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Götz Fabry
Vorlesung Medizinische Psychologie
23.12.2020: Emotionen – Traurigkeit und Trauer
Wie bei der Angst lassen sich auch bei Traurigkeit und Trauer viele Bezüge herstellen, die weit über den Bereich der
Medizin und Psychologie hinausreichen. Die Melancholie oder Schwermut, in der sich Gefühle von Traurigkeit, Ver-
zweiflung, Leere, Überdruss und Freudlosigkeit vermischen, hat offenbar zu allen Zeiten die Menschen beschäftigt,
wie zahllose Beispiele aus der Philosophie, Literatur und Bildenden Kunst belegen. Exemplarisch sei hier auf eine
der bekanntesten bildlichen Darstellungen, Albrecht Dürers Allegorie „Melencolia I“ verwiesen (Folie 1), in der zahl-
reiche Symbole und Attribute der Melancholie abgebildet sind, z.B. die „facies nigra“, das düstere Gesicht des Me-
lancholikers, das typischerweise in der geneigten Kopfhaltung mit der abstützenden Hand dargestellt wird.
Folie 1
Albrecht Dürer
(1471 - 1528)
Melencolia I
(1514)
Für die medizinpsychologische Perspektive ist es zunächst wichtig, Traurigkeit als Emotion im eigentlichen Sinne
auf der einen, von Trauer, als einer komplexen, vielschichtigen Reaktion auf der anderen Seite abzugrenzen (Folie
2). Wie diese Abgrenzung verdeutlicht, geht Trauer nicht ausschließlich mit Traurigkeit, sondern mit einer Fülle
verschiedener, auf den ersten Blick auch widersprüchlicher Gefühle einher, die diesen Zustand für die Betroffenen
unter Umständen schwer aushaltbar machen.
Folie 2
Traurigkeit und Trauer
Traurigkeit Trauer
• Emotion des Verlustes (partiell, • Komplexes kognitives,
vorübergehend, vollkommen) emotionales, psycho-
von wichtigen Personen aber physiologisches und
auch persönlichen Zielen und verhaltensbezogenes
Werten Reaktionsmuster auf Verluste
• universeller mimischer • Emotionale Vielfalt: Traurigkeit,
Gesichtsausdruck Wut, Zorn, Verzweiflung,
Schuldgefühle, etc.
Die Frage nach der Funktion der Emotionen, ihrem evolutionsbiologischen „Sinn“, stellt sich auch bei der Traurigkeit
(Folie 3). Am besten versteht man diese Funktion, wenn man sich vor Augen führt, welche Bedeutung zwischen-
menschlichen Bindungen haben. Man geht davon aus, dass das Bedürfnis nach Bindung ein eigenständiges Motiv
ist, d.h. dass es ein dem Menschen innewohnendes Streben nach engen emotionalen Beziehungen gibt, das uns
dazu bringt, intime Partnerschaften einzugehen, nach Freundschaften und ganz allgemein nach sozialem Anschluss
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zu suchen. Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist eine solche Annahme vor allem im Hinblick auf die Schutzbedürftig-
keit des Säuglings naheliegend, aber auch vor dem Hintergrund der für ein Überleben als Einzelwesen relativ dürf-
tigen biologischen Ausstattung des Menschen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass wir über ein Motivations-
system verfügen, das Bindungen belohnt, bzw. die Auflösung von Bindungen mit negativen Emotionen bewehrt.
Daher ist ein kurzer Exkurs zur Bindungsforschung notwendig; ausführlich werden wir uns mit diesem Thema im
Sommersemester beschäftigen. Der Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby (1907 – 1990) formulierte in den
1960er Jahren erstmals seine bis heute einflussreiche Bindungstheorie. Demnach entwickelt das Kleinkind aus den
Erfahrungen mit seinen frühen Bezugspersonen eine mentale Vorstellung davon, wie soziale Beziehungen funktio-
nieren – das sogenannte „innere Arbeitsmodell“. Dazu gehört z.B. die Vorstellung, wie verlässlich die Zuwendung
wichtiger Bezugspersonen ist, wie gut es diesen gelingt, die Emotionen des Kleinkinds – etwa durch Trost – zu re-
gulieren, usw. In dieses Arbeitsmodell fließen somit nach und nach verschiedene Erfahrungen mit den Bindungs-
personen ein und es wird zur Grundlage sowohl für Erwartungen und Voraussagen in Bezug auf das Beziehungsver-
halten anderer Personen, als auch für die Fähigkeit, Emotionen selbst regulieren zu können. Die frühen Bindungs-
erfahrungen haben damit entscheidende Bedeutung für das Bindungs- bzw. Beziehungsverhalten im weiteren Ver-
lauf des Lebens. Sie beeinflussen nicht nur die Art und Weise der Beziehungsgestaltung, z.B. das Gefühl des Ver-
trauens und der Sicherheit in einer Partnerschaft oder die Angst vor Trennungen, sondern auch, wie eine Person
mit Verlusten umgeht. Die individuelle Trauerreaktion, d.h. wie intensiv und wie lange eine Person trauert und wie
gut sie in der Lage ist, mit den damit verbundenen Herausforderungen umzugehen, hängt – wie man heute weiß –
entscheidend von den Bindungserfahrungen im frühen Lebensalter ab.
Folie 3 Grundemotionen
(Plutchik 1962)
Reiz/Ereignis Kognition Gefühl Verhalten Wirkung
Die Traurigkeit hat aber nicht nur Funktionen, die sich im Kontakt mit anderen zeigen. So gehen mit der Traurigkeit
eine Reihe von kognitiven und psychophysiologischen Veränderungen einher, die das betroffene Individuum in
die Lage versetzen, mit der durch den Verlust veränderten Situation, die eine Reihe von Anpassungsleistungen er-
fordert, zurecht zu kommen. Folie 4 zeigt beispielsweise die Ergebnisse eines Experiments, bei dem es um die In-
duktion von falschen Erinnerungen geht. Die Versuchspersonen bekommen dabei verschiedene Wortlisten gezeigt,
deren Wörter sich jeweils auf einen bestimmten Begriff beziehen, der aber selbst nicht in der Liste auftaucht (z.B.
Kissen, Bett, Ruhe, Wecker, Müdigkeit – [Schlaf]). Im Anschluss werden sie gebeten, alle Wörter zu nennen, an die
sie sich erinnern. Interessanterweise „erinnern“ sich die meisten Personen dabei auch an das versteckte Wort, ob-
wohl es ihnen gar nicht gezeigt wurde. In dem auf Folie 4 gezeigte Experiment hat man den Zusammenhang von
positiver bzw. negativer (trauriger) Stimmung und der Anfälligkeit für solche „falschen“ Erinnerungen getestet. Die
Versuchspersonen wurden dazu mittels einer Musik – entweder Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“ (fröhliche Stim-
mung) oder Mahlers „Adagietto“ aus der 5. Sinfonie (traurige Stimmung) – in die entsprechende Stimmung versetzt
und bekamen dann die Listen gezeigt. Dabei ergab sich, dass die Personen mit trauriger Stimmung weniger anfällig
für falsche Erinnerungen waren, als diejenigen, die in eine positive Stimmung versetzt worden waren bzw. als die-
jenigen in der Kontrollgruppe. Wie in anderen derartigen Experimenten bestätigt werden konnte, bewirkt die Trau-
rigkeit also offenbar eine genauere Informationsverarbeitung. Angesichts der bei Verlusterfahrungen notwendigen
Analyse, Neubewertung und Anpassung ist eine solche genaue Informationsverarbeitung sinnvoll.
p=.01 p=.03
Wahrscheinlichkeit,
sich an kritische
Wörter zu
„erinnern“
Auf Folie 5 sind weitere Veränderungen aufgeführt, die ebenfalls im Dienste dieses Anpassungsprozesses stehen
und die insgesamt den „Sinn“ der Traurigkeit verdeutlichen.
Folie 5
Der Sinn der Traurigkeit
intraindividuell:
• Aufmerksamkeit wird nach Innen gerichtet ➔ Abschiednehmen und
Akzeptanz wird erleichtert
• Physiologische Aktivierung wird reduziert ➔ Kognitive und
emotionale Reorganisation wird ermöglicht
• genauere Informationsverarbeitung, zeitaufwendigere analytische
Strategien ➔ weniger automatisierte und stereotypisierte
Entscheidungen
• realistischere Leistungsbewertung
interindividuell:
• Mitleid, Zuwendung, Trost von anderen
Traurigkeit kann also als die Emotion verstanden werden, die Verluste begleitet. Der Verlust muss dabei nicht un-
bedingt eine nahestehende Person betreffen, sondern kann sich auch auf ideelle Werte (z.B. Lebensziele), den so-
zialen Rang (z.B. bei Arbeitslosigkeit), Körperteile, Körperfunktionen und sonstigen Besitz beziehen. Diese unvoll-
ständige Aufzählung verdeutlicht, dass sich in der Medizin zahlreiche Verluste ergeben können, die auf den ersten
Blick gar nicht als solche erscheinen. Die resultierende Trauerreaktion bleibt dann unverstanden und kann nicht
angemessen wahrgenommen werden (Folie 6).
Wie bereits angedeutet wurde, ist Trauer eine vielgestaltige Reaktion, die verschiedene Ebenen des Organismus
umfasst, wobei die Abgrenzung zu pathologischen Prozessen nicht leicht ist. Vieles, was man vielleicht intuitiv als
Zeichen pathologischer Trauer betrachten würde, ist auch für einen „normalen“ Trauerprozess durchaus nicht un-
gewöhnlich (z.B. Pseudo-Halluzinationen, Derealisationserleben) (Folie 7).
Folie 7
Trauer-„Symptome“
Dass Trauer auch mit einer Reihe von gesundheitsrelevanten Folgen einhergeht, wurde in der einführenden Vorle-
sung bereits angesprochen (Folie 8).
Folie 8
Folgen der Trauer
Folie 9
Das eigene Sterben bewältigen
(E. Kübler-Ross, 1969)
1. Nicht-wahrhaben-wollen, Isolierung
2. Zorn
3. Verhandeln
4. Depression
5. Zustimmung
Elisabeth Kübler-Ross hat dieses Modell auf der Grundlage persönlicher Erfahrungen als Onkologin im Umgang mit
sterbenden Patienten entwickelt, mit denen sie intensive Gespräche geführt hatte. Insofern benennen die verschie-
denen Phasen des Modells durchaus typische emotionale Reaktionen, die im Sterbeprozess auftreten können. Ver-
sucht man allerdings, das Modell empirisch zu überprüfen, dann zeigt sich, dass zum einen auch andere Reaktionen
während des Sterbe- bzw. Trauerprozesses auftreten können und dass zum anderen viele Patienten die beschrie-
benen Reaktionen gar nicht zeigen (Folie 10).
Folie 10
Reaktionen von Sterbenden
Längsschnittstudie mit 50 Patienten: Sterbeprozess
(Information durch Arzt – Tod): 8 – 23 Monate
• Akzeptanz: 12 Patienten
• Vermeidung bewusster
Auseinandersetzung: 8 Patienten
• Niedergeschlagenheit, später
Hinnahme: 11 Patienten
© Bildagentur PantherMedia / Viktor Cap
(Kruse 1995)
Folie 11
Das eigene Sterben bewältigen
(E. Kübler-Ross, 1969)
Kritik:
1. Nicht-wahrhaben-wollen, Isolierung
- empirisch nicht belegbar (v.a. als
aufeinanderfolgende Stadien)
2. Zorn
- Vielfalt der Trauerreaktion nicht
abgebildet
- zu stark auf
3. emotionale
VerhandelnReaktionen
fokussiert / zu wenig auf kognitive
und verhaltensbezogene
- soziale und4.kulturelle
Depression
Faktoren zu
wenig berücksichtigt
- verführt zu Fehlannahmen über
5. Zustimmung
„normale“ Trauer
Trotz der wissenschaftlichen Einwände wird das Modell von Kübler-Ross in der Praxis weiterhin viel benutzt, ver-
mutlich deshalb, weil es eine plausible und einfache Orientierung gibt, um die Reaktionen sterbender Patienten
besser verstehen und entsprechend reagieren zu können. Trotzdem darf man dabei nicht vergessen, dass die Aus-
einandersetzung mit dem eigenen Sterben bzw. die Trauer um den Verlust einer nahestehenden Person offensicht-
lich ein in hohem Maße individueller Prozess ist, der sehr unterschiedlich verlaufen und zu verschiedenen Ergeb-
nissen führen kann. Dabei kann jede einzelne der bei Kübler-Ross beschriebenen – aber auch eine ganze Reihe
anderer – Reaktionen auch mehrfach und unter Auslassung bestimmter Stadien auftreten (Folie 12). Dass auch
Jahre nach einem insgesamt gut bewältigten Trauerprozess immer wieder Gefühle der Depression oder des Zorns
angesichts des damals erlebten Verlustes aufkommen, scheint verschiedenen Studien nach ebenfalls nicht unge-
wöhnlich zu sein.
Folie 12
Das eigene Sterben bewältigen...
...ein vielgestaltiger Prozess
Nicht-wahrhaben-
wollen, Isolierung
Zorn
Verhandeln
Depression
Zustimmung
Dass der Sterbens- (bzw. Trauer-)prozess derart individuell verläuft, erklärt sich auch daraus, dass man ihn letzt-
endlich als eine besondere Form von Stress verstehen kann. Nach dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus
ist es bekanntlich das Ergebnis eines mehrstufigen individuellen Bewertungsprozesses, das darüber entscheidet,
wie eine Person mit einer für sie belastenden Situation umgeht (Folie 13). Dieser Prozess wird von vielen externen
und internen Faktoren beeinflusst. So weiß man etwa, dass manche Arten von Verlusten (z.B. unnatürliche, gewalt-
same, plötzliche Todesfälle) bei den Hinterbliebenen in aller Regel eine wesentlich größere Stress- und damit auch
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Trauerreaktion auslösen als das bei einem natürlichen Tod der Fall ist. Aber auch Aspekte der Person, z.B. das Aus-
maß der Resilienz und anderer individuellen Ressourcen beeinflussen die Trauerreaktion.
Folie 13
Stress als Transaktion
(n. Lazarus / Folkman)
sekundäre Bewertung
individuelle Ressourcen:
Möglichkeiten, Fähigkeiten der
Bewältigung
Coping / Abwehr
primäre Bewertung
Insgesamt zeichnet sich ab, dass die intensivere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Trauer dazu führt,
gängige Vorstellungen über die Trauer zu revidieren. Folie 14 zeigt einige dieser Vorstellungen, die in der Trauer-
Forschung mittlerweile pointiert auch als Mythen bezeichnet werden, womit zum Ausdruck kommt, dass sie einer
genaueren Überprüfung häufig nicht standhalten.
Folie 14
Trauermythen
„Wer auf einen Verlust „Positive Emotionen
nicht mit intensiver Trauer beim Trauern zeigen, dass
reagiert, bekommt später die Auseinandersetzung
Probleme…“ mit dem Verlust
verweigert wird…“
„Man muss sich
vom Verstorbenen
ablösen…“
So ist beispielsweise die Vorstellung weit verbreitet, dass ein Verlust zumindest vorübergehend mit intensiven Trau-
erreaktionen einhergehen müsse und das Personen, die nicht „richtig“ oder „zu wenig“ trauern oder gar positive
Emotionen empfinden, später Probleme bekommen, weil sie die Trauergefühle nicht zulassen wollen. Zahlreiche
empirische Studien haben allerdings gezeigt, dass diese Vorstellung nicht richtig ist. Vielmehr zeigt sich, dass posi-
tive Emotionen auch während der akuten Trauer überhaupt nicht selten sind, sondern auch, dass Personen, die
weniger intensive Trauerreaktionen zeigen, langfristig gut oder sogar besser zurechtkommen, als Personen, die mit
starker Trauer auf den Verlust reagieren (Folie 15). Auch für eine weitere Annahme, man müsse sich emotional
vom Verstorbenen lösen, um z.B. wieder frei für andere Beziehungen zu sein, lassen sich bislang kaum empirische
Belege finden. Vielmehr zeigt sich, dass Hinterbliebene sich noch sehr lange mit dem Verstorbenen verbunden
fühlen und diese Verbindung auch als etwas Positives erleben, z.B. weil sie innerlich Zwiesprache halten können
und das Gefühl haben, der Verstorbene sei weiterhin bei ihnen (Folie 16). Als problematisch können sich solche
anhaltenden emotionalen Bindungen allenfalls dann erweisen, wenn sie dazu führen, dass die Hinterbliebenen da-
raus überzogene Leistungsansprüche an sich ableiten oder sich kontrolliert fühlen, was etwa bei Kindern, die ein
Elternteil verloren haben, vorkommen kann.
Folie 16
anhaltende Bindungen
13 Monate nach Verlust der Ehepartner:
− 63% „immer bei mir“
− 47% „schaut nach mir“
− 34% „spreche regelmäßig mit ihm/ihr“
Ein neueres Modell, das versucht, diese verschiedenen Befunde zu ordnen, ist das sogenannte Zwei-Prozess-Modell
der Trauer (Folie 17).
Folie 17
Zwei-Prozess-Modell der Trauer
Alltagserfahrungen
Verlustorientiert Wiederherstellungs-
orientiert
Trauerarbeit
Trauer erleben Lebensänderung
Auflösen/Aufrecht- angehen
erhalten von Bindung neue Dinge tun
Vermeiden, Verweigern Ablenken von Trauer
von Veränderung Verleugnen von Trauer
Neue Rolle,
Beziehungen, Identität
oszillieren
Demnach lassen sich viele der Alltagserfahrungen von Trauernden zwei Polen zuordnen: Auf der einen Seite Erle-
bens- und Verhaltensweisen, die auf den erlittenen Verlust bezogen sind, auf der anderen Seite solche, die auf die
Wiederherstellung von Normalität bezogen sind. Hinterbliebene erleben beides nebeneinander, sie oszillieren wie-
derholt zwischen den beiden Polen. Trauer ist typischerweise also durch eine auf den ersten Blick möglicherweise
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verwirrende Vielfalt und ein Nebeneinander von verschiedenen, mitunter widersprüchlichen Reaktionen gekenn-
zeichnet, die aber durchaus nachvollziehbar sind, wenn man sich die Tragweite der Veränderungen vor Augen führt,
die mit dem Verlust einer nahestehenden Person in der Regel verbunden sind.
Die individuelle Vielfalt der Trauer zeigt sich auch bei deren Dauer. Oft ist zu hören, dass die Trauer nach ein bis
maximal zwei Jahren beendet sei und das Leben dann so weitergehe, wie vor dem Verlust. Solche Vorstellungen
werden auch kulturell geprägt: So war es beispielsweise lange Zeit für Hinterbliebene üblich, sich im Jahr nach dem
Verlust ausschließlich schwarz zu kleiden, um die Trauer auch äußerlich zu markieren. Folie 18 zeigt den Verlauf
der Trauerreaktion auf der Grundlage einiger empirischer Befunde. Interessant ist daran zum einen, dass auch
Hinterbliebene, die anfangs eine geringer ausgeprägte Trauerreaktion zeigen, nicht – wie häufig angenommen wird
– nach einem bestimmten Zeitraum umso größere Schwierigkeiten haben, sondern ebenso wie die Mehrzahl der
Personen, die eine „normale“ Trauerreaktion zeigen, nach etwa ein bis zwei Jahren nur noch gering ausgeprägte
Trauer empfinden. Zum anderen zeigte sich, dass der Trauerprozess auch nach zwei Jahren noch nicht abgeschlos-
sen ist, ja, dass es überhaupt keinen definierten Endpunkt für den Trauerprozess zu geben scheint, sondern dass
der Verlust einer nahestehenden Person für die Hinterbliebenen häufig zu dauerhaften Veränderungen in ihrem
Leben führt. Allein die Dauer der Trauerreaktion kann daher kein Kriterium sein, um einen normalen von einem
pathologischen Trauerprozess abzugrenzen.
Dennoch wird die Trauer bei etwa 15% derjenigen, die einen zunächst normalen Verlauf zeigen, zu einem chroni-
schen Prozess, der professionelle Hilfe erforderlich macht; man spricht dann auch von komplizierter Trauer (Folie
19). Ob es sich bei dieser komplizierten Trauer um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt, oder ob nicht vielmehr
der Verlust und der anschließende Trauerprozess eine psychische Krankheit ausgelöst haben, die sich als Angster-
krankung, Depression oder posttraumatische Belastungsstörung manifestiert, ist Gegenstand der Diskussion. Bisher
jedenfalls ist die chronifizierte oder komplizierte Trauer nicht als eigenständiges Krankheitsbild in den beiden gro-
ßen Klassifikationssystemen der Psychiatrie (DSM V bzw. ICD-10, Kapitel F) enthalten.
Folie 18
Verlauf der Trauerreaktion
Folie 19
komplizierte Trauer
Def.: anhaltende akute Trauerreaktion über 6-12 Monate nach dem Verlust:
• intensive Sehnsucht nach dem Verstorbenen; Kummer, Frustration, Angst
• Interessenverlust, Entfremdungsgefühle anderen gegenüber
• Nicht-Wahrhaben-Wollen, Benommenheit, Taubheit, Verlorenheit
• komplizierende Symptome:
– Rumination (Umstände und Folgen des Verlustes, Schuldgefühle,
Selbstvorwürfe)
– Intensive emotionale und physiologische Reaktionen (z.B. Schlaflosigkeit)
• dysfunktionales Verhalten:
– übertriebenes Suchen nach Nähe zum Verstorbenen
– übertriebenes Vermeiden von Erinnerungen an den Verlust
– unangemessene Gefühlsregulation
• eingeschränkte Alltagsbewältigung
Shear et al. (2017)
Literaturhinweise:
▪ Bonanno GA, Kaltman S: The varieties of grief experience. Clin Psych Rev 21(5): 705-34, 2001.
▪ Storbeck J & Clore GL (2005): With sadness comes accuracy; with happiness false memory. Mood and the
false memory effect. Psychological Science 16(10): 785-791.
▪ Wortmann CB, Boerner K (2011): Beyond the myths of coping with loss: prevailing assumptions versus scien-
tific evidence. In: Friedman HS (Ed): The Oxford Handbook of Health Psychology. Oxford (Oxford University
Press): S. 438-476.
▪ Noll, Peter: Diktate über Sterben und Tod. München (Piper) 1997.
▪ Tolstoij, Leo: Der Tod des Iwan Iljitsch. Stuttgart (Reclam).