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Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.

2023

III. Traktat75 zum Vorsatzbegriff

1. Tatbestandsvorsatz versus Unrechtsbewusstsein?

Die Präliminarien sind damit abgeschlossen. Nachdem der Weg skizziert


wurde, der von einem auch, aber nicht allein durch ein Schicksal bestimm­
ten Weltverständnis hin zur alleinigen Bestimmung des Sinns durch einen
Handelnden oder auch Unterlassenden führt, wurde die Frage behandelt,
wer der Handelnde oder Unterlassende sei: ein Individuum mit seinen je­
weils zufällig gegebenen psychischen Befindlichkeiten wie bei Feuerbach76
oder ein Denkender wie bei Hegel77.
Das gegenwärtige deutsche positive Recht gibt wenig her: §  15 StGB
schließt fahrlässiges Verhalten aus dem Bereich des Strafbaren dann aus,
wenn es vom Gesetz nicht „ausdrücklich“ als strafbar benannt wird. Bei­
spielhaft, so, wie eine fahrlässige Tötung (§  222 StGB) und eine fahrlässige
Körperverletzung (§  229 StGB) strafbewehrt sind, ließe sich auch für fahr­
lässige Sachbeschädigung eine Strafe androhen, aber die Regelung der
Sachbeschädigung (§  303 Abs.  1 StGB) sieht solches nicht vor. – §  16 StGB
schließt unter der Überschrift „Irrtum über Tatumstände“ in seinem Abs.  1
Vorsatz dann aus, wenn ein Täter bei der Verwirklichung eines Straftat­
bestands einen Tatumstand „nicht kennt“, und zwar ohne dass es auf die
Gründe für die Nichtkenntnis ankäme. Wer also mangels jeglichen Interes­
ses nicht bemerkt („nicht kennt“), wenn sein Hund mit entsprechenden
Folgen wieder einmal im Blumenbeet des Nachbarn scharrt, haftet nicht
wegen Sachbeschädigung. – §  17 StGB erklärt unter der Überschrift „Ver­
botsirrtum“ einen Täter für schuldlos, der ohne „Einsicht“ in das Unrecht
handelt, wenn er diesen „Irrtum“ nicht vermeiden konnte. Ansonsten, bei
Vermeidbarkeit, „kann“ (!) die Strafe gemildert werden.
Die §§  16 und 17 StGB regeln also „Irrtum“, Unkenntnis und fehlende
„Einsicht“ genannte defizitäre Vorstellungen, wobei mangelnde Kenntnis

75
Zu „Traktat“ siehe oben I. 1.
76
Siehe oben II. 3. a.
77
Siehe oben II. 3. b.
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22 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

von Tatbestandsmerkmalen einen Vorsatz kategorisch ausschließt, wohin­


gegen fehlende Einsicht in das Unrecht bei Vermeidbarkeit des „Irrtums“
eine ungemilderte Strafe (also eine solche wie bei gegebener Einsicht) nicht
ausschließt. Aber wie unterscheiden sich die Umstände des Tatbestands
vom Unrecht?78 Man könnte die Trennungslinie wie folgt ziehen: facta bru-
ta versus rechtliche Bewertung. Allerdings bewertet das Recht nicht nur
facta bruta, vielmehr zumindest auch (und es wird zu zeigen sein: einzig)
bereits normativ gestaltete „facta“, und das ergibt sich teils, scil. bei den
sogenannten normativen Tatbestandsmerkmalen, unvermittelt aus dem
Wortlaut: Vom Hoch- und Landesverrat (Bestand der Bundesrepublik; Er­
haltung eines Staatsgeheimnisses als Geheimnis) über die Geldfälschung
(Geld), die Eigentumsdelikte (Fremdheit einer Sache) und die Straftaten
gegen das Vermögen (Schaden) bis hin zum Komplex der Amtsdelikte
(korrekte Amtsführung) sind die gesetzlichen Formulierungen nicht ver­
ständlich, wenn versucht wird, sie allein auf natürliche Fakten zu beziehen.
Den insoweit bekanntesten Fall dürfte die Fremdheit einer Sache bilden:
Wer weiß, was eine für ihn fremde Sache ist, weiß auch, dass es Unrecht ist,
wenn er damit nach seinem eigenen Belieben verfährt, und wer das nicht
weiß, kennt auch bei Faktenkenntnis das Merkmal der Fremdheit nicht, hat
also keinen Vorsatz (§  16 Abs.  1 StGB).
So trivial das auch sein mag, so könnte dagegen doch vorgebracht wer­
den, das betreffe nur Einzelfälle; denn es gebe wichtige, nämlich das
Höchst­persönliche schützende, Tatbestände, die ohne Annahmen zu nor­
mativen Einbezügen gekannt werden können, vorweg Totschlag, Körper­
verletzung und Freiheitsberaubung (§§  212, 223, 239 StGB), also der gesam­
te Kern der Delikte gegen die Person als höchstpersönliche. Beispielhafte
Formulierung zum auf Fakten reduzierten Totschlag: Dem Organismus
eines lebenden Angehörigen der biologischen Gattung „Mensch“ wird von
einem anderen Angehörigen derselben Gattung seine Funktionsfähigkeit
genommen. Auf die sich aufdrängende Frage, weshalb der Verstoß gegen
eine entsprechend formulierte Norm Unrecht sein soll, gibt es zwei Ant­
worten, nämlich erstens habe der Gesetz­geber das nun einmal so verordnet,
oder zweitens diese Formulierung des Totschlagstatbestands gehe am Kern

78
Eine Darstellung der hierzu vertretenen Positionen (ein Vorsatz erfordere [1] Kenntnis
der Sozialschädlichkeit, [2] reine Faktenkenntnis, [3] Vermittelndes) gibt Roxin, Festschrift
für Neumann, S.  1023 ff. Roxin selbst stellt darauf ab, ob nach der Kenntnis, die der Täter
aufweist, ein Appell zu erwarten ist, das Verhalten zumindest zu überprüfen, was nach diffe­
renzierend gebildeten Fallgruppen (Verstöße gegen soziale Mindeststandards, außerstraf­
rechtliche Rechtsirrtümer, Tatbestände mit werthaltigen Merkmalen und Weiterem mehr)
zu beurteilen sein soll, S.  1029 ff.
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1. Tatbestandsvorsatz versus Unrechtsbewusstsein? 23

des Totschlagsunrechts vorbei. Die erste Antwort unterstellt dem Gesetz­


geber absolute Gesellschaftsferne; denn welche auch nur einigermaßen in­
tegrierte Person würde einen Totschlag solcherart formulieren? Die zweite
Antwort führt zu der Frage, was denn nun der Kern des Totschlagsunrechts
sei.
Die Antwort auf diese Frage nach dem Kern des Unrechts liegt auf der
Hand: Angehörige der Gattung „Mensch“ auch ohne starke Gründe (also
nicht etwa nur in einer Notwehrlage) unverboten zu töten, ist eine Jahrtau­
sende zurückreichende Praxis, wie fast alle Epen und nicht zuletzt das Alte
Testament der Bibel belegen. Wer wollte etwa die Gräuel des Dreißigjähri­
gen Krieges in Verstöße gegen ein Tötungsverbot auflösen, also so erklären,
als habe der Krieg bei allseitiger Rechtstreue nicht stattgefunden? Die Sub­
limierung aller Menschen zu Personen mit Rechten, insbesondere mit ei­
nem Lebensrecht, ist nicht naturgegeben, vielmehr eine Kulturleistung,
und zwar hauptsächlich der philosophischen Aufklärung, die alle Men­
schen als Träger von Rechten und Pflichten spezifiziert hat. Person ist der
Träger von Rechten und Pflichten und zumindest passive Person – berech­
tigte, wenn auch nicht notwendig rechtlich wirksam gestaltungsfähige Per­
son79 (etwa nicht ein Kleinkind) – jeder Mensch.
Der Tatbestand des Totschlags ist also sinnvollerweise wie folgt zu lesen:
Wer die Verwirklichung des Lebensrechts einer Person verhindert u. s. w.
Bei einer solchen Fassung des Tatbestands erhellt die strukturelle Paralleli­
tät der Fremdheit bei den Eigentumsdelikten mit dem personalen Lebens­
recht beim Totschlag. Beide sind Bezugspunkte in einer längst rechtlich
(normativ) strukturierten Gesellschaft mit dem – im hiesigen Zusammen­
hang –äußerlichen Unterschied, dass nur bei übertragbaren Rechten wie
Eigentum und Vermögen die Inhaberschaft auch beim Täter selbst liegen
oder preisgegeben sein könnte (es ginge dann nicht um Fremdheit und ein
Vorgehen nach dem Belieben des Täters brächte keinen Schaden), während
eine solche Übertragung oder Preisgabe bei höchstpersönlichen Rechten
ausgeschlossen ist und deshalb im Tatbestand mangels Aussagekraft nichts
spezifiziert werden muss. Im Ergebnis sind alle Tatbestände dergestalt nor­
mativ durchsetzt, dass dem Dieb mit der Kenntnis der Fremdheit des Zu­
griffobjekts das Unrecht bekannt ist, aber nicht minder dem Totschläger,
wenn er überhaupt weiß, dass er in das Leben einer fremden Person ein­
greift. Eine Trennung von Tatbestandsvorsatz und Unrechts­bewusstsein ist
also ausgeschlossen.80

79
Jakobs, RPhZ 2017, S.  343 f.
80
Damit bricht die Kernthese des Finalismus zusammen, es sei zwischen der Handlung
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24 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Stimmt man dem für Taten gegen den personalen Kernbereich zu, bleibt
zu prüfen, ob es sich auf Randbereiche übertragen lässt. Beispielhaft ge­
fragt, kann nicht ein Täter, der eine Person für wenige – dem Opfer nicht
sonderlich wichtige – Minuten einsperrt, das Einsperren kennen, aber die
Bagatelle irrig für rechtlich toleriert halten, sie eben nur als (wenn auch
ungehörige) Belästigung, aber nicht als Unrecht verstehen? Bei einer sol­
chen Vorstellung nimmt der ­Täter an, bei Bagatellbeeinträchtigungen ziehe
das Recht seinen Schutz vom Opfer ab; diesem sei insoweit seine Freiheit
nicht garantiert. Damit verkennt der Täter den Umfang der geschützten
Freiheit und geht davon aus, in dem Randbereich, in dem er agiert, sei die
Person nicht rechtlich frei, also überhaupt nicht Person, vielmehr der Will­
kür anderer Individuen ausgesetztes Individuum. Dem Täter fehlt also die
Kenntnis des Angriffs auf Personalität und damit der Vorsatz der Freiheits­
beraubung.
Zur Verdeutlichung soll das soeben Ausgeführte auf den Prototyp der
normativen Formung eines Tatbestands übertragen werden, scil. auf die
schon ­zuvor herangezogene Fremdheit bei den Eigentumsdelikten. Eigen­
tum wird rechtlich nicht vor sozialadäquaten Einwirkungen geschützt, was
heißt, insoweit ist es kein rechtlich garantiertes Eigentum, sondern allen­
falls faktischer Besitz. Zieht nun ein Täter den Umfang des Begriffs des
Sozialadäquaten zu weit, so verkleinert er dadurch in seiner Vorstellung
den Bereich des vom Recht konstituierten Eigentums, kennt also nicht die
Fremdheit des Angriffsobjekts, hält dieses vielmehr für bloßen Besitz, und
deshalb fehlt ihm bei einem Zugriff der Vorsatz für ein Merkmal des Tatbe­
stands, eben für die Fremdheit. – Erneut zeigt sich: Eine Trennung von
Vorsatz und Unrechtsbewusstsein ist ausgeschlossen. Jedes andere Ver­
ständnis entleert den Tatbestand hin zu einer sozial irrelevanten Anhäu­
fung von Naturalismen, facta bruta der schon angeführten Art „ein Mensch
tötet einen anderen Menschen“. Vorsatz erfordert also die Kenntnis vom
rechtlichen Bezug der Täterperson zur Opferperson.

als „Sinnausdruck“ und der Schuld als „Entscheidung zugunsten des niederen Wertes (Un­
wertes)“ zu differenzieren (Welzel, ZStW 58, S.  496, 504, und in zahlreichen weiteren Publi­
kationen, insbesondere: ders., Strafrecht, S.  48 ff., 138 ff.). Die dadurch zwischen „Finalisten“
und „Kausalisten“ entbrannte heftige Diskussion hat rückblickend nur die Abkehr von der
Irrtumslehre der Rechtsprechung zum Unrechtsirrtum erbracht: BGH 2, S.  194 ff. – Aller­
dings blieben teils scharf psychologisierend bestimmte (Finalität) und zum anderen norma­
tivierend gedeutete (Vorwerfbarkeit) Bestandteile der subjektiven Tatseite ohne Theorie un­
verbunden; dazu Jakobs, Festschrift für Schreiber, S.  450 ff.; ders., in: Verbrechenslehre,
S.  266 ff.; Stuckenberg, in: Verbrechenslehre, S.  104 ff. – Für eine moderne Deliktslehre gehört
die literarisch immens umfangreiche Diskussion mittlerweile zur „Vergangenheit“.
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1. Tatbestandsvorsatz versus Unrechtsbewusstsein? 25

Zusammenfassend: So, wie ein Täter beim Eingriff in eine übertragbare


Rechtsposition den Bestand der Position und seine eigene Nichtinhaber­
schaft, also die Position als Recht einer anderen Person, kennen muss, um
sich vorsätzlich zu verhalten, so muss er auch bei höchstpersönlichen Posi­
tionen deren Bestand bei einer anderen Person kennen. Konkretisierend:
So, wie ein Täter bei Angriffen auf Eigentum und Vermögen sich nur dann
vorsätzlich verhält, wenn er das Eigentumsrecht oder das Vermögensrecht
einer anderen Person kennt, so bei Angriffen auf Höchstpersönliches nur
bei Kenntnis der Verletzung eines höchstpersönlichen Rechts. Insbeson­
dere schließt die – vermeidbare oder nicht vermeidbare – Annahme des
Täters, er bewege sich im Bereich des rechtlich anerkannten Sozialadäqua­
ten, Vorsatz aus; denn er stellt sich dann den Organisationskreis81 der ande­
ren Person und damit diese selbst kleiner vor, als es der Fall ist, und deshalb
erkennt er nicht seinen Zugriff auf die Rechte einer anderen Person.
Für das Ausgeführte gibt es einen sehr starken, aber kaum je erörterten
Beleg. Im Rahmen der Lehre von der objektiven Zurechnung, die bei ihrer
Entstehung nichts war als eine Lehre von der Erfolgszurechnung, dürfte
mittlerweile weitgehend anerkannt sein, dass vor der Erfolgszurechnung
erst einmal präzisiert werden muss, was das unerlaubte Verhalten ist, dem
der Erfolg zugeordnet werden soll.82 Das unerlaubte Verhalten besteht stets
in der Überschreitung eines erlaubten Risikos, wobei sich – ohne diese
Grundlage zu tangieren – manche Sonderformen bilden lassen: „Handeln
auf eigene Gefahr“, „Vertrauensgrundsatz“ und, praktisch vorweg, „Re­
gressverbot“.83
Hier geht es nicht darum, genaue Grenzen zwischen diesen rechtlichen
Institutionen zu ziehen, vielmehr soll ihre Zugehörigkeit – wie etwa die
Fremdheit einer Sache oder das Lebensrecht einer Person – zum objektiven
Tatbestand dargetan werden, dies mit der nicht abweisbaren Folge, dass sie,
hält man sich an den Wortlaut von §  16 Abs.  1 StGB, „gekannt“ werden
müssen, wenn es um Vorsatz gehen soll. Allerdings wären sowohl die
Hauptinstitution, eben das (erlaubte oder eben nicht erlaubte) Risiko als
auch seine Derivate, in einer nicht verlässlich normativ strukturierten Ge­
sellschaft nicht kon­struierbar. Beispielhaft gefragt, wie sollte ein Vertrau­
ensgrundsatz ohne Kenntnis der gesellschaftlichen Praxis oder des gesell­
schaftlich Erwarteten verstanden werden? Erneut zeigt sich: Tatbe­
standskenntnis ist ohne Einbezug der Regeln einer normativ strukturierten
81
Dazu eingehend Jakobs, Festschrift für Fischer, S.  115 ff., durchgehend.
82
Grundlegend schon Frisch, Vorsatz, S.  69 ff. – Zur Irrelevanz von Überlegungen zur
hypothetischen Kausalität siehe Greco, GA 2018, S.  542 ff.
83
Jakobs, Beteiligung, S.  28 ff., für Unterlassungen S.  54 ff.
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26 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Gesellschaft und damit ohne Unrechtskenntnis nicht möglich, jedenfalls


nicht ohne Kenntnis, was diese Gesellschaft als Unrecht behandelt.84 Dabei
muss es sich nicht sogleich um Unrechtseinsicht handeln, aber §  16 Abs.  1
StGB verlangt auch nicht mehr als „Kenntnis“, wobei dieser Begriff (Kennt­
nis) eher einen Befund erfasst, der sich aus den bei der Beobachtung einer
Gesellschaft festgestellten Regeln ergibt, während jener (Einsicht) mehr auf
das Verständnis abstellt, dass diese Regeln passen.

2. Übertragung auf Rechtfertigungslagen

Wie verhält es sich mit der Verschmelzung von Tatbestandskenntnis und


Unrechtskenntnis im Fall der Rechtfertigung? Dabei bietet die Lage nach
der strengen oder der eingeschränkten Schuldtheorie85 insoweit keinen Be­
darf einer Erörterung, als sie Vorstellungen zur Rechtfertigung ganz (stren­
ge Theorie) oder partiell (eingeschränkte Theorie) einer auf die Tatbe­
standsverwirklichung folgenden Schuld zuschlagen. Ob und inwieweit das
richtig ist, wird hier nicht untersucht, da die Kritik des Vorsatzbegriffs
traktiert werden soll und nicht ein didaktisches Arrangement mit den un­
terschiedlichen Regelungen der §§  16 und 17 StGB. Die Rechtfertigungs­
gründe werden deshalb hier wie Merkmale des Tatbestands behandelt,
eben als „negative Tatbestandsmerkmale“.86 Dabei ist von Anfang an die
jeweils gegenteilige rechtliche Wirkung der Merkmale des Tatbestands und
der Rechtfertigung, also des positiven und des negativen Tatbestands, zu
berücksichtigen, nämlich die Unrechtsbegründung durch den Komplex der
positiven Merkmale und die Unrechtshinderung durch denjenigen der
Rechtfertigungsmerkmale, sodass im Ergebnis die – irrig oder zutreffend
– gegebene Annahme einer Tatbestandsverwirklichung dem Fehlen der
Annahme entspricht, die Merkmale eines bestimmten Rechtfertigungs­
grundes seien gegeben, und die gegebene Annahme der Merkmale eines
bestimmten Rechtfertigungsgrundes dem Fehlen der Annahme einer Tat­
bestandsverwirklichung.
Diese jeweils gegenteilige Wirkung ist auf §  16 StGB zu übertragen:
Wenn die Vorschrift Vorsatz als Kenntnis aller Tatbestandsmerkmale ver­
steht, so handelt es sich um eine Regelung für die positiv wirkenden Merk­
male; die n­ egativ wirkenden Merkmale, also diejenigen eines Rechtferti­

84
Darstellung der Vorsatztheorie und Nachweise: Jakobs, AT, 19/14 ff.
85
Darstellung der Schuldtheorie und Nachweise: Jakobs, AT, 11/45 ff., 19/2.
86
Sehr eingehend gegen dieses Verständnis Hirsch, Lehre, durchgehend.
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2. Übertragung auf Rechtfertigungslagen 27

gungsgrundes, muss sich ein Täter hingegen nicht ausdrücklich und aus­
nahmslos als nicht gegeben vorstellen, vielmehr reicht zum Vorsatz die
Umkehrung der Kenntnis positiver Tatbestandsmerkmale, also eben das
Fehlen einer Vorstellung vom Vorliegen negativer.
Das verbreitete Argument, das Verständnis der Rechtfertigungsmerk­
male als negativer Tatbestandsmerkmale führe zu einem monströsen Vor­
satzverständnis, nämlich zur Aneinanderreihung der Kenntnis vom Feh­
len jeglichen irgendwo auffindbaren Rechtfertigungsgrundes (keine Not­
wehr, kein Notstand, kein Selbsthilferecht und Analoges mindestens
zehnfach, bei Amtspersonen wohl noch häufiger),87 zeugt von der Interpre­
tationsschwäche seiner Vertreter; denn die Transformation einer Regelung
ins Negative müsste sich ja wohl noch leisten lassen, und dass der Allgemei­
ne Teil des StGB insoweit nichts ausschließt, ist bei seinen ohnehin nur
fragmentarischen Vorschriften kein Hindernis für eine am Begriff orien­
tierte, statt am Wortlaut klebende Interpretation. §  16 StGB ist dann eben
eine bloße Teilregelung.
Gegen die Behandlung der Rechtfertigungsvoraussetzungen als Vorsatz­
gegenstand wird weiterhin vorgebracht, die Kenntnis des positiven Tatbe­
stands bewirke einen Appell, das Vorliegen einer Rechtfertigungslage ge­
nauer zu prüfen, und deshalb sei die irrige Annahme, eine solche Lage sei
gegeben, strenger zu behandeln als eine Nichtkenntnis von Merkmalen des
positiven Tatbestands. Auch dieses Argument trägt nicht; denn ein Appell
ergibt sich aus gegebener Unrechtskenntnis sowie aus der Kenntnis einer
unrechtsnahen Situation, und was die Unrechtsnähe betrifft, können die
Unkenntnis des positiven und die irrige Annahme des negativen Tatbe­
stands gleichstehen. Beispielhaft, wieso sollte das Wissen eines Chirurgen,
dass er kräftig Alkohol zu sich genommen hat, weniger einen Appell zur
Folge haben als seine ungeprüfte Annahme, für einen Minimaleingriff lie­
ge eine Einwilligung vor?88 – Der Drang, neben einem psychologisierend
verstandenen §  16 StGB (wobei der Wortlaut der Vorschrift ein solches Ver­
ständnis nahelegen mag) eine vorsatzgleiche Bestrafungsmöglichkeit89 er­
öffnen zu wollen, resultiert aus ebendieser starren Bindung und entfällt,
wenn der Vorsatzbegriff und nicht seine psychologisierende Verballhor­
nung die Interpretation leitet, und dann ergibt sich geradezu geläufig, Vor­
satz und Unrechtskenntnis gleichzusetzen, was nunmehr bezogen auf
Rechtfertigungslagen knapp dargelegt werden soll.

87
Ausführlich Hirsch, Lehre, S.  267 ff.
88
So schon Jakobs, AT, 11/47; ders., Festschrift für Rudolphi, S.  110 ff.
89
Siehe unten III. 3.
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28 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Mit der einfachsten Fallkonstellation (keine Fehlannahmen) sei begon­


nen. Ein Aggressor will mit seinem eigenen Spazierstock ohne rechtlichen
Grund auf sein Opfer einschlagen, aber diesem gelingt es, das Angriffs­
mittel zu zerbrechen. Offenbar handelt es sich um einen Fall für das erste
Semester: Die Zerstörung des Eigentums des Angreifenden ist wegen Not­
wehr gerechtfertigt. Aber was heißt hier „Eigentum“? Der faktische Besitzer
des Stocks darf in der geschilderten Art und Weise gerade nicht mit dem
Stock verfahren (§  903 BGB) und muss dessen Zerstörung hinnehmen, was
heißt, es handele sich insoweit nicht um sein Eigentum und er sei nicht
mehr eine sich auch auf dieses Objekt erstreckende Person. Abstrakt, das
Recht zum Eingriff in die Rechte einer Person degradiert diese zu Nicht­
rechten und verkleinert damit den rechtlich relevanten Umfang der Person,
die im konkreten Fall durch den Angriff einen Teil ihres rechtlich garan­
tierten Umfangs verspielt hat. So, wie im Bereich des Tatbestandsvorsatzes
zu diesem das Wissen des Täters gehört, dass er in Fremdes eingreift (in
fremdes Leben, fremde Gesundheit, fremde Freiheit, fremdes Eigentum
u. a. m.), so hebt die Kenntnis einer Rechtfertigungslage die Möglichkeit
dieses Wissens auf, da der Witz einer Rechtfertigungslage gerade darin be­
steht, die Fremdheit bereichsweise zu suspendieren. In dem oben angeführ­
ten simplen Beispiel besteht demgemäß die Rechtfertigung darin, dass dem
Angriffsmittel die rechtliche Garantie entzogen und die Inhaberperson
demgemäß diminuiert wird.
Geht ein Täter irrig davon aus, die Merkmale einer vom Recht anerkann­
ten Rechtfertigungslage lägen vor, so nimmt er – vermeidbar oder nicht –
an, das Recht habe in dem Bereich, den er zur Rettung nutzen zu müssen
meint, seine Bestandsgarantie zurückgezogen, sodass dieser – in der ver­
meintlich gegebenen Lage – nichts Fremdes enthalte. Ihm fehlt also gleich­
falls die Kenntnis, in einen Bereich einzugreifen, der einer anderen Person
garantiert ist, also in fremde Freiheit, und das schließt Vorsatz aus. Wenn
die strenge Schuldtheorie90 diesen Fall als Verbotsirrtum bei §  17 StGB ein­
ordnet, so wird verkannt, dass bereits der Vorsatz fehlt.
Schließlich mag der Täter – zutreffend oder nicht – eine Lage annehmen,
die vom Recht nicht als rechtfertigend anerkannt ist, bei der er selbst aller­
dings von einer Rechtfertigung ausgeht. Beispielhaft, der Täter meint, das
ihm gegenüber frech gewordene Nachbarskind heftig ohrfeigen zu dürfen.
Durch seinen Irrtum schneidet der Täter den personalen Bereich des Kin­
des kleiner, als das Recht es vorsieht; er verkennt, dass die Körperintegrität
des Kindes diesem trotz seines schlechten Benehmens garantiert bleibt.
90
Oben Fn.  85.
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3. Gekanntes, Bekanntes, dolus indirectus 29

Damit weiß er nicht, dass er in fremde Freiheit eingreift, scil. in eine dem
Kind eigene und ihm selbst fremde Sphäre. Wiederum fehlt Vorsatz. – Das
gängige Gegenargument, die irrige Annahme des rechtlichen Bestands ei­
nes Rechtfertigungsgrundes stehe der irrigen Unkenntnis tatbestandlichen
Unrechts gleich (jedenfalls Verbotsirrtum nach §  17 StGB), beruht auf
­einem rein naturalistischen und deshalb rechts- und gesellschaftsfernen
Verständnis von Vorsatz: Bei der hiesigen Sicht erhebt sich die Frage nach
einem Verbotsirrtum bei einem Vorsatzdelikt nicht, da ohne Unrechts­
bewusstsein bereits der Vorsatz ausscheidet.
Insoweit abschließend, wie ist zu argumentieren, wenn der Täter einen
aktuell gegebenen Rechtfertigungsgrund nicht als rechtlich anerkannt be­
greift? Es geht um die Umkehrung der Annahme, es gebe einen verbieten­
den Tatbestand: Wahndelikt. – Zur Komplettierung, wie soll ein Täter zu
beurteilen sein, der die gegebenen Voraussetzungen einer Rechtfertigungs­
lage nicht erkannt hat? Die Antwort liegt auf den Hand: Er ist wie ein ande­
rer Täter zu behandeln, der die Verwirklichung eines – im Recht vorhande­
nen – Tatbestands irrig annimmt, also als Versuchstäter.
Diese Ergebnisse werden teils nicht befriedigen: Selbst gröbste Fehlvor­
stellungen können Vorsatz ausschließen. Das liegt allerdings nicht an des­
sen Begriff, vielmehr an dem verfehlten, nämlich starr psychologisierenden
Verständ­nis des §  16 StGB, der aber, stellt man auf den Vorsatzbegriff ab,
wie gezeigt, von der elastischeren Regelung in §  17 StGB nicht überholt wer­
den kann; mit anderen Worten, §  17 StGB ist begrifflich völlig überflüssig,
und zwar insbesondere bei Delikten gegen die Person.91 Dass diese Inter­
pretationslage bislang kaum erkannt wird, dürfte auf einem allzu beschei­
denen Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft beruhen: Statt Begrif­
fe zu entfalten klebt sie am Wortlaut eines Gesetzes, welches die Vertreter
dieser Wissenschaft – durchaus akribisch – kommentieren. Wie es sich mit
der Begriffsexplikation bei Fehlvorstellungen verhält, wird nachfolgend
noch zu erörtern sein.

3. Gekanntes, Bekanntes, dolus indirectus

Offenbar erfolgt die Verwendung der Begriffe „Irrtum“ und „Unkenntnis“


in den §§  16 f. StGB einigermaßen ungereimt. Unkenntnis liegt, korrekt
verstanden, dann vor, wenn eine Person von einem Teilzustand der Welt
aktuell keine Kenntnis hat oder aber eine falsche Vorstellung. Beispielhaft,
91
Jakobs, Festschrift für Rudolphi, S.  114 ff.
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30 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

ein Fünftklässler, der von den mathematischen Regeln der Integralrech­


nung keine Vorstellung hat, befindet sich ebenso in Unkenntnis wie sein
Klassenkamerad, der davon ausgeht, es handele sich dabei um die Bestim­
mung der Integrität irgendwelcher Ansammlungen.
Beim erstgenannten Schüler, der darauf vertraut, was er wissen müsse,
werde schon rechtzeitig an ihn herangetragen werden, kann von einem Irr­
tum keine Rede sein; denn ansonsten würden sämtliche Personen perma­
nent irren, da keine Person über einen laplaceschen Geist verfügt, sodass
der Irrtum zur synonymen Bezeichnung der immer gegebenen Defizienz
irgendwelchen Wissens mutieren würde, eben zum Synonym für Unkennt­
nis.
Bei dem an zweiter Stelle genannten Schüler könnte die Beurteilung an­
ders ausfallen. Wäre seine skurrile Fehlvorstellung für ihn in jeder Hinsicht
unverbindlich, also keine verhaltensleitende Annahme, eben ein „Spiel“, so
verhielte es sich allerdings ebenso wie bei dem Erstgenannten. Aber arbeitet
er etwa an einem Verzeichnis aller Sparten der Mathematik, um seinem
Lehrer zu imponieren, wird er von diesem zu hören bekommen, sich gewal­
tig geirrt zu haben. Ein Irrtum ist eine verhaltensleitende Unkenntnis, und
das ist eine solche, bei der einer Person an Kenntnis gelegen ist. Unkenntnis
ist der weitere Begriff, Irrtum der engere. Gemäß der Überschrift von §  16
StGB schließt ein Irrtum Vorsatz aus, aber im Gesetzestext ist von Un­
kenntnis die Rede. Wie ist das zu interpretieren?
Zur Beantwortung dieser Frage muss zunächst dargetan werden, was die
Besonderheit eines vorsätzlichen Verhaltens ausmacht: Der Sich-Verhalten­
de gestaltet die Welt nach seinem Belieben, und deshalb gehört ihm diese
Gestalt als sein Werk zu. Es handelt sich um den stärksten Fall der Zu­
rechnung speziell zum Willen als „Bedingung, Grund, Ursache“.92 Bei einem
– durchaus vermeidbaren – Irrtum (ob auch bei jeder Unkenntnis, wird
noch zu erörtern sein) stehen einer unbeschränkten Zurechnung zwei
Überlegungen entgegen.
Erstens verhält sich die irrende Person in einer Umgebung, die sie als
Person richtig zu beurteilen hat, aber falsch beurteilt. Das ist bei Vermeid­
barkeit des Irrtums ein Zeichen für Inkompetenz; ein solches Verhalten
wird keine Nachahmer finden und mag schon deshalb aus der strengen
Vorsatzhaftung ausgeschlossen werden. Zweitens kann die Person nicht
­sicher sein, selbst in der irrig beurteilten Situation ungeschoren davonzu­
kommen. In manchen Fällen mag sie Glück haben, in anderen hingegen
nicht, und deshalb besteht bei einem i­rrend vollzogenen Verhalten zwar
92
Hegel, GL, §  115.
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3. Gekanntes, Bekanntes, dolus indirectus 31

nicht die Sicherheit, aber doch die Gefahr einer Selbstschädigung, einer
­poena naturalis. Beispielhaft denke man an einen irrtümlich verursachten
Verkehrsunfall oder an eine irrtümlich ausgebliebene Aufsicht über die
­eigenen Kinder und anderes mehr: In solchen Fällen schneidet sich die Per­
son irrtumsbedingt häufig auch „ins eigene Fleisch“. – Im Ergebnis unter­
mauern sowohl die demonstrierte Inkompetenz als auch das Herauf­­be­
schwören der Gefahr einer poena naturalis die Notwendigkeit, die gesetzli­
chen Standards einzuhalten, und dies selbst dann, wenn der her­vorgerufene
Fremdschaden erheblich ausfällt.93
Damit ergibt sich ein geradezu selbstverständlicher Bereich der Fahrläs­
sigkeit, nämlich derjenige eines vermeidbar irrtümlichen Verhaltens. Bei
Unvermeidbarkeit tangiert die agierende Person die gesetzlichen Standards
nicht, verhält sich vielmehr im Rahmen des erlaubten Risikos. – Bei Ver­
meidbarkeit gibt es keine rechtlich relevanten Stufen der Inkompetenz (bei
grober Fahrlässigkeit dürfte die Inkompetenz sogar besonders stark de­
monstriert werden), aber Stufen der gesetzlichen Standards: Je elementarer
sie zur Möglichkeit gesellschaftlichen Lebens beitragen, umso heftiger
stört, wer vermeidbar über sie irrt. Beispielhaft, im Straßenverkehr verfehlt
ein Autofahrer, der nicht auf sein Tempo achtet und deshalb zehn Prozent
zu schnell fährt, einen notwendigen Standard, aber der­jenige, eine rot zei­
gende Ampel nicht zu überfahren, wiegt mehr.
Unkenntnis sind jede Fehlvorstellung und jedes Fehlen einer Vorstel­
lung; ein Irrtum hingegen sind nur eine Fehlvorstellung oder das Fehlen
einer Vorstellung, bei denen der Person an einer richtigen Vorstellung gele­
gen ist. Aber wie verhält es sich bei der psychischen Lage einer Person, der
an einer zutreffenden Beurteilung ihres Verhaltenszusammenhangs nicht
gelegen ist? Einer solchen Person ist gleichgültig, ob sie ein erlaubtes Risiko
überschreitet, weil für sie nichts davon abhängt. Beispielhaft, ein Autofah­
rer lenkt sein Fahrzeug schwungvoll durch schmutzigen Schneematsch
und bedenkt die Folgen für die Kleidung nahe befindlicher Passanten nicht,
weil er solche Verschmutzungen geläufig als nicht bedenkenswert ein­
schätzt. Ein Irrtum fehlt mangels eines Interesses am Wissen, und Kenntnis
fehlt mangels eines Daran-Denkens gleichfalls. Wie ist diese Unkenntnis
zu beurteilen?
Es handelt sich bei einer solchen Lage um den Fall eines seit über 200
Jahren als abgetan geltenden dolus indirectus:94 Kenntnis fehlt und ein Irr­
93
Jakobs, ZStW 101, S.  516 ff.; ders., Rechtswissenschaft 2010, S.  283 ff. (auch in: Beiträge,
S.  628 ff.).
94
Zum Folgenden Jakobs, ZStW 114, S.  584 ff.; ders., Rechtswissenschaft 2010, S.  306 ff.
(auch in: Beiträge, S.  630 ff.); Puppe, ZStW 103, S.  23 ff.; Pawlik, Unrecht, S.  85 ff.
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32 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

tum fehlt gleichfalls, weil der Agierende seine Aufmerksamkeit auf den Be­
reich von Fremdschäden nicht erstreckt. Hält man sich an den nicht inter­
pretierten Wortlaut von §  16 StGB, so wird nicht als Vorsatztäter, vielmehr
milder (!) behandelt, wer sich um seine individuell (ohne rechtliche Zuord­
nung) nicht in­teressierenden Verhaltensfolgen nicht kümmert; mit anderen
Worten, je mehr der Agierende sich als Individuum auslebt und je weniger
er sich als Person begreift, umso eher verliert er bei einem solchen Ver­
ständnis die Verantwortung für eine Vorsatztat. Das wäre allerdings ein
Psychologismus mit nicht erklärbaren Folgen für die Bestimmung der bei
der Zurechnung zu berücksichtigenden Faktoren. Strafrechtswissenschaft
wäre diese Wortlautinterpretation allerdings nicht, da es sich allein um
eine Definition (Unkenntnis) handeln würde, aber nicht um die Entwick­
lung eines strafrechtlich passenden Begriffs; denn was bei einem vermeid­
baren Irrtum angemessen ist, muss es nicht auch bei überhaupt jeder ver­
meidbaren Unkenntnis sein.95
Beiläufig, das gewonnene Ergebnis lässt sich abermals auf Rechtferti­
gungslagen übertragen, etwa wenn bei der Abwehr einer Gefahr der Ab­
wehrende aus Desinteresse nicht sieht, dass starke Indizien gegen eine
rechtlich anerkannte Abwehrlage sprechen oder immerhin das Erforder­
liche reduziert werden kann.96 Die Umkehrung der Lage bei positiven Tat­
bestandsmerkmalen ist also dergestalt vorzunehmen, dass an die Stelle des
aus Desinteresse nicht Vorgestellten die mangels Interesses an der Vergegen-
wärtigung der wirklichen Lage vorschnell akzeptierte Vorstellung tritt. Dem
Ausbleiben einer aktuellen Vergegenwärtigung beim positiven Tatbestand
entspricht also eine zu weite Vorstellung beim negativen.
Zwischen der Kenntnis als aktueller Vergegenwärtigung und der Un­
kenntnis siedelt das zwar nicht Vergegenwärtigte, aber Bekannte,97 also das
schon bei einer geringen Zuwendung ins aktuelle Bewusstsein Tretende

95
Auf die Nennung eines „Irrtums“ in der Überschrift zu §  16 StGB kommt es für diesen
Befund nicht an, da die Begriffsentwicklung von der Wortwahl unabhängig zu erfolgen hat.
96
Zum Problem: Jakobs, Festschrift für Paeffgen, S.  221 ff. Dort wird allerdings der
Schwerpunkt etwas einseitig auf die erstgenannte Konstellation gelegt. Es handelt sich bei
beiden Konstellationen um nur phänotypische Differenzierungen eines Grundproblems: Der
Abwehrende agiert mangels eines Interesses an Mäßigung „ins Blaue“.
97
„Kennen“ (gegenwärtig aktuelles Bewusstsein) und „Bekanntschaft“ (aktualisierbares
Bewusstsein) werden – zumal in der nicht juristischen Sprache – nicht selten gleichgestellt.
Darauf beruhen einige der ehemals häufig erörterten Möglichkeiten, die erforderliche Inten­
sität des Wissens beim Vorsatz zu bestimmen (Zusammenstellung bei Jakobs, AT, 8/10 ff. mit
Nachweisen). – Mignon fragt in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (eingangs des 3.  Ka­
pitels [Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd.  VII, S.  145]) in ihrem Lied von drei Stro­
phen sechsmal „Kennst du …?“, dies nicht im Sinn von „Ist dir aktuell bewusst …“, vielmehr
in demjenigen „Ist dir bekannt, dir verfügbar …?“.
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3. Gekanntes, Bekanntes, dolus indirectus 33

– aber diese Zuwendung bleibt aus. Zur Bestimmung des rechtlichen Um­
gangs mit der Problematik dürfte es hilfreich sein, sich den Übergang von
der – zumindest einige Bereiche bestimmenden – Erfolgshaftung zur
Schuldhaftung nochmals vor Augen zu führen.98 Auch die Erfolgshaftung
beruht auf dem Verständnis einer Orientierung ermöglichenden, sinnvoll
zusammenhängenden Welt. Selbst wenn es vermutlich eine Haftung für
„falsches Verhalten“ immer schon gegeben hat – von alltäglich vorkommen­
den Kollisionen bis hin zur offenbaren Bosheit (die Gestalt des Kain) –,
stand neben dieser Haftung für die eigene Gestaltung der Welt auch eine
solche für weit verstandenes Schicksal, also für die Gestaltung durch
­­„höhere Mächte“. Ob das eine Strafhaftung war, soll erneut99 dahinstehen.
Die Einbindung in die Gesellschaft erfolgte jedenfalls nach dem, was eine
Person „mitbrachte“: nützliches Verhalten und Glück oder eben schädliches
Verhalten und Unglück; so und nicht anders wurde nun einmal der orientie­
rende Sinnzusammenhang der gesellschaftlich relevanten Welt verstanden.
In der entzauberten Welt gibt es keinen Sinn eines Schicksals;100 dieses
wird vielmehr per se zu sinnloser Natur, die nur mittelbar gesellschaftlich
relevant werden kann, nämlich bei dem Unternehmen, sie zu lenken. Bei­
spielhaft, ein Überschwemmungen bewirkender Dauerregen oder eine Epi­
demie sind nicht etwa „Strafen Gottes“ oder Ähnliches, vielmehr bloßes
Unglück, es sei denn, eine Person sei durch ihr Verhalten für den mangel­
haften Schutz davor verantwortlich und gäbe dem Geschehen dadurch ei­
nen Sinn. Entsprechend ist bei glücklichen Wendungen zu urteilen: Ihr
Eintritt ist nur gesellschaftlich relevant, wenn er durch ein pflichtgemäßes,
vielleicht sogar lobenswertes Verhalten hervorgerufen wurde, wie es etwa
bei der Entwicklung des Penicillins der Fall war. Um ein „Geschenk des
Himmels“ handelt es sich jedenfalls nicht.
In der entzauberten Welt sind Glück und Unglück also sinnlos,101 oder sie
sind mit dem Verhalten einer zur Sinnstiftung fähigen, also kompetenten
Person verbunden. Bei dieser Lage gilt es, die Zuständigkeit für supereroga­
torisches oder doch wegen seiner Nützlichkeit gebotenes wie in der Um­
kehrung die Zuständigkeit für gesellschaftsschädliches Verhalten unter
den agierenden oder mögliche Aktionen unterlassenden Personen aufzu­
teilen, und zwar restlos: Was machbar ist, hat einen positiven oder negati­

98
Siehe oben zu Max Weber II. 2.
99
Siehe oben II. 1., Text zu Fn.  12, 13.
100
Oben zu Max Weber II. 2.
101
Allerdings kann das jeweilige Ereignis zukünftig die Kommunikation bestimmen,
etwa bei der Beseitigung eines Zufallsschadens oder der Nutzung einer zufällig glücklichen
Wendung.
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34 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

ven Sinn, und das nicht (oder noch nicht) Machbare ist per se sinnlos (wenn
auch eventuell berechenbar102). Die Aufteilung erfolgt, indem den Personen
Organisationskreise zugesprochen werden, bei denen sie selbst (ihrerseits
Teile dieser Kreise – Selbstverwaltung!) dafür zu sorgen haben, dass aus
dem Kreis kein schädigender Output herausdringt oder notfalls alsbald re­
voziert wird und dass die vom Inhaber des Kreises erwarteten förderlichen
Leistungen erbracht werden.
Damit liegen freilich noch nicht die Bedingungen fest, unter denen ein
Organisationskreis überhaupt verwaltbar ist. Neben die geradezu selbstver­
ständlichen Voraussetzung, dass Organisationsfreiheit nur bei Folgenver­
antwortung möglich ist, tritt als weitere Bedingung – es geht nur um die
machbare Welt! –, dem Inhaber des Organisationskreises müsse Informa­
tion über das von ihm Erwartete zugänglich sein; er muss also den Zustand
des Kreises in den gesellschaftlichen Erwartungszusammenhang einord­
nen können – ansonsten könnte die verwaltende Person diesen Sinnzusam­
menhang weder bestätigen noch ihm widersprechen. Allerdings verändert
selbst die beste gesellschaftliche Orientierung kein Jota an dem Verhalten
der Orientierten, wenn diese sich bei ihren Aktionen oder Unterlassungen
nicht um das scheren, was von ihnen rechtlich erwartet wird, sich also
nicht personal verhalten, vielmehr ihren individuellen Präferenzen folgen.
Das Problem eines Irrtums, also der Fahrlässigkeit, sei noch eine Zeit lang
dahingestellt, aber ansonsten dürfte nicht zu bezweifeln sein, dass erkann­
tem oder erkennbarem rechtlichen Verlangen von kompetenten Personen
(und an andere richtet sich das Verlangen nicht) zu folgen ist. Das Recht
kann die individuelle Vorzugswürdigkeit seiner Befolgung nicht begrün­
den, und deshalb generiert es Personen, deren eigene Aufgabe es ist, für
eine hinreichende Motivation zur Rechtsbefolgung Sorge zu tragen.103 Da­
bei kommt es nicht darauf an, ob der sich Verhaltende die gegebene Situa­
tion aktuell bedenkt und sie in diesem Sinne kennt, sondern ob sie ihm –
nicht notwendig in allen Details – bekannt ist („Bekanntschaft“ als nicht
aktuelle, aber jederzeit aktualisierbare Kenntnis). Die motivatorische Rele­
vanz des Bekannten, wenn auch nicht aktuell Reflektierten, muss so selbst­
verständlich rechtlich erwartet werden, wie eine Person beanspruchen
darf, bei der Verwaltung ihres Organisationskreises nicht gegängelt zu wer­
den; mit anderen Worten, eine Person wird mit der Einrede nicht gehört,
sie habe sich den bekannten Zusammenhang ihres Verhaltens mit der
rechtlichen Beurteilung von dessen Konsequenzen nicht aktuell zur Kennt­

102
Siehe oben II. 1.
103
Jakobs, ZStW 101, S.  516 ff.
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3. Gekanntes, Bekanntes, dolus indirectus 35

nis vergegenwärtigt. Der Einwand wäre ein Selbstwiderspruch: Wer bei


seinem Verhalten Selbstverwaltung beansprucht (und das gilt für jede Per­
son, die sich überhaupt verhält), kann nicht die Bedingung leugnen, die
zwingend zur Sozialverträglichkeit dieser Art von Verwaltung dazugehört,
nämlich die Berücksichtigung aller bekannten Verhaltensfolgen, nicht nur
der aktuell vergegenwärtigten. Selbstverwaltung bedingt Gründlichkeit bei
der Verwaltung. Einer Person als einer „denkenden“104 ist das bekannt.105
Der traktierte dolus indirectus zeichnet sich dadurch aus, dass der sich
Verhaltende das nur Bekannte, aber nicht aktuell Reflektierte, bei der Be­
stimmung seines Verhaltens zumindest teilweise ausklammert oder (viel­
leicht besser formuliert) nicht einklammert, weil er seinen Organisations­
kreis und damit das, worauf er seine Aufmerksamkeit zu richten hat, so
zurechtschneidet, wie es ihm angenehm ist; was ihn nicht interessiert, be­
handelt er als unwichtig und nicht bedenkenswert. In diesem Wertungs­
fehler gründet die Nichtvergegenwärtigung des Bekannten, wobei Bekann­
tes sich bei Zuwendung teils detailliert aufgliedern mag, teils eher pauschal:
Auch dass bislang nicht durchdrungene Bereiche Gefahren bergen können,
ist bekannt; mit anderen Worten, alles das, was nicht durch und durch als
stereotyp ungefährlich bekannt ist, gehört zu dem Bereich des als poten­
ziell gefährlich Bekannten.
In welchen Situationen kann es zu diesem Nichtbedenken des Bekann­
ten kommen? In einer ersten Fallgruppe geht es um eine stark affektiv be­
setzte Zweckverfolgung, bei der neben dem fokussierten Ziel die Vorstel­
lung allenfalls auch vom Interesse an Selbsterhaltung beherrscht wird, viel­
leicht aber nicht einmal das. Beispielhaft, wütend über einen üblen Angriff
sticht der Angegriffene dem Angreifer eine lange Klinge in den Bauch, wo­
bei ihm aktuell nur vor Augen steht, dass dieser „das ihm Gebührende“
erhält, nicht aber die naheliegende Todesgefahr. – Für die Annahme eines
dolus indirectus kommt es nicht darauf an, ob der Abwehrende nach dem
Abklingen des Affekts die Bewusstseinsverengung gutheißt oder bedauert;
denn bei der Tat waren für ihn eventuelle Weiterungen nicht von Interesse,
und deshalb ist er wie ein Abwehrender zu behandeln, dem die Todesgefahr
zum Tatzeitpunkt vor Augen steht. – In einem vom BGH entschiedenen
Fall106 flieht ein betrunkener Autodieb mit dem Fahrzeug vor der Polizei
und rast, um ja nicht sistiert zu werden, mit der Folge eines tödlichen Un­
104
Hegel, GL, §  120, siehe oben II. 3. b., Text zu Fn.  69, 70.
105
Dieses Ergebnis wurde bereits zuvor (II. 3. b.) bei der Skizze von Hegels Zurechnungs­
lehre erreicht, und dort wurde auch schon ausgeführt, dass sich allerdings allein so das Pro­
blem der Fahrlässigkeit nicht einmal beschreiben und noch weniger lösen lässt.
106
BGH Beschluss vom 16.01.2019 – 4StR 345/18.
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36 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

falls auf die frequentierte Gegenfahrbahn. Hier mag das Ziel, nicht in die
Hände der Polizei zu fallen, die Beschäftigung mit der Gefährlichkeit sei­
nes Verhaltens, dies auch für sein eigenes Leben, überwuchert haben.
In einer zweiten Fallgruppe ist sich der Täter – vielleicht durch Gewöh­
nung – sicher, für sich selbst schadlos von der ordentlichen Verwaltung sei­
nes Organisationskreises bereichsweise absehen zu können, und nach eini­
ger Zeit tritt ihm der bekannte Mangel nicht mehr vor Augen. Beispielhaft,
ein positiv Verpflichteter107 vernachlässigt seinen Schützling immer wieder.
Weiterhin, ein Kraftfahrzeughändler pflegt jahrelang mit den teils nicht
versicherten Fahrzeugen seines Bestands zu fahren, ohne nach einiger Zeit
über das immer wieder Unkorrekte seines Verhaltens überhaupt noch
nach­zudenken. – Weitere Fallgruppen mögen sich bilden lassen.
Anders verhält es sich bei einem fahrlässigen, irrtümlichen Verhalten.
Hierbei ist das Fehlen der aktuellen Vergegenwärtigung des Bekannten
­keine Folge eines Wertungsfehlers, also eines Desinteresses an den Kon­
sequenzen des eigenen Verhaltens, sondern Folge eines Orientierungsver­
lustes: Einer Person gelingt es nicht, sich in der Situation die relevanten
Bereiches ihres Organisationskreises aktuell zu vergegenwärtigen. Anders
als die radikale Stilisierung der Person bei Hegel zum „Denkenden“ sugge­
riert,108 bedarf auch ein „Denkender“ eines Kopfes, der denkt, und dieser
Kopf funktioniert nicht stets richtig, dies nicht nur unter dem Einfluss
­einer Erkrankung, sondern zudem auch eines Mangels an Schlaf, einer
Schlaftrunkenheit, einer seelischen Überlastung, eines Schreckens oder
auch einer unverhofften freudigen Überraschung oder anderer Umstände,
die einen Kopf sonst noch im „Denken“ stören können, dies bis hin zu feh­
lerhaftem Zeitgefühl und zum schlichten Vergessen.
Die bei solchen seelischen Lage zustande kommenden Orientierungs­
fehler beruhen, anders als der dolus indirectus, nicht auf einer falschen
Werthaltung, vielmehr auf der jeder Person (also selbst bei richtiger Wer­
tung) wegen ihrer Bindung an einen nun einmal unvollkommenen Leib
eigen seienden konstitutionellen Schwäche. Diese Schwäche gilt es bei der
Bestimmung der an eine Person gerichteten Erwartung vorab einzukalku­
lieren, dies allerdings nur, wenn sie nicht auf einer mangelhaften Sorge der
Person selbst beruht, also nur bei Unvermeidbarkeit.109
Bei der Beantwortung der Frage, welches Maß an Sorge verlangt wird,
liegt die Entscheidung zu den Extremen auf der Hand: Weder kann auf

107
Jakobs, System, S.  85 ff.; ders., Festschrift für Costa Andrade, S.  689 ff., durchgehend.
108
Dazu oben II. 3. b., letzter Absatz.
109
Zur milderen Bestrafung bei Fahrlässigkeit siehe oben III. 3., Text vor Fn.  93.
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4. Garantieübersteigendes Wissen 37

Selbstkontrolle überhaupt verzichtet werden, noch ist eine totale Beschäfti­


gung mit möglicher Schwäche zu fordern, da die Personen in der Gesell­
schaft ihr Auskommen finden müssen. Ein fixes Maß im Zwischenbereich,
also die Grenze zwischen dem als unvermeidbar und dem als vermeidbar
Geltenden, lässt sich abstrakt nicht bestimmen, richtet sich vielmehr nach
der jeweiligen Gestalt der Gesellschaft und der Bedeutung des Bereichs, in
dem die Person sich verhält. – Jedenfalls hat die Person ein gewisses Maß
an Gespanntheit zu leisten110 und dadurch ihre leiblich bedingten Disposi­
tionen zu kontrollieren. Beispielhaft, wer erfahrungsgemäß (als Bekannt­
schaft, die nicht notwendig aktuell vergegenwärtigt sein muss) zu plötzli­
cher Schlaftrunkenheit neigt, muss ein Verhalten in einem Bereich meiden,
der ständige Beherrschung erfordert (etwa Autofahren), und wer bekannt­
lich leicht vergisst, muss für Erinnerungszeichen sorgen etc.

4. Garantieübersteigendes Wissen

Die Umkehrung des indirekten Vorsatzes bildet dasjenige aktuell gegebene


Wissen, dessen Berücksichtigung dem Opfer nicht garantiert ist. Da es sich
nicht um ein spezifisches Vorsatzproblem handelt, sondern um ein solches
des Umfangs der Garantenstellung des Sich-Verhaltenden, wird es hier nur
sporadisch und begrenzt auf negative Pflichten111 behandelt.
Wie bereits dargetan wurde, hat jede Person für den verkehrssicheren
Zustand ihres Organisationskreises zu sorgen, nicht aber für den Zustand
eines fremden Kreises, es sei denn, sie habe diesen Kreis (durch ein Beteili­
gungsverhalten oder durch Übernahme) auch zu ihrem eigenen ge­
macht:112Ansonsten gilt ein Regressverbot. Klarstes Beispiel, wer pünktlich
seine Schulden bezahlt, haftet auch bei aktuellem Wissen nicht für das Ver­
brechen, das der Gläubiger mit dem Empfangenen vorbereitet; denn den
Kreis des Empfängers hat er nicht zu organisieren und deshalb insoweit
auch keine Schadlosigkeit zu garantieren.113 – Es muss sich nicht zwingend
dergestalt verhalten, dass zwischen dem Wissenden und dem Geschädigten
eine dritte Person zwischengeschaltet ist, vielmehr mag mit dem Geschä­
110
Pawlik, Unrecht, S.  302 ff. und passim.
111
Einige positive Pflichten, also solche zur Bildung einer zumindest bereichsweise ge­
meinsamen Welt, mögen zum Inhalt haben, alle Ressourcen zu aktivieren (Jakobs, AT, 15/15,
29/60) – ein schwieriges Problem der Bestimmung des Umfangs einer Garantie, aber keines
speziell der Vorsatzlehre.
112
Jakobs, Beteiligung, S.  15 ff. und öfter.
113
Diese Garantie fehlt ungeachtet der Vorsatzform! Anders freilich eine verbreitete An­
sicht.
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38 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

digten auch unvermittelt interagiert werden, nämlich soweit der Geschä­


digte keinen Anspruch darauf hat, dass der Wissende restlos alle seine Wis­
sensressourcen nutzt.114 Das wird oft der Fall sein, wenn der Veranlasser des
Schadens mit dem Geschädigten nur in einer bestimmten Rolle verbunden
ist, zu der Kenntnisse im relevanten Lebensbereich nicht gehören, und des­
halb spricht man auch von Sonderwissen.115 Der geläufigste Schulfall dürfte
von einem in den Semesterferien kellnernden Biologiestudenten handeln,
der einen grünen Salat dem vorgesehenen Gast serviert, obgleich er als Bio­
logiestudent aktuell weiß, dass das Gericht ein Blatt einer unverträglichen
Pflanze enthält.116 Ob je nach der Größe des drohenden Schadens eine un­
terlassene Hilfe in Betracht kommt (§  323c StGB), soll hier dahinstehen;
denn jedenfalls handelt es sich nicht um ein Begehungsdelikt (Servieren ist
ein Tun!), wie schon daran zu erkennen ist, dass dem Studenten offenbar
die Pflicht fehlt, für die Qualität des Servierten zu garantieren. Mangels
einer bestehenden Garantie würde wohl niemand gegen ihn einen Vorwurf
erheben, wenn er sich das zu Servierende nicht genauer angeschaut hätte.
Im Ergebnis hat ein Täter, der sich mit indirektem Vorsatz verhält, zu
garantieren, dass ihm eine verhaltensleitende Kenntnis aus dem Bereich
des Bekannten zur Verfügung steht, während ein Täter mit garantieüber­
steigendem Wissen seine aktuelle Kenntnis nicht zu Leitung seines Verhal­
tens nutzen muss, jedenfalls nicht als Garant, da das Geschehen nicht zu
seiner Organisation zählt, vielmehr zu derjenigen dritter Personen oder des
Opfers selbst.
Weil es um die Trennung der die Lage verwaltenden Organisationskreise
geht, ergibt sich geradezu von selbst, dass die Verantwortungsfreiheit des
Wissenden endet, wenn er die Lage nach seinen Plänen umgestaltet, sie also
organisiert. Der Wissende ist nur insoweit von Haftung frei, als er aus sei­
nem Wissen keine Konsequenzen für sein Verhalten zieht (wenn er sich
also verhält, als wisse er nicht). Richtet er aber sein Verhalten nach dem von
ihm an sich nicht zu garantierenden Wissen aus, so baut er es in seine eigene
Organisation ein, für deren schadlose Gestalt er nun einmal Garant ist. Der
im Beispielsfall agierende Hilfskellner mag also den verdorbenen Salat un­
gerührt servieren, dies aber nur dem vorgesehenen Gast, nicht später einem
anderen, der ihm missliebig ist; denn im letzteren Fall ist es seine Organisa­
tion, wen der Schaden trifft.

114
Jakobs, Festschrift für von Heintschel-Heinegg, S.  235 ff.
115
Genauer wäre: nicht garantiertes Wissen.
116
Schon Jakobs, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, S.  273; ders., AT, 9/47 f.
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5. Eventualvorsatz (dolus eventualis) 39

5. Eventualvorsatz (dolus eventualis)

Üblicherweise werden heute drei Vorsatzformen unterschieden.117 (1) Bei


Absicht (auch dolus directus oder direkter Vorsatz ersten Grades genannt)
handelt es sich um den Vorsatz, der sich auf eine – und sei es alternativ118 –
erstrebte Verhaltensfolge bezieht, wobei die Folge als notwendiges Zwi­
schenziel oder als Endziel des Verhaltens erstrebt werden mag.119 Beispiel­
haft, der fliehende Täter schießt auf zwei ihn verfolgende Personen in der
Hoffnung, immerhin eine von beiden zu treffen (alternativ); nicht erforder­
lich ist, dass die Folge gewiss ein­treten wird: Jedenfalls nennt man sie
Hauptfolge. (2) Beim dolus directus oder direktem Vorsatz zweiten Grades
bezieht sich der Vorsatz – oder, beim dolus indirectus, bezöge er sich bei
gegebenem Erkenntnisinteresse – auf eine Verhaltensfolge, die ihrerseits
nicht erstrebt wird, aber mit einer erstrebten Hauptfolge sicher verbunden
ist. Das soeben beispielhaft genannte Verhalten soll nunmehr auf einem
Steg ohne Geländer stattfinden, und die getroffene Person wird nicht nur
ausgeschaltet sein (Hauptfolge), sondern zudem tief stürzen und, so sie
nicht bereits tot ist, spätestens dadurch sicher ums Leben kommen (Neben­
folge). (3) Vom Eventualvorsatz oder dolus eventualis ist die Rede, wenn die
Verbindung zum Strang der Hauptfolgen – vom Verhaltensvollzug bis zum
Endziel – als unsicher prognostiziert wird (oder, so die hiesige Ansicht, eine
solche Prognose mangels eines Interesses am Fortgang ausbleibt).120 – Dass
diese Differenzierung wenig sachangemessen ist, wenn jedenfalls das Ver­
halten in Bezug auf die jeweilige Folge (in einem noch zu bestimmenden
Maß) unerlaubt riskant ist, also im Beispielsfall die Bedeutung eines Tötens
hat, wird sogleich behandelt werden.
Wenn man die üblichen Ausführungen zum dolus eventualis heranzieht,
so fällt auf, dass versucht wird, die psychische Lage analog derjenigen bei
Absicht zu bilden, indem ein – freilich abgeschwächtes – „Wollen“ zusätz­
lich zur aktuellen (oder beim dolus indirectus: potenziellen) Vergegenwär­
tigung des mög­lichen Verlaufs verlangt wird, um von Vorsatz reden zu

117
Jakobs, AT, 8/7 ff., 15 ff., 18 ff.
118
Zum alternativen Vorsatz Jakobs, AT, 8/2, 15.
119
Letztes Endziel dürfte stets „Glückseligkeit“ sein.
120
Hörnle will den Begriff „bedingter Vorsatz“ überhaupt aufgeben und strebt folgende
Dreiteilung an: direkter Vorsatz, Recklessness und Fahrlässigkeit (JZ 2019, S.  4 40 ff.). Sie sieht
zutreffend, dass eine Ausrichtung an individueller Befindlichkeit sich nicht mit dem recht­
lich Geforderten deckt (S.  4 44, 445 ff. [Aber warum wird dann der durch Individualismen
gekennzeichnete direkte Vorsatz ersten Grades hervorgehoben?]). Allerdings dürfte Hörnle
die Erfolgsaussichten des hier unternommenen Versuchs einer normativierenden Korrektur
des üblichen Psychologismus – auf die sie nicht eingeht – unterschätzen.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023

40 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

können:121 ein Wollen für den Fall des Eintritts der Folge, ein In-den
Kauf-Nehmen, ein Wollen im Rechtssinn, ein Fehlen des Vertrauens auf
ein Ausbleiben der Folge und vieles anderes mehr, was hier nicht weiter
vertieft werden soll; denn es liegt neben der Sache, also neben dem Vorsatz­
begriff als Element der Zurechenbarkeit eines Geschehens. Nur die Formu­
lierung, Eventualvorsatz scheide aus, wenn der Täter auf ein Ausbleiben des
Erfolgs ernsthaft vertraut habe, weist in die richtige Richtung; denn sie lässt
es zu, den individuellen Vorgang des Vertrauens auf seine allgemeine Be­
deutung – eben auf seine nach allgemein geltenden Wertungen gegebene
Ernsthaftigkeit – zu prüfen und kommunikativ irrelevantes Vertrauen aus­
zuscheiden. Dazu wird noch zu argumentieren sein.122
Es ist kategorisch falsch, bei der Beurteilung dessen, was ein Agierender
(oder Unterlassender) gestaltet, andere als diejenigen Bedingungen heran­
zuziehen, die zur Gestaltung vorliegen müssen, und zu diesen Bedingun­
gen gehören nicht individuelle Präferenzen oder Stellungnahmen, also we­
der ein Erstreben noch ein In-den-Kauf-Nehmen oder das Fehlen eines
nur-individuell begründeten Vertrauens etc. Gewiss muss ein Verhaltens­
antrieb vorhanden sein, damit es überhaupt zu einer bedeutungshaltigen
Gestaltung der Welt kommt, aber dieser Antrieb ist nicht Teil der Gestal­
tung, sondern ihr – gesellschaftlich äußerlicher, da individueller – Anlass.
Es geht beim Vorsatz um die Gestaltungskraft, über die eine Person ver­
fügt, nicht hingegen um die individuelle Beurteilung des zu Gestaltenden.
Eine Person, die sich überhaupt verhält (und ansonsten ist sie nicht Per­
son), sei es im Recht, sei es entgegen dem Recht, unternimmt das nicht in
einem bedeutungsleeren und damit auch gesellschaftsleeren, also „natürli­
chen“ Raum („Raum“ als Bezeichnung eines Zusammenhangs), den sie mit
ihren individuellen Präferenzen oder Abneigungen füllen könnte; denn
den Bestandteilen dieses Bereichs ist ihre gesellschaftliche, allgemeine Be­
deutung längst immanent, wie jeder weiß, der sich nicht als erster Mensch
versteht. Welche Zusammenhänge in der sozialen Welt etwas bedeuten und
was die Bedeutung ist, richtet sich nach gesellschaftlich präformierten, all­
gemeinen Urteilen (etwa zur Höhe des erlaubten Risikos), über die allen­
falls in bestimmten Verfahren oder durch geschichtliche Entwicklung ver­
fügt werden kann. Man mag sich das vorstellen, wie es beim Blättern in
einem Bildband der Fall ist: Ein Bild folgt auf das nächste, jeweils als kom­
121
Treffend gegen die Suche nach einem „Wollen“, „Billigen“ etc. Puppe, JR 2019, S.  325
mit Nachweisen. Das Problem taucht in zahlreichen Rechtsordnungen auf; dazu lehrreich
die das deutsche, französische und kalifornische Recht betreffende – allerdings wenig „nor­
mativierungsfreundliche“ –Studie von Ruppenthal, Tötungsvorsatz, S.  103 ff., 287 ff., 318 ff.
122
Siehe unten III. 6.
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5. Eventualvorsatz (dolus eventualis) 41

plettes Bild, und der Blätternde mag sich auf Details konzentrieren oder ab
und an auch wegschauen, ohne allerdings dadurch den Zusammenhang
eines Bildes oder – bei einem gut eingerichteten Band – denjenigen zwi­
schen den Bildern verändern zu können. Beiläufig, Autor des Bandes ist die
Allgemeinheit.
Eine Person kann also nur zwischen präformierten Weltgestalten als Be­
deutungszusammenhängen wählen, dies je nach der von der Person „auf­
geblätterten Seite“. An den dann sich ergebenden Zusammenhang bleibt sie
gebunden. Beispielhaft, eine Person steckt ihr Haus in Brand, um die Ver­
sicherungssumme zu erlangen; die Tat gelingt, aber das Mobiliar sämt­
licher Mieter verbrennt erwartungsgemäß ebenfalls, und ein gelähmter
Bewohner kann nur knapp aus dem Haus gerettet werden. Was ist dabei
das Ziel, das Beabsichtigte? Die übliche Antwort dürfte lauten, die Zerstö­
rung des Hauses erfolge mit Absicht (mit dolus directus ersten Grades,
Hauptfolge), diejenige der Habe der Mieter mit sicherem Wissen (mit dolus
directus zweiten Grades, sichere Nebenfolge, hier vielleicht nicht überhaupt
sicher, vielmehr sicher mit einer vielleicht ihrerseits unsicher eintretenden
Hauptfolge verbunden) und die versuchte Tötung des Gelähmten mit Even­
tualvorsatz (mit dolus eventualis, gleichfalls bezogen auf eine Nebenfolge).
Diese Antwort wäre auch korrekt, ginge aber am rechtlich Erheblichen vor­
bei; denn so, wie der Täter vorgeht, kann er das Zusammenhängende nur
als ein Ganzes ins Werk setzen: So er sich überhaupt zum Tun oder Unter­
lassen entschließt, beabsichtigt er die Realisierung des gesamten Zusam­
menhangs, und er kann nur wählen zwischen „alles oder nichts“. Hegel for­
muliert: „Es ist eines Theils die subjective Reflexion, welches die logische
Natur des Einzelnen und Allgemeinen nicht kennt, die sich in der Zersplit­
terung von Einzelheiten und Folgen einläßt.“123
Das Beabsichtigen einzelner Elemente eines Zusammenhangs gehört
nicht zum Vorsatz als Voraussetzung einer sinnvollen Gestaltung der Welt,
also dem Vorsatz als Tatsteuerung. Salopp gesprochen, Vorsatz ist Vorsatz,
und Absicht ist nicht „mehr“ Vorsatz als ein dolus directus zweiten Grades
oder ein Eventualvorsatz. Das beurteilt der Bundesgerichtshof neuerdings
anders,124 indem er §  46 Abs.  2 Nr.  1 StGB heranzieht, wonach bei der Straf­
zumessung die „Beweggründe und Ziele des Täters“ zu berücksichtigen

123
Hegel, GL, §  119 Anm.; die Fortsetzung lautet: „andererseits ist es die Natur der endli­
chen (!; G. J.) That selbst, solche Absonderungen oder Zufälligkeiten zu enthalten“, was heißt,
das Individuum (!) zersplittere das logisch unteilbare Geschehen in Einzelheiten.
124
BGH 63, S.  54 ff., mit Schilderung der Schwankungen in der Vorgeschichte S.  56 ff.
(Rdn. 5 ff.).
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42 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

sein sollen.125 Da jedoch – wie dargelegt wurde – ein Täter die Realisierung
eines komplexen Zusammenhangs nur insgesamt beabsichtigen kann, nicht
aber die Realisierung einzelner Teile daraus, sind alle Vorsatzformen glei­
chermaßen betroffen.126 – Eine andere Frage ist es, ob durch des Täters Be­
vorzugung einzelner Teile des Komplexes, die er aus individuellem Interes­
se herauspickt, eine subjektive Lage gekennzeichnet wird, die jenseits der
Erfolgssteuerung bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Das wird
hier nicht weiter verfolgt, da es nicht den Vorsatz als Voraussetzung einer
sinnvollen Gestaltung der Welt betrifft.127

6. Kommunikative Relevanz

Ein Vorsatz muss sich nicht notwendig auf eine Tatbestandsverwirklichung


beziehen. So kann ein Philanthrop den Vorsatz aufweisen, anderen Per­
sonen in einer Notlage zu helfen, dies entweder durch die Spende einer
Summe Geldes oder durch ein inniges Gebet zum Herrscher der Welt; im
ersteren Fall wird der Vorsatz kommunikativ relevant gebildet, im letzteren
(wohl) nicht. Dementsprechend gibt es auch beim Tatbestandsvorsatz ei­
nen kommunikativ relevanten Inhalt und einen irrelevanten. Beispielhaft,
der Schuss auf Kennedy in Dallas war ein kommunikativ relevantes Tö­
tungsunternehmen, hingegen wäre das Unterfangen, ihn aus derselben
– großen! – Entfernung mit Röntgenstrahlen zu töten, ohne kommunikati­
ve Relevanz gewesen.
Das führt unvermittelt zu der folgenden Frage: Ist der auf einen tatbe­
standlich erfassten Erfolg gerichtete, aber kommunikativ irrelevante Vor­
satz überhaupt ein Tatbestandsvorsatz, sodass er immerhin eine Versuchs­
bestrafung trägt? Zwei Gründe für kommunikative Irrelevanz drängen
sich auf (weitere mögen sich finden lassen):128 Einmal handelt es sich um
eine abergläubische Konstruktion des Zusammenhangs von Verhalten und
Erfolg; Paradebeispiel ist das Unterfangen des Totbetens. Das andere Mal

125
BGH 63, Darstellung der Ansicht des 2. Senats, S.  58 (Rdn. 10), auch des 4. Senats, S.  62
(Rdn. 22).
126
Alle Vorsatzformen sind genuin gleich! Das wurde der Sache nach (allerdings auch
nicht mehr) in der älteren Rechtsprechung anerkannt, die eine schulderschwerende Berück­
sichtigung der Absicht als unzulässige Doppelverwertung ablehnte (§  46 Abs.  3 StGB). Einge­
hende Nachweise, auch der Literatur, bei BGH 63, S.  54 ff., 57 (Rdn. 7).
127
Insoweit zu Absichten und anderen subjektiven Befindlichkeiten Jakobs, AT, 8/91 ff.,
94 ff., auch 8/97 ff.
128
Sancinetti, Unrechtsbegründung, S.  193 ff.; Jakobs, Festschrift für Sancinetti, noch un­
gedruckt.
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6. Kommunikative Relevanz 43

bildet der Täter aus einem Zusammenhang, den er sich als naturgesetzlich
gegeben vorstellt, in seiner Vorstellung die Verknüpfung seines Verhaltens
mit einem tatbestandlichen Erfolg, aber seine Vorstellung liegt sehr weit
neben dem, was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Naturgesetz ver­
standen wird; mit anderen Worten, seine Vorstellung vom Zusammenhang
ist absurd. Beispielhaft, der Täter „versucht“, ein tausende Meter hoch flie­
gendes Flugzeug mit einer Allerweltspistole abzuschießen, dies in der Vor­
stellung, wenn die „Thermik“ das Flugzeug trage, werde sie leichthin auch
sein Geschoss emporwirbeln.
Die beiden Gründe für kommunikative Irrelevanz treffen sich in der Be­
schränkung der Bedeutung des Verhaltens auf einen individuellen Hori­
zont; wegen seiner gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit wird es von den
jeweils vom Agierenden individuell angenommenen, allgemeinen Tatbe­
ständen nicht erfasst.129 Es handelt sich bei solchen Verhaltensweisen nicht
um Versuche der Erfolgsherbeiführung, vielmehr um neben den Tatbestän­
den liegende Unterfangen, also um Wahndelikte.
Die entschiedenste Gegenposition beziehen die Vertreter einer alleinigen
Relevanz des Handlungsunrechts.130 Armin Kaufmann formuliert in aller
wünschenswerten Klarheit:131
„In konsequenter Durchführung des personalen Unrechtskonzepts (und auch der sub­
jektiven Versuchstheorie) bestimmt allein der Sinn, den der Täter im Tatvorsatz seiner
Tat gibt, das Wertungssubstrat des Normwidrigkeitsurteils. Selbst der abergläubische
Versuch ist also Unrecht.“

Mit dieser Position wird die weitestmögliche Entfernung von Hegels Zu­
rechnungslehre erreicht:132 Ein Täter wird nicht als „Denkender“ behan­
delt, vielmehr wird seine Unvernunft als rechtlich maßgeblich geadelt. Der
„Kopf“ eines Täters und ein Gesetzbuch werden ohne gesellschaftliche Ver­
mittlung aufeinander bezogen.
Nun ließe sich argumentieren, solche Kuriositäten bei abergläubischen
oder absurden Unterfangen sollten in dem hier intendierten Traktat zum
Vorsatz allenfalls in einer Fußnote abgetan werden. Dem ist freilich nicht
so; denn zu der Untauglichkeit abergläubischer und absurder Annahmen,

129
Es bleibt allerdings die Aufgabe, die Grenze zu Taten nach §  23 Abs.  3 StGB zu ziehen,
wobei sich eine mathematische Exaktheit nicht erzielen lassen dürfte.
130
Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S.  403; Zielinski, Unrechtsbegriff, S.  134
Fn.  14, S.  161 Fn.  33; anders allerdings (ansonsten der Schule Armin Kaufmanns zugehörig)
Sancinetti, Unrechtsbegründung, S.  193 ff. – Zum Ganzen Jakobs, Festschrift für Sancinetti,
noch ungedruckt.
131
Armin Kaufmann, Festschrift für Welzel, S.  403, Hervorhebung original.
132
Dazu oben II. 3. b.
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44 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Unrecht zu begründen, gibt es eine Umkehrung, nämlich beim Vorsatzaus-


schluss: Was einen Vorsatz nicht begründen kann, weil es neben dem Tat­
bestand angesiedelt ist, kann aus demselben Grund einen Vorsatz auch
nicht aufheben. Was sich neben dem Tatbestand befindet, ist jedenfalls
kommunikativ irrelevant. Beispielhaft gefragt (zunächst im krassen Be­
reich), hat ein streng Gläubiger, der ein Kind über ein Brückengeländer
wirft, keinen Vorsatz der Schädigung, wenn er zuvor den – steinern anwe­
senden – heiligen Nepomuk angerufen hat, oder fehlt einem Täter, der bei
extremem Glatteis das Fahrzeug eines anderen bis zur Höchstgeschwindig­
keit ausreizt, ein Vorsatz der Sachbeschädigung, weil er auf seine Reflexe
vertraut? Abstrakt gefragt, ist beim subjektiven Tatbestand auf individuel­
les Meinen abzustellen oder auf ein gesellschaftlich gültiges Urteil? Oder zu
Armin Kaufmann gefragt, wenn der Agierende seinen Aktionen wegen sei­
nes individuellen Meinens keinen deliktischen Sinn gibt, fehlt dann Vor­
satz? Die Antwort dürfte nicht schwerfallen, ihre Begründung schon eher.
Um einer Begründung näherzukommen, sollen die Normen von reinen
Verursachungsdelikten betrachtet werden – töte keinen anderen, verletze
keinen anderen, zerstöre kein fremdes Eigentum etc. Dazu wurde bereits
ausgeführt, dass der jeweils andere als Rechtsgenosse, als Person, verstan­
den werden muss,133 wenn von Vorsatz die Rede sein soll. Aber wie muss
der vom Agierenden angenommene Zusammenhang zwischen seinem
Verhalten und der Schädigung des rechtlich Verbundenen begriffen wer­
den, wenn es sich um Vorsatz handeln soll? Der Zusammenhang kann
nicht anders verstanden werden als unter Anerkennung des anderen als
eines rechtlich Verbundenen, und das heißt, die Beziehung zu ihm lässt
sich nicht privatim bestimmen, sondern nur rechtlich. Die Norm, keinen
anderen zu töten, lautet demgemäß, niemand solle ein Verhalten mit der
allgemeinen Bedeutung „Töten“ vollziehen.
Wenn ein Person sich so verhält, wie es allgemein als deliktisch verstan­
den wird, sie aber zugleich meint, einen Erfolgseintritt durch kommunika­
tiv irrelevante Modalitäten verhindern zu können, hat sie demgemäß Vor­
satz, so ihr nur die allgemeine Bedeutung bekannt ist. Tritt der Erfolg zur
größten Überraschung des Agierenden ein, so ist nur das Individuum
überrascht, während der denkenden Person die nach allgemeinem Urteil
bestehende Erfolgsgefahr bekannt ist und der Erfolgseintritt deshalb keine
Überraschung für sie darstellt. Zur Illustration mögen die verbreitet als
„Raserfälle“ bezeichneten Vorkommen dienen,134 die sich allein mit Ge­

133
Oben II. 3. b. und III. 1.
134
Zusammenfassung der Reaktionen in der Literatur bei Mitsch, ZIS 2019, S.  234 ff.
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6. Kommunikative Relevanz 45

danken (und teils auch Phantasien) zur individuellen Bewusstseinslage


nicht akzeptabel darstellen, geschweige denn beurteilen lassen.
Es handelt sich um ausdrücklich oder konkludent verabredete Rennen
auf belebter öffentlicher Straße zwischen (mindestens) zwei Führern von
Kraftfahrzeugen. Beim Überfahren einer „rot“ zeigenden Ampel ereignet
sich eine Kollision mit einem berechtigt querenden dritten Fahrzeug etc.
Dass die Konkurrenten sich mit dolus indirectus solcherart verhalten, ist
auszuschließen,135 da ihnen nicht gleichgültig sein dürfte, ob es zu einer
Kollision kommt; denn bei einer solchen steht auch für sie selbst viel auf
dem Spiel, sogar ihr eigenes Leben. Allenfalls mögen sie den Kitzel eines
Risikos als reizvoll empfinden und deshalb dieses nicht weiter bedenken;
insoweit mag also ein indirekter Vorsatz vorliegen. Aber das erklärt nicht
das Fehlen aktueller individueller Kenntnis von der bevorstehenden Katas­
trophe, und dazu kommt es, weil die Beteiligten individuelle Einschätzun­
gen in ihre Beurteilung der Lage einmischen: Hoffnung auf Glück, Über­
schätzung der Leistungskraft der eigenen „Reflexe“, Gewöhnung („bisher
ging solches gut aus“) und anderes mehr. Diese Einschätzungen weisen
eine Gemeinsamkeit auf: Sie sind kommunikativ irrelevant, und das wissen
die Beteiligten aktuell, zumindest – etwa wenn ihnen an der Einschätzung
nichts liegt – ist es ihnen bekannt. Sie verhalten sich also in einer Situation,
deren gesellschaftliche Beurteilung als (in einem das erlaubte Risiko über­
steigenden Maß) erfolgsgeneigt sie aktuell kennen, zumindest ist sie ihnen
bekannt. Daraus ergibt sich: Da niemand als reines Individuum gesell­
schaftsfähig ist, vielmehr nur bei Anerkennung der anderen als Personen,
kann sich auch niemand aus den Beziehungen zu den anderen „ausklin­
ken“ und sich verhalten, als ließen sich diese individuell überspielen. Vor-
satz ist demgemäß die Kenntnis der allgemeinen Beurteilung des eigenen
Verhaltens oder die Bekanntschaft damit.
Es mag allerdings Situationen geben, in denen die Beurteilung des Ak­
teurs dem allgemeinen Urteil überlegen ist, und zwar weil dieser in seiner
135
Anders Rostalski, GA 2017, S.  590, die argumentiert, (1) bei Anerkennung der Rechts­
figur eines dolus indirectus sei dieser in solchen Fällen gegeben. Rostalski lehnt diese Figur
der Zurechnung allerdings ab, da sie (2) auf die „Bewertung der Haltung bzw. Gesinnung“
des Täters hinauslaufe. – Beides trifft nicht zu: (1) Ein dolus indirectus liegt mangels Gleich­
gültigkeit gegenüber den Verhaltensfolgen nicht vor, würde aber (2), wenn er vorläge, so we­
nig zu einer Gesinnungsbewertung führen, wie ein jeder Täter, der nicht gesonnen ist, das
Recht zu befolgen, für seine Tat und nicht seine Gesinnung haftet. – Puppe, JR 2018, S.  326,
findet in dem genannten Verhalten eine „praktizierte Gleichgültigkeit“, die „nicht zugutege­
halten werden“ dürfe. Diese Gleichgültigkeit, die, beiläufig, jeder Vorsatztäter an den Tag
legt, bezieht sich aber „nur“ auf den Regelverstoß und nicht auf den durch das Verhalten be­
wirkten Erfolg, mit anderen Worten, gleichgültig ist dem Agierenden in den hiesigen Fällen
die Abweichung seiner Einschätzung von der allgemein bestimmten Verhaltensbedeutung.
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46 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Einschätzung das Urteil korrigieren kann, und zwar – darauf kommt es


an – durch kommunikativ relevantes Wissen. Es handelt sich also nicht um
irgendwelche korrigierenden individuellen Annahmen, sondern um eine
Vorwegnahme dessen, was zukünftig zum kommunikativ Relevanten ge­
hören wird; dieses ist stets vorläufig, nämlich nur bis zu seiner Verbesse­
rung gültig. Das Haupt­beispiel dafür dürfte gegeben sein, wenn ein For­
scher entdeckt hat, dass eine bislang pauschal als gefährlich eingestufte Si­
tuation nur bei bestimmten Rand­bedingungen überhaupt einen Erfolg
hervorrufen kann, und er in einer Situation handelt, in der diese Bedingun­
gen fehlen. Die Kalkulation des Agierenden ist dann dem allgemeinen Ur­
teil „voraus“, bleibt aber den Kategorien des Allgemeinen verhaftet: Vorsatz
scheidet aus, weil das Allgemeine nicht als irrelevant behandelt, sondern es
verbessert wird. – Eine andere Frage ist es, ob in der Umkehrung ein Täter
sein Wissen von einer bislang nicht allgemein präsenten Gefährlichkeit sei­
nes Verhaltens berücksichtigen muss. Solches ist bei kommunikativ irrele­
vantem Wissen („ungutes Gefühl“) nie der Fall, ansonsten, wie schon dar­
getan wurde,136 nur beim Bestand einer Garantenstellung.

7. Unterlassungsvorsatz

Das Ausgeführte muss noch auf Unterlassungen übertragen werden, was


„eins zu eins“ möglich sein sollte. Der Grundfall lautet: Eine Person, sei sie
Garantin oder als quivis ex populo bei einer Notlage zum Eingreifen ver­
pflichtet, unterfängt sich, die Gefahr durch abergläubische oder absurde
Maßnahmen zu beseitigen, die sie zwar für geeignet hält, aber von denen
sie weiß, dass sie nach allgemeinem Urteil für wirkungslos gehalten werden
und an deren Stelle den gegebenen Fähigkeiten entsprechende andere Un­
ternehmungen einzuleiten wären. – So, wie das Unterfangen, eine andere
Person auf abergläubische oder absurde Art und Weise zu schädigen, kein
Versuch ist, da es an einem Tatbestandsvorsatz mangelt, und so, wie ein
Tatbestandsvorsatz nicht entfällt, wenn der Agierende abergläubische oder
absurde Vollendungshindernisse errichtet, so hebt bei der Unterlassung ein
entsprechend gestaltetes Rettungsunterfangen den Unterlassungsvorsatz
nicht auf.137 Das Recht adressiert seine Verhaltensvorschriften an Personen,
die das allgemeine Urteil kennen, nicht aber an Individuen mit ihren be­
sonderen Ansichten, sodass es abergläubische und absurde Schädigungs­

136
Siehe oben III. 4.
137
Ähnlich Sancinetti, Unrechtsbegründung, S.  230 ff.
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7. Unterlassungsvorsatz 47

unterfangen so wenig erfasst, wie ihm Rettungsunterfangen dieser Art


nicht genügen. Soll ein Täter Vorsatz aufweisen, so muss er wissen, wie das
allgemeine Urteil lautet, nicht mehr und nicht weniger; denn dann kennt er
die personale Welt, aus der er sich als zurechnungsfähige Person nicht her­
ausstehlen kann.
Allerdings wird bestritten, dass es einen Unterlassungsvorsatz überhaupt
geben kann. Es handelt sich um die Unterlassungstheorie, die Armin Kauf-
mann entwickelt hat und die darauf zielt, die Unterlassung nicht als einen
Spross aus derselben Wurzel wie das aktive Tun zu begreifen, sondern als
eigen­ständig zu begründen.138 Diese Sicht bemüht zwei Argumente, ein
eher naturalistisches und ein materiales. Das erstgenannte stellt darauf ab,
bei einer Unterlassung ereigne sich nichts und deshalb könne auch nichts
(final) bewirkt werden.139 Allerdings kann gerade das Unterbleiben eines
Eingriffs in einen Geschehensverlauf „Bedingung, Grund, Ursache“140 ei­
ner bestimmten Gestaltung der Welt sein. Beispielhaft, ob ein Täter, der mit
seinem Fahrzeug eine andere Person überrollen will, die Tempoautomatik
nicht ausschaltet oder das Gaspedal mit entsprechender Folge aktiv be­
dient, dürfte und sollte gleich­stehen.
Das zweite (materiale) Argument lautet, da beim Begehungsdelikt ceteris
p­ aribus der Vorsatz gegenüber der Fahrlässigkeit die einen stärkeren Vor­
wurf begründende Modalität sei, müsse beim Unterlassungsdelikt als er­
schwerende Modalität die Lage angesehen werden, in welcher der Unterlas­
sende bei Kenntnis der Notlage an ein rettendes Eingreifen nicht einmal
denke und deshalb über keine aktuelle Vorstellung von rettender Kausalität
verfüge. – Das ist (übertragend formuliert) immerhin zur Hälfte richtig,
nämlich soweit es sich um Fallgestaltungen handelt, in denen der Unterlas­
sende aus Gleichgültigkeit an sich Bekanntes nicht aktualisiert, sich also
mit dolus indirectus verhält. Aber der Unterlassende mag auch wegen einer
verständlichen Störung das Bekannte nicht aktuell bedenken, etwa ergrif­
fen von Schrecken, Schlaftrunkenheit, ungewöhnlicher Ablenkung etc.; es
bedarf nun einmal zum personalen Verhalten einer „funktionierenden“
Psyche und eines ebensolchen Leibes und ein Teil davon versagt.
Eher um ein Scheinproblem handelt es sich bei der Frage, ob der vorsätz­
lich Unterlassende den gesamten Kausalstrang bis hin zur Rettung über­

138
Dazu Welzel in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem Ge­
spräch mit Mitarbeitern (einigermaßen wörtlich): „Kaufmann hat die andere Seite des Mon­
des entdeckt, aber ob diese je besiedelt wird, bleibt fraglich.“
139
Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S.  66 ff., 110 ff., 120, 309 ff.
140
Siehe oben zu Hegel II. 3. b.
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48 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

blicken muss.141 Das muss er so wenig, wie ein Begehungstäter zum Ver­
suchsbeginn alle Einzelheiten der kommenden Tat reflektiert haben muss,
vielmehr reicht es hin, wenn er den Rahmen des Fortgangs kennt. Parallel
dazu muss ein Unterlassungstäter zum beendeten Unterlassungsversuch
nur die Chance verstreichen lassen, mit der Ermittlung des Erforderlichen
zu beginnen. Beispielhaft, ein Arzt, sei er Garant oder sonst Verpflichteter,
hat in jedem nicht evident hoffnungslosen Fall erst einmal mit der Anam­
nese zu beginnen.
Dass nach der hier zur Begehung vertretenen Lösung (oben III. 1.) zum
Unterlassungsvorsatz auch die Kenntnis der Pflicht zum Eingreifen gehört,
handele es sich um eine Garantenpflicht oder um eine Jedermannspflicht,
bedarf wohl keiner besonderen Erörterung. – Im Ergebnis bietet der Vor­
satz beim Unter­lassen gegenüber demjenigen beim aktiven Begehen keine
Besonderheiten.

8. Minimale Risiken

Bei der Behandlung nur-individuell angenommener Hindernisse einer Tat­


bestandsverwirklichung wurde dargestellt,142 dass die Annahme solcher
Hindernisse Vorsatz nicht ausschließt, wenn diese nach allgemeinem Ur­
teil wirkungslos oder doch wirkungsschwach sind und der Agierende die­
ses allgemeine Urteil kennt. Das gilt insbesondere für die individuelle An­
nahme, die Sache werde „glücklich“ ausgehen. Diese Beurteilung wird pro­
blematisch, wenn sie auf minimale Risiken bezogen wird oder auf
minimale Risikoerhöhungen über einen erlaubten Grenzwert hinaus, zu­
mal wenn das Riskante sich erst bei massenhafter Kumulation erfahren
lässt.143 Ein Paradebeispiel bildet der Straßenverkehr; krass, die in Ort­
schaften zugelassene Geschwindigkeit von höchstens 50 Stundenkilome­
tern ist per se eine am Dezimalsystem ausgerichtete Festlegung und des­
halb wenig plausibel; warum nicht fünf weniger oder drei mehr? Ein Über­
schreiten der festgelegten Geschwindigkeit um wenige Prozent ist selbst bei
gespannter Aufmerksamkeit nicht mehr von der Risikoerlaubnis gedeckt,
aber nicht auch schon deshalb als materiell gefährlich erfahrbar, dies viel­
mehr nur dann, wenn es millionenfach geschieht. Im Einzelfall ist also ein
Vertrauen auf Glück zu erwarten. Weiteres kommt hinzu: Wer bei solchen

141
Dazu Jakobs, AT, 29/84 ff.
142
Siehe oben III. 6.
143
Zum folgenden Text Jakobs, Festschrift für Bruns, S.  31 ff.
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8. Minimale Risiken 49

mäßigen Überschreitungen des erlaubt Riskanten nicht mit Glück rechnet,


kann sich in dem betreffenden Lebensbereich nicht bewegen; denn er müss­
te permanent wegen der Überschreitungen durch anderer Verkehrsteilneh­
mer um den Bestand seiner Rechte bangen. Abermals krass, wer auf der
Autobahn jedes Mal, wenn der nachfolgende Fahrer nicht den gebotenen
Abstand einhält, ernsthaft die Möglichkeit eines Unfalls mit schlimmen
Folgen prognostiziert, kann dort wegen seiner sich dann permanent ein­
stellenden Aufregung nicht mehr fahren.
Es muss also bei unerlaubten, aber minimalen Risiken eine Risikogewöh-
nung, ein Rechnen mit Glück, allgemein akzeptiert werden, wenn gefahrge­
neigte Bereiche der Gesellschaft nutzbar bleiben sollen. Das Vertrauen auf
Glück ist insoweit keine nur-individuelle Einstellung, sondern wird allge­
mein akzeptiert, wie schon daran zu erkennen ist, dass die gefahrgeneigten
Bereiche überhaupt betrieben werden. Da insoweit – anders als es bei ge­
wichtigen Risiken der Fall ist – ein Vertrauen auf Glück oder die beruhi­
gende Wirkung von Gewöhnung honoriert, wenn nicht geradezu erzwun­
gen wird, scheidet ein Verletzungsvorsatz aus, und sollte die agierende Per­
son der Ansicht sein, ihr Verhalten in Risikokenntnis erfülle den Tatbestand
eines versuchten Verletzungsdelikts, würde sie sich wahndeliktisch verhal­
ten. Es handelt sich also, genau genommen, um eine Einschränkung des
objektiven Tatbestands.
Aber selbstverständlich bleibt die Überschreitung des erlaubten Risikos
­ihrerseits unerlaubt, was der agierenden Person bekannt sein dürfte. Das
Un­erlaubte bezieht sich jedoch nicht auf die Gefahr eines kommenden Er­
folges bei einem Verletzungsdelikt, sondern auf die Verweigerung des in
einer weit­gehend anonyme Kontakte ermöglichenden Massengesellschaft
nun einmal erforderlichen Gehorsams: Ohne eine gewisse Gängelung der
Personen lässt sich eine solche Gesellschaft nicht verwalten; das bildet den
Grund für Ungehorsamsdelikte, was heißt, die Haftung für eine (versuchte)
Rechtsverletzung werde auf die Haftung für Ungehorsam reduziert.
Die Problematik wird immerhin teilweise erkannt und auf diverse Art
und Weise zu lösen versucht. Ein erster Vorschlag differenziert zwischen
einer unverminderten und einer „abgeschirmten“ Gefahr.144 Dieser zeitlich
wie terminologisch offenbar auf Fälle der Verheimlichung einer Erkran­
kung an AIDS zugeschnittene Lösungsversuch scheitert schon daran, dass
die Behandlung des trotz Abschirmung verbleibenden Restrisikos sich so
nicht erfassen lässt. Ein gesellschaftliches Urteil lässt sich nicht mit dem

144
Herzberg, JuS 1986, S.  254; ders., JZ 1988, S.  642.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023

50 III. Traktat zum Vorsatzbegriff

Ergebnis einer rechtlich nicht kontrollierten naturalistischen Technik (Ab­


schirmung) gleichsetzen.
Das wird bei einem weiteren Lösungsvorschlag durchaus erkannt. Es soll
danach auf eine Gefahr ankommen, „die einem nach allgemeinen gültigen,
vernünftigen Maßstäben handelnden Täter nur die Wahl läßt, die Hand­
lung zu unterlassen oder den Erfolg zu akzeptieren“.145 Nur dann handele es
sich um eine „Vorsatzgefahr“.146 Aber das führt – nimmt man die Allge­
meinheit, Gültigkeit und Vernünftigkeit ernst – zu keinen anderen Ergeb­
nissen als bei der hier entwickelten Lösung, nach der es darauf ankommt,
ob eine Vertrauen in einen guten Ausgang allgemein honoriert wird. Selbst
die sich im Grenzbereich einstellenden Unsicherheiten dürften dieselben
sein. Wird das Vertrauen allgemein anerkannt, so fehlt es bereits an der
Verwirklichung des objektiven Tatbestands. Wird es aber nicht anerkannt,
findet das Vertrauen also keine allgemeine (gültige, vernünftige) Resonanz,
so ist der Verhaltensvollzug eine „sinnvolle Strategie zur Herbeiführung
des Erfolges“;147 denn warum sonst hätten Allgemeinheit und Vernunft die­
ses Verhalten des Erfolgs wegen ausschließen sollen? Die angeführte „Stra­
tegie“ ist ein Gebäude, errichtet aus dem Material der Klugheit, nicht der
Vernunft. Deshalb zieht sich durch die skizzierte Theorie, so richtig sie auch
beim Allgemeinen ansetzt, ein Riss: Sie ersetzt das rechtliche Urteil (Ist
eine Hoffnung auf Glück gesellschaftlich valide oder Privat­sache?) durch
ein klug gewonnenes (Wird man das Verhaltensziel erreichen oder geht es
um eine unkluge Wahl?).

145
Puppe, ZStW 103, S.  23 ff.; dies., Vorsatz, S.  21
146
Puppe, ZStW 103, S.  39, 40; dies., Vorsatz, S.  35 ff.
147
So die Formulierung von Puppe für eine „Vorsatzgefahr“, Vorsatz, S.  39.
Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: Humboldt-Universität, 05.02.2023

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