracht: BGH 2, S. 194 ff. – Aller
dings blieben teils scharf psychologisierend bestimmte (Finalität) und zum anderen norma
tivierend gedeutete (Vorwerfbarkeit) Bestandteile der subjektiven Tatseite ohne Theorie un
verbunden; dazu Jakobs, Festschrift für Schreiber, S. 450 ff.; ders., in: Verbrechenslehre,
S. 266 ff.; Stuckenberg, in: Verbrechenslehre, S. 104 ff. – Für eine moderne Deliktslehre gehört
die literarisch immens umfangreiche Diskussion mittlerweile zur „Vergangenheit“.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
84
Darstellung der Vorsatztheorie und Nachweise: Jakobs, AT, 19/14 ff.
85
Darstellung der Schuldtheorie und Nachweise: Jakobs, AT, 11/45 ff., 19/2.
86
Sehr eingehend gegen dieses Verständnis Hirsch, Lehre, durchgehend.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
gungsgrundes, muss sich ein Täter hingegen nicht ausdrücklich und aus
nahmslos als nicht gegeben vorstellen, vielmehr reicht zum Vorsatz die
Umkehrung der Kenntnis positiver Tatbestandsmerkmale, also eben das
Fehlen einer Vorstellung vom Vorliegen negativer.
Das verbreitete Argument, das Verständnis der Rechtfertigungsmerk
male als negativer Tatbestandsmerkmale führe zu einem monströsen Vor
satzverständnis, nämlich zur Aneinanderreihung der Kenntnis vom Feh
len jeglichen irgendwo auffindbaren Rechtfertigungsgrundes (keine Not
wehr, kein Notstand, kein Selbsthilferecht und Analoges mindestens
zehnfach, bei Amtspersonen wohl noch häufiger),87 zeugt von der Interpre
tationsschwäche seiner Vertreter; denn die Transformation einer Regelung
ins Negative müsste sich ja wohl noch leisten lassen, und dass der Allgemei
ne Teil des StGB insoweit nichts ausschließt, ist bei seinen ohnehin nur
fragmentarischen Vorschriften kein Hindernis für eine am Begriff orien
tierte, statt am Wortlaut klebende Interpretation. § 16 StGB ist dann eben
eine bloße Teilregelung.
Gegen die Behandlung der Rechtfertigungsvoraussetzungen als Vorsatz
gegenstand wird weiterhin vorgebracht, die Kenntnis des positiven Tatbe
stands bewirke einen Appell, das Vorliegen einer Rechtfertigungslage ge
nauer zu prüfen, und deshalb sei die irrige Annahme, eine solche Lage sei
gegeben, strenger zu behandeln als eine Nichtkenntnis von Merkmalen des
positiven Tatbestands. Auch dieses Argument trägt nicht; denn ein Appell
ergibt sich aus gegebener Unrechtskenntnis sowie aus der Kenntnis einer
unrechtsnahen Situation, und was die Unrechtsnähe betrifft, können die
Unkenntnis des positiven und die irrige Annahme des negativen Tatbe
stands gleichstehen. Beispielhaft, wieso sollte das Wissen eines Chirurgen,
dass er kräftig Alkohol zu sich genommen hat, weniger einen Appell zur
Folge haben als seine ungeprüfte Annahme, für einen Minimaleingriff lie
ge eine Einwilligung vor?88 – Der Drang, neben einem psychologisierend
verstandenen § 16 StGB (wobei der Wortlaut der Vorschrift ein solches Ver
ständnis nahelegen mag) eine vorsatzgleiche Bestrafungsmöglichkeit89 er
öffnen zu wollen, resultiert aus ebendieser starren Bindung und entfällt,
wenn der Vorsatzbegriff und nicht seine psychologisierende Verballhor
nung die Interpretation leitet, und dann ergibt sich geradezu geläufig, Vor
satz und Unrechtskenntnis gleichzusetzen, was nunmehr bezogen auf
Rechtfertigungslagen knapp dargelegt werden soll.
87
Ausführlich Hirsch, Lehre, S. 267 ff.
88
So schon Jakobs, AT, 11/47; ders., Festschrift für Rudolphi, S. 110 ff.
89
Siehe unten III. 3.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
Damit weiß er nicht, dass er in fremde Freiheit eingreift, scil. in eine dem
Kind eigene und ihm selbst fremde Sphäre. Wiederum fehlt Vorsatz. – Das
gängige Gegenargument, die irrige Annahme des rechtlichen Bestands ei
nes Rechtfertigungsgrundes stehe der irrigen Unkenntnis tatbestandlichen
Unrechts gleich (jedenfalls Verbotsirrtum nach § 17 StGB), beruht auf
einem rein naturalistischen und deshalb rechts- und gesellschaftsfernen
Verständnis von Vorsatz: Bei der hiesigen Sicht erhebt sich die Frage nach
einem Verbotsirrtum bei einem Vorsatzdelikt nicht, da ohne Unrechts
bewusstsein bereits der Vorsatz ausscheidet.
Insoweit abschließend, wie ist zu argumentieren, wenn der Täter einen
aktuell gegebenen Rechtfertigungsgrund nicht als rechtlich anerkannt be
greift? Es geht um die Umkehrung der Annahme, es gebe einen verbieten
den Tatbestand: Wahndelikt. – Zur Komplettierung, wie soll ein Täter zu
beurteilen sein, der die gegebenen Voraussetzungen einer Rechtfertigungs
lage nicht erkannt hat? Die Antwort liegt auf den Hand: Er ist wie ein ande
rer Täter zu behandeln, der die Verwirklichung eines – im Recht vorhande
nen – Tatbestands irrig annimmt, also als Versuchstäter.
Diese Ergebnisse werden teils nicht befriedigen: Selbst gröbste Fehlvor
stellungen können Vorsatz ausschließen. Das liegt allerdings nicht an des
sen Begriff, vielmehr an dem verfehlten, nämlich starr psychologisierenden
Verständnis des § 16 StGB, der aber, stellt man auf den Vorsatzbegriff ab,
wie gezeigt, von der elastischeren Regelung in § 17 StGB nicht überholt wer
den kann; mit anderen Worten, § 17 StGB ist begrifflich völlig überflüssig,
und zwar insbesondere bei Delikten gegen die Person.91 Dass diese Inter
pretationslage bislang kaum erkannt wird, dürfte auf einem allzu beschei
denen Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft beruhen: Statt Begrif
fe zu entfalten klebt sie am Wortlaut eines Gesetzes, welches die Vertreter
dieser Wissenschaft – durchaus akribisch – kommentieren. Wie es sich mit
der Begriffsexplikation bei Fehlvorstellungen verhält, wird nachfolgend
noch zu erörtern sein.
nicht die Sicherheit, aber doch die Gefahr einer Selbstschädigung, einer
poena naturalis. Beispielhaft denke man an einen irrtümlich verursachten
Verkehrsunfall oder an eine irrtümlich ausgebliebene Aufsicht über die
eigenen Kinder und anderes mehr: In solchen Fällen schneidet sich die Per
son irrtumsbedingt häufig auch „ins eigene Fleisch“. – Im Ergebnis unter
mauern sowohl die demonstrierte Inkompetenz als auch das Heraufbe
schwören der Gefahr einer poena naturalis die Notwendigkeit, die gesetzli
chen Standards einzuhalten, und dies selbst dann, wenn der hervorgerufene
Fremdschaden erheblich ausfällt.93
Damit ergibt sich ein geradezu selbstverständlicher Bereich der Fahrläs
sigkeit, nämlich derjenige eines vermeidbar irrtümlichen Verhaltens. Bei
Unvermeidbarkeit tangiert die agierende Person die gesetzlichen Standards
nicht, verhält sich vielmehr im Rahmen des erlaubten Risikos. – Bei Ver
meidbarkeit gibt es keine rechtlich relevanten Stufen der Inkompetenz (bei
grober Fahrlässigkeit dürfte die Inkompetenz sogar besonders stark de
monstriert werden), aber Stufen der gesetzlichen Standards: Je elementarer
sie zur Möglichkeit gesellschaftlichen Lebens beitragen, umso heftiger
stört, wer vermeidbar über sie irrt. Beispielhaft, im Straßenverkehr verfehlt
ein Autofahrer, der nicht auf sein Tempo achtet und deshalb zehn Prozent
zu schnell fährt, einen notwendigen Standard, aber derjenige, eine rot zei
gende Ampel nicht zu überfahren, wiegt mehr.
Unkenntnis sind jede Fehlvorstellung und jedes Fehlen einer Vorstel
lung; ein Irrtum hingegen sind nur eine Fehlvorstellung oder das Fehlen
einer Vorstellung, bei denen der Person an einer richtigen Vorstellung gele
gen ist. Aber wie verhält es sich bei der psychischen Lage einer Person, der
an einer zutreffenden Beurteilung ihres Verhaltenszusammenhangs nicht
gelegen ist? Einer solchen Person ist gleichgültig, ob sie ein erlaubtes Risiko
überschreitet, weil für sie nichts davon abhängt. Beispielhaft, ein Autofah
rer lenkt sein Fahrzeug schwungvoll durch schmutzigen Schneematsch
und bedenkt die Folgen für die Kleidung nahe befindlicher Passanten nicht,
weil er solche Verschmutzungen geläufig als nicht bedenkenswert ein
schätzt. Ein Irrtum fehlt mangels eines Interesses am Wissen, und Kenntnis
fehlt mangels eines Daran-Denkens gleichfalls. Wie ist diese Unkenntnis
zu beurteilen?
Es handelt sich bei einer solchen Lage um den Fall eines seit über 200
Jahren als abgetan geltenden dolus indirectus:94 Kenntnis fehlt und ein Irr
93
Jakobs, ZStW 101, S. 516 ff.; ders., Rechtswissenschaft 2010, S. 283 ff. (auch in: Beiträge,
S. 628 ff.).
94
Zum Folgenden Jakobs, ZStW 114, S. 584 ff.; ders., Rechtswissenschaft 2010, S. 306 ff.
(auch in: Beiträge, S. 630 ff.); Puppe, ZStW 103, S. 23 ff.; Pawlik, Unrecht, S. 85 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
tum fehlt gleichfalls, weil der Agierende seine Aufmerksamkeit auf den Be
reich von Fremdschäden nicht erstreckt. Hält man sich an den nicht inter
pretierten Wortlaut von § 16 StGB, so wird nicht als Vorsatztäter, vielmehr
milder (!) behandelt, wer sich um seine individuell (ohne rechtliche Zuord
nung) nicht interessierenden Verhaltensfolgen nicht kümmert; mit anderen
Worten, je mehr der Agierende sich als Individuum auslebt und je weniger
er sich als Person begreift, umso eher verliert er bei einem solchen Ver
ständnis die Verantwortung für eine Vorsatztat. Das wäre allerdings ein
Psychologismus mit nicht erklärbaren Folgen für die Bestimmung der bei
der Zurechnung zu berücksichtigenden Faktoren. Strafrechtswissenschaft
wäre diese Wortlautinterpretation allerdings nicht, da es sich allein um
eine Definition (Unkenntnis) handeln würde, aber nicht um die Entwick
lung eines strafrechtlich passenden Begriffs; denn was bei einem vermeid
baren Irrtum angemessen ist, muss es nicht auch bei überhaupt jeder ver
meidbaren Unkenntnis sein.95
Beiläufig, das gewonnene Ergebnis lässt sich abermals auf Rechtferti
gungslagen übertragen, etwa wenn bei der Abwehr einer Gefahr der Ab
wehrende aus Desinteresse nicht sieht, dass starke Indizien gegen eine
rechtlich anerkannte Abwehrlage sprechen oder immerhin das Erforder
liche reduziert werden kann.96 Die Umkehrung der Lage bei positiven Tat
bestandsmerkmalen ist also dergestalt vorzunehmen, dass an die Stelle des
aus Desinteresse nicht Vorgestellten die mangels Interesses an der Vergegen-
wärtigung der wirklichen Lage vorschnell akzeptierte Vorstellung tritt. Dem
Ausbleiben einer aktuellen Vergegenwärtigung beim positiven Tatbestand
entspricht also eine zu weite Vorstellung beim negativen.
Zwischen der Kenntnis als aktueller Vergegenwärtigung und der Un
kenntnis siedelt das zwar nicht Vergegenwärtigte, aber Bekannte,97 also das
schon bei einer geringen Zuwendung ins aktuelle Bewusstsein Tretende
95
Auf die Nennung eines „Irrtums“ in der Überschrift zu § 16 StGB kommt es für diesen
Befund nicht an, da die Begriffsentwicklung von der Wortwahl unabhängig zu erfolgen hat.
96
Zum Problem: Jakobs, Festschrift für Paeffgen, S. 221 ff. Dort wird allerdings der
Schwerpunkt etwas einseitig auf die erstgenannte Konstellation gelegt. Es handelt sich bei
beiden Konstellationen um nur phänotypische Differenzierungen eines Grundproblems: Der
Abwehrende agiert mangels eines Interesses an Mäßigung „ins Blaue“.
97
„Kennen“ (gegenwärtig aktuelles Bewusstsein) und „Bekanntschaft“ (aktualisierbares
Bewusstsein) werden – zumal in der nicht juristischen Sprache – nicht selten gleichgestellt.
Darauf beruhen einige der ehemals häufig erörterten Möglichkeiten, die erforderliche Inten
sität des Wissens beim Vorsatz zu bestimmen (Zusammenstellung bei Jakobs, AT, 8/10 ff. mit
Nachweisen). – Mignon fragt in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (eingangs des 3. Ka
pitels [Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. VII, S. 145]) in ihrem Lied von drei Stro
phen sechsmal „Kennst du …?“, dies nicht im Sinn von „Ist dir aktuell bewusst …“, vielmehr
in demjenigen „Ist dir bekannt, dir verfügbar …?“.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
– aber diese Zuwendung bleibt aus. Zur Bestimmung des rechtlichen Um
gangs mit der Problematik dürfte es hilfreich sein, sich den Übergang von
der – zumindest einige Bereiche bestimmenden – Erfolgshaftung zur
Schuldhaftung nochmals vor Augen zu führen.98 Auch die Erfolgshaftung
beruht auf dem Verständnis einer Orientierung ermöglichenden, sinnvoll
zusammenhängenden Welt. Selbst wenn es vermutlich eine Haftung für
„falsches Verhalten“ immer schon gegeben hat – von alltäglich vorkommen
den Kollisionen bis hin zur offenbaren Bosheit (die Gestalt des Kain) –,
stand neben dieser Haftung für die eigene Gestaltung der Welt auch eine
solche für weit verstandenes Schicksal, also für die Gestaltung durch
„höhere Mächte“. Ob das eine Strafhaftung war, soll erneut99 dahinstehen.
Die Einbindung in die Gesellschaft erfolgte jedenfalls nach dem, was eine
Person „mitbrachte“: nützliches Verhalten und Glück oder eben schädliches
Verhalten und Unglück; so und nicht anders wurde nun einmal der orientie
rende Sinnzusammenhang der gesellschaftlich relevanten Welt verstanden.
In der entzauberten Welt gibt es keinen Sinn eines Schicksals;100 dieses
wird vielmehr per se zu sinnloser Natur, die nur mittelbar gesellschaftlich
relevant werden kann, nämlich bei dem Unternehmen, sie zu lenken. Bei
spielhaft, ein Überschwemmungen bewirkender Dauerregen oder eine Epi
demie sind nicht etwa „Strafen Gottes“ oder Ähnliches, vielmehr bloßes
Unglück, es sei denn, eine Person sei durch ihr Verhalten für den mangel
haften Schutz davor verantwortlich und gäbe dem Geschehen dadurch ei
nen Sinn. Entsprechend ist bei glücklichen Wendungen zu urteilen: Ihr
Eintritt ist nur gesellschaftlich relevant, wenn er durch ein pflichtgemäßes,
vielleicht sogar lobenswertes Verhalten hervorgerufen wurde, wie es etwa
bei der Entwicklung des Penicillins der Fall war. Um ein „Geschenk des
Himmels“ handelt es sich jedenfalls nicht.
In der entzauberten Welt sind Glück und Unglück also sinnlos,101 oder sie
sind mit dem Verhalten einer zur Sinnstiftung fähigen, also kompetenten
Person verbunden. Bei dieser Lage gilt es, die Zuständigkeit für supereroga
torisches oder doch wegen seiner Nützlichkeit gebotenes wie in der Um
kehrung die Zuständigkeit für gesellschaftsschädliches Verhalten unter
den agierenden oder mögliche Aktionen unterlassenden Personen aufzu
teilen, und zwar restlos: Was machbar ist, hat einen positiven oder negati
98
Siehe oben zu Max Weber II. 2.
99
Siehe oben II. 1., Text zu Fn. 12, 13.
100
Oben zu Max Weber II. 2.
101
Allerdings kann das jeweilige Ereignis zukünftig die Kommunikation bestimmen,
etwa bei der Beseitigung eines Zufallsschadens oder der Nutzung einer zufällig glücklichen
Wendung.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
ven Sinn, und das nicht (oder noch nicht) Machbare ist per se sinnlos (wenn
auch eventuell berechenbar102). Die Aufteilung erfolgt, indem den Personen
Organisationskreise zugesprochen werden, bei denen sie selbst (ihrerseits
Teile dieser Kreise – Selbstverwaltung!) dafür zu sorgen haben, dass aus
dem Kreis kein schädigender Output herausdringt oder notfalls alsbald re
voziert wird und dass die vom Inhaber des Kreises erwarteten förderlichen
Leistungen erbracht werden.
Damit liegen freilich noch nicht die Bedingungen fest, unter denen ein
Organisationskreis überhaupt verwaltbar ist. Neben die geradezu selbstver
ständlichen Voraussetzung, dass Organisationsfreiheit nur bei Folgenver
antwortung möglich ist, tritt als weitere Bedingung – es geht nur um die
machbare Welt! –, dem Inhaber des Organisationskreises müsse Informa
tion über das von ihm Erwartete zugänglich sein; er muss also den Zustand
des Kreises in den gesellschaftlichen Erwartungszusammenhang einord
nen können – ansonsten könnte die verwaltende Person diesen Sinnzusam
menhang weder bestätigen noch ihm widersprechen. Allerdings verändert
selbst die beste gesellschaftliche Orientierung kein Jota an dem Verhalten
der Orientierten, wenn diese sich bei ihren Aktionen oder Unterlassungen
nicht um das scheren, was von ihnen rechtlich erwartet wird, sich also
nicht personal verhalten, vielmehr ihren individuellen Präferenzen folgen.
Das Problem eines Irrtums, also der Fahrlässigkeit, sei noch eine Zeit lang
dahingestellt, aber ansonsten dürfte nicht zu bezweifeln sein, dass erkann
tem oder erkennbarem rechtlichen Verlangen von kompetenten Personen
(und an andere richtet sich das Verlangen nicht) zu folgen ist. Das Recht
kann die individuelle Vorzugswürdigkeit seiner Befolgung nicht begrün
den, und deshalb generiert es Personen, deren eigene Aufgabe es ist, für
eine hinreichende Motivation zur Rechtsbefolgung Sorge zu tragen.103 Da
bei kommt es nicht darauf an, ob der sich Verhaltende die gegebene Situa
tion aktuell bedenkt und sie in diesem Sinne kennt, sondern ob sie ihm –
nicht notwendig in allen Details – bekannt ist („Bekanntschaft“ als nicht
aktuelle, aber jederzeit aktualisierbare Kenntnis). Die motivatorische Rele
vanz des Bekannten, wenn auch nicht aktuell Reflektierten, muss so selbst
verständlich rechtlich erwartet werden, wie eine Person beanspruchen
darf, bei der Verwaltung ihres Organisationskreises nicht gegängelt zu wer
den; mit anderen Worten, eine Person wird mit der Einrede nicht gehört,
sie habe sich den bekannten Zusammenhang ihres Verhaltens mit der
rechtlichen Beurteilung von dessen Konsequenzen nicht aktuell zur Kennt
102
Siehe oben II. 1.
103
Jakobs, ZStW 101, S. 516 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
falls auf die frequentierte Gegenfahrbahn. Hier mag das Ziel, nicht in die
Hände der Polizei zu fallen, die Beschäftigung mit der Gefährlichkeit sei
nes Verhaltens, dies auch für sein eigenes Leben, überwuchert haben.
In einer zweiten Fallgruppe ist sich der Täter – vielleicht durch Gewöh
nung – sicher, für sich selbst schadlos von der ordentlichen Verwaltung sei
nes Organisationskreises bereichsweise absehen zu können, und nach eini
ger Zeit tritt ihm der bekannte Mangel nicht mehr vor Augen. Beispielhaft,
ein positiv Verpflichteter107 vernachlässigt seinen Schützling immer wieder.
Weiterhin, ein Kraftfahrzeughändler pflegt jahrelang mit den teils nicht
versicherten Fahrzeugen seines Bestands zu fahren, ohne nach einiger Zeit
über das immer wieder Unkorrekte seines Verhaltens überhaupt noch
nachzudenken. – Weitere Fallgruppen mögen sich bilden lassen.
Anders verhält es sich bei einem fahrlässigen, irrtümlichen Verhalten.
Hierbei ist das Fehlen der aktuellen Vergegenwärtigung des Bekannten
keine Folge eines Wertungsfehlers, also eines Desinteresses an den Kon
sequenzen des eigenen Verhaltens, sondern Folge eines Orientierungsver
lustes: Einer Person gelingt es nicht, sich in der Situation die relevanten
Bereiches ihres Organisationskreises aktuell zu vergegenwärtigen. Anders
als die radikale Stilisierung der Person bei Hegel zum „Denkenden“ sugge
riert,108 bedarf auch ein „Denkender“ eines Kopfes, der denkt, und dieser
Kopf funktioniert nicht stets richtig, dies nicht nur unter dem Einfluss
einer Erkrankung, sondern zudem auch eines Mangels an Schlaf, einer
Schlaftrunkenheit, einer seelischen Überlastung, eines Schreckens oder
auch einer unverhofften freudigen Überraschung oder anderer Umstände,
die einen Kopf sonst noch im „Denken“ stören können, dies bis hin zu feh
lerhaftem Zeitgefühl und zum schlichten Vergessen.
Die bei solchen seelischen Lage zustande kommenden Orientierungs
fehler beruhen, anders als der dolus indirectus, nicht auf einer falschen
Werthaltung, vielmehr auf der jeder Person (also selbst bei richtiger Wer
tung) wegen ihrer Bindung an einen nun einmal unvollkommenen Leib
eigen seienden konstitutionellen Schwäche. Diese Schwäche gilt es bei der
Bestimmung der an eine Person gerichteten Erwartung vorab einzukalku
lieren, dies allerdings nur, wenn sie nicht auf einer mangelhaften Sorge der
Person selbst beruht, also nur bei Unvermeidbarkeit.109
Bei der Beantwortung der Frage, welches Maß an Sorge verlangt wird,
liegt die Entscheidung zu den Extremen auf der Hand: Weder kann auf
107
Jakobs, System, S. 85 ff.; ders., Festschrift für Costa Andrade, S. 689 ff., durchgehend.
108
Dazu oben II. 3. b., letzter Absatz.
109
Zur milderen Bestrafung bei Fahrlässigkeit siehe oben III. 3., Text vor Fn. 93.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
4. Garantieübersteigendes Wissen 37
4. Garantieübersteigendes Wissen
114
Jakobs, Festschrift für von Heintschel-Heinegg, S. 235 ff.
115
Genauer wäre: nicht garantiertes Wissen.
116
Schon Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S. 273; ders., AT, 9/47 f.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
117
Jakobs, AT, 8/7 ff., 15 ff., 18 ff.
118
Zum alternativen Vorsatz Jakobs, AT, 8/2, 15.
119
Letztes Endziel dürfte stets „Glückseligkeit“ sein.
120
Hörnle will den Begriff „bedingter Vorsatz“ überhaupt aufgeben und strebt folgende
Dreiteilung an: direkter Vorsatz, Recklessness und Fahrlässigkeit (JZ 2019, S. 4 40 ff.). Sie sieht
zutreffend, dass eine Ausrichtung an individueller Befindlichkeit sich nicht mit dem recht
lich Geforderten deckt (S. 4 44, 445 ff. [Aber warum wird dann der durch Individualismen
gekennzeichnete direkte Vorsatz ersten Grades hervorgehoben?]). Allerdings dürfte Hörnle
die Erfolgsaussichten des hier unternommenen Versuchs einer normativierenden Korrektur
des üblichen Psychologismus – auf die sie nicht eingeht – unterschätzen.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
können:121 ein Wollen für den Fall des Eintritts der Folge, ein In-den
Kauf-Nehmen, ein Wollen im Rechtssinn, ein Fehlen des Vertrauens auf
ein Ausbleiben der Folge und vieles anderes mehr, was hier nicht weiter
vertieft werden soll; denn es liegt neben der Sache, also neben dem Vorsatz
begriff als Element der Zurechenbarkeit eines Geschehens. Nur die Formu
lierung, Eventualvorsatz scheide aus, wenn der Täter auf ein Ausbleiben des
Erfolgs ernsthaft vertraut habe, weist in die richtige Richtung; denn sie lässt
es zu, den individuellen Vorgang des Vertrauens auf seine allgemeine Be
deutung – eben auf seine nach allgemein geltenden Wertungen gegebene
Ernsthaftigkeit – zu prüfen und kommunikativ irrelevantes Vertrauen aus
zuscheiden. Dazu wird noch zu argumentieren sein.122
Es ist kategorisch falsch, bei der Beurteilung dessen, was ein Agierender
(oder Unterlassender) gestaltet, andere als diejenigen Bedingungen heran
zuziehen, die zur Gestaltung vorliegen müssen, und zu diesen Bedingun
gen gehören nicht individuelle Präferenzen oder Stellungnahmen, also we
der ein Erstreben noch ein In-den-Kauf-Nehmen oder das Fehlen eines
nur-individuell begründeten Vertrauens etc. Gewiss muss ein Verhaltens
antrieb vorhanden sein, damit es überhaupt zu einer bedeutungshaltigen
Gestaltung der Welt kommt, aber dieser Antrieb ist nicht Teil der Gestal
tung, sondern ihr – gesellschaftlich äußerlicher, da individueller – Anlass.
Es geht beim Vorsatz um die Gestaltungskraft, über die eine Person ver
fügt, nicht hingegen um die individuelle Beurteilung des zu Gestaltenden.
Eine Person, die sich überhaupt verhält (und ansonsten ist sie nicht Per
son), sei es im Recht, sei es entgegen dem Recht, unternimmt das nicht in
einem bedeutungsleeren und damit auch gesellschaftsleeren, also „natürli
chen“ Raum („Raum“ als Bezeichnung eines Zusammenhangs), den sie mit
ihren individuellen Präferenzen oder Abneigungen füllen könnte; denn
den Bestandteilen dieses Bereichs ist ihre gesellschaftliche, allgemeine Be
deutung längst immanent, wie jeder weiß, der sich nicht als erster Mensch
versteht. Welche Zusammenhänge in der sozialen Welt etwas bedeuten und
was die Bedeutung ist, richtet sich nach gesellschaftlich präformierten, all
gemeinen Urteilen (etwa zur Höhe des erlaubten Risikos), über die allen
falls in bestimmten Verfahren oder durch geschichtliche Entwicklung ver
fügt werden kann. Man mag sich das vorstellen, wie es beim Blättern in
einem Bildband der Fall ist: Ein Bild folgt auf das nächste, jeweils als kom
121
Treffend gegen die Suche nach einem „Wollen“, „Billigen“ etc. Puppe, JR 2019, S. 325
mit Nachweisen. Das Problem taucht in zahlreichen Rechtsordnungen auf; dazu lehrreich
die das deutsche, französische und kalifornische Recht betreffende – allerdings wenig „nor
mativierungsfreundliche“ –Studie von Ruppenthal, Tötungsvorsatz, S. 103 ff., 287 ff., 318 ff.
122
Siehe unten III. 6.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
plettes Bild, und der Blätternde mag sich auf Details konzentrieren oder ab
und an auch wegschauen, ohne allerdings dadurch den Zusammenhang
eines Bildes oder – bei einem gut eingerichteten Band – denjenigen zwi
schen den Bildern verändern zu können. Beiläufig, Autor des Bandes ist die
Allgemeinheit.
Eine Person kann also nur zwischen präformierten Weltgestalten als Be
deutungszusammenhängen wählen, dies je nach der von der Person „auf
geblätterten Seite“. An den dann sich ergebenden Zusammenhang bleibt sie
gebunden. Beispielhaft, eine Person steckt ihr Haus in Brand, um die Ver
sicherungssumme zu erlangen; die Tat gelingt, aber das Mobiliar sämt
licher Mieter verbrennt erwartungsgemäß ebenfalls, und ein gelähmter
Bewohner kann nur knapp aus dem Haus gerettet werden. Was ist dabei
das Ziel, das Beabsichtigte? Die übliche Antwort dürfte lauten, die Zerstö
rung des Hauses erfolge mit Absicht (mit dolus directus ersten Grades,
Hauptfolge), diejenige der Habe der Mieter mit sicherem Wissen (mit dolus
directus zweiten Grades, sichere Nebenfolge, hier vielleicht nicht überhaupt
sicher, vielmehr sicher mit einer vielleicht ihrerseits unsicher eintretenden
Hauptfolge verbunden) und die versuchte Tötung des Gelähmten mit Even
tualvorsatz (mit dolus eventualis, gleichfalls bezogen auf eine Nebenfolge).
Diese Antwort wäre auch korrekt, ginge aber am rechtlich Erheblichen vor
bei; denn so, wie der Täter vorgeht, kann er das Zusammenhängende nur
als ein Ganzes ins Werk setzen: So er sich überhaupt zum Tun oder Unter
lassen entschließt, beabsichtigt er die Realisierung des gesamten Zusam
menhangs, und er kann nur wählen zwischen „alles oder nichts“. Hegel for
muliert: „Es ist eines Theils die subjective Reflexion, welches die logische
Natur des Einzelnen und Allgemeinen nicht kennt, die sich in der Zersplit
terung von Einzelheiten und Folgen einläßt.“123
Das Beabsichtigen einzelner Elemente eines Zusammenhangs gehört
nicht zum Vorsatz als Voraussetzung einer sinnvollen Gestaltung der Welt,
also dem Vorsatz als Tatsteuerung. Salopp gesprochen, Vorsatz ist Vorsatz,
und Absicht ist nicht „mehr“ Vorsatz als ein dolus directus zweiten Grades
oder ein Eventualvorsatz. Das beurteilt der Bundesgerichtshof neuerdings
anders,124 indem er § 46 Abs. 2 Nr. 1 StGB heranzieht, wonach bei der Straf
zumessung die „Beweggründe und Ziele des Täters“ zu berücksichtigen
123
Hegel, GL, § 119 Anm.; die Fortsetzung lautet: „andererseits ist es die Natur der endli
chen (!; G. J.) That selbst, solche Absonderungen oder Zufälligkeiten zu enthalten“, was heißt,
das Individuum (!) zersplittere das logisch unteilbare Geschehen in Einzelheiten.
124
BGH 63, S. 54 ff., mit Schilderung der Schwankungen in der Vorgeschichte S. 56 ff.
(Rdn. 5 ff.).
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
sein sollen.125 Da jedoch – wie dargelegt wurde – ein Täter die Realisierung
eines komplexen Zusammenhangs nur insgesamt beabsichtigen kann, nicht
aber die Realisierung einzelner Teile daraus, sind alle Vorsatzformen glei
chermaßen betroffen.126 – Eine andere Frage ist es, ob durch des Täters Be
vorzugung einzelner Teile des Komplexes, die er aus individuellem Interes
se herauspickt, eine subjektive Lage gekennzeichnet wird, die jenseits der
Erfolgssteuerung bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Das wird
hier nicht weiter verfolgt, da es nicht den Vorsatz als Voraussetzung einer
sinnvollen Gestaltung der Welt betrifft.127
6. Kommunikative Relevanz
125
BGH 63, Darstellung der Ansicht des 2. Senats, S. 58 (Rdn. 10), auch des 4. Senats, S. 62
(Rdn. 22).
126
Alle Vorsatzformen sind genuin gleich! Das wurde der Sache nach (allerdings auch
nicht mehr) in der älteren Rechtsprechung anerkannt, die eine schulderschwerende Berück
sichtigung der Absicht als unzulässige Doppelverwertung ablehnte (§ 46 Abs. 3 StGB). Einge
hende Nachweise, auch der Literatur, bei BGH 63, S. 54 ff., 57 (Rdn. 7).
127
Insoweit zu Absichten und anderen subjektiven Befindlichkeiten Jakobs, AT, 8/91 ff.,
94 ff., auch 8/97 ff.
128
Sancinetti, Unrechtsbegründung, S. 193 ff.; Jakobs, Festschrift für Sancinetti, noch un
gedruckt.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
6. Kommunikative Relevanz 43
bildet der Täter aus einem Zusammenhang, den er sich als naturgesetzlich
gegeben vorstellt, in seiner Vorstellung die Verknüpfung seines Verhaltens
mit einem tatbestandlichen Erfolg, aber seine Vorstellung liegt sehr weit
neben dem, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Naturgesetz ver
standen wird; mit anderen Worten, seine Vorstellung vom Zusammenhang
ist absurd. Beispielhaft, der Täter „versucht“, ein tausende Meter hoch flie
gendes Flugzeug mit einer Allerweltspistole abzuschießen, dies in der Vor
stellung, wenn die „Thermik“ das Flugzeug trage, werde sie leichthin auch
sein Geschoss emporwirbeln.
Die beiden Gründe für kommunikative Irrelevanz treffen sich in der Be
schränkung der Bedeutung des Verhaltens auf einen individuellen Hori
zont; wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit wird es von den
jeweils vom Agierenden individuell angenommenen, allgemeinen Tatbe
ständen nicht erfasst.129 Es handelt sich bei solchen Verhaltensweisen nicht
um Versuche der Erfolgsherbeiführung, vielmehr um neben den Tatbestän
den liegende Unterfangen, also um Wahndelikte.
Die entschiedenste Gegenposition beziehen die Vertreter einer alleinigen
Relevanz des Handlungsunrechts.130 Armin Kaufmann formuliert in aller
wünschenswerten Klarheit:131
„In konsequenter Durchführung des personalen Unrechtskonzepts (und auch der sub
jektiven Versuchstheorie) bestimmt allein der Sinn, den der Täter im Tatvorsatz seiner
Tat gibt, das Wertungssubstrat des Normwidrigkeitsurteils. Selbst der abergläubische
Versuch ist also Unrecht.“
Mit dieser Position wird die weitestmögliche Entfernung von Hegels Zu
rechnungslehre erreicht:132 Ein Täter wird nicht als „Denkender“ behan
delt, vielmehr wird seine Unvernunft als rechtlich maßgeblich geadelt. Der
„Kopf“ eines Täters und ein Gesetzbuch werden ohne gesellschaftliche Ver
mittlung aufeinander bezogen.
Nun ließe sich argumentieren, solche Kuriositäten bei abergläubischen
oder absurden Unterfangen sollten in dem hier intendierten Traktat zum
Vorsatz allenfalls in einer Fußnote abgetan werden. Dem ist freilich nicht
so; denn zu der Untauglichkeit abergläubischer und absurder Annahmen,
129
Es bleibt allerdings die Aufgabe, die Grenze zu Taten nach § 23 Abs. 3 StGB zu ziehen,
wobei sich eine mathematische Exaktheit nicht erzielen lassen dürfte.
130
Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 403; Zielinski, Unrechtsbegriff, S. 134
Fn. 14, S. 161 Fn. 33; anders allerdings (ansonsten der Schule Armin Kaufmanns zugehörig)
Sancinetti, Unrechtsbegründung, S. 193 ff. – Zum Ganzen Jakobs, Festschrift für Sancinetti,
noch ungedruckt.
131
Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S. 403, Hervorhebung original.
132
Dazu oben II. 3. b.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
133
Oben II. 3. b. und III. 1.
134
Zusammenfassung der Reaktionen in der Literatur bei Mitsch, ZIS 2019, S. 234 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
6. Kommunikative Relevanz 45
7. Unterlassungsvorsatz
136
Siehe oben III. 4.
137
Ähnlich Sancinetti, Unrechtsbegründung, S. 230 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
7. Unterlassungsvorsatz 47
138
Dazu Welzel in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem Ge
spräch mit Mitarbeitern (einigermaßen wörtlich): „Kaufmann hat die andere Seite des Mon
des entdeckt, aber ob diese je besiedelt wird, bleibt fraglich.“
139
Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 66 ff., 110 ff., 120, 309 ff.
140
Siehe oben zu Hegel II. 3. b.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
blicken muss.141 Das muss er so wenig, wie ein Begehungstäter zum Ver
suchsbeginn alle Einzelheiten der kommenden Tat reflektiert haben muss,
vielmehr reicht es hin, wenn er den Rahmen des Fortgangs kennt. Parallel
dazu muss ein Unterlassungstäter zum beendeten Unterlassungsversuch
nur die Chance verstreichen lassen, mit der Ermittlung des Erforderlichen
zu beginnen. Beispielhaft, ein Arzt, sei er Garant oder sonst Verpflichteter,
hat in jedem nicht evident hoffnungslosen Fall erst einmal mit der Anam
nese zu beginnen.
Dass nach der hier zur Begehung vertretenen Lösung (oben III. 1.) zum
Unterlassungsvorsatz auch die Kenntnis der Pflicht zum Eingreifen gehört,
handele es sich um eine Garantenpflicht oder um eine Jedermannspflicht,
bedarf wohl keiner besonderen Erörterung. – Im Ergebnis bietet der Vor
satz beim Unterlassen gegenüber demjenigen beim aktiven Begehen keine
Besonderheiten.
8. Minimale Risiken
141
Dazu Jakobs, AT, 29/84 ff.
142
Siehe oben III. 6.
143
Zum folgenden Text Jakobs, Festschrift für Bruns, S. 31 ff.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
8. Minimale Risiken 49
144
Herzberg, JuS 1986, S. 254; ders., JZ 1988, S. 642.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023
145
Puppe, ZStW 103, S. 23 ff.; dies., Vorsatz, S. 21
146
Puppe, ZStW 103, S. 39, 40; dies., Vorsatz, S. 35 ff.
147
So die Formulierung von Puppe für eine „Vorsatzgefahr“, Vorsatz, S. 39.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023