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Lettland € 5,80 Polen (ISSN 00387452) ZL 31,— Slowakei € 6,50 Spanien € 6,30 Thailand Baht 450,— Türkei TL 33,—
Schweiz sfr 7,20 Dänemark dkr 51,— Frankreich € 6,30 Hongkong HK$ 95,— Japan Yen 1.900,—(+tax) Norwegen NOK 72,— Portugal (cont) € 6,30 Slowenien € 6,20 Spanien/Kanaren € 6,50 Tschech. Republik Kc 180,— Ungarn Ft 2.250,— Printed in Germany

Ehe für alle

Wie Angela Merkel die
Konservativen verstört
Der einsame
Abschied von Kohl

Kampf der Witwe

Psychologie
Die neuen Väter –
schlecht fürs Kind?
noch zu retten
Radikal denken,
nur so ist die Welt
entschlossen handeln –
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

nach der neuen Sommer

ausgabe!
Hausmitteilung
Betr.: Amri, Gera, Türkei, DEIN SPIEGEL

Z wei Zahlen machen deutlich, wie umfassend das Versagen der deutschen
Behörden im Fall Anis Amri ist, der im vergangenen Jahr zu Weihnachten
den bislang verheerendsten islamistischen Terroranschlag in Deutschland verübte
und am Breitscheidplatz in Berlin elf Menschen ermordete. Die erste Zahl lautet
64, mindestens so viele Behörden beschäftigten sich mit Amri. Die zweite Zahl
lautet 532, das ist die Zahl der Tage, an denen Amri sich in Deutschland frei
bewegen konnte. Was ist da schiefgelaufen? Wie kam es zu der Tragödie?
Ein fünfköpfiges Team hat mehr als 300 Aktenordner zu dem Fall ausgewertet
und mit zahlreichen Beteiligten gesprochen. Herausgekommen ist die Anatomie
eines Versagens. „Anis Amri war mobil, gerissen, zugleich labil und unbe-
rechenbar. Er scherte sich nicht um unsere Regeln“, sagt Martin Knobbe.
„Die deutsche Sicherheitsarchitektur war auf einen solchen Tätertypus einfach
nicht vorbereitet.“ Seite 50

V or drei Jahren gelangte Gera zu traurigem

Ruhm: Die Stadt war pleite, als erste und einzige
IRIS CARSTENSEN / DER SPIEGEL

in der Bundesrepublik musste sie kommunale Be-

triebe in die Insolvenz schicken. Isabell Hülsen woll-
te wissen, wie dies die Stadt und ihre Menschen ver-
ändert hat. Sie sprach mit Politikern, Bürgern und
stellte fest: Geld ist in Gera nicht das einzige Pro-
blem – und schon gar nicht die einzige Lösung.
Hülsen Warum das so ist, erklärt Hülsen ab Seite 78

D er Putschversuch in der Türkei

jährt sich am 15. Juli zum ersten
Mal. Und seit fast einem Jahr wird da-
rüber debattiert, was genau in dieser
Nacht geschah. Maximilian Popp war Die Auswahl an neuen Büchern, Hörbüchern
unmittelbar nach dem Putschversuch in und DVDs scheint grenzenlos. Egal ob Belletristik,
EMIN OZMEN / LEJOURNAL

Ankara, er hat seitdem mitverfolgt, wie Krimi, Thriller, Historischer Roman, Fantasy oder
Präsident Erdoğan und seine Regierung
Sachbuch: buch aktuell präsentiert Ihnen im
das Ereignis vereinnahmen. Für Erdo-
ğan markiert der 15. Juli den Beginn
Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter die
einer Ära der Stärke, für seine Gegner Highlights der jeweiligen Saison.
das Ende der Demokratie. Popp hat für Popp in Ankara
die Rekonstruktion der Ereignisse zahl-
reiche Interviews geführt, hat Akten der Staatsanwaltschaft ausgewertet, Berichte
des Parlaments, der Opposition, des Militärs. Sein Fazit: „All die Faktoren, die
buch aktuell erhalten Sie wie immer
zu dem Staatsstreich geführt haben, existieren nach wie vor. Weitere Krisen kostenlos bei Ihrem Buchhändler.
oder sogar ein zweiter Putschversuch sind nicht unwahrscheinlich.“ Seite 86

I n vielen Bundesländern stehen die Sommerferien an:

sechs Wochen Freizeit, in denen die Schulkinder be-
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ße Sommerrätsel, das Kinder, Eltern und Großeltern
tagelang beschäftigen kann. Die Ausgabe erscheint am
Dienstag.

DER SPIEGEL 27 / 2017 5

 STEFAN BONESS / IPON
Streit der Witwen
Gedenken Das Unbehagen über Maike
Kohl-Richter wächst: Sie wollte Helmut
Kohl im Dom zu Speyer begraben lassen.
Dass sie einen deutschen Staatsakt
verhinderte, kritisiert Willy Brandts
Witwe Brigitte Seebacher im SPIEGEL-
Gespräch. Seiten 36 bis 43
LISA KRECHTING / PLAINPICTURE

Glück zu zweit
Gleichberechtigung Nach dem Schwenk
der Kanzlerin ist der Weg zur „Ehe für alle“
offen. Die Konservativen jammern, die
SPD schöpft Hoffnung für den Wahlkampf.
Was bedeutet die Entscheidung für Kinder
homosexueller Paare? Und ist die Ehe
nicht ohnehin längst obsolet? Seiten 28, 31

Stadt der Träumer

USA Präsident Donald Trump erhöht
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

den Druck auf illegale Einwanderer – und

die Vertreter der Latinos wehren sich.
In einer texanischen Stadt an der Grenze
zu Mexiko will ein Bürgermeister seine
Einwohner vor Trump beschützen und hat
eine Klage eingereicht. Seite 94

6 Titelbild: Illustration: DER SPIEGEL


Titel
G 20 In Hamburg rufen Globalisierungs-
kritiker zum Kampf gegen die weltweite
Armut und den Klimawandel auf – nötig
wäre dazu ein radikales Umdenken 14
Deutschland
Leitartikel Der skandalöse Regierungsstil
Angela Merkels 10
Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen-
verstand / So gesehen: Die harmlose
Hamburg-Sause der Berliner Polizei 12
Weitere U-Boote für Israel /
BND warnte vor Anschlag in Kabul /
EU kritisiert Großbritannien 24
Gleichberechtigung Angela Merkels ver-
druckster Kurswechsel bei der „Ehe für alle“ 28
Sollte man die Ehe lieber ganz abschaffen,
bevor sie für alle geöffnet wird? 31
Union Der CDU-Abgeordnete Jens Spahn
will nach oben – und muss deshalb auf
den Sturz der Kanzlerin hoffen 32
Gedenken Wie sich Maike Kohl-Richter
mit dem Gezerre um den Trauerakt für
den Altkanzler isolierte 36
Willy Brandts Witwe Brigitte Seebacher lobt
im SPIEGEL-Gespräch Helmut Kohl und
zeigt Unverständnis für Maike Kohl-Richter 38
Skandale Viel spricht dafür, dass es die
anonymen Kohl-Spender nie gegeben hat 41
Zwischenruf Der europäische Trauerakt
für Helmut Kohl 43
Welthandel US-Präsident Donald Trump
torpediert die Vorbereitungen für den
G-20-Gipfel 44
Die Enttäuschung Moskaus über
die neue US-Regierung 46
Außenpolitik In der EU-Kommission
formiert sich Widerstand gegen die
„Nord Stream 2“-Pipeline 48
Kampagnen Die Sprecherin des
niedersächsischen Ministerpräsidenten
Stephan Weil vergab freihändig
Aufträge für einen neuen Landesslogan 49
Islamisten Sechs Monate nach dem
Berliner Attentat von Anis Amri
lässt sich das Versagen der Behörden
rekonstruieren 50
Brandschutz Feuerwehren drängen
auf strengere Vorschriften bei großen
Wohnhäusern 57
SPD Münchens früherer Oberbürgermeister
Christian Ude kritisiert Martin Schulz und
sagt, er selbst sei in der Integrationspolitik
naiv gewesen 58
Analyse Bildungspolitiker entdecken
gerade, wie sie Schulen besser machen
können, aber wollen die Wähler das? 60
Gesellschaft
Früher war alles schlechter: Die Mücke,
der Menschenkiller Nummer eins,
ist schlagbar geworden / Warum sind
Krabben auf einmal schweineteuer? 62
Eine Meldung und ihre Geschichte
Weshalb eine Eisenbahnstrecke über Ebay-
Kleinanzeigen verkauft werden soll 63
Erziehung SPIEGEL-Gespräch mit der
Psychologin Inge Seiffge-Krenke über
die Auswirkungen einer „Ehe für alle“
auf Kinder und über die Aufgaben
moderner Väter 64
Homestory Warum es leidenschaftliche
Demonstranten früher leichter hatten 69
In diesem Heft
Wirtschaft
VW-Tochter manipulierte Auslieferungs-
zahlen / Sieg gegen Google /
SPD lässt Schäuble auflaufen 70
Finanzen Die Russlandbeziehungen
Donald Trumps werden für
die Deutsche Bank zum Problem 72
Analyse Das Ziel der aktuellen Cyberattacke
ist nicht Geld, sie soll Chaos stiften 75
Start-ups Der Börsengang von Delivery Hero
täuscht darüber hinweg, vor welchen Schwie-
rigkeiten der Lieferdienst steht 76
Standorte Die Stadt Gera ist pleite – doch
Geld ist nicht ihr größtes Problem 78
Ausland
Schriftsteller Liao Yiwu über die Haft-
entlassung des Nobelpreisträgers r
Liu Xiaobo / Eine Krankenschwester Mit elegante
berichtet von ihrem Einsatz in Mossul 84 Gla s k a ra ff e
Türkei Rekonstruktion des gescheiterten Put-
sches in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 86
Analyse Wie Xi Jinping China als Weltmacht
des 21. Jahrhunderts in Stellung bringt 92
USA Eine kleine Stadt in Texas kämpft
für ihre illegalen Einwanderer 94
Sport
Die Temporekorde bei der Tour de France /
Magische Momente: Warum katarische
Fußball-Nationalspieler für ihren Emir
demonstrierten 99
Missbrauch Eine Hamburger Boxerin
wirft einem renommierten Trainer vor,
sie vergewaltigt zu haben 100
Fußball Der Widerstand gegen
Fifa-Chef Gianni Infantino wächst 104
Wissenschaft
Wer rennt, bleibt jung / Warum Ernährungs-
ratgebern zu misstrauen ist / Kommentar:
Was Forscher besser verschweigen sollten 108
Waffentechnik Die Großmächte rüsten auf
und erschaffen neuartige, höllische
Nukleargeschosse – muss die Welt sich
wieder vor einem Atomkrieg fürchten? 110
Kannibalismus Warum es sich für
Tiere (und Menschen) gelegentlich lohnt,
ihre Artgenossen zu verzehren 115
Biologie Forscher untersuchen, wie Gene
gezielt das Verhalten von Tieren steuern 116
Kultur
Frank Castorf nimmt Abschied /
Martin Kušej wird Burgtheater-Chef /
Kolumne: Zur Zeit 118
Zeitgeist Die Sehnsucht nach Heimat 120
Vom Hersteller
Weltkultur Mechtild Rössler, Leiterin des Testsiegers.
des Unesco-Welterbezentrums, über
bedrohte Denkmäler 123
Literatur Der französische Klassiker Julien
Gracq wird von den Konservativen verehrt 124
Filmkritik Jessica Chastain in
„Die Erfindung der Wahrheit“ 129 Öko-TEST Jahrbuch
Essen,Trinken und
Genießen 2005
Bestseller 128
Impressum, Leserservice 132
OImmer frisch gesprudeltes Wasser
Nachrufe 133
O Kohlensäure individuell dosierbar
Personalien 134
O Spart Geld
Briefe 136
Hohlspiegel / Rückspiegel 138
Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
www.sodastream.de
DER SPIEGEL 27 / 2017 7
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 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Schluckaufpolitik
Kein Anschlag auf die Demokratie, aber ein Skandal: Merkels seltsame Art zu regieren

S
tiekum ist ein Wort, das sich aus dem Jiddischen ab- Das gibt ihrer Politik den Anstrich von Beliebigkeit. Ir-
leitet. Stiekum heißt still, heimlich, unmerklich. Es gendwie vertritt sie einen rötlich-grünlichen Kurs, aber
gibt keinen Begriff, der Angela Merkels Politikstil manchmal macht sie auch das, was Horst Seehofer will.
besser beschreibt. Stiekum hat sie diese Gesellschaft ver- Große Koalition eben, in Fleisch und Blut.
ändert, zum Besseren. Im Großen und Ganzen sind die Für die politischen Gegner ist das ein Albtraum. Gegen
Ergebnisse ihrer Kanzlerschaft in Ordnung. Aber der Pro- Merkel entschlossen zu kämpfen hieße für Sozialdemo-
zess, der zu diesen Ergebnissen führt, bereitet Unbehagen, kraten und Grüne, gegen sich selbst zu kämpfen, gegen
nicht nur Martin Schulz, dem Vorsitzenden der SPD. die eigenen Konzepte. Andererseits reformiert die Kanz-
Er nannte ihren Politikstil am vergangenen Wochenende lerin nicht so vehement, dass sie die Union dauerhaft gegen
einen „Anschlag auf die Demokratie“. Das war eine sich aufbringt. Sie macht es so vage, dass sich jeder Bürger
törichte Wortwahl, überzogen und damit angreifbar. Der die Merkel ausmalen kann, die er für ein Ja an der Urne
Kern seiner Kritik ging deshalb unter, und das ist schade, haben will. Zumal eine überzeugende Alternative fehlt.
denn in Demokratien zählt nicht nur das Ergebnis, son- Martin Schulz wird es wenig bringen, wenn er Merkel
dern auch der Prozess, also der Weg zum Ergebnis. mit einem Begriff angreift, der aus einem Politikseminar
Nur einen Tag nach Schulz’ zu stammen scheint: asym-
Kritik lieferte Angela Merkel metrische Demobilisierung.
ein weiteres, ein groteskes Das klingt nicht nach einem
Beispiel für ihre Art, Politik Wahlkampfknüller und ent-
zu machen. Bei einem Po- springt wohl vor allem einer
diumsgespräch öffnete sie un- Frustration. Inhaltlich ist Mer-
bedacht einen Weg zur Ehe kel ja kaum zu packen für
für alle. Niemand war darauf Schulz.
vorbereitet. Das fügt sich ein Hätte er Skandal gesagt
in eine Reihe von Über- und nicht Anschlag, hätte er
raschungen aus der Ära gleichwohl richtig gelegen. Es
Merkel. ist ein Skandal, dass Merkels
Sie setzte plötzlich die Wahlkampfstrategie darauf
Wehrpflicht aus, weil ihr Ver- abzielt, potenzielle Wähler
teidigungsminister sonst seine der SPD so einzulullen, dass
Sparziele nicht erreicht hätte. sie es nicht für nötig halten,
Sie verordnete dem Land ei- wählen zu gehen, weil es ir-
nen Atomausstieg, nachdem gendwie schon ganz okay ist
MICHAEL KAPPELER / DPA

sie von den Bildern der Reak-
torkatastrophe in Fukushima
überwältigt worden war. Eini-
ge Monate zuvor hatte sie
dem Land noch längere Lauf-
zeiten der Atommeiler ver-
ordnet. Sie holte spontan Flüchtlinge aus Ungarn ins Land,
ohne ein Konzept für eine Flüchtlingspolitik zu haben.
Merkel macht Politik, als wolle sie einen Schluckauf
vertreiben. Sie überrascht, erschreckt. Ein Schlag aus dem
Nichts. Das ist ihr Weg: Zum Stillen, Heimlichen, Un-
merklichen gehört die plötzliche Ankündigung. Es gibt
keinen sichtbaren Prozess, der zu diesen Ergebnissen führt,
keine Rede, mit der Merkel einen Plan oder ein Projekt
vorstellt, keine Debatte, mit der sie ihre Reformen vor-
bereitet. Sie kommen aus der Stille.
Merkel selbst bleibt bei dieser Schluckaufpolitik un-
deutlich. Sie verändert das Land mit der postheroischen
Methode: ohne sich mit diesen Veränderungen leiden-
schaftlich zu identifizieren. Sie kann das eine vertreten,
aber auch das andere. Erst längere Laufzeiten, dann
Atomausstieg. Erst offene Grenzen für Flüchtlinge, dann
geschlossene.
mit dieser Kanzlerin. Wer die
Demokratie ernst nimmt, will,
dass möglichst viele Bürger
wählen gehen.
Merkel gilt als bescheidene
Kanzlerin, aber auch bei ihr
findet sich eine Arroganz der Macht. Die zeigt sich aus-
gerechnet im Verhältnis zum Bürger, im Verhältnis zur
Öffentlichkeit. Demokratie kommt aus den Worten, aus
dem Gespräch, aus den Erklärungen und Begründungen
und Diskussionen. Das ist der gute politische Prozess.
Auf diesem Gebiet ist Merkel eine schlechte Kanzlerin.
Mit dem Thema „Ehe für alle“ wollte sie offenbar nicht
von sich aus auf die Bürger zugehen, sondern auf den
Zufall einer Frage warten (siehe Seite 28). Wäre keine
gekommen, wüssten wir immer noch nicht, was die Bun-
deskanzlerin sich dazu überlegt hat. Arroganter geht es
kaum.
Ein akademisches Problem ist das nicht. Die letzten
zwei Jahre, der Aufschwung der AfD und die Wahl
Trumps, haben gelehrt, dass die liberale Demokratie nichts
Selbstverständliches ist. Sie muss täglich erkämpft werden,
gerade von der Bundeskanzlerin. Dirk Kurbjuweit

10 DER SPIEGEL 27 / 2017

 Exklusives Anbaugebiet
Holsthum bei Bitburg

So gut kann Bier schmecken.

Herbert Dick, seit 1966

Hopfenbauer für Bitburger

Kennen Sie das Geheimnis des Bitburger Siegelhopfens?

Heimischer Hopfen aus Holsthum bei Bitburg!
Es ist schon etwas Besonderes, dass unsere Braumeister direkt vor der Haustür eine der wichtigsten Zutaten für den einzig-
artigen Geschmack unseres Bitburger Pils finden: den Bitburger Siegelhopfen. Er wächst in Holsthum, einem kleinen Dorf,
nur 15 km von der Brauerei entfernt. Mit großer Sorgfalt und viel Erfahrung pflanzt dort unser Hopfenbauer Dick unseren
Hopfen in bester Qualität an. Doch was macht ihn so besonders und einzigartig?

Kurz gesagt: der Anspruch, das Bestmögliche zu erreichen. Denn
genau das haben die Brauer unserer Brauerei mit unserem
Holsthumer Hopfenbauern Dick gemeinsam. So haben wir über
Generationen hinweg in intensiver Zusammenarbeit einen Hop-
fen entwickelt, der von so hoher Qualität ist, dass er heute als
einer der besten der Welt gilt. Und das Beste dabei ist, dass er zu
100 % nur für Bitburger verwendet wird. So verleiht der Bitburger Siegel-
hopfen einzig Bitburger Pils seinen unverwechselbaren feinherben
Charakter und damit den typisch hopfenbetonten, vollmundigen
Pilsgeschmack. Ein echtes Bitburger kann eben nur in der Eifel aus
den besten Zutaten gebraut werden. So erklärt sich der einzigartige
Geschmack jedes Bitburger Premium Pils. Und deshalb: Bitte ein Bit.
 Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Traurige Alice
Die Deutschen sind, was
den Widerspruch zwi-
schen privater Le-
bensführung und
politischen Forderun- illegal ins Land einwandern, ist ein Witz.“
gen betrifft, traditio-
nell tolerant. Dass
ausgerechnet der „Füh- auch nicht leicht, Mitglied der SPD zu
rer“ selbst dem Führer
kein Kind schenkte, konnte seiner Bewe-
gung nicht wirklich schaden.
Trotzdem galt in der deutschen Politik
lange der Grundsatz, wonach die Person
des Spitzenkandidaten und die Program-
matik der Partei zusammenpassen müssen. lernen, wo ein AfD-Abgeordneter laut Sit-
Die SPD versuchte sich 2013 von dieser
Maxime zu emanzipieren, als sie Peer
Steinbrück nominierte, einen Mann, der
sich von Großbanken als Redner bezahlen
ließ und auch sonst jede Sensibilität für
die Lebensverhältnisse der sogenannten
„kleinen Leute“ erfolgreich unterdrückte.
Die AfD startet in diesem Sommer ein
noch radikaleres Experiment als damals
die SPD. Mit Alice Weidel geht erstmals
eine Lesbe, die mit ihrer aus Sri Lanka
stammenden Partnerin zwei Kinder in der
Schweiz großzieht, als Spitzenkandidatin
einer latent ausländerfeindlichen und ho-
mophoben Partei ins Rennen, die sich laut
Wahlprogramm ausdrücklich „am Bild der
Familie aus Vater, Mutter und Kindern“
orientiert. Das ist in etwa so, als würde der sichert ihr Einfluss und Prominenz. Der
Geschäftsführer des Massenhühnchenher-
stellers Wiesenhof als Spitzenkandidat der
Tierschutzpartei kandidieren.
Den ersten Test in Sachen Selbstverleug-
nung hat Weidel in dieser Woche erfolg-
reich bestanden. Als die anderen Schwulen Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel.
Kittihawk
12 DER SPIEGEL 27 / 2017
und Lesben in Deutschland die „Ehe für
alle“ feierten, schrieb Weidel auf Face-
book: „Über die ‚Ehe für alle‘ zu debattie-
ren, während Millionen von Muslimen
Natürlich ist politischer Masochismus
kein ganz neues Phänomen. Es ist gewiss
sein, wenn man eine große Leidenschaft
für die Rassengenetik hat. Allerdings
war Thilo Sarrazin – anders als Weidel –
niemals Spitzenkandidat.
Wie manche Parteifreunde ticken, konn-
te Weidel im Landtag von Sachsen-Anhalt
zungsprotokoll forderte, dass Homosexua-
lität wie in Nordafrika auch in Deutschland
„verboten und in höchstem Maße tabui-
siert“ werden solle. Oder auf der Facebook-
Seite eines inzwischen aus der Fraktion
gedrängten AfD-Mannes aus Berlin, der
Homosexuelle als „unnormal“, „wider-
natürlich“ und als Menschen mit „Gen-
defekt“ bezeichnete. Natürlich stoßen auch
andere Parteien beim Umgang mit Minder-
heiten bisweilen an Grenzen. Aber es gibt
Fortschritte. Seit dem Rückzug von Rainer
Brüderle etwa ist die Zahl der Schwulen-
witze in der FDP deutlich gesunken.
Alice Weidel hat sich freiwillig entschie-
den, einer Partei Gesicht und Stimme zu
geben, die ihre Art zu leben ablehnt. Das
Preis dafür ist, dass sie selbst dann noch
hassen muss, wenn sie, wie in dieser Wo-
che, Grund zur Freude hätte.
An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein,
Ma janz locka
So gesehen Was die Ham-
burger von der Berliner
Polizei lernen können
Ist ja unerhört. Da pfercht
man über 200 junge Berliner
Polizisten im Alter von Mitte
zwanzig in ein Container-
dorf in Bad Segeberg, gibt ih-
nen weder Eintrittskarten für
die Karl-May-Festspiele noch
ein TV-Gerät – und was ma-
chen diese Frechdachse nach
Feierabend? Sie feiern. Trin-
ken Alkohol. Nuckeln an ei-
ner Wasserpfeife. Haben Ge-
schlechtsverkehr. Urinieren
an einen Zaun. Und stapeln
nach der Party nicht mal die
Stühle ordentlich auf. Kurz
gesagt: Sie verhalten sich ih-
rem Alter und ihrer Berliner
Herkunft entsprechend voll-
kommen normal.
In Hamburg hält man die-
ses Verhalten allerdings für
skandalös. „Wir haben im
Vorwege deutlich gemacht,
wie wichtig uns ein klares
hanseatisches Auftreten hier
ist in Hamburg“, sprach der
erstaunlicherweise ohne
Monokel auftretende Ham-
burger Polizeisprecher, nach-
dem man die Berliner Kolle-
gen wegen ihres Gelages wie-
der heimgeschickt hatte.
Soso, es mangelte also an
„klarem hanseatischem Auf-
treten“. Man hat in den ver-
gangenen Monaten wahrlich
von schlimmeren Vorwürfen
gegen deutsche Uniform-
träger gehört. Die Berliner
haben keine Naziparolen ge-
grölt, sie haben niemanden
verletzt oder gedemütigt, sie
haben (nach allem, was
man weiß) nichts Strafbares
getan. Sie haben in ihrer
Freizeit heftig gefeiert, mehr
nicht.
Zum G-20-Gipfel blickt
die Welt in diesen Tagen auf
Hamburg. Leider hat die
Stadt eine schöne Gelegen-
heit verpasst, der Welt
die schönste hanseatische
Eigenschaft zu zeigen:
Gelassenheit. Stefan Kuzmany
Herz.
Haltung.
Hayali.
dunja hayali
ab Mi 5. Juli | 22:15
Titel
Selbstbetrug
mit System
G20 In Hamburg sammelt sich der Protest gegen
die Ausbeutung von Mensch und Natur und gegen die
Auswüchse des Finanzkapitalismus. Es ist radikales
Umdenken nötig, um die Probleme der Menschheit zu lösen.
E
s gibt Skandale, die klingen so ver-
traut, dass sich kaum einer mehr
richtig darüber aufregt.
Kurz zur Erinnerung: Alle zehn Sekun-
den verhungert auf der Erde ein Kind –
obwohl es Nahrung für 10 bis 12 Milliarden
Menschen gibt und 7,5 Milliarden auf der
Erde leben. Fast 800 Millionen gelten als
extrem arm – während so viel Geld in der
Welt ist wie nie zuvor. Energie wird zu 81
Prozent durch Verbrennen von Kohle, Gas
und Öl erzeugt – obwohl diese Praxis die
Erde erwärmt und mit Solar- und Wind-
kraft ausgereifte Alternativen bereitstehen.
Wenn sich die Mächtigen der G-20-Staa-
ten am kommenden Wochenende in Ham-
burg treffen, haben sie es in der Hand, ei-
nige Widersprüche aufzulösen, sie zumin-
dest aber zu entschärfen. Denn sie haben
die Gegensätze zum größten Teil selbst
verursacht.
Die G 20 repräsentieren zwei Drittel der
Erdbevölkerung, gut drei Viertel der glo-
balen Wirtschaftsleistung, vier Fünftel der
Treibhausgasemissionen – und sie sind das
Feindbild der Globalisierungskritiker. „Die
G 20 sind Teil des Problems und nicht der
Lösung“, sagt Werner Rätz, Mitbegründer
von Attac in Deutschland, dem globalisie-
rungskritischen Netzwerk. Deshalb orga-
nisiert Rätz in Hamburg den Protest. Da-
mit kennt er sich aus.
Rätz ist 65 Jahre alt, weißer Bart, die
Haare schulterlang: ein Veteran der linken
Bewegung. In der CDU war er aktiv, bei
den Grünen, den Linken, doch Parteipoli-
tik ist nicht sein Ding, hat er festgestellt.
Rätz bevorzugt die außerparlamentarische
Aktion. Im Sommer 1982 meldete er in
Bonn eine Friedensdemonstration an, An-
lass war ein Nato-Gipfel. Schätzungsweise
450 000 Menschen versammelten sich in
den Rheinauen, die „Tagesschau“ berich-
tete darüber 16 Sekunden: „Das waren Di-
mensionen, die heute unvorstellbar sind.“
35 Jahre später muss er um mediale Auf-
merksamkeit nicht bangen, mehr Sorge be-
reitet ihm der rot-grüne Senat. Olaf Scholz,
der Erste Bürgermeister der Stadt Ham-
burg, will verhindern, dass Demonstranten
14 DER SPIEGEL 27 / 2017
in Parks kampieren. Rätz findet das unbe-
greiflich. Er kennt Scholz noch aus dessen
Zeit als Juso-Funktionär. Nun hofiert
Scholz die Exzellenzen, gegen die Rätz
mobilisiert.
Rätz ist überzeugt, dass er auf der rich-
tigen Seite der Barrikaden steht. „Das
Weltsystem ächzt aus allen Fugen“, sagt
er, „das ist die Chance für die alternative
Bewegung.“
Tatsächlich erlebt die Globalisierungs-
kritik seit Monaten eine unerwartete Re-
naissance. Im vergangenen September de-
monstrierten bundesweit 170 000 Men-
schen gegen die Freihandelsabkommen
TTIP und Ceta. Nun steuern die Massen
auf Hamburg zu, um sich den Mächtigen
in den Weg zu stellen. Ein breites Bündnis
trägt den Protest: Kirchengruppen, Um-
weltverbände, Gewerkschaften, Flücht-
lingsräte, Friedensbewegte. Sie eint der
Glaube an das Gute im Menschen und das
Schlechte am System.
Sie hegen den Verdacht, dass Freihandel
und Marktwirtschaft nicht Wohlstand für
alle erzeugten, sondern die Reichen noch
reicher mache. Sie sind überzeugt, dass
globale Vernetzung, digitaler Fortschritt
und ungezügelter Finanzkapitalismus nur
einer kleinen Elite dienten, die Masse aber
zu Verlierern mache: Die Mehrheit sei vom
Reichtum ausgeschlossen.
Acht Männer verfügten nach Rechnung
der Hilfsorganisation Oxfam 2016 über ein
Vermögen von 426 Milliarden Dollar, an
der Spitze Microsoft-Gründer Bill Gates,
Textilunternehmer Amancio Ortega (Zara)
und Großinvestor Warren Buffett. Alle
acht zusammen besitzen damit mehr als
die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung.
Einige gewinnen viel, aber viele verlie-
ren einiges. Dieser Gedanke zieht Kreise,
weit über das linke Spektrum hinaus.
Vor zwei Wochen verblüffte die Bun-
deskanzlerin Teilnehmer eines Treffens
von Nichtregierungsorganisationen beim
sogenannten C-20-Gipfel in Hamburg, C
steht für Civil. Angela Merkel bekannte
dort, dass im Mittelpunkt der Wirtschafts-
politik nicht „einfach nur Wachstum“
Plakate und
Aufkleber zum
G-20-Gipfel in
Hamburg

FOTOS: RASANDE TYSKAR

DER SPIEGEL 27 / 2017 15

Titel

stehen dürfe, sondern „nachhaltiges, in-
klusives Wachstum“. Die Offenheit der
Märkte sei ein Gewinn, aber sie räumte
auch ein: „Nichts ist perfekt an der Glo-
balisierung.“
Offensichtlich erreicht die Globalisie-
rungskritik das Establishment. Die bürger-
liche Mitte empfindet Unbehagen daran,
in welche Richtung sich die Welt entwi-
ckelt. Wenn Papst Franziskus, sofern er zu
dieser Mitte gehört, in seiner Enzyklika
„Laudato si“ das „Stöhnen der Schwester
Erde“ beklagt, dann liest sich dies wie ur-
grüne Kapitalismuskritik. Und Dennis Sno-
wer, Präsident des Kieler Instituts für Welt-
wirtschaft, einst Hort des Marktliberalis-
mus, beschäftigt heute die Frage, ob der
Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet
ist: „Die soziale Entwicklung entkoppelt
sich vom wirtschaftlichen Fortschritt“,
fürchtet er.
Aus dem rechten Lager tönt ebenfalls
Globalisierungskritik, allerdings mit ganz
anderer Stoßrichtung. Die autoritären
Populisten wollen den Welthandel nicht
gerechter gestalten, sie lehnen ihn rund-
heraus ab. Sie streben danach, die Volks-
wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz
zu schützen, internationale Kooperationen
sind verpönt. Und damit kommen sie bei
vielen gut an, die sich als Globalisierungs-
verlierer betrachten.
Es wirkt so, als bekäme die Linke Ap-
plaus von der falschen Seite, als formiere
sich hier eine eigentümliche Allianz zwi-
schen rechten Standortnationalisten und
linken TTIP-Gegnern. Eine Querfront? Die
Vorstellung weist Attac ausdrücklich von
sich, sie seien keine Protektionisten, ihnen
se des Finanzkapitalismus zu zähmen sind. quenz stellen: Wie viel Radikalität ist nötig,
Es sind Fragen, die alle umtreiben müssten, um die Probleme der Welt zu lösen?
die moralische Verantwortung tragen: die
Politiker, die Unternehmer, auch die Bür- Das Problem
ger. Ab und an beschäftigen sie sich tat- Radikal ist schon die Diagnose, die der
sächlich damit. Münchner Soziologe Stephan Lessenich
In einem ruhigen Moment wird sich je- stellt: Die Bürger im Norden lebten auf
der Parlamentarier fragen, ob das Gesetz, Kosten der Menschen im Süden, sagt er,
dem er gerade zustimmt, der Gesellschaft sie lagerten die schmutzigen Teile der Pro-
dient – oder nur der eigenen Wiederwahl. duktion einfach zu ihnen aus. Für uns „wer-
Jeder Manager überlegt sich bestimmt ein- den Ressourcen gefördert, Giftstoffe frei-
mal, ob er dem Mitarbeiter verpflichtet gesetzt, Abfälle gelagert, Landstriche ver-
ist – oder seinem Wohlstand. Und jeder wüstet, Sozialräume zerstört, Menschen
Bürger denkt manchmal darüber nach, ob getötet“, wirft er den Verbrauchern vor:
ihm Konsum wirklich so wichtig ist – oder „Unser Überfluss raubt anderen die Le-
weniger mehr sein könnte. bensgrundlage.“
Beantworten sie die Fragen ehrlich, wird Lessenich ist Ungleichheitsforscher, ein
sie das schlechte Gewissen packen, für ei- schlanker Mann Anfang fünfzig, verwa-
nen Moment zumindest, und dann setzt schene Jeans, T-Shirt, zwei Umhängeta-
wieder die Verdrängung ein. Es ist paradox: schen über der Schulter. Der Wissenschaft-
Jeder weiß im Prinzip, was richtig ist, aber ler hat in München den Lehrstuhl von Ul-
er tut es nicht. rich Beck übernommen, dem Doyen der
An diesem Widerspruch setzt die neue deutschen Soziologie, der vor zweieinhalb
Globalisierungskritik an. Sie verlangt, dass Jahren überraschend verstarb. Die Verwer-
Politiker, Unternehmer und Bürger über fungen der kapitalistischen Weltgesell-
ihr Handeln grundsätzlich nachdenken. schaft sind es, die beide beschäftigt haben.
Und sich dann die Frage nach der Konse- Aber Lessenich ist kompromissloser.
Deutschlands ökonomischer Erfolg be-
ruhe darauf, dass anderswo Mensch und
Umwelt ausgebeutet würden. „Wir leben
nicht über unsere Verhältnisse“, so Lesse-
nich, „wir leben über die Verhältnisse an-
derer.“ Der Professor verzichtet darauf,
die Diagnose einer „Externalisierungsge-
sellschaft“ empirisch breit mit Ökobilan-
zen zu unterfüttern, seine Belege sind
meist anekdotisch.
Da ist zum Beispiel die Sache mit den
Kaffeekapseln. Die Deutschen verbrauch-
SANDRA STEIN / DER SPIEGEL

gehe es um Gerechtigkeit.
Thomas Ebermann, der Mitbegründer
der Grünen, wies in der Zeitschrift „kon-
kret“ hingegen darauf hin, dass einige aus
der Linken für die Rückkehr zur Kleinstaa-
terei in Europa und für den „Lexit“ wer-
ben, einen linken Ausstieg aus dem Euro.
Ebermann deutet dies als „den Kristallisa-
tionskern einer Entwicklung nach ganz
weit rechts“. Also Vorsicht!
In diesen Monaten verschieben sich vie-
le Perspektiven – und damit der Blick auf
die Globalisierung. Die USA, früher stolze
„Anführerin der freien Welt“, verfolgen ei-
nen strammen Isolationskurs. China wie-
derum setzt sich als vermeintlicher Vor-
kämpfer der internationalen Arbeitstei-
lung in Szene. Und in Europa ringen beide
Kräfte um Einfluss. Die neue Konfliktlinie
verläuft nicht mehr zwischen rechts und
links. Heute zieht sich ein Riss zwischen
Befürwortern einer offenen Gesellschaft
und jenen, die sich abschotten wollen.
Attac-Aktivist Rätz
„Das Weltsystem ächzt aus allen Fugen“
GÖTZ SCHLESER
ten 2016 rund 5000 Tonnen davon. Für den
kurzen Koffeinkick würden in Brasilien Re-
genwälder gerodet, damit Minenfirmen
dort Bauxit abbauen können, das unter gro-
ßem Energieeinsatz zu Aluminium verar-
beitet wird – auch zur Herstellung solcher
Kapseln, empört sich Lessenich: „Wir haben
uns aufs Gewinnen spezialisiert und die an-
deren aufs Verlieren festgelegt.“
Das ist ziemlich schwarz-weiß gemalt,
Lessenich ist das bewusst, als Wissenschaft-
ler sei ihm auch etwas unwohl dabei, räumt
er ein. Aber er wolle einen Punkt setzen,
für jeden verständlich, deshalb der pole-
mische Ton. Damit freilich macht er sich
angreifbar.
Man könnte die Weltlage nämlich auch
ganz anders sehen, hoffnungsvoller und
chancenreicher, trotz der Globalisierung.
Vielleicht sogar ihretwegen.
Laut Weltbank hat sich extreme Armut –
die Schwelle liegt bei 1,90 Dollar verfüg-
barem Einkommen pro Tag – in den ver-

In Hamburg nun prallen die Vorstellun- gangenen Dekaden erheblich verringert.

gen aufeinander, wie die Staaten mit der
Globalisierung und ihren Folgen umgehen
sollen: wie Armut zu bekämpfen ist, wie
die Umwelt zu schützen und die Auswüch-
16 DER SPIEGEL 27 / 2017
1990 lebten 34,8 Prozent der Weltbevölke-
rung am Existenzminimum, damals waren
Soziologe Lessenich es 1,84 Milliarden Menschen. Ihre Zahl hat
„Wir leben über die Verhältnisse anderer“ sich bis 2013 mit 766 Millionen mehr als
 LYNN BO BO / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Demonstrierende Textilarbeiter in Burma: Bei Schwangerschaft sofort gefeuert

halbiert, der Anteil liegt nur noch bei 10,7 quelle, die im Wettbewerb mit fossilen Linie ökonomischer Natur. Die Investoren
Prozent. Brennstoffen bestehen könne, und die Au- fürchten, dass die „Carbon Bubble“ platzt:
Besonders in China hat sich das Leben toindustrie investiere in großem Stil in al- dass die fossilen Industrien gewaltige Wer-
deutlich verbessert – gerade weil die Volks- ternative Antriebe. „Das alles hätte ich nie te abschreiben müssen, weil weltweit der
republik ein wichtiger Teil der Weltwirt- gedacht“, sagt Stern staunend. Bedarf an Öl, Gas und Kohle sinkt, ein
schaft geworden ist. Vor gut einem Vier- Überhaupt die Wirtschaft: Viele Unter- Skandal wie der Dieselbetrug beschleunigt
teljahrhundert waren 756 Millionen Chi- nehmen definieren mittlerweile Nachhal- den Trend noch. Der Einfluss der Investo-
nesen extrem arm, mehr als die Hälfte der tigkeit als Geschäftsziel, aus ethischem An- ren aus der sogenannten Divestment-Be-
Nation, heute sind es noch 25 Millionen: trieb, vor allem aber aus Kalkül. Sie wollen wegung ist erheblich: Sie verwalten ein
nicht mal zwei Prozent der Bevölkerung. solvente Kunden ansprechen, die darauf Vermögen von fünf Billionen Dollar.
Chinas Industrie zahlt Stundenlöhne achten, dass Produkte unter ordentlichen Unternehmen, Regierungen und Bürger,
von umgerechnet 3,60 Dollar, kaum weni- Bedingungen entstanden sind und fair ge- alle korrigieren ihr Verhalten – den Sozio-
ger als Unternehmen in Portugal. Dort handelt werden. Und außerdem hilft es ih- logen Lessenich aber beeindruckt das
liegt das Niveau bei 4,50 Dollar. In vielen nen, ihr Image aufzufrischen. nicht. Grüner Kapitalismus, intelligentes
Regionen der Erde – Ausnahme Zentral- Früher waren solche Waren höchstens Wachstum? Das seien bloß „Formeln des
afrika – zeigt der Kampf gegen Armut und im Reformhaus zu haben, heute bieten Dis- kollektiven Selbstbetrugs“, findet er. Sie
Hunger Erfolge, messbar und sichtbar. counter und Supermärkte selbstverständ- böten keinen Ausweg aus dem fundamen-
Auch was die Umwelt angeht, gibt es er- lich Bioeier oder Fairtrade-Schokolade an. talen Dilemma, der Einsicht des Fehlver-
staunliche Signale. China, der größte CO2- Mittlerweile verkaufen Lidl, Aldi, Edeka haltens einerseits und andererseits der Pra-
Verursacher, hat die Energiewende ein- und Co. schon mehr grüne Waren, im wei- xis, so weiterzumachen wie bisher.
geleitet, die Volksrepublik hat den Bau testen Sinne, als alle Bioläden zusammen. Es ist der alte Widerspruch zwischen Ge-
neuer Kohlekraftwerke stark gedrosselt. Und sie rühmen sich, Artikel aus dem hei- sinnungsethik und Verantwortungsethik,
Auch Indien stoppte zuletzt mehrere Pro- mischen Raum im Sortiment zu führen. der alle Akteure gefangen hält: die Unter-
jekte. Das Ziel, den Anstieg der Erdtem- „Mehr Freude an regionalen Produkten“ nehmen, die kiloweise Nachhaltigkeitsbe-
peratur um zwei Grad zu begrenzen, mag verspricht Lidl derzeit großflächig auf Pla- richte verfassen, aber im Zweifel mehr
zwar kaum mehr erreichbar sein, dennoch katen: Maultaschen aus Schwaben, Gurken Wachstum und höheren Profit anstreben.
sieht Nicholas Stern, der ehemalige Welt- aus dem Spreewald. Die Regierungen, die in der Armutsbe-
bank-Chefökonom, eine Menge Anzei- Selbst in Teilen der Finanzbranche kämpfung messbare Erfolge erzielen, aber
chen, die ihn hoffen lassen. wächst ein neues Bewusstsein. Banken, zu schwach oder zu uneinig sind, um mehr
Stern hat vor gut zehn Jahren mit einem Versicherungen und Investmentfirmen Gerechtigkeit zu schaffen. Und die Bürger,
Report die Aufmerksamkeit der Welt auf überprüfen ihre Portfolios, einige ziehen die Wasser des Vereins „Viva con Agua“
die Folgen der globalen Erwärmung ge- ihr Geld aus Beteiligungen an Firmen ab, kaufen, der damit Hilfsprojekte finanziert,
lenkt. Seitdem habe sich viel getan, sagt die am Geschäft mit Öl, Gas und Kohle es aber aus Plastikbechern trinken; Men-
er. Fotovoltaik avanciere zu einer Energie- verdienen. Auch hier ist das Motiv in erster schen, die also gern grün denken und re-

DER SPIEGEL 27 / 2017 17


Hungerndes Kind in Somalia: Der Markt allein kann Armut nicht beseitigen
den, aber dann doch gedankenlos konsu-
mieren: auf Kosten beispielsweise von Ar-
beiterinnen in Textilfabriken in Burma.
Die Bürger
Winnie Byanyima kennt solche Frauen. Sie
ist Uganderin mit einem Lebenslauf, bei
dem mancher denken mag: Was führe ich
doch für ein langweiliges Leben! Geboren
1959, da stand ihr Land noch unter briti-
schem Protektorat; aufgewachsen als Leh-
rerkind unter der Schreckensherrschaft
von Idi Amin; nach England geflohen, Aus-
bildung zur Flugzeugingenieurin; dann zu-
rück nach Uganda. Dort schloss sie sich
den Rebellen an, war an deren Seite im
Busch; später wurde sie Botschafterin
Ugandas in Frankreich.
Heute ist Byanyima die erste Afrika-
nerin, die Oxfam, einen Verbund von
Entwicklungsorganisationen, weltweit re-
präsentiert. Vor zwei Wochen saß sie in
Hamburg beim C-20-Gipfel auf dem Podi-
um neben Angela Merkel. Byanyima
berichtete vom Alltag der Frauen in Burma.
Die Arbeiterinnen schufteten täglich
mehr als 14 Stunden, erzählte sie, sie be-
kämen dafür nicht mehr als vier Dollar
bezahlt. Dies liege zwar über der Armuts-
grenze, aber es genüge bei Weitem nicht,
um eine Familie zu ernähren. Die Frauen
besäßen keinerlei soziale Absicherung, bei
Schwangerschaft würden sie sofort ge-
feuert.
18 DER SPIEGEL 27 / 2017
Dann wandte sich Byanyima an die
Kanzlerin: „Diese Frauen stellen die Klei-
dung her, die Sie und ich tragen.“ Merkel
hörte aufmerksam zu, nickte. Applaus
vom Publikum, das sich vielleicht auch er-
tappt fühlte.
Denn den meisten Deutschen ist es rela-
tiv egal, woher ihr Hemd, ihre Schuhe oder
die Tafeln Schokolade stammen. Kaum ei-
ner denkt darüber nach, unter welchen Um-
ständen die Waren produziert werden. Es
ist das Verdienst von Hilfsorganisationen
wie Oxfam oder dem Bonner Südwind-In-
stitut, Hintergründe offenzulegen.
Aber es nützt zu wenig. Rund 1500 Mil-
liarden Euro gaben die Bürger 2014 für
Verbrauchsartikel aus, davon entfielen laut
Umweltbundesamt nur 50 Milliarden Euro
auf grüne Produkte: Das sind drei Prozent.
Selbst die ach so ökokorrekten Deut-
schen genießen mehrheitlich einen Lebens-
stil, der die natürlichen Grenzen des Pla-
neten sprengt. Würden alle so viel verbrau-
chen wie ein Bürger in Deutschland, wären
2,6 Planeten nötig, um den Bedarf zu de-
cken – das ist jenseits aller ökologischen
Belastbarkeit, jenseits aller Vernunft.
Die Menschen bauen mehr Getreide an,
als die ausgelaugten Böden vertragen. Sie
verbrauchen mehr Holz, als in den Wäl-
dern nachwächst. Sie produzieren mehr
Treibhausgase, als die Atmosphäre aufzu-
nehmen vermag. Sie kaufen mehr Schuhe,
als ein Mensch vernünftigerweise tragen
DOMINIC NAHR / DER SPIEGEL
kann: Fünf Paar sind es pro Jahr in
Deutschland, in den USA fast acht.
Die Wirtschaft produziert mehr, als die
Kunden benötigen. Aber das funktioniert
nur, weil sich die Konsumenten angewöhnt
haben, größere Mengen zu kaufen, als sie
wirklich brauchen.
Der Versandhändler Michael Otto wird
dafür gefeiert, ethisch vorbildlich zu han-
deln, weil er bis 2020 bei Eigen- und Li-
zenzmarken nur Kleidung aus nachhaltig
produzierter Baumwolle anbieten will. Das
verdient Anerkennung. Und doch muss er
sich fragen lassen, ob er ein richtiges Leben
im falschen führt.
Sein Geschäftsmodell beruht selbstver-
ständlich darauf, möglichst viele Textilien
zu verkaufen und immer mehr davon. Heu-
te besorgen sich die Deutschen elfmal
mehr Kleidungsstücke als vor 30 Jahren,
sechs Milliarden Artikel: ex und hopp.
Fast die Hälfte von ihnen hat schon
Schuhe, T-Shirts oder Hosen nach nicht
mal einem Jahr im Müll oder Altkleider-
container entsorgt, obwohl das meiste da-
von in tadellosem Zustand und durchaus
noch tragbar ist. Nicht wenige Stücke blei-
ben nach dem Kauf unberührt im Kleider-
schrank hängen. Die Waren sind zu billig,
als dass man meint, ihnen Wertschätzung
entgegenbringen zu müssen. Der geringste
Teil der Summe, die Verbraucher für die
Stücke bezahlen, landet bei den burmesi-
schen Näherinnen.
 Was die Oxfam-Streiterin Byanyima
skizziert, beschreibt einen Grundwider-
spruch der internationalen Arbeitsteilung.
Händler wie Primark oder Zara streichen
das Gros der Profite ein – bei den Men-
schen, die die Ware überhaupt herstellen,
bleibt kaum etwas hängen. Die Kanzlerin,
die sonst gern deutsche Einzelhandels-
interessen vertritt, bezog auf dem C-20-
Podium Stellung für die Menschen am an-
deren Ende der Lieferkette. Die Gewinne
würden oft nur „auf den letzten drei Me-
tern“ eingefahren, kritisierte sie, und nicht
auf den 300 Metern davor.
So ungerecht geht es nicht nur in der
Textilwirtschaft zu. In der Elfenbeinküste,
dem Hauptexportland für Kakaobohnen,
bekommen die Bauern oft nur einen hal-
ben Dollar pro Tag für ihre Arbeit. Mit
Macheten schneiden sie die Schoten von
den Stämmen und Ästen, öffnen sie und
lösen die Bohnen heraus.
Mehr als eine Million Kinder, wird ge-
schätzt, arbeiten auf den Plantagen. Viele
von ihnen besuchen deshalb keine Schule.
Eine Faustregel lautet: Je niedriger die Ka-
kaopreise, desto eher werden Kinder als
besonders billige Arbeitskräfte eingesetzt.
Derzeit notieren die Preise nahe dem
Zehnjahrestief.
Ähnlich krass sind die Bedingungen in
der Schuhproduktion. Beim Gerben des
Leders wird oft Chrom eingesetzt und die
Umwelt verseucht, Arbeiter kämpfen mit
Ausschlägen und Atemproblemen. Gefer-
tigt werden die Schuhe meist in Heimar-
beit. Rund eine Stunde dauert es, ein Paar
zu produzieren, vom Zuschnitt bis zum
Nähen sind oft 360 Arbeitsschritte nötig.
Am Ende bekommt eine Arbeiterin in
Indonesien, überwiegend sind es Frauen,
für ein Paar umgerechnet 22 Cent ausbe-
zahlt, hat Südwind ermittelt. Und wenn
die Fabrikanten etwas an der Qualität mo-
nieren, drohen Geldstrafen, die sie direkt
vom Lohn abziehen.
Das alles ist kein Geheimnis, die Ver-
braucher müssten sich nur die Mühe ma-
chen, sich zu informieren. Eigentlich wird
es ihnen leicht gemacht, Siegel wie Fair-
trade, Gots oder Gepa garantieren saubere
Herstellung oder fairen Handel. Doch ob
die etwas höheren Preise abschreckend
wirken oder es einfach nur Bequemlichkeit
ist: Es bleibt eine Minderheit, die Nach-
haltigkeit honoriert.
Die Unternehmen
Schwerer noch fällt es Unternehmen, die
Welt besser und gerechter zu machen. Bör-
sennotierte Firmen haben sich den Regeln
eines Finanzkapitalismus unterworfen, dem
alle Maßstäbe abhandengekommen sind.
Nur vier Techfirmen, Facebook, Apple,
Amazon und Google, sind an der Börse zu-
sammen knapp 2,4 Billionen Dollar wert,
die Summe übersteigt das Bruttoinlands-
produkt Indiens. Die Notenbanken überflu-
Die Einheizer Katar ten die Märkte mit Geld, die Profiteure häu-
CO2-Emission 36,7 fen unwahrscheinliche Vermögenswerte an,
pro Kopf 2015, Vereinigte der Bezug zur Realwirtschaft geht verloren.
in Tonnen Arabische Nicht, dass dies früher grundsätzlich an-
Emirate ders gewesen wäre, der Shareholder-Va-
20,8 lue-Gedanke befeuert die Wirtschaft seit
Australien drei Jahrzehnten. Neu ist, dass heute die
18,6 Finanzwirtschaft den Managern vorgibt,
was diese zu tun und zu lassen haben. „Fi-
USA nanzialisierung“ nennen Ökonomen die-
16,1 sen Prozess. „Selbst unsere größten und
glänzendsten Unternehmen fangen an,
sich wie Banken zu benehmen“, stellt die
Russland US-Kolumnistin Rana Foroohar fest.
12,3 Heute verdienen Fluggesellschaften mit
Deutschland
Absicherungsgeschäften auf den Ölpreis
oft mehr als mit dem Verkauf von Sitzplät-
9,5 zen. Unternehmen kaufen eigene Aktien
zurück, statt die Mittel zu investieren: Zwi-
China
schen 2004 und 2014 verwendeten ameri-
7,7 kanische Firmen dafür über die Hälfte ih-
rer Gewinne, fast sieben Billionen Dollar.
Frankreich
Emission, Und Finanzinstitute bewegen mit Rohstoff-
die Klimaforscher
5,1 wetten die Notierungen für Mais oder Wei-
für akzeptabel zen; die Preise spiegeln nicht mehr nur,
halten 5,0 Welt- wie gut die Ernte ausfällt, sie entkoppeln
durch- sich von Angebot und Nachfrage.
schnitt So entfernen sich Unternehmen vom ur-
4,9
Schweiz sprünglichen Geschäftszweck: die Kunden
2,4 mit überzeugenden Produkten so zu be-
Brasilien Quelle: EDGAR geistern, dass sie ordentlich Geld verdie-
2,0 nen und ihre Mitarbeiter gut bezahlen kön-
Indien
Bangladesch nen. Vor hundert Jahren baute Siemens
Kenia Ruanda
1,9 0,4 für seine Belegschaft Siedlungen, so etwas
0,3 0,1 ist inzwischen schwer vorstellbar, trotz
Wohnungsnot. Heute fokussieren Firmen
ihre Anstrengungen darauf, die Zahlen des
Vorjahres zu übertreffen. Die Menschen
dienen den Unternehmen – es müsse um-
gekehrt sein, meint Christian Felber. Und
deshalb macht er in seinen Vorträgen ge-
legentlich einen Kopfstand.
Das Wirtschaftssystem stehe kopf, will
Felber damit sagen, es müsse auf die Füße
gestellt werden. An diesem Vormittag in
Berlin verzichtet Felber auf das Kunst-
stück, der Moderator drückt aufs Tempo.
Felber sitzt in einer Runde des T-20-Gip-
fels, T wie Thinktank und wie C 20 eben-
falls ein Vorbereitungstreffen, hochkarätig
besetzt: Nobelpreisträger, Konzernchefs,
Bundesminister. Und dazwischen Felber,
rotblonder Bart, Hemdsärmel aufgekrem-
pelt, den grünen Rucksack über der Schul-
ter. Der Mann fällt auf unter all den An-
JASON ALDEN / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
zugträgern, auch ohne Kopfstand. Nur mit
seinen Aussagen.
Felber, ein Wiener, geboren 1972, hat At-
tac in Österreich mitgegründet, er ist einer
der neuen Stars der alternativen Szene. Täg-
lich könnte er einen Vortrag halten, so oft
wird er derzeit eingeladen, er versucht sich
auf hundert Auftritte im Jahr zu beschrän-
ken. Felbers Grundthese ist griffig, er plä-
Oxfam-Aktivistin Byanyima diert für eine neue Wirtschaftsordnung, er
„Private Investoren spielen mit den Staaten“ nennt sie Gemeinwohl-Ökonomie. Sie zielt
DER SPIEGEL 27 / 2017 19
Titel
nicht auf die Vermehrung von Geld ab, son-
dern darauf, dass alle gut leben können.
Nichts davon sei neu, sagt Felber offen,
vieles finde sich schon bei Thomas von
Aquin, dem Philosophen des 13. Jahrhun-
derts. Er habe dessen Gedanken bloß auf
die heutige Zeit übertragen. In einer Ge-
meinwohl-Wirtschaft dürfe nicht das finan-
zielle Ergebnis im Zentrum allen Wirtschaf-
tens stehen, sondern die Durchsetzung fünf
zentraler Werte: Gerechtigkeit, Menschen-
würde, Solidarität, Demokratie und Nach-
haltigkeit. Ob der Systemwechsel gelingt,
versuchen Felber und seine Mitstreiter
messbar zu machen: Sie fertigen sogenann-
te Gemeinwohl-Bilanzen an.
Darin untersuchen sie zum Beispiel, wie
ein Unternehmen mit Lieferanten oder Mit-
arbeitern umgeht, ob es klimaneutral wirt-
schaftet, ob es Finanzflüsse an Lobbyisten
offenlegt, ob es Frauen fördert. Einige Be-
triebe haben sich ihre Gemeinwohl-Taug-
lichkeit schon testieren lassen, darunter der
Outdoorausrüster Vaude und sogar ein
Geldinstitut, die Sparda-Bank in München.
Dort erhalten die Mitarbeiter ganz be-
wusst keine leistungsabhängigen Gehalts-
bestandteile und auch keine Provisionen
für Vertragsabschlüsse: Nichts Monetäres
soll sie davon abhalten, ihre Kunden an-
ständig zu beraten. Der Wertewandel geht
intern so weit, dass die Münchner Banker
die Wasserspender von Nestlé ausgemus-
tert haben, nun wird fair gehandelter Kaf-
fee getrunken. Und die Geschirrtücher
stammen aus den Manufakturen von Blin-
den- und Behindertenwerken.
Ein breites Spektrum von Organisatio-
nen verfolgt den Gemeinwohl-Gedanken,
von evangelikalen Netzwerken bis zu den
Umweltaktivisten von Greenpeace. Rund
200 Unternehmen haben sich schon bilan-
zieren lassen. Auch bei der Deutschen Post
hat Felber sein Konzept vorgetragen, dort
fand es allerdings keinen Anklang.
In der T-20-Runde in Berlin saß Felber
Frank Appel gegenüber, dem Postchef.
Der Manager hatte über Menschheitsfra-
gen philosophiert, über die Bedeutung von
Liebe, Sinn und Hoffnung und über die
gesellschaftliche Verantwortung, die die
Deutsche Post trage. „Wir haben viel ge-
tan“, sagte er, andere Unternehmen könn-
ten sich ein Beispiel daran nehmen. Da-
raufhin fragte der Moderator Appel,
warum sich die Post dann gegen eine Ge-
meinwohl-Bilanz entschieden habe.
Er könne sich nicht genau erinnern,
wand sich Appel, es existierten so viele
Alternativmodelle, es fehle ein Standard
wie bei der klassischen Rechnungslegung.
Wenn ein globaler Standard gefunden sei,
würde die Post sicher mitmachen, versi-
cherte der Manager. Felber lächelte. Eine
solche Antwort hatte er erwartet.
Thomas Friedman von der „New York
Times“ erfand einmal das Bild der „golde-
20 DER SPIEGEL 27 / 2017
nen Zwangsjacke“, in der sich Regierungen
Armutszeugnis und Unternehmensführer befänden. Sie
Die weltweite Vermögensverteilung seien gefangen in einem System globalen
Quelle: Oxfam 2016 Wettbewerbs, grenzenlosen Freihandels,
des stumpfen Strebens nach Profit. Mar-
Dem ...gehört
garet Thatcher, die damalige britische Pre-
reichsten 89 % mierministerin, hatte diese Jacke geschnei-
Zehntel des dert, als sie Anfang der Achtzigerjahre das
der Vermögens. Vereinigte Königreich auf einen stramm
Mensch- wirtschaftsliberalen Kurs brachte. Bis heu-
heit... te kommt keiner richtig aus ihr heraus. So-
fern es überhaupt noch jemand will.
Ein Dax-30-Vorstand verdiente 2005 das
Den 42-fache eines Arbeitnehmers, 2014 lag der
nächsten Faktor bei 57. Die Gesamtvergütung von
40% ... Post-Chef Appel summierte sich im ver-
gangenen Jahr auf 9,9 Millionen Euro –
ein Briefträger bekommt etwa 34 000 Euro.
Appel verdient also an einem Werktag
mehr, als der Zusteller in einem Jahr er-
hält. Liebe, Sinn und Hoffnung?
Weltweit hat die Einkommensdisparität
laut OECD den höchsten Stand seit 50 Jah-
ren erreicht. Die Orte mit der größten so-
zialen Ungleichheit sind nicht in Amerika,
Asien oder Europa zu suchen, in New
York, Shanghai oder London. Sie liegen
fast alle in Afrika.
Dort befinden sich die vier Länder mit
der größten gesellschaftlichen Spaltung. In
Angola leben rund 40 Prozent der Bevöl-
kerung unterhalb der Armutsgrenze,
zugleich ist die Hauptstadt Luanda als
teuerste Metropole der Welt für Expats er-
mittelt worden. Die gut bezahlten auslän-
dischen Fachkräfte, meist aus der Ölindus-
trie, treiben das Preisniveau in die Höhe.
...gehören
Die Politik
10,8 %
des In Afrika verläuft die ökonomische Kon-
Vermögens. fliktlinie gewissermaßen zweidimensional:
Die Kluft zu den Industrieländern weitet
Der sich, gleichzeitig nehmen auch innerhalb
ärmsten 0,2% der afrikanischen Staaten die Unterschiede
Hälfte der dramatisch zu. Und wer ist verantwortlich
Menschheit... ...gehört fast nichts. dafür? „In erster Linie Afrikas Eliten
selbst“, sagt Oxfam-Koordinatorin Byanyi-
ma. „Die Regierungen müssen die Bedin-
gungen für eine Wirtschaft schaffen, die
vielen hilft, nicht nur wenigen.“
Afrika ist der ewige Verlierer der Glo-
balisierung, seit kolonialen Zeiten schon.
Über Generationen hinweg hat die Welt-
politik die Not südlich der Sahara ignoriert.
Erst die Eskalation der Flüchtlingskrise vor
zwei Jahren beförderte das Schicksal des
Kontinents zurück ins politische Bewusst-
sein, zumindest das vieler Europäer.
Nun plötzlich gewinnt Afrika eine andere
REINER RIEDLER / DER SPIEGEL
Bedeutung, die demografische Entwicklung
lässt noch einiges erwarten: Bis 2050 wird
Afrika mehr als ein Viertel der Weltbevöl-
kerung stellen, die Zahl der Bewohner wird
sich auf 2,5 Milliarden verdoppelt haben,
die Hälfte von ihnen jünger als 25. Die Bun-
Wirtschaftsreformer Felber desregierung hat die Afrikafrage ins Zen-
Das System vom Kopf auf die Füße stellen trum der G-20-Präsidentschaft gestellt.

Börse in New York: Finanzinstitute bewegen mit Rohstoffwetten die Preise für Mais oder Weizen
„Compact with Africa“, heißt die Initia-
tive, die das Finanzministerium gestartet
hat. Ein „Vertrag mit Afrika“ soll geschlos-
sen werden, fünf Pilotstaaten – der Elfen-
beinküste, Marokko, Ruanda, dem Senegal
und Tunesien – winken bis zu 300 Millionen
Euro zusätzliche Hilfsgelder aus Deutsch-
land. Der Pakt verfolgt das Ziel, private
Investoren nach Afrika zu locken. Dieser
Strategie kann die Oxfam-Geschäftsführe-
rin nichts abgewinnen. „Tut mir leid“, sagt
sie, „das läuft in die falsche Richtung.“
Als Heranwachsende erlebte die Ugan-
derin, was Willkürherrschaft bedeutet.
Stets hätte es passieren können, dass Sol-
daten einen mitgenommen hätten, diese
Erfahrung prägte ihr Politikverständnis.
Der Staat spielt für Byanyima die zentrale
Rolle in der Armutsbekämpfung, ein be-
rechenbarer, gestaltender Staat, der Klein-
betriebe auf lokaler Ebene fördert. Private
Investoren verfolgten andere Absichten,
ihre eigenen Interessen nämlich, sagt Byan-
yima. „Sie spielen mit den Staaten.“
Der ehemalige Finanzminister Ruandas
habe ihr einmal erzählt, wie ein Konzern-
chef im Privatjet in der Hauptstadt Kigali
gelandet sei und mit ihm über den Steuer-
satz verhandelt habe. Dann habe er sich
wieder in die Maschine gesetzt und sei mit
derselben Absicht weiter nach Uganda ge-
flogen. Afrikas Regierungen verlieren Mil-
liardensummen, wenn sie sich auf einen
Wettlauf um die niedrigsten Steuern ein-
lassen. Kenia entgehen so jährlich mehr
als eine Milliarde Dollar an Einnahmen,
das ist doppelt so viel, wie das Land für
sein Gesundheitswesen ausgibt. Arme
Staaten leiden besonders unter der Steuer-
vermeidung, weil sie neben den Erlösen
aus Rohstoffgeschäften meist wenige an-
dere Einnahmequellen haben.
Was den Ländern fehlt, ist die Fähigkeit
zu „Good Governance“, selbstbewusstem
Regierungshandeln mit verlässlichen Insti-
tutionen, die rechtsstaatliche Prinzipien
wahren: die das Eigentum schützen, Kor-
ruption verfolgen. Der Markt allein kann
Armut nicht beseitigen, im Zweifel verstärkt
er sie sogar. Nötig ist der aktive Staat, der
Spielregeln bestimmt und einen Ausgleich
schafft zwischen Gewinnern und Verlierern.
Die Auswege
Das ist die gute Nachricht: Es gibt Wege,
die Welt gerechter zu machen und die Um-
welt zu schützen. Nötig ist allerdings, dass
Bürger, Unternehmer und Politiker sich
ehrlich machen. Dass sie das Richtige nicht
nur sagen, sondern sich trauen, es auch zu
tun – und zwar konsequent. Dass sie den
Mut und die Entschlossenheit zu radikalen
Veränderungen aufbringen. Die Umset-
zung beginnt im Kleinen, in der kommu-
nalen Verwaltung. Denn das Radikale, das
Große, liegt im Kleinen.
In Portland im US-Bundesstaat Oregon
will die Stadt von diesem Jahr an von Be-
SPENCER PLATT / GETTY IMAGES
trieben einen zehnprozentigen Aufschlag
auf die Körperschaftsteuer verlangen,
wenn der Firmenchef über 100-mal mehr
verdient als ein normaler Mitarbeiter.
Übersteigt der Faktor 250, wird ein Plus
von 25 Prozent fällig. Die Regelung ist eine
Reaktion darauf, dass sich in den USA in-
nerhalb von nur fünf Jahren der durch-
schnittliche Verdienst per annum der 200
höchstbezahlten Firmenbosse auf 19,3 Mil-
lionen Dollar verdoppelt hat.
Auch die Stadtoberen von Peking be-
weisen Einfallsreichtum. Dort können die
Bürger eine Lizenz zum Kauf eines Autos
mit Verbrennungsmotor nur per Los ergat-
tern, die Gewinnchancen sind minimal, un-
ter fünf Prozent. Das Kalkül: Es kommen
mehr Elektroautos auf die Straßen der
versmogten Metropolen.
Solche Arrangements sind beispielhaft
dafür, wie Politik auf lokaler Ebene Ver-
änderungen bewirken kann. Sie beweisen
Mut, Fantasie und auch eine gewisse Radi-
kalität. Doch beim G-20-Treffen in Ham-
burg geht es um mehr: um Fragen, die die
Menschheit betreffen, um die Probleme
dieser Welt.
Es geht um Steuergerechtigkeit: Interna-
tionale Abkommen sind nötig, die Mindest-
steuersätze definieren, Steueroasen aus-
trocknen und verhindern, dass Konzerne
ganz legal in Niedrigsteuerländer auswei-
chen und so ihren Beitrag zum Gemeinwohl
umgehen. Mit dem sogenannten BEPS-Pro-
DER SPIEGEL 27 / 2017 21
 DANIEL MUELLER / EPD
Greenpeace-Projektion auf Elbphilharmonie in Hamburg: „Wir leben in einer sehr gefährlichen Welt“

jekt will man bekannten Tricksern wie für akzeptabel. Dann wären die USA ge- gann Sachs: „Unsere Institutionen funktio-
Amazon oder Starbucks diese Praxis er- zwungen, sich erheblich einzuschränken, nieren nicht, unsere Regierungen ebenso
schweren. Doch das Abkommen bedarf jeder Amerikaner verursacht im Schnitt wenig. Und schon gar nicht meine Regie-
noch der Ratifizierung, mit der Unterschrift 16,1 Tonnen, jeder Deutsche 9,5 Tonnen. rung.“ Die Vereinigten Staaten befänden
der Amerikaner ist nicht zu rechnen. Die Brasilianer wiederum befinden sich sich in der schlimmsten Krise möglicher-
Es geht darum, den Erwerb von Roh- nur geringfügig über dem gewünschten Ni- weise seit dem Bürgerkrieg. Der Präsident
stoffen zweifelhafter Herkunft zu ächten: veau. Ein solches System hatte bereits vor sei „unfähig für diesen Job“, das politische
Hier waren die USA Vorreiter – bis Präsi- zehn Jahren beim G-8-Gipfel in Heiligen- System der USA liege in Trümmern.
dent Donald Trump die entsprechende Pas- damm eine prominente Verfechterin: Kanz- Dann wandte sich Sachs „den anderen
sage im Dodd-Frank-Gesetz wieder kas- lerin Merkel äußerte Sympathie dafür. Primadonnen“ zu, wie er sagte. Sie ver-
sierte. Börsennotierte Unternehmen muss- Das wären perfekte Themen für Ham- rieten die Interessen ihrer Bevölkerung,
ten zuvor offenlegen, ob ihre Produkte burg. Doch es ist kaum vorstellbar, dass denn sie ignorierten existenzielle Fragen:
Konfliktmineralien aus der Demokrati- sie ernsthaft erörtert werden, wenn Demo- das Aussterben von Tierarten, die Über-
schen Republik Kongo enthalten: Coltan, kraten auf Autokraten treffen, Klimaschüt- flutung der Küstenstreifen, den Hunger in
Zinn, Gold und Wolfram. Mit dem Handel zer auf Erderwärmungszweifler, Bürger- der Welt. Wie, fragte Sachs, lasse sich ver-
finanzieren sich Rebellengruppen, die rechtler auf Menschenschinder. Noch nie hindern, dass dieses Jahr 5,9 Millionen Kin-
foltern und vergewaltigen. In der EU gibt waren die Erwartungen an einen Gipfel so der unter fünf Jahren sterben werden? Das
es eine ähnliche Verordnung, allerdings niedrig. Am Vorabend werden die Sherpas sei eines der Themen, denen sich die Re-
bleibt ausgerechnet Kobalt darin unbe- bis tief in die Nacht zusammensitzen und gierungschefs in Hamburg widmen müss-
rücksichtigt: Über 50 Prozent des Weltbe- an jedem Satz im Abschluss-Kommuniqué ten – sonst?
darfs stammen aus dem Kongo. feilen. Diesmal aber ist es fraglich, ob sie Wenn sie dafür kein Verständnis zeigten,
Und es geht, ganz klar, um den Klima- überhaupt einen Text zustande bekom- müssten die Wähler eben andere Politiker
schutz: um einen weltweit gültigen Preis, men. „Ich muss zugeben“, sagt der New in Verantwortung bringen, riet er den Zu-
der für das Recht zu zahlen ist, die Atmo- Yorker Wirtschaftsprofessor Jeffrey Sachs, hörern. „Dies ist zu wichtig, um es nur die-
sphäre mit CO2 belasten zu dürfen. Das „ich werde immer nervöser.“ sen 20 Leuten zu überlassen“, sagte Sachs:
europäische Handelssystem hat sich nicht Sachs ist der Popstar unter den Weltöko- „Hier geht es um 7,5 Milliarden Menschen.“
bewährt, fünf Euro kostet die Emission ei- nomen. Anfang der Neunzigerjahre beriet Alexander Jung
ner Tonne, viel zu wenig, um etwas zu be- er die jungen Regierungen Osteuropas, spä-
wirken. Bis 2020 müssten es nach Vorstel- ter entwarf er Pläne zur Abschaffung der Lesen Sie auch
lung des Ökonomen Stern mindestens 40 globalen Armut. Nun, mit 62, ist er grau Seite 44 Wie Donald Trump den Hamburger
bis 80 Dollar sein. geworden, er hat aber noch immer seine Gipfel in Gefahr bringt
Wirklich konsequent und klimagerecht kennedyhafte Ausstrahlung. Seine Rede
wäre es, wenn jeder Mensch dasselbe beim T-20-Treffen in Berlin steigerte sich Video:
Recht auf Verschmutzung der Atmosphäre zu einem fulminanten Appell: wütend, fast „Freihandel kann töten“
eingeräumt bekäme. Zwei Tonnen CO2 verzweifelt, voller Leidenschaft. „Wir leben spiegel.de/sp272017globalisierung
pro Kopf und Jahr halten Klimaforscher heute in einer sehr gefährlichen Welt“, be- oder in der App DER SPIEGEL

22 DER SPIEGEL 27 / 2017

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 Rüstung

Regierung genehmigt U-Boot-Deal

Israel soll weitere drei Schiffe erhalten, die mit Atomwaffen bestückt werden können.
Der Bundessicherheitsrat hat am Mittwoch einen
umstrittenen Rüstungsdeal mit Israel genehmigt.
Das geheim tagende Gremium aus Mitgliedern
des Bundeskabinetts erlaubte die Ausfuhr von
drei U-Booten der „Dolphin“-Klasse, die Thyssen-
Krupp Marine Systems in Kiel bauen will. Israel
besitzt bereits fünf U-Boote derselben Klasse, die
mit Atomwaffen bestückt werden können. Ein
sechstes Boot ist im Bau. Die Bundesregierung
hatte zuvor signalisiert, wie schon bei den vorhe-
rigen Lieferungen einen Zuschuss zu gewähren.
Sie will ein Drittel der Kosten in Höhe von rund
1,5 Milliarden Euro übernehmen. Der Deal wird
in Israel von Korruptionsvorwürfen überschattet.
Der Anwalt des israelischen Ministerpräsidenten
Benjamin Netanyahu ist gleichzeitig Rechtsbera-
ter des Vertriebspartners von ThyssenKrupp in Is-
BAZ RATNER / REUTERS

rael. Das könnte erklären, warum Netanyahu den

Netanyahu (2. v. l.) bei Ankunft des fünften U-Boots in Haifa 2016
Deal gegen den Willen der Militärs durchgesetzt
hatte. In einem gemeinsamen Memorandum ließ
die Bundesregierung eine Klausel einfügen, die
ihr das Recht gibt, den Deal aufzukündigen, falls
sich die Vorwürfe bestätigen. red

Wirtschaftsinstitut Netzgesetz Atomkraft (SPD) setzt sich für deren Ab-

Chef lobt sich selbst Vorbild Deutschland Bund besitzt Anteile schaltung ein. Im Grenzge-

Bei seinem Lob für das SPD- Das umstrittene Netzwerk- an Schrottmeilern biet um Aachen hatten am
vergangenen Wochenende
Steuerkonzept hat der Präsi- durchsetzungsgesetz von Der Bund ist indirekt an je- rund 50 000 Menschen mit ei-
dent des Deutschen Instituts Bundesjustizminister Heiko ner Firma beteiligt, die in Bel- ner Menschenkette gegen die
für Wirtschaftsforschung Maas (SPD) könnte Nachah- gien die umstrittenen Atom- Kraftwerke protestiert. „Wer
(DIW) verschwiegen, dass mer finden. Italien begrüßt kraftwerke Tihange und Doel am Betrieb von Schrottreak-
sein Institut maßgeblich an das Vorhaben: Man teile die betreibt. Der Versorgungs- toren verdient, ist auch mit-
der Erarbeitung der Pläne be- Ansicht, dass die Selbstregu- fonds für die Beamten und verantwortlich für das Risiko,
teiligt war. Im Auftrag der So- lierung der Plattformen „un- die entsprechenden Versor- dem eine ganze Region durch
zialdemokraten hatte das zureichend“ sei, und habe gungsrücklagen halten Antei- die Reaktoren ausgesetzt
DIW verschiedene Varianten mit Überlegungen für eine ei- le an dem französischen Ener- wird“, kritisiert der Grünen-
für eine Steuerreform durch- gene Regulierung begonnen, giekonzern Engie, die mehr abgeordnete Oliver Krischer
gerechnet. Dadurch hatten heißt es in einer Mitteilung als sechs Millionen Euro wert und erinnert die Bundesregie-
die Fachleute auch Einfluss Italiens an die EU-Kommis- sind. Die AKW gelten als un- rung daran, dass das Land
auf inhaltliche Entscheidun- sion. Das Gesetz sei „beson- sicher, weil die Reaktoren Nordrhein-Westfalen un-
gen der SPD-Parteiführung ders interessant, auch weil es Risse haben. Bundesumwelt- längst seine Beteiligungen an
genommen. DIW-Präsident in Europa der erste Versuch ministerin Barbara Hendricks dem Konzern verkauft hat. gt
Marcel Fratzscher lobte in einer Intervention ist“. Noch
mehreren Interviews die Plä- weiter geht Maas’ israelische
ne des Kanzlerkandidaten Amtskollegin Ayelet Shaked.
Martin Schulz. „Das Konzept Sie hat ebenfalls eine Task-
der SPD macht Sinn“, sagte force für den Kontakt mit so-
er, das Vorhaben sei „schlüs- zialen Netzwerken eingesetzt
WIKTOR DABKOWSKI / ACTION PRESS

sig durchgerechnet“. Das und strebt gesetzliche Lösch-

DIW kann keinen Interessen- vorschriften sowie Bußgelder
konflikt erkennen: Das Insti- nach deutschem Vorbild an.
tut habe nur die Vorgaben Facebook-Chef Mark Zucker-
des Kunden SPD durchge- berg soll bereits besorgt Isra-
rechnet, eigene Ideen nicht els Premier Benjamin Netan-
eingespeist, erklärte eine yahu in der Sache angerufen
Sprecherin auf Anfrage. rei haben. fab, rom Menschenkette vor Atomkraftwerk Tihange

24 DER SPIEGEL 27 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
 Deutschland
Afghanistan sogar bekannt, dass für den
BND warnte Anschlag ein Entsorgungs-
vor Anschlag Lkw benutzt werden sollte.
Der BND hatte daraufhin die
Der Bundesnachrichtendienst deutsche Botschaft gedrängt,
(BND) hat vor dem Bomben- das Hauptgebäude zu evaku-
anschlag auf das Diplomaten- ieren. Dieses wurde durch
viertel in der afghanischen die Explosion erheblich be-
Hauptstadt Kabul mehrmals schädigt. Hätten die Diploma-
Deutschen gerichtet: Der Fah-
rer des Abwasser-Lkw hatte
gefälschte Papiere dabei, die
auf die deutsche Botschaft
ausgestellt waren. Weil sein
Auftrag nicht im Logbuch der
Sicherheitsleute eingetragen
war, wurde er zunächst nicht
eingelassen. Daraufhin zün-

gewarnt, zuletzt fünf Tage
vor dem Attentat. Wie aus Si-
cherheitskreisen verlautet,
war dem Nachrichtendienst
RAHMAT GUL / AP
ten dort gearbeitet, wären
vermutlich viele von ihnen
gestorben. Der Anschlag war
Botschaft in Kabul nach Anschlag offenbar gezielt gegen die
dete er die zehn Tonnen
Sprengstoff vor der Schranke.
Mehr als 150 Menschen star-
ben. kno, mgb

Betriebsräte Brexit ge vertrauliche Papier der EU unter EU-Recht müssten die

Seit’ an Seit’ EU fordert Garantie enthält weitere Kritik. So dort schon lebenden Verwand-
für mehr Geld von Großbritannien könnten EU-Bürger, die in
Großbritannien leben, ihre
ten dann ein Mindesteinkom-
men nachweisen. Auch der
Die Sozialdemokraten wollen Die Europäische Union fürch- Rechte künftig nicht vor dem Stichtag, ab dem neue Regeln
am umstrittenen Vorstoß zur tet, dass EU-Bürger die Rech- Europäischen Gerichtshof ein- gelten sollen, sorgt für Streit.
besseren Bezahlung von te, die ihnen Großbritannien klagen. Unklar sei zudem, für Während die EU auf das Da-
Betriebsräten festhalten. In in den Brexit-Verhandlungen welchen Personenkreis das bri- tum des Brexit drängt, also
einer internen Runde sagte zugesteht, später wieder ver- tische Angebot gelte: Unbe- Ende März 2019, wollen die
Bundesarbeitsministerin An- lieren könnten. Es fehle an ei- friedigend sei beispielsweise Briten den Stichtag womög-
drea Nahles: „Wir brauchen ner „lebenslang gültigen Ga- der Status der Familienange- lich früher ansetzen. Derzeit
eine klare gesetzliche Rege- rantie“ der Rechte, heißt es in hörigen von EU-Bürgern, die leben etwa 3,2 Millionen Bür-
lung in der nächsten Legisla- einer ersten Einschätzung der in Großbritannien leben wol- ger aus anderen EU-Staaten in
turperiode.“ Sie hatte einen britischen Vorschläge, die Pre- len. Für sie sollen künftig die Großbritannien. Die nächste
Entwurf zur Änderung des mierministerin Theresa May üblichen britischen Immigra- Verhandlungsrunde soll am 17.
Betriebsverfassungsgesetzes vorgestellt hatte. Das achtseiti- tionsregeln gelten, anders als Juli beginnen. mp
vorgelegt: Bei der Bezahlung
von Betriebsräten sollten
„Qualifikationen und Erfah-
rungen“ aus ihrem Amt be-
rücksichtigt werden können.
Damit wäre eine höhere Ver-
gütung möglich. Auch in der
SPD-Bundestagsfraktion hält
man die Initiative weiterhin
für sinnvoll. Die Unionsspitze
stellte sich hingegen nach
massivem Druck der Arbeit-
geberverbände dagegen. Vor
allem IG Metall und Automo-
bilkonzerne hatten auf die
Neuregelung gedrängt, wie
aus internen Schreiben der
Unions-Bundestagsfraktion
hervorgeht. Kritiker sprechen
von einer „Lex Osterloh“:
VW-Betriebsratschef Bernd
Osterloh hatte Empörung aus-
gelöst, da er nach eigenen
Angaben eine jährliche Ge-
samtvergütung von bis zu
750 000 Euro erhalten haben
soll. Die Staatsanwaltschaft
Braunschweig ermittelt des-
STEPHEN LOCK / POLARIS / LAIF

halb gegen VW-Personalver-

antwortliche. Im Arbeitsmi-
nisterium heißt es, die Pla-
nungen für die Gesetzesände-
rung stammten bereits aus Queen Elizabeth II. im englischen Slough
dem Jahr 2015. ama, cos, mad

DER SPIEGEL 27 / 2017 25

 Deutschland
Gettorenten
Mehr Hilfen
für Roma
Nach jahrelanger Debatte
wird eine wesentliche Rege-
lungslücke des Gettorenten-
gesetzes geschlossen. Wer in
den Gettos der Nationalso-
zialisten arbeiten musste, hat
einen Anspruch auf eine ge-
setzliche Rente. Vielen Ver-
folgten blieb diese „Getto-
rente“ allerdings verwehrt,
weil sie bürokratische Vo-
raussetzungen nicht erfüllten.
Dazu zählt eine fünfjährige
Mindestversicherungszeit in
der Rentenkasse, die vor al-
lem betroffene Roma aus
Osteuropa nicht erreichen.
Die Opfer sollen nun einen
einmaligen „Rentenersatzzu-
schlag“ von 1500 Euro erhal-
ten. Er soll den „hochbetag-
ten und oft sehr armen Men-
schen schnell und unbürokra-
tisch“ helfen, wie es in einem
fraktionsübergreifenden Pa-
pier der Bundestags-Sozial-
experten heißt. Das Kabinett
hat der Neufassung der ent-
sprechenden Richtlinie be-
reits zugestimmt. Das Bun-
desministerium für Arbeit
und Soziales geht von 1380
Betroffenen aus. Die Kosten
des Zuschlags werden auf
1,4 Millionen Euro geschätzt.
Die Bundesregierung will
über das Auswärtige Amt
und eine Website über das
Angebot informieren. cos
G-20-Gipfel I
Brandsätze am Auto den Ermittlern Beweismittel
Am vorigen Sonntag drei an- einer Mobilen Kontroll- und
gezündete Wagen der Bun-
despolizei in Flensburg, zwei Einsatz aus Leipzig zurück-
bei der Autobahnpolizei in
Leipzig, Anfang Juni ein aus- fällig unter sechs Autos
gebranntes Zivilfahr-
zeug der Polizei in
Bremen, und schon
im März acht durch
Feuer zerstörte oder
beschädigte Polizei-
wagen in Hamburg –
vor dem G-20-Gipfel
werden Polizeifahr-
zeuge offenbar zu
bevorzugten Zielen
der linksextremen Brandsatz
26 DER SPIEGEL 27 / 2017
Müllwerker in Hannover
Kommunen
Kampf um den Müll
Die deutschen Kommunen
entsorgen ihren Müll öfter
wieder selbst, statt Privatun-
ternehmen damit zu beauf-
tragen. Laut einer Studie des
Bundesverbandes der Deut-
schen Entsorgungswirtschaft
haben sich die Umsätze kom-
munaler Unternehmen zwi-
schen 2004 und 2014 nahezu
verdoppelt, auf 314 Milliar-
den Euro; die Müllabfuhr
habe daran einen wesentli-
chen Anteil. In Sachsen-An-
halt entsorgen kommunale
Unternehmen drei Viertel
Szene. In Chemnitz fielen
in die Hände: Als Polizisten
Überwachungseinheit vom
kehrten, entdeckten sie zu-
Brandsätze, die
nicht gezündet hat-
ten. Die Flüssigkeit
war in Halbliter-
Plastikflaschen mit
Zündvorrichtung ab-
gefüllt. Der Staats-
schutz in Sachsen
ermittelt; zu mögli-
chen Spuren will er
keine Angaben ma-
chen. amp
Integration
Ankaras Moscheen
Die Zweifel an der Unabhän-
gigkeit der Ortsvereine der
türkischen Moscheenvereini-
gung Ditib wachsen. „Alles
ist auf eine zentrale Steue-
rung durch Ankaras Auf-
tragsverwaltung in Köln und
durch die Religionsattachés
in Botschaften und Konsula-
ten ausgerichtet“, sagt Vol-
ker Beck, Sprecher der Grü-
nen im Bundestag für Religi-
onspolitik. Die Ortsvereine
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA
kontrollierten weder ihre
Imame, noch gehörten ihnen
ihre Moscheegebäude. Das
belegen Grundbucheinträge
von zehn exemplarisch aus-
gewählten Ditib-Moscheen.
In acht Fällen gehört das
Grundstück der Ditib-Zen-
des gesamten Hausmülls, trale in Köln, in einem Fall
2001 war es noch weniger als der türkischen Regierung
die Hälfte. Das beunruhigt und in nur einem Fall dem
die privaten Entsorgungsfir- Ortsverein selbst. Das sei
men, die bundesweit rund 50 zwar nicht rechtswidrig, al-
Prozent des Hausmülls ein- lerdings seien die „wissen-
sammeln. Sie gründeten ein schaftlichen Gutachten zum
Bündnis gegen die angebli- Rechtsstatus der Ditib in den
che „Bevorzugung von Kom- Ländern somit Makulatur“,
munalunternehmen“ und meint Beck. Hessen etwa
wollen erreichen, dass auch hatte der Ditib den Status ei-
kommunale Müllentsorger ner Religionsgemeinschaft
künftig Umsatzsteuer zahlen zuerkannt, nachdem ein
müssen. Städtische Betriebe Gutachten dem Landesver-
sind davon befreit, wie der band bescheinigt hatte, sat-
Bundesfinanzhof wiederholt zungsmäßig unabhängig zu
bestätigt hat. Nun prüfen die sein. Ditib-Imame sollen für
privaten Entsorger eine Kla- den türkischen Staat spio-
ge in Brüssel. was niert haben. csc, elg
G-20-Gipfel II fen der Staats- und Regie-
Extremisten sollen rungschefs am kommenden
fernbleiben Wochenende wird es dem-
nach gezielte „Gefährder-
Die Sicherheitsbehörden von ansprachen“ geben; zudem
Bund und Ländern wollen sollen Meldeauflagen und
verhindern, dass gewaltberei- Betretungsverbote verhängt
te Extremisten zum G-20- werden. Besprochen wurden
Gipfel nach Hamburg reisen. auch Observationsmaßnah-
In den vergangenen Wochen men und Telefonüberwa-
hat sich das Gemeinsame Ex- chungen. Obwohl es bislang
tremismus- und Terrorismus- keine Hinweise auf Anschlä-
abwehrzentrum (GETZ) in ge oder eine Mobilisierung in
Köln mehrmals mit einschlä- der islamistischen Szene an-
gig bekannten Linksautono- lässlich des G-20-Treffens
men und Rechtsradikalen gebe, „werden wir in Einzel-
beschäftigt. Polizei und Ver- fällen auch dort die Überwa-
fassungsschutzämter verab- chungsmaßnahmen hochfah-
redeten eine Reihe von Maß- ren“, sagt ein Sicherheits-
nahmen. Kurz vor dem Tref- beamter. gud
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^V0(>ųōĚŝšœŋĴōğōŭğōwğĬĬğĨČıšŭğō Haus. Ich lese also eine Ausgabe gratis. Mein Abo beginnt
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p 040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SB17-004)
 Szenen einer Ehe
Gleichberechtigung Mit einem verunglückten
Talk-Auftritt hat Angela Merkel den Weg
für die „Ehe für alle“ geebnet. Das Manöver offenbart
den verdrucksten Führungsstil der Kanzlerin
und befeuert die Debatte, ob die traditionelle Ehe
überhaupt noch zeitgemäß ist.

ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES

CDU-Chefin Merkel

28 DER SPIEGEL 27 / 2017

 Deutschland

W
ie findet Angela Merkel heraus, gegangen, steckten die Sozialdemokraten lemma befreien kann. Gewissensfreiheit
was eine Gewissensfrage ist? die Köpfe zusammen und beschlossen, im ist für Merkel eine politische Frage.
Vergangenen Samstag saß sie mit Bundestag über die Ehe abzustimmen. Das Die Union ist beim Thema Ehe einen
Horst Seehofer im Konrad-Adenauer-Haus. Votum war für Freitagmorgen angesetzt – weiten Weg gegangen: Noch 2002 setzte
Es war der Morgen einer zweitägigen Klau- und damit nach Redaktionsschluss des die katholische Kirche Kanzlerkandidat
sur, schon den ganzen Freitag hatten die SPIEGEL. Edmund Stoiber unter Druck, sein Kom-
Spitzen der Union das Programm für die Merkel hat sich noch nie darum bemüht, petenzteam umzubauen und der unver-
Bundestagswahl besprochen. Seehofer hat- ihre Kehrtwenden zu begründen, sie stol- heirateten Katherina Reiche die Zustän-
te dafür eigens vier Mitstreiter aus Mün- perte immer mehr, als dass sie entschied. digkeit für Familienpolitik zu entziehen.
chen mitgebracht. Als die Kanzlerin ihr Kabinett im Sommer Auch Merkel lehnte über Jahre die voll-
An diesem Morgen aber wollte Merkel 2010 zu einer Sparklausur lud, wurden ständige Gleichstellung von Schwulen und
die verbliebenen heiklen Fragen mit See- nicht nur Milliarden gestrichen, sondern Lesben ab.
hofer unter vier Augen bereden. Die bei- am Ende auch die Wehrpflicht. 48 Stunden Das Adoptionsrecht? „Die CDU wird
den frühstückten in Merkels Büro im sechs- nach dem Reaktorunglück von Fukushima das nicht von sich aus tun“, erklärte sie
ten Stock der Parteizentrale. Bald kam das verlor Merkel ihr Vertrauen in die Atom- im Jahr 2013. Sie „tue sich einfach schwer“
Thema auf die Forderung, die Ehe auch energie, ganz so, als wäre es eine neue Er- mit dieser Vorstellung. Noch Mitte 2015
für Schwule und Lesben zu öffnen.
Die Sache ist delikat, das war beiden
klar. Einerseits ist das Nein zu gleichge-
„Für mich ist die Ehe das Zusammenleben von Mann
schlechtlichen Ehen das letzte ideologische und Frau“, sagte Merkel noch Mitte 2015.
Feuerchen, an dem sich konservative
Unionswähler wärmen können. Es gab Zei- kenntnis, dass Reaktoren auch mal in die sagte sie: „Für mich persönlich ist Ehe das
ten, da hat Merkel die Idee noch als „ge- Luft fliegen können. Zusammenleben von Mann und Frau.“
sellschaftspolitischen Irrweg“ bezeichnet, Das hatte den Vorteil, dass sie wie eine Dass Merkel nun einknickt, geht vor al-
aber das ist schon 17 Jahre her. Reformerin wider Willen wirkte; sie konn- lem auf einen Mann zurück: den Grünen-
Inzwischen kennt Merkel die Umfragen, te vor die Konservativen in ihrer Partei Politiker Volker Beck. Der hatte beim Par-
wonach mehr als zwei Drittel der Deut- treten und erklären, dass sie leider von teitag der Grünen vor zwei Wochen per
schen es für eine Schrulle halten, dass die den Zwängen des Moments zu einer Kurs- Änderungsantrag gefordert, die „Ehe für
Ehe nur zwischen Mann und Frau geschlos- änderung genötigt wurde. Nun aber räumt alle“ zur Koalitionsbedingung zu machen.
sen werden darf. Selbst Seehofers älteste sie den letzten Posten, den die Traditiona- Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir,
Tochter Ulrike, die in Berlin arbeitet und listen in der Union noch gehalten hatten. Spitzenkandidaten für die Bundestags-
vor zwei Wochen zu Besuch bei ihren El- Etliche fragen sich, warum sie einer Kanz- wahl, sind zwar für die Ehe für alle, trauten
tern in Ingolstadt war, fragte ihren Vater, lerin folgen sollen, wenn die am Ende im- sich aber nicht, rote Linien zu ziehen.
warum die CSU so rückwärtsgewandt sei. mer nur das umsetzt, was Grüne und SPD Bis in die Nacht des Parteitags pilgerten
Als Seehofer anfing, von der natürlichen schon immer wollten. prominente Grüne zu Beck, versuchten ihn
Ordnung zwischen Mann und Frau zu re- Das CDU-Urgestein Wolfgang Bosbach zu überreden, den Antrag noch zurück-
den, hob sie die Augenbrauen. bemerkte in der Fraktionssitzung am Diens- zuziehen. Doch Beck weigerte sich, und
Was also tun? tag spitz, es wäre schön gewesen, wenn am Ende setzte er sich durch. Genau eine
Merkel hätte vorschlagen können, dass auch die Eurorettung von Merkel zur Ge- Woche später folgte die FDP. Parteichef
die Union sich öffentlich zu ihrer Kehrt- wissensfrage erklärt worden wäre. Tatsäch- Christian Lindner twitterte: „Ich werde
wende bekennt, das wäre mutig gewesen, lich war jedem im Saal klar, dass Merkel meiner Partei empfehlen, die #Ehefüralle
ein Statement, dass sich Deutschland wan- nur deshalb so großzügig war, weil sie sich als Koalitionsbedingung für die #btw17 fest-
delt und mit ihm CDU und CSU. Aber die auf diese Weise aus einem politischen Di- zuschreiben“. Keine 24 Stunden später zog
beiden wählten die verdruckste Va- Martin Schulz auf dem SPD-Partei-
riante: Der Begriff „Ehe für alle“ tag nach. Damit war für Merkel klar:
soll im Wahlprogramm der Union Familienglück Sie muss sich bewegen, wenn sie
gar nicht vorkommen. Und falls je- gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt* nach der Wahl einen Koalitionspart-
mand in der Pressekonferenz die eingetragene Partnerschaft** ner finden will.
beiden Parteivorsitzenden danach keine Anerkennung Intern hat Merkel die neue Linie
fragen sollte, würde Merkel sagen, gemeinsames Adoptionsrecht vor ihrem Auftritt am Montag mehr-
die Sache sei eine „Gewissensent- fach getestet. Am Sonntagabend bei
scheidung“ für die Abgeordneten – einer Sitzung der Fraktionsvorsit-
allerdings erst in der nächsten Le- zenden von CDU und CSU im Ber-
gislaturperiode. liner Restaurant Il Punto ebenso
Doch der Plan misslang gründ- wie im CDU-Vorstand am Montag
lich, und so nahm eine Woche ihren DEUTSCH- in Berlin. CSU-Chef Seehofer sagte
Lauf, in der die ganze Hasenherzig- LAND am Montag sogar öffentlich, dass die
keit von Merkels Regierungsstil Ehe für alle seiner Meinung nach
offensichtlich wurde. Weil Merkel eine persönliche Entscheidung der
bei einer Veranstaltung der Zeit- Abgeordneten sei. Aber beide Par-
schrift „Brigitte“ eine gewundene teichefs dachten dabei an die ferne
Erklärung abgab, aus der eine auf- Zukunft, nicht an die letzte Woche
merksame dpa-Journalistin eine der Legislatur. Erst der „Brigitte“-
spitze Eilmeldung machte, verwan- Talk und die anschließende Eilmel-
delte sich Vorsicht in ein Debakel. dung brachten die Dinge ins Rollen.
* in GB regionale Ausnahmen
Kaum war die Nachricht von Mer- **z. T. mit eingeschränkten Rechten SPD-Kanzlerkandidat Martin
kels Kehrtwende über die Ticker Quelle: ILGA Europe, Stand 2017 Schulz erreichte die Nachricht von
DER SPIEGEL 27 / 2017 29
Deutschland

Merkels unfreiwilliger Offerte am späten

Abend in seinem Apartment. Fraktions-
chef Thomas Oppermann informierte ihn.
Der benachrichtigte auch Außenminister
Sigmar Gabriel, der sich auf dem Heimweg
nach Goslar befand. Das Trio war sich
einig: Der Kanzlerin war ein Fehler unter-
laufen, und den galt es zu nutzen. Merkel
hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ah-
nung, was auf sie zukommen würde. Ge-
gen halb elf abends telefonierte sie mit
Seehofer. Die Sätze aus dem „Brigitte“-
Talk erwähnte sie mit keinem Wort.
Am Dienstagmorgen trieb das Willy-
Brandt-Haus in aller Eile einen Mitschnitt
der Merkel-Äußerung auf. Für den Vormit-
tag hatte Schulz zu einer Pressekonferenz
geladen, um eine Bilanz der SPD-geführ-
ten Ministerien zu ziehen. Fraktionschef
Thomas Oppermann unternahm einen letz-
ten Versuch auf eine einvernehmliche Re-
gelung. Ob die Union einen Gesetzentwurf
in dieser Woche mittragen könne, fragte
er seinen Unionskollegen Volker Kauder.

CHRISTIAN STIEFLER / BABIRADPICTURE

Der antwortete per SMS: „Nein“. Danach
verkündete Schulz, dass die SPD die Ehe
für alle mit den Stimmen von Grünen und
Linkspartei durchsetzen wolle – die Gele-
genheit war einfach zu schön.
Auf den ersten Blick sind es ja vor allem
kirchentreue Unionswähler, die Merkel
verstört. Die katholischen Bischöfe jeden-
falls hat die Kanzlerin wieder mal gegen
sich aufgebracht. „Schon der Schöpfungs-
bericht des Alten Testaments reflektiert
die geschlechtliche Differenz als die von
Gott gewollte soziale Urzelle der Weiter-
gabe von Leben“, sagte der Berliner Erz-
bischof Heiner Koch. Auch Reinhard Marx,
der Vorsitzende der Bischofskonferenz,
wandte sich gegen die Ehe für alle.
Auch konservative CDU-Abgeordnete
wie Veronika Bellmann aus Sachsen sind
überzeugt: „Die Menschen haben das
Gefühl, dass Beliebigkeit und grenzenlose
Toleranz die letzten verbindlichen Werte
darstellen.“ Fraktionsvize Franz Josef
Jung sagt: „Die Union hat immer Nein zur
Ehe für alle gesagt. Für mich bleibt es auch
dabei.“
Auch wer in sozialen Medien nachliest,
bekommt Zweifel, ob das Land so liberal
ist, wie es oberflächlich scheint. 4400
Facebook-Likes erntete AfD-Spitzenkan-
didat Alexander Gauland für seinen
Spruch: „Die Ehe für alle macht gesell-
schaftlich keinen Sinn.“
Doch was sagt das aus? Schon die deut-
schen Protestanten legen die Bibel hier
nicht so eng aus wie die katholische Amts-
kirche, und je weiter man in der Kirchen-
hierarchie nach unten geht, umso offener
wird über die Ehe für alle gesprochen.
Wenn zwei Menschen in Treue zusammen-
lebten, hätten sie Anspruch auf den Schutz
des Staates, sagt Katharina Norpoth, Vor-
sitzende des Bundes der Deutschen Katho-
30 DER SPIEGEL 27 / 2017
CSU-Chef Seehofer mit Familie*: Debatten am Frühstückstisch
lischen Jugend. „Daher fordern wir die
vollständige rechtliche Gleichstellung he-
tero- und homosexueller Paare.“
Die CDU-Abgeordnete Anita Schäfer
ist gläubige Katholikin und will dennoch
für die Öffnung der Ehe stimmen: „Jesus
Christus lehrt uns Nächstenliebe und dass
alle Menschen vor Gott gleich sind.“ Mar-
kus Gutfleisch war als katholischer Theo-
logiestudent auf dem Weg zum Priester,
als er sich als homosexuell outete. Heute
ist er Sprecher der „Ökumenischen Ar-
beitsgruppe Homosexuelle und Kirche“
und kann Politiker wie Kauder oder die
Bischöfe nicht verstehen. „Sie sind im
Abseits, denn sie verweigern sich den
heutigen theologischen Sichtweisen und
klammern sich an das veraltete Ehe- und
Familienbild der Fünfzigerjahre, als Zehn-
tausende Homosexuelle noch ins Gefäng-
nis kamen.“
Als CSU-Chef Seehofer einem seiner
Minister erzählte, wie wenig Verständnis
seine Tochter für die Haltung der CSU
habe, sagte der: „Meinst du, bei meinen
Kindern ist das anders?“
Selbst die AfD tut sich schwer, gegen
Merkels Wende zu opponieren. „Die Ehe
ist eine grundgesetzlich geschützte Institu-
* Tochter Susanne, Ehefrau Karin und Tochter Ulrike
beim Neujahrsempfang des bayerischen Ministerpräsi-
denten im Januar.
tion, an der wir aus sehr guten Gründen
nicht rütteln wollen und werden“, erklärte
zwar Parteichefin Frauke Petry. Aber eine
Frau, die einen protestantischen Pfarrer
heiratet, mit ihm vier Kinder bekommt
und anschließend mit einem Parteifreund
durchbrennt, taugt kaum als konservative
Ikone. Auch die Spitzenkandidaten Alice
Weidel führt ein Leben, das so im Grund-
satzprogramm der AfD nicht vorgesehen
ist. Sie liebt eine Frau aus Sri Lanka und
zieht mit ihr zwei Söhne groß.
Bei Lichte betrachtet ist die Ehe für alle
vor allem ein Symbol. Seit die rot-grüne
Regierung im Jahr 2001 eingetragene Le-
benspartnerschaften ermöglichte, wurden
schwulen und lesbischen Paaren nach und
nach fast alle Privilegien der Ehe einge-
räumt. Neu gewährt wird nun wohl nur
das Adoptionsrecht – wobei es keinesfalls
ausgemacht ist, dass der Kinderwunsch er-
füllt werden kann. Nur 3800 Kinder wur-
den im Jahr 2015 adoptiert, bei Weitem
nicht jedes Paar mit Kinderwunsch kam
zum Zug.
Verfassungsrechtlich ist die Öffnung der
Ehe eine gewagte Operation. Artikel 6 des
Grundgesetzes stellt die Ehe unter den „be-
sonderen Schutz der staatlichen Ordnung“
– und man darf bezweifeln, dass die Väter
und Mütter des Grundgesetzes an andere
Modelle als die Partnerschaft von Mann
und Frau dachten.
 Das Bundesverfassungsgericht hat in der
Vergangenheit kaum Zweifel daran gelas-
sen, dass eine Ehe für alle ohne Grund-
gesetzänderung verfassungswidrig wäre.
Zwar hat Karlsruhe seit 2002 mit einer Rei-
he von Urteilen dafür gesorgt, dass Ehen
und Lebenspartnerschaften immer weiter
angeglichen wurden. Doch dabei betonten
die Richter stets, dass eine Ehe im Sinne
des Grundgesetzes nur die „Vereinigung
eines Mannes mit einer Frau zu einer auf
Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist“.
Dass sich der Zeitgeist gewandelt habe,
ändere dieses Verfassungsverständnis nicht,
sagt der frühere Verfassungsgerichtspräsi-
dent Hans-Jürgen Papier. „Wenn man die
Ehe öffnen will, muss man das Grundge-
setz ändern. Das kann der einfache Ge-
setzgeber nicht machen.“
Offiziell sieht es sogar die Große Koali-
tion so: 2015 antwortete die Bundesregie-
rung auf eine Anfrage der Grünen, dass
die „Öffnung der Ehe für Paare gleichen
Geschlechts eine Änderung des Grund-
gesetzes … voraussetzen“ würde. Feder-
führend für die Antwort war damals das
Justizministerium von Heiko Maas (SPD).
Der vertritt inzwischen die Auffassung,
eine Grundgesetzänderung sei überflüssig.
Die Diskussion über die Ehe ist jeden-
falls noch lange nicht am Ende. Die Grünen
fordern in ihrem Wahlprogramm schon ei-
nen „Pakt für das Zusammenleben“, den
etwa zwei Freundinnen schließen könnten,
die im Alter füreinander sorgen. Der Nach-
wuchs der Partei, die sich als Avantgarde
der gesellschaftlichen Modernisierung sieht,
will noch radikaler herangehen. „Familien
verdienen staatlichen Schutz, nicht die
Ehe“, hat die Grüne Jugend beschlossen.
Bundessprecherin Jamila Schäfer kann
sich einen „Familienvertrag“ vorstellen,
der Patchwork-Familien die Möglichkeit
gäbe, „ihren Familien einen rechtlichen
Rahmen zu geben – unabhängig vom kon-
kreten Modell“. Das können Freunde sein,
die gemeinsam Kinder großziehen, ohne
Liebesbeziehung. Oder Menschen, die
„polyamor“ leben, also gleichzeitig meh-
rere Beziehungen führen.
Es wäre das endgültige Aus für die Ehe,
wie Konrad Adenauer sie kannte, Schäfer
weiß das. Sie habe die Befürchtung, dass
ihre Ideen „bornierter Spießigkeit“ zum
Opfer fallen werden, seufzt sie.
Andererseits: Angela Merkel hat oft ge-
nug bewiesen, dass sie Dinge möglich
macht, die noch vor Kurzem unvorstellbar
schienen.
Melanie Amann, Maik Großekathöfer, Dietmar Hipp,
Horand Knaup, Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch,
René Pfister, Peter Wensierski
Lesen Sie auch
Seite 64 SPIEGEL-Gespräch über die
Auswirkungen der Ehe für alle auf Kinder
und die Rolle moderner Väter
Einwurf
Doppelmoral für alle
Warum die Ehe noch nicht abgeschafft gehört
A
ls das Bundesverfassungsgericht vor vier Jahren das Ehegat-
tensplitting auch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichte,
habe ich eine bemerkenswerte Debatte erlebt. Das Ehegat-
tensplitting sei ein überholtes Instrument, sagten mir Gesprächs-
partner. Nicht die Ehe solle vom Staat steuerlich gefördert werden,
sondern das Aufziehen von Kindern. Deshalb solle man das Ehe-
gatten- durch ein Familiensplitting ersetzen.
Bis zu jenem Tag hatte ich dieses Argument von ihnen noch nie
gehört. Nun war es auf einmal sehr wichtig. Bei mir kam es so an:
Bevor Schwule und Lesben in den Genuss dieses Steuervorteils
kommen, schaffen wir ihn in dieser Form lieber ganz ab.
Wenig später erklärte Angela Merkel im Wahlkampf 2013, der
Gedanke an eine Ehe für alle mache ihr Bauchschmerzen. Sie
fürchte um das Wohl potenzieller Adoptivkinder. Dass es dafür kei-
nerlei wissenschaftliche Belege gibt, sagte sie nicht. Meine hetero-
sexuellen Freunde haben beim Abendessen über sie gewitzelt.
Aber auch die Frage gestellt, was am Lebenspartnerschaftsgesetz
denn so verwerflich sei: Habt „ihr“, die Lesben und Schwulen,
nicht ohnehin schon alles erreicht, ist die Gleichberechtigung fak-
tisch nicht längst gegeben?
In dieser Woche war das Thema wieder da. Anders als vor vier
Jahren zeichnete sich eine parlamentarische Mehrheit für die Ehe
für alle ab. Prompt bekam ich in Diskussionen zu hören, die Ehe
sei ein aus der Zeit gefallenes Konstrukt und gehöre am besten ab-
geschafft. Das kam übrigens von Freunden, die seit Jahren verheira-
tet sind.
Ich habe für solche Thesen und Forderungen größte Sympathie
und bin immer gerne dabei, wenn es darum geht, verstaubte Tradi-
tionen zu entsorgen. Das würde nicht zuletzt, was mir gefiele, kon-
servativen Parteivorsitzenden das Leben erleich-
tern. Sie müssten sich dann nicht länger verbie-
Wie schön und gen und erklären, warum sie ein uneheliches
Kind zeugten, monatelang öffentlich zwischen
gerecht wäre es, Geliebter und Ehefrau schwankten – und ihre
wenn die freie Pressestelle jetzt in hohem Ton die Ehe von
Mann und Frau verteidigen lassen.
Liebe nicht Auch die Kanzlerin müsste nicht mehr über die
Debatte „traurig“ sein. Es würden sich, Gott sei
nur Parteichefs Dank, zudem keine Fragen mehr stellen, warum
erfreute. sie viele Jahre lang in wilder Ehe gelebt hat und
ihren Lover erst Ende 1998 heiratete – nur weni-
ge Wochen nachdem sie zur CDU-Generalsekre-
tärin aufgestiegen war und den Parteivorsitz und das Kanzleramt in
den Blick nehmen durfte. Wie schön und gerecht wäre es, wenn die
freie Liebe nicht nur Parteichefs erfreute, sondern auch einfache
Unionsmitglieder. Ich glaube, die „Auflösung der gesellschaftlichen
Ordnung“, vor der sich prominente CSU-Männer gerade fürchten,
wäre dann gar nicht so schlimm.
Das Instrument der Doppelmoral sollte in dieser Frage aber allen
Bürgern zur Verfügung stehen. Oder keinem. Das Abschaffen über-
kommener Gebräuche kann man diskutieren, da bin ich ganz bei
den Ehegegnern unter meinen Freunden. Doch derartige Gedanken-
spiele fallen leichter, wenn man im Vollbesitz aller Rechte und Mög-
lichkeiten ist. In Sicherheit und Geborgenheit, und diese Qualitäten
bietet eine gelungene Ehe bekanntlich, sprießen revolutionäre Ideen
am besten. Warum nicht also erst mal die völlige Gleichberech-
tigung herstellen – und dann gemeinsam an alten Zöpfen säbeln?
Frank Hornig
DER SPIEGEL 27 / 2017 31

CDU-Politiker Spahn: „Nicht jede andere Kultur ist eine Bereicherung“
Tapferkeit vor dem Freund
Union Jens Spahn hat sich als konservativer Gegenspieler von Angela Merkel in der CDU
etabliert. Karriere kann er nur machen, wenn die Kanzlerin abtritt. Von Ralf Neukirch
M
achen Sie klar, dass wir wieder
ein bisschen konservativer sind“,
sagt der CDU-Ortsvorsitzende zu
Jens Spahn. „Im letzten Jahr war der Bos-
bach hier, das war gut.“ Spahn schlingt
eine Portion Potthast hinunter, einen west-
fälischen Rindereintopf. „Das ist hier Wirt-
schaft, oder?“, fragt er. „Rentner“, sagt
der Ortsvorsitzende.“ „Gut, gehen wir
rein“, sagt Spahn. Rentner kann er auch.
Im Saal der Gaststätte in Cappenberg
bei Dortmund sind etwa 50 ältere Damen
und Herren versammelt. Spahn hat für sol-
che Termine seinen Standardvortrag. „Wir
sollten auch mal sagen, wie gut es uns
geht“, sagt er und zählt auf: Niedrige Ar-
beitslosigkeit, die höchste Rentensteige-
rung seit Jahren, „jeden Tag steigt die Le-
benserwartung um sechs Stunden“. Das
Leben könnte so schön sein.
Aber es gibt auch das dunkle Deutsch-
land. Spahn wird ernst. Er redet über die
Probleme mit Migranten am Kölner Haupt-
bahnhof, über islamische Mädchen, die nicht
32 DER SPIEGEL 27 / 2017
am Schwimmunterricht teilnehmen dürfen
und über den Grünen-Bundestagsabgeord-
neten Volker Beck, der gesagt habe: „Wenn
du in deiner Straße nur noch Arabisch hörst,
dann musst du eben Arabisch lernen.“ Das
Publikum zischt vor Empörung.
Ganz so hat Beck das nicht gesagt, aber
darauf kommt es Spahn nicht an. Er hat
die Zuhörer jetzt, er kann es sich sogar
leisten, ein paar differenzierte Sätze zur
Zuwanderung zu sagen. Er muss nicht
überziehen, das Publikum weiß, wo er
steht. Es dankt ihm mit langem Applaus.
Der Ortsvorsitzende ist zufrieden.
Spahn steigt in seinen dunklen Dienst-
BMW. Er ist in diesem Jahr viel unterwegs,
drei Landtagswahlkämpfe hat er hinter
sich, bald ist Bundestagswahl. Er hat jede
Menge Anfragen von Kollegen, die ihn für
Auftritte im Wahlkreis gewinnen möchten.
Es gibt nicht viele CDU-Politiker, die so
viel Publikum anziehen.
Spahn ist 37 Jahre alt und Parlamenta-
rischer Staatssekretär im Bundesfinanz-
CHRISTIAN THIEL / IMAGO
ministerium. Dass ihm das nicht reicht,
daran zweifelt keiner, der ihn kennt. Frak-
tionschef, Minister und eines Tages viel-
leicht Kanzler, das ist die Perspektive.
Ganz unrealistisch ist das nicht.
Klar ist aber auch, dass Spahn unter An-
gela Merkel keine Karriere mehr machen
wird. Dazu hat er sich zu offen gegen ihren
Kurs gestellt. Sie wird ihn nicht fördern,
sondern vom Zentrum der Macht fern-
halten. Sein Aufstieg kann erst beginnen,
wenn ihre Ära endet.
Er ist jetzt die Führungsfigur all derjeni-
gen, die sich eine andere CDU wünschen,
konservativ, polarisierend. Spahn ist
schwul, aber gerade das schützt ihn vor
dem Vorwurf, ein rechter Hardliner zu
sein. Am Freitag wollte er für die Ehe für
alle im Bundestag stimmen.
Wenn Merkel abtritt, will er vorbereitet
sein. Das ist seine Wette auf die Zukunft.
Kann das klappen?
Spahn sitzt im Café Alex in der Dort-
munder Innenstadt und tippt Nachrichten
 Deutschland

in sein Handy. Er kennt die Ecke gut, er schaftsliberalen Positionen gehörte Spahn stehe die Vorstellung, dass man füreinan-
hat sich hier als Jugendlicher häufig mit zu einer Minderheit. Jetzt sieht er sich als der Verantwortung übernehme, sagt er.
einem Freund getroffen. In einer Groß- Sprecher der schweigenden Mehrheit. Was eine sehr traditionelle Vorstellung sei.
stadt wie Dortmund konnte man sich da- „Meine Position ist Mainstream, in der Be- Spahns münsterländischer Konservatis-
mals als junger Schwuler freier bewegen völkerung und in der Union“, sagt er. mus ist in erster Linie eine Abwehrhaltung,
als in Spahns Heimat, der münsterländi- Die Trennung zwischen Islam und Isla- die sich in Abgrenzung zum linksliberalen
schen Provinz. mismus, auf die viele Parteifreunde aus Mainstream definiert. In der Rede, die
Während Spahn SMS beantwortet, geht dem Merkel-Lager Wert legen, interessiert Spahn 1999 als Schülersprecher zur Abitur-
draußen in der Fußgängerzone eine voll- ihn nicht sonderlich. Ihm geht es nicht verleihung hielt, kritisierte er die „grotes-
ständig verschleierte Frau mit einem klei- um Terroristen, ihm geht es um die Reli- ken Ergebnisse und Diskussionen“, zu der
nen Kind an der Hand vorbei. Ihr Gesichts- gion selbst. „Nicht jede andere Kultur ist die Diskrepanz zwischen Ideologie und Re-
schleier, der Nikab, lässt lediglich einen eine Bereicherung“, sagt er. Er erzählt alpolitik der rot-grünen Bundesregierung
Spalt für die Augen frei. Spahn bemerkt vom Fitnessstudio, in dem plötzlich „ara- geführt habe. Er führte das nicht näher aus.
sie nicht, er tippt noch immer. bische Muskelmachos“ in Unterhose Regierungskritik wird es zu der Zeit nicht
Als man ihn auf die Frau aufmerksam duschten. Und wundert sich, dass die- in allzu vielen Abiturreden gegeben haben.
macht, wird er ganz aufgeregt. „Wirklich? jenigen, die früher gegen sexuelle Ver- In dieser Abwehrhaltung liegt für Spahn
Wo?“, fragt er und reckt seinen Hals. Doch klemmtheit gekämpft hätten, ihn heute eine Gefahr. Im Februar hat er der „Bild“-
die Frau ist gerade um eine Ecke ver- kritisierten. Zeitung gesagt, man solle „etwas weniger
schwunden. Spahn ist enttäuscht. „Das hät- Karl Schulte erinnert sich gut an die Zeit, die Sozialleistungen erhöhen in dem ein
te ich denen erzählen können, die behaup- als 1998 Castor-Transporte in Spahns Hei- oder anderen Jahr und mal etwas mehr
ten, Burkas gebe es nur in der Maximi- matstadt Ahaus eintrafen. Die Lokalpoli- auf Verteidigungsausgaben schauen“. Rüs-
lianstraße in München.“ tiker wollten den Atommüll. Kirchen und tung statt Rente – auf solche Aussagen ha-
Spahn war einer der Ersten in der CDU, Bürgerinitiativen riefen zum Protest. „Es ben SPD und Grüne nur gewartet.
der ein sogenanntes Burkaverbot gefordert war eine schlimme Zeit für Ahaus“, sagt In der CDU kam die Äußerung ebenfalls
hat. Er klagte über „Alltagsszenen bei uns Schulte. „Die Stadt war gespalten. Man nicht gut an. „Das ist nicht, was die Mehr-
in Europa, wenn im Hochsommer bei 40 konnte damals nicht unpolitisch sein.“ heit der Deutschen will“, sagte Merkel zu
Grad im Schatten hinter dem Mann in Flip- Schulte, ein bedächtiger Pensionär mit seinen Vorschlägen im Präsidium. „Dann
flops, kurzer Hose und T-Shirt seine kom- gepflegtem Bart und blauer Strickjacke, sollten wir vielleicht dafür kämpfen“, er-
plett verhüllte Frau durch die Stadt läuft“. unterrichtete seinerzeit Sozialwissenschaf- widerte Spahn.
In Dortmund bekommt man den Eindruck, ten an der Bischöflichen Canisiusschule in Das ist vielleicht der größte Unterschied
dass Spahn solche Alltagsszenen nie selbst Ahaus. Spahn war einer seiner Schüler. zu Merkel: Für Spahn ist Politik Kampf,
gesehen hat. Dass das seine Argumenta-
tion angreifbar macht, stört ihn nicht.
„Man darf in Deutschland alles kritisie-
Fraktionschef, Minister und eines Tages vielleicht
ren: Den Papst, den SPIEGEL, aber nicht Kanzler, das ist Spahns Perspektive.
den Islam“, sagt er. Er weiß selbst, dass
dieser Satz Quatsch ist. Aber er kommt „Jens war schon damals ein sehr poli- er sucht die Auseinandersetzung. Mit Mer-
gut an. Spahn ist von der Wucht der anti- tisch denkender Mensch“, sagt Schulte. kels Konzept der asymmetrischen Demo-
islamischen Ressentiments in der Bevölke- Spahn engagierte sich im Streit um die Cas- bilisierung, das vor allem darauf setzt, den
rung fasziniert. Er ist geschickt darin, sich toren. Er war für die Lagerung in Ahaus. Gegner einzuschläfern, kann er nichts an-
diese Stimmungen nutzbar zu machen. Er erzählt gern, dass er über den Protest fangen. Je stärker sich die anderen provo-
Übertreibt er mit seiner Kritik am Islam zur Politik gekommen sei, weil linke Leh- ziert fühlen, desto besser. „Durch leiden-
nicht etwas? „Sie müssten sich als Hetero rer ihn aufgefordert hätten, gegen die schaftliche Debatten entsteht eine emotio-
in einem islamistischen Staat ja nur einen Transporte zu demonstrieren. War Herr nale Bindung“, sagt er.
Bart wachsen lassen, wir Schwulen werden Schulte möglicherweise einer dieser Leh- Wie er sich das vorstellt, hat er auf dem
vom Turm gestoßen“, sagt er scherzhaft. rer? „Sagen wir es so“, sagt Schulte, „linke CDU-Parteitag im Dezember gezeigt. Dort
Dann erzählt er, dass er schon mehrfach Lehrer sind an einem bischöflichen Gym- setzte er einen Beschluss gegen die dop-
von jungen Migranten als Schwanzlutscher nasium eher selten.“ pelte Staatsbürgerschaft durch, obwohl
beschimpft worden sei, auch im liberalen Spahns Geschichte ist also nicht ganz er wusste, dass Merkel dagegen war. Die
Berlin. Man weiß nicht, ob das so authen- akkurat. Der ideelle Gehalt aber stimmt: Kanzlerin war so aufgebracht, dass sie ihn
tisch ist wie die Alltagsszenen mit Burka, Spahn ist über den Widerstand zur Politik noch in der Halle zur Rede stellte. Ob er
von denen er erzählt. Aber es stimmt, dass gekommen. Nicht der Widerstand gegen sie beschädigen wolle?
viele islamische Einwanderer Probleme die politischen Verhältnisse, wie bei den Spahn hält sein Verhalten noch immer
mit Schwulen haben. Linken. Bei Spahn war es der Kampf gegen für richtig. Das Thema bewege die Leute,
Man wird dennoch den Verdacht nicht die, die die Verhältnisse ändern wollen. sagt er. Sein Verhältnis zu Merkel ist seit-
los, dass Spahns Engagement gegen den Spahn ist in Ottenstein aufgewachsen, ei- her geklärt. Er kann nur noch auf ihren
Islam auch taktische Gründe hat. Die nem Ortsteil von Ahaus. Das ist eine durch Abgang hoffen.
Flüchtlingskrise hat seiner Karriere neuen und durch bürgerliche Gegend, Mittel- Über Ostern verbrachte Spahn einen Ur-
Schub gegeben. Bis zu deren Beginn war klassewagen stehen vor gepflegten Eigen- laub in den USA. Auf der Rückreise hatte
Spahn ein neoliberaler Gesundheitspoliti- heimen. Ein Mehrfamilienhaus gilt hier als er Gespräche im Weißen Haus. Er ist gut
ker, der wegen seiner Sachkenntnis An- sozialer Brennpunkt. vernetzt, ein befreundeter Investmentban-
erkennung genoss. Aber mit dem Ruf nach Ottenstein ist der politische Fixpunkt in ker hatte den Termin besorgt.
mehr Wettbewerb zwischen den Kranken- Spahns politischer Weltanschauung. Es ist Spahn traf mit Trumps Stabschef Reince
kassen erobert man selbst in der CDU eine im Kern konservative Haltung, in der Priebus und seinem Chefstrategen Stephen
nicht die Herzen. Werte wie Heimat und Familie ganz oben Bannon zusammen. Vor allem Bannon hat-
Seit Spahn den Islam als Gegner ent- stehen. Dass Spahn für die Homo-Ehe ge- te es ihm angetan. Der sei ein Charakter-
deckt hat, ist das anders. Mit seinen wirt- kämpft hat, ist kein Widerspruch. Dahinter kopf, weil er vor seiner Zeit im Weißen

DER SPIEGEL 27 / 2017 33


DER SPIEGEL
im Gespräch mit
Herbert Grönemeyer
und den jugendlichen
Dichtern von
„The Poetry Project“: live
Ali Kepenek
Rottkay
Musiker Herbert Grönemeyer möchte die Zukunft von
Hunderttausenden nach Deutschland Geflüchteten mitgestalten.
Die Neuankömmlinge seien „ein Geschenk und eine Herausforderung“,
sagt Grönemeyer, was jeder sofort versteht, der die berührenden
Texte der jungen Poeten von „The Poetry Project“ hört.
Die aus Afghanistan geflüchteten Jugendlichen schreiben
über Todesangst, Sehnsucht und Fremdheit. Ihre Gedichte
sind ein bewegender Dialog mit den Deutschen. Herbert Grönemeyer
wird die Gedichte in der deutschen Fassung lesen.
SPIEGEL-Auslandsreporterin Susanne Koelbl hat die Schreibinitiative gegründet
und spricht mit Herbert Grönemeyer nach der Lesung darüber, wie uns
Poesie und Musik zusammenbringen.
Dienstag, 18. Juli 2017, 20.00 Uhr Spiegelsaal,
Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin
Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de.
Eintritt: 15 Euro, ermäßigt 12 Euro, zzgl. Gebühren. Einlass ab 19 Uhr.
Änderungen vorbehalten. Die Erlöse der Veranstaltung werden
gespendet an „The Poetry Project“.
34 DER SPIEGEL 27 / 2017
Deutschland
Haus in Washington ein Jahr lang nur kur-
ze Hosen trug, erzählte er nach dem Tref-
fen begeistert in kleiner Runde.
Bannon ist in den USA weniger als Trä-
ger von Shorts berüchtigt, sondern als ei-
ner der Wortführer der „Alt Right“-Bewe-
gung, eines Bündnisses aus Nationalisten,
Islamhassern, Rassisten und Neonazis.
Spahn teilt die meisten Positionen nicht,
für die Bannon steht. Aber ihn fasziniert
die „Ihr könnt mich mal“-Haltung, mit
dem dieser seinen Kritikern entgegentritt.
Beide verbindet der Glaube, sie sprä-
chen für die schweigende Mehrheit im
Land, die von der politischen Elite nicht
mehr ernst genommen werde. Es ist eine
Haltung, die man auch in rechten Parteien
wie der AfD findet. Spahn glaubt, dass
man diese Wähler nicht kampflos den
Populisten überlassen dürfe.
Bewunderung kann den Blick trüben.
Spahn erzählte begeistert vom Planungs-
büro des Weißen Hauses. Auf einer Tafel
seien dort sämtliche Projekte der neuen
Regierung für die ersten 100 Tage aufgelis-
tet, die nun systematisch abgearbeitet wür-
den. Diese Erkenntnis fanden seine Zuhö-
rer erstaunlich. Durch systematische Pla-
nung war Trumps Regierung in den ersten
Monaten ihrer Amtszeit nicht aufgefallen.
Von der Art, wie Trump Politik betreibt,
hält Spahn wenig, aber in der Sache findet
er Positives. Den Plan, an der Grenze zu
Mexiko eine Mauer zu errichten, hält er
nicht für problematisch. Die EU mache an
der Grenze Spaniens zu Afrika das Glei-
che. Trumps Vorgänger Obama habe jähr-
lich 400 000 Menschen aus den USA abge-
schoben. „Davon spricht niemand bei uns.“
Spahn imponiert, wie Trump es mithilfe
Bannons geschafft hat, die Ängste vieler
Menschen politisch zu nutzen. Dass der
Präsident alle politischen Konventionen
bricht, ohne dass es ihm schadet, fasziniert
ihn. Die Kritik, die die linksliberalen Me-
dien unisono an ihm üben, spricht aus die-
ser Sicht für Trump, nicht gegen ihn.
Die Stirnwand im Büro des Parlamenta-
rischen Staatssekretärs im Bundesfinanz-
ministerium ziert ein Sideboard, auf dem
zwei kleine Kunststofffiguren stehen. Die
eine sieht aus wie Spahns Lebensgefährte,
die andere wie er selbst, mit Fliege, Sakko
und Jeans. Er ist erstaunlich gut getroffen.
„3-D-Druck“, erläutert Spahn. „Der Laden
ist inzwischen pleite.“
Es gibt nicht viele Politiker, die sich eine
Figur von sich selbst ins Büro stellen wür-
den. Andererseits gibt es auch nicht viele
Politiker, in deren Abiturzeitung unter dem
Stichwort Berufswunsch steht: „Bundes-
kanzler, was sonst?“ Das stammt nicht von
Spahn, sondern von seinen Mitschülern.
Das Selbstbewusstsein Spahns ist mög-
licherweise noch größer als seine Abnei-
gung gegen den Islam. Wenn es stimmt,
was Abgeordnete erzählen, dann hat etwa
34 DER SPIEGEL 27 / 2017

Er hatte vor den Wahlen klargemacht,
dass er die zurückhaltende Strategie seiner
Partei für falsch hält. Damals sah es so aus,
als könne die CDU alle drei Wahlen ver-
lieren. Das wäre eine Bestätigung für seine
Linie gewesen.
Mitten im NRW-Landtagswahlkampf
forderte Spahn ein Islamgesetz, ohne sich
mit dem CDU-Spitzenkandidaten Armin
Laschet abzusprechen. Der sprach intern
von Sabotage. Spahn glaubt, dass Laschet
auch deshalb gewonnen habe, weil er und
andere die Partei wieder mehr in Richtung
ihrer klassischen Themen wie innere Si-
cherheit gedrängt habe. Selbst wenn es
stimmt, wird es ihm nicht nützen. Laschet
ist mittlerweile Ministerpräsident und
G.NITSCHKE / BRAUERPHOTOS
wird nach der Bundestagswahl bei der
Verteilung möglicher Ministerposten mit-
reden. Für Spahn wird er sich nicht stark-
machen.
Auch für die Zeit nach Merkel, wenn al-
les neu gemischt wird, sah es schon mal
Party-Besucher Spahn (r.)* besser aus für Spahn. Mit Laschet, Anne-
Bewunderung für Donald Trump gret Kramp-Karrenbauer in Saarbrücken
und dem jungen Kieler Regierungschef Da-
jeder zweite seiner Fraktionskollegen ihm niel Günther hat das liberale Lager uner-
schon gesagt, er solle sich mal für einige wartet gleich drei starke Ministerpräsiden-
Zeit zurückhalten. Gewirkt hat es nicht. ten gewonnen, die bei der Merkel-Nach-
Im Januar musste die nordrhein-west- folge mitreden werden. Daniel könnte
fälische CDU-Landesgruppe im Bundestag selbst ein Konkurrent für Spahn werden.
wegen des Todes von Peter Hintze einen Vermutlich wird alles eine Nummer klei-
neuen Vorsitzenden wählen. Das ist ein ner, als Spahn es sich erhofft hat. Am vor-
wichtiges Amt, wenn es um die Verteilung vergangenen Freitag hat er ein längeres
von Posten in Fraktion und Regierung geht. Gespräch mit dem stellvertretenden Frak-
Spahn wäre ein naheliegender Kandidat tionschef Michael Fuchs geführt. Fuchs ist
gewesen, aber wegen seines Disputs mit für die Wirtschaftspolitik zuständig. Er
Das Wahljahr ist unter machtpolitischen Aspekten
nicht gut für Spahn gelaufen.
Merkel um den Doppelpass trat er gar kandidiert nicht mehr für den Bundestag
nicht erst an. Die Landesgruppe wollte die und hätte Spahn gern als Nachfolger. Stell-
Kanzlerin nicht provozieren. vertretender Fraktionschef – auf mehr
Im vergangenen Jahr war Spahn zusam- kann Spahn nach Lage der Dinge in der
men mit seinem Lebensgefährten bei Ed- Merkel-CDU nicht hoffen.
mund Stoiber in Wolfratshausen eingela- Zwei Tage vor dem Gespräch mit Fuchs
den. Fünf Stunden verbrachten die beiden stand Spahn neben dem früheren Vertei-
im Privathaus des CSU-Ehrenvorsitzenden, digungsminister Karl-Theodor zu Gutten-
auch dessen Frau Karin kam später dazu. berg im exklusiven China Club in Berlin.
Man redete über Flüchtlinge und war sich Der Bundesverband Deutscher Kapital-
einig, dass die Union den Platz rechts der beteiligungsgesellschaften hatte die beiden
Mitte nicht der AfD überlassen dürfe. Die als Redner geladen. Guttenberg galt mal
CSU, das war die Botschaft der Einladung, als der kommende Mann in der CSU, be-
sieht Spahn als wichtigen Verbündeten ge- vor er wegen einer Plagiatsaffäre zurück-
gen die Politik Merkels. treten musste.
Vielleicht wäre es besser gewesen, vor- Guttenberg redete wie früher, mit viel
sichtiger zu agieren. Das Wahljahr ist unter Pathos und wenig Substanz. An Spahn ge-
machtpolitischen Aspekten nicht gut für wandt sagte er: „Du gehörst zu denen, von
Spahn gelaufen. Die CDU hat die Landtags- denen ich gerne mehr sehen würde.“
wahlen im Saarland, in Nordrhein-West- Spahn habe eine seltene Tugend, fügte er
falen und in Schleswig-Holstein gewonnen. hinzu: „die Tapferkeit vor dem Freund“.
Für Spahn war das keine gute Nachricht. Spahn blickt in diesem Moment eher nach-
denklich drein. Von Guttenberg gelobt zu
* Mit seinem Partner Daniel Funke beim Ball der Union werden ist nicht unbedingt ein gutes Omen
in Nürnberg. für den weiteren Karriereverlauf. I der Luft vor.
DER SPIEGEL 27 / 2017
ZDF.REPORTAGE
SONNTAG, 2. 7., 18.00 – 18.30 UHR | ZDF
Abgelehnt und abgeschoben –
Asylbewerber auf dem Weg
zurück
Die Bundesregierung hat sich vor-
genommen, die Zahl der nicht
Bleibeberechtigten möglichst effi-
zient zu senken. Doch nur rund
jeder dritte reist tatsächlich
aus. Sind die Vorgaben der Politik
überhaupt umsetzbar?
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 2. 7., 22.05 – 23.15 UHR | RTL
Sara, 8 Jahre, demenzerkrankt – Kann
ein Enzym die Krankheit stoppen?;
Gefälschte Porsche – Das Geschäft
mit Oldtimer-Sportwagen, die
SPIEGEL TV
Gefälschter Porsche 911 RS
keine sind; Leichenfunde in South
Carolina – Die Geschichte des mut-
maßlichen Serienmörders Todd K.
SPIEGEL TV WISSEN
MONTAG, 3. 7., 17.45 – 18.30 UHR | PAY-TV
BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Holz – Rohstoff der Zukunft?
Obwohl Holz ein Teil der Energie-
wende sein könnte, sinkt der Baum-
bestand jährlich um zehn Milliar-
den Exemplare. Mit einer nachhal-
tigen Forstwirtschaft könnten sich
die Wälder wieder erholen.
SPIEGEL GESCHICHTE
DIENSTAG, 4. 7., 23.10 – 0.05 UHR | SKY
Amerika von oben – die Lieblings-
orte der Stars
Ob John F. Kennedy, Muhammad
Ali oder Mark Twain: Sie alle hatten
Orte, die sie inspirierten. Die Do-
kumentation stellt die Lieblingsplät-
ze prominenter Amerikaner aus
35
 ROMAN BABIRAD

Kohl-Bungalow am 25. Juni: Getreue, Verräter und Abgefallene

Allein in Oggersheim
Gedenken Maike Kohl-Richter will das politische Erbe Helmut Kohls kontrollieren. Mit dem Gezerre
um die Trauerfeier aber hat sie sich weitgehend isoliert.

I
m Dom zu Speyer hätte er liegen sollen,
zwischen den Salier-Kaisern, deren Ge-
beine hier vor Jahrhunderten die letzte
Ruhestätte fanden. So hatte es sich Maike
Kohl-Richter gewünscht, so hatte sie es
auch als Bitte an die Domherren herange-
tragen. Dem braven Bischof Karl-Heinz
Wiesemann oblag es, der Witwe verständ-
36 DER SPIEGEL 27 / 2017
lich zu machen, dass die Kirche diesem
Wunsch nicht nachkommen könne. Kohl
war ein Großer, ein Salier oder Staufer
war er nicht.
Am Samstag wird er nun im Schatten
des Domes beerdigt, so nahe an den sa-
genhaften Gestalten wie möglich, und da-
mit immer noch weit genug entfernt von
dem Familiengrab in Ludwigshafen, in
dem neben seinen Eltern die erste Ehefrau
Hannelore liegt. Auch das war ja zu be-
denken gewesen.
Wenn der Sarg mit dem Leichnam des
Kanzlers in die Erde gesenkt wird, endet
eine Auseinandersetzung, die viele aufge-
wühlt hat. Die Entscheidung für eine Trau-
 Deutschland

erfeier im französischen Straßburg und da- Leichnam aufgebahrt war, umstellt von tel wie einen Schatz. Vergebens hat sich
mit gegen einen Staatsakt in Deutschland, surrenden Kühlaggregaten, die gegen die die Konrad-Adenauer-Stiftung bemüht, Zu-
hat Unverständnis hervorgerufen, auch bei sommerlichen Temperaturen ankämpften. gang zu erhalten. Was an dem schriftlichen
denen, die mit Kohl zu Lebzeiten nicht Im Kanzleramt hatte man sich früh ent- Nachlass als privat und was als dienstlich
viel am Hut hatten. Bislang wurde jeder schlossen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. eingestuft wird, ist schwer zu entscheiden.
Kanzler in dem Land öffentlich betrauert, Ein öffentlicher Streit mit der Witwe sei Es sind interessante Dokumente darun-
das er einmal regiert hat. Kohl wird der unter allen Umständen zu vermeiden, so ter. In den Papieren soll sich ein Schrift-
erste Regierungschef sein, von dem sich lautete die Weisung. Dass aus dem Hause wechsel mit Franz Josef Strauß befinden.
das Volk nicht angemessen verabschieden Kohl nach draußen drang, der Entschluss Auch Korrespondenz mit Michail Gorba-
konnte. für Straßburg und gegen Berlin habe vor tschow ist erhalten geblieben. Aber damit
Dass die Beisetzung eines Kanzlers nicht allem gegen einen Auftritt von Frank-Wal- eröffnet sich noch kein neuer Blick auf die
nur eine Familienangelegenheit sei, befand ter Steinmeier gezielt, kam nicht ungele- Ära Kohl.
Bundestagspräsident Norbert Lammert bei gen. Dem heutigen Bundespräsidenten Kohl war ohnehin ein Mann, der dem
einer improvisierten Ehrung im Bundestag. werde sein Agieren als Kanzleramtschef Schriftlichen misstraute. „Passt auf, was
Man konnte das als Mahnung an die Hin- nach dem Machtwechsel 1998 verübelt, ihr aufschreibt, das bekommt nur Beine“,
terbliebenen verstehen, die einen Staats- hieß es. So geriet in den Hintergrund, dass gab er seinen Leuten mit auf den Weg.
akt in Deutschland dezidiert abgelehnt hat- Kohl auch Merkel nie vergeben hat. Wenn es wichtig wurde, griff er zum Tele-
ten. Deutlicher wollte Lammert nicht wer- Schon im Februar hat Maike Kohl-Rich- fonhörer. Wenn es ganz wichtig war, such-
den, das verbat ihm die Pietät. ter die Idee eines europäischen Trauer- te er eine Telefonzelle auf, weil er der Lei-
Bis zuletzt wurde um die Details der aktes mit Vertrauten beraten. Es sei immer tung im Kanzleramt misstraute. Zurecht,
Trauerfeier gerungen. Anfang der Woche klar gewesen, dass der Gang außer Landes wie man nach dem Mauerfall erfuhr: Ins-
kam der russische Ministerpräsident Dmi- auch dazu dienen sollte, Steinmeier und gesamt 13 Aktenbände umfassen die Pro-
trij Medwedew auf die Liste der Redner, Merkel aus der Trauerfeier herauszuhalten. tokolle der Kanzler-Telefonate, die in der
dafür war immer noch unklar, ob Weg- „Das ist alles so falsch“, sagte sie. Einwän- Hinterlassenschaft der Stasi aufgefunden
gefährten wie der Fahrer Eckhard Seeber de, dass es zu einem Eklat kommen werde, wurden.
eine Einladung erhalten würden. Am Ende wies sie zurück. „Da war nichts zu ma- Die Vermögenswerte, die Kohl hinter-
war die Atmosphäre so vergiftet, dass jede chen“, sagt einer, der in die Gespräche ein- lässt, sind überschaubar. Witwengeld kann
Erklärung auf versteckte Botschaften ab- gebunden war. Kohl-Richter nicht erwarten, dazu hat sie
klopft wurde. Viel ist in diesen Tagen von der Deu- ihn zu spät geheiratet. Das steht nur Wit-
Für Aufregung sorgte in Berlin eine Pres- tungsmacht die Rede, die Maike Kohl-Rich- wen zu, wenn die Verehelichung in die ak-
semitteilung des EU-Parlaments, wonach ter beanspruche. Es gehe ihr darum, künf- tive Zeit fiel. Die lag aber schon einige
auf den „ausdrücklichen Wunsch von Dr. tig das Gedenken an Kohl zu bestimmen, Jahre zurück, als Maike Richter und Hel-
Kohls Witwe“ der ehemalige spanische Mi- auch deshalb wache sie eifersüchtig über mut Kohl die Ringe tauschten.
nisterpräsident Felipe González, der ehe- jedes Detail. Welche Deutungsmacht ge- Die bedeutendste Einnahmequelle nach
malige US-Präsident Bill Clinton und eben meint sein könnte, ist weniger klar. dem Ausscheiden aus dem Amt waren, ne-
Medwedew reden würden. Das konnte Schon Kohls Einlassungen zu Lebzeiten ben einem Beratervertrag bei Leo Kirch,
man so verstehen, dass der Auftritt der fanden nur noch ein verhaltenes Echo. Ein die Honorare für die Memoiren. Insgesamt
drei genannten Redner das Wohlwollen paarmal drangen Texte nach draußen, zu- eine Million Mark an Vorschuss hatte Kohl
von Maike Kohl-Richter fanden, das Auf- letzt im Frühjahr 2016 ein neues Vorwort erhalten, dazu kamen noch einmal mehr
treten der Bundeskanzlerin, der das für sein Europa-Buch. Bereits damals war als eine Million Euro an Tantiemen aus
Schlusswort vorbehalten war, aber nicht. nicht mehr sicher, wer hier eigentlich dem Verkauf. Dem standen allerdings die
Noch einmal stellte sich im Kampf um sprach: der Altkanzler durch seine Frau Verpflichtungen aus der Spendenaffäre ge-
das richtige Gedenken die alte Ordnung oder die Frau durch den Altkanzler. Dass genüber.
ein, wie man sie aus den Kohl-Zeiten kann- der Gesundheitszustand kein Diktat zuließ, Die Familie hatte sich 1999 hoch ver-
te: hier der Kreis der Getreuen, dort die geschweige denn die eigenhändige Abfas- schuldet, um die Strafzahlung der CDU
Verräter und Abgefallenen, die es durch sung eines längeren Textes, war offenkun- begleichen zu können. Mehrere Millionen
Missachtung zu bestrafen galt. dig. Nach einem Schädel-Hirn-Trauma Mark musste die Partei zahlen, so hatte es
Wie klein der Kreis derer geworden war, 2008 fiel Kohl das Reden schwer, zuletzt der Bundestagspräsident verfügt. Ein gro-
die man im Umfeld des Kanzlers noch als konnte er sich nur noch durch Nicken und ßer Teil kam durch Spenden herein, die
zuverlässig empfand, konnte man an der Brummen verständlich machen. Helmut und Hannelore Kohl bei Freunden
Zahl der Trauergäste abzählen, die ins Große Bedeutung wird den Papieren zu- und Bekannten erbettelten, rund 700 000
Haus gelassen wurden, um dem Toten gemessen, die im Keller des Wohnhauses Mark steuerte der Kanzler aus eigener Ta-
die letzte Ehre zu erweisen. Der langjähri- lagern. Maike Kohl-Richter hütet jeden Zet- sche bei.
ge rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Dann gibt es noch das Haus in Oggers-
Christoph Böhr war unter den Auserwähl- heim. Eine Million Euro ist die Immobilie
ten, die Oberbürgermeisterin von Ludwigs- angeblich wert, so stand es in mehreren
hafen, Eva Lohse, auch Salomon Korn, der Zeitungen. Ein Interessent müsste aller-
Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Einwände, dass dings ein spezielles Faible für Gefängnis-
Frankfurt am Main. architektur mitbringen. Um Anschlägen
Korn selbst hat sich nie als Wegbegleiter
es zu einem Eklat zu trotzen, wurde um den Bungalow eine
oder enger Freund Kohls empfunden, die kommen könnte, fünf Meter hohe Betonmauer gezogen.
beiden sind sich vielleicht sieben-, achtmal Dann kam noch eine drei Meter hohe
begegnet. Dennoch erhielt Korn einen An- wies Kohl-Richter Wand aus Panzerglas dazu. Wenn der Tru-
ruf, ob er nicht Abschied nehmen wolle bel der Trauerfeierlichkeiten vorbei ist,
vom Altkanzler. So stand er am vorver-
zurück. wird hier eine sehr einsame Frau wohnen.
gangenen Wochenende im Arbeitszimmer Matthias Bartsch, Jan Fleischhauer,
des Wohnhauses in Oggersheim, wo der René Pfister, Klaus Wiegrefe

DER SPIEGEL 27 / 2017 37

Deutschland

„Das steht ihr nicht zu“

SPIEGEL-Gespräch Willy Brandts Witwe Brigitte Seebacher lobt die Unterstützung durch Helmut Kohl
nach dem Tod ihres Mannes und zeigt Unverständnis für Maike Kohl-Richter.

Die Historikerin Seebacher, Seebacher: Ja, das steht ihr nicht zu. Wenn Wie denken Sie?“ Das hätte er mich nicht
P. OLIOSI / POLARIS / STUDIO X

70, war von 1983 bis zu der Bundespräsident einen solchen Akt an-
seinem Tod 1992 mit dem setzt, kann sie hingehen oder es bleiben
Altkanzler Willy Brandt ver- lassen. Bundestagspräsident Norbert Lam-
heiratet. Die Honorarpro- mert hat es richtig ausgedrückt: Die Wür-
fessorin lehrte an der Uni- digung einer herausragenden politischen
versität Bonn. Lebensleistung ist „bei allem Respekt nicht
nur eine Familienangelegenheit“.
SPIEGEL: Frau Seebacher, nach dem Tod SPIEGEL: Man könnte auch ein großes Sym-
von Altkanzler Helmut Kohl streiten des- bol der Versöhnung darin sehen, dass gut
sen Sohn Walter und seine Witwe Maike 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Welt-
Kohl-Richter öffentlich über den Staatsakt. kriegs ein deutscher Kanzler mit einem eu-
Alte Weggefährten Kohls klagen, sie wür- ropäischen Staatsakt auf französischem Bo-
den ausgegrenzt. Weckt das bei Ihnen Er- den geehrt wird.
innerungen an die Situation nach dem Tod Seebacher: Zuerst muss er auf dem eige-
Ihres Mannes? nen Boden geehrt werden. Wir erinnern
Seebacher: Nein. Das ist nicht vergleichbar. uns an ihn als deutschen Kanzler, und nur
Die Kinder Willy Brandts haben sich von in dieser Eigenschaft hat er auch für
ihrem Vater vor dessen Tod verabschiedet. Europa vieles erreicht. Die Kanzlerschaft
Ninja, die Tochter aus erster Ehe, war zwei- in diesem Lande war die Basis von allem.
mal da. Und auch die drei Söhne aus zwei- Noch haben wir keinen europäischen
ter Ehe. Das war harmonisch. Staat.
SPIEGEL: Aber es gab ja Streit um das Erbe SPIEGEL: Wie ging es 1992 weiter? Haben
Willy Brandts, etwa seine Papiere … Sie Kohls Angebot genutzt?
Seebacher: … das kam später, wobei vieles, Seebacher: Als Willy starb, habe ich zuerst
was in den zwei Wochen zwischen seinem seine Kinder angerufen, dann meinen Bru-
Tod und dem Begräbnis in der Öffentlich- der und dann den Bundeskanzler. In dieser
keit lief, an mir vorbeigegangen ist. Ich er- Reihenfolge. Er hat sich dann von sich aus
innere mich, wie wunderbar Kanzler Kohl am nächsten Tag gemeldet und gesagt: Ich
die Vorbereitungen für den Staatsakt diri- schicke Ihnen jetzt Herrn Speck, mit dem
giert hat. Er war sechs Wochen vor dem können Sie reden wie mit mir.
Tod meines Mannes bei uns in Unkel ge- SPIEGEL: Wer ist das?
wesen, um sich zu verabschieden. Die bei- Seebacher: Manfred Speck war damals ho-
den hatten ja einen persönlichen Draht zu- her Beamter im Innenministerium; es ist
einander. Es war übrigens das letzte Mal, zuständig für die Durchführung von Staats-
dass Willy aufgestanden ist. Beim Rausge- akten. Herr Speck kam eine Woche lang
hen legte Kohl dann seinen Arm um meine täglich und hat alles mit mir durchgespro-
Schultern und sagte: „Liebe Frau Brandt, chen, viel mehr, als er hätte müssen. Wir
wir wissen beide, wie es steht. Rufen Sie haben noch heute Kontakt.
morgen Frau Weber (Kohls Büroleiterin – SPIEGEL: Und Kohl wirkte im Hintergrund?
Red.) an und lassen Sie sich alle meine Seebacher: Wenn ich aus dem Nähkästchen
Nummern geben. Ich bin für Sie da.“ Die- plaudern darf: Er rief noch mal an und
sen Satz habe ich heute noch im Ohr. sagte: „Liebe Frau Brandt, hier gibt es
SPIEGEL: Wusste Ihr Mann davon? Leute, die wollen, dass dieser Mauroy
Seebacher: Ich habe es ihm erzählt, als Kohl spricht. Das möchte ich eigentlich nicht.
weg war, und da hat er gesagt. „Das ist sehr
gut, das ist beim Bundeskanzler richtig auf-
gehoben.“ Er ist mit dem Gefühl dem Tod
entgegengegangen, sein Nachfolger werde
sich der Dinge annehmen, die da kämen. „Also, wenn er im
Das passte aus seiner Sicht, Willy hatte ein Sessel saß, dann sagte er
klassisches Staatsverständnis. Dass für Hel-
mut Kohl kein Staatsakt angeordnet wird, schon mal: ,Man redet
dafür hätte er kein Verständnis gehabt.
SPIEGEL: Sie meinen den Wunsch von Frau so manchen Quatsch in
Kohl-Richter, auf einen deutschen Staats- einem langen Leben.‘“
akt zu verzichten?
Das Gespräch führte der Redakteur Klaus Wiegrefe.
38 DER SPIEGEL 27 / 2017
fragen müssen.
SPIEGEL: Wer war Mauroy?
Seebacher: Der Nachfolger meines Mannes
als Präsident der Sozialistischen Interna-
tionalen. Ich wusste nicht, dass da dritte
Personen Druck machten, und habe zu-
rückgefragt: „Herr Bundeskanzler, wer
schwebt Ihnen denn vor?“ Da hat er ge-
antwortet: Felipe González. Der war da-
mals spanischer Ministerpräsident. Das
fand ich wunderbar. Felipe war der Son-
nenschein Willy Brandts und sein ganzer
Stolz. Kohl sagte, er werde Gonzáles gleich
anrufen, wir seien uns ja einig, und be-
dankte sich.
SPIEGEL: Die SPD hatte eigene Vorstellun-
gen. Ein Sonderzug sollte den Leichnam
Brandts nach Berlin bringen und in einigen
Städten halten, die mit seiner Lebensge-
schichte verbunden waren.
Seebacher: Johannes Rau, damals Minister-
präsident in Nordrhein-Westfalen, hat den
Wunsch vorgetragen. Ich habe höflich ab-
gelehnt. Wir waren doch nicht mehr in der
alten Arbeiterbewegung wie bei Kurt Schu-
macher, dem SPD-Vorsitzenden nach dem
Zweiten Weltkrieg. Dessen Sarg war 1952
in die Fahne von SPD-Gründer Ferdinand
Lassalle gehüllt. Willy Brandt wurde als
Staatsmann geehrt.
SPIEGEL: Kohl wird mit einem Trauergot-
tesdienst im Dom von Speyer geehrt.
Seebacher: So etwas wurde für Willy
Brandt nicht erwogen. Herr Speck fragte,
wer beim Staatsakt spielen solle. Ich habe
mir die Berliner Philharmoniker ge-
wünscht. Zwei Tage später ließ Chefdiri-
gent Claudio Abbado anfragen, was ge-
spielt werden solle. Ich habe ihm die
Entscheidung überlassen. Er spielte „Die
Unvollendete“ von Schubert. Das war so
wunderbar!
SPIEGEL: Wer entschied über die Rednerlis-
te auf dem Staatsakt für Ihren Mann?
Seebacher: Das war ein natürliches Auf-
gebot. Es ergab sich, von Gonzáles abge-
sehen, aus den Ämtern: Bundespräsident
Richard von Weizsäcker, Kohl, der SPD-
Vorsitzende Björn Engholm, der Regie-
rende Bürgermeister Berlins Eberhard
Diepgen und Bundestagspräsidentin Rita
Süssmuth.
SPIEGEL: Frau Kohl-Richter wollte den un-
garischen Regierungschef Viktor Orbán
sprechen lassen.
Seebacher: Wie Orbán in das Europa passt,
das Helmut Kohl vertritt, bleibt ihr Ge-
heimnis.
 SPIEGEL: Frau Kohl-Richter steht im Ver-
dacht, die Deutungsmacht über ihren Mann
ausüben zu wollen. Ihnen hat man damals
vorgeworfen, sie wollten Brandt zu einem
Nationalkonservativen umdeuten.
Seebacher: Beim Staatsakt spielte das keine
Rolle. Da sprachen jene, die dahin gehörten.
SPIEGEL: Und wie kam es, dass ausgerech-
net Brandt, dem das Militärische fremd
schien und den die Friedensbewegung ver-
ehrte, mit militärischen Zeremoniell geehrt
wurde?
Seebacher: Es gehört zu einem Staatsakt
und auch zu dem Verstorbenen. Wir hatten
ein Haus in Frankreich und haben den Na-

J. H. DARCHINGER / FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG
SPD-Chef Brandt, Ehefrau Seebacher-Brandt in Moskau 1985: Klassisches Staatsverständnis
WOLFGANG RATTAY / REUTERS
tionalfeiertag am 14. Juli oft dort verbracht.
Er hat sich die Militärparade immer ange-
schaut. Er hatte einen Sinn für Form und
Würde staatlicher Zeremonien.
SPIEGEL: Dann geht der Vorwurf fehl, Sie
wollten aus Brandt einen Nationalkonser-
vativen machen?
Seebacher: Ich habe mich immer gewun-
dert, wie wenig Leute, die diese Vokabel
benutzen, von Willy Brandt und seiner Prä-
gung durch das antinazistische Deutsch-
land wissen. Daher rührt sein Verhältnis
zur deutschen Nation. Ist es national-
konservativ, wenn jemand für ein selbst-
bestimmtes Deutschland eintritt? Darum
ging es doch 1989. Ich dachte immer,
Selbstbestimmung gehört in die Geschich-
te der SPD. Ihr langjähriger Vorsitzender
hat nie befürchtet, dass ein geeintes
Deutschland andere Länder dominieren
würde.
SPIEGEL: Immerhin hat er in den Achtziger-
jahren die Wiedervereinigung als „spezifi-
sche Lebenslüge“ der alten Bundesrepu-
blik bezeichnet.
Seebacher: Also, wenn er im Sessel saß,
dann sagte er schon mal: „Man redet so
manchen Quatsch in einem langen Leben.
Es fallen Ausdrücke, die besser nicht ge-
fallen wären.“ Im Übrigen bezog sich das
Wort auf das „Wieder“. Er mochte es nicht,
denn nichts würde „wieder“-kommen. Ein
Drittel des Landes war verloren, Deutsch-
land war demokratisch und eingebunden
in die europäischen und globalen Institu-
tionen. Das waren seine drei Gründe ge-
gen das „Wieder“. Er sagte lieber Neuver-
einigung oder schlicht: Einheit.
SPIEGEL: Viele Zeitgenossen empörten sich,
dass Brandts zweite Frau Rut zum Staats-
akt nicht geladen war. Was war dafür der
Grund?
Seebacher: Es hat mich niemand gefragt.
Weder eines der Kinder noch sonst jemand.
SPIEGEL: Auf die Idee, Rut Brandt einzula-

den, könnte man auch selber kommen.

Seebacher: Die Frage stellte sich mir nicht.
Willy hatte nach der Trennung keinen Kon-
takt außer in Gelddingen. Ich bin nur von
hoher Stelle in den Tagen vor dem Staats-
akt darauf hingewiesen worden, dass im
Altkanzler Kohl, Ehefrau Kohl-Richter in Bonn 2012: „Ich bin für Sie da“ Falle einer solchen Frage ich daran denken
DER SPIEGEL 27 / 2017 39

Witwe Seebacher-Brandt, Kanzler Kohl (M.), Bundespräsident Weizsäcker (r.)*: „Wunderbar!“
möge, dass Willy bei seinem Tode nur mit
einer Frau verheiratet war.
SPIEGEL: Wer war die hohe Stelle?
Seebacher: Das lassen wir mal so stehen.
SPIEGEL: Würden Sie im Rückblick sagen,
dass Sie falsch entschieden haben?
Seebacher: Als Witwe hat man in so einer
Situation anderes im Kopf und im Herzen.
Hier scheint mancher Genosse Politisches
mit Persönlichem zu vermischen. Mancher
kommt mit der deutschen Einheit nicht klar
und damit, dass Willy Brandt in dem Ereig-
nis die Rundung seines Lebens gesehen hat.
SPIEGEL: Brandts Sohn Matthias, der be-
kannte Schauspieler, hat in einem Inter-
view erklärt: „Meine Mutter auszuladen
und sich mit Helmut Kohl hinter den Sarg
von Willy Brandt zu stellen, dazu sind
schlicht ungeheure Spezialtugenden erfor-
derlich.“
Seebacher: Matthias hat sich nach dem Tod
seines Vaters sehr nett und lieb von mir
verabschiedet. Und ich möchte mir die Er-
innerung an schöne Stunden bewahren. Im
Übrigen sieht man, was Söhne so alles er-
finden können.
SPIEGEL: Zweite Ehefrauen und Stiefmütter
haben keinen guten Ruf – in Märchen ver-
körpern sie oft das Böse. Spielen solche
Stereotypen eine Rolle bei der Kritik an
Ihnen und Frau Kohl-Richter?
Seebacher: Das wird wohl so sein.
SPIEGEL: Kennen Sie eigentlich Frau Kohl-
Richter?
Seebacher: Nur aus der Ferne.
SPIEGEL: Aber sie hat Sie 2014 angerufen.
Seebacher: Es gehört sich nicht, aus priva-
ten Telefonaten zu zitieren, aber da Sie
von dem Anruf schon wissen: Ich hatte in
einer Talkshow den Journalisten Heribert
Schwan kritisiert, weil er gegen den Willen
* Beim Staatsakt für Brandt im Reichstag 1992.
40 DER SPIEGEL 27 / 2017
terschreiben, dass die Verfügung allein an
die Ebert-Stiftung, sprich die SPD geht.
Dabei war das Testament eindeutig. Die
Rechte des Verstorbenen gingen an mich
über. Die Urheber- und Verwertungsrechte
liegen bei mir allein.
SPIEGEL: Und wer entscheidet über den Zu-
gang zu Akten?
Seebacher: In wichtigen Fragen der fünf-
köpfige Beirat des Willy-Brandt-Archivs,
dem ich angehöre und auch Willys ältester
Sohn Peter. Es hat noch nie Streit gegeben.
Wer Dokumente einsehen will, schlägt im-
mer zuerst beim Archivar in der Friedrich-
REGINA SCHMEKEN / SZ PHOTO / LAIF
Ebert-Stiftung in Bonn auf. Er herrscht
über die Akten, hoch professionell. All-
tagsfragen klärt er mit mir. Das Vertrauen
ist allseits groß.
SPIEGEL: Was halten Sie von der Idee, den
Kohl-Nachlass in Oggersheim zu belassen?
Seebacher: Das ist absurd. Nun hat Kohl
nicht so viel auf Papier gebracht wie
Brandt – Sozialdemokraten haben immer
mehr geschrieben als Konservative – und
Kohls aus Tonbandaufnahmen zitiert hat, die Nachlässe sind auch nicht zu verglei-
die er als Ghostwriter gefertigt hatte. Frau chen, doch das Urteil steht allein den His-
Kohl-Richter hat sich dafür bedankt. Mit torikern zu. Die Akteneinsicht gehört an
Helmut Kohl habe ich bei dieser Gelegen- einen neutralen Ort. Solche Dokumente
heit kurz gesprochen. zu Hause aufzubewahren geht gar nicht.
SPIEGEL: Empfinden Sie Mitleid mit ihr? SPIEGEL: Warum?
Seebacher: Nein, sie hat sich das Leben an Seebacher: Erst einmal ist ein solcher Nach-
der Seite Kohls ausgesucht. lass kein Privateigentum. Zweitens ist die
SPIEGEL: Kohls Nachlass liegt größtenteils Sicherheit in einem Privathaus nicht gege-
in seinem Privathaus in Oggersheim, der ben. Drittens müssen alte Unterlagen fach-
weitere Verbleib ist unklar. Das Bundes- gerecht archiviert werden, sie benötigen
archiv erhebt Anspruch auf alle staatlichen klimatisierte Räume ohne Fenster. Das
Unterlagen, auch die Konrad-Adenauer- kann Ihnen jeder Archivar besser erklären.
Stiftung würde die Papiere gern in ihr Ar- Vor allem aber würde es dazu führen, dass
chiv übernehmen. der Besitzer oder die Besitzerin des Hauses
Seebacher: Im Unterschied zu Kohl hat Wil- über den Zugang entscheidet. Sie setzt sich
ly lange vor seinem Tod begonnen, Unter- auch dem Verdacht der Säuberung aus.
lagen an das Archiv der sozialen Demo- Der Zugang, das ganze Regularium muss
kratie in der Friedrich-Ebert-Stiftung zu ge- nach objektiven Kriterien gestaltet sein.
ben. Nur ein kleiner Teil lag noch zu Hause. SPIEGEL: Was raten Sie Frau Kohl-Richter,
SPIEGEL: Trotzdem gab es Streit zwischen um die familiäre Situation zu entspannen?
Ihnen und der Friedrich-Ebert-Stiftung Seebacher: Wir kennen Frau Kohl-Richter
über die Papiere. doch alle nicht, nicht ihr Eheleben oder
Seebacher: Rund eine Woche nach dem das frühere Eheleben von Helmut Kohl,
Staatsakt kam der Vorsitzende der Stiftung wir wissen nicht und wollen auch nicht
zu uns, Holger Börner, den ich eigentlich wissen, wie sich das Verhältnis zu den Söh-
immer gemocht hatte. In der einen Hand nen entwickelt hat. Wir wissen nichts. Des-
einen Blumenstrauß, in der anderen einen halb sollten wir uns mit Nachreden und
Füllfederhalter. Ich sollte sinngemäß un- ebenso mit Ratschlägen zurückhalten. Mit
der einen Ausnahme: Der Nachlass muss
aus dem Haus.
SPIEGEL: Wie ist heute Ihr Verhältnis zu
den Kindern Willy Brandts?
„Wir sollten uns mit Rat- Seebacher: Zu Peter gut. Wir sehen uns in
der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung
schlägen zurückhalten. und auf Veranstaltungen. Auch mit Ninja
Mit der einen Aus- habe ich Kontakt. Lars hat immer schon
sehr zurückgezogen gelebt, und Matthias
nahme: Der Nachlass siehe oben. Das Leben spielt in den Fami-
muss aus dem Haus.“ lien eines Staatsmannes nicht anders als
bei Müller, Meier, Schulze.
SPIEGEL: Frau Seebacher, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.

Schweigen bis ins Grab
Skandale Helmut Kohl hat immer beteuert, dass anonyme Gönner die CDU mit
Geld versorgt haben. Doch stimmt diese Version überhaupt?
W
as bleibt, sind ein trotziger, un-
gelenker Satz und ein langes
Schweigen.
Am 16. Dezember 1999 hat der Altkanz-
ler seinen großen Auftritt in der ZDF-Sen-
dung „Was nun, Herr Kohl?“. Zum ersten
Mal erklärt er in aller Öffentlichkeit, wel-
che Rolle er persönlich in der CDU-Par-
teispendenaffäre spielte.
Er habe, sagt Helmut Kohl, von 1993 bis
1998 „zwischen 1,5 bis 2 Millionen Mark“
an Spenden entgegengenommen. Keine
Schecks, immer bar, nie für sich persönlich,
immer für die politische Arbeit. Aber – au-
ßerhalb der Bücher. Der Gesetzesbruch ist
für ihn ein „Fehler“ gewesen. Der frühere
Parteichef macht klar, dass er sein Verhal-
ten in Wahrheit für einen Akt der Notwehr
hält. Die anderen Parteien hatten schließ-
lich so viel Geld und seine Christdemokra-
ten so wenig.
Eine Bedingung hätten die Spender ge-
stellt. Ihre Namen dürften niemals bekannt
werden. Deshalb seien sie nie auf einer
Spenderliste erschienen. Er, Kohl, habe da-
für gebürgt. Dann sagt er auf eine Nach-
frage den berüchtigten Satz: „Ich habe
nicht die Absicht, deren Namen zu nennen,
weil ich mein Wort gegeben habe.“
Daran hält er sich, über 17 Jahre lang.
Gegenüber der Öffentlichkeit, als Beschul-
digter in einem Ermittlungsverfahren, als
Zeuge vor Gericht und als Zeuge vor ei-
nem Untersuchungsausschuss des Bundes-
tags. Kein Wort zu den Spendern.
Fünfmal schwört Kohl, mit der Hand am
Grundgesetz, in seinem Amtseid als Kanz-
ler, die Gesetze des Landes zu wahren und
zu verteidigen. Doch wenn es um Partei-
spenden geht, ist ihm sein Ehrenwort an-
geblich wichtiger als das Gesetz.
Nun, nach seinem Tod am 16. Juni, hieß
es immer wieder, Kohl werde die Namen
der anonymen Spender mit ins Grab neh-
men. Aber stimmt das überhaupt? Oder
sind die Spender nur eine Version, um eine
andere, noch unangenehmere Wahrheit zu
verschleiern?
Dass Geld ein wichtiges Mittel der
Macht ist, hatte schon der aufstrebende
Politiker erkannt. Es war ihm so wichtig,
dass er sich Nachschub notfalls auch auf
dunklen Wegen beschaffte. Parteispenden-
affären begleiteten seine Karriere.
Im November 1999 beginnt die CDU-
Spendenaffäre, als öffentlich wird, dass
eine illegale Millionenzuwendung an die
Partei im Zusammenhang mit einem
Panzergeschäft mit Saudi-Arabien Anfang
Deutschland
der Neunzigerjahre gegangen war. Wirt-
schaftsprüfer durchforsten daraufhin das
Buchwerk der Partei und stoßen auf ein
dichtes Gestrüpp von schwarzen Konten
in Deutschland, der Schweiz und auf eine
Stiftung in Liechtenstein.
Mit dem komplizierten System von
Tarnkonten sollten offenbar Spenden ver-
schleiert werden. Angeblich gibt es nur
wenige Mitwisser dieses vorsätzlichen Ge-
setzesbruchs. Kohl selbst will von dem Sys-
tem der schwarzen Kassen nichts gewusst
haben. Staatsanwälte halten das später für
eine Schutzbehauptung.
Für Spenden in Höhe von 2,1 Millionen
Mark in der Zeit von 1993 bis 1998 können
die Prüfer die Herkunft nicht ermitteln.
Gegen Kohl wird ein Ermittlungsverfahren
wegen des Verdachts der Untreue zum
Nachteil der CDU von der Staatsanwalt-
schaft Bonn eingeleitet. Doch der Partei-
patriarch will die angeblichen Spender
nicht preisgeben.
Und festlegen will er sich schon gar
nicht. Sind es vier Spender? Oder fünf?
Nur so viel: Es sollen deutsche Staatsbür-
ger sein. Kohl, der Mann mit dem legen-
dären Elefantengedächtnis, leidet plötzlich
an partieller Amnesie. Um wie viel Geld
es insgesamt ging. Wie hoch die einzelnen
Spenden waren. An die genauen Umstän-
de. Er bleibt bei vielem im Ungefähren.
Aber er weiß, wofür er das Geld ausgab.
Für den Aufbau der CDU im Osten der
Republik, wo man gegen die reiche PDS
und die vermögende SPD mit dem Rücken
zur Wand gestanden habe. Die Staats-
anwälte stellen später fest, dass Kohl mit
dem Geld in Wahrheit vor allem Wahl-
kämpfe und Meinungsumfragen im Westen
finanzierte, auch die in seinem eigenen
Landesverband Rheinland-Pfalz.
CDU-Finanzberater Horst Weyrauch
und der ehemalige Generalbevollmächtig-
te der CDU-Schatzmeisterei Uwe Lüthje,
lange zuständig für das System, haben ihre
eigenen Erinnerungen. Während Wey-
rauch den Staatsanwälten sagt, ein Kohl-
Vertrauter habe den Medienmogul Leo
Kirch als einen mutmaßlichen Spender be-
zeichnet, verweist Lüthje auf die Firma
Siemens als anonymen Geldspender in den
Achtzigerjahren. Die Betroffenen haben
das immer bestritten.
Kohl kommt noch einmal davon. Im
Frühjahr 2001 stimmt das Landgericht
Bonn der Einstellung der Ermittlungen ge-
gen eine Zahlungsauflage von 300 000 SPIEGEL-Titel
Mark zu, auch weil die Rechtslage unklar Parteispender gesucht
DER SPIEGEL 27/ 2017 41
 gewesen sei. Und wegen der besonderen
NEWS MEINUNG STORIES Verdienste Kohls und weil er den Millio-
nenschaden für die CDU mit einer Spen-
densammlung ausgeglichen habe. Außer-
dem habe er sich bei den Spenden nicht
persönlich bereichert, sondern sie für die
Partei genutzt.
Damit ist die Spendenaffäre, die die Par-
tei an den Rand des Abgrunds geführt hat,
erst einmal beendet. Und niemand fragt
noch nach den angeblichen Spendern. Bis
vor zwei Jahren Kohls Exvertrauter Wolf-
gang Schäuble in einem Fernsehinterview
auf die Frage nach den Spendern erklärt:
„Es gibt keine.“
Damit waren die Fragen wieder da: Wo-
her kam das Geld, wenn es keine Spender
gegeben haben soll? Aus der alten Spen-
denwaschanlage der Union, der Staats-
bürgerlichen Vereinigung? Gab es noch
mehr Konten? Was wollte Kohl dann ver-
bergen?
Die Idee mit der Staatsbürgerlichen Ver-
einigung war CDU-Kanzler Konrad Ade-
nauer mit Freunden aus Banken und
Industrie bereits 1954 gekommen. Ihr
Zweck war simpel. Sie sollte Beiträge von
Unternehmen und Verbänden an die
Vereinigung steuerbegünstigt als Spenden
in die Kassen von CDU, CSU und FDP
schwemmen. Die Praxis wurde schon
bald für illegal erklärt. Die Spenden
flossen dennoch verdeckt weiter. Zwi-
schen 1969 und 1980 erhielten CDU, CSU

Einmal am Tag
und FDP insgesamt etwa 214 Millionen
Mark.
In den Achtzigerjahren flog das Kon-
strukt in der Flick-Affäre auf und brachte

die Welt anhalten

Kohl in Bedrängnis. Nur knapp entging er
1986 einer Anklage wegen uneidlicher
Falschaussage, nachdem er vor einem Un-
tersuchungsausschuss in Mainz erklärte, er
habe den wahren Zweck der Staatsbürger-
DAS WICHTIGSTE VOM TAG lichen Vereinigung nicht gekannt. Alles an-
DAS BESTE AUS DEN SOZIALEN MEDIEN geblich nur ein Missverständnis, das der
damalige CDU-Generalsekretär Heiner
UND EMPFEHLUNGEN FÜR IHREN FEIERABEND Geißler als „Blackout“ kleinredete.
Die Vereinigung wurde faktisch aus
dem Verkehr gezogen. Allerdings waren
am Ende etwa 13 Millionen Mark aus ih-
rem Vermögen spurlos verschwunden. Sie
sind bis heute verschollen. Verbirgt sich
WWW.SPIEGELDAILY.DE hinter Kohls angeblichen Spendern also
das Geld der Staatsbürgerlichen Vereini-
gung?
Kohl hat immer den Eindruck vermittelt,
er interessiere sich nicht für Geld. Er mach-
te Urlaub am Wolfgangsee, trug gern
Starten Sie
Strickjacke und schnitt auf Wanderungen
mit dem Taschenmesser die Wurst und ver-
einem
direkt mit teilte sie unter seinen Kameraden.
en
kostenlos
Prunk war ihm nicht wichtig, aber Kohl
at! wusste immer, dass Geld die Ressource der
Probemon Mächtigen ist. Und so schwieg er. Niemand
sollte zu seinen Lebzeiten erfahren, wel-
chen Preis er bereit war, für seine Macht
Die smarte Abendzeitung. zu zahlen. Markus Dettmer
Schenkt Zeit, macht schlau.
42 DER SPIEGEL 27/ 2017

Softes Imperium
Zwischenruf Die europäische Inszenierung für Helmut Kohl könnte die EU zu einer
neuen Gelassenheit führen. Von Dietmar Pieper
D
ie Deutschen wundern sich da-
rüber, die anderen Europäer ma-
chen es trotzdem: Sie verwandeln
Helmut Kohl. Aus dem deutschen Kanzler
wird in Straßburg so etwas wie der erste
Kaiser des Heiligen Europäischen Reiches.
Das ist verblüffend und könnte mehr
sein als ein Moment, bei dem viel rhetori-
scher Weihrauch aufsteigt. Typisch Kohl,
in gewisser Weise, er hatte häufig ein gutes
Timing: als Antreiber der deutschen Ein-
heit allemal, ja sogar bei der von ihm als
„Gnade“ bezeichneten „späten Geburt“.
Auch der Streit, der die ganze Zeremonie
bis hin zur Beerdigung umgibt, ist nach
Art seines Hauses.
Möglich wird das politische Wunder jetzt,
weil ziemlich unerwartet über Europa der
Himmel aufreißt. Geert Wilders, Marine Le
Pen, mit ihnen muss man sicher noch rech-
nen, aber nicht in diesem Jahr. Der Brexit
ist mühsam, doch die 27 Übrigen werden
das schon irgendwie hinbekommen.
Heiliges Europäisches Reich im Sonnen-
schein. Man lernt nicht nur Demut gegen-
über dem Unvorhersehbaren. Man sieht
auch, dass die großen, mühsam ausgedach-
ten Ideen im Grunde nicht helfen: Erweite-
rung oder Vertiefung der EU, Staatenbund
oder Bundesstaat oder gleich die Abschaf-
fung der Nationalstaaten. Lauter famose
Gedankengebäude, die entschwebt sind.
Dass ein unordentliches, schwer definier-
bares Etwas erstaunlich langlebig und für
alle vorteilhaft sein kann, zeigt sich bei ei-
nem Blick auf das Heilige Römische Reich.
Die Erinnerung daran ist mehr als 200 Jahre
nach seinem Ende blass, und es hat ähnlich
viel Spott auf sich gezogen wie das Europa
der Gurkenverordnungen. Nach den ersten
wilden Zeiten, als die in Rom gekrönten
Kaiser aus Sachsen oder Schwaben die
Weltherrschaft an sich reißen wollten, war
es nach außen ein ungewöhnlich friedferti-
ges Reich, ein Imperium der soften Art.
Im Inneren des Reiches, das seit dem
Ende des Mittelalters den Namenszusatz
„Deutscher Nation“ trug, ging es oft hoch
her, mit viel Krieg und Elend. Aber die äu-
ßere Hülle hielt. Das Imperium in der Mitte
Europas war ein durch und durch multi-
kulturelles Gebilde, in dem Französisch und
Deutsch, Tschechisch und Italienisch, Nie-
derländisch und Dänisch gesprochen wurde.
Die nationalen und regionalen Kulturen
blühten oder auch nicht, jedenfalls hatte
das Reich damit nichts zu tun. In ihren Fürs-
tentümern konnten die Fürsten bestimmen,
wo es langging, wenn sie sich an ein paar
Demonstranten vor dem Kölner Dom: Ideal des Weltfriedens
gemeinsame Grundregeln hielten und für
den Kaiser die Steuern eintrieben. Es
spricht einiges dafür, dass hier ein fernes
Modell für die heutige EU zu finden ist, al-
les in allem ein Reich der Gelassenheit.
Im Einzelnen kann man viele Parallelen
zur EU entdecken, verfassungsrechtliche
und auch machtpolitische: die Dezentra-
lität, die übereinander geschichteten Ver-
träge, die Widerstandskraft gegen das Ge-
zerre von allen Seiten. Aber das Wichtigste
ist: Beide Gebilde ziehen große Energie
aus einer Heilsidee.
Der römisch-deutsche Kaiser galt – zu
Anfang mehr, am Ende weniger – als au-
ratische Figur. Als Beschützer der Chris-
tenheit stand er über allen Königen, des-
halb war sein Reich auch ein „heiliges“.
Heute wirkt das zwar befremdlich, und
doch gibt es so etwas auch in der EU, es
gibt eine europäische Heilsidee.
Ein kurzer Rückblick: Als der europäi-
sche Gedanke nach dem Zweiten Welt-
krieg konkrete Formen annahm, war das
Projekt nicht ganz von dieser Welt. Schon
Wie im Heiligen
Römischen Reich gibt
es auch in der
Europäischen Union
eine Heilsidee.
Deutschland
HANS-CHRISTIAN PLAMBECK
in der Montanunion verbarg sich eine
Utopie. Der französische Außenminister
Robert Schuman, der den Kohle-und-Stahl-
Pakt 1950 vorschlug, eröffnete seine Erklä-
rung mit dem Satz: „Der Friede der Welt
kann nicht gewahrt werden ohne schöpfe-
rische Anstrengungen, die der Größe der
Bedrohung entsprechen.“
Etwas von diesem utopischen Über-
schwang lebt in der Europäischen Union
bis heute. Es ist das Ideal des Weltfriedens,
das sie im Innersten zusammenhält. Ein
Ideal, das auch dadurch nicht schlechter
wird, dass es eigentlich nur scheitern kann.
Außerdem ist ein Menschenalter Frieden
in Mitteleuropa mehr, als man 1950 erwar-
ten konnte.
Es war deshalb ganz richtig, dass die EU
2012 den Friedensnobelpreis bekam. Ihre
Politiker und Bürokraten machen sicher-
lich jeden Tag Fehler, aber in der Summe
hat die Staatengemeinschaft Großes geleis-
tet. Auch Helmut Kohl wurde in der Osloer
Laudatio gewürdigt, nicht für seine Ver-
dienste um die Einigung Europas, sondern
als Gestalter der deutschen Einheit. Seine
europäische Krönung erfolgt jetzt post-
hum. Deutschland rückt, was bei vielen
Anstoß erregt, in die zweite Reihe.
Die alten Kaiser hatten als Krönungs-
mantel einen tiefroten, mit Löwen und ei-
ner arabischen Inschrift in Gold verzierten
Umhang, den muslimische Handwerker
vor langer Zeit in Palermo angefertigt ha-
ben. Für den europäischen Bürger Kohl
liegt ein anderer Krönungsmantel bereit.
Es ist das blaue Tuch mit dem Kranz aus
zwölf Sternen, das in Straßburg seinen
Sarg bedecken wird. I
DER SPIEGEL 27 / 2017 43
Deutschland
Strafe gegen Strafe
Welthandel Vor dem G-20-Gipfel droht der Streit mit den
USA zu eskalieren. Brüssel und Washington bereiten Sanktionen
vor, die Kanzlerin fürchtet um den Erfolg des Treffens.
W
ilbur Ross ist ein Mann, den man
leicht unterschätzt. Er wird im
November 80 Jahre alt, wirkt et-
was träge und nickt bei längeren Sitzungen
hin und wieder ein. Manchmal sogar dann,
wenn sein Chef ein paar Meter entfernt
eine wichtige Rede hält, wie kürzlich in
Saudi-Arabien.
Am vergangenen Dienstag aber ist der
Mann, der als Handelsminister der Verei-
nigten Staaten einen der wichtigsten Jobs
in der Regierung Donald Trumps hat, hell-
wach. Er hat sich neben eine mannshohe
US-Flagge gestellt und liest eine Rede vom
Blatt, die per Videoleitung nach Berlin
übertragen wird: in den Festsaal eines No-
belhotels, wo Angela Merkel und mehrere
Hundert Gäste des CDU-nahen Wirt-
schaftsrats warten.
Ursprünglich wollte Ross selbst in die
deutsche Hauptstadt reisen, sagte aber
kurzfristig ab, weil der Präsident ihn we-
gen „dringender unerwarteter Angelegen-
heiten“ ins Weiße Haus beordert hatte.
Nun rückt der Minister seine Brille zurecht
und trägt in der trockenen Diktion des
Handelsjuristen vor, was sein Präsident
von den Deutschen erwartet.
Sie sollten doch lieber amerikanische
statt russische Rohstoffe kaufen, fordert er,
die Zölle auf US-Automobile senken und
dafür sorgen, dass die Vereinigten Staaten
einen „höheren Anteil an den europä-
ischen Einfuhren“ erlangen. Andernfalls,
fügt er an, bleibe der Regierung in Wa-
shington eben nichts anderes übrig, als
„zur Selbsthilfe zu greifen“.
Zehn Minuten soll Ross reden, doch als
er nach einer knappen halben Stunde noch
immer nicht fertig ist, haben die Veranstal-
ter genug gehört. Sie drehen den Ton he-
runter und schalten das Bild ab. Der Han-
delsminister verschwindet vom Schirm,
ausgeblendet wie ein Störenfried. Einige
im Publikum lachen.
Man könnte das als milde Unhöflichkeit
werten, als organisatorische Petitesse. Die
Kanzlerin hat einen vollen Terminplan, sie
kann nicht immer warten. Die Episode
lässt sich aber auch als versteckte Drohung
an die US-Regierung lesen: Wenn ihr euch
nicht an die Regeln haltet, tragt ihr die
Konsequenzen, unsere Geduld ist nicht
grenzenlos.
Eine Woche vor dem Hamburger G-20-
Gipfel wächst die Gefahr, dass der unbe-
rechenbare US-Präsident das prestigeträch-
44 DER SPIEGEL 27 / 2017
tige Regierungstreffen in ein Fiasko ver-
wandeln könnte. Umwelt, Flüchtlinge,
Handel: Überall sabotieren Trump und sei-
ne America-first-Administration die Suche
nach gemeinsamen Positionen der welt-
größten Industrie- und Schwellenländer.
Der Dissens sei „offenkundig“, sagte Mer-
kel am Donnerstag im Bundestag, es wer-
de „schwierige Diskussionen geben“.
Behält Merkel recht, würden die USA
nach ihrem Ausstieg aus dem Pariser Kli-
maabkommen ein weiteres globales Ver-
tragssystem in Gefahr bringen. Vor fast
neun Jahren, auf dem Höhepunkt der
Finanzkrise, hatten sich die 20 größten
Volkswirtschaften darauf verständigt, Kon-
junkturprogramme aufzulegen und ge-
meinsame Regeln gegen Banken-Crashs
und Steuerflucht zu vereinbaren. Von ei-
ner neuen Weltregierung, von der manche
beim Start der G-20-Treffen träumten,
kann zwar keine Rede sein. Dennoch
brachten die Gipfel manchen Fortschritt.
Inzwischen aber kündigt die Trump-Re-
gierung zahlreiche G-20-Absprachen auf,
weil sie die Welt nicht als „globale Ge-
meinschaft“ sieht, sondern „als Arena“, in
der jeder seinen „eigenen Vorteil sucht“,
wie es in einem Pamphlet von hochrangi-
gen Trump-Beratern heißt. Fressen oder
gefressen werden – das ist Washingtons
neue außenpolitische Richtschnur, die mit
Merkels Vorstellung von einer Welt ge-
meinsamer Rechte und Regeln nicht viel
zu tun hat.
Und so drohen von dem Hamburger
Treffen, das die Kanzlerin gern als Fest lich auch in Hamburg hätte auftreten sol-
von Kooperation und Völkerverständigung len. Diese Aufgabe übernimmt nun ein
inszenieren würde, ganz andere Botschaf- Mann, der vor drei Wochen seinen ersten
ten auszugehen. Die Spannungen zwi- Arbeitstag im Weißen Haus hatte.
schen den Supermächten Russland und Hinzu kommt: Die Zusagen, die Trump
USA nehmen wieder zu (siehe Kasten Sei- in Taormina gegeben hatte, sind inzwi-
te 46), und die Gefahr eines transatlanti- schen nichts mehr wert. Auf dem G-7-Tref-
schen Handelskrieges ist größer denn je, fen hatten sich die USA noch gegen „Pro-
mit möglicherweise verheerenden Folgen tektionismus“ und „unfaire Handelsprak-
für die globale Konjunktur. Der Westen? tiken“ ausgesprochen. Doch bei einem
Das war einmal. Treffen der Industrieländerorganisation
Die Nervosität unter den G-20-Planern OECD kürzlich in Paris wollten die ameri-
wächst, denn in Washington regiert das kanischen Unterhändler davon nichts mehr
Chaos. Mit Schaudern denken US-Diplo- wissen. Stattdessen sorgten sie dafür, dass
maten an den Gipfel der sieben westlichen die entsprechenden Passagen aus den Pro-
Industrienationen im sizilianischen Taor- tokollen herausflogen.
mina zurück, bei dem Trump die übrigen Es geht nicht nur um Begriffe, die Zahl
Delegationen entnervte, indem er einem der Handelskonflikte zwischen Washing-
wechselnden Team aus Beratern die Ver- ton und Brüssel ist in den vergangenen
handlungen übergab. Kurz darauf feuerte Wochen bedenklich gewachsen. Auf dem
er seinen Chefunterhändler, der ursprüng- Schreibtisch von Bundeswirtschaftsminis-

Anti-G-20-Plakat in Berlin: Bringen die USA ein weiteres globales Vertragssystem in Gefahr?
terin Brigitte Zypries liegt ein Papier, auf
dem die aktuellen Streitpunkte zusammen-
gefasst sind. Es ist eine lange Liste.
So verlangen die USA, dass Deutschland
endlich etwas gegen seine hohen Export-
überschüsse unternimmt. Sie prüfen die
Einführung einer sogenannten Grenzaus-
gleichsteuer, die zahlreiche deutsche Wa-
ren in den Vereinigten Staaten drastisch
verteuern würde. Sie wollen – im Gegen-
satz zu den Europäern – neue Wirtschafts-
sanktionen gegen den Iran verhängen und
fordern, dass Europa mehr Erdgas aus den
USA statt aus Russland bezieht.
Und, besonders brisant: Aus der Auf-
stellung geht hervor, dass sich Europäer
und Amerikaner bei einer Reihe von Streit-
punkten bereits gegenseitig mit Gegen-
und Vergeltungsmaßnahmen bedrohen.
Beispiel Rindersteaks: Seit 1989 darf aus
Gesundheitsgründen nur von solchen Tie-
ren Fleisch nach Europa geliefert werden,
die nicht mit Hormonen gemästet wurden.
Ist das Fleisch unbelastet, darf es auf den
Markt.
Diesen mehrfach vor der Welthandels-
organisation ausgetragenen Streitfall ha-
ben die USA nun erneut entfacht. Sie for-
dern, dass Europa seine Märkte auch für
Hormonfleisch öffnet, und drohen mit
Sanktionen. Lenkt Brüssel nicht ein, so
hat Washington mitgeteilt, könnten bei
über 70 Produktgruppen Strafzölle ver-
hängt oder auf mehr als hundert Prozent
erhöht werden.
Auf der Sanktionsliste zu finden sind
neben Schweinefleisch, Tomaten oder Kau-
gummi auch Motorräder mit einem Hub-
raum von bis zu 500 Kubikzentimetern.
Demnächst wollen die Amerikaner ent-
scheiden, welche Maßnahmen sie scharf
stellen.
HARRY WEBER / DER SPIEGEL
Strafe gegen Strafe, Vergeltung gegen
Vergeltung. Die gefährliche Spirale des
Wirtschaftskrieges droht rechtzeitig zum
Gipfel noch bei einem weiteren, stets be-
sonders sensiblen Produkt in Gang zu kom-
men: Stahl.
Seit Monaten giftet Trump gegen die
Einfuhr von billigem Stahl aus China, der
amerikanischen Herstellern schade. Han-
delsminister Ross soll nun einen Bericht
erstellen, der klären soll, ob sich die Bil-
ligimporte auf die nationale Sicherheit der
Vereinigten Staaten auswirken. Angekün-
digt war er bereits für Juni. Nun fürchtet
die Bundesregierung, dass Ross seinem
Chef im Vorfeld oder, noch schlimmer,
während des Treffens in Hamburg emp-
fiehlt, Strafzölle zu verhängen.
Das Problem ist, dass solche Zölle nicht
nur chinesische Firmen treffen würden,
sondern vornehmlich westliche Länder wie
DER SPIEGEL 27 / 2017 45

Russischer Langstreckenbomber über Syrien
„Der Kerl übertreibt“
Supermächte Moskau erwartet nicht mehr viel vom geplanten
Treffen zwischen Trump und Putin.
V
orfreude ist die schönste Freu-
de, heißt es – und in Moskau
hatte man reichlich Zeit, sich
auf die erste Begegnung mit Donald
Trump zu freuen. Erstens hatte der im
Wahlkampf versprochen, das Verhält-
nis zu Russland zu verbessern. Zwei-
tens aber dachte man sich im Kreml:
Schlimmer als unter Vorgänger Oba-
ma kann es nicht werden.
Jetzt wird es auf dem Hamburger
G-20-Gipfel wohl zum ersten Treffen
der beiden mächtigsten Männer der
Welt kommen. Aber längst ist in
Moskau aus Vorfreude Frustration ge-
worden – Ärger über den Washing-
toner Politikbetrieb im Ganzen, der
jede Annäherung an Russland ver-
hindert, aber auch über Trump und
seine Administration.
Dabei hatte es so gut angefangen:
Mit der Ernennung von Rex Tillerson
zum US-Außenminister. Wie viel
Wohlwollen der texanische Ölmana-
ger in Russland genießt, konnte man
bei seinem Antrittsbesuch im April
sehen. Der fand nämlich statt, als das
Verhältnis zur neuen Administration
auf seine erste große Probe gestellt
wurde.
Ein paar Tage zuvor hatte Trump
mit Marschflugkörpern einen syri-
schen Militärflugplatz beschießen las-
sen, es war ein gezielter Angriff auf
Moskaus Vasallen Baschar al-Assad.
Die Reaktion fiel dennoch verhalten
aus. Tillerson wurde von Putin emp-
fangen, und Russland nahm sogar
die Drohung zurück, es werde Luft-
einsätze in Syrien nicht mehr mit den
Vereinigten Staaten abstimmen.
Nicht Trump und seine Regierung
belasten das Verhältnis, sondern
46 DER SPIEGEL 27 / 2017
ITAR-TASS / IMAGO
Trumps Gegner in Washington, das
war damals einhellige Meinung in
Moskau. Die Demokraten wollten
von eigenen Fehlern ablenken, indem
sie die Schuld den Russen zuschöben,
sagte Putin noch vor wenigen Wo-
chen. Dabei habe Trump einfach den
besseren Wahlkampf geführt, „auch
wenn ich selbst manchmal dachte:
Der Kerl übertreibt“.
Aber seither haben sich die Fronten
verschoben. Mitte Juni hat der repu-
blikanisch dominierte US-Senat ein
neues Sanktionspaket beschlossen,
das freilich noch von Unterhaus und
Präsident gebilligt werden muss. Und
eine Woche später folgte, zur völligen
Verblüffung des Kreml, das Finanz-
ministerium. Pünktlich zum Antritts-
besuch des ukrainischen Präsidenten
Petro Poroschenko setzte es 38 wei-
tere russische Beamte, Geschäftsleute
und Unternehmen auf seine Sank-
tionslisten.
„Für Russland hat das gezeigt, dass
Trumps Administration entweder füh-
rungslos ist oder doppelzüngig“, sagt
der Moskauer Sicherheitsexperte Ale-
xej Arbatow. „Man bekennt sich zu
guter Zusammenarbeit und setzt zu-
gleich die Politik des Vorgängers fort,
den Kreml zu bestrafen.“ Die Hoff-
nungen, die man in Moskau auf das
erste Treffen mit Trump gesetzt habe,
„schmelzen dahin“, sagt Arbatow.
Immerhin ist da noch der Gipfel
selbst, unabhängig von allen bilatera-
len Treffen. Seit Russland aus der G-8-
Gruppe ausgeschlossen wurde, hat die
G 20 für Moskau an Bedeutung ge-
wonnen – als Bühne, auf der man sich
im Kreise der großen Nationen zeigen
kann. Christian Esch
Kanada, Südkorea, Japan und die Euro-
päische Union, vor allem die Bundesrepu-
blik. Voriges Jahr war Deutschland der
achtgrößte Exporteur von Stahl in die
USA, noch vor China. Macht Trump Ernst,
hätte das Auswirkungen auf Teile der hie-
sigen Exportwirtschaft und katastrophale
Folgen für das transatlantische Bündnis.
Schon diskutieren die Handelspolitiker
in Berlin und Brüssel, welche Gegenmaß-
nahmen in diesem Fall ergriffen werden
müssten. „Die EU wird angemessen ant-
worten, falls die USA Handelsbeschrän-
kungen gegen deutsche oder europäische
Stahlunternehmen einführen“, sagt Wirt-
schaftsministerin Zypries. Es gebe „viele
Stellschrauben, die gedreht werden könn-
ten“. Und auch die zuständige Brüsseler
Handelskommissarin Cecilia Malmström
groovt sich schon ein: „Wenn uns das tref-
fen würde, würden wir zurückschlagen.“
Klar ist, dass Brüssel umgehend gegen
Strafzölle der Amerikaner bei der Welt-
handelsorganisation WTO klagen würde.
Doch solch ein Verfahren dauert in der
Regel Jahre, und so denken die Beamten
auch über Gegenmaßnahmen nach, die
schneller wirken. Im Blick haben sie Straf-
zölle gegen Agrarprodukte wie Mais, Soja
oder Reis. Das soll amerikanische Farmer,
von denen viele Trump gewählt haben, zu
Protesten gegen Washington anstacheln.
Zugleich will Brüssel neue Allianzen
schmieden. Die Verhandlungen mit Japan
über ein Freihandelsabkommen machen
gute Fortschritte. Noch vor dem Gipfel will
Malmström nach Tokio fliegen, um offene
Fragen zu klären. Hat sie Erfolg, wird Ja-
pans Premierminister Shinzō Abe am kom-
menden Donnerstag auf dem Weg nach
Hamburg in Brüssel Station machen, um
eine politische Erklärung über den Deal
zu unterzeichnen. Die Absicht ist klar:
„Uns geht es um ein Signal an Washington:
Wir sind für offene Märkte“, sagt ein EU-
Diplomat, der mit der Planung befasst ist.
Die Zeichen stehen auf Sturm. Washing-
ton betrachtet es als unfreundlichen Akt,
dass die EU-Kommission am Dienstag den
US-Internetriesen Google mit einem Buß-
geld von 2,4 Milliarden Euro belegt hat,
weil das US-Unternehmen seine marktbe-
herrschende Stellung missbraucht habe.
Umgekehrt registrieren Merkels Leute,
dass die Amerikaner sich nicht nur bei Kli-
ma und Handel, sondern auf breiter Front
aus dem G-20-Prozess verabschieden wol-
len. „Wir befinden uns auf einer gefährli-
chen Rutschbahn“, sagt der Finanzexperte
und Europaparlamentarier Markus Ferber
(CSU). „Die USA ziehen sich aus interna-
tionalen Gremien zurück. Das können wir
überall beobachten.“
Zu befürchten steht, dass die Amerika-
ner zum Beispiel aus dem gemeinsamen
Kampf gegen Steueroasen und Steuerdum-
ping aussteigen, einem Projekt, bei dem
die Staatengruppe sich auf weitreichende
Zusammenarbeit verständigt hatte.
Auch bei der Regulierung von Finanz-
märkten und Banken setzen die Vereinig-
ten Staaten zunehmend auf einen Allein-
gang. Bis heute haben sie die Vereinbarung
über die bessere Ausstattung von Banken
mit Eigenkapital, das sogenannte Basel-III-
Abkommen, nicht umgesetzt. Und wie es
aussieht, wollen sie das auch in Zukunft
nicht nachholen. Mitte Juni hatte das US-
Finanzministerium Pläne vorgestellt, die
auch die Umsetzung internationaler Kapi-
tal- und Liquiditätsstandards teilweise in-
frage stellte.
Das Bemühen, den Finanzsektor besser
zu überwachen, damit sich eine globale
Krise wie nach dem Zusammenbruch der
Lehman-Bank nicht wiederhole, gehört
zur Gründungsgeschichte der G 20. Wenn
sich die Amerikaner aus diesem Prozess
zurückziehen, versinkt die Veranstaltung
in Bedeutungslosigkeit.
Noch hofft Merkel, dass Trump es in
Hamburg nicht zum Eklat kommen lässt.
Ende dieser Woche schickte sie ihren Chef-
unterhändler Lars-Hendrik Röller nach
FORSCHER
Washington, um zu retten, was für den
Gipfel noch zu retten ist.
Zugleich bereitet sich die Kanzlerin da-
rauf vor, dass Trump hart bleibt – und sie
sich ihm entgegenstellen muss. Am Don-
VERPACKUNGS-
nerstag stimmten die europäischen G-20-
Länder bei einem Treffen in Berlin ihre
Gipfelstrategie ab. Motto: Gemeinsam ge-
KÜNSTLER
gen Trump.
Merkel steht vor einer schwierigen Wahl.
Entweder setzt sie auf Konsens – und geht
dabei das Risiko ein, dass die Gipfelerklä-
rung bis zur Unkenntlichkeit verwässert ALTANA – global führend in reiner Spezialchemie. Wir setzen
wird. Oder sie versucht, Trump zu isolie- weltweit auf die Kunst, genau auf den Kundenbedarf zuge-
ren, und inszeniert sich als die Frau in
schnittene Produkte zu entwickeln. Deswegen entwickeln un-
Europa, die den USA die Stirn bietet.
In dieser Woche probierte sie es noch sere Experten an rund 50 Standorten weltweit nicht nur die
einmal mit der Kompromissmethode. passende chemische Formel, sondern die optimale Lösung,
Nachdem die Veranstalter der Berliner Ta- damit zum Beispiel Verpackungen nicht nur schön aussehen,
gung den US-Handelsminister kurzent- sondern jeder nur denkbaren Belastung standhalten.
schlossen abgeknipst hatten, ging Merkel
selbst zum Podium. Wie sollte sie auf die
Attacke aus Washington reagieren, so lau-
tete die Frage: Zurückschlagen? Drohen? Entdecken Sie dieses Plus für Ihr Geschäft:
Merkel entschied sich für das Gegenteil. www.altana.de/plus
Sie griff die Idee des Trump-Ministers auf,
die Gespräche über ein transatlantisches
Freihandelsabkommen wiederzubeleben.
Das sei doch ein prima Vorschlag, flötete
sie. Bei solchen Verhandlungen könnten
„Konflikte doch am besten ausgeräumt MARCEL ALTENBURG, FORSCHER IM GESCHÄFTSBEREICH ACTEGA COATINGS & SEALANTS
werden“.
Peter Müller, Christoph Pauly, Christian Reiermann,
Michael Sauga, Christoph Scheuermann,
Christoph Schult, Gerald Traufetter

Video: Wie Trump sich

vorbereitet
spiegel.de/sp272017g20
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 27 / 2017 47

Deutschland

„Projekt des Teufels“

Außenpolitik In Brüssel und auf Rügen organisieren sich die Gegner der Gaspipeline „Nord Stream 2“.
Ein Problem für den russischen Energieriesen Gazprom – und für die Kanzlerin.

D
er polnische Außenminister Witold kum geworden. Der Ärger der Osteuro- zu bestrafen, gleichzeitig aber neue Ener-
Waszczykowski hat sich mit seinen päer geht bereits so weit, dass die Juncker- giegeschäfte mit Gazprom anzubahnen.
rechtsnationalen Positionen in Behörde vergangene Woche ankündigte, Erstaunlicher ist, dass sich auch die
Europa nicht gerade den Ruf eines Sym- das Verfahren an sich zu reißen. Der für Kanzlerin bislang öffentlich hinter den Bau
pathieträgers erarbeitet. Aber als der 60- die Energieunion zuständige Kommissions- der zweiten Erdgasröhre stellt. Schließlich
Jährige in der vergangenen Woche beim vizepräsident Maroš Šefčovič erläuterte droht die Pipeline so ziemlich jedes Ziel
Treffen der Ostseeanrainerstaaten auf Is- am Montag im Rat der Energieminister, der europäischen Energie- und Russland-
land den Bau der Erdgaspipeline „Nord dass künftig nicht die Deutschen, sondern politik zu untergraben. Europa will eigent-
Stream 2“ von Russland nach Deutschland die EU-Kommission mit Russland über die lich unabhängiger von russischem Gas wer-
als „antieuropäisch“ geißelte, erhielt er umstrittene Pipeline verhandeln wolle. 13 den, Deutschland aber macht sich für ei-
großen Zuspruch von seinen Kollegen. Länder unterstützten ihn, der deutsche nen Lieferweg stark, der die Abhängigkeit
Es könne nicht sein, dass Deutschland Vertreter, Wirtschaftsstaatssekretär Rainer erhöht. Europa will die Regierung in Kiew
eine Frage dieser Tragweite im Alleingang Baake, schwieg. stärken, Deutschland aber setzt sich für
entscheide, so der Pole, die EU müsse ein- Würde sich die EU-Kommission durch- ein Projekt ein, das es den Russen ermög-
schreiten. Offener Widerspruch kam nur setzen, wäre das ein herber Schlag für lichen könnte, die Ukraine als Transitland
vom deutschen Außenminister Sigmar „Nord Stream“, jenes Gemeinschaftsunter- zu umgehen.
Gabriel. Der europäische Gas- Merkel sitzt in der Frage
markt dürfe nicht „zurück in die Gaspipelines von Russland nach Deutschland „Nord Stream“ zwischen allen
Gefangenschaft der Politik“ ge- Stühlen. Schon vor zwei Jahren
bracht werden, entgegnete der 300 km hatte sie die Pipeline in klei-
Vizekanzler. Wyborg ner Runde als „Teufelsprojekt“
Die geplante Pipeline spaltet bezeichnet. „Die Kanzlerin ist
Europa, und wie schon in der Nord Stream kein Fan des Projekts“, heißt
St. Petersburg Grjasowez
Eurokrise und beim Flüchtlings- es in ihrem Umfeld. Nur: Wa-
drama wird den Deutschen vor- DEUTSCHL AND Nord Stream 2 rum hält sie trotzdem daran
geworfen, rücksichtslos ihre In- RUSSL AND fest?
Greifswald
teressen durchzusetzen. Beson- Rehden Berlin Jamal Moskau
Merkel, heißt es in der CDU,
ders übel nehmen viele EU-Part- scheue einen weiteren Konflikt
ner der Bundesregierung, dass mit dem russischen Präsidenten,
sie diesmal nonchalant das Ge- POLEN WEISS- nicht zuletzt wegen der nahen-
schäft des russischen Präsidenten RUSSL AND den Bundestagswahl. Schließ-
Wladimir Putin betreibt. Wenn U K RA I N E lich finden viele Deutsche, dass
die neue Röhre durch die Ostsee die Bundesregierung mit den
erst einmal verlegt ist, würden Sanktionen gegen Moskau
ab 2019 rund 70 Prozent des von schon zu weit gegangen ist.
Russland in die EU gelieferten Gases über nehmen des russischen Gazprom-Konzerns Die Zeit, sich von dem Projekt abzuset-
„Nord Stream 1“ und „Nord Stream 2“ in und Energieunternehmen wie BASF und zen, ist auch deshalb ungünstig, weil die
Deutschland ankommen, vorbei an Polen, Uniper (früher Eon), bei dem Altkanzler Amerikaner den Druck auf Europa erhö-
den baltischen Staaten und der Ukraine. Gerhard Schröder den Aufsichtsrat leitet. hen. Kürzlich entschied der US-Senat, die
Als „Werkzeug russischer Energieaggres- Solange nicht geklärt ist, ob Berlin oder Sanktionen gegen Russland auszuweiten.
sion“ brandmarkte der ukrainische Präsi- Brüssel über das Projekt verhandeln, den- Die Senatoren verbanden die Entschei-
dent Petro Poroschenko das Projekt daher ken Ostseeanrainer wie Schweden und vor dung mit unverhohlenen Drohungen ge-
unlängst in Brüssel. Viele Mitglieder der allem Dänemark nicht daran, die nötige gen europäische Firmen, die mit Russland
Staatengemeinschaft denken ähnlich, zu- Erlaubnis für die Verlegung der Röhren im Gasgeschäfte machen. Außenminister Ga-
mal sie auch die EU-Kommission an ihrer Meer zu erteilen. „Die Chancen für das briel und der österreichische Kanzler Chris-
Seite wissen: Er habe eine Präferenz „für Projekt sinken damit beträchtlich“, sagt der tian Kern warfen den Amerikanern darauf-
Pipelines, die verbinden, statt für Pipelines, grüne Außenpolitikexperte Reinhard Büti- hin öffentlich vor, unter dem Deckmantel
die trennen“, sagt Kommissionschef Jean- kofer. „Die Hoffnungen von Gazprom, von Sanktionen die Interessen der US-Gas-
Claude Juncker. Putin und Schröder, ihr Projekt durchzu- industrie zu betreiben. Auch wenn ihr der
Dabei ist das Projekt mit Europarecht zocken, brechen in sich zusammen.“ rüde Ton von Gabriels Erklärung missfiel,
durchaus vereinbar, das gibt sogar Brüssel Dass die Sozialdemokraten das Projekt blieb Merkel nichts anderes übrig, als sich
hinter vorgehaltener Hand zu. Ein Gutach- unterstützen, ist keine Überraschung. Ihre hinter ihren Außenminister zu stellen.
ten des juristischen Dienstes der EU-Kom- Sympathie hat nicht nur mit Schröder zu Was die Sache für Merkel noch pikanter
mission, das die Brüsseler Behörde unter tun. Für die Genossen ist die Pipeline Teil macht: Das Ende der geplanten Pipeline
Verschluss hält, kommt zu dem Ergebnis, der Entspannungspolitik gegenüber Russ- liegt in ihrem Wahlkreis. Dort formiert
dass die Genehmigung für „Nord Stream land. Die Genossen sehen keinen Wider- sich ebenfalls der Widerstand gegen das
2“ nicht in die Zuständigkeit der EU fällt. spruch darin, Moskau wegen der Krim-An- Projekt. 56 Prozent holte Merkel hier 2013.
Doch es geht längst nicht nur um recht- nexion und der Unterstützung der Separa- Ob sie bei der Bundestagswahl im Septem-
liche Fragen. Die Pipeline ist zum Politi- tisten in der Ostukraine mit Sanktionen ber wieder so gut abschneidet, ist fraglich.
48 DER SPIEGEL 27/ 2017
 Johann Tophoff-Kaup zum Beispiel ist
nicht gut auf Merkel zu sprechen. Der 29-
jährige Landwirt aus Rügen hat in seinen
Weizenfeldern Schilder aufgestellt mit
dem Slogan: „Kein Acker für ,Nord Stream
2‘“. Dabei will das Pipeline-Unternehmen
dem mecklenburgischen Landwirt rund
200 Hektar seines Landes abkaufen. Aber
Tophoff-Kaup will kein Geld, er braucht
das Land für Ackerbau und Viehzucht.
Jeden Tag sieht Tophoff-Kaup zwei bis
drei Züge mit neuen Rohrsegmenten vor-
bei zum Hafen von Sassnitz rollen, mehr
als 30 000 Rohre liegen dort bereits. Mit
jedem weiteren Rohr schwindet sein Ver-
trauen in die Kanzlerin. „Wer erst die Fah-
nen für uns hochhält und uns dann im
Stich lässt, der wird unseren Unmut deut-
lich steigern“, sagt der Landwirt.
Auch in der CDU wächst der Unmut
über „Nord Stream 2“. Der Vorsitzende
des Auswärtigen Ausschusses im Bundes-
tag, Norbert Röttgen, gehört ebenso zu
den Gegnern wie EU-Kommissar Günther
Oettinger oder der Europaabgeordnete El-
mar Brok. „Das ist ein politisches, kein
wirtschaftliches Projekt“, sagte Oettinger
kürzlich bei einer Veranstaltung in Wien.
„Es gibt keinen wirtschaftlichen Grund für
,Nord Stream 2‘“, sagt Brok, „die Kapazi-
täten von ,Nord Stream 1‘ sind längst nicht
ausgeschöpft.“ Und der CDU-Außenpoli-
tiker Christoph Bergner findet, es stehe ei-
ner Regierung „nicht gut an, sich gegen
ein so klares europäisches Interesse natio-
nal zu profilieren, selbst wenn sie das
Recht auf ihrer Seite hat“.
Die EU-Kommission jedenfalls will sich
per Ratsbeschluss ein Mandat für die Ver-
handlungen mit Moskau geben lassen. „Es
kann keinen regelungsfreien Raum geben“,
sagt Kommissar Šefčovič. Es könne nicht
sein, dass bis zum letzten Millimeter in
der Ostsee nur russisches Recht gelte und
das EU-Recht erst auf dem Festland. Er
finde es, „beunruhigend“, so der Slowake,
„wenn über ,Nord Stream 1‘ und ,Nord-
stream 2‘ ab 2019 ein Großteil des russi-
schen Gases nach Europa kommen soll“.
Das Unternehmen hält die Argumente
der Gegner für vorgeschoben. Der Vor-
wurf, Europa erhöhe seine Abhängigkeit
von russischem Gas durch die neue Pipe-
line, sei „ein nicht mehr zeitgemäßes
Schreckgespenst“, heißt es bei „Nord
Stream“. Und die EU-Kommission „kein
ehrlicher Makler“.
Der Kanzlerin wäre es gar nicht unlieb,
wenn Brüssel das Verfahren übernimmt
und sich die Verhandlungen in die Länge
ziehen, glaubt nicht nur CDU-Politiker
Bergner. „Damit wäre gewährleistet, dass
die Interessen der EU-Partner berücksich-
tigt werden; gleichzeitig könnten wir das
Thema damit aus dem Bundestagswahl-
kampf heraushalten.“
Peter Müller, Christoph Schult, Jonas Weyrosta
Teure
Sprüche
Kampagnen Niedersachsens Re-
gierungschef Stephan Weil gerät
in Erklärungsnot: Seine Spreche-
rin vergab freihändig Aufträge
an einen alten SPD-Bekannten.
M
ichael Kronacher machte als
„Frog“ Karriere, als „Friend of
Gerhard“. Seinem Duzfreund
Gerhard Schröder half Kommunikations-
designer Kronacher mit seinen Kampagnen
zuerst auf den Sessel des Ministerpräsi-
denten in Niedersachsen und dann ins
Kanzleramt. Danach erhielt seine Agentur
Odeon Zwo in Hannover Aufträge über 29
Millionen Euro für „Kommunikationsstra-
tegien“ von der Schröder-Regierung. Der
Bundesrechnungshof rügte die Vergabe.
Nun steht in Niedersachsen erneut eine
SPD-geführte Regierung wegen Kronacher-
Deals in der Kritik. An Vorschriften vorbei
wurde er beauftragt, nach einem neuen
Slogan für das Bundesland zwischen Nord-
see und Harz zu suchen. Ministerpräsident
Stephan Weil bringt die Claim-Suche in
Erklärungsnot. Seine enge Mitarbeiterin
und Sprecherin Anke Pörksen steht im Mit-
telpunkt der Affäre.
Die Juristin war schon 2013 dabei, als
Kronacher im „Landhaus am See“, in
Garbsen, einen seiner „kreativen Work-
shops“ abhielt. Das bisherige Landesmot-
to: „Sie kennen unsere Pferde. Erleben
Sie unsere Stärken“, gefiel der Weil-Re-
gierung nicht mehr. Kronacher und Pörk-
sen sammelten Vorschläge für einen neu-
en Claim. Sie wollten einen Spruch, am
besten so eingängig wie der aus Baden-
Württemberg: „Wir können alles. Außer
Hochdeutsch.“
Geladen waren die Mitarbeiter aus den
Pressestellen der Ministerien. Nur leider
kam nichts heraus. Auch ein zweiter Krea-
tiv-Workshop endete ohne eine tolle Idee.
Niedersachsen-Claim
An Schlichtheit kaum zu überbieten
Dann passierte nichts, bis sich Anfang
2015 Oppositionspolitiker nach den Fort-
schritten für den Niedersachsen-Slogan
erkundigten. Weil in der Pressestelle inzwi-
schen offenbar aufgefallen war, dass Kron-
acher ohne das vorgeschriebene Vergabe-
verfahren nach klugen Sprüchen suchte,
ließ Pörksen dies im Februar 2015 nachho-
len. Die Ausschreibung war maßgeschnei-
dert für Michael Kronacher: Erfahrungen
bei der „Entwicklung von Landes-Claims“
und „Kreativ-Workshops“ sollten die Be-
werber mitbringen, hieß es. Die Abgabe-
frist war so kurz, dass Mitbewerber abwink-
ten. Kronacher erhielt den Zuschlag.
Anfang 2015 wiederholte Kronacher
also seine Kreativ-Workshops, die zwei
Jahre vorher gefloppt waren. „Niedersach-
sen. Frischer Wind“, kam dabei heraus.
Und: „Niedersachsen. Vielfalt ist unsere
Natur.“ Keiner davon gefiel der Runde.
Als die fragwürdigen Kronacher-Aufträ-
ge bekannt wurden, untersuchte der Chef
der Staatskanzlei, Jörg Mielke, die Vorgän-
ge in der eigenen Pressestelle und das
Agieren seiner Kollegin Pörksen, die wie
er im Rang einer Staatssekretärin arbeitet.
Sein Urteil war hart: Mehrere Aufträge an
Kronacher hatte Pörksen demnach freihän-
dig vergeben, Akten fehlten oder wurden
gar nicht erst angelegt. Fast sämtliche Vor-
gänge, so Mielke, litten unter „erheblichen
handwerklichen und rechtlichen Mängeln“.
Uwe Schünemann, CDU-Obmann in ei-
nem Untersuchungsausschuss des Landtages
zu Vergabeverstößen, fordert nun die Staats-
anwaltschaft auf, im Fall Kronacher zu er-
mitteln. Die führt bereits ein Verfahren we-
gen ähnlicher Vorgänge im Wirtschaftsmi-
nisterium. „Jeder Kleingartenverein wird
ordentlicher geführt als die Staatskanzlei.“
Schünemann will Weil in den Ausschuss vor-
laden lassen. Denn ein internes Schreiben
vom 11. Mai 2016, in dem das weitere Vor-
gehen in der erfolglosen Claim-Suche be-
schrieben wird, trägt Weils Paraphe. Damit
billigte der Ministerpräsident persönlich ei-
nen Vorgang, den sein Staatssekretär Mielke
später als Vergabeverstoß beurteilen sollte.
Statt die Zusammenarbeit mit Kron-
acher wegen Erfolglosigkeit zu beenden,
machte Pörksen ihn zu einer Art General-
unternehmer. Unter seiner Regie sollten
nun mehrere Agenturen mit frischen
Claim-Vorschlägen gegeneinander antre-
ten. In einer E-Mail an den „lieben Micha-
el“ erkundigte sich die Regierungsspreche-
rin über den Stand der Dinge: „Wie weit
bist Du?“ Antwort: „Liebe Anke, die drei
Agenturen sind gebrieft und arbeiten. Wir
dürfen gespannt sein.“ Am 13. Juni 2016
sollten die neuen Vorschläge vorliegen.
Im September 2016 war die mehr als
dreijährige Suche beendet. Das Ergebnis
kostete mindestens 90 000 Euro und war
an Schlichtheit kaum zu überbieten: „Nie-
dersachsen. Klar.“ Hubert Gude
DER SPIEGEL 27/ 2017 49
Deutschland
„Ich bin ein Terrorist, haha!“
Islamisten Mit mindestens 64 Behörden hatte Anis Amri zu tun, doch sie haben ihn nicht gestoppt.
Sechs Monate nach seinem Anschlag lassen sich die Versäumnisse der Staatsorgane rekonstruieren.
A
n einem Montag im Juli 2015 mel-
det sich um 13.45 Uhr ein junger
Mann auf dem Polizeirevier Frei-
burg-Nord. Er sagt, er komme aus Tune-
sien und wolle Asyl beantragen. Die
Beamten drücken ihm ein Formular in fran-
zösischer Sprache in die Hand. In krakeli-
ger Schrift schreibt der Mann, er sei 1993
geboren, Mechaniker und Koch, sein
Name sei Amir.
Amir. Nicht Amri.
Es sind nur zwei vertauschte Buchsta-
ben. Sie ändern alles.
Hätten die Polizisten an jenem 6. Juli
Anis Amri in den Computer eingegeben,
wäre eine Warnung erschienen. Sie hätten
erfahren, dass der junge Mann kein schutz-
bedürftiger Flüchtling ist, sondern ein Kri-
mineller, der in Sizilien im Gefängnis saß
und nach Tunesien abgeschoben werden
sollte. Ein Gewalttäter, „dem die Einreise
in das Schengener Gebiet oder der Auf-
enthalt dort zu verweigern ist“. So stand
es in einem Informationssystem, auf das
Behörden schengenweit Zugriff haben. Die
Italiener hatten den Eintrag zu Amri zwei
Wochen zuvor eingestellt. Das System hät-
te perfekt funktioniert.
Die Polizisten aber tippten „Amir“ ein,
so wie es auf dem Zettel stand. Der Com-
puter meldete: kein Treffer. Die Beamten
stellten ihm eine Fahrkarte aus und schick-
ten ihn nach Karlsruhe, wo er sich bei der
Landeserstaufnahme für Flüchtlinge mel-
den sollte. Dort kam er nicht an.
Nur ein Buchstabendreher, schon ver-
sagte das System.
Anis Amri war nun im Land, aber das
Land war auf einen wie ihn nicht vorbe-
reitet. Es sollte Deutschland 532 Tage lang
nicht gelingen, seiner habhaft zu werden.
Selbst am 19. Dezember 2016 nicht, als
Anis Amri einen Lkw auf den Weihnachts-
markt am Berliner Breitscheidplatz lenkte
und den bislang größten islamistischen An-
schlag in der Bundesrepublik verübte.
Zwölf Menschen starben, Anis Amri floh,
bis ihn ein Polizist bei Mailand erschoss.
Das Attentat lag gerade ein paar Tage
zurück, da gab es die ersten Schuldzuwei-
sungen. In Nordrhein-Westfalen (NRW)
stand der SPD-Innenminister unter Be-
schuss, in Berlin forderte der CDU-Bun-
desinnenminister radikale Reformen. Das
alles, bevor die gründliche Aufarbeitung
des Falles begann.
Mittlerweile tagt ein Untersuchungsaus-
schuss in NRW, bei der Berliner Polizei
wurde eine Taskforce gegründet, der Senat
50 DER SPIEGEL 27 / 2017
setzte einen Sonderermittler ein, der sei- sagte, er sei Ägypter. Doch im Heim wuss-
nen Zwischenbericht am Montag vorstellt. ten alle, dass er Tunesier war.
Nach und nach wird sichtbar, was zu dem Der Mann trug einen Bart und maßre-
Terroranschlag geführt hat, welche Ver- gelte seine Mitbewohner: Trinkt keinen
säumnisse es gab, welche Fehler. Alkohol, raucht nicht. Europa sei „gottlos“.
Ein Team des SPIEGEL hat Zehntausen- Freimütig zeigte er Fotos auf seinem
de Seiten Akten gelesen und Menschen Handy, Männer mit Kalaschnikows. Freun-
getroffen, die mit dem Fall zu tun hatten: de und Verwandte, erzählte der Mann, die
Politiker, Polizisten, Behördenleiter und für den IS in Syrien kämpften.
aufmerksame Flüchtlinge, die schon früh Ahmad Imran fühlte sich unwohl. Er
vor dem jungen Tunesier gewarnt haben. meldete den Mann im Oktober 2015 bei
Die Recherchen ergeben das Bild eines den örtlichen Behörden. Dort war der
beispiellosen Behördenwirrwarrs, eines Mann als Mohamed Hassa registriert, aus
Versagens des deutschen Rechtsstaats und Alexandria, Ägypten.
seiner starren, föderalistischen Struktur. Hassa habe in mehreren Städten Asyl
Eines Systems, in dem viele zuständig wa- beantragt, um mehr Geld zu kassieren, er-
ren, aber keiner verantwortlich. zählte Imran danach der Polizei. Die Be-
Mehrere Hundert Beamte in mindestens amten erfuhren, was andere Behörden erst
64 Behörden waren mit Amri befasst. Am sehr viel später mitbekamen: Ein IS-Mann
Ende gelang es ihnen nicht, Amri zu stop- aus Tunesien ist in Deutschland und ver-
pen. „Unstetigkeit ist die Konstante im Be- wendet unterschiedliche Identitäten. Hassa
wegungsmuster des Amri“, notierte ein alias Amri wurde am 28. Oktober 2015 zu
Mitarbeiter des Landeskriminalamts (LKA) einem „Prüffall Islamismus“.
Berlin. Mit dieser Unstetigkeit kamen die An diesem Tag hat sich Amri in Dort-
staatlichen Organe nicht zurecht. mund als „Ahmed Almasri“ registrieren
Anis Amri konnte monatelang mit bis lassen, einen Tag später unter demselben
zu 14 verschiedenen Identitäten hausieren Namen in Münster. Er wird einer Unter-
gehen. Er konnte Handys klauen, prügeln kunft in Oberhausen zugewiesen und er-
und mit Drogen dealen. Er konnte hält auch hier Geld, insgesamt mindestens
schwarzfahren, Papiere fälschen und sich 3404,81 Euro bis April 2016.
Sozialleistungen erschleichen. Er konnte Kurz darauf erfuhr ein Informant, den
tricksen, täuschen, lügen. Und niemand das Landeskriminalamt NRW in die Isla-
bestrafte ihn. mistenszene eingeschleust hatte, von ei-
Vor allem aber konnte er sich weiter ra- nem „Anis“, der Böses plane. Der Spitzel
dikalisieren und eine Wut auf das Land ist in den Akten nur als „VP01“ (Vertrau-
entwickeln, das ihn so offen empfangen ensperson) bezeichnet. VP01 spähte das
hatte. Er sprach mit Kämpfern vom „Isla- Netzwerk des Hasspredigers Abu Walaa
mischen Staat“ (IS), besuchte drei der ra- aus, eines Anführers der salafistischen Sze-
dikalsten Moscheen Deutschlands, las An- ne in Deutschland. In Videos ließ sich Abu
leitungen zum Bombenbau im Internet. Walaa nur von hinten filmen, er war der
Und niemand störte ihn dabei. „Prediger ohne Gesicht“. Amri soll min-
Die Behörden wussten, dass Anis Amri destens zweimal in Abu Walaas inzwi-
gefährlich werden könnte. Sie beobachte- schen verbotener Moschee in Hildesheim
ten ihn monatelang. Doch in den entschei- gewesen sein.
denden Wochen verloren sie ihn aus den In diesem Umfeld galt Amri zwar nur
Augen. Er war am Ende wie eine Kugel als Randfigur. Doch was VP01 über ihn zu
im Flipperautomaten. Es gab viele Berüh- berichten wusste, ließ die Sicherheitsbe-
rungspunkte, aber zu greifen war er nicht. hörden aufhorchen.
Warum eigentlich nicht? Wenige Tage nach den Anschlägen von
Die ersten Hinweise darauf, dass Anis Paris am 13. November 2015 mit 130 Toten
Amri womöglich ein gefährlicher Islamist prahlte Amri, er könne problemlos in
ist, lagen früh vor. Sie kamen nicht von ei- Frankreich Kalaschnikows besorgen, um
ner Behörde, sondern von Ahmad Imran*, „hier“ etwas „zu machen“. VP01 schlug er
einem Apotheker aus Aleppo. Imran reiste vor, gemeinsam zu den „Brüdern in Paris“
2015 nach Deutschland. Er wohnte in einer zu fahren. War das Angeberei oder eine
Flüchtlingsunterkunft in Emmerich am ernst zu nehmende Absicht?
Rhein. Dort traf er auf einen Mann, der Der Generalbundesanwalt, der die Er-
mittlungen „Ventum“ um Abu Walaa führ-
* Name geändert. te, beantragte, Amris Handy und seine
Attentäter Amri: „Ich schlachte dich!“

DER SPIEGEL 27 / 2017 51

Deutschland
DPA
Salafistengröße Abu Walaa, Razzia in Hildesheim 2016: „Hier was machen“
Chats überwachen zu dürfen. Der Bundes-
gerichtshof stimmte zu.
Es ist Dezember, als ein Lichtbildver-
gleich der Polizei mit „an Sicherheit gren-
zender Wahrscheinlichkeit“ bestätigt: Hassa
und Amir sind ein und dieselbe Person. Die
Fotos decken sich außerdem mit Bildern
von Anis Amri, die Italien übermittelt hatte.
Von derartigen Erkenntnissen der Poli-
zei bekommen die kommunalen Auslän-
derbehörden lange nichts mit. Für sie ist
Hassa alias Amir alias Amri einer von
Zehntausenden Asylbewerbern, die nach
Deutschland gekommen sind und versorgt
werden müssen. Monat für Monat erhält
Amri als Hassa Barschecks, die er quittie-
ren muss. Jedes Mal krakelt er etwas ande-
res auf das Formular. Es fällt keinem auf.
Deutschland steckt in der Hochphase
des Flüchtlingszustroms. Es ist noch nicht
lange her, dass Angela Merkel die in
Ungarn gestrandeten Flüchtlinge nach
Deutschland durchgelassen hat. Die Be-
hörden schaffen es nicht, jeden, der an-
kommt, ordentlich zu registrieren, ge-
schweige denn zu überprüfen. Kriminelle
wie Anis Amri nutzen das humanitäre
Chaos aus.
I
n einem roten Backsteinbau im Berli-
ner Stadtteil Treptow ist das Gemein-
same Terrorabwehrzentrum der Sicher-
heitsbehörden (GTAZ) untergebracht. Es
ist eine Antwort auf die Anschläge vom
11. September 2001. Damals wurden die
deutschen Behörden kritisiert, weil sie die
Hamburger Zelle nicht erkannt hatten.
Was auch daran lag, dass sie ihre Erkennt-
nisse kaum ausgetauscht hatten.
Inzwischen sitzen Vertreter von bis zu
40 Behörden zusammen und berichten sich
gegenseitig über die gefährlichsten Islamis-
ten im Land. Am 4. Februar 2016 beschäf-
tigen sie sich das erste Mal mit Amri.
Was sie über ihn wissen, halten sie noch
für dünn. VP01 gilt zwar als zuverlässig,
musste sich aber mit Amri über eine Über-
setzungs-App unterhalten. Hat der Infor-
mant wirklich alles verstanden? Die Runde
im GTAZ kommt zu dem Ergebnis: „Ein
schädigendes Ereignis in der Zukunft ist
eher unwahrscheinlich.“ Auf einer Skala
52 DER SPIEGEL 27 / 2017
CHRIS GOSSMANN / DPA
von acht erhält das Szenario um Amri eine Doch Amris Gesprächspartner scheint es
sieben: eher auszuschließen. nicht zu kennen. „Ich habe dich eigentlich
Dennoch wird Amri zur selben Zeit im nicht verstanden“, antwortet er. Amri gibt
polizeiinternen System Inpol ausgeschrie- nur ein Wort zurück: „Dougma“. Ein IS-
ben: „Person ist dem islamistischen Spek- Synonym für „Selbstmordattentat“. Die
trum zuzuordnen. Mutmaßlicher Bezug Beamten stellen außerdem fest, dass Amri
zum IS“, heißt es. Grundlage ist ein Gut- im Netz auf Dschihad-Seiten surft und sich
achten des Bundesamts für Verfassungs- Anleitungen zum Bau von Rohrbomben
schutz, das die bisherigen Erkenntnisse ansieht.
zusammenfasst. Amri kam demnach 2015 Für die Ermittler des Landeskriminal-
mutmaßlich mit zwei anderen Terrorver- amts NRW steht damit fest, dass Amri ei-
dächtigen aus Italien nach Deutschland: nen Anschlagsplan verfolgt. Sie schreiben
Außerdem versuche er offensiv, „Perso- an den Generalbundesanwalt und regen
nen als Beteiligte an islamistisch motivier- die Einleitung eines Verfahrens wegen der
ten Anschlägen im Bundesgebiet zu ge- „Vorbereitung einer schweren, staatsgefähr-
winnen“. denden Gewalttat“ an. Karlsruhe leitet den
Später gibt es unter den Behörden Streit Fall an die Generalstaatsanwaltschaft Ber-
um den Wert dieses Gutachtens. General- lin weiter. Die entscheidet, wegen versuch-
bundesanwalt Peter Frank wies im NRW- ter Beteiligung an einem Tötungsdelikt zu
Untersuchungsausschuss darauf hin, dass ermitteln. Das Verfahren bleibt weitge-
die Erkenntnisse gerichtsverwertbar wa- hend ergebnislos – bis zum Tag des Atten-
ren. In einem Schreiben des Düsseldorfer tats.
Innenministeriums dagegen heißt es, die „Der Sachverhalt ist ernst zu nehmen
Informationen des Verfassungsschutzes und bedarf weiterer Abklärung“, heißt es
stammten nur vom „Hörensagen“ und hät- in der Sitzung im GTAZ vom 17. Februar.
ten nicht ausgereicht, um eine Auswei- Anis Amri wird in NRW nun als Gefährder
sungsverfügung zu erreichen. eingestuft. Man traut ihm eine politisch
Es ist ein Muster, das sich durch die ge- motivierte Straftat „von erheblicher Be-
samte Aufarbeitung des Falles zieht. Die deutung“ zu.
Behörden schieben sich die Schuld ge- Das Szenario, das VP01 beschrieben hat,
genseitig zu, präsentieren Gutachten und ein Anschlag mit Kalaschnikows, hält die
Gegengutachten. „Jeder versucht, seinen Runde allerdings immer noch für unwahr-
Kopf aus der Schlinge zu ziehen“, sagt ein scheinlich. Immerhin stuft sie das Risiko
Berliner Sicherheitsbeamter. „Anstatt an- etwas höher ein: 5 statt 7 auf der Skala
zuerkennen, dass wir ihn alle in der Schlin- von 1 bis 8 – eher unwahrscheinlich. Von
ge haben.“ dieser Einschätzung aber rückt sie in den
Im Februar sind die Ermittler in NRW künftigen Sitzungen nicht mehr ab. Wie
richtig alarmiert: Sie schnappen einen können sich erfahrene Polizisten nur so
Chat auf dem Messengerdienst Telegram täuschen?
auf. Zwei Männer mit libyschen Telefon- Es liegt am System. Im GTAZ werden
nummern sind mit Amri in Kontakt, wo- Sachverhalte bewertet, nicht Persönlich-
möglich Kämpfer des IS. Sie schreiben Tex- keiten. Die Ermittler wollen wissen: Be-
te oder schicken Sprachnachrichten. Im sorgt sich Amri Kalaschnikows, wie VP01
Hintergrund knacken Funkgeräte, Explo- sagte? Sie finden keine neuen Hinweise
sionen sind zu hören. Amris Gesprächs- auf diese Tat, also bewerten sie den Sach-
partner sind in einem Kampfgebiet. verhalt als eher unwahrscheinlich. Fragen
Amri teilt einem der beiden Männer mit: zum Charakter spielen kaum eine Rolle:
Wenn dieser eine Schwester in Deutsch- Wie labil ist Anis Amri? Welche Pläne
land habe, die heiraten wolle, dann werde könnte er noch schmieden? Wozu ist er
er das tun. „Hast du mich verstanden?“ mental in der Lage?
Das Verb heiraten, so vermuten die Ermitt- Das System wird sich ändern, es zielt in
ler, ist ein Codewort für einen Anschlag. Zukunft auf die Person ab. „Wir entwi-
TRUEBA / EPA / REX / SHUTTERSTOCK

AP
Eingang der Berliner Fussilet-Moschee, erschossener Amri bei Mailand: „Warum muss ich hierbleiben?“

ckeln die Methodik, wie wir mit Gefahren sonen zu tun“, sagt Münch. Im Fall von Auch im GTAZ häufen sich die Meldun-
und Gefährdern umgehen, weiter. Wir Amri, so hat ein nachträglicher Testlauf gen. Hier ein Salafist, der schwadroniert,
brauchen eine genauere Analyse der mili- im neuen System ergeben, hätte dieses die „Schafe Merkels“ müssten „geschlach-
tanten Islamisten und ein verbessertes Ri- „Rot“ angezeigt. Für höchste Gefahr. tet“ werden. Da einer, der „Deutschland
sikomanagement dieser Fälle“, sagt der zerstören“ will. Wer meint es ernst? Was

I
Präsident des Bundeskriminalamts, Holger m Nachhinein nur auf den Fall Amri ist nur Wichtigtuerei?
Münch. Dafür hat das BKA zusammen mit zu blicken wäre unfair. Die Sicherheits- Als Amri am 18. Februar 2016, einen Tag
der Universität Konstanz ein neues Ana- behörden sind seit Langem überfordert. nach der GTAZ-Sitzung, mit dem Flixbus
lysesystem entwickelt, Radar-iTE, das der- Jeden Tag werden sie mit neuen Szenarien, von Dortmund nach Berlin fährt, be-
zeit bundesweit eingeführt wird. Es ist Gefährlichkeitsanalysen und Hinweisen fürchten einige Polizisten in NRW das
auch dringend nötig, die Zahl potenzieller konfrontiert. „Wir sind nach dem Anschlag Schlimmste. Sie informieren Berlin. Dort
Terroristen steigt: „Wir haben es derzeit alle Amris bei uns im Bundesland durch- aber ist das Mobile Einsatzkommando ge-
in der islamistischen Szene mit über 680 gegangen“, erzählt ein Staatsschützer. „Es rade im Einsatz, es gibt so kurzfristig keine
Gefährdern und rund 400 relevanten Per- sind verdammt viele.“ Observationskräfte, die Amri verfolgen
könnten.
Zum Missfallen der Kollegen aus NRW
Aktenkundig: Der Fall Anis Amri entscheiden die Berliner, Amri am Zentra-
1 Frühjahr 2011 len Omnibusbahnhof abzupassen und zur
DEUTSCHLAND Amri reist aus Tunesien illegal über Lampedusa nach Sizilien. Personenkontrolle ins LKA mitzunehmen.
6 2 2011 bis 2015 Dabei stellen sie ein Smartphone sicher,
Emmerich das Amri einem Mitbewohner im Asyl-
3 Berlin Sitzt wegen diverser Straftaten im Gefängnis auf Sizilien
Dortmund heim geklaut hat. „Herr Amri macht einen
3 Juli 2015
Ober- Der vorbestrafte Tunesier reist nach Deutschland;
körperlich gut trainierten Eindruck und
hausen wirkte äußerst angespannt“, vermerken
Zuweisung einer Unterkunft in Emmerich.
Ellwangen die Beamten, „seine Beine sowie seine Kie-
4 Sommer 2015 fermuskeln zitterten.“
4 Amri meldet sich als Flüchtling unter falschen Namen Als sie ihn um 16.13 Uhr laufen lassen,
u.a. in Ellwangen, Oberhausen, Dortmund und Berlin.
5 Friedrichshafen stehen auch die Teams zum Observieren
Herbst 2015 bereit. Sie heften sich an seine Fersen und
Behörden erhalten den ersten Hinweis folgen ihm bis zur Fussilet-Moschee in
auf eine gefährliche Person namens Anis.
Moabit.
Mailand 7 28. Oktober Bereits 2013 zogen mehrere Männer aus
Die Polizei ermittelt verdeckt: „Prüffall Islamismus“. dieser Moschee nach Syrien in den Kampf.
4. Februar 2016 Und als im Jahr darauf der IS sein Kalifat
ITALIEN
Das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum ausrief, feierte der Fussilet-Imam. Die Ber-
beschäftigt sich erstmals mit Amri. liner Innenbehörde wollte die Fussilet-Mo-
17. Februar schee schon längst verboten haben, doch
Amri wird fortan als Gefährder in NRW der zuständige Sachbearbeiter war krank,
und – im Wechsel – in Berlin geführt. dann dienstunfähig. Das Vorhaben wurde
Juni ein Jahr lang aufgeschoben.
Observation in Berlin beendet. Amri pendelt nun immer wieder zwi-
5 Ende Juli schen NRW und Berlin. Er wird in dem ei-
Sizilien 2 Die Polizei nimmt Amri in Friedrichshafen fest; nen Bundesland als Gefährder ausgestuft,
aufgrund fehlender Papiere Entlassung nach wenigen Tagen. im anderen wieder eingestuft. Als der Tu-
Oueslatia
(Heimatort) 1 6 April bis September nesier im März 2016 nach Berlin wechselt,
Lampedusa Telefonüberwachung in Berlin malt ein Beamter in Düsseldorf einen di-
TUNESIE
SIEN
EN 19. Dezember cken Smiley auf seine Akte. Die Freude
Terroranschlag auf dem Weihnachts- währt nur kurz. Wenig später ist Amri erst
markt an der Gedächtniskirche einmal wieder in Nordrhein-Westfalen.
250 km 7 23. Dezember 2016 Im März 2016 hält das dortige LKA Amri
Ein Polizist erschießt Amri bei Mailand. für so gefährlich, dass es im Innenministe-
rium anregt, das schärfste Schwert des Aus-
DER SPIEGEL 27 / 2017 53
Deutschland

länderrechts zu ziehen: eine sofortige Ab- kannten empfiehlt er eine Predigt auf You- er nun zum Drogendealer wird. Wie er im
schiebung, vom Ministerium angeordnet. Tube, von Yusuf al-Uyayri, einem der ein- Kleinen Tiergarten und an den Kreuzber-
„Die Begehung eines terroristischen An- flussreichsten Ideologen des globalen ger Klubs „Watergate“ und „Chalet“ Ko-
schlags durch Amri ist zu erwarten“, no- Dschihad. Dann schickt er noch ein Foto. kain, Speed und Ecstasy verhökert. Und
tieren die Beamten. Er stelle ein „kaum Es zeigt ihn in einer Berliner Moschee. wie er von seinen Drogenerlebnissen be-
zu kalkulierendes Risiko dar“. Doch die „Ana irhabi, haha“, schreibt er auf Ara- richtet: Er habe „Weißes geschnupft“ und
Juristen im Haus lehnen ab, die rechtlichen bisch. „Ich bin ein Terrorist, haha.“ drei Pillen eingeworfen, erzählt er einem
Hürden scheinen zu hoch. Kurz darauf kommt es zu einem bizar- Freund, nun fühle er sich ganz anders. Das
Am 17. Mai 2016 hört das Bundesamt ren Streit. Amri glaubt, dass die „Brüder“ sei normal, antwortet der Freund.
für Migration und Flüchtlinge Amri an, es denken, er habe sich nicht über die An- Die Berliner Beamten ziehen einen fa-
will über seinen Asylantrag entscheiden. schläge von Paris und Brüssel gefreut. Sein talen und falschen Schluss: Amri bewege
Amri lügt, er sei Ägypter und Anhänger Ruf als Radikaler steht auf dem Spiel. sich weg vom Islamismus, in ein gewöhn-
der verfolgten Muslimbruderschaft. Doch Amri: „Stück Scheiße! Pfui!“ liches kriminelles Milieu. Er halte sich auch
auf Fragen zu den „einfachsten Dingen Morad: „Warum sagst du so? Was habe nicht mehr an religiöse Regeln wie das Fas-
des täglichen Lebens“ in Ägypten habe er ich dir gemacht?“ ten im Ramadan oder das Morgengebet.
nicht antworten können, heißt es in dem Amri: „Du hasto gesaget ich mage nicht

A
Bescheid. Auch der Dolmetscher ist skep- was is pasert in Paris.“ mri hängt sich in diesen Tagen tat-
tisch: Amris Dialekt deute auf einen Tu- Morad: „Nein so habe ich nicht gesagt. sächlich an einen Landsmann, der
nesier hin, nicht auf einen Ägypter. Brüssel gut hast du gesagt. Paris nicht ge- sich „Montassir“ nennt und gerade
Der Antrag wird abgelehnt. Amri wird sprochen.“ aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ihn
aufgefordert, „Deutschland innerhalb ei- Amri: „Stück Scheiße!“ kennt Amri schon aus Tunesien, mit ihm
ner Woche“ zu verlassen, andernfalls wer- Morad: „Du selber Arschloch!“ stürmt er an einem Morgen im Juni 2016
de er nach Tunesien abgeschoben. Amri schickt eine Audiobotschaft hin- bei Sonnenaufgang in eine Cocktailbar, die
Die Ermittlungen gegen Amri sind in- terher. Sie lässt erahnen, wie aufgewühlt von einem arabischen Clan betrieben wird.
zwischen ins Stocken geraten, auch im er ist. „Ich schlachte dich! Scheiße! Pfui! Ein Streit eskaliert, es fliegen Stühle. Am
GTAZ setzen die Beamten deshalb auf die Du Hurensohn! Schweinehund, Schwein, Ende sticht „Montassir“ einem anderen
ausländerrechtliche Karte. Im Frühsommer Du bist Schwein! Komm treffen mir in Mann ein Messer in den Bauch. Amri soll,
einigen sie sich darauf, dass Amri mög- Dortmund, ich bin in Dortmund. Du bist so berichtete ein Zeuge, einem der Männer
lichst schnell abgeschoben werden müsse. Mann, komm her!“ in die Hoden getreten und „Fick deine
Doch im deutschen Föderalismus ist das Im Juni hält das Berliner LKA in einem Mutter!“ gerufen haben. Und dann mit ei-
nicht so einfach. Für Abschiebungen ist Vermerk fest: Amri stehe in Kontakt mit nem Gummihammer zugeschlagen haben.
nicht der Bund zuständig, sondern Hun- zwei Personen, die tief in der Berliner Sa- Die Berliner Staatsanwaltschaft aber
derte kommunale Ausländerbehörden. Im lafistenszene verwurzelt seien. „Denkbar sieht keinen Anlass, Amri in Haft zu neh-
Fall von Amri bleibt die Aufgabe an einem ist, dass diese Personen das Gefahren- men. Es fehle an eindeutigen Beweisen,
jungen Beamten in Kleve hängen. potenzial des Beschuldigten fördern.“ auf Videoaufnahmen sei nicht zu erken-
Der notiert schon bald pessimistisch: Auch Amris zunehmend konspiratives Ver- nen, was Amri getan hat, was nicht.
Das Verfahren, um die nötigen Passersatz- halten macht die Beamten misstrauisch. Es Ralf Rother, der Berliner Generalstaats-
papiere aus Amris Heimatland zu beschaf- bestehe die Gefahr, dass Amri „im soge- anwalt, hat auf seinem Schreibtisch vier
fen, werde sich „eine Weile hinziehen“. nannten Untergrund abtaucht“. Umso er- dicke rote Mappen liegen. Er hat sich nach
Ohne diese Papiere ist Amris Abschiebung staunlicher ist, dass das LKA die Observa- dem Attentat die Akten aller Berliner Ge-
nicht möglich. Eine Polizeibeamtin aus tion im Juni aussetzt, obwohl sie ein Rich- fährder kommen lassen. Er will vor allem
NRW schreibt in einer E-Mail: „Ich glaube ter bis Oktober genehmigt hatte. prüfen, ob man einige von ihnen wegen
nicht, dass wir den jemals loswerden.“ Der Leiter des Berliner Landeskriminal- eines Vergehens in Haft nehmen kann.
amts, Christian Steiof, empfängt in seinem Mehr als ein Dutzend Strafverfahren lie-

U
nterdessen überwacht das Berliner Dienstzimmer am Platz der Luftbrücke fen gegen Amri. „Hätte man damals alle
LKA Amri weiter. Beamte beob- und nennt Zahlen: Sein Mobiles Einsatz- heutigen Erkenntnisse gehabt, man hätte
achten, wie er durch die Stadt kommando bestehe aus 170 Beamten, isla- die Verfahren bündeln können“, sagt Ro-
streunt, zu Lidl, ins Gesundbrunnencenter, mistische Gefährder gebe es derzeit 92 in ther. Er wundert sich heute darüber, was
in die Dönerbude, durch Kreuzberg, Neu- der Stadt. Die Vorstellung, jeden ständig er alles nicht wusste: dass Amri im Herbst
kölln und den Prenzlauer Berg. Und häufig im Blick zu haben, sei utopisch. „Deshalb als „Foreign Fighter“ ins Fahndungssystem
in die Fussilet-Moschee. Sie wird zu sei- müssen wir Prioritäten setzen, unsere Res- eingespeist wurde oder wie oft der Fall
nem zweiten Zuhause. sourcen sind stark begrenzt.“ Amri im GTAZ behandelt wurde. All das
Immer öfter gelingt es Amri, die Ermitt- Bei Amri sei man ursprünglich davon hätte seinen Blick auf Amri verändert, sagt
ler abzuschütteln. An der Turmstraße ausgegangen, dass er sich für einen An- der Generalstaatsanwalt, all das hätte ihn
springt er im letzten Moment in die voll- schlag Schusswaffen besorgen wolle. Mo- sensibilisiert.
besetzte U-Bahn. „Die Zielperson“, heißt natelange Observation und Telefonüber- Auch in Nordrhein-Westfalen fehlt der
es im Protokoll, „kann nicht weiter beob- wachung hätten keinen, „aber auch keinen Überblick. In Duisburg, wo gegen Amri
achtet werden.“ Tipps für konspiratives einzigen“ Beleg dafür erbracht. „Irgend- wegen Sozialbetrugs ermittelt wird, ma-
Verhalten hatte Amri bereits in seinem wann“, sagt Steiof, „müssen wir uns fra- chen sich zwei Staatsschützer auf den Weg
Chat mit den Männern aus dem Kampfge- gen, ob eine solch aufwendige Maßnahme zum Staatsanwalt, um ihm klarzumachen,
biet bekommen. Er solle seine Telefone noch zu rechtfertigen ist und nicht andere wie gefährlich Amri sei. Er müsse „weg
häufig wechseln und mehrere Konten bei Gefährdungssachverhalte priorisiert werden von der Straße“.
Facebook anlegen. müssen.“ Heute wissen die Berliner Beam- Der Staatsanwalt kennt einen Teil von
Es ist Anfang Juni, als die Polizei Chats ten: Sie wäre zu rechtfertigen gewesen. Amris Vorgeschichte. Er weiß von den vier
auswertet, die Amri mit Glaubensbrüdern Auch wenn sie ihn nicht mehr beobach- Jahren, die Amri wegen Gewalttaten in Ita-
führt. Sie zeugen davon, dass er weiter an ten, Amris Handy überwachen die Berli- lien in Haft saß, von seiner illegalen Einrei-
den religiösen Kampf glaubt. Einem Be- ner Polizisten weiterhin. Sie lauschen, wie se nach Deutschland. Er weiß, dass er Hand-
54 DER SPIEGEL 27 / 2017

Anschlagsort Breitscheidplatz: „Ich bin jetzt im Auto – bete für mich, Bruder, bete für mich“
ys gestohlen hat und mit mindestens sieben
Aliasnamen unterwegs ist. Das alles sei be-
rücksichtig worden, schreibt der Ankläger
in seinen Vermerk und kommt doch zu dem
Schluss: Das Verfahren wird eingestellt. Es
ging schließlich nur um 162,80 Euro.
Am 1. November 2016 um 11.35 Uhr, we-
nige Wochen vor dem Attentat, schreibt
eine Berliner Kriminalkommissarin aus der
Abteilung Staatsschutz des Berliner LKA
einen bemerkenswerten „Einleitungsbe-
richt“. Auf zehn Seiten fasst sie 73 abge-
hörte Telefonate zusammen.
Daraus geht hervor, dass Amri in größe-
ren Mengen mit Amphetaminen, Kokain
sowie Cannabis dealt. Mal spricht er von
„Fladenbroten“ im Wert von 1500 Euro,
mal ist von einer „Feier“ mit 7000 Gästen
die Rede und immer wieder von einem
„Bunker“, in dem sie ihren Stoff lagerten.
Amri betreibe mit zwei Komplizen „ge-
werbsmäßigen, bandenmäßigen“ Drogen-
handel, fasst die Beamtin zusammen. Kopf
der Bande sei Mohmad K. alias Montassir.
Nachdem der Vermerk geschrieben ist,
geschieht – nichts. Er bleibt im internen
Polizeisystem und wird nicht an die Gene-
ralstaatsanwaltschaft weitergeleitet. Die
aber fragt auch nicht nach. Und das, ob-
wohl Staatsschützer und Staatsanwälte erst
im August vereinbart hatten, sich bei Amri
auf die Drogendelikte zu konzentrieren.
Die massiven Vorwürfe, die in dem Papier
genannt werden, hätten womöglich für ei-
nen Haftbefehl gegen Amri gereicht.
Vier Wochen nach dem Attentat schickt
ein LKA-Beamter aus der Abteilung Staats-
schutz einen knapperen Vermerk an die
Anklagebehörde. Er ist offenbar auf den
1. November rückdatiert, basiert nur auf
sechs abgehörten Telefonaten und klingt
weit weniger dramatisch. Es ist nur noch
von „Kleinsthandel mit Betäubungsmit-
teln“ die Rede. Trieb den Beamten das
schlechte Gewissen um? Wollte er etwas
vertuschen? Darauf deuten die Erkennt-
nisse des Berliner Sonderermittlers Bruno
Jost hin. Gegen den Beamten wurde Straf-
anzeige gestellt.
Im Nachhinein, sagt LKA-Chef Steiof,
sei es ein klarer Fehler seiner Behörde ge-
wesen, den Hinweisen auf Drogenhandel
nicht nachgegangen zu sein.
Im Herbst 2016 macht die Berliner Trö-
delei die Ermittler im LKA Nordrhein-
Westfalen nervös. Ein Beamter telefoniert
mit einem Kollegen in Berlin und schickt
hinterher eine alarmierende E-Mail: „Dort
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
laufen aktuell keine Maßnahmen mehr ge-
gen den Amri, seit Wochen hat man ihn
nicht mehr unter Kontrolle.“
A
nis Amri hatte wohl trotzdem das
Gefühl: In Berlin wird die Luft
dünn. Er wollte weg, womöglich
zunächst nach Italien. Ende Juli telefoniert
er mit seiner Mutter in Tunesien. Er habe
Stress, ein Freund habe fast jemanden um-
gebracht. Deswegen sei er jetzt auf der
Flucht und habe schon ein Ticket gekauft.
Zwei Tage später sitzt er in einem Bus
nach Süddeutschland.
Am 30. Juli greifen ihn Bundespolizisten
in Friedrichshafen auf. Es ergibt sich eine
absurde Situation: Die Beamten wollen
Amri am Ausreisen hindern, weil er als
Gefährder nicht in andere Länder des
Schengen-Raums einreisen soll. Zugleich
will ihn das Land so schnell wie möglich
loswerden, weil er so gefährlich ist.
Amri kommt in Abschiebehaft und ver-
steht die Welt nicht mehr: „Ich will von
mir aus ausreisen. Warum muss ich des-
halb hierbleiben?“ Als sie ihn durchsuchen,
entdecken die Beamten zwei gefälschte
italienische Ausweise, 281,42 Euro in bar,
ein Klapphandy und einen Joint. Der Be-
DER SPIEGEL 27 / 2017 55
Deutschland

derholt sie ihre Einschätzung: „Auf Grund-

lage der vorliegenden Erkenntnisse ist kein
konkreter Gefährdungssachverhalt erkenn-
bar“, heißt es im Protokoll.
Die geplante Abschiebung Amris
kommt wochenlang nicht voran. Die Tu-
nesier behaupten zunächst, Amri sei nicht
ihr Staatsbürger. „Tolle Wurst“, schreibt
ein frustrierter Beamter. Und ein anderer:
„Wie gewohnt, geht bei Amri eben nichts
ohne Komplikation.“
Am 24. Oktober 2016 kommt vom Inter-
pol-Büro in Tunis die erlösende Nachricht,
Amri sei ein tunesischer Staatsbürger. Das
BKA schreibt eine Mitteilung, die, so heißt
es, „gerichtsverwertbar“ sei.

JOSE GIRIBAS / FOTOFINDER.COM

Doch dem jungen Sachbearbeiter in Kle-
ve reicht das nicht, er wartet weiter auf
die Papiere. Allerdings, so schreibt er in
einem Vermerk unmittelbar nach dem An-
schlag, sei er davon ausgegangen, dass
Amri weiter überwacht werde. Was schon
längst nicht mehr der Fall ist.
Konferenz im Terrorabwehrzentrum: „Wir brauchen eine genauere Analyse“ Heute wissen die Ermittler aus den re-
konstruierten Chatprotokollen, dass Anis
reitschaftsrichter in Ravensburg ordnet ner Ermittler nach dem Anschlag auswer- Amri ab Mitte Oktober einen Terrormen-
Wochenendhaft an, die am Montag aber ten, belegen, dass sich Amri auch wieder tor hat. Schon in seinen Chats mit den IS-
nicht verlängert wird. Die zuständige Aus- häufig zur Fussilet-Moschee aufmacht: Leuten im Februar hatten diese ihm dazu
länderbehörde Kleve sieht keine Möglich- mindestens 17-mal von Oktober bis De- geraten. Ein Mann, der ihn bis zum An-
keit, Amri ohne die Papiere nach Tunesien zember, auch am Abend des Anschlags schlag begleiten soll. Wer es ist, wissen sie
abzuschieben. zwischen 18.38 Uhr und 19.07 Uhr. nicht. Sie kennen nur seinen Chatnamen.
Stattdessen wird Amris Liste der Straf- Von alldem bekommen die Berliner Er- Am 10. November schickt der Mentor
verfahren noch länger. Die Bundespolizei mittler im Herbst 2016 nichts mehr mit. Sie eine 143-seitige PDF-Datei mit dem Titel
Konstanz ermittelt nun gegen ihn wegen haben Amri nicht auf dem Schirm. Sie wis- „Die frohe Botschaft zur Rechtleitung für
des Verdachts der Urkundenfälschung so- sen nicht einmal, wo er ist. diejenigen, die Märtyreroperationen durch-
wie des unerlaubten Aufenthalts und des Die Berliner Polizei hat im Oktober mit führen“. In dem Dokument ist die Option
unerlaubten Besitzes von Betäubungsmit- einem anderen gefährlichen Mann zu tun: geschildert, mit einem Lkw in eine Men-
teln. Konsequenzen hat das nicht. Amri Jaber Albakr. Auch er soll einen Terroran- schenmenge zu fahren. Ab 1. Dezember
wird ins Ausländeramt zitiert. Er bekommt schlag in Berlin planen. Er wird schließlich beginnt Amri, den Berliner Breitscheid-
eine Duldung, holt sich Geld ab, taucht in Leipzig festgenommen und erhängt sich platz auszukundschaften, den späteren An-
wieder in Berlin ab – und ist frustriert. in der Untersuchungshaft. Der Fall hat schlagsort. Drei Tage später schickt der
Es gehört zum Irrsinn des Falls, dass of- Priorität und bindet viele Kräfte. Mentor ein Kampflied.
fenbar ausgerechnet die gescheiterte Aus- Anis Amri gerät bei den Ermittlern in Als Amri am 19. Dezember den Sattel-
reise das auslösende Moment für den spä- den Hintergrund, obwohl aus Tunesien schlepper aus Polen kapert und den Fahrer
teren Anschlag war. Davon jedenfalls ge- beunruhigende Meldungen kommen. Die erschießt, schickt er aus dem Führerhaus
hen heute die Ermittler aus. „Er hatte dortigen Behörden haben die beiden Män- eine Nachricht an seinen Mentor. „Ich bin
Angst, dass er wegen seiner Drogensachen ner aus Libyen identifiziert, mit denen jetzt im Auto ... Bete für mich, Bruder,
und der Schlägerei ins Gefängnis müsste. Amri im Februar kommuniziert hat. Sie bete für mich! ... Gott ist groß!“ Dann steu-
Er wollte wirklich abhauen“, sagt ein hoch- zählen zu den bekanntesten IS-Terroristen ert er auf die Bretterbuden des Weihnachts-
rangiger Beamter. aus Tunesien, kämpften in Syrien und ha- markts zu.
Nach der kurzen Festnahme verhält sich ben Gefangene ermordet. Und sie stam- Ahmad Imran, der Apotheker aus Alep-
Amri anders. Obwohl er seine Chatverläu- men aus derselben Stadt wie Amri. po, musste in den Monaten vor dem An-
fe löscht, konnte die Polizei nach dem An- Im Herbst erreichen auch mehrere War- schlag oft an Amri denken. „Ich vergesse
schlag sein Verhalten rekonstruieren. nungen des marokkanischen Geheimdiens- alles, auch meine Deutschvokabeln“, sagt
Statt wie bis dahin Pornoseiten besucht tes die Deutschen: Amri führe derzeit „ein er, „aber Amri habe ich nie vergessen.“
er nun vermehrt gewaltverherrlichende Projekt“ aus, er bezeichne sein Gastland Er mag nicht viel Aufhebens um all das
und dschihadistische Seiten. Die Erlöse aus als „Land des Unglaubens“. Er stehe machen. Er weiß nicht, ob die Polizei Feh-
seinen bisherigen Drogengeschäften über- in Kontakt mit IS-Sympathisanten in ler gemacht hat. Er weiß nur, dass er Amri
weist er seiner Familie in Tunesien. Am Deutschland und wohne mit einem Marok- melden musste. „Wir sind hier in Sicher-
5. Oktober schickt er eine Nachricht an kaner zusammen, dessen Eltern IS-Anhän- heit. Deutschland gibt uns eine Wohnung
seine IS-Kontakte: „Ich will zu Euch ... ger und Cousins IS-Mitglieder seien. und sogar Geld. Da bin ich es dem Land
Sagt mir, was ich tun soll.“ Der IS über- Die Ermittler aus NRW regen ein Tref- doch schuldig, dass ich es vor einem wie
zeugt Amri, statt ins Kalifat zu reisen, lie- fen im GTAZ an. Sie warnen vor einem Amri warne.“
ber im Westen zu bleiben und dort zuzu- „Gefahrenüberhang“ und meinen damit: Ahmad Imran hat im Fall Amri alles
schlagen. Ende Oktober leistet Amri den Man muss sich Amri wieder genauer anse- richtig gemacht. Er ist einer von wenigen.
Treueeid auf den IS-Führer Abu Bakr al- hen. Aber die Mehrheit im GTAZ sieht kei- Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Martin Knobbe,
Baghdadi. Überwachungsbilder, die Berli- nen Anlass zur Sorge. Wie ein Mantra wie- Fidelius Schmid, Wolf Wiedmann-Schmidt

56 DER SPIEGEL 27 / 2017


Dämmen mit
Benzin
Brandschutz Nach dem
Hochhausbrand in London
wollen deutsche Experten
strengere Vorschriften auch
für niedrigere Gebäude.
E
s war nur eine kleine Unachtsam-
keit, doch sie führte am 17. Mai 2016
zu einer Katastrophe: eine 74-jähri-
ge gehbehinderte Mieterin eines vier-
geschossigen Wohnhauses in Duisburg-
Meiderich stieß in den frühen Morgenstun-
den gegen ihren Wohnzimmertisch, auf
dem ein brennendes Teelicht stand. Dieses
fiel herunter, entzündete eine Decke, ein
Kissen und rasch das ganze Zimmer. Bald
stand die Erdgeschosswohnung in Brand.
Die Frau konnte sich retten und alarmierte
die Feuerwehr.
Doch das Feuer griff auf die Iso-
lierung der Außenwand über und
breitete sich dort schnell aus. 28
Bewohner konnten sich, teils
schwer verletzt, in Sicherheit brin-
gen. Für eine Mutter und ihre bei-
den Söhne, 8 und 14 Jahre alt, kam
jede Hilfe zu spät.
Das Dämmmaterial der Fassade,
der Kunststoff Polystyrol, auch be-
kannt als Styropor, wirkte „wie
eine Zündschnur in einem Kamin“,
so der Duisburger Feuerwehrchef
Oliver Tittmann. Der Brandverlauf
in Duisburg ähnelt dem beim Lon-
doner Grenfell Tower vor gut zwei
Wochen, bei dem mindestens 79
Menschen starben.
Schon seit Jahren fordern Brand-
schützer strengere Vorschriften
für Gebäude mittlerer Höhe in
Deutschland. Nach dem Hochhaus-
brand in London am 14. Juni wei-
sen nun der Deutsche Feuerwehr-
verband, die Arbeitsgemeinschaft
der Leiter der Berufsfeuerwehren
in Deutschland und die Vereini-
gung zur Förderung des Deutschen
Brandschutzes gemeinsam auf zahl-
reiche Schwächen beim Brand-
schutz hin.
Seit 2012 haben die deutschen
Feuerwehren mehr als 90 Brandfäl-
le registriert, in denen sogenannte
Wärmedämmverbundsysteme mit
Polystyrol eine Rolle spielten. Bei
solchen Bränden starben 11 Men-
schen, 124 wurden verletzt. Die
Brandschützer betonen in ihrem Feuerwehreinsatz in Duisburg 2016: „Wie eine Zündschnur“
Schreiben an die Bauministerkonferenz gen des Feuers verhindern sollen. Doch
und das Deutsche Institut für Bautechnik diese müssen im Prinzip nur über jedem
(DIBt), dass nicht jene Menschen zu Tode zweiten Stockwerk angebracht werden,
kamen, in deren Wohnungen die Feuer aus- und bei einer Dämmung von weniger als
gebrochen waren, sondern die Bewohner zehn Zentimeter Dicke können Hausbesit-
anderer Geschosse – in die sich der Brand zer ganz darauf verzichten. Für Häuser un-
über die Fassade ausgebreitet hatte. ter sieben Meter Höhe des obersten Fuß-
Vergangenen Dienstag ließ die Stadt bodens gibt es keine besonderen Vorschrif-
Wuppertal ein Hochhaus räumen, das in ten. Ohnehin gilt dies nur für Neubauten
den Sechzigerjahren mit Holzwolle ge- und Sanierungen, unverändert bestehende
dämmt worden war, was heute nicht mehr Gebäude sind ausgenommen.
zulässig wäre. Die Stadt hatte das Brand- In der Praxis können Fassadendämmun-
risiko bei einer solchen Fassade bislang un- gen auch bei Beachtung aller technischen
ter zusätzlichen Auflagen für vertretbar Vorgaben abfackeln, sagt der Chef der
gehalten, doch die Eigentümer weigerten Frankfurter Feuerwehr, Reinhard Ries. Im
sich jahrelang, diese zu erfüllen. Duisburger Fall attestierte ein Gutachter,
Für Häuser unter 22 Meter Höhe – ge- dass am Bau alles richtig gemacht worden
messen vom Boden bis zum Fußboden des sei. Brandriegel fehlten zwar, waren aber
obersten Stockwerks – sind die Vorschrif- auch nicht vorgeschrieben: Die Dämmung
ten laxer, weil diese Wohnungen noch von war nur acht Zentimeter dick.
den Drehleitern der Feuerwehren erreicht Bisher werde zudem kaum berücksich-
werden können. Deren Außenwände dür- tigt, ob Müllcontainer oder parkende Au-
fen auch hierzulande immer noch mit tos, wenn sie brennen, Fassaden in Brand
brennbarem Material gedämmt werden. setzen könnten. Das als Behörde zustän-
Seit 2016 sind bei Gebäuden mittlerer Höhe dige DIBt vernachlässige solche Risiken:
zwar vermehrt sogenannte Brandriegel vor- „Wir sind mit dessen Tätigkeit sehr unzu-
geschrieben, nicht brennbare Elemente frieden“, klagt Feuerwehrchef Ries. Auch
zwischen Stockwerken, die ein Übersprin- spielten häufig Fehler beim Umgang mit
der Dämmung eine Rolle. Schon
ein Loch im Außenputz könne
dazu führen, dass das darunter lie-
gende Material schneller Feuer
fängt als erwartet, warnt Ries: „Wie
wahrscheinlich ist es, dass der ord-
nungsgemäße Bauzustand über 30
oder mehr Jahre unverändert er-
halten bleibt?“
Die Brandschützer fordern:
‣ Brandriegel in jedem Stockwerk;
‣ Erdgeschosse mit nicht brennba-
rem Material zu dämmen, wenn
davor Autos oder Mülltonnen ste-
hen;
‣ auch ältere Bauten nachzubessern.
Die Bauindustrie wehrt sich im-
mer wieder gegen strenge Aufla-
gen. In Nordrhein-Westfalen sollen
ab dem kommenden Jahr bei
Wohngebäuden mittlerer Höhe so-
gar Dämmungen zulässig sein, die
„normal entflammbar“ sind, bisher
war wenigstens „schwer entflamm-
bares“ Material vorgeschrieben.
Brennbare Stoffe hätten an
Hauswänden generell nichts verlo-
ren, kritisiert der Aachener Brand-
STEPHAN EICKERSHOFF / FUNKE FOTO SERVICES
schutz-Sachverständige Thomas
Kempen: „Jeder Quadratmeter der
üblichen Dämmung entspricht der
Brandlast von fünf Litern Benzin“,
so Kempen, „und wer würde sein
Haus mit Benzin dämmen?“
Im Duisburger Fall bekam die
alte Frau zehn Monate Freiheits-
strafe auf Bewährung. Rein recht-
lich war außer ihr niemand schuld.
Dietmar Hipp, Barbara Schmid
DER SPIEGEL 27 / 2017 57
 perioden am konservativen Familienleit-
bild festgehalten. Anstatt diese Haltung
im Wahlkampf zu verteidigen, räumt Mer-
kel das Thema im Eilverfahren einfach ab.
SPIEGEL: Warum freuen Sie sich nicht, dass
überfällige Reformvorschläge der eigenen
Partei womöglich bald Realität werden?
Ude: Merkel hat dem politischen Gegner
die Munition nass gemacht. Das mag wahl-
taktisch klug sein, aber es sorgt auch für
Politikverdrossenheit. Außerdem verliert

THOMAS DASHUBER / DER SPIEGEL

die Anhängerschaft die Orientierung und
auch die Bereitschaft, sich für einen Laden
einzusetzen, von dem man nicht weiß, was
der nächste Woche im Schaufenster hat.
SPIEGEL: Rufen Sie jetzt zur Rettung des
Sozialdemokrat Ude konservativen Kerns der Union auf?
Ude: Ich kann mich nur wundern, was im
Sinne einer Wahlstrategie den eigenen
Mitgliedern zugemutet wird. Wenn ich

„Vernachlässigt und verludert“ alte CSU-Politiker treffe, dann schimpfen

die auf die Abschaffung der Wehrpflicht,
den Ausstieg aus der Atomenergie, und
jetzt müssen sie von einem Tag auf den
SPD Münchens früherer Oberbürgermeister Christian Ude, 69, anderen die Ehe für alle befürworten.
gibt als Politikrentner den roten Rambo, der Martin Schulz angreift Wäre es nicht so jammerschade um die
und Donald Trumps Mauer verteidigt. Er übt sogar Selbstkritik. nicht geführten politischen Debatten, wür-
de ich boshaft sagen: Die Union schreibt
ihre Wahlprogramme wie ihre Doktorar-
SPIEGEL: Herr Ude, der Titel Ihres Buchs Ude: In einem vollkommen vernachlässig- beiten. Man klaut die besten Ideen vom
„Die Alternative oder: Macht endlich Poli- ten und verluderten politischen Diskurs. Nachbarn.
tik!“ klingt, als würden Sie zur Wahl der Warum gab es keine parlamentarischen SPIEGEL: Hat die SPD nicht auch die Hartz-
AfD aufrufen*. Haben Sie die Partei ge- Sternstunden zur Frage der Bundeswehr- IV-Reformen beim Nachbarn abgeschaut?
wechselt? Einsätze oder zur Frage der Eurorettung? Wenn man nicht wüsste, dass sie von der
Ude: Ganz im Gegenteil. Das Denken in Al- Die Alternative zum Vertrauensverlust SPD sind, würde man es nicht glauben.
ternativen ist ein Produkt der Aufklärung, und zur internationalen Gefahr durch rech- Ude: Da ging in der Tat soziales Gleichge-
das von linken Parteien in die Politik einge- ten Populismus heißt: Lust auf Sachpolitik. wicht verloren. Aber anstatt das der Be-
führt wurde. Bei Rechten gelten das Führer- Wir brauchen mehr Streit um konkrete völkerung zu erklären, hat die Partei 15
prinzip, Gehorsam und gewalttätige oder Konzepte. Jahre lang Asche aufs eigene Haupt ge-
freiwillige Unterwerfung. Als ich 1966 in die SPIEGEL: War es da glücklich, dass der SPD- streut. Am Ende hat die Union von der
SPD eingetreten bin, hatte der Schriftsteller Kanzlerkandidat Angela Merkel einen Agenda 2010 und deren ökonomischem Er-
Martin Walser schon ein Taschenbuch mit „Anschlag auf die Demokratie“ vorwarf? folg profitiert, während die SPD pausenlos
dem Titel „Die Alternative oder Brauchen Ude: Ich bin ein großer Fan von Martin erzählt hat, wie schwer sie sich an der ei-
wir eine neue Regierung?“ herausgegeben, Schulz, weil ich es großartig finde, was er genen Geschichte versündigt hat. Dieses
in dem er dem politischen Stillstand im Land aus dem Europäischen Parlament gemacht Selbstmitleid kann ich nicht mehr hören.
den Kampf ansagte. Das ist auch mein Ziel. hat. Aber diesen Satz habe ich nicht ver- SPIEGEL: Sie schreiben, es habe Sie außer-
SPIEGEL: Möglicherweise aber auch das der standen. Wenn wir von Anschlägen reden ordentlich verwirrt, dass Gerechtigkeit ein
AfD. in Zeiten von Terrorismus, denkt doch je- Wahlkampfknüller sein soll. Sind Sie be-
Ude: Es ist in einer Demokratie legitim, der an etwas vergleichbar Schlimmes. Der leidigt, dass Schulz Sie nicht in sein Wahl-
eine Alternative zu fordern. Ich finde es Kanzlerin einen Anschlag auf die Demo- kampfteam berufen hat?
aber absurd, wenn eine Partei, die uns in kratie vorzuwerfen, weil sie ideenlos und Ude: Ich mache Wahlkampf für den SPD-
die schlimmsten Abgründe des letzten konfliktscheu ist, ist auch deshalb kühn, Direktkandidaten im Münchner Norden.
Jahrhunderts hinabstürzen möchte, sich weil Schulz zum Zeitpunkt der vergange- Das ist der vielleicht einzige Bundestags-
als Alternative anpreist. nen drei Landtagswahlen selber noch kein wahlkreis in Bayern, in dem die Genossen
SPIEGEL: Welche Alternativen wollen Sie bundespolitisches Wahlprogramm veröf- eine echte Chance gegen die CSU haben.
denn? fentlicht hatte. Gerechtigkeit ist eine zentrale Herausfor-
Ude: Mich beschäftigt, dass es kein histori- SPIEGEL: Gegner werfen Merkel ihre Stra- derung an die Politik, zumal die Realität
sches Beispiel gibt, in dem in einer Gesell- tegie der asymmetrischen Mobilisierung in die entgegengesetzte Richtung läuft.
schaft mit derart gut geschützten Grund- vor. Haben Sie griffigere Worte für das, Aber genau das ist das Problem: Wenn die
rechten, florierender Wirtschaft und vielen was sie tut? Politik die Zustände nur brandmarkt, ohne
Sozialleistungen sämtliche Eliten derart in Ude: Mir kommt es so vor, als würde Mer- die Legislaturperiode zum Handeln zu nut-
Verruf geraten sind. kel Schlaftabletten an ihre Gegner vertei- zen, schürt sie mit Gerechtigkeitskampa-
SPIEGEL: Wo liegen Ihrer Ansicht nach die len. Bestes Beispiel ist die Ehe für alle. gnen kurz vor dem Wahlsonntag den Bür-
Ursachen? Weil ihr die Mehrheit bei diesem Thema gerzorn, statt ihn in konstruktive Bahnen
zwischen den Fingern zerbröselt, erklärt sozialer Verbesserung zu lenken.
* Christian Ude: „Die Alternative oder: Macht endlich sie die Ehe für alle zur Gewissensentschei- SPIEGEL: Sie sind jetzt seit drei Jahren Polit-
Politik!“. Knaus; 240 Seiten; 16,99 Euro. dung. Dabei hat die Union drei Legislatur- rentner. Haben Sie schon Zeit gefunden,
58 DER SPIEGEL 27 / 2017
 Deutschland

eigene Ansichten von früher zu hinter- tur von einigen Linken zur moralischen kampf um den Ministerpräsidentenposten
fragen? Selbstinszenierung genutzt wird. in Bayern mit ihm gemacht. Damals war
Ude: Ich habe mir, wie wohl fast alle, die SPIEGEL: Wen meinen Sie? es die Pkw-Maut, jetzt ist es die Obergren-
sich für Integration von Migranten enga- Ude: Menschen, die „Kein Mensch ist ille- ze. Seehofer bietet der Bevölkerung ver-
gieren, die Sache viel zu einfach vorge- gal“ rufen oder behaupten, die Flüchtlings- fassungsrechtlich Fragwürdiges an, weil es
stellt. Es war naiv zu glauben: Kommt krise könne den Fachkräftemangel lösen. im Bierzelt Applaus bringt. Seehofers Me-
Zeit, kommt Integration. In Wahrheit Mich ärgert auch die Überheblichkeit, mit thoden lehne ich ab, aber dass sich einige
wuchsen die Kinder der Einwandererge- der viele Deutsche den Bau der Mauer Befürworter völlig offener Grenze postfak-
neration mit den Ansprüchen ihrer deut- zwischen Mexiko und den USA verurtei- tisch verhalten, finde ich auch.
schen Mitschüler auf, ohne sie erfüllt zu len. Wie unterscheidet sich denn Europas SPIEGEL: Worauf wollen Sie hinaus?
bekommen. Das macht aggressiv. Die drit- Flüchtlingspolitik in der Zielsetzung von Ude: Offene Grenzen sind vom Grundge-
te Generation will nun den Kuchen, den Donald Trumps Abschottungsversuchen? setz weder vorgesehen noch gewollt. Viele
es zu verteilen gilt, selber mitbacken. Das Mehr Selbstkritik wäre angebracht. Es Linke meinen ja, die Gesellschaft werde
erzeugt in der bürgerlichen Mitte der Ge- wird lange dauern, bis an der mexikani- durch Zuwanderung immer bunter und
sellschaft Angst, nicht mehr Herr im Haus schen Grenze mehr Menschen gestorben vielfältiger. Aber das Gegenteil ist der Fall.
zu sein. Ich fasse mir auch an die eigene sind als im Mittelmeer ertrunken. Das sehen wir derzeit auch am türkischen
Nase, dass ich die Flüchtlingskrise nicht SPIEGEL: Wäre es denn ehrlicher, jeden Nationalismus, gegen den hier in Deutsch-
habe kommen sehen. Asylbewerber aus Tunesien mit dem Flug- land nichts unternommen wird, weil man
SPIEGEL: Wo hätten Sie denn hinschauen zeug nach Europa zu bringen? ja tolerant sein will. Das ist ein Rechtsruck
müssen, um sie frühzeitiger zu bemerken? Ude: Das wäre humanitär richtig, aber unter multikultureller Tarnkappe.
Ude: In die Zeitung. Ich erinnere mich an dann ergäben sich Zahlen an Zuwande- SPIEGEL: Es heißt, je älter man werde, desto
die Nachricht, dass in den Flüchtlings- rern, die wir nicht verkraften würden. Frü- konservativer würden die Ansichten. Gilt
camps in Jordanien die eh schon geringen her, zur Zeit der Balkankriege, habe ich das auch für Sie?
Essensrationen halbiert wurden. Die ganze gegen diejenigen gekämpft, die riefen: Ude: Ich bin und bleibe ein Roter. Es ist
linke Szene hätte Alarm schlagen müssen. „Das Boot ist voll“. Aber heute, wenn etwa aber das Privileg und auch die Pflicht eines
In Wahrheit haben alle geschwiegen, mit 66 Millionen Menschen weltweit auf der Politrentners, seine Erfahrung und seine
Ausnahme vielleicht von Wohlfahrtsver- Flucht sind, sehe ich das anders. Unabhängigkeit einzubringen und nicht
bänden oder Pro Asyl. Deswegen bin ich SPIEGEL: Bald klingen Sie wie Horst Seehofer. nur Sprachrohr seines politischen Umfelds
jetzt auch so misstrauisch, wenn die ach Ude: Tun Sie mir diesen Vergleich bitte zu sein. Wo alle gleich denken, wird nicht
so vorbildliche deutsche Willkommenskul- nicht an. Ich habe vor vier Jahren Wahl- viel gedacht. Interview: Anna Clauß

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Deutschland
Stunde der Pragmatiker
Analyse Die Politik entdeckt, was Schulen wirklich besser machen können.
Aber interessiert das auch die Wähler?
F
ußball ist ein komplexes Spiel. Kaum einer, der ernst-
haft mitreden will, würde im Zeitalter der Laktat-
werte und Laptop-Trainer fordern, die Männer müss-
ten halt Gras fressen. Oder elf Freunde sein. Er gäbe damit
zu erkennen, dass er nicht auf dem neuesten Stand ist.
Ganz anders liegt die Sache bei Leistungen im Klassen-
zimmer, die zu erzeugen mindestens so anspruchsvoll ist
wie auf dem Rasen. Geht es um die Qualität der Schule,
dominieren Bauchgefühle der Eltern und einfache Erklä-
rungen die Diskussion. Je nach politischer Ausrichtung
heißt es dann, die Kinder müssten nur Spaß am stressfreien
Lernen haben, oder, am anderen Ende des Spektrums:
sich endlich wieder in Disziplin üben. Alles nicht falsch,
aber eben noch keine Strategie.
Wie schwer es für die Bildungspolitiker ist, Lehrer und
Schüler dauerhaft zu besseren Leistungen zu führen, zeigt
das Beispiel Baden-Württembergs. Dort stellte die Kultus-
ministerin Susanne Eisenmann (CDU)
diese Woche ein Programm über „struk-
turelle Maßnahmen zur Qualitätssiche- y Z
rung an Schulen“ vor.
Das klingt technisch und kleinteilig, Ac
und gerade deswegen ist es in Wahrheit
ein großer Wurf. Ausnahmsweise soll
=
b 16
nun nicht die Gymnasialdauer um ein + goginnen und Pädagogen des Landes
Jahr verkürzt oder verlängert oder noch k sind jedoch für andere Aufgaben abge-
ein neuer Schultyp eingeführt werden.
Stattdessen soll das Lernen künftig
stärker von der Wissenschaft begleitet
werden. Ausprobieren, welche Lehrme-
thoden funktionieren, und dann beibe-
halten, was wirkt, und abschaffen, was
schadet. Für die Bildungspolitik etlicher
Bundesländer ist das fast eine Revolution.
Im Land der Tüftler und Denker im Südwesten kommt
sie erst spät durch eine schmerzvolle Erfahrung in Gang:
Lange Zeit in den Rankings auf einem Champions-League-
Platz hinter dem Meister Bayern angesiedelt, stürzte Ba-
den-Württemberg bei einem Ländervergleich 2016 ins un-
tere Mittelfeld ab. Ein neuer Leistungstest bestätigt den
negativen Trend: Bei der Vergleichsuntersuchung Vera 3
für Drittklässler verfehlte mehr als ein Drittel der Schüler
den Mindeststandard in der Rechtschreibung, ein weiteres
Drittel hielt ihn gerade noch ein. Auch in Mathematik fie-
len die Leistungen der Schüler schlechter aus als früher.
Inzwischen reisen Delegationen von Kultuspolitikern
aus dem einst stolzen Baden-Württemberg nach Hamburg
oder Schleswig-Holstein, um sich anzusehen, was die Auf-
steiger in den Bildungsrankings richtig gemacht haben.
Sie entdeckten: viele unspektakuläre, aber wirksame
Maßnahmen. „Wir haben einige Abzweigungen verpasst“,
sagt Ministerin Eisenmann – auch CDU-geführte Vorgän-
gerregierungen hätten Fehler gemacht.
So lernen Grundschüler im Südwesten von der ersten
Klasse an Fremdsprachen, Englisch oder Französisch, je
nach Wohnortnähe zu Frankreich. Doch es gilt inzwischen
60 DER SPIEGEL 27 / 2017
als sehr zweifelhaft, so früh Fremdsprachen zu vermitteln.
Viele Länder beschränken sich auf die Klassenstufen 3
und 4. Oder die Rechtschreibmethode Schreiben nach Ge-
hör: Die hat in Baden-Württemberg noch Konjunktur, wäh-
rend andere Bundesländer längst auf einen verbindlichen
Rechtschreibkanon setzen.
Solche Experimente, die direkt den Unterricht betreffen,
evaluierten die Verantwortlichen in Baden-Württemberg
bislang kaum, die Bildungspläne orientierten sich an wol-
kig definierten, zu erstrebenden Kompetenzen nach dem
Motto: Alles kann, nichts muss.
Wo andere Bundesländer die Lehrerausbildung an die
Universitäten verlagerten, hielt Baden-Württemberg am
Sondermodell der Pädagogischen Hochschulen fest. Das
wissenschaftliche Niveau dieser Ausbildungsstätten ist um-
stritten. Bei der Weiterbildung der Lehrer herrscht Wild-
wuchs, das Kultusministerium zählte 30 verschiedene Ak-
teure, beauftragt von den Regierungs-
präsidien oder Schulämtern.
Am Geld oder an fehlenden Stellen
é liegt es nicht: Gemessen an der Schüler-
Lehrer-Relation, ist Baden-Württemberg
74
3
besser ausgestattet als das benachbarte
Bayern. Zu viele der rund 100 000 Päda-
ordnet, etwa in die Schulverwaltung.
Alarmiert durch diese Erkenntnisse,
führt die grün-schwarze Landesregie-
rung in allen Schularten wieder zentrale
Klassenarbeiten ein. Die Präsentationen,
mit denen die Schüler im Südwesten bis-
lang einen Teil der Abiturprüfung be-
streiten durften, entfallen, die Kernfä-
cher werden gestärkt. Zwei neue Institute sollen über die
Qualität des Unterrichts wachen.
Das Paket zeigt, dass viele Kontroversen linker und
konservativer Schulpolitik überwunden sind. Mehr als an-
derthalb Jahrzehnte nach dem Pisa-Schock hat die Bil-
dungsforschung viele Erkenntnisse geliefert. Parteiüber-
greifend setzen erfolgreiche Bundesländer auf verbindliche
Standards und überprüfen diese fortlaufend, sie identifi-
zieren Problemschulen und lenken Mittel dorthin.
Dass sich diese pragmatische Strategie allerdings poli-
tisch auszahlt, ist zweifelhaft. Die Reformen in Baden-
Württemberg werden erst 2019 umgesetzt, bis sie greifen,
wird die Legislatur vorüber sein.
Vielen Müttern und Vätern reichen solche Zeithorizonte
nicht aus. Sie sind ähnlich emotional wie der unzufriedene
Fußballfan vor dem Fernseher. Bei der jüngsten Landtags-
wahl in Schleswig-Holstein konnte die CDU bei vielen
Wählern mit ihrem Vorschlag punkten, wieder G 9 in allen
Gymnasien einzuführen. Abgewählt wurde damit eine
Regierung, die das Land im Norden innerhalb ziemlich
kurzer Zeit aus der Abstiegszone auf die oberen Ränge
geführt hatte. Jan Friedmann
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 Q UELLE: WH O
In der ersten Hälfte des 2000: 800 000 Menschen 2015: 400 000
20. Jahrhunderts starben
jährlich rund 2 Millionen
Menschen an Malaria

Früher war alles schlechter

Nº 79: Malaria

50 Milliarden Opfer. Unter den Bewerbern für den Titel „Größter
Killer der Menschheit“ könnten die einzelligen Erreger der
Malaria den Sieg davontragen. Es gibt sie seit Millionen Jah-
ren, sie haben Billionen von fliegenden Helfern und sind, laut
Schätzungen der Sachbuchautorin Sonia Shah in ihrem Buch
„The Fever“, verantwortlich für den Tod jedes zweiten Men-
schen seit der Steinzeit. Das wären dann bis zu 50 Milliarden
Menschen. Anopheles-Mücken, Überträger des Malariaerre-
gers, kümmern sich nicht um menschliche Größe, sie interes-
sieren sich nur für Blut und Fortpflanzung. Ihre Respekt-
losigkeit führte zur Malariainfektion von acht US-Präsidenten
und mindestens vier Päpsten sowie vermutlich auch von
Dschingis Khan, Alexander dem Großen und dem Propheten
Mohammed. Heute leiden vor allem die Ärmsten an Malaria:
Fast 300 000 afrikanische Kinder starben 2015 vor ihrem fünf-
ten Geburtstag an der Krankheit. Es ist eine großartige Nach-
richt, dass sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts die jährliche
Todeszahl beinah halbiert hat, von geschätzten 800 000 im
Jahr 2000 auf etwa 400 000 im Jahr 2015. Hauptverantwortlich
dafür sind weder genmodifizierte Mücken noch ein genialer
Impfstoff. Sondern, ganz banal: die Verteilung von chemisch
behandelten Moskitonetzen. jonathan.stock@spiegel.de

Ernährung
Warum sind Krabben
schweineteuer,
Herr Oberdörffer?
Philipp Oberdörffer, 42, ist
Fischereiwissenschaftler und
arbeitet für die Erzeuger-
gemeinschaft der Deutschen
Krabbenfischer.
SPIEGEL: Krabbenbrötchen
kosten zurzeit an den Ham-
burger Landungsbrücken
11,50 Euro. Was ist passiert?
Oberdörffer: Die Krabbe hat
einen Zyklus. Der Bestand ist
zu etwa 90 Prozent einjährig.
Sie laichen im Winter. Im
Herbst sind sie dann so groß,
dass wir sie fangen können.
dann gefangen, und die
Händler füllen ihre Lager,
damit sie den Markt auch im
Frühjahr und Sommer be-
dienen können. Eigentlich.
SPIEGEL: Aber?
Oberdörffer: Der vorige Herbst
ist als Fangsaison komplett
ausgefallen. Und jetzt sind die
Lager leer. Auf dem Weg vom
Ei zur adulten Krabbe hat der
Wittling dazwischengefunkt.
SPIEGEL: Der Wittling?
Oberdörffer: Das ist ein dorsch-
artiger Fisch, der unter gewis-
sen Umständen die Krabbe
vertilgt. Die erste Vorausset-
zung dafür ist, dass er gute
Nachwuchsjahrgänge hat. Die
zweite Voraussetzung ist,
dass diese genau zu der Zeit
ße für das Maul des Wittlings
hat. Das hat im vergangenen
Jahr gepasst. Und dadurch
hat der Wittling seinen Teil
Krabben abkassiert, bevor sie
groß genug waren, um in den
Netzen hängen zu bleiben.
Der Wittling war effektiver
als die Fischer.
SPIEGEL: Wie wird der kom-
mende Herbst?
Oberdörffer: Das kann ich
nicht sagen. Aber wenn man
RAACH / LAIF
mit älteren Fischern spricht,
dann haben die solche Jahre
schon ein paarmal erlebt. Das
letzte Mal gab es 1990 so ei-
nen Einbruch, auch ein aus-
gewiesenes Wittlings-Jahr. In
der Regel normalisiert sich
das im darauffolgenden
Herbst. Aber das ist einzig
und allein abhängig vom
Wittling. Es kann natürlich
auch sein, dass der zwei gute
Jahre hintereinander hat.
SPIEGEL: Wie schmeckt Witt-
ling eigentlich?
Oberdörffer: Der Wittling hat
ein festes, weißes Fleisch und
einen ähnlichen Geschmack
wie sein großer Verwandter,
der Kabeljau. Allerdings wird
er meist nur 30 bis 40 Zen-

Der Herbst ist deshalb die ins Wattenmeer kommen, timeter groß, und die Filets
Hauptfangsaison. Fast drei wenn die Krabbe schlundgän- fallen entsprechend klein
Viertel aller Krabben werden gig ist, also die richtige Grö- Nordseekrabben aus. mke

62 DER SPIEGEL 27 / 2017


Klackklack
Eine Meldung und ihre Geschichte Weshalb
eine Eisenbahnstrecke auf Ebay-
Kleinanzeigen verkauft werden soll
D
as Gefährt, das Jürgen Baumgardt auf Schienen
durch sein Traumland führt, besteht aus einer Plat-
te, zwei Fahrradsitzen, Lenkern, Pedalen und vier
Rädern. In die Mitte ist ein roter Sonnenschirm montiert.
Er tritt in die Pedale und rollt über stillgelegte Gleise durch
seine Heimat Schenklengsfeld, an Rapsfeldern vorbei, an
Radfahrern, die stehen bleiben und diesen seltsamen Mann
in der Neonweste grüßen. Baumgardt wirkt glücklich auf
seiner Fahrraddraisine. Und da beginnt auch schon das
Problem: Sein Glück droht zu verschwinden.
Baumgardt ist 59 Jahre alt, ein freundlicher Mann mit
Dreiviertelhosen, Musketierbart und einer sanften Pocke,
die vom Bierchen kommen könnte, das er gern mit seinen
Vereinskollegen trinkt.
Er ist Erster Vorsitzender
des Fördervereins Werra-Fulda-
Bahn e.V. Ein Verein, der chro-
nisch pleite ist, keinen Nach-
wuchs findet, aber eine Aufga-
be hat, die er ernst nimmt. Er
muss sich um 11 Kilometer still-
gelegte Bahnstrecke kümmern.
Baumgardt zieht an seiner
Selbstgedrehten und erzählt,
wie es dazu kam, dass dieser
kleine Verein auf einmal be-
kannt wurde im ganzen Land.
Es begann mit einer Biertisch-
idee, sagt er. Jemand in der
Runde fragte: „Warum stellen
wir das hier eigentlich nicht
mal auf Ebay-Kleinanzeigen?“
Ebay-Kleinanzeigen ist so
etwas wie der digitale Floh- Von der Website Sonntag-morgenmagazin.eu
markt der Deutschen. Alles,
was die Leute nicht brauchen, landet als Anzeige auf der
Website: Klapprad mit Spinnenkolonie, Einhornstirnband,
Fuß-Ausstechformen. Warum nicht 11 Kilometer Gleise?
Das war die Idee, sie sollte ihnen die Zukunft sichern.
Schenklengsfeld liegt in Hessen, ein 4500-Einwohner-
Örtchen. Die Gemeinde hat eine Burgruine, die wohl äl-
teste Linde Deutschlands, einen jüdischen Friedhof, einen
historischen Friedhof. „Das war’s eigentlich an Attraktio-
nen“, sagt Baumgardt. Und dann ist da eben noch das
Stück ehemalige Kreisbahnstrecke.
Schon Baumgardts Großvater war bei der Kreisbahn
angestellt. Der Enkel hörte Geschichten, wie die Groß-
mutter während des Krieges mit drei Kindern aus der
Stadt floh und im Bahnhofsgebäude unterkam. Wie seine
Mutter und seine Tante auf die Schienen schlichen, um
Kohle zu klauen. Wie sein Großvater später Kontrolleur
wurde und streng auf jeden Fahrschein schaute. 1993 fuhr
der letzte Personenzug. Aber noch immer höre er das Ge-
räusch, klackklack, „wie die Kreisbahn über die Schnitt-
stellen der Gleise fuhr“, erzählt Baumgardt.
Manche Menschen klopfen in ihrer Freizeit gern Steine,
manche dressieren Frettchen, Jürgen Baumgardt, man
Gesellschaft
kann das verstehen oder nicht, umgibt sich gern mit still-
gelegten Gleisen.
Jeden Tag fährt er mit der Draisine die Strecke ab. Er
schneidet Bäume zurück, trimmt Hecken, pflegt den Lok-
schuppen. Doch sobald er einen Streckenabschnitt fertig
hat, fängt’s am nächsten wieder an zu wuchern. Es ist un-
schaffbar, sagt Baumgardt, und es gibt keinen Nachwuchs,
und damit verliert die Sache ihre Zukunft. „Die Jungen
werden weggesaugt vom Land in die Städte, und wir sind
immer hart auf Kante, finanziell.“
Früher bestand der Verein vor allem aus ehemaligen
Eisenbahnern. Nun sind da nur noch Baumgardt, ein ehe-
maliger Telekomtechniker und ein paar andere, die weder
eine Bahn steuern noch einen Betrieb leiten können. Die
Strecke ist wie ein Stück Autobahn im Besitz von Men-
schen ohne Führerschein.
Baumgardt und seine Kollegen haben eigentlich jede
Menge Ideen, wie man die Strecke in die Zukunft retten
könnte. Immer wieder hätten sie der Gemeinde Vorschläge
gemacht: eine Museumsbahn, Draisinenrennen, eine Fahr-
raddraisine für Touristen. Aber egal, was sie vorschlugen:
Die Gemeinde rührte sich nicht. Der Bürgermeister sagt:
„Wir sind hier auf dem platten Land, hier gibt es keinen
Bedarf für so ein Riesenpro-
jekt.“ Und die Gemeinde sei
gar nicht zuständig.
Als im vergangenen Jahr
Baumgardts Vater starb und
er auch noch seine Mutter
DIALIKA NEUFELD / DER SPIEGEL
pflegen musste, wurde es ihm
zu viel, so erzählt er es, er
war müde, vom Hecken-
schneiden, vom Pleitesein.
Anfang März saßen die Ver-
einsmitglieder am Biertisch,
Baumgardt in Untergangsstimmung, und
dachten nach. Sie sahen nur
wenige Möglichkeiten: Wei-
termachen wie bisher. Oder
die Strecke an die Gemeinde
zurückgeben, und die macht
sie platt und baut sie zu einem
Fahrradweg aus. „Nee“, sagt
Jürgen Baumgardt.
Dann kam die Idee mit Ebay-Kleinanzeigen.
„Komplette Eisenbahnstrecke abzugeben“ stand wenig
später auf der Seite. „Preis: VB“, Verhandlungsbasis. Erst
klickten nur wenige. Dann wurde eine Boulevardzeitung
auf die Anzeige aufmerksam, zog die Sache hoch, und
die Zahlen explodierten. Mehr als 40 000 Menschen sahen
sich die Annonce an. Es kamen unzählige Angebote. War
viel Unsinn dabei, aber auch einige, die es ernst meinen,
Dampflokbesitzer, Gleisbaufirmen, Draisinenbetreiber.
Bald soll es ein Treffen mit den Interessenten geben.
Die Frage ist nicht mehr, ob man 11 Kilometer stillgelegte
Bahnstrecke verkaufen kann, die Frage ist nur noch,
wer sie bekommt. Die Geschichte der Werra-Fulda-Bahn
ist die eines verblühten Männervereins, der durch den
Strukturwandel an den Abgrund geschoben und dann
von den Möglichkeiten der digitalen Welt wieder aufge-
fangen wird.
Vor Kurzem bekam Baumgardt einen Brief von der Ge-
meinde, eine Einladung vom Bürgermeister. Man wolle
über geeignete Lösungsansätze beraten, hieß es darin, um
den zukünftigen Erhalt der Strecke sicherzustellen.
Dialika Neufeld
DER SPIEGEL 27 / 2017 63
Der Vater, ein Mutter-Imitat
SPIEGEL-Gespräch Die „Ehe für alle“ wühlt Deutschlands Konservative auf. Aber was bedeutet
sie für Kinder? Die Psychologin Inge Seiffge-Krenke über die unterschiedlichen Rollen der
Elternteile, moderne Vaterschaft sowie die Männlichkeitsbilder der Politiker Trump und Gabriel.

BRIAN SMITH

Vater Trump mit Tochter Ivanka 1996: „So was muss ein kleines Mädchen ängstigen“

64 DER SPIEGEL 27 / 2017

 Gesellschaft

Seiffge-Krenke, 68, ist Psychoanalytikerin und Seiffge-Krenke: Es ist eine verbale Grenz- Medien so viel mit Trump beschäftigen.
seit vielen Jahren aktiv in der Ausbildung von überschreitung, toxischer Machismo. So Dadurch kriegt dieser Narzisst noch mehr
Kinder- und Jugendlichentherapeuten. Sie was muss ein kleines Mädchen ängstigen, Aufmerksamkeit. Das ist doch das, was er
war Präsidentin der Europäischen Jugendfor- ein großes Mädchen wird es einfach nur möchte.
schung und leitete bis 2013 als Professorin lächerlich finden. Positive Väterlichkeit SPIEGEL: Die Vaterschaftsmodelle haben
die Abteilung für Entwicklungspsychologie und zeichnet sich dadurch aus, dass Väter die sich in unserer Gesellschaft in den vergan-
Pädagogische Psychologie an der Universität Weiblichkeit ihrer Tochter stützen und genen Jahren stark gewandelt.
Mainz. 2016 erschien von ihr „Väter, Männer markieren, das heißt vorsichtiger mit ihr Seiffge-Krenke: Das stimmt. Und die Wis-
und kindliche Entwicklung“, ein Lehrbuch für spielen, sich als Kavalier zeigen, Freude senschaft nimmt viel zu wenig Notiz da-
Psychotherapeuten (Springer). an ihrem Aussehen haben und das durch- von. Das Forschungsinteresse steigt, aber
aus auch sagen. Aber nicht so. es ist noch immer sehr, sehr gering. Vor 20
SPIEGEL: Frau Seiffge-Krenke, das Land dis- SPIEGEL: Väter sollen ihren Töchtern Kom- Jahren befassten sich 0,7 Prozent der El-
kutiert über die sogenannte Ehe für alle. plimente machen? ternstudien mit Vätern, heute sind es etwa
Bislang durften homosexuelle Paare ge- Seiffge-Krenke: Natürlich niemals so direkte 7 Prozent. Das heißt: Die Mehrzahl der
meinsam keine Kinder adoptieren. Argu- Äußerungen wie „Du hast schöne Brüste“. sogenannten Elternstudien ist nur an Müt-
mentiert wurde mit dem Kindeswohl. Sorgt Aber im Idealfall erfahren Töchter eine tern durchgeführt wurden.
ein homosexuelles Paar denn schlechter für positive Körperlichkeit viel eher vom Va- SPIEGEL: Woran liegt das?
Kinder als ein heterosexuelles? ter als von der Mutter, die sich und auch Seiffge-Krenke: Zum Teil sicher an der über-
Seiffge-Krenke: Selbstverständlich nicht. Stu- ihre Tochter oft zu kritisch sieht. Dieses mächtigen Bedeutung des Vaters in Freuds
dien beweisen, dass sich Kinder schwuler positive Körpergefühl wirkt langfristig, das Theorie. Frühe Analytikerinnen wie Me-
oder lesbischer Eltern genauso gut entwi- zeigen empirische Studien, als Puffer ge- lanie Klein oder Karen Horney haben sich
ckeln wie Kinder heterosexueller Eltern, gen Essstörungen und lässt sich noch Jahre radikal davon abgesetzt. Richtig militant.
sie sind genauso gesund, genauso glücklich, später in einem positiven Körpergefühl Als hätten sie den Freud, ich will jetzt nicht
sie bringen genauso gute oder schlechte und einer entspannteren Sexualität nach- sagen, kastrieren wollen, aber ihm doch
Schulleistungen. weisen. sagen: Deine Vaterdominanz ist Quatsch,
SPIEGEL: Es gibt überhaupt keine Auffällig- SPIEGEL: Die Beziehung zwischen Vätern die Mütter sind viel wichtiger! Diese Ana-
keiten? und Töchtern ist oft besonders eng. lytikerinnen haben in der Theorienbildung
Seiffge-Krenke: Keine, die es rechtfertigen Seiffge-Krenke: Wenn die Tochter für den und Forschung eine jahrezehntelange mas-
würden, homosexuelle Eltern skeptisch zu Vater eine spezielle Rolle übernimmt, ist sive Mutterorientierung ausgelöst.
beäugen. Ein Problem besteht leider darin, es fast immer so, dass die Partnerbeziehung SPIEGEL: Welchen Anteil hatte die Frauen-
dass ihre Kinder oft diskriminiert werden. des Vaters nicht sehr erfüllend ist, etwa bewegung?
Unter besonders starkem Druck stehen sie weil seine Frau ganz in der Hausfrauenrolle Seiffge-Krenke: Sie hat die Perspektive wei-
in der Pubertät: in der Phase, in der sie eingesponnen ist. Thomas Mann zum Bei- ter eingeengt. Noch mehr Futter für die
sich selbst sexuell orientieren. Wenn sie spiel. Seine Frau Katia war lange im Hin- Mutterdominanz! Wenn der Mann mal in
entdecken, dass sie auch homosexuell sind, tergrund, die intellektuelle Anregung hat den Fokus der Forschung geriet, dann als
dann machen sie das, worauf ihre Umge- er sich bei seiner Tochter Erika geholt. Problemfall: als gewalttätiger oder miss-
bung die ganze Zeit regelrecht wartet. SPIEGEL: Können Töchter davon profitieren? brauchender Vater. Es ist sehr schwer, das
Wenn sie heterosexuell sind, haben sie die Seiffge-Krenke: Es gibt eine Studie an 30 000 wieder beiseitezuräumen und zu sagen:
Sorge, ihre Eltern zu enttäuschen. Kindern aus den USA, laut der der Vater Moment mal, das betrifft nur wenige. Was
SPIEGEL: Wie entscheiden sich die meisten? für die intellektuelle Entwicklung und ist mit den restlichen 95 Prozent?
Seiffge-Krenke: Entgegen dem verbreiteten auch die Karriere einer Tochter viel, viel SPIEGEL: Sind gewalttätige Väter denn kein
Vorurteil belegen Studien, dass Kinder entscheidender ist als für die Entwicklung Problem mehr?
homosexueller Väter nicht häufiger selbst
homosexuell werden. Lediglich die Wahr-
scheinlichkeit von Töchtern aus lesbischen
„Die Ansprüche an die Väter sind zurzeit höher und
Beziehungen, auch lesbisch zu werden, ist diverser als die an die Frauen.“
erhöht. Aber nur leicht.
SPIEGEL: Wir wollen mit Ihnen heute über eines Sohns. Es ist wichtig, dass er ihr Seiffge-Krenke: Kein großes. Seit 2000 ist es
Vaterschaft sprechen. Viele Männer zele- Selbstbewusstsein, ihre Selbstständigkeit verboten, sein Kind zu schlagen, das hat
brieren ihre Vaterschaft wie nie zuvor, da- und ihre Neugier fördert. In dem Buch geholfen. Aber das alte autoritäre Vater-
runter auch prominente Politiker. Wie er- „What Will It Take to Make a Woman Pre- bild klingt natürlich noch nach. Der Vater
klären Sie sich das? sident?“ beschreibt die Autorin Marianne war lange Zeit der alleinige Brötchenver-
Seiffge-Krenke: Kinder sind heute wichtig Schnall das ebenfalls. Frauen, die es weit diener, er forderte Respekt, er kontrollierte
für den sozialen Status. Das Kind ist ein nach oben gebracht haben, hatten oft ei- streng und züchtigte körperlich. In diesem
verlängertes Selbst. nen Vater, der sie besonders gefördert hat. Vaterbild war kein Platz für versorgende
SPIEGEL: Das prominenteste Vater-Tochter- SPIEGEL: Donald Trump setzt auf seine Aufgaben, für Füttern, Windeln, Waschen.
Gespann trägt den Namen Trump. Donald Tochter als Beraterin. SPIEGEL: Heute sollen Väter Verantwortung
plaudert öffentlich über Ivankas Brüste Seiffge-Krenke: In seinem Regime zählt nicht übernehmen.
und hat einmal gesagt, dass er sich vorstel- Intelligenz oder Sachverstand, sondern Ver- Seiffge-Krenke: Die Ansprüche an die Väter
len könne, sie zu daten, wäre sie nicht sei- wandtschaft. Ivanka ist von seinem Blut, sind zurzeit höher und diverser als die an
ne Tochter. sie ist sein verlängertes Selbst. die Frauen. Die meisten Frauen bleiben
Seiffge-Krenke: Hat er das gesagt? SPIEGEL: Dennoch sieht die Öffentlichkeit noch immer jahrelang und ausschließlich
SPIEGEL: Ja. Ivankas Rolle nicht durchgängig negativ. zu Hause, die Männer haben Jobs mit ho-
Seiffge-Krenke: Stark. Seiffge-Krenke: Sie ist offenkundig begabter hen Wochenarbeitszeiten. Trotzdem sollen
SPIEGEL: Man muss nicht Psychologie stu- und sozial geschickter als er. Antigone sie sich abends liebevoll um die Kinder
diert haben, um einen solchen Spruch irri- führt ihren blinden Vater Ödipus ... Aber kümmern, mit derselben Leidenschaft wie
tierend zu finden. Schluss jetzt! Es ist nicht gut, dass sich die die Mütter.
DER SPIEGEL 27 / 2017 65
SPIEGEL: Und diese Feierabendvaterschaft
überfordert sie?
Seiffge-Krenke: Was sie überfordert, ist vor
allem die Suche nach einem neuen Rollen-
bild. Wie erziehen sie, ohne zu brüllen, zu
schlagen, zu strafen? Sie erziehen mit Lie-
besentzug: „Ich bin sehr unglücklich, wenn
du nicht ...“ Sie arbeiten mit Schuldgefüh-
len, zum Teil auch mit Abwertung, und
das hat sehr negative Folgen.
SPIEGEL: Tun das nicht Mütter genauso?
Seiffge-Krenke: Das tun beide Geschlechter,
aber Vätern fällt es im Moment besonders
schwer, eine positive Autorität zu entwickeln.
Sie haben mütterliche Qualitäten angenom-
men, auch als Gegenbild zu ihren eigenen
Vätern. So wollten sie nicht sein. Aber sie
haben kein neues Väterbild entwickelt, sie
haben sich an die Mütter angepasst.
SPIEGEL: Der gute Vater ist eine zweite
Mutter.
Seiffge-Krenke: Ein Mutter-Imitat. Ja, das
ist in vielen Ländern so. Die Franzosen
sprechen vom „père poule“, die Briten von
der „father hen“.
SPIEGEL: Die Rede ist vom neuen Vater.

BLEND IMAGES LLC / GALLERYSTOCK

Was macht den aus?
Seiffge-Krenke: Der neue Vater, der seine
Kinder wickelt, zum Kindergarten bringt
und auch mal zum Arzt, taucht ständig in
den Zeitungen auf, schreibt Bücher und Es-
says. Aber es gibt ihn gar nicht so oft. Nur
9 bis 13 Prozent der Väter sehr kleiner Kin-
der sind sogenannte neue Väter, bei den
Schulkindern sind es immerhin 25 bis 30
Prozent. Die Mütter arbeiten dann wieder
und fordern die Partizipation stärker ein.
SPIEGEL: Haben Mütter denn unter ihrer
größeren Verantwortung in der Erziehung
gelitten?
Seiffge-Krenke: Einerseits ja. Die Mütter wa-
ren wirklich für alles verantwortlich – für
Wohl und Wehe des Kindes, für die gesun-
de Entwicklung, aber auch für die Patho-
logie. Stichwort „Mother-Blaming“. Sie
galten als Verursacher für viele Störungen.
Wenn ein Kind psychisch auffällig ist, la-
den viele Therapeuten bis heute zur Anam-
nese erst einmal die Mutter ein. Ich bilde
Therapeuten aus und muss regelrecht
kämpfen, dass sie auch mal die Väter ein-
laden. Andererseits hat die alleinige Zu-
ständigkeit vielen Müttern auch gefallen.
Es gab keine Konkurrenz am Küchentisch.
SPIEGEL: Das ist ein Problem in vielen Part-
nerschaften: Wenn die Väter mitmachen
sollen, müssen die Mütter sie auch mitma-
chen lassen.
Seiffge-Krenke: Das ist entscheidend, abso-
lut. Das sehen wir immer dann am deut-
lichsten, wenn wir Trennungsfamilien in
Behandlung haben. Das Phänomen heißt
„Maternal Gatekeeping“. Also die Mutter
verhindert den Kontakt des Kindes zum
Vater. Meist haben diese Frauen eine star-
ke Mutterideologie: Nur ich bin zuständig,
nur ich bin kompetent. Und meist sind sie
66 DER SPIEGEL 27 / 2017
Schwule Väter mit Sohn: „Der eine ist mehr Papa, der andere mehr Mama“
nicht berufstätig oder beruflich unzufrie-
den oder wenig erfolgreich, in Niedriglohn-
gruppen, sodass die alleinige Wertschät-
zung über die Mutterschaft erfolgt.
SPIEGEL: Ist der häusliche Bereich etwa viel
machtvoller, als ihn der Feminismus immer
dargestellt hat?
Seiffge-Krenke: Der Feminismus hat sich im-
mer am äußeren Status orientiert. Aber
da haben sich die Feministinnen, ehrlich
gesagt, ein bisschen platt an die Ideologie
der Männer angehängt. Eigentlich sind die
Mütter immer schon sehr mächtig gewesen,
in den letzten Jahrzehnten sind sie sogar
mächtiger geworden als jemals zuvor. Sie
brauchen den Mann ja nicht einmal mehr
zum Kinderkriegen.
SPIEGEL: Kränkt das den Mann?
Seiffge-Krenke: Und ob. Es ist immer vom
Penisneid gesprochen worden, eine alte
Theorie von Freud, vom Gebärneid ist nie
gesprochen worden. Das ist ein verdräng-
ter Topos unter Männern. Der Fortbestand
der Gesellschaft hängt von den Frauen ab.
SPIEGEL: Noch in der Nachkriegszeit war
fast kein Mann bei der Geburt seines Kin-
des dabei. Heute ist das anders.
Seiffge-Krenke: Wer heute nicht dabei sein
will, braucht eine richtig gute Ausrede. Der
Neidfaktor wird verdrängt. In anderen Kul-
turen, vor allem in sogenannten primitiven
Kulturen, wurden die Frauen früher zur
Geburt sogar gezielt von ihren Männern
separiert: Sie wurden in ein eigenes Haus
geführt, von anderen, älteren Frauen ver-
sorgt, beköstigt, beschützt. Für den Mann
gab es draußen spezielle Rituale, um seine
Aggressionen runterzufahren, er durfte
nicht alles essen, weil manche Speisen in
dem Ruf standen, seine Aggressionen noch
mehr zu fördern.
SPIEGEL: Kinder haben heute in den west-
lichen Gesellschaften eine größere Bedeu-
tung. Es heißt, es liege daran, dass es we-
niger seien. 
Seiffge-Krenke: Es werden wenige Kinder
geboren, und diese wenigen sind unwahr-
scheinlich wichtig, das stimmt. In der Ent-
wicklungspsychologie gibt es jetzt Publi-
kationen mit Titeln wie „The Child on the
Pedestal“, das Kind auf dem Podest.
SPIEGEL: Kinder haben keine ökonomische
Bedeutung mehr, aber eine Statusbedeu-
tung?
Seiffge-Krenke: Was Kinder für Noten ha-
ben, was sie studieren, wie sie aussehen,
ob sie Ballett tanzen oder Klavier spielen:
Das ist von enormer Bedeutung für die El-
tern. Denken Sie an Angelina Jolie und
Brad Pitt. Als die noch ein Paar waren, ha-
ben sie sich zusammen mit ihren Kindern
in allen Farben und Formen inszeniert.

Das hat narzisstische Aspekte, neben der
sicher großen Zuneigung.
SPIEGEL: Betrifft das Männer wie Frauen?
Seiffge-Krenke: Absolut. Beide haben häufig
Separationsangst, die größer wird, je er-
wachsener ihre Kinder werden. Die Kinder
sind ihnen so wichtig, dass sie sie nicht ge-
hen lassen können. Hotel Mama, Hotel
Papa. Eltern bleiben heute länger Eltern.
SPIEGEL: Und Kinder länger Kinder.
Seiffge-Krenke: Bis sie 30 sind und älter. Sie
nehmen die Unterstützung gern in Anspruch.
SPIEGEL: Woran lässt sich ablesen, dass El-
tern eine Grenze überschreiten?
Seiffge-Krenke: Oft schon am Schlafarran-
gement. Also Mutter und Kind im Ehebett,
Vater im Mädchenzimmer. Oder umge-
kehrt. Es gibt auch Paare, da liegt das Kind
bis zum Alter von 14 Jahren im Ehebett,
zwischen den Eltern. Das sind oft Familien,
in denen die Paarbeziehung nicht mehr
funktioniert, das Kind wird zum Partner-
ersatz. Das ist verheerend. Das Kind muss
von Anfang an lernen, dass die Eltern eine
Beziehung haben, aus der es ausgeschlos-
sen ist. Das ist im Grunde die Botschaft
des Ödipuskomplexes: Ich gehöre zu mei-
nen Eltern, aber die haben auch eine Be-
ziehung für sich. Und in der Beziehung
habe ich nichts verloren.
SPIEGEL: Dass das wichtig für die Eltern ist,
leuchtet ein. Aber wieso für das Kind?
Seiffge-Krenke: Die Botschaft ist: Verzicht
lernen.
SPIEGEL: Sind getrennt lebende Eltern be-
sonders gefährdet, ein zu partnerschaft-
liches Verhältnis mit ihren Kindern einzu-
gehen?
Seiffge-Krenke: Sicher. Viele nutzen ihr
Kind auch als Klagemauer, sie teilen al-
tersunangemessen ganz viele Sorgen mit
ihm. Da ist das Kind oft überfordert.
SPIEGEL: Das Standardmodell für Tren-
nungskinder ist in Deutschland das Resi-
denzmodell: Der Vater zahlt, die Mutter
betreut. Die FDP fordert nun in ihrem
Wahlprogramm, dass Gerichte stattdessen
das Wechselmodell favorisieren sollen: Die
Kinder leben in regelmäßigem Wechsel bei
beiden. Ist das wirklich sinnvoll?
Seiffge-Krenke: Erst mal ist es erstaunlich,
dass ausgerechnet die FDP so einen Vor-
schlag macht. Der hätte ich das gar nicht
zugetraut. Aber die Idee ist gut. Das würde
den Sinn dafür stärken, dass beide Eltern
wichtig sind. Und es würde die Entwick-
lungsbedingungen der Kinder verbessern.
Zweifellos. Die Familienrechtlerin Hilde-
gund Sünderhauf hat vor einiger Zeit mal
alle Studien zum Wechselmodell gesichtet,
fast alle belegen positive Effekte. Die Kin-
der sind weniger ängstlich, sie sind ausge-
glichener, bringen bessere Leistungen,
haben ein besseres Verhältnis zu beiden
* Mit den Redakteuren Susanne Beyer und Tobias Becker
in Wiesbaden.
Eltern. Die Voraussetzung ist natürlich,
dass die Eltern so nah beieinander wohnen,
dass das Kind in dieselbe Schule gehen und
denselben Freundeskreis haben kann.
SPIEGEL: Das Modell stellt höhere Anforde-
rungen an die Eltern.
Seiffge-Krenke: Sie müssen sich ständig ab-
sprechen.
SPIEGEL: Und sich dafür gut verstehen.
Seiffge-Krenke: In der Ambulanz hatten wir
neulich einen Fall, bei dem ein Junge nach
einer Woche beim Vater zurückkommt zur
Mutter, einen noch warmen Kuchen in der
Hand. Er klingelt und sagt: „Den haben
„Ich kann mir gut vorstellen, dass all die mütterlichen
Väter heute eine Ursache für ADHS sind.“
Papa und ich gebacken.“ Die Mutter nimmt
den Kuchen, kommentarlos, und wirft ihn
in den Müll. Da klappte es also nicht.
SPIEGEL: Ist das typisch weiblich: die Ent-
täuschung so auszustellen?
Seiffge-Krenke: Der Punkt war der Kuchen.
Der Vater hat die Mutter damit auf ihrem
ureigensten Feld geschlagen. Für Mütter
ist es übrigens sehr irritierend, wenn wir
in der Therapie den Vater ins Spiel bringen
oder im Sinne des Kindes sogar Partei für
ihn ergreifen. Ich bin schon öfters als Ver-
räterin beschimpft worden.
SPIEGEL: Als Verräterin unter Geschlechts-
genossinnen?
Seiffge-Krenke: Ja. Man muss allerdings be-
tonen, dass alleinerziehende Väter meist
das bessere Los haben, sie verdienen bes-
ser, sie sind gesellschaftlich hoch angese-
hen, obwohl sie meist nur die älteren und
pflegeleichten Kinder bei sich aufnehmen.
Sie würden nicht vier kleine Kinder neh-
men, von denen eines auch noch einen
Hörschaden hat. So viel ist schon mal klar.
SPIEGEL: Ist die Lastenverteilung in intakten
Beziehungen gerechter?
Seiffge-Krenke: Auch da lassen viele Väter
die Mütter mal machen. Besonders häufig
beobachten wir das in Familien, in denen
die Kinder chronisch krank oder behindert
sind. Da ziehen die Väter sich raus, kom-
men oft nicht mal zu Therapiegesprächen.
SPIEGEL: Weil sie sich nicht so gut spiegeln
können im behinderten Kind?
PETER JÜLICH / DER SPIEGEL
Seiffge-Krenke (M.) beim SPIEGEL-Gespräch*
„Ich bin als Verräterin beschimpft worden“
Gesellschaft
Seiffge-Krenke: Zum Teil haben sie das Ge-
fühl, dass Krankheit und Versorgung die
Domäne der Frau sind. Aber die Kränkung
spielt sicher eine große Rolle. Der intakte,
funktionierende Körper ist für sie sehr
wichtig.
SPIEGEL: Was unterscheidet denn einen gu-
ten Vater von einer Mutter?
Seiffge-Krenke: Selbst wenn sie kleine Babys
füttern, machen gute Väter das schon sehr
spielerisch, sie machen unwahrscheinlich
viele Vokalisationen und Grimassen, viel
mehr als die Mütter, sodass das Baby fast
ein bisschen überfordert ist. Es soll einer-
seits essen, andererseits soll es dekodieren,
was der verrückte Kerl ihm gerade sagen
will. Einmal habe ich gesehen, dass sich
zwei Väter ihre Babys zugeworfen haben,
die Mütter standen fassungslos daneben.
Das ist typisch. Also viel Stimulation und
ein grober Körperkontakt, aufregende,
durchaus auch gefährliche Spiele, „Kami-
kaze-Spiele“. Die Mütter finden es nicht
komisch, wenn die Väter abends nach Hau-
se kommen und die Kinder auf Touren
bringen, wenn sie sie durch die Wohnung
jagen, bis sie schreien und jaulen und die
Mutter denkt: „Oh Gott, hoffentlich kriege
ich die nachher ins Bett.“ Aber das ist un-
wahrscheinlich wichtig.
SPIEGEL: Was haben die Kindern davon?
Seiffge-Krenke: Der Blutdruck der Kinder
steigt schon, wenn der Vater zur Tür rein-
tritt. Das zeigen Studien. Er kurbelt die
Emotionen hoch, durchaus negative Emo-
tionen, Angst, Wut, und er reguliert sie
dann auch wieder runter. Das Kind hat ein
Modell für starke Emotionen und deren
Regulierung in einer Beziehung. Ich kann
mir gut vorstellen, dass all die mütterlichen
Väter heute eine Ursache für ADHS sind.
SPIEGEL: Das ist eine steile These, die vielen
nicht gefallen wird.
Seiffge-Krenke: Doch, doch, die Kinder müs-
sen starke Emotionen allein bewältigen,
können das nicht und galoppieren dann
über Tische und Bänke.
SPIEGEL: Stimuliert der Vater nur die Emo-
tionen?
Seiffge-Krenke: Der Vater lehrt und erklärt
auch viel, oft zu viel. Da kriegt dann ein
kleines Mädchen den Ottomotor erklärt ...
SPIEGEL: Oh Mann.
Seiffge-Krenke: Der intellektuelle Input ist
oft übertrieben. Man hat mal Väter und
Mütter gebeten, ihren Kindern eine Giraffe
zu erklären. Was haben viele der Mütter
gemacht? Sie haben sich orientiert an dem,
was das Kind schon kann, und haben ge-
sagt, das ist ein Hund mit einem besonders
langen Hals. Was haben die Väter ge-
macht? Viele haben lang und breit alle Un-
DER SPIEGEL 27 / 2017 67
Gesellschaft
terarten erklärt, die Netzgiraffe, die Nubi-
sche Giraffe, die Kapgiraffe.
SPIEGEL: Sind diese Rollenmodelle tatsäch-
lich an das Geschlecht gebunden?
Seiffge-Krenke: Ein Stück weit schon. Män-
nern liegt die stimulierende Rolle mehr,
wegen ihres Testosteronspiegels, auch we-
gen ihrer Sozialisation.
SPIEGEL: Wichtiger als das Geschlecht er-
scheint uns die reale Funktion: Wer den
ganzen Tag lang mit den Kindern zu Hause
ist, übernimmt doch automatisch den für-
sorgenderen Part. Wer erst abends kommt,
dreht noch mal richtig auf.
Seiffge-Krenke: Das spielt sicher eine Rolle.
Wenn Väter oder Mütter alleinerziehend
sind, können sie innerhalb kurzer Zeit die
andere Funktion übernehmen. Und es gibt
natürlich auch Persönlichkeitsvarianten:
sehr warmherzige Männer, sehr erobe-
rungsbegeisterte Frauen. Wichtig ist nur,
dass es zwei unterschiedliche Parts gibt.
SPIEGEL: Damit das Kind unterschiedliche
Möglichkeiten kennenlernt, durchs Leben
zu kommen?
Seiffge-Krenke: Genau. In unseren Studien
hat sich gezeigt, dass die Väter besonders
gut die Autonomie ihrer Kinder fördern,
manchmal sogar etwas zu früh. Sie trauen
zwölfjährigen Kindern so viel zu wie Müt-
ter den Sechzehnjährigen. Das heißt, die
Kinder müssen zwischen zwei Polen navi-
gieren: sehr viel Körpernähe, sehr viel
Schutz und etwas zu wenig Autonomie bei
der Mutter – wilde Spiele, mitunter be-
ängstigende Abenteuer und etwas zu viel
Autonomie beim Vater.
SPIEGEL: Wie macht ein Kind diese Diffe-
renzerfahrungen, wenn es bei Frau und
Frau, Mann und Mann aufwächst?
Seiffge-Krenke: Die beiden müssen dann
verschiedene Rollen einnehmen, sie dürfen
sich nicht zu ähnlich sein im Erziehungsstil.
Das ist wichtig. Aber es gibt eine Studie
zu homosexuellen Vätern, die zeigt, dass
das meist gut funktioniert, ganz automa-
tisch. Der eine ist dann mehr Papa, der an-
dere mehr Mama.
SPIEGEL: Ist der autoritäre Vater komplett
aus unserer Gesellschaft verschwunden?
Was wissen wir über türkische und russi-
sche Väter in Deutschland?
Seiffge-Krenke: Auch die haben sich in den
vergangenen Jahren verändert, sie geben
ihren Kindern mehr Freiheiten, sie spielen
mehr mit ihnen, sie durchlaufen dieselben
Entwicklungen, die deutsche Väter seit den
Sechzigerjahren durchlaufen haben. Aber
natürlich gibt es noch immer deutliche Un-
terschiede. Deutschtürkische und deutsch-
russische Väter sind noch immer autoritä-
rer. Das ist der patriarchalen Kultur ihrer
Herkunftsländer geschuldet.
SPIEGEL: Viele dieser Väter können den
alten Patriarchen in der neuen Gesell-
schaft doch gar nicht glaubwürdig ver-
körpern.
68 DER SPIEGEL 27 / 2017
STEFAN BONESS / VISUM
Vater Gabriel mit Tochter Marie
„Ein ganz häuslicher Beruf! Ha!“
Seiffge-Krenke: Das stimmt, die Väter haben
oft zu schlechte Jobs, sie sprechen zu
schlecht Deutsch, sie finden sich in der
Gesellschaft schlechter zurecht als ihre Kin-
der. In der Fachsprache heißt das „Accul-
turation Gap“. Die Kinder sind ihren Vä-
tern überlegen, versuchen gleichzeitig je-
doch, die Werte ihrer Herkunftskultur
hochzuhalten. Das ist für die Kinder ein
großer Identitätsspagat.
SPIEGEL: Ist der Untergang des Patriarchats
für unsere Gesellschaft nur positiv? Oder
geht damit auch ein Verlust einher?
Seiffge-Krenke: Auf den Vater, der alles ent-
scheidet, der auch mal bestraft, lässt sich
eine Menge Verantwortung abschieben.
Aber dem Patriarchat trauere ich trotzdem
nicht nach. Es war meist verbunden mit
miesen Führungsfiguren. So wie heute Do-
nald Trump.
SPIEGEL: Die US-Amerikaner haben diesen
Trump gewählt. Kommt darin nicht viel-
leicht doch eine Sehnsucht zum Ausdruck?
Seiffge-Krenke: Nach einem alten Patriar-
chen? Alte Patriarchen, also Monarchen
und auch Firmenchefs früher, haben ihren
Kindern und Untertanen und Angestellten
immer auch Schutz gegeben. Sie waren oft
sehr sozial, sie haben darauf geachtet, dass
die ihnen Anvertrauten Ferien haben und
vernünftige Wohnungen. Dass solche Pa-
triarchen wie Trump, Putin oder Erdoğan
wirklich Schutz bieten und respektvoll mit
ihren Leuten umgehen – na, wer glaubt
denn so was?
SPIEGEL: In jüngster Zeit haben einige Pro-
minente ihren Rücktritt auch damit erklärt,
mehr Zeit für Frau und Kinder haben zu
wollen: der DFB-Sportdirektor Hansi Flick,
der Rennfahrer Nico Rosberg. Und auch
Sigmar Gabriel hat seinen Verzicht auf
SPD-Vorsitz und Kanzlerkandidatur unter
anderem damit begründet, mehr Zeit für
seine Kinder haben zu wollen.
Seiffge-Krenke: Ja, das fand ich – Sie haben
das Aufzeichnungsgerät hoffentlich schon
gestoppt – eine ganz naive Angelegenheit.
SPIEGEL: Das Band läuft noch.
Seiffge-Krenke: Er ist nur noch Außenminis-
ter! Ein ganz häuslicher Beruf! Ha!
SPIEGEL: Offenbar können Spitzenpolitiker
heute damit punkten, nicht mehr alles zu
geben fürs Vaterland – sondern eine höhe-
re Priorität aufs Privatleben zu legen. Seit
wann funktioniert das?
Seiffge-Krenke: Das wäre noch vor zehn Jah-
ren undenkbar gewesen. Und auch sonst
rutscht die Familie heute stärker in die öf-
fentliche Präsenz, gerade in so wichtigen
Positionen. Als der US-Präsident John F.
Kennedy damals Aufnahmen gemacht hat
mit dem kleinen John John unter dem
Schreibtisch, war das sehr ungewöhnlich,
heute ist das relativ normal.
SPIEGEL: Zur Amtseinführung als Außen-
minister brachte Gabriel Frau und Tochter
mit ins Schloss Bellevue.
Seiffge-Krenke: Um als Mensch komplett zu
sein, muss ein Politiker heute ein Privatleben
haben. Das finde ich gut. In den autokrati-
schen Systemen früher waren die Politiker
die Position, die sie innehatten. Alles andere
war unerwünscht. Heute sind sie Menschen,
die auch mal zum Elternabend müssen.
SPIEGEL: Vor ein paar Wochen hat Gabriel
ein Foto aus Bagdad getwittert, rechts im
Bild er selbst mit dem Handy in der Hand,
links ein Jeep, dazu der Text: „Egal, wo
ich gerade bin: Was mich immer erdet, ist
ein Telefonat mit meiner Familie. Dann
steht die Welt für einen kurzen Augenblick
still.“ Könnte sich eine Spitzenpolitikerin
genauso inszenieren?
Seiffge-Krenke: Das glaube ich nicht. Es ist
sicher kein Zufall, dass ausgerechnet un-
sere Supermutter Ursula von der Leyen,
die Verteidigungsministerin, so gut wie nie
irgendwelche Bemerkungen über ihre Fa-
milie macht.
SPIEGEL: Frau Seiffge-Krenke, wir danken
Ihnen für dieses Gespräch.
Animation: Was wollen, sollen
und können deutsche Väter?
spiegel.de/sp272017vaeter
oder in der App DER SPIEGEL

Im Kessel
Homestory Warum das Demonstrieren
nicht mehr so leicht ist wie früher
U
nerwartet freundliche Gefühle für Autonome hatte
ich, als ich das erste Mal in einen Hamburger Wan-
derkessel geriet. Wanderkessel: Das bedeutet mas-
sive Begleitung durch Polizeikräfte, die aufmarschiert sind,
um zu verhindern, dass jemand diesen Teil der Demons-
tration verlässt.
Wir standen eingekesselt in der Nähe der Landungs-
brücken und durften nicht weiter, warum, war nicht klar.
Das Warten schürte Aggressionen. Ich wollte weg da. Ich
sah nicht besonders autonom aus, glaube ich, ich ging auf
das Polizeispalier zu und sagte, dass ich hier wegwollte.
Es gab keine Regung in den Gesichtern der Polizisten,
nichts. Sie standen da und rührten sich nicht. Ein Mädchen,
schwarzer Kapuzenpulli, bunte Haare, weiches Gesicht,
bekam es mit und rief: „Ey, lasst die doch raus! Das ist
’ne ganz normale Frau!“ Es nützte nichts. Auch mein Pres-
seausweis nützte nichts. Ich war im Kessel, so verstanden
sie das, also war ich gefährlich, also durfte ich nicht raus.
Irgendwann schaffte jemand einen Vorgesetzten herbei,
der eine Weile auf meinen Presseausweis blickte und mich
dann doch noch aus dem Kessel ließ. Was die Polizei dort
praktiziert hat, bei dieser ziemlich bunten Demonstration
vor ein paar Jahren, passte zur harten „Hamburger Linie“,
das Wort ging überregional in den Sprachgebrauch ein.
Als Deeskalationsmodell schien es mir missglückt.
Jetzt rüsten sich beide Seiten für den G-20-Gipfel und
üben schon mal, die Polizeiseite hat einen Vertreter der
harten Linie an die Spitze gestellt und bereitet sich mit
Polizeihunden, Dienstpferden, Gefangenensammelstelle
und Sicherheitszonen auf das Treffen der Staats- und Re-
gierungschefs vor. Die andere Seite sucht nach den Orten,
an denen zwischen all den Sicherheitszonen das Demons-
trieren noch möglich sein soll.
Es ist viel los auf den deutschen Straßen, protesthalber,
nicht nur jetzt beim Gipfel; immerhin die Hälfte der Bür-
ger glaubt, dass durchs Demonstrieren etwas zu erreichen
sei. Die Lage ist unübersichtlich. Früher konnte man davon
ausgehen, dass eher jung und eher links ist, wer auf die
Straße geht, aber es wäre ein Missverständnis, zu glauben,
dass das immer noch so sei. Richter tun es, Polizisten tun
es, Tier- und Umweltschützer, Linke und Gewerkschafter
sowieso. Rechte tun es. Muslime tun es und müssen sich
hinterher anhören, dass es nicht genug gewesen seien, die
sich demonstrierend vom Terror distanzierten.
Ich habe überlegt, warum mich der Satz des Rock-am-
Ring-Veranstalters so irritiert, der nach der Unterbrechung
seines Festivals wegen einer Terrorwarnung Folgendes ge-
sagt hatte: Er möchte „endlich mal Demos sehen, die sich
gegen diese Gewalttäter richten“.
Eine Demonstration ist Kommunikation, eigentlich,
habe ich in einer kulturwissenschaftlichen Abhandlung
gelesen, und die Straße ist das Massenmedium dafür.
Wenn das so ist, dann reden heute viele aneinander vorbei.
Ich glaube, dass es einige Missverständnisse darüber
gibt, was das eigentlich ist, eine Demonstration.
Ich sehe es so: Sie muss freiwillig sein, sonst ist es keine,
sondern ein Aufmarsch wie in der DDR.
Sie muss eine eigene Botschaft haben und nicht das
verbreiten, was sowieso jeder sagt, etwa „Ich bin gegen
Terror“. Wer würde schon für den Terror demonstrieren?
Sie braucht einen direkten Adressaten – die eigene Re-
gierung, die eigenen Arbeitgeber, Menschen, die hierzu-
lande etwas zu sagen haben. Schwer vorstellbar, dass IS-
Schergen durch eine Kundgebung auf der Hamburger
Mönckebergstraße zu beeindrucken wären.
Auch „Pulse of Europe“ irritiert mich. Da gehen junge
Leute mit Fahnen auf Plätze und finden Europa gut. Aber
welches Europa? Was wollen sie, und von wem?
Früher war die Sache klarer. Meine eigene erste Forde-
rung hieß: „Nieder mit dem HRG!“ Das war 1977 und
die Aufforderung an die Bundesregierung, das Hochschul-
rahmengesetz zurückzunehmen. Wer schläfrig in den
Bonner Rheinauen herumlag, zeigte, dass er für den Frie-
den war. Wer wie ein Hase über die Wiesen bei Brokdorf
gehetzt wurde, vermittelte Kritik am AKW. Es ist schwie-
riger, heute. Man trifft Schüler vor einem Großaufgebot
an Polizisten und erfährt, dass sie für mehr Unterricht
demonstrieren. Oder man sieht Punks und Rentner zu-
sammentreffen wie vor vier Jahren am Hamburger Haupt-
bahnhof – ich freue mich immer noch, dass ich dabei
Zeugin gewesen bin.
Damals, beim Evangelischen Kirchentag, war eine Grup-
pe Stuttgart-21-Gegner aus dem Schwäbischen mit ihrem
Transparent angereist.
Zum S-21-Protest gehört traditionell, dass man montag-
abends mit Trillerpfeifen pfeift.
Zum Hamburger Hauptbahnhof gehört, dass dort meis-
tens Punks sitzen, mit ihren Hunden und ihrem Bier.
Montagabend. Die Rentner pfeifen. Die Hunde heulen.
Die Punks: „Ey, spinnt ihr! Könnt ihr nicht Rücksicht
nehmen!“
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
Die Rentner: „Aber wir haben das angemeldet!“
Die Punks: „Aber wir sind immer hier!“
Jetzt, in diesen Tagen, sorgt der G-20-Gipfel in Hamburg
dafür, dass eine halbe Großstadt nicht mehr das tun kann,
was sie sonst zu tun pflegt. Ich denke, ich werde dagegen
demonstrieren gehen. Barbara Supp
DER SPIEGEL 27 / 2017 69
 MARC-STEFFEN UNGER
Deutsche-Bank-Zentrale in Frankfurt am Main

Deutsche Bank

Ärger für den Großaktionär

Peking will das Finanzkonglomerat HNA an die kurze Leine nehmen und bestellt den Vizechef ein.
Der chinesische Konzern HNA gerät in seiner Heimat poli-
tisch unter Druck. Vizechef Jian Wang wurde offenbar vor
einigen Tagen von der chinesischen Regierung einvernom-
men. Wang gilt als der starke Mann hinter HNA-Chef Chen
Feng und als Motor der rasanten internationalen Expan-
sion. Die Einvernahme ist das bislang stärkste Signal dafür,
dass Staatschef Xi Jinping nach den Mischkonzernen
Anbang, Fosun und Dalian Wanda auch HNA an die kurze
Leine nehmen will. HNA hat in den vergangenen zwei-
einhalb Jahren für 40 Milliarden Dollar Firmen und Betei-
ligungen in aller Welt gekauft. An der Deutschen Bank
erwarb die Gruppe einen Anteil von knapp zehn Prozent
und stieg damit zum größten Aktionär auf. HNA gilt als ex-
trem verschachtelt und intransparent. Die chinesische
Regierung bemüht sich seit einiger Zeit, tieferen Einblick in
die Finanzierung privater Konglomerate wie HNA zu
gewinnen und sie stärker zu kontrollieren. Zuletzt hatte die
chinesische Finanzaufsicht angekündigt, die Konzerne
zu durchleuchten. Wang ist mittlerweile wieder geschäftlich
unterwegs, in dieser Woche besuchte er das Imperial
College London, um den Startschuss für ein von HNA
finanziertes Forschungsinstitut zu geben. mhs

Eurorettung
SPD blockiert
Schäuble
Die SPD hat Finanzminister
Wolfgang Schäuble (CDU) in
einer wichtigen Frage der
Eurorettung auflaufen lassen.
Am Mittwoch brachten die
Sozialdemokraten die geplan-
te Änderung der Anlagericht-
linie für den europäischen
Rettungsschirm ESM zum
Scheitern. Die Luxemburger
Organisation weiß derzeit an-
gesichts von Nullzinsen nicht,
wohin mit ihrem Geld. Des-
halb wollte sie ihre liquiden
Mittel künftig nicht nur in
Staats- oder Bankenpapieren,
sondern auch in Unterneh-
mensanleihen anlegen. Bis zu
fünf Milliarden Euro ihres
Kapitals sollten in die neue An-
lageform fließen und Zinsen
von jährlich bis zu 25 Millio-
nen Euro erwirtschaften.
Doch kurz vor Behandlung
des Themas im Haushalts-
ausschuss des Bundestags ent-
zog die SPD dem Vorhaben
ihre Unterstützung, worauf
Schäuble das Thema von der
Tagesordnung nehmen ließ.
„Wir lehnen eine erneute
Ausweitung der ESM-Anlage-
richtlinie ab, weil wir nicht
wollen, dass der ESM das von
den Mitgliedstaaten einge-
zahlte Kapital in immer mehr
riskante Anlagen investiert“,
sagte Johannes Kahrs, haus-
haltspolitischer Sprecher der
SPD im Bundestag. Dadurch
werde der ESM zum Markt-
teilnehmer mit Eigeninteres-
sen. Der Vorstoß des ESM
gilt damit als gescheitert. rei

70 DER SPIEGEL 27 / 2017


Wettbewerb
„Der Anfang
vom Ende“
Die britische In-
ternetunterneh-
merin Shivaun
Raff, 48, über ih-
ren späten Sieg
gegen den Such-
maschinengigan-
ten Google
SPIEGEL: Frau Raff, Ihr Inter-
netunternehmen Foundem
beschwerte sich als erste
Firma bei den Wettbewerbs-
behörden über Google.
Haben Sie gefeiert, als EU-
Wettbewerbskommissarin
Margrethe Vestager in dieser
Woche eine Geldbuße von
2,4 Milliarden Euro gegen
Google verkündete?
Raff: Wir finden die Verbots-
entscheidung gut, aber es
bleibt noch viel zu tun. Unse-
re Wettbewerbsbeschwerde im
November 2009 war die erste,
die die wettbewerbswidrigen
Suchmanipulationspraktiken
von Google aufgedeckt hat.
Obwohl die rekordverdächtige
Geldstrafe die Schlagzeilen do-
miniert, ist das Verbot dieser
immens schädlichen Praktiken
weitaus wichtiger.
SPIEGEL: Vestager sagte zur
Begründung: „Google hat
verhindert, dass die europä-
ischen Verbraucher wirklich
zwischen verschiedenen
Diensten wählen und die
Vorteile der Innovation voll
nutzen können.“ Können Sie
ein Beispiel dafür geben?
Volkswagen
Manipulierte
Verkaufszahlen
Die französische Konzern-
tochter von VW hat seit dem
Jahr 2010 falsche Ausliefe-
rungszahlen an die Zentrale
in Wolfsburg gemeldet.
Dabei ging es offensichtlich
darum, die Jahresstatistik
besser aussehen zu lassen.
Bei fast 800 000 Fahrzeugen
der Marken VW, Audi, Seat,
Škoda sowie der Nutzfahr-
zeugsparte verbuchten die
Manager die Wagen als aus-
Raff: Wir hatten bei Foundem
eine patentierte programmier-
bare Suchtechnologie, die mit
einem Bruchteil der Kosten
unserer Konkurrenten das In-
ternet vertikal durchsuchte.
Durch die schnelle Aufnahme
von Stichworten, das Durch-
suchen von Websites und die
Abfrage von Datenbanken
konnte Foundem Ergebnisse
liefern, die oft umfassender
und genauer waren als die
ihrer Konkurrenten. Die ille-
galen Praktiken von Google
haben dazu geführt, dass der
innovative Service von Foun-
dem wenige Wochen nach der
Markteinführung effektiv aus
dem Internet verschwunden
war.
SPIEGEL: Google wird mit gro-
ßer Wahrscheinlichkeit gegen
diese Entscheidung klagen.
Trotzdem muss der Internet-
riese in 90 Tagen seine Web-
site in Europa überarbeiten.
Wie werden die Suchergeb-
nisse künftig aussehen?
Raff: Die Kommission wollte
eine Lösung, die auf dem
Gleichbehandlungsprinzip
beruht und die auch von Klä-
gern und Verbrauchergrup-
pen befürwortet wird. Die
Google-Suchmaschine muss
in Zukunft alle Dienste, auch
Googles eigene, mit genau
den gleichen Standards
behandeln. Wie diese Lösung
in der Praxis aussehen wird,
liegt ganz bei Google. Der
einzige Unterschied besteht
darin, dass die Suchergebnis-
se künftig nicht mehr von
den finanziellen Interessen
ULI DECK / DPA
Müller
Googles bestimmt werden,
sondern von der Relevanz für
den Nutzer.
SPIEGEL: Die EU-Kommission
hat sich bisher nur mit dem
Preisvergleichsdienst von
Google beschäftigt. Kann das
Urteil auch auf andere Diens-
te übertragen werden?
Raff: EU-Kommissarin Vesta-
ger hat deutlich gemacht,
dass dies ein Präzedenzfall
ist. Google verwendet genau
die gleichen wettbewerbswid-
rigen Suchmanipulationsprak-
tiken in anderen Bereichen
wie bei Reisen und der Suche
nach lokalen Dienstleistern.
Diese Untersagungsverfü-
gung zeigt Google, dass auch
diese Praktiken als illegal
bewertet werden.
SPIEGEL: Es gibt noch andere
Untersuchungen, etwa zu
Googles Handysoftware An-
droid. Sehen wir den Anfang
vom Ende der Übermacht
von Google?
geliefert, obwohl sie noch gar
nicht zugelassen waren.
Bei einem Teil stellten die
Revisoren fest, dass sie „erst
nach mehreren Monaten
oder Jahren zugelassen“ wor-
den waren, bei manchen gab
es nicht einmal Kaufverträge.
Der vertrauliche Bericht
kritisiert auch das Manage-
ment in Wolfsburg: „Die
Governanceaufgaben wurden
nicht wahrgenommen.“
Offensichtlich waren die Ma-
nipulationen der Konzern-
mutter bekannt. Seit 2012
habe man bei der Marke VW
Wirtschaft
JANNINK / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Raff: Nein. Aber wir sehen
den Anfang vom Ende der
Fähigkeit Googles, die Domi-
nanz der Suchfunktion wett-
bewerbswidrig in angrenzen-
den Märkten zu nutzen. Zu
lange war es Google erlaubt,
sich den Löwenanteil an
Traffic und Erlösen in prak-
tisch jedem Onlinesektor
seiner Wahl einzuverleiben.
SPIEGEL: Werden Sie Scha-
densersatz fordern?
Raff: Es besteht kein Zweifel
daran, dass das Geschäft von
Foundem erheblich ge-
schädigt wurde. Im Juni 2012
haben wir daher vor dem
britischen High Court eine
Zivilklage eingereicht. Wegen
der Überschneidungen mit
dem EU-Verfahren wurde un-
sere Zivilklage im Dezember
2015 in gegenseitigem
Einvernehmen vorüberge-
hend ausgesetzt. Nun wird
unser Verfahren wieder
aufgenommen. pau
das Ausmaß der falschen
Auslieferungsmeldungen
„detailliert“ verfolgt, bei der
Marke Audi habe sich
der Vertrieb wohl auf die ge-
fälschten Statistiken einge-
stellt. Konzernchef Matthias
Müller erhielt am 24. April
den Prüfbericht – mit Folgen:
So trat der Frankreichchef
von VW, Jacques Rivoal, zu-
rück. Damals hieß es ledig-
lich, es gebe „Meinungs-
verschiedenheiten“ mit ihm.
VW wollte sich zu den
„internen Vorgängen“ nicht
äußern. gt
DER SPIEGEL 27 / 2017 71

Ein spezieller Kunde
Finanzen In der Russlandaffäre um Donald Trump gerät die Deutsche Bank
zunehmend unter Druck. Die Beziehung zu dem Milliardär steht exemplarisch für
die verrottete Unternehmenskultur des Konzerns.
A
uf den ersten Blick wirkt Maxine
Waters wie eine dieser harmlosen
älteren Damen aus dem Süden Ka-
liforniens mit einem unerschöpflichen Vor-
rat an Nettigkeiten. Sie sitzt als Abgeord-
nete der Demokraten im Repräsentanten-
haus, wird bald 79 Jahre alt und trägt gern
helle, pastellfarbene Kostüme mit Perlen-
ketten. Ihre jungen Fans, von denen sie
derzeit eine Menge hat, nennen sie wegen
ihres tantenhaften Charmes „Auntie Ma-
xine“. Waters hat allerdings die Fähigkeit,
ungemütlich werden zu können, vor allem
wenn es um ihren Erzfeind geht.
Kaum eine Veranstaltung, auf der Wa-
ters nicht fordert, Donald Trump aus dem
Weißen Haus zu entfernen. Ihr Lieblings-
slogan lautet: „Impeach 45“ – werft den
45. Präsidenten aus dem Amt. Selbst Par-
teifreunde finden, Waters gehe damit zu
weit. Ihre Kollegen bei den Demokraten
wollen ihre schwerste Waffe, das Amtsent-
hebungsverfahren, nicht voreilig einsetzen
und dadurch riskieren zu scheitern. Waters
sieht das anders. Sie sitzt im Ausschuss für
72 DER SPIEGEL 27 / 2017
Finanzdienstleistungen und damit an einer
Schlüsselstelle im Räderwerk von Washing-
ton. Im Moment befasst sie sich mit der
Deutschen Bank. Das Institut hat Trump
mit Krediten unterstützt, als andere Geld-
geber sich von ihm abwandten. Außerdem
wurde die Bank vor Kurzem zu Strafzah-
lungen wegen mutmaßlicher Geldwäsche-
geschäfte in Russland verdonnert. Waters
glaubt, dass die beiden Dinge zusammen-
hängen: die Geschäfte in Russland und die
Kredite an Trump.
Es geht um die große Frage, ob sich
Trump in den vergangenen Jahrzehnten
in finanzielle Abhängigkeit begeben hat.
Ob russische Banken, Geschäftsleute oder
Investoren ihm über Umwege Geld gelie-
hen oder Kredite abgesichert haben, ob er
an der Geldwäsche direkt oder indirekt
beteiligt gewesen ist.
Also darum, ob der Präsident der Verei-
nigten Staaten beeinflussbar ist, womög-
lich erpressbar.
Sonderermittler Robert Mueller, der die
Verstrickungen von Trumps Wahlkampf-
US-Hauptsitz der Deutschen Bank in New York
BLOOMBERG / GETTY IMAGES
team mit Russland untersucht, hat seine
Leute um Geldwäsche- und Wirtschafts-
kriminalitätsexperten ergänzt. Sie sollen
prüfen, ob es verdächtige Geldströme zwi-
schen Trumps Firmen und Russland gab.
Ex-FBI-Chef Mueller hat dabei auch Jared
Kushner im Visier, Trumps Schwiegersohn.
Ausgerechnet die Deutsche Bank nimmt
in dieser Geschichte womöglich eine
Schlüsselposition ein. Jenes Geldhaus, das
sich von einer konservativen Kreditanstalt
für die deutsche Industrie in eine aggressi-
ve Investmentbank gewandelt hat, die glo-
bal mitspielen wollte und tief stürzte. Josef
Ackermann, von 2002 bis 2012 Chef der
Bank, soll Trump mehrfach getroffen ha-
ben. Er betonte im Vorstand seine guten
Beziehungen zu Wladimir Putin. Heute ist
Ackermann Verwaltungsratschef der Bank
of Cyprus, zu deren Großkunden russische
Oligarchen zählen. Sein Stellvertreter dort
war bis vor Kurzem: Trumps Handels-
minister, der Milliardär Wilbur Ross.
Solche Verbindungen sind es, die Politi-
kerin Waters und andere glauben lassen,

US-Präsident Trump: „Warum fragen Sie nicht die Chefin der Deutschen Bank?“
dass die Deutsche Bank eine Art Mittler-
rolle zwischen Trump und Russland ge-
spielt haben könnte. Als Geldwaschma-
schine womöglich.
Ende Mai schrieb die demokratische Ab-
geordnete mit vier Parteifreunden im Fi-
nanzausschuss einen Brief an die Bank.
Sie fordert, interne Untersuchungsberichte
offenzulegen, die sich mit Russland und
Trump befassen. Sie wolle wissen, ob „Kre-
dite der Deutschen Bank an Präsident
Trump von der russischen Regierung ab-
gesichert wurden oder in irgendeiner Wei-
se mit Russland in Verbindung stehen“.
Waters’ Ausschuss ist nicht der einzige,
der sich mit den Kontakten von Trumps
Helfern zu Russland auseinandersetzt.
Auch der Geheimdienstausschuss des Se-
nats befasst sich mit der Materie, der Aus-
wärtige Ausschuss und andere Gremien.
Seit Monaten findet in Washington ein
Wettlauf um die heißeste Trump-Informa-
tion statt. Großes Interesse richtet sich da-
bei auf: die Deutsche Bank.
Tatsächlich verbindet den Frankfurter
Konzern seit 20 Jahren eine Beziehung mit
Trump, die auf irritierende Weise für die
wechselvolle und von Skandalen gespickte
Geschichte beider Geschäftspartner steht.
Vor ein paar Jahren kreuzten sich die
Wege von Trump und Ackermanns Nach-
folger Anshu Jain. Trump stand am Beginn
seines Aufstiegs vom zwielichtigen Immo-
bilienmagnaten zum US-Präsidenten; Jain,
lange Zeit einer der erfolgreichsten Banker,
verlor dagegen gerade die Aura des Re-
SUSAN WALSH / DPA
genmachers. Er bekomme so eine schlech- mentbanken auf, Trump schwamm im Im-
te Presse, soll Jain im Gespräch mit Trump mobilienboom Anfang des neuen Jahrtau-
gejammert haben. Ihm ergehe es viel sends mit nach oben.
schlimmer, tröstete ihn der angehende Der Milliardär genoss schon damals ei-
Politiker. Zwei Alphatiere, die sich unge- nen zweifelhaften Ruf, nach mehreren In-
liebt fühlten. Kurze Zeit später war Jain solvenzen hatten sich viele Wall-Street-
weg, der von ihm ausgerufene Kulturwan- Banken von ihm abgewandt. Die Deutsche
del hatte sich angesichts der Geldwäsche- Bank finanzierte ihn weiter – bis Trump
affäre in Russland als Makulatur entpuppt. in Chicago einen riesigen Turm baute, sei-
Zehn Milliarden Dollar sollen Händler nerzeit der zweithöchste Wolkenkratzer
über Aktiengeschäfte von Russland über der USA. 2008, mitten in der Immobilien-
Offshore-Paradiese ins Ausland verscho- krise, blieb er seinen Geldgebern 330 Mil-
ben haben. lionen Dollar schuldig.
Eine Affäre, die selbst für die inzwi- Die Geschäftspartner überzogen sich ge-
schen skandalerprobte Bank eine nicht vor- genseitig mit Klagen: Trump forderte drei
stellbare Dimension erreichte. Und die Milliarden Dollar von der Deutschen Bank.
ebenjenes Bild verstärkt: dass man es bei Das Institut habe durch sein Geschäfts-
dem Kreditinstitut nicht immer ganz genau gebaren die Finanzkrise mitverursacht. Die
genommen hat mit seinen Kunden. Deutsche Bank wiederum verlangte als ers-
Dass sie beide wegen einer solchen Af- te Rate 40 Millionen Dollar von Trump.
färe einmal unter Druck geraten könnten, 2010 einigten sich die Parteien. Seitdem
ahnten weder Trump noch die Deutsche hieß es bei den Investmentbankern der
Bank, als sie Ende der Neunzigerjahre be- Deutschen Bank: Nie wieder Trump!
gannen, gemeinsam Geschäfte zu machen. Die Trumps suchten und fanden zu die-
Die Frankfurter hatten gerade zum gro- ser Zeit anderswo neue Geschäftspartner:
ßen Sprung angesetzt. Mit der Übernahme in Russland. Die Kinder des Milliardärs be-
des amerikanischen Geldinstituts Bankers warben die Marke Trump in Moskau und
Trust stiegen sie in das Investmentbanking in anderen Städten aggressiv. Trumps Sohn
ein, zockten an Finanzmärkten und betei- Donald junior sagte 2008 bei einer Immo-
ligten sich am Monopolyspiel um Firmen bilienkonferenz, dass erstaunlich viele Rus-
und Immobilien. Einer der Kunden, die sen in Trump-Objekte investieren würden.
mit Bankers Trust zur Deutschen Bank ge- „Wir sehen eine Menge Geld aus Russland
kommen sein sollen, hieß Donald Trump. zu uns strömen.“
Einige Jahre lief es gut für die Bank und Im selben Jahr verkaufte Trump senior
ihren reichen Kunden. Der Konzern stieg eine Villa in Florida an den russischen Oli-
in den Olymp der erfolgreichsten Invest- garchen Dmitri Rybolowlew für 95 Millio-
DER SPIEGEL 27 / 2017 73
Wirtschaft
nen Dollar, mehr als das Doppelte des
Kaufpreises – und das mitten in der Immo-
bilienkrise. Rybolowlew wird ein ausge-
zeichnetes Verhältnis zu Putin nachgesagt.
Auch die Deutsche Bank machte in die-
sen Jahren in Russland fleißig Geschäfte.
An kaum einem anderen Ort lebten sich
die Investmentbanker des Instituts derart
ungehemmt aus wie in Moskau. Die Deut-
sche Bank galt neben der Credit Suisse als
bevorzugtes ausländisches Institut Putins.
Den Aktienhandel in Moskau leitete da-
mals ein Amerikaner namens Tim Wiswell.
2011 ließ sich Wiswell auf dubiose Geschäf-
te ein. Sie liefen stets nach dem gleichen
Muster ab: Russische Broker wie West-
minster Capital kauften im Auftrag ano-
nymer Kunden über Wiswells Team Ak-
tien und bezahlten in Rubel. Gleichzeitig
verkauften Offshore-Firmen Aktien der
gleichen Firmen über die Deutsche Bank
in London und erhielten dafür Dollar.
Der Trick: Auf beiden Seiten waren
Briefkastenfirmen, die miteinander ver-
bunden waren, mit dem Kauf und Verkauf
der Aktien befasst. Aus möglicherweise
schmutzigen Rubel wurden so saubere Dol-
lar, das Geld floss aus dem Land.
Ob der Vorstand der Deutschen Bank
davon wusste? Wiswell erklärte in einem
Arbeitsgerichtsprozess, mindestens 20 Vor-
gesetzte und Kollegen hätten von den
Deals gewusst. Die Bank erklärt, sie habe
„disziplinarische Maßnahmen gegen be-
stimmte Personen eingeleitet“, und ver-
weist auf Untersuchungen der Behörden.
Der Prüfbericht der britischen Aufsicht
FCA machte zwar den Vorstand für man-
gelhafte Kontrollsysteme verantwortlich,
sah aber keinen Beleg, dass die Konzern-
spitze von den Vergehen gewusst hätte.
Die deutsche Finanzaufsicht BaFin nahm
sich den Fall in einer Sonderprüfung vor,
legte die Ergebnisse jedoch nie offen. Sie
soll zu dem Schluss gekommen sein, dass
dringender Geldwäscheverdacht bestehe.
Unklar ist bis heute, wessen Vermögen
die Deutsche Bank eigentlich über all die
Jahre aus Russland herausschaffte. Vor al-
lem amerikanische Ermittler interessieren
sich dafür, ob sie eine Mittlerrolle für
Unternehmen oder Personen aus Russland
einnahm, die wegen des Ukrainekonflikts
von den USA mit Sanktionen belegt sind.
Maxine Waters und andere Trump-
Kritiker wollen außerdem wissen, ob es von
den Profiteuren der Deals womöglich Ver-
bindungen zum heutigen Präsidenten gibt.
Fast zur gleichen Zeit, zu der Tim Wis-
well die Moskauer Milliardendeals begann,
entwickelte die Deutsche Bank wieder ein
enges Verhältnis zum Trump-Clan – dank
Rosemary Vrablic, der Geheimwaffe im
Geschäft mit schwerreichen Privatkunden.
Trumps Bankerin.
Die stets elegant gekleidete Frau sei eine
Kundenbetreuerin, wie man sie liebe, be-
74 DER SPIEGEL 27 / 2017
ein und aus. Über Ivanka landete auch ihr
Vater in Vrablics Promikundendatei.
Vrablic gilt als eine der bestbezahlten Mit-
arbeiterinnen in der Vermögensverwaltung
der Bank und besitzt ein Penthouse an der
Park Avenue. Als Trump einmal nach seiner
Kreditwürdigkeit gefragt wurde, berief er
RICKY CARIOTI / THE WASHINGTON POST / GETTY IMAGES
sich auf Vrablic, die er für die wichtigste Fi-
gur der Bank hielt. „Warum fragen Sie nicht
die Chefin der Deutschen Bank? Ihr Name
ist Rosemary Vrablic. She is the boss.“
Plötzlich war Trump wieder hoffähig,
nur wenige Jahre nach dem Zerwürfnis.
Die Deutschbanker schmückten sich regel-
recht mit ihm. Seine Tochter Ivanka trat
in einem internen Werbevideo für die Ver-
mögensverwaltung der Bank auf, Termine
mit Jain belegen, wie sehr sich der Kon-
zern um Trumps Gunst bemühte.
Abgeordnete Waters Mit Erfolg. Allein für die Renovierung
„Werft den Präsidenten aus dem Amt“ des Trump International Hotel in Washing-
ton, nur drei Blocks vom Weißen Haus
schrieb der ehemalige Vorstandschef Jain entfernt, lieh die Deutsche Bank ihm 170
die Dame einst überschwenglich. Sie sei Millionen Dollar. Die Frage, warum Trump
eine, die den Leuten gebe, was die gern wieder als Kunde aufgenommen wurde
hätten, nicht, was die Bank ihnen verkau- stellte lange Zeit niemand.
fen wolle. Erst Mitte 2015, als Trump ankündigte,
Geboren in New York, hatte sich Vrablic für die Präsidentschaft kandidieren zu wol-
über die Bank Leumi und die Bank of len, schwante der Führungsspitze des Kre-
America nach oben gearbeitet, ehe die ditinstituts, dass man da einen sehr spe-
Deutsche Bank sie abwarb. Für „Leute, ziellen Kunden in der Datei hatte, einen,
die Vermögen haben, aber kein Geld“, wie der schwierig werden könnte. Denn wenn
ein Mitarbeiter es ausdrückt. Fünf Milliar- Banken Geschäfte mit politisch exponier-
den Dollar soll sie zeitweise für die Bank ten Personen, sogenannten PEPs, machen,
und ihre superreichen Kunden verwaltet müssen sie diese und ihr Umfeld besonders
haben. Dem Oracle-Gründer Larry Ellison streng auf mögliche Verstöße gegen Geld-
finanzierte ihr Team eine Südseeinsel. Kre- wäschevorschriften durchleuchten. Zwei-
ditausfälle habe es bei ihren Kunden so mal soll die Bank ihre Geschäftsbeziehun-
gut wie nie gegeben, erzählen Insider. gen zu Trump und seiner Familie unter-
Schon bevor Vrablic zur Deutschen Bank sucht haben: nach seiner Kandidatur und
kam, soll sie mit Jared Kushner und dessen nach seiner Wahl zum Präsidenten.
Mutter Seryl Stadtmauer befreundet gewe- Umso erstaunlicher ist, dass die Bank
sen sein und sie als Kunden gewonnen ha- noch einen Monat vor der Wahl einen neu-
ben. Nach Kushners Hochzeit mit Ivanka en Kredit über 285 Millionen Dollar an
Trump ging Vrablic auch bei den Trumps Jared Kushner genehmigte – in einer poli-
tisch hochbrisanten Phase. Die Ermittlun-
gen gegen die Bank in der russischen Geld-
wäscheaffäre liefen bereits auf Hochtou-
ren, der Staat New York, die britische
Finanzaufsicht und die US-Notenbank for-
derten später Strafzahlungen von 680
Millionen Dollar von der Bank.
Zu dem möglichen Geflecht zwischen
dem eigenen Institut, den Geschäften in
Russland und den Beziehungen zu Trump
hält sich die Bank bedeckt. Auf den Brief
der Abgeordneten Maxine Waters antwor-
tete sie, man müsse sich an die amerikani-
schen Gesetze zum Schutz der Kunden hal-
ten. Keine Akten also, keine Dokumente.
Nur eine Behörde muss noch entschei-
den, wie sie mit dem Geldwäscheskandal
MICHAEL NAGLE
umgehen soll: das US-Justizministerium.
Oberster Dienstherr des Ministeriums ist
ein alter Kunde der Deutschen Bank. Er
Trump-Bankerin Vrablic heißt Donald Trump.
Geheimwaffe für schwerreiche Kunden Martin Hesse, Christoph Scheuermann
 Machtdemonstration
Analyse Den Urhebern der jüngsten Cyberangriffe, die viele internationale Konzerne
treffen, geht es offenbar nicht um Geld. Sondern um Sabotage.
D
as Virus brach zuerst in der Ukraine aus: Am Diens-
tagmorgen ploppte auf vielen Monitoren eine eng-
lische Drohbotschaft auf, rote Buchstaben auf
schwarzem Grund. Danach waren die Computer nicht
mehr zu gebrauchen. Angestellte großer Energieversorger
hatten die Nachricht genauso auf dem Schirm wie Mit-
arbeiter am Flughafen von Kiew, Kassiererinnen in Super-
märkten und Bürger auf der Straße, die mal eben Geld ab-
heben wollten – auch an den Automaten ging nichts mehr.
Wie bei der weltweiten Cyberattacke „WannaCry“ vor
wenigen Wochen schwappte die Angriffswelle lautlos,
schnell und unsichtbar über alle Grenzen hinweg, eine di-
gitale Epidemie. Die globale Vernetzung zeigt erneut ihre
unschöne, beunruhigende Seite: eine globale Verwund-
barkeit. Unterschiedliche Branchen und auffallend viele
große Konzerne melden seither lahm-
gelegte IT-Anlagen – der Schadcode
ist darauf angelegt, sich in Unterneh-
mensnetzwerken zu verbreiten. Con-
tainerterminals des Reeder-Riesen
Maersk in Indien und anderswo sind
betroffen, eine Fabrik des Schokola-
denherstellers Cadbury in Australien,
der britische Werberiese WPP und
der Nivea-Hersteller Beiersdorf in
Hamburg.
Auf den ersten Blick schien es den
Angreifern um Geld zu gehen, das
jedenfalls legte der eingeblendete
Text nahe, der, wie bei Erpressungs-
trojanern üblich, eine Art Lösegeld
forderte: Für den Gegenwert von 300
Dollar in der Kryptowährung Bit-
coins könnten Opfer „sicher und einfach“ wieder auf ihren
Rechner zugreifen, hieß es.
Doch im aktuellen Fall ging es den Angreifern womög-
lich um etwas anderes. Die Bezahlfunktion ist auffallend
schlampig konstruiert. Für den Zahlungsnachweis gaben
die Urheber eine einzige Mailadresse des Berliner Anbie-
ters Posteo an, der diese schnell sperrte. Zudem wurden
wichtige Daten durch den Schadcode überschrieben und
unwiederbringlich gelöscht. Auf keinen Fall bezahlen, war
deshalb die Empfehlung von Behörden und Experten.
Wenn es aber nicht um Geld ging, um was dann? Ex-
perten vermuten, dass sich die Angreifer mit der vermeint-
lichen Erpressungssoftware nur tarnen. Dass es nicht ihr
Ziel war, sich zu bereichern, sondern zu sabotieren, zu
zerstören, Unruhe und Chaos zu stiften. Demnach würde
es sich um eine öffentliche Demonstration von Zerstö-
rungsmacht und Zerstörungswillen handeln, um eine
politische Botschaft. Experten schätzen den wirtschaft-
lichen Schaden der aktuellen Kampagne und deren Vor-
läufer WannaCry auf mehrere Milliarden Dollar.
Normalerweise würden sich betroffene Unternehmen
hilfesuchend an ihre Regierungen wenden – doch die de-
monstrierten in dieser Woche erneut ihre Ohnmacht. In
der digitalen Welt kommen Staaten ihrer Schutzfunktion
kaum nach. Schlimmer noch: Zumindest die amerikanische
Regierung trägt wie schon bei WannaCry offenbar eine
Mitverantwortung. Auch dieser Schädling nutzt eine
Windows-Schwachstelle, die der Geheimdienst NSA zuvor
für eigene Überwachungszwecke gehortet hatte. Erst als
sie dort entwendet worden war, informierten die Geheimen
den Hersteller Microsoft, der im März dieses Jahres Updates
für betroffene Windows-Versionen veröffentlichte. Kurz
darauf stellte eine ominöse Gruppe namens „The Shadow
Brokers“ die Schwachstelle ins Netz – und lieferte damit
die Basis für WannaCry und das neue, noch perfidere Schad-
programm.
Verantwortungsvolle Regierungen müssten spätestens
jetzt zu dem Schluss kommen, dass das Horten von
Schwachstellen unkalkulierbare Risi-
ken birgt. Behörden müssten ver-
pflichtet werden, derlei Einfallstore
sofort den Herstellern zu melden, da-
mit diese sie schließen können. Doch
mit einer solchen Regelung ist aktuell
nicht zu rechnen, im Gegenteil: Ge-
rade hat das Parlament beschlossen,
den Einsatz des Bundestrojaners er-
heblich auszuweiten – für das Abhö-
ren von Endgeräten brauchen Behör-
den genau solche Angriffswerkzeuge.
Wenn selbst NSA und CIA ihr Arse-
nal nicht unter Kontrolle haben, wenn
ihre Werkzeuge gegen US-Konzerne
wie den Pharmariesen Merck in Stel-
lung gebracht werden, trauen wir
deutschen Behörden dann zu, diese
Risiken zu beherrschen? Und wer haftet, wenn es, wie bei
der NSA, misslingt? Unternehmen bleibt nur übrig, selbst
Vorsorge zu treffen. Spätestens jetzt sollte Cybersicherheit
zur Chefsache werden, für kritische Daten braucht es fort-
laufende Back-ups, außerdem Notfallplanungen für den
Tag X, an dem man selbst zum Opfer wird. Auch mehr
Vielfalt bei den eingesetzten Systemen könnte helfen –
die jüngsten Angriffe entfalten auch deshalb solche Kraft,
weil Windows das Betriebssystem der Weltwirtschaft ist.
Bleibt die Frage nach den Tätern. Bislang gibt es nur
Indizien. Offenbar verbreitete sich der Schadcode anfangs
durch das Update einer Buchhaltungssoftware, die in der
Ukraine verbreitet ist. Dort glaubt man, das Hauptziel ge-
wesen zu sein. Offizielle erhoben schnell Schuldzuwei-
sungen in Richtung Russland – auch weil die Attacke kurz
vor dem ukrainischen Verfassungstag begann, an dem die
Nation ihre Unabhängigkeit feiert. Der Kreml dementiert,
darin hat er inzwischen Routine. Sicher ist: Sollte primär
die Ukraine im Visier der Angreifer gewesen sein, haben
sie immense Kollateralschäden in Kauf genommen, übri-
gens auch in Russland. Mit den staatseigenen Konzernen
Rosneft, Gazprom und Co. war das Land ebenfalls stark
betroffen. Marcel Rosenbach
DER SPIEGEL 27 / 2017 75
 RETO KLAR / BERLINER MORGENPOST/ FUNKE FOTOSERVICE

STEFFEN ROTH / AGENTUR FOCUS

Lieferplattform-Chefs Östberg, Groen: Es gewinnt der mit dem dicksten Portemonnaie

Die Pizzaschlacht
Start-ups Der Essensbringdienst Delivery Hero gilt als Primus der hiesigen Gründerszene. Jetzt
geht er an die Börse. Doch die weltweite Expansion entpuppt sich als schwierig und teuer.

E
in Büro am Berliner Monbijouplatz, für die Berliner Gründerszene. Denn die sie kleine lokale Konkurrenten, einen nach
Herbst 2010: vier Männer und eine kann Erfolgsmeldungen gut gebrauchen. dem anderen – und kauften sich so ein
Frau Ende zwanzig, Anfang dreißig Der Börsengang von Delivery Hero ist ein kleines Weltreich zusammen, das sich ak-
sitzen in einem Konferenzraum. Sie tele- Beleg, dass der Modehändler Zalando kein tuell über 42 Länder erstreckt.
fonieren Gastronomen ab und tippen de- Ausnahmefall ist; dass in der Hauptstadt Von der Gründermannschaft von Liefer-
ren Speisekarten in eine Datenbank. Im noch mehr sogenannte Einhörner heran- held ist heute niemand mehr übrig. Die
Dezember geht die Plattform Lieferheld gereift sind, Start-ups mit Milliardenbewer- internationale Expansion managte der
schließlich online. Über die Seite lassen tung also, die der mächtigen Konkurrenz Schwede Niklas Östberg, der 2011 zu Deli-
sich Pizza, Pasta oder Sushi mit ein paar aus dem Silicon Valley gewachsen sind und very Hero stieß. Östberg, 37, tritt beschei-
Mausklicks bestellen. Ein Kurier bringt das dazu beitragen, dass die deutsche Wirt- den auf. Statussymbole bedeuten ihm nach
Essen an die Haustür der Kunden, Liefer- schaft auch im digitalen Zeitalter wett- eigenem Bekunden wenig. Er fährt mit
held kassiert einen Anteil. bewerbsfähig bleibt. dem Fahrrad zur Arbeit und schläft unter
An Selbstbewusstsein mangelte es den Dabei ist die Geschichte von Delivery der Woche in einem Berliner Hotel.
Gründern schon damals nicht. Sie wollten Hero keine klassische Gründerstory. Mit Östberg ist ein typischer Vertreter jener
die Weltherrschaft erlangen, verkünden Erfindergeist oder Zufall hat sie wenig zu Generation, der Flexibilität und Zugang
sie in einem Video. Und tatsächlich: Es tun. Seinen Aufstieg betrieb Delivery Hero zu Gütern und Dienstleistungen wichtiger
läuft gut, besser als gedacht. „Nach einem von Beginn an mit ungewöhnlich großem ist als eigener Besitz. Von dieser Haltung
halben Jahr war uns bewusst, dass das Kalkül. Die Idee, das Bestellen von Fast werde auch Delivery Hero profitieren,
Geschäftsmodell internationales Potenzial Food vom Telefon ins Netz zu verlagern, glaubt er. Die Menschen würden erkennen,
hat“, erinnert sich Fabian Siegel, damals war nicht neu. Grubhub aus den USA, Just dass Kochen eine Verschwendung von Zeit
Mitgeschäftsführer. 2011 gründet das Team Eat aus Großbritannien und Takeaway. und Ressourcen sei. Anbieter wie Delivery
die Holding Delivery Hero, unter deren com aus den Niederlanden wickelten seit Hero, so Östbergs Vision, werden ihre Kun-
Dach der weltweite Eroberungsfeldzug lau- Jahren Essensbestellungen übers Internet den irgendwann so gut kennen, dass sie
fen sollte. Spätestens 2013 sei klar gewesen, ab und hatten den Markt weitgehend unter deren Wünsche vorausahnen. Ähnlich wie
dass Delivery Hero irgendwann an die Bör- sich aufgeteilt. Netflix und Amazon, die ihren Nutzern
se gehen würde, sagt Siegel. Die Berliner Gründer wussten: Wenn schon heute Serien oder Bücher nach de-
Den Plan hat das Unternehmen nun um- sie mithalten wollten, brauchten sie Geld, ren Geschmack vorschlagen.
gesetzt. Delivery Heros Erstnotiz an die- sehr viel Geld. Also putzten sie Klinken Als junger Mann wollte Östberg Skilang-
sem Freitag war einer der größten deut- bei Investoren und sammelten innerhalb laufprofi werden. Er schaffte es bis in die
schen Technologie-Börsengänge der ver- von sechs Jahren mehr als 1,5 Milliarden schwedische Jugendnationalmannschaft.
gangenen Jahre und eine gute Nachricht Euro Wagniskapital ein. Damit schluckten Den Ehrgeiz eines Leistungssportlers mer-

76 DER SPIEGEL 27 / 2017


ke man ihm noch heute an, sagen Wegge-
fährten. Östberg sei willensstark und ziel-
strebig – und ein exzellenter Verhandler.
Das weiß inzwischen auch Oliver Sam-
wer, der Pate der Berliner Gründerszene
und Vorstandschef von Rocket Internet.
Die beiden verbindet bis heute ein kom-
pliziertes Verhältnis. Anfang 2015 stieg
Samwer mit seiner Start-up-Schmiede in
großem Stil bei Delivery Hero ein.
Östberg hatte dem Werben Samwers
erst nach langem Zögern nachgegeben.
Am Ende schloss er einen Deal, bei dem
er die Bedingungen der Zusammenarbeit
diktierte, nicht Samwer. Rocket Internet
erhielt als größter Investor keinen Sitz im
Aufsichtsrat. Samwers Plan, Delivery Hero
zusammen mit Rockets eigenen Beteiligun-
gen im Essenssegment an die Börse zu
bringen, konnte Östberg so verhindern.
Stattdessen pochte der Schwede auf seine
Eigenständigkeit und zögerte den Börsen-
gang so lange hinaus, bis Delivery Hero
aus seiner Sicht bereit dafür war.
Dass Samwer jüngst behauptete, er baue
auf selbstständige Unternehmer, ist Un-
sinn. Im Fall von Delivery Hero hat er den
Machtkampf mit Östberg schlicht verloren.
Der Börsengang dürfte Samwer aber Luft
verschaffen. Bis zu 264 Millionen Euro
kann Rocket Internet zum Börsenstart er-
lösen und so die strapazierten Nerven sei-
ner Aktionäre vorerst beruhigen.
Niklas Östbergs größter Widersacher ist
heute ein anderer – der Niederländer Jitse
Groen, Gründer von Takeaway.com.
Freitag vergangene Woche, die Ränge
des Berliner Tempodroms gehen steil nach
oben, das Dach hat die Form eines Zirkus-
zelts. In der Mitte der Arena sitzen die
Kontrahenten auf einer weißen Leder-
couch: Jitse Groen; ein Manager von Deli-
very Hero, der Östberg vertritt, weil der
gerade auf Investorentour ist; außerdem
eine Führungskraft des britischen Wettbe-
werbers Just Eat. Groen, 38, braun ge-
brannt, das Hemd ein paar Knöpfe offen,
gibt sich blendend gelaunt. Um 47 Prozent
sei seine deutsche Tochter Lieferando im
ersten Quartal 2017 im Vergleich zum Vor-
jahr gewachsen. Groens Botschaft: Er sei
nah dran, den langen, zähen Zweikampf
mit Delivery Hero um die Marktführer-
schaft in Deutschland zu gewinnen.
2014 schnappte der Niederländer den
Berlinern Lieferando vor der Nase weg,
ein damals vergleichsweise kleiner deut-
scher Anbieter. Delivery Hero übernahm
stattdessen wenig später den damaligen
Branchenprimus Pizza.de für eine deutlich
höhere Summe. Groen hat seitdem ein Ver-
mögen in Lieferando gepumpt. Allein 2016
gab er gigantische 51 Millionen Euro für
Werbung aus, deutlich mehr, als das Un-
ternehmen an Umsatz erwirtschaftete.
Das Geschäft der Essenslieferanten funk-
tioniert nach einem simplen Prinzip. Weil
sich die Plattformen, was ihr Angebot an-
geht, kaum voneinander unterscheiden,
lassen sich Marktanteile ganz einfach kau-
fen, mithilfe von Werbung im Fernsehen
oder an Plakatwänden. Es gewinnt der mit
dem dicksten Portemonnaie, denn einmal
gewonnene Kunden sind meist treu.
Dank der Werbeoffensive hat sich Groen
an Delivery Hero inzwischen herange-
pirscht. Was die Anzahl der Bestellungen
betrifft, liege Lieferando inzwischen fast
gleichauf mit Pizza.de und Lieferheld zu-
sammengenommen, behauptet Groen. De-
livery Hero bestreitet das. Gegen diese
Aussage erwirkte Lieferando am Dienstag
eine einstweilige Verfügung vor dem Ham-
burger Landgericht. Östberg hofft, dass
Groen irgendwann das Geld ausgeht. Aber
der macht keine Anstalten nachzugeben.
2017 wolle er das Werbebudget von Liefe-
rando sogar aufstocken, sagt er, „der deut-
sche Markt hat noch großes Potenzial“.
Die Härte, mit der sich die Pizzaplatt-
formen in Deutschland bekriegen, hat ei-
nen Grund. Das Vermittlungsgeschäft ist
sehr lukrativ – aber nur für den klaren
Marktführer, denn der kann die Kommis-
sionsgebühr nach Belieben hochsetzen und
seine Werbeausgaben herunterfahren. Die
Kosten sind dann nur minimal.
Niklas Östberg hat noch einen anderen
Sorgenfall: Foodora, den Bringdienst für
die gehobenere Gastronomie. Foodora hat
sich auf Restaurants spezialisiert, die keine
eigene Fahrerflotte haben. Die Ausliefe-
Essen auf Bestellung
Delivery Hero und seine härtesten Konkurrenten
er m
do
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an
. L ay.c
b
He very
hu
u.a aw
ro
ub
ke
li
De
Gr
Ta
Firmensitz
Berlin Chicago Amsterdam
Bestellungen 2016 in Mio.
197 101 49
Anzahl der Länder
42
2* 9 13
Umsatz 2016 in Mio. Euro
446
297
117
*USA und London
Wirtschaft
rung übernimmt das Tochterunternehmen
von Delivery Hero selbst. Dafür beschäf-
tigt Foodora 7500 Fahrradkuriere, die fest
angestellt sind und auf Abruf ausschwär-
men. Nur wenn die Boten mindestens
zwei Touren pro Stunde schaffen, rechnet
sich das Modell. Bislang tut es das nicht,
Foodora schreibt tiefrote Zahlen.
Ursprünglich wollte Östberg die Holding
schon Ende 2016 in die Gewinnzone füh-
ren. Stattdessen verbrannte er im vergan-
genen Jahr 71 Millionen Euro. Die hohen
Verluste haben es unmöglich gemacht, De-
livery Hero den Anlegern als starken und
profitablen Lieferriesen zu verkaufen. Öst-
berg bastelt nun an einer alternativen Bör-
senstory. Sein Unternehmen sei der „Welt-
marktführer“, sagte er kürzlich vor Ana-
lysten und Medienvertretern. Kein anderer
Essenslieferant vermittle mehr Bestellun-
gen und arbeite mit mehr Restaurants zu-
sammen. Dass die meisten Konkurrenten
mehr Umsatz und vor allem Gewinn ma-
chen, erwähnte er nicht. Dafür schwärmte
er von den exzellenten Wachstumsaussich-
ten, die Delivery Hero dank seiner globa-
len Ausdehnung habe.
Die Frage ist, ob alle Märkte tatsächlich
das wert sind, was Östberg die Anleger
glauben machen will. Außerhalb Europas
ist Delivery Hero unter anderem in Schwel-
lenländern wie Indien, Kolumbien und
Malaysia aktiv. Die Bedingungen dort
sind schwieriger als in Europa, die Kosten
hoch. Mancherorts erwarten Gastronomen,
dass die Mitarbeiter von Internetportalen
zwecks Vertragsabschluss persönlich vor-
beikommen. In Asien, auf der arabischen
Halbinsel und in Teilen Südamerikas un-
terhält Delivery Hero ebenfalls eine eigene
Lieferflotte.
t
Ea
Außer im Nahen Osten und der Türkei
st
Ju
ist die Holding in jeder Region weit davon
entfernt, Gewinne zu machen, und braucht
deshalb womöglich bald wieder frisches
London Kapital. Denn mit den Einnahmen aus
dem Börsengang – bis zu 483 Millionen
Euro – kann Delivery Hero keine großen
Sprünge machen. Sie gehen mehrheitlich
für die Tilgung von Darlehen drauf. Schon
136
in der Vergangenheit war das Geld offen-
bar zeitweise knapp. 2016 lieh sich Östberg
insgesamt 75 Millionen Euro von Rocket
Internet. Als er den Kredit vor einigen Wo-
chen zurückzahlte, musste er 10,5 Millio-
nen Euro Zinsen drauflegen.
Delivery Hero ist eine Wette auf die Zu-
kunft, jedes Start-up ist das. Aber Niklas
Östberg darf nicht die gleichen Fehler ma-
chen wie Oliver Samwer, der seine Anle-
440 ger in der Vergangenheit mit immer neuen
Manövern zur Kapitalbeschaffung irritier-
te. Östberg muss es zudem schaffen, die
Balance zwischen Wachstum und Profit
zu finden. Auch das ist Samwer bislang
nicht gelungen. Davon hängt ab, ob die
Wette am Ende aufgeht. Ann-Kathrin Nezik
DER SPIEGEL 27 / 2017 77
 Zentrum von Gera: Alles Neue bedeutet hier immer nur, dass etwas Altes kaputtgeht

Erschöpfte Stadt
Standorte Gera war einmal reich. Heute ist Thüringens drittgrößte Stadt pleite. Der Niedergang
begann, wie bei vielen ostdeutschen Kommunen, mit der Wende.
Andere rappelten sich auf. Gera gelang das nie. Und das liegt nicht allein am Geld.

I
rgendwo in Gera muss ein Abgrund Leben braucht. Doch sie fühlt sich leblos Gera gehörte einmal zu den zehn reichs-
sein. Keine Baugrube, kein Schlagloch, an, beklemmend, als fremdle sie mit sich ten Städten Deutschlands. Die Tuch- und
sondern eine Art Nichts, das alles ver- selbst. Was fehlt Gera? Was stimmt hier Stofffabriken hatten ihr um die Jahrhun-
schluckt wie in dem Buch „Die unendliche nicht? dertwende industriellen Wohlstand ge-
Geschichte“. Man kann es nicht sehen, nur Gera ist pleite. Vor drei Jahren musste bracht, der bis in die Vierzigerjahre hielt.
spüren. Thüringens drittgrößte Stadt ihre Betriebe Schlecht ging es der Stadt auch danach lan-
In Gera gibt es Kindergärten, Läden und – die Stadtwerke mitsamt Nahverkehr und ge Zeit nicht. Doch mit der Wende war
hübsche Einfamilienhäuser im Grünen, so- Müllabfuhr – in die Insolvenz schicken. auf einen Schlag alles tot.
gar ein imposantes Theater mit goldener Als erste und einzige Stadt der Republik. Geras Textilindustrie war nicht mehr
Inschrift. Die Straßenbahn fährt oft und Das Geld war alle, die Landesregierung wettbewerbsfähig, der Maschinenbau eben-
pünktlich. Die Stadt hat alles, was es zum weigerte sich, noch mal nachzuschießen. so wenig. Der Uranabbau unter Tage wur-
78 DER SPIEGEL 27 / 2017

Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Der
Niedergang bringt den Frust. Aber in Gera
scheint auch das Gegenteil zu stimmen:
Der Frust bedingt den Niedergang. Das
Bewusstsein bestimmt das Sein.
Die Geschichte von Gera ist die eines
ökonomischen Verlierers. Von einer Stadt,
die irgendwann nicht mehr mithalten konn-
te mit ihren Nachbarn. Von der weltweiten
Konkurrenz ganz zu schweigen. Aber das
haben andere Städte auch durchlitten, und
sie haben sich dennoch verändert, erneu-
ert, reüssiert. Die Frage ist, warum das
Gera nicht gelungen ist.
EIN GRAUER FEBRUARMORGEN. An der
Landstraße B7 steht Oberbürgermeisterin
Viola Hahn unter dem Ortseingangsschild
und strahlt in die Kameras der Lokaljour-
nalisten. Thüringens Wirtschaftsminister
Wolfgang Tiefensee ist extra aus Erfurt an-
gereist, um eine Leiter festzuhalten.
Es ist ein großer Moment: Zwei Mitar-
beiter des Bauhofs nehmen die alte Orts-
tafel ab und hieven die neue hinauf.
„Hochschulstadt“ steht nun auf dem gel-
ben Schild. Die Buchstaben sind nur 85
Millimeter groß. Aber die Hoffnung dahin-
ter ist, mal wieder, riesig. Gera war schon
so vieles: Einkaufsstadt, Otto-Dix-Stadt.
Doch jedes neue Etikett, das die Stadtobe-
ren ihr anhefteten, brachte Enttäuschun-
gen. Nun also Hochschulstadt. Der Studen-
tenförderverein hat dafür getrommelt. Die
SVEN DOERING / AGENTUR FOCUS / DER SPIEGEL
25 neuen Schilder haben Sponsoren be-
zahlt, die Stadt hat dafür kein Geld übrig.
Mitte März, zu Besuch bei Hahn. Die
Oberbürgermeisterin sitzt in ihrem tanz-
saalgroßen Büro im Rathaus. Ihre blonden
Haare schwingen um die Wangen, goldene
Ohrringe, ein blau-weiß gestreiftes Hals-
tuch zur Kostümjacke. „Psychologisch“,
sagt sie, sei die Sache mit der Hochschul-
stadt „ganz wichtig für Gera“.
Hahn hat bis vor fünf Jahren das Finanz-
amt geleitet, die Leute dachten, jemand,
de 1990 eingestellt – der größte Arbeit- der mit Geld umgehen kann, tut der Stadt
geber der Stadt war einfach weg. Mit 9,9 gut, jemand mit Realitätssinn. Aber Hahns
Prozent Arbeitslosigkeit ist Gera heute das Optimismus ist so groß, dass die Realität
Schlusslicht in Thüringen. Mit der Arbeit nicht ganz mithalten kann.
gingen die Menschen: Seit 1990 ist die Ein- Zwei Hochschulen mit gut 1700 Studen-
wohnerzahl um fast ein Drittel ge- ten hat Gera. Eine davon ist die Hochschu-
schrumpft. Wer Arbeit hat, verdient im le für Gesundheit, die der private Klinik-
Schnitt knapp 26 000 Euro im Jahr, brutto. konzern SRH betreibt. Vor drei Jahren zog
Das ist fast ein Fünftel weniger als im Bun- sie in die frühere Landeszentralbank, in
desdurchschnitt. einen Bau des Stararchitekten David Chip-
Ja, Gera ist arm. Aber Geld ist nicht ein- perfield. Die Wände im Foyer sind lilafar-
mal das größte Problem. Gera ist nicht ben gestrichen, mit einem monströsen grü-
Duisburg-Marxloh, es brennt hier nicht nen Kontrabass darauf.
wie in Dortmunds Nordstadt oder in Ber- Die Flure sind leer, von den knapp 500
lin-Hellersdorf – Stadtteilen, die in Armut, Studenten ist nichts zu sehen. Nur 200 le-
Drogen und Kriminalität versinken. ben überhaupt fest in Gera. Die meisten
Die Geraer kennen seit Jahrzehnten nur studieren hier neben dem Beruf und am
eine Erfahrung: dass alles Neue immer nur Wochenende. Das neue Ortsschild sei
bedeutet, dass etwas Altes kaputtgeht. Es „eher ein Label für die Stadt“, sagt Hoch-
hat sich eingebrannt in das Selbstverständ- schulpräsident Johannes Schaller, ein jun-
nis der Bürger. ger Kerl in blauem Anzug und polierten
Wirtschaft
Schuhen. „Aber ob dadurch zwei Studen-
ten mehr hierherkommen?“ Hahn ist bei
dem Gespräch dabei, sie hat den Besuch
organisiert, mit jedem Satz von Schaller
rutschen ihre Mundwinkel tiefer.
Gera ist eine alte Arbeiterstadt, keine
Universitätsstadt wie Leipzig oder Jena.
Es gibt keine akademischen Traditionen,
an die sich anknüpfen ließe. Schallers
Krankenhauskonzern hat deshalb für Gera
ein Konzept als Gesundheitsstadt entwor-
fen, mit Sanitätshäusern, Klinik und Hoch-
schule. Weil Gera alt werde, von ganz al-
lein. „Das wäre einfacher, als eine coole,
junge Studentenstadt zu verkaufen. Das
glaubt ja keiner“, sagt Schaller.
Hahn glaubt es. Hochschule, das klingt
nach Zukunft. 500 bis 600 neue Studieren-
de will sie nach Gera locken. Die Mieten
sind doch mit 4,70 Euro pro Quadratmeter
nur halb so hoch wie in Jena. Jeder Stu-
dent, der bleibt, soll 300 Euro bekommen.
Aber erst im dritten Jahr, sonst zählen die
neuen Einwohner nicht in der Statistik, in
der sie so dringend gebraucht werden.
Um kreisfrei zu bleiben, brauchte die
Stadt eigentlich 100 000 Einwohner. Aber
Gera kommt bloß auf 96 248. Die Landes-
regierung in Erfurt drohte mit einer Ge-
bietsreform, die Gera klein gemacht hätte:
Kreisfreie Städte sind in vielen Landkar-
ten ein fetter schwarzer Punkt. Gera wäre
auf einen kleinen Punkt zusammenge-
schrumpft. Ein gefühltes Nichts.
In der DDR war Gera Bezirksstadt, nach
der Wende war der Titel futsch, auch bei
der Bewerbung zur Landeshauptstadt fiel
die Stadt durch. Fürs Erste hat Hahn den
Kampf mit der Landesregierung gewon-
nen. Nicht noch das letzte bisschen Status
zu verlieren sei „psychologisch für die
Identität ganz wichtig“, sagt Hahn.
Hahns Kampf um jeden Einwohner hat
etwas Rührendes. Im Dezember hat sie ei-
nen „Baby-Empfang“ im Kulturzentrum
ausgerichtet, einem bronzefarbenen DDR-
Klotz im Zentrum. 280 Babys mit Eltern
und Geschwistern kamen, Hahn hängte je-
dem Baby ein Gera-Lätzchen um, gelb um-
randetes Frottee, bedruckt mit den Sehens-
würdigkeiten der Stadt. „Das war für die
schon mal etwas, von der Stadt eingeladen
zu werden und sich mal auszutauschen.
Da freuen sich die Leute.“
Es ist nicht so, dass Gera stirbt, im Ge-
genteil, die Stadt wächst sogar leicht. Im
vergangenen Jahr wurden hier 782 Babys
geboren, das sind 76 mehr als im Jahr da-
vor. Über 1300 Menschen sind in derselben
Zeit gestorben. Das Wachstum verdankt
Gera auch dem kleinen, aber stetigen Zu-
zug von Ausländern. Sie machen inzwi-
schen 4,8 Prozent der Einwohner aus.
RALF LECHNER könnte in Gera glücklich
sein, er hat hier etwas aufgebaut. Lechner
ist Geschäftsführer „vom Getzner“, wie sie
DER SPIEGEL 27 / 2017 79
 Wirtschaft
SVEN DOERING / DER SPIEGEL
1 2
in Gera sagen. Die österreichische Textil-
firma hat im Gewerbegebiet am Stadtrand
vor zwei Jahren 47 Millionen Euro in eine
neue Weberei investiert, 218 Leute arbeiten
hier. Getzner gehört damit zu den größeren
Industriebetrieben Geras. Von der Bürger-
meisterin hat Lechner einen Ehrenpreis be-
kommen. Jede Besuchergruppe in der Stadt
schleift Hahn durch den Betrieb. Gewerk-
schaften, Schulen, die IHK. „Wenn ich von
jedem 20 Euro Eintritt nähme, hätte ich ein
neues Auto“, sagt Lechner.
Getzner rettete den Betrieb 1997 vor
dem Aus und damit ein Stück Industrietra-
dition. Die Österreicher kauften neue Ma-
schinen und verdoppelten die Mitarbeiter-
zahl bis 2001 auf 80. In den besten Zeiten
hatten hier mehr als 1000 Menschen Arbeit.
Im Websaal rattern heute 240 Webma-
schinen. An jeder entsteht eine breite Rolle
heller Stoff mit feiner Musterung. Fast
zwölf Millionen Meter werden hier pro
Jahr produziert – für Afrika.
In Gera fertigt Getzner sogenannten Afri-
ka-Damast. Aus dem glänzenden Stoff wer-
den die traditionellen bunten Gewänder ge-
näht, die in Afrika zu besonderen Anlässen
getragen werden. Für den deutschen Markt
ist das Gewebe zu hochwertig. „Das bezahlt
hier niemand mehr“, sagt Lechner. Tisch-
und Bettwäsche werden in Deutschland
meist billig aus China importiert.
Im Flur vor Lechners Büro stehen drei
schwarze Schaufensterpuppen mit golde-
nem, orangefarbenem und rotem Gewand.
Lechner selbst war erst einmal in Afrika,
im Urlaub. Warum die Firma nicht dort,
vor Ort, produziert statt hier? „Irgend-
wann muss mit dem Ausverkauf von
Know-how ja mal Schluss sein“, sagt er.
Getzner – das ist ein kleines Stück Glo-
balisierung in Gera. Man könnte sich als
Gewinner fühlen, aber irgendwie geht das
hier nicht, sich mal als Gewinner zu fühlen.
Es ist skurril: In Gera leben Flüchtlinge,
auch aus Afrika. Denen werde das Geld
hinterhergeworfen, hetzt die AfD. Aber
darüber, dass gut 200 Jobs an Afrika hän-
80 DER SPIEGEL 27 / 2017
gen, wird in der Stadt nicht geredet. Es ist
einfach kein Thema.
Lechner würde sogar noch Leute ein-
stellen, aber er findet niemanden, obwohl
die Firma doch, wie er sagt, 12,47 Euro pro
Stunde zahlt, plus Schichtzulage. „Viele
haben hier ein irres Anspruchsdenken“,
sagt Lechner. Er kommt aus Oberfranken,
wenn er in Rente geht, wird er wohl weg-
gehen aus Gera. „Verantwortung für das
eigene Leben?“ Viele Geraer wüssten gar
nicht, dass sie frei sind. „Freiheit, das war
hier oft nur Konsum, kaufen, leisten“, sagt
Lechner. Heute sitzt der Frust tief.
GERA HÄNGT AM TROPF: Die Einnahmen
der Stadt liegen bei nur 100 Millionen Euro.
Land und Bund schießen hier zu und dort
zu. Über 160 Millionen Euro überwiesen
sie im vergangenen Jahr. Allein Geras So-
zialausgaben liegen bei 120 Millionen Euro.
Für ein Drittel der Kindergartenkinder
muss die Stadt die monatliche Kitagebühr
von durchschnittlich 135 Euro überneh-
men, weil die Eltern die Summe nicht auf-
bringen können.
Wie konnte Gera, das einmal stark und
stolz war, so vor die Hunde gehen ? Politi-
sches Versagen? Historisches Pech? Oder
beides? Die Geraer wissen es nicht. Die
eigene Stadt ist ihnen ein Rätsel, ein
Fremdkörper. Sie wissen nur, wer hier et-
was anpackt, muss sich wehren gegen ei-
nen mächtigen Sog, der alles verschlingt:
das Geld, die Lust, die Kraft.
Vielleicht liegt es an den immer neuen
Ideen der Bürgermeister, die kamen und
gingen, an den vielen Versprechungen, aus
denen nie etwas wurde. Sie haben die
Geraer nicht nur enttäuscht. Sie haben sie
entfremdet von ihrer Stadt.
Seinen Lauf nahm das Drama nach dem
Wendeschock. Als die Stadtväter nicht
wussten, wie weiter, deklarierten sie Gera
kurzerhand zur Einkaufsstadt. Die Jobs
waren weg – aber Gera war Einkaufsstadt.
Ihre Identität hängt seither an einer
schwindenden Größe: Geld. Das Gefühl,
SVEN DOERING / DER SPIEGEL
SVEN DOERING / DER SPIEGEL
3
nicht dazuzugehören, war darin angelegt:
Wer nicht kaufen kann, nimmt nicht teil.
Gera hat sich selbst abgehängt.
Die zwei Einkaufszentren in der Innen-
stadt haben viele Geschäfte in der Ein-
kaufsstraße, die passenderweise Sorge
heißt, kaputt gemacht. Die triste Einkaufs-
meile möchte Hahn nun wiederbeleben:
mit einem weiteren Shoppingcenter am
oberen Ende der Fußgängerzone. Weil die
Leute dann von einem Center ins andere
durch die Sorge laufen und auf dem Weg
vielleicht ein Kleid kaufen.
An kuriosen Ideen dieser Art hat es
Gera nie gefehlt. Ein Unternehmer schlug
vor Jahren vor, die Sorge zu überdachen,
damit man dort auch bei Regen shoppen
könne. Auf der großen Brachfläche im Her-
zen der Stadt wollte ein Investor vor Jah-
ren einen Elektronikmarkt ansiedeln, auf
dessen Obergeschoss eine überdachte Rad-
rennbahn gebaut werden sollte, ein „Al-
leinstellungsmerkmal“ für Gera. Daraus
wurde nichts, die Fläche liegt noch immer
brach.
Um neue Industrie dagegen bemühten
sich die Stadtoberen nach der Wende nur
halbherzig. Einen Schlachthof wollte man
nicht, wegen des Gestanks. Die Druckerei
einer Lokalzeitung auch nicht. Stattdessen
träumte Gera von einem Großinvestor wie
BMW. Und wartet bis heute.
Das Versäumte nachzuholen ist schwer.
Nach der Insolvenz der Stadtwerke, die
2014 mit 230 Millionen Euro Schulden zu-
sammenbrachen, hat die Landesregierung
Gera zur Haushaltssanierung verdonnert.
Die Stadt kann ihre Gewerbesteuern des-
halb nicht senken, um Firmen anzulocken.
Demnächst will sich XXXLutz mit zwei
Möbelhäusern ansiedeln, 240 neue Jobs
sollen entstehen. Die Stadtverwaltung fei-
ert, die Geraer sorgen sich: Es gibt schon
drei Möbelhäuser. Dass alle überleben, ist
unwahrscheinlich. Vielleicht ist es kein
Wunder, dass in Gera kaum noch einer
etwas Neues wagen mag, wenn am Ende
doch nichts bleibt. Vielleicht ist es ver-
 NIEDER- SACHSEN-
SACHSEN ANHALT
Halle SACHSEN
Leipzig
THÜRINGEN
Erfurt Jena
Gera
HESSEN rd. 96 000 Einwohner;
Gemeindeschulden
107 Mio. € (31. 12. 2016);
30 km BAYERN Arbeitslosenquote
9,9 % (Mai 2017)
ständlich, dass die Menschen sich eine
Schutzhülle aus altem Stolz und neuem
Trotz zugelegt haben. Sie zu durchbrechen
fällt selbst denen schwer, die es gut meinen
mit der Stadt, die etwas verändern wollen.
PETER PRZETAK hat es versucht, aber der
Theaterpädagoge und Gera, das sind zwei
Extreme, die nicht zusammengehen. Er
verzweifelt an dieser Stadt und sie an ihm.
Es ist der 2. Mai. Przetak sitzt im Café,
die braunen Haare zerwühlt, Cordjackett
über blauem Reißverschlusspulli, und fum-
melt nervös an einer Zigarette. Er ist ent-
täuscht, von sich selbst und den Geraern.
Am Vortag ist die rechtsextreme Partei
Der III. Weg mit mehr als 400 Nazis durch
die Innenstadt marschiert, um die DGB-
Feier zum 1. Mai zu stören. Przetak hat
das Bündnis Herz statt Hetze mitgegrün-
det, das Rassisten die Stirn bieten will. Von
der Bühne aus hat er versucht, die Geraer
zu bewegen: Sie sollten sich zu sanfter Mu-
sik hin und her wiegen, um den krakee-
lenden Nazis Liebe und Stille entgegenzu-
halten. Es hat nicht funktioniert. Die Leute
blieben einfach stehen.
Przetak ist seit sechs Jahren in Gera. Der
49-Jährige ist in Duisburg geboren und hat
in 19 Städten gelebt. „Aber so etwas wie
hier habe ich noch nirgendwo erlebt“, sagt
er. Der Theaterpädagoge probt mit Schul-
gruppen und Kindergartenkindern, mit be-
nachteiligten Jugendlichen und Flüchtlin-
gen. Seine Stücke heißen „Bei Rita“ oder
„Freigeister“ und sind eine Art Anleitung
zur Selbstbefreiung. „Aber in Gera stoße
ich an meine pädagogischen Grenzen. Ich
möchte etwas Positives in die Welt schicken
und fühle mich hier bloß unbequem.“
Wenn man ihn fragt, was nicht stimme
mit dieser Stadt, sagt er: „Hier wird nur
,gemant‘“. Was das heißen soll? „Man
muss, man darf, man soll. Das Ich ver-
schwindet in einer amorphen Masse“, sagt
er. Selbst Kinder seien nicht in der Lage,
ihre Bedürfnisse zu formulieren, zu disku-
tieren und auszuhandeln. Aus Angst, dass
1 Oberbürger-
meisterin Hahn
2 Theaterpädagoge
SVEN DOERING / DER SPIEGEL
Przetak
3 Teilnehmerin der
Montagsdemo
4 Textilunternehmer
4
Lechner
ihnen daraus ein Nachteil entsteht, wie da- seine Mitstreiter ein rotes Zelt auf. Aus ei-
mals in der DDR. nem Lautsprecher auf dem Autodach plärrt
Przetak glaubt nicht, dass Geras Proble- „Zeit der Irren und Idioten“, ein Song des
me zuerst wirtschaftliche sind. „Im Ver- Ostliedermachers Hans-Eckhardt Wenzel.
gleich zu Oberhausen und Marxloh ist Heute sind sie zu siebt. Mehr ist nicht
Gera reich, dagegen leben wir wie Maden übrig von den Montagsdemonstrationen
im Speck“, sagt er, „trotzdem sind die Leu- gegen Hartz IV, die in Gera im Spitzenjahr
te hier unzufrieden.“ Weil sie nicht disku- 2004 einmal 4000 Leute auf die Straße
tierten, den Frust rauslassen und aus einem brachten. In Jena haben sie vor einigen
Streit etwas Gutes werden lassen könnten. Wochen das Demonstrieren eingestellt,
Fast überall, wo Przetak gelebt hat, war aber Elstner und sein harter Kern wollen
er früher oder später zum Essen eingela- weitermachen, 673 Wochen halten sie
den mit Frau und Kindern, hatte Gäste zu schon durch.
Hause, Freundschaften wuchsen. „In Gera Die meisten Passanten laufen einfach
entsteht daraus nie etwas von Dauer“, sagt weiter. Vorn, neben dem roten Opel, brüllt
er. „Die Leute sind unfähig, sich auf etwas einer von Elstners Mitstreitern etwas von
Neues einzulassen.“ Wenn es divers, un- Merkel-Medien und Staatsfunk ins Mikro-
übersichtlich, verstörend wird, machen sie fon, die das ganze Elend verschwiegen.
dicht. „Dann wird ihnen die Welt zu groß.“ Eine Familie, Flüchtlinge, bleibt stehen
Im vergangenen Jahr saß Przetak in ei- und spendet: sieben Euro.
nem Café auf dem Marktplatz, als die Be- Elstner kommt aus Gera. 15 Jahre lang
sitzerin rief, sie sei „geschockt“. Przetak hat er als Maschinentechniker für eine Ree-
wollte wissen, warum. „Das geht Sie einen derei in Rostock gearbeitet. Nach der Wen-
Scheißdreck an“, bekam er zu hören. Über de wurde die Firma abgewickelt. Elstner
den Platz lief ein Transsexueller. Die ein- verlor seinen Job. Er dachte, eineinhalb
zige Schwulenkneipe hat zugemacht. Jahre BWL, damit lässt sich doch ein Job
Przetak ist in jeder Initiative vertreten, finden. Stattdessen war er 1993 arbeitslos.
die sich in Gera für Flüchtlinge, gegen rechts, Seitdem war Elstner: Versicherungsver-
für gute Schulen und gegen die AfD enga- treter und Bühnenbauer, er hat Computer-
giert. Aber es ermüdet ihn. Wer hier etwas schulungen gemacht und Filmprojekte mit
verändern wolle, fühle sich, als wolle er den Schülern für den Offenen Kanal, eine
Leuten etwas wegnehmen, ihren letzten Rest ABM hier, ein Projekt dort. Wer in Gera
von Sicherheit. „Die Jungen, Klugen gehen, den Job wechselt, muss immer gleich den
die halten das nicht aus“, sagt Przetak. Beruf wechseln – und selbst das nützt
2007, zur Bundesgartenschau, sah es für nichts. „Die Leute schreiben 20 Bewerbun-
einen Moment so aus, als gelänge es Gera gen, weil sie müssen, dabei weiß jeder,
auszubrechen. Fassaden, Straßen und Parks dass es keine Jobs gibt“, sagt er. Auf Neues
wurden hübsch gemacht. Plötzlich waren würden sich die „Gerschen“ gar nicht ein-
Jobs da, weil Servicekräfte gebraucht wur- lassen, „weil hier ja eh alles nichts wird“,
den. 1,5 Millionen Besucher kamen damals. sagt Elstner. Die Menschen wollten bloß
Es war, als bekäme die Stadt endlich frische in Ruhe gelassen werden. Aus eigener
Luft zum Atmen. Geblieben ist davon wenig. Kraft habe Gera nie etwas geschaffen, wo-
ran sich die Stadt aufrichten könne.
THOMAS ELSTNER gibt trotzdem nicht auf. Vor einer Weile hat Elstner ein Paar ge-
Jeden Montagnachmittag um fünf fährt Elst- troffen, das früher jeden Montag dabei war.
ner mit dem kleinen Auto des DGB in die Sie kommen nicht mehr. „Wir haben jetzt
Innenstadt. Vor dem Stadtmuseum bauen unser Auto verkauft, uns geht es wieder
der Kreisvorsitzende der Gewerkschaft und gut“, haben sie ihm gesagt. Isabell Hülsen
DER SPIEGEL 27 / 2017 81
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* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
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 Ausland
Trumps Woche
Die Woche begann für Do-
nald Trump mit einem Erfolg:
Der Oberste Gerichtshof ließ
den Einreisestopp für Bürger
aus sechs muslimischen Län-
dern zu, wenngleich mit so
vielen Einschränkungen, dass
„Einreisestopp“ eine eher ir-
reführende Bezeichnung ist.
Ansonsten führte der Präsi-
dent seinen Krieg gegen die
Medien weiter, gegen CNN
sowie vor allem die „New
York Times“, die republika-
nische Senatoren zitierte, de-
nen zufolge ihr Präsident kei-
nen blassen Schimmer von
den Details seines wichtigsten
Vorhabens habe, dem neuen
Krankenversicherungsgesetz.
Trump twitterte, etwas belei-
digt: „Falsch, ich kenne mich
bei dem Thema gut aus & will
den Sieg für die USA.“ Wie
dieser Sieg aussieht ange-
sichts der 22 Millionen Ame-
rikaner, die damit ihre Kran-
kenversicherung verlieren,
wissen aber nicht mal die Re-
publikaner. Weil mehrere Se-
natoren nicht für das Gesetz
stimmen wollten, wurde das
Votum verschoben. Doch so-
sehr Trump die Presse hasst,
so sehr liebt er es, sich auf ih-
ren Titelbildern zu sehen. In
seinen Golfklubs hängt daher
ein gefälschtes „Time“-Cover
von 2009, wie die „Washing-
ton Post“ aufdeckte, mit
der Zeile: „The ,Apprentice‘
ist ein riesiger TV-Erfolg.“
Das war Trumps damalige
Sendung.
Am Mittwoch machte
Trump dann, was er am liebs-
ten tut: Er kassierte viel, viel
Geld, um genau zu sein
35 000 Dollar pro Person, für
ein Abendessen mit ihm in
seinem Washingtoner Trump
Hotel, insgesamt rund zehn
Millionen Dollar. Die Wahl ist
erst in 40 Monaten, aber man
kann ja nicht früh genug an-
fangen, Spenden zu sammeln.
84 DER SPIEGEL 27 / 2017
Irak
„Wer flieht, wird
erschossen“
Die Berliner Intensivkranken-
schwester Karin E., 34, über
ihren Einsatz für die Hilfsorgani-
sation Cadus in Mossul. Aus
Sicherheitsgründen wird ihr
Nachname nicht genannt. Das
Protokoll stammt vom Dienstag,
kurz darauf wurde die Nuri-
Moschee erobert, in der IS-Chef
Abu Bakr al-Baghdadi 2014 sein
Kalifat ausgerufen hatte.
„Unsere Traumastation liegt
westlich von Mossuls Alt-
stadt, einen guten Kilometer
von der Front entfernt. Die
Kämpfer vom „Islamischen
Staat“ (IS) sind jetzt einge-
kesselt, es gibt für sie kein
Entkommen. Mit ihnen sind
auch viele Zivilisten einge-
schlossen, es heißt, 70 000 bis
120 000 Menschen. Wer zu
fliehen versucht, den erschie-
ßen die IS-Kämpfer. Die Ver-
Helferin Karin E. in Mossul
China
„Xi Jinping, lass
meinen Freund
Xiaobo ausreisen!“
Der in Berlin lebende Schriftstel-
ler Liao Yiwu, 58, über seinen
Freund, den Friedensnobelpreis-
träger Liu Xiaobo. Der chine-
sische Dissident wurde wegen
einer schweren Krebserkran-
kung nach sieben Jahren in Haft
in ein Krankenhaus verlegt.
SPIEGEL: Was war Ihr erster
Gedanke, als Sie von seiner
Erkrankung erfuhren?
Liao: Mein Hirn war plötzlich
leer. Ich hatte schon vor zwei
Wochen von Xiaobos Frau,
der Dichterin Liu Xia, erfah-
letzten werden uns vom ira-
kischen Militär gebracht.
Dieser Tag begann mit
zwei verwundeten Soldaten
und einem Baby. Die Mutter
brachten sie auch, in Decken
gehüllt, sie war tot, ihr Baby
überlebte mit Schnitt- und
Risswunden. Auch der Rest
der Familie sei umgekommen,
sagten die Soldaten. Als
Nächstes trug ein junger
Mann seinen Bruder herein,
vielleicht zehn Jahre alt. Des-
sen Unterschenkel war zer-
fetzt, der Junge war nicht an-
sprechbar. Einer von uns
übernahm die Beatmung, wir
legten intravenöse Zugänge,
aber wir ahnten bereits: Un-
sere Hilfe kommt zu spät. Er
sei auf dem Weg zum Markt
gewesen und auf eine Spreng-
falle des IS getreten, erzählte
der Bruder. Die Verletzungen
waren nicht so schwer, wir
hätten den Jungen retten kön-
nen. Aber es dauerte zu lan-
ge, bis er zu uns kam.
Tausende Zivilisten wur-
den bisher getötet oder ver-
wundet. Am Wochenende ha-
ben IS-Kämpfer, die sich in
den befreiten Vierteln als Zi-
vilisten getarnt hatten, eine
neue Front eröffnet. Wahllos
zündeten sie Häuser an. Die
Menschen, die sich gerade
erst zurückgewagt hatten, flo-
hen erneut in Panik.“
Aufgezeichnet: Susanne Koelbl
ren, dass es ihm nicht gut lebt. Manche Menschen ver-
geht. Sie weinte, sie war sehr urteilen Schwäche. Xiaobo
besorgt. „Was soll ich tun?“, tut das nicht.
fragte sie. „Wenn Xiaobo SPIEGEL: Er wurde 2009 zu elf
stirbt, kann ich nicht weiterle- Jahren Haft verurteilt, weil er
ben.“ Ich überlegte, was wir zu den Unterzeichnern der
tun können. Ich weiß, dass Charta 08 zählte, einem Auf-
auch die deutsche Regierung ruf zu Demokratie und freien
über ihren Botschafter mit Wahlen in China.
Liu Xia sprach. Liao: Xiaobo hat die Charta 08
SPIEGEL: Hatten Sie mit seiner nicht allein geschrieben.
Entlassung gerechnet? Doch als man ihn beschuldig-
Liao: Nein. In einer Diktatur te, übernahm er allein die
ist alles möglich – oder nichts. Verantwortung. Das ist der
SPIEGEL: Was für ein Mensch eine seiner beiden wichtigs-
ist Liu Xiaobo? ten Charakterzüge. Der ande-
Liao: Das Besondere an ihm re ist die tiefe Liebe, die er
ist seine Güte. Er kann den für seine Frau empfindet: Als
Menschen ihre Schwächen sie ihm jetzt erzählte, dass sie
verzeihen. Nicht jeder ist so an Depressionen und Herz-
stark wie er, wenn er unter schwäche leide, war er scho-
dem Druck einer Diktatur ckiert. Er hatte davon in der
 Weiter Weg
Viermal größer als Deutschland ist die Mongolei, aber das riesige Land
zählt weniger Einwohner als Berlin. Für die Präsidentschaftswahlen am
Montag ließ die Regierung traditionelle Nomadenzelte aufschlagen,
wie hier in der Provinz Töw. Immerhin machten sich fast 70 Prozent der
Wahlberechtigen auf den Weg zu den Urnen. Am nächsten Sonntag

FRED DUFOUR / AFP

müssen sie für die Stichwahl ein zweites Mal anreisen. Zwei von drei
Kandidaten sind übrig, beiden haftet ein Ruch von Korruption an.

Haft nicht gewusst. Erst als er Liao: Die deutsche Regierung
das erfuhr, erklärte er sich be- hat uns immer geholfen. Vor
reit, mit ihr zusammen China einigen Jahren gelang es mir
zu verlassen. über Monate nicht, seine Frau
SPIEGEL: Sie haben die Bundes- telefonisch zu erreichen. Also
regierung über den Wunsch schrieb ich an den damaligen
des Ehepaars informiert. Bundespräsidenten Joachim
Freunde Liu, Liao
Gauck. Ich wusste, dass
Staatschef Xi Jinping nach
Berlin kommt und ihn treffen
wird. Gauck versprach, Xi
auf den Fall anzusprechen.
Zwei Wochen später war die
Telefonleitung zu ihr plötz-
lich offen.
SPIEGEL: Glauben Sie, dass Pe-
king Liu Xiaobo ausreisen
lässt – so wie Ai Weiwei nach
Deutschland oder den blin-
den Bürgerrechtler Chen Gu-
angcheng in die USA?
Liao: Xiaobo ist mit keinem
dieser beiden vergleichbar.
Er würde nie Bedingungen
für seine Ausreise akzeptie-
ren. Ich weiß, dass Präsident
Trump vorhat, Xi Jinping di-
rekt auf Liu Xiaobos Fall an-
zusprechen. Amerikanische
Beamte haben mich angeru-
fen und gefragt, ob es wirk-
lich sein Wunsch sei, China
mit seiner Frau zu verlassen.
Also zeigte ich ihnen eine
handschriftliche Notiz von
Liu Xia, in der sie diesen
Wunsch selbst formulierte.
SPIEGEL: Wenn Sie mit Xi Jin-
ping sprechen könnten, was
würden Sie ihm sagen?
Liao: Ich würde nicht als sein
Gegner sprechen. Ich würde
sagen: Dein Vater war ein
Mann mit weitem Herzen. Er
stand einst selbst in Oppositi-
on zu Maos Diktatur. Du soll-
test wissen, dass Menschen
wie Xiaobo Frieden wollen.
Wenn du ihn ausreisen lässt,
dann wird das dein Ansehen
in der Welt heben. bza

DER SPIEGEL 27 / 2017 85

Ausland
Protokoll einer langen Nacht
Türkei Vor fast einem Jahr scheiterte der Putsch gegen Präsident Erdoğan. Bis heute ist
unklar, wer damals Regie führte. Der SPIEGEL hat zahlreiche Dokumente ausgewertet, um
die Abläufe rund um den 15. Juli zu rekonstruieren. Von Maximilian Popp
E
inen halben Kilometer vor dem Ge-
richt stoppen die Busse: Die Gefan-
genen müssen aussteigen. Die letzten
Meter sollen sie zu Fuß zurücklegen. Jeweils
zwei Bewacher nehmen einen Gefangenen
in ihre Mitte, treiben ihn an, daneben mar-
schieren Soldaten in Kampfmontur, das
Sturmgewehr im Anschlag. Hinter einem
Zaun drängeln sich Demonstranten, brüllen
„Verräter!“, „Mörder!“ Meter für Meter
schwillt das Geschrei der Menge an.
221 Männer klagt der türkische Staat in
Ankara an diesem Tag, dem 22. Mai 2017,
an: Sie sollen den Putsch gegen Präsident
Recep Tayyip Erdoğan am 15. Juli 2016 an-
geführt haben. Zwölf von ihnen sind auf
der Flucht oder im Exil – unter ihnen der
Hauptbeschuldigte, Islamistenprediger Fet-
hullah Gülen.
Am Eingang des Gerichts warten Jour-
nalisten. Mann für Mann werden die An-
geklagten eine Treppe hochgeführt, in ei-
nem gewissen Abstand, damit die Kameras
ihre Gesichter aus der Nähe zeigen kön-
nen. Ihre Züge sind erstarrt, der Blick ist
meist zu Boden gerichtet. Der Staat führt
sie vor wie eine Beute.
Bis heute ist umstritten, was genau am
15. Juli 2016 in der Türkei passiert ist. Laut
Präsident Erdoğan ordnete der Prediger
Gülen aus seinem Exil in den USA den
Putsch an: Seine Gefolgsleute im Militär,
vor allem bei der Luftwaffe, hätten darauf-
hin versucht, im Land gewaltsam die Macht
zu übernehmen. Der Putsch sei dann am
Widerstand der Bürger gescheitert, die ge-
gen die Soldaten auf die Straße gingen.
Fethullah Gülen hingegen behauptet,
der Umsturzversuch sei eine Inszenierung
von Erdoğan, der so seine Herrschaft aus-
dehnen wolle. Auch die Partner der Türkei
im Westen können bis heute nicht genau
sagen, welche Version nun stimmt.
Präsident Erdoğan nahm den Angriff
auf seine Regierung zum Anlass für einen
Feldzug gegen alle gesellschaftlichen Kräf-
te, die ihn nicht unterstützen. Fast 140 000
Beamte wurden seit dem vergangenen Juli
vom Dienst suspendiert, etwa 50 000 Men-
schen verhaftet.
Der SPIEGEL rekonstruiert zum Jahres-
tag des Putsches jene dramatischen Stunden,
die fast 300 Menschen das Leben kosteten
und das vorläufige Ende der Demokratie
in der Türkei einläuteten. Die dem SPIEGEL
vorliegenden Akten, Anklageschriften und
86 DER SPIEGEL 27 / 2017
Untersuchungsberichte sind mit Vorsicht zu
bewerten: Zeugen widersprechen sich, die
Justiz steht unter Kontrolle Erdoğans, Ge-
ständnisse sollen von der türkischen Polizei
zum Teil durch Folter erzwungen worden
sein. Doch zusammengenommen ergeben
die Akten der Staatsanwaltschaft, Berichte
des Militärs und der Kommission im Parla-
ment, Zeugenaussagen aus den Polizei-
ermittlungen sowie Interviews mit mehr als
zwei Dutzend Beteiligten – Offizieren, Po-
litikern, Beamten – ein neues und unmittel-
bares Bild des Geschehens.
Samstag, 9. Juli 2016
Ankara
Der Theologe Adil Öksüz versammelt in
einer Villa eine Gruppe von Männern:
zwei Generäle der türkischen Armee, ei-
nen Admiral, Zivilisten. Öksüz, 49, ein ge-
drungener Mann mit Schnauzer, hat in sei-
ner Laufbahn als Akademiker in Westana-
tolien außer einer Doktorarbeit nichts
publiziert. Sein Einfluss ist trotzdem groß.
Öksüz gilt als Vertrauter des türkischen
Exilpredigers Fethullah Gülen; Aufnah-
men zeigen die beiden beim gemeinsamen
Gebet und auf Gülens Anwesen in Penn-
sylvania, USA.
Gülen hat ein Reich aus Schulen, Uni-
versitäten und Medienhäusern in mehr als
160 Ländern geschaffen. Seine Anhänger
besetzen Schlüsselstellen im türkischen
Staat. Gülen hat für jede Institution einen
Führer bestimmt, einen sogenannten
Imam. Adil Öksüz, das berichten Gülen-
Kader, ist der „Imam der Armee“ und da-
für verantwortlich, den Einfluss der Gü-
len-Bewegung auf die Streitkräfte zu wah-
ADIL ÖKSÜZ
50, Theologe und Vertrauter des
in den USA lebenden Predigers
Fethullah Gülen. Er soll den Putsch
im Detail geplant haben.
ren. Etliche Soldaten gehorchen ihm an-
geblich mehr als dem Generalstab.
Lange Zeit kontrollierten Erdoğan und
Gülen die Türkei gemeinsam, bis sie sich
spätestens 2013 über Machtfragen zer-
stritten. Erdoğan verfolgt die Anhänger
des Predigers seither als Terroristen; die
Gülen-Gemeinde wiederum will den
Staatschef loswerden.
Adil Öksüz eröffnet das geheime Treffen
in Ankara mit einem Gebet. Laut Zeugen-
aussagen gegenüber der Staatsanwaltschaft
geht die Gruppe anschließend die letzten
Details des Plans durch, den Öksüz ausge-
arbeitet hat: Ein Team aus Elitesoldaten
soll Präsident Erdoğan festnehmen und auf
ein Schiff im Mittelmeer bringen. Armee-
chef Hulusi Akar soll überredet werden,
den Putsch anzuführen. Einzelne Teilneh-
mer aus der Runde zweifeln am Erfolg des
Plans. „Lasst uns den Satan nicht durch ne-
gative Gedanken einladen“, mahnt Putsch-
planer Öksüz laut Anklageschrift.
Montag, 11. Juli 2016
Atatürk-Flughafen, Istanbul, 6.45 Uhr
Adil Öksüz reist mit dem Turkish-Airlines-
Flug 003 Businessclass nach New York. Mit
ihm in der Maschine sitzt Kemal Batmaz,
ein ehemaliger Manager des Gülen-Kon-
zerns Kaynak. Die Staatsanwaltschaft ver-
mutet, dass Öksüz und Batmaz in die USA
fliegen, um bei Prediger Gülen die finale
Zustimmung für den Putschversuch einzu-
holen. Sie hat dafür jedoch keine Beweise.
Fest steht, dass Öksüz und Batmaz zwei
Tage später mit dem gleichen Flieger wie-
der in die Türkei zurückkehren. Sicher-
heitskameras zeigen beide bei der Ankunft
am Atatürk-Flughafen.
Freitag, 15. Juli 2016
Militärflughafen Güvercinlik,
Ankara, vormittags
Pilot Osman Karaca kehrt früher aus dem
Campingurlaub an der Ägäis zurück. Ein
Major holt ihn mit dem Auto ab. So wird
es Karaca später den Ermittlern schildern.
Der Major bittet ihn, das Handy auszu-
schalten. „Ich weiß, dass du zur Gülen-Be-
wegung gehörst“, sagt er zu Karaca. „Wir
werden heute Nacht aktiv. Ich werde Ha-
kan Fidan (Geheimdienstchef) mit dem He-
likopter holen. Es wird viel Blut fließen.“
Pilot Karaca war nach eigenen Angaben
einst Anhänger Gülens. Er hat in einem
 SEDAT SUNA / DPA
Proteste gegen die Putschisten am 15./16. Juli in Istanbul, getötete Soldaten auf Bosporus-Brücke: „Geht auf die Straßen und Plätze“

GOKHAN TAN / GETTY IMAGES

DER SPIEGEL 27 / 2017 87


Panzer in Ankara in der Putschnacht: „Hier herrscht ab sofort Ausnahmezustand“
Gülen-Wohnheim gelebt und sich als Soldat
jede zweite Woche mit Funktionären der
Gemeinde getroffen. Doch er distanzierte
sich von der Bewegung, nun überkommen
ihn Zweifel. Er schleicht sich aus der Ka-
serne und fährt mit dem Taxi zur Zentrale
des türkischen Geheimdienstes MIT.
Geheimdienstzentrale,
Ankara, 14.20 Uhr
Vier Beamte vernehmen den Piloten. Sie
fragen ihn, womit er rechne. Er antwortet:
„Es wird eine große Aktion geben, womög-
lich einen Putsch.“
Der MIT ist spätestens zu diesem Zeit-
punkt über einen möglichen Staatsstreich
informiert. Geheimdienstchef Hakan Fidan
gilt als Vertrauter Erdoğans. In diesem
schicksalhaften Moment jedoch verstän-
digt er zunächst nur den Vizearmeechef.
Nach eigenen Aussagen wird der Ge-
heimdienstchef aber erst Stunden später,
um 22 Uhr, das erste Mal mit Erdoğan
telefonieren. Misstraut er seiner Quelle?
Oder verschweigt er die Wahrheit, um den
Präsidenten zu schützen? Fidan hat diese
Frage bis heute nicht beantwortet.
Luftwaffenstützpunkt Akıncı,
Ankara, früher Nachmittag
Kommandant Hakan Evrim schickt einen
Teil seiner Soldaten früher als üblich in
den Feierabend. Zurück bleiben jene, die
88 DER SPIEGEL 27 / 2017
sich später am Plot gegen Erdoğan beteili-
gen. Die Putschisten bestellen mithilfe ver-
schlüsselter Textnachrichten Mitverschwö-
rer ein. Nur wer das Passwort „Frieden im
Land“ kennt, wird am Eingang durchge-
lassen. Im Laufe des Tages finden sich
sämtliche mutmaßliche Anführer des
Putschversuchs in Akıncı ein:
‣ Vier-Sterne-General Akın Öztürk, ehe-
maliger Kommandeur der Luftwaffe.
Laut Staatsanwaltschaft wird er den Auf-
ständischen den Befehl erteilen zuzu-
schlagen.
‣ Generalmajor Mehmet Dişli, Bruder des
AKP-Vizechefs Şaban Dişli.
‣ Oberstleutnant Muzaffer Düzenli. Per
Telefon wird er den Einsatz in Istanbul
leiten.
Die drei bilden gemeinsam mit 35 wei-
teren Offizieren den Rat „Frieden im
Land“. Der Name ist eine Anspielung auf
die Parole des türkischen Staatsgründers
Atatürk „Frieden im Land, Frieden in der
Welt“. Zivilisten ist der Zugang zu Mili-
täranlagen in der Türkei verboten. Trotz-
dem hält sich der Planer des Putsches und
Gülen-Vertraute Öksüz am 15. Juli im
Stützpunkt Akıncı auf. Später wird er be-
haupten, sich nach Land in der Nähe der
Militärbasis umgesehen zu haben.
Sicherheitskameras dokumentieren zu-
dem, wie Kemal Batmaz, jener Gülen-Ma-
nager, der zwei Tage zuvor mit Öksüz aus
OSMANCAN GURDOGAN / POLARIS / LAIF
den USA zurückgekommen ist, in der
Putschnacht durch die Kaserne läuft und
sich mit Soldaten berät.
Militärhauptquartier,
Ankara, 18 Uhr
Geheimdienstchef Hakan Fidan sucht
knapp vier Stunden nach dem Besuch des
Informanten beim MIT Generalstabschef
Hulusi Akar auf. Er warnt ihn, Soldaten
würden einen Anschlag planen. Nach Aus-
sagen von Mitgliedern der Putschkommis-
sion im Parlament reagiert Akar erstaun-
lich gelassen. Er ordnet lediglich ein Flug-
verbot für das Militär an.
Beobachter rätseln bis heute über die
passive Haltung des Generalstabschefs:
Hat er die Situation unterschätzt? Wollte
er die Verschwörer ins offene Messer lau-
fen lassen? Oder trieben den General an-
dere Beweggründe?
Putschisten im Militärhauptquartier er-
fahren von dem Treffen zwischen Fidan
und Akar. Laut Anklageschrift alarmieren
sie ihre Zentrale in Akıncı.Von dort ergeht
daraufhin der Befehl an die Soldaten,
sechs Stunden früher zuzuschlagen als ge-
plant. Der Vorstoß wird sich als fataler
Fehler erweisen, denn er wird dazu führen,
dass Erdoğan das Volk gegen die Aufstän-
dischen mobilisieren kann. In den frühen
Morgenstunden wäre das kaum möglich
gewesen.

Hotel Grand Yazici Club Turban,
Marmaris, gegen 20 Uhr
Präsident Erdoğan ist mit seiner Frau Emi-
ne, Tochter Esra, deren Mann, Energiemi-
nister Berat Albayrak, und seinen drei En-
keln gerade im Urlaub an der Ägäisküste.
Er wird später in einem Interview sagen,
sein Schwager habe ihn am Telefon über
„Probleme mit Soldaten“ in Istanbul infor-
miert. Erdoğan versucht laut eigenen An-
gaben Geheimdienstchef Fidan anzurufen,
kann ihn jedoch angeblich nicht erreichen.
Der türkische Präsident regiert sein
Land wie ein Despot. Von dem Putschver-
such aber will er erst am Abend durch sei-
nen Schwager erfahren haben? Erdoğans
Darstellung nährt den Verdacht, er habe
früher als behauptet von dem Staatsstreich
gewusst, ihn jedoch laufen lassen, um poli-
tisch davon zu profitieren.
Militärhauptquartier, Ankara, 20.30 Uhr
Geheimdienstchef Fidan und der Chef des
Generalstabs verabschieden sich. Kaum hat
Fidan das Militärhauptquartier verlassen,
taucht Generalmajor Mehmet Dişli auf dem
Gelände auf. Dişli, 55, leitet die Strategie-
abteilung im Generalstab. Zeugen werden
ihn gegenüber der Staatsanwaltschaft spä-
ter als Gülen-Getreuen beschreiben.
Dişli klopft gegen 21 Uhr an die Bürotür
von Generalstabschef Akar, um ihn zu
überreden, den Putsch anzuführen. So
wird es Akar gegenüber Ermittlern schil-
dern, und so werden es Offiziere, die bei
dem Gespräch mit im Raum waren, bestä-
tigen. Dişli selbst behauptet, kein Putschist
zu sein, sondern von den Aufständischen
gezwungen worden zu sein, mit dem Ge-
neralstabschef zu sprechen.
Der Generalstabschef verweigert, sich
der Verschwörung anzuschließen. „Wer
seid ihr? Seid ihr verrückt?“, brüllt er. Wei-
tere Putschisten kommen hinzu, legen
Akar Handschellen an und fliegen ihn mit
einem Hubschrauber zum Stützpunkt
Akıncı, der Putschzentrale. Laut Akars
späterer Aussage bietet ihm dort Komman-
dant Evrim an, ihn mit Gülen in Kontakt
zu bringen.
Militärflughafen Güvercinlik,
Ankara, 21.30 Uhr
Karaca, der Mann, der den Geheimdienst
über den bevorstehenden Putsch informier-
te, ist zur Kaserne zurückgekehrt. Ein Ma-
jor packt ihn am Arm. Er sagt: „Wir müs-
sen fliegen, sofort!“ Er will zum Haupt-
quartier der Putschisten in Akıncı.
Soldaten drängeln sich in der Kaserne.
Auf einem Tisch liegen Schutzwesten,
Nachtsichtgeräte, Maschinengewehre, Mu-
nition. Karaca nutzt das Chaos, um unbe-
merkt die Kaserne zu verlassen. Er ruft
seinen Kontaktmann beim Geheimdienst
an und informiert ihn über den geplanten
Flug nach Akıncı.
Ausland
Bosporus-Brücke, Istanbul, gegen 22 Uhr
Der Leiter des Nachrichtenportals Haber-
dar, Volkan Koç, ist auf dem Heimweg von
einem Fest, als er sieht, wie Soldaten den
Zugang zur Bosporus-Brücke sperren. Er
fragt sie nach dem Grund für den Einsatz
und erhält eine knappe Antwort: „Hier
herrscht ab sofort Ausnahmezustand.“ Der
30-jährige Journalist hat immer davon ge- HAKAN FIDAN
träumt, einen Scoop zu landen. Per Tele- 49, Chef des Geheimdienstes und
fon diktiert er seiner Redaktion: „Militär Vertrauter Erdoğans. Erfährt
ruft Ausnahmezustand aus.“ Koç ist der erstmals am Freitagnachmittag von
erste Journalist, der über den Putschver- den Putschplänen, telefoniert
such berichtet. aber erst um 22 Uhr mit Erdoğan.
AKP-Politiker rufen Generalmajor Dişli
auf dem Handy an. Sie wollen wissen, was Über eine von ihnen gegründete Whats-
los ist. Der Major wimmelt sie ab. Er mel- App-Gruppe rufen sie zur Jagd auf ihn auf.
det sich auch nicht bei seinem Bruder, dem „Nehmt den Kommandeur fest, egal was
AKP-Vizechef Şaban Dişli. Er wird später es kostet“, schreibt ein Oberst.
sagen, er habe dessen Nummer nicht ge-
habt. Atatürk-Flughafen,
Istanbul, gegen 22.45 Uhr
Flughafen Esenboğa, Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu ist
Ankara, gegen 22 Uhr gerade in Istanbul gelandet, als er durch
Die Fluglotsen bekommen eine Nachricht. seinen Pressesprecher von dem Staats-
Ihre Kollegen am Luftwaffenstützpunkt streich erfährt. Er wendet sich dem Vize-
Akıncı teilen ihnen mit, dass zwei F-16- chef der AKP zu, der in der ersten Reihe
Kampfjets, „Löwe 1“ und „Löwe 2“ zu ei- der Turkish-Airlines-Maschine neben ihm
nem Flug auf 21 000 Fuß über Ankara auf- sitzt, und sagt einen Satz, der den Verlauf
gebrochen seien. Der Pilot von „Löwe 1“ des Abends prägen wird: „Wir sind gegen
gibt an, es handle sich um einen „Sonder- den Coup.“
einsatz“. Kılıçdaroğlu und sein AKP-Kollege wer-
Jets in niedriger Höhe donnern kurz da- den von Leibwächtern über das Rollfeld
rauf über die Hauptstadt. Die Lotsen von in den VIP-Bereich geführt. Es gelingt ih-
Esenboğa verlangen eine Erklärung. Ihre nen, sich an den Putschisten vorbei in die
Kollegen in Akıncı antworten, die F-16- Stadt durchzuschlagen. Im Fernsehen wird
Piloten hätten den Transponder abgestellt, Kılıçdaroğlu noch in derselben Nacht die
sie könnten sie nicht mehr erreichen. Au- Selbstermächtigung des Militärs kritisieren.
ßerdem seien zwei weitere Jets abgehoben.
Zentrale Bereitschaftspolizei,
Bosporus-Brücke, Istanbul, 22.20 Uhr Bayrampaşa-Kaserne, Istanbul, 22.50 Uhr
General Ümit Dündar, Kommandeur der Die Regierung will Bereitschaftspolizisten
1. Armee, versucht vergebens, den Gene- losschicken. Doch die Aufständischen blo-
ralstabschef und dessen Stellvertreter zu ckieren den Ausgang mit einem Panzer.
erreichen. Schließlich fährt er zur Bospo- Über die WhatsApp-Gruppe der Putschis-
rus-Brücke, dreht jedoch wieder um, als ten schreibt Oberstleutnant Düzenli, der
er sieht, dass die Auffahrt von Soldaten die Operation in Istanbul koordiniert: „Die
blockiert ist. So wird er es später aussagen. Polizisten dürfen Bayrampaşa auf keinen
Die Putschisten machen Dündar als Fall verlassen. Tut, was immer nötig ist.“
einen ihrer wichtigsten Gegenspieler aus.
Schwarzmeerregion, gegen 23 Uhr
Premier Binali Yıldırım macht sich mit dem
Auto aus Istanbul zurück auf den Weg
nach Ankara. Doch die Straßen werden
zum Teil von Putschisten kontrolliert. „Es
geht nicht weiter“, warnen Yıldırıms Leib-
wächter. Der Regierungschef weiß für ei-
nen Moment nicht, wohin. Er hat Angst.
Es ist nicht auszuschließen, dass die Put-
schisten ihn aus der Luft beschießen wer-
den. Auf der Suche nach Schutz versteckt
AKIN ÖZTÜRK sich der Premier mit seiner Entourage in
65, Vier-Sterne-General und ehema- einer dunklen Tunnelbaustelle am Schwar-
liger Kommandeur der Luftwaffe. Soll zen Meer. Stundenlang. In einem Telefon-
den Aufständischen angeblich den interview mit dem Fernsehsender NTV be-
Befehl erteilt haben zuzuschlagen. stätigt er, dass Teile des Militärs gegen die
Regierung putschen.
DER SPIEGEL 27 / 2017 89
Ausland
Samstag, 16. Juli 2016
Sitz des Premierministers, Ankara,
kurz nach Mitternacht
Neun Minister versammeln sich zu einer
Krisensitzung. „Lasst uns bereit sein zu
sterben“, sagt einer der Teilnehmer laut
Berichten türkischer Medien.
Im Staatssender TRT verliest die Nach-
richtensprecherin unter Zwang eine Erklä-
rung der Putschisten: „Die Demokratie,
basierend auf Gewaltenteilung, ist beseitigt
worden. Unter diesen Bedingungen kön-
nen wir unsere Pflichten nicht mehr erfül-
len. Wir haben die Kontrolle übernommen
unter dem Motto: Frieden im Land, Frie-
den in der Welt.“
Istanbul, zur selben Zeit
Die Putschisten haben den Atatürk-Flug-
hafen eingenommen, die Börse, das Staats-
fernsehen. Sie umstellen das Büro der Re-
gierungspartei AKP. Es scheint, als stünden
sie kurz vor dem Durchbruch. „Wer sich
widersetzt, mit dem wird hart verfahren“,
fordert Putschanführer Düzenli per Whats-
App. „Das ist ein Befehl.“
Hotel Grand Yazici Club Turban,
Marmaris, 0.24 Uhr
Es heißt, der Präsident sei tot oder auf der
Flucht, als Erdoğan plötzlich bei CNN
Türk im Fernsehen erscheint. Er hat sich
über Facetime aus seinem Urlaubsort zu-
geschaltet. Das Bild des Präsidenten ist un-
scharf und verwackelt, doch Erdoğan ist
deutlich zu erkennen. Er ruft das Volk zum
Widerstand gegen das Militär auf: „Geht
auf die Straßen und Plätze, und gebt ihnen
eine Antwort.“
Der Staatschef spielt mit hohem Einsatz,
er riskiert mit seinem Appell den Tod von
Tausenden Menschen.
Erdoğan will nun zurück nach Ankara,
doch nach einem Gespräch mit Ümit Dün-
dar, dem Kommandeur der 1. Armee, än-
dert er seinen Plan. „Herr Präsident, ich
bin Ihnen gegenüber loyal“, sagt Dündar
am Telefon. „Kommen Sie nach Istanbul.
Ich werde für Ihre Sicherheit garantieren.“
ÜMIT DÜNDAR
62, General und Kommandeur der
1. Armee. Wichtigster Gegenspieler
der Putschisten, die dazu aufrufen, ihn
um jeden Preis festzunehmen.
90 DER SPIEGEL 27 / 2017
HULUSI AKAR
65, Chef des Generalstabs. Erhält
gegen 18 Uhr am Freitag eine
Warnung. Ordnet daraufhin aber nur
ein Flugverbot für das Militär an.
Ein Hubschrauber schafft Erdoğan und
seine Familie zum nächstgelegenen Flugha- Menschen, die sich versammeln, wird ge-
fen nach Dalaman. Der Pilot fliegt tief, um schossen.“ Ein Kamerad sieht das genauso:
dem Radar zu entgehen, und ohne Licht.
Istanbul, 0.52 Uhr
General Dündar bringt seine eigenen
Truppen gegen die Putschisten in Stellung.
Er gibt dem Fernsehsender A Haber ein
Telefoninterview: „Dieser Putschversuch
ist das Werk einer kleinen Gruppe von
Soldaten. Er wird von der türkischen Ar-
mee nicht unterstützt.“ Dündars State-
ment markiert einen Wendepunkt. Erst-
mals wird deutlich, dass weite Teile des
Militärs sich gegen die Putschisten posi-
tionieren werden.
Flughafen Dalaman, gegen 1.30 Uhr
Erdoğan und seine Familie steigen in die
Präsidentenmaschine, eine Gulfstream IV,
nach Istanbul. Der Pilot hat das Rufzei-
chen von TC-ATA in THY 8456 geändert,
um die Putschisten zu täuschen. Trotzdem
wird Erdoğans Flugzeug von F-16-Jets ver-
folgt. Die Aufständischen sind in dieser
Nacht in keinem Moment näher dran, den
Präsidenten zu töten.
Warum sie es nicht tun, bleibt bis heute
rätselhaft. Es heißt, die Kampfpiloten hät-
ten möglicherweise Sorge gehabt, bei dem
Flugzeug hätte es sich doch um eine Pas-
sagiermaschine handeln können.
Als das Flugzeug Istanbul erreicht, liegt
das Rollfeld im Dunkeln. Der Pilot kreist
über der Stadt. Doch Istanbuls Polizeichef
versichert dem Präsidenten, seine Leute
könnten den Tower innerhalb einer Vier-
telstunde einnehmen. Erdoğan entscheidet
zu landen.
Istanbul, gegen 1.45 Uhr
Sabri Ünal, Informatiker, 35 Jahre alt, hat
sich nie sonderlich für Politik interessiert.
Bei Wahlen blieb er meist zu Hause. Doch
als er über Twitter von dem Putschversuch
erfährt, geht er auf die Straße. Im Stadtteil
Üsküdar haben sich bereits Tausende Men-
schen versammelt. Die Moscheen rufen
die Bürger auf Befehl der Regierung zum
Widerstand gegen den Putsch auf. Der In-
formatiker will zur Bosporus-Brücke wei-
terziehen. Er hört, wie ein Mann ruft:
„Runter! Sie schießen!“ Dann sieht er ei-
nen Panzer auf sich zurasen. Ünal kann
nicht ausweichen. Er wirft sich zu Boden.
Eine Kamera filmt, wie zwei Panzer über
ihn hinwegrollen.
Die Aufständischen geraten immer stär-
ker unter Druck. „Wir haben 20 bis 30 Leu-
te erschossen. Aber unsere Kameraden
auf der zweiten (Bosporus-)Brücke haben
Schwierigkeiten“, klagt ein Major über
WhatsApp. 3000 bis 4000 Demonstranten
belagern die AKP-Zentrale in Istanbul.
Und auch am Atatürk-Flughafen leisten
Zivilisten Widerstand.
Putschanführer Düzenli befiehlt: „Auf
„Verbrennt sie. Keine Kompromisse.“
Parlament, Ankara, 2.35 Uhr
Der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroğlu
sitzt mit Vertretern sämtlicher Parteien an
einer gemeinsamen Erklärung gegen den
Coup, als Soldaten aus der Luft das Parla-
ment unter Beschuss nehmen. Die Abge-
ordneten flüchten in einen Schutzraum im
Keller.
Yeneroğlu verfolgt über sein Handy, wie
die Putschisten den Präsidentenpalast und
die Geheimdienstzentrale bombardieren.
Er schreibt eine SMS an seine Frau, die
mit den drei Kindern in Deutschland ist,
wo er selbst auch aufwuchs: „Bleib stark.
Pass auf die Kinder auf.“
Hotel Grand Yazici Club Turban,
Marmaris, gegen 3 Uhr
Hubschraubereinheiten der Putschisten sol-
len aus dem Taurusgebirge starten, um Er-
doğan an seinem Urlaubsort gefangen zu
nehmen. Doch Sicherheitskräfte stoppen
den Flugverkehr. Die Putschisten schicken
stattdessen Soldaten aus Izmir los.
Männer in Camouflage-Uniform seilen
sich aus drei Helikoptern auf die Anlage
des Grand Yazici Club Turban ab. Sie stür-
men das Hotel, schießen mit Gewehren in
die Luft. Erdoğan aber ist längst weg. Ein
Major schreibt später in der WhatsApp-
Gruppe: „Haben sie der Schlange den
Kopf abgeschlagen?“ Er erhält keine Ant-
wort.
Taksim-Platz, Istanbul, gegen 3.40 Uhr
Polizisten haben den Taksim-Platz, den
zentralen Ort der Stadt für politische Ver-
sammlungen, umstellt. Sie schießen mit
Tränengas, setzen Soldaten fest. Kampfjets
fliegen im Tiefflug über die Stadt. Für ei-
nen Moment wirkt es, als wäre die Türkei
im Krieg. Die Demonstranten weichen
nicht von den Straßen. Die Putschisten ge-
ben den Taksim-Platz verloren, außerdem
die Katastrophenschutzzentrale, die Börse
und den Atatürk-Flughafen.
 BATU CAN / DEPO PHOTOS / IMAGO
Zerstörtes Parlament in Ankara am Morgen des 16. Juli: „Ist die Operation abgeblasen?“

„Möge Gott euch beistehen“, schreibt Istanbul, früher Morgen lah Gülens kann trotz zahlreicher Hinwei-
Oberstleutnant Düzenli aus der Putsch- „Ist die Operation abgeblasen?“, fragt ein se auf Gülen-Anhänger unter den Putschis-
zentrale. Major über WhatsApp. „Ja. Bleiben Sie am ten nicht eindeutig benannt und belegt
Leben, Kommandeur“, lautet die Antwort. werden.
Atatürk-Flughafen, Istanbul, gegen 4.15 Uhr In der Türkei zweifelt, anders als im
Die Menschen haben gerade die Putschis- Heute Westen, kaum jemand daran, dass Gülen-
ten vertrieben. Nun bereiten sie Erdoğan Die Hauptbeschuldigten für den Putsch, Kader den Aufstand angeführt haben.
einen feierlichen Empfang. Sie heben die General Öztürk und Generalmajor Dişli, Die Gemeinde ist nach mehreren Säube-
Hand zum Gruß der Muslimbrüder. Sie müssen sich in diesen Wochen in Ankara rungsaktionen im Militär als einzige Frak-
brüllen: „Tayyip! Wir sind bereit, für dich vor Gericht verantworten, Düzenli in Is- tion noch stark genug gewesen, sich der
zu sterben!“ tanbul. Öksüz, der den Staatsstreich vor- Regierung zu widersetzen. Andere Grup-
Erdoğans Gesichtszüge sind starr, seine bereitet haben soll, wurde aus Gründen, pen könnten sich ihnen angeschlossen
Augen zu Schlitzen verengt. Er gibt in sei- die rätselhaft bleiben, von einem Richter haben, darunter Kemalisten und Offiziere,
ner Rede Prediger Gülen die Schuld an vorübergehend freigelassen. Er befindet die sich von dem Putsch Karrierevorteile
dem Staatsstreich: „Wenn wir akzeptieren, sich auf der Flucht. versprachen.
dass alles aus einem Grund geschieht, dann Geheimdienstchef Fidan und Armee- Die Opposition drängt auf Aufklärung.
ist dieser (Putsch-)Versuch ein Geschenk chef Akar durften ihre Jobs behalten, ob- Doch weder der Geheimdienst- noch der
Gottes. Denn er ermöglicht es uns, die Ar- wohl sie im Vorfeld des Putsches offen- Generalstabschef haben bisher vor dem
mee zu säubern.“ sichtlich versagt haben. General Dündar, Untersuchungsausschuss im Parlament aus-
der Kommandeur der 1. Armee, stieg nach gesagt. Erdoğan hat an einer weiteren Auf-
Putschzentrale Akıncı, dem 15. Juli zum Vizemilitärchef auf. Pilot arbeitung des 15. Juli kein Interesse. Ihm
Ankara, nach 6 Uhr Karaca, der mit seinem Hinweis an den geht es nun um andere Dinge.
Für die Putschisten geht es von jetzt an MIT den Verlauf des Putschversuchs ent- Informatiker Sabri Ünal lag lange im
nur noch darum zu überleben. Kampfjets scheidend veränderte, steht unter Obhut Krankenhaus, nachdem ihn Panzer in der
von Erdoğan-treuen Militärs sind gestartet, des Geheimdiensts. Die Regierung will Putschnacht überfahren hatten. Er kann
um sie gezielt auszuschalten. Putschplaner offenbar verhindern, dass er sich öffent- bis heute vor Schmerzen kaum schlafen.
Öksüz versucht vergebens, vom Luftwaf- lich äußert. Und trotzdem, sagt er, er würde sich den
fenstützpunkt zu entkommen. General Öz- Einige Fragen aus der Putschnacht blei- Putschisten wieder in den Weg stellen.
türk gerät unter Beschuss, als er in einen ben unbeantwortet, vor allem diese: Wa- Mitarbeit: Eren Caylan
Hubschrauber steigt. Er wird festgenom- rum ist die Regierung nicht früher gegen
men ebenso wie Generalmajor Dişli und die Rebellen vorgegangen, obwohl staat- Videochronik:
Oberstleutnant Düzenli. Regierungstrup- liche Stellen spätestens am frühen Freitag- Der gescheiterte Putsch
pen befreien Armeechef Akar und fliegen nachmittag über deren Pläne informiert spiegel.de/sp272017tuerkei
ihn in den Sitz des Premierministers. waren? Aber auch die Beteiligung Fethul- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 27 / 2017 91

Ausland
Neue Mitte
Analyse Mit diplomatischem Geschick fordert China die USA heraus und bringt
sich als Weltmacht des 21. Jahrhunderts in Stellung.
W
enn es ums Protokoll geht, nehmen es Chinas
Herrscher seit Kaiserzeiten sehr genau. Es hat
immer einen tieferen Sinn, wenn sie einen Gast
empfangen, dessen Rang unter ihrem eigenen liegt. An-
fang Juni kam Jerry Brown nach Peking, der Gouverneur
von Kalifornien. Er war in die Große Halle des Volkes
eingeladen, den Palast der Kommunistischen Partei am
Platz des Himmlischen Friedens. Dort wartete Staatschef
Xi Jinping auf ihn. Der Chinese und der Amerikaner spra-
chen über die Umwelt, den Treibhauseffekt und neue
Energien. Einige Tage zuvor hatte US-Präsident Donald
Trump Washingtons Ausstieg aus dem Pariser Klima-
abkommen verkündet. Welche Bühne für den Demokra-
ten und Klimapolitiker Brown, der Welt zu zeigen, wie
wenig er vom eigenen Präsidenten hält.
Und welche Gelegenheit für Staatspräsident Xi Jinping,
sich mit dem Gouverneur des US-Bundesstaates mit den
strengsten Umweltauflagen zu schmücken. Pekings Staats-
medien berichteten hymnisch über die ungleiche Begeg-
nung. „Kalifornien führt. China führt“, zitierten sie Jerry
Brown. Als Geschenk habe er Xi eine Erstausgabe des
Buchs „The Mountains of California“ mitgebracht, 1894
herausgegeben von dem Naturforscher John Muir, Ame-
rikas erstem Öko-Aktivisten.
Es war ein ungewöhnlicher, aber nur einer von vielen
Anlässen, das spröde, der Welt abgewandte und auf sich
selbst bezogene China der Vergangenheit in einem neuen
Licht zu zeigen. Seit ein paar Monaten inszeniert sich das
Land als das, was sein chinesischer Name bedeutet: Zhong-
guo – das Reich der Mitte, der Stabilität und Berechen-
barkeit, ein Anker in einer aus den Fugen geratenden
Welt. Der erste Akt dieser Inszenierung war Xis Rede vor
dem Weltwirtschaftsforum in Davos, wo er China und sei-
ne Planwirtschaft als Bannerträger der Globalisierung und
des Freihandels pries. Der zweite Akt folgte im Mai, als
Xi in Peking Staats- und Regierungschefs aus 29 Staaten
empfing, um Chinas Seidenstraßen-Initiative zu feiern,
ein milliardenschweres, die halbe Welt umspannendes Ent-
wicklungsprogramm.
In wenigen Tagen wird der nächste Akt folgen. Anfang
Juli kommt Xi zu einem Staatsbesuch nach Berlin und
nimmt danach, von mehr als tausend Beamten begleitet,
am G-20-Gipfel in Hamburg teil. Der Präsident steht
im Zenit seiner Laufbahn – China wird zum ersten Mal
ernsthaft als ein Land mit einer außenpolitischen Mission
wahrgenommen, als eine Großmacht, die die Welt ge-
stalten will.
Wie ist es dazu gekommen? Es lohnt sich, dieser Frage
nachzugehen, denn sie markiert womöglich den Beginn
einer seit Langem beschworenen Machtverschiebung und
einer Herausforderung Europas und der USA.
Ausgangspunkt dieser Verschiebung war die Wahl
Trumps zum Präsidenten – und Pekings überraschende
Reaktion darauf. Monatelang hatte Trump China während
des Wahlkampfs als Amerikas Nemesis gebrandmarkt, als
Aggressor im Pazifik, als Jobkiller und Währungsmanipu-
lator. Drei Wochen nach der Wahl schockierte er Peking,
92 DER SPIEGEL 27 / 2017
indem er mit der Präsidentin der Inselrepublik Taiwan te-
lefonierte und das Prinzip der Ein-China-Politik infrage
stellte, eine der Grundlagen des amerikanisch-chinesischen
Verhältnisses.
China reagierte anders, als zu erwarten war: mit Zu-
rückhaltung und diplomatischem Geschick. Xi ließ Trumps
Provokationen ins Leere laufen, beglückwünschte ihn zu
seiner Wahl und schickte ihm eine Weihnachtskarte. Den
unerhörten Anruf aus Taiwan spielte Außenminister Wang
Yi als eine „Kleinigkeit“ herunter. Während sich US-Ver-
bündete wie Australiens Premier Malcolm Turnbull mit
Trump anlegten und Bundeskanzlerin Angela Merkel ihn
auf einer Pressekonferenz mit Blicken strafte, vermied
China jeden Eindruck einer Verstimmung.
Stattdessen begannen Chinas Diplomaten still ihr Werk.
Anfang Dezember luden sie den früheren US-Außenmi-
nister und Chinafreund Henry Kissinger nach Peking ein.
Um den Jahreswechsel fiel Beobachtern in Washington
auf, wie intensiv Xis Botschafter den Kontakt zu Trumps
Tochter Ivanka, Schwiegersohn Jared Kushner und gut
vernetzten Freunden aus dem Umkreis des Verlegers Ru-
pert Murdoch suchten.
Die Bemühungen trugen Früchte: Zum chinesischen
Neujahrsfest erschien Ivanka Trump in der Pekinger Ge-
sandtschaft, begleitet von ihrer fünfjährigen Tochter Ara-
bella, die den Gästen in Mandarin ein gutes neues Jahr
wünschte. Kurz darauf rief Trump den chinesischen Prä-
sidenten an, nahm den Bruch der Ein-China-Politik zurück
und lud ihn zu einem Gipfeltreffen nach Florida ein, das
sich als großer Erfolg erweisen sollte – vor allem für China.
Es war keine Rede mehr vom Jobkiller und Währungs-
betrüger, den man mit Strafzöllen belegen müsse.
Peking hat fast alles erreicht, was es von der neuen US-
Regierung wollte, und sich dabei in einer Disziplin bewie-
sen, die bisher nie zu seinen Stärken zählte: einer flexiblen
und vorsichtigen Diplomatie, die Interessen durchsetzt,
ohne sich Feinde zu machen. Dass Trump seine Verstän-
digung mit Xi Jinping als eigenen Erfolg ausgibt, spricht
für Chinas Coup. Dem Besiegten den Eindruck zu vermit-
teln, er selbst habe gesiegt, ist selbst Meisterdiplomaten
wie Metternich und Kissinger nur selten gelungen.
D
onald Trump hat eine Strategie befördert, die Pe-
king bereits unter dessen Vorgänger Obama ein-
geschlagen hatte und die über die USA hinauszielt:
den politischen und wirtschaftlichen Einfluss Chinas zu
verstärken, zuerst in seiner unmittelbaren Nachbarschaft,
dann aber entlang seiner eurasischen Handelskorridore
bis Europa und Afrika. In den vergangenen sechs Monaten
sind Chinas Führung dabei Gelegenheiten in den Schoß
gefallen, an die sie vor Trumps Wahl kaum zu denken
wagte. Amerikas Rückzug aus dem transpazifischen Han-
delsabkommen TPP und aus dem Pariser Klimapakt haben
die Spielräume des Landes erweitert, ohne dass Peking
dafür einen Finger rühren musste.
Während Washington seine Verbündeten in der Nato
und in der Welthandelsorganisation brüskiert, arbeitet Pe-

FRED DUFOUR / REUTERS
Präsident Xi: Eisenbahnen auf dem Balkan, Wolkenkratzer in Nordafrika
king gleich an mehreren strategischen und wirtschaftlichen
Netzwerken, von der Shanghaier Organisation für Zusam-
menarbeit über den Freihandelspakt RCEP bis zur Ent-
wicklungsbank AIIB, die der Weltbank Konkurrenz macht
und der bereits 56 Staaten angehören, darunter viele Mit-
glieder der Europäischen Union.
Und während das Weiße Haus seine Weltbank-Anteile
und seine Etats für das State Department und für Ent-
wicklungshilfe kürzte, hat Peking das Budget für das Au-
ßenministerium seit 2007 vervierfacht und stellt inzwi-
schen mehr Uno-Blauhelme als die vier anderen ständigen
Mitglieder des Weltsicherheitsrates zusammen.
Zugleich baut China entlang der „Neuen Seidenstraße“
an Autobahnen, Hochgeschwindigkeitsstrecken, Pipelines,
Häfen und Kanälen. Von einer chinesischen „Marco-Polo-
Strategie“ spricht der US-Politologe Joseph Nye. China,
sagte der ehemalige Weltbank-Präsident Robert Zoellick,
trage mit seinen Infrastrukturprojekten global zum Nach-
schub an „öffentlichen Gütern“ bei. Beide raten Washing-
ton, die Chinesen in ihren Initiativen zu unterstützen.
Amerikas Unternehmen hätten dort mehr zu gewinnen
als zu verlieren.
Mehr noch als die USA sollte sich von diesem Rat Europa
angesprochen fühlen. Denn China führt den Europäern in-
zwischen vor deren eigener Haustür vor, wie man in struk-
turschwachen Ländern seine eigenen Interessen befördert.
Unternehmen aus Peking bauen Häfen in Griechenland
und Ägypten, Afrikas größte Moschee in Algerien und ei-
nen mächtigen Wohn- und Büro-Turm in Marokko.
Europa, das aus Nordafrika und vom Balkan Hunderttau-
sende Migranten aufgenommen hat und dessen Politiker
eine „Bekämpfung der Fluchtursachen“ anmahnen, ist an
diesen Projekten nur mit Kleinaufträgen beteiligt. Viele
von Chinas Großbauten zwischen Asien und dem
Maghreb mögen als „weiße Elefanten“ enden, als gran-
diose, aber wirtschaftlich fragwürdige Monumente eines
überzogenen Weltmachtstrebens. Doch China hat, das ist
unbestreitbar, eine Vision, selbst für Staaten und Regionen,
deren politische und wirtschaftliche Entwicklung vor allem
in Europas Interesse liegen sollte.
Und indem es Eisenbahnen auf dem Balkan, Wolken-
kratzer in Nordafrika und Kraftwerke in Angola baut,
schafft China nicht nur Infrastruktur. Es mehrt auch seinen
politischen Einfluss und wirbt bis an Europas Grenzen
für das Modell der Entwicklungsdiktatur, der es den eige-
nen Aufstieg verdankt, bis weit nach Afrika hinein.
Dem Westen fehlt
es gerade an
einer Vision und
dem Willen,
diese umzusetzen.
Indem es sich, zumindest öffentlich, zu Globalisierungs-
zielen wie Freihandel oder Klimaschutz bekennt, gewinnt
China selbst in der industrialisierten Welt an „soft power“,
jener schwer fassbaren Größe für politischen Einfluss, den
über Jahrzehnte der Westen ausgeübt hat. Hielten 2013
nur 22 Prozent der Deutschen China für einen „vertrau-
enswürdigen Partner“, sind es heute laut dem aktuellen
ARD-Deutschlandtrend 36 Prozent – der mit Abstand
größte Zuwachs eines einzelnen Landes.
Der Westen hat keinen Grund, die Konkurrenz des er-
starkten China zu fürchten. Seine eigenen Maßstäbe –
Transparenz, Rechtsstaatlichkeit und individuelle Men-
schenrechte – haben an Anziehungskraft nichts eingebüßt.
Doch diese Werte müssen selbstbewusst vorgetragen und
in konkrete Projekte umgesetzt werden.
S
owohl Amerika als auch Europa hatte solche Pläne.
Bis zu 900 Milliarden Euro bewilligte, auf heutige
Maßstäbe umgerechnet, der US-Kongress nach dem
Zweiten Weltkrieg, um das zerstörte Europa wieder auf-
zurichten. Es ist bis heute das größte zivile Hilfsprogramm.
Rund 400 Milliarden Euro veranschlagte 2009 ein Konsor-
tium aus überwiegend europäischen Konzernen für ein
großes Energievorhaben, Desertec genannt: Ziel war es,
in Nordafrika und im Nahen Osten solarthermische Kraft-
werke zu bauen, um die Region und später Europa mit
sauberem Strom zu versorgen.
Der Plan wurde auf Eis gelegt, angeblich aus technischen
und politischen Gründen, das Konsortium verlegte seinen
Standort nach Dubai. Ein Unternehmen nach dem anderen
zog sich aus dem Vorhaben zurück, nur vier blieben übrig
– darunter der chinesische Energieversorger State Grid.
Kaum etwas könnte deutlicher vor Augen führen, woran es
dem Westen gerade fehlt: an einer Vision und dem Willen,
diese umzusetzen. China hat nach Schätzungen der George
Washington University in den vergangenen zehn Jahren
ungefähr 1400 Milliarden Dollar im Ausland investiert.
Aber auch China rechnet – Peking realisiert keine Hilfs-
programme, die den Zustand der Welt verbessern sollen.
China ist ein Schwellenland mit einer autoritären Führung,
die den Wohlstand der Chinesen mehren, ihren Einfluss
stärken, vor allem aber ihre eigene Herrschaft sichern
will. Chinas Visionen enden genau an der Stelle, wo Xi
Jinping Kaliforniens Gouverneur Jerry Brown empfing:
in der Großen Halle des Volkes, dem Palast der Kommu-
nistischen Partei. Bernhard Zand
DER SPIEGEL 27 / 2017 93
Ausland
Stadtpolizist auf Streife in El Cenizo, Texas: Als Ausweis reicht ein Dokument des mexikanischen Konsulats
Amerikanische Träumer
USA In einem kleinen Ort an der Grenze zu Mexiko leben fast nur Latinos. Viele sind illegale
Einwanderer. Der Bürgermeister will sie vor Donald Trump beschützen. Von Mathieu von Rohr
R
aul Reyes steht am Ufer des Flusses,
der die USA von Mexiko trennt, er
trägt ein schwarzes Jackett und
schwitzt in der Mittagssonne. Das Flussbett
ist schmal, das Wasser bräunlich, hohes
Schilf wächst auf beiden Seiten. Nichts
deutet darauf hin, dass hier eine Grenze
verläuft, es gibt kein Schild, keine Absper-
rung. Ein weißer SUV mit der Aufschrift
„US Border Patrol“ rollt über einen Feld-
weg, dann ist es wieder ruhig.
Reyes ist der Bürgermeister von El Ceni-
zo, Texas, der Kleinstadt, die hinter ihm
am Hügel liegt. Sie ist in diesen Tagen ins
Zentrum der amerikanischen Debatte über
Einwanderung geraten. Fast alle der 3300
Einwohner von El Cenizo sind Latinos, fast
alle haben Wurzeln in Mexiko, schätzungs-
weise ein Fünftel sind illegale Einwanderer.
„Seit Donald Trump zum Präsidenten ge-
wählt worden ist“, sagt Reyes, „haben die
Leute hier große Angst. Viele wissen nicht,
94 DER SPIEGEL 27 / 2017
was sie tun sollen.“ Trump hatte im Wahl-
kampf angekündigt, zwölf Millionen Ille-
gale abzuschieben, weil sie „Drogen und
Verbrechen“ ins Land bringen würden.
Raul Reyes will die Einwohner seiner
Stadt vor Trump beschützen. Er sagt, die
Grenze sei tatsächlich ein Knotenpunkt
für Schmuggler, die Drogen und Menschen
über den Fluss bringen. Auch er wünscht
sich mehr Schutz vor Kriminellen, auch
für die Bürger seines Ortes. Schließlich be-
findet sich nur wenige Meter von hier der
Sportplatz, den er für die Jugendlichen im
Ort hat anlegen lassen. Außerdem gehen
die Leute hier abends gern angeln.
„Nur mit dem Thema ,Einwanderung‘
hat das alles nichts zu tun“, sagt er. „Wir
werden uns nicht zu Trumps Abschiebe-
einheit machen lassen.“ Reyes ist erst 34
Jahre alt, aber er ist seit zwölfeinhalb Jah-
ren im Amt. Als er zum ersten Mal gewählt
wurde, war er der jüngste Bürgermeister
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
im ganzen Bundesstaat. Der Ort, dem er
vorsteht, ist eine der ungewöhnlichsten
amerikanischen Kleinstädte, die man sich
vorstellen kann. Wenig hier erinnert an
die USA, fast alles an Mexiko.
Die meisten Bewohner von El Cenizo
verbinden mit dem Grenzfluss eine per-
sönliche Geschichte. Sie haben den Rio
Grande entweder selbst überquert, oder
ihre Eltern, Vorfahren oder Nachbarn ha-
ben es getan. Der Ort liegt nur wenige Ki-
lometer südlich der texanischen Grenz-
stadt Laredo mit ihren 250 000 Einwohnern.
In El Cenizo kommen viele Dinge zu-
sammen, die in Amerika in diesen Tagen
erbittert diskutiert werden: Der Ort be-
findet sich nicht nur an der Grenze, wo
Trump eine Mauer bauen will. Er gilt auch
als „sanctuary city“, als eine „Zufluchts-
stadt“ für illegale Einwanderer, denen
Trump den Krieg erklärt hat. An einem
seiner ersten Tage im Amt unterzeichnete

Student Garza am Rio Grande: Seine Mutter ist schon dreimal abgeschoben worden
er ein Dekret: Allen Kommunen, die Ille-
gale beschützen, sollen die Bundesmittel
gestrichen werden. Am Donnerstag stimm-
te das Repräsentantenhaus über ein Gesetz
ab, das die gleiche Absicht verfolgt.
Doch El Cenizo ist noch aus einem wei-
teren Grund interessant: Die Stadt und ihr
Bürgermeister haben gegen ein umstritte-
nes Gesetz geklagt, das der Bundesstaat
Texas im Frühjahr beschlossen hat: Senate
Bill 4, kurz: SB4. Es richtet sich gegen Zu-
fluchtsstädte und verpflichtet die Polizei
im ganzen Bundesstaat, Verdächtige nach
ihrem Aufenthaltsstatus zu fragen. Seit die-
ser Woche wird der Fall „City of El Cenizo
vs. State of Texas“ vor einem Bezirks-
gericht in San Antonio verhandelt. Die Liste
der beteiligten Kläger zeigt, dass es um
viel geht. Auf der Seite des Bürgermeisters
kämpfen die Anwälte der mächtigen US-
Bürgerrechtsvereinigung ACLU, an der
Seite von Texas steht das Justizministe-
rium von Donald Trump.
Die Lage in Texas ist angespannt. 39
Prozent der Bevölkerung sind Hispanics,
die Politik wird traditionell von den Repu-
blikanern dominiert. Vergangenen Monat
besetzten Demonstranten das Kapitol im
Hauptort Austin und schrien Parolen ge-
gen SB4. Ein republikanischer Abgeord-
neter rief in seiner Wut die Einwanderungs-
polizei ICE – ohne zu wissen, ob sich unter
den Protestierenden Illegale befanden. Es
kam unter den Abgeordneten zu einem
Gerangel.
Raul Reyes genießt die erstaunliche Auf-
merksamkeit, die sein Ort durch die Aus-
einandersetzung erhalten hat. Denn El Ce-
nizo, das sind, grob gesagt, nur sechs Stra-
ßen, die von Westen nach Osten führen:
Hernandez, Rodriguez, Morales, Cadena,
Valdez und Rosales. Sie werden gekreuzt
von den drei Straßen, die von Norden nach
Süden verlaufen: Jimenez, Sylvia und Emy.
Das Wahrzeichen der Stadt ist der typische
Wasserturm mit der Kugel an der Spitze.
Das Wappen der Stadt zeigt die Flaggen
der USA und Mexikos nebeneinander.
Die wenigen Geschäfte sind auf Spa-
nisch beschriftet, auch die Umgangsspra-
che ist Spanisch. Es gibt viele streunende
Hunde auf den Straßen, in den Vorgärten
haben Bewohner Sperrmüll deponiert,
zum Unmut des Bürgermeisters. Er macht
seinen Job ehrenamtlich, bekommt pro
Monat nur 100 Dollar und verdient sein
Geld mit einer Steuerberatung und einer
Marketingfirma. Der Polizeiposten und die
Feuerwehr werden im Nebenjob betrieben,
sie sind nur selten besetzt.
Reyes sagt: „Wenn Leute hierherkom-
men, dann denken sie: Bin ich in Mexiko?
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL
Denn so sieht es ja wirklich aus.“ Er und
die Bewohner seien aber stolz darauf, wie
sich der Ort entwickelt habe: von einer
wilden Siedlung zu einer kleinen Stadt.
Die ersten Menschen zogen um 1980
hierher, sie errichteten einfache Behausun-
gen auf freiem Feld. Die Besitzer des Lan-
des verkauften ihre Parzellen spottbillig an
arme Familien in Städten wie Laredo. Da-
mit begann die Geschichte des Ortes als
eine sogenannte Colonia, eine Art Slum.
Es gibt an der Grenze rund 2000 Orte, die
so entstanden. Erst 1989 wurde El Cenizo
in den Status einer „City“ erhoben.
„Die Leute in Laredo haben sich über
uns lustig gemacht, weil wir hier wohnten,
sie nannten uns ,wetbacks‘“, sagt der Bür-
germeister – Nassrücken, ein Schimpfwort
für Neuankömmlinge aus Mexiko. Dabei
war bereits die Großmutter von Raul Reyes
aus Mexiko eingewandert, auch sie illegal.
Seine Mutter wurde in Texas geboren.
Als sie mit Raul Reyes und seinen Ge-
schwistern 1992 hierherzog, gab es keinen
Strom, keine Wasserversorgung, keine
Kanalisation, die Straßen waren nicht
asphaltiert. Seine Mutter erhielt ihre Par-
zelle für 100 Dollar Anzahlung, 50 Dollar
pro Monat. Sie errichteten eine Behau-
sung aus vier Betonplatten, darüber ein
Dach. Es gab nur einen einzigen Raum
DER SPIEGEL 27 / 2017 95
Ausland
für alle, es war heiß im Sommer und kalt
im Winter.
Vor einigen Jahren durfte Reyes mit
dem Außenministerium nach Afrika reisen,
nach Sambia. Die Leute dort, sagt er, seien
sehr erstaunt gewesen, als er seine Ge-
schichte erzählte. „Die Leute können sich
nicht vorstellen, dass es so etwas in den
USA gibt.“ Er sagt, es sei diese Demüti-
gung gewesen, der Wunsch, etwas zu tun,
der ihn dazu brachte, mit 19 Jahren erst-
mals als Bürgermeister zu kandidieren.
Deutlich vor seiner Amtszeit, im Jahr
1999, hatte El Cenizo zwei aufsehenerre-
gende Verordnungen erlassen, die bis heu-
te nachwirken. Die erste war ein Sprach-
statut. Es legte fest, dass die Stadt ihre Ge-
schäfte in der dominierenden Sprache füh-
ren kann – im Fall von El Cenizo Spanisch
und nicht Englisch. Die Versammlungen
der Stadtrats könnten seither auf Spanisch
abgehalten werden, sagt Reyes, auch wenn
das fast nie vorkomme.
Die zweite Verordnung war der „Safe
Haven“-Erlass. Er besagt, dass kein Stadt-
angestellter einen Einwohner nach seinem
Aufenthaltsstatus fragen darf, also auch
keiner der wenigen Ortspolizisten. Als
Ausweis reicht ein Dokument, das vom
mexikanischen Konsulat in Laredo aus-
gestellt wird. Damit gilt El Cenizo als
„sanctuary city“. Es ist ein Begriff, mit dem
Großstädte wie San Francisco und New
York sich schmücken. Doch Reyes lehnt
die Bezeichnung ab. Er sagt, er wisse nicht,
was sie bedeuten soll. Seit ihnen der Bund
die Gelder streichen will, argumentieren
viele Gemeinden so: Niemand könne ge-
nau sagen, was eine „sanctuary city“ ei-
gentlich sei, und tatsächlich gibt es dafür
keine allgemeingültige Definition. Ge-
meint sind meist Gemeinden, die Illegale
vor dem Zugriff der Behörden beschützen.
Wer den Eindruck erwecke, dass man in
El Cenizo Kriminelle willkommen heiße
und beherberge, liege jedenfalls falsch, sagt
Reyes. Ihm sei jeder Einwohner willkom-
men, der seine Steuern bezahle und zur lo-
kalen Wirtschaft beitrage. „Nichts interes-
siert mich weniger als die Frage, ob jemand
illegal hier ist oder nicht. Das ist nicht mei-
ne Aufgabe.“ Doch SB4, das Gesetz, gegen
das er geklagt hat, will ihn genau dazu
zwingen: Lokale Beamte, die nicht mit
den Einwanderungsbehörden kooperieren,
könnten ihre Jobs verlieren, Polizeichefs
müssten ins Gefängnis, und El Cenizo müss-
te Strafen von bis zu 25 000 Dollar pro Tag
bezahlen – ein Zehntel des Jahresbudgets.
Die Kläger gegen das Gesetz argumentie-
ren, es sei verfassungswidrig, es führe zu
„racial profiling“, zu Diskriminierung auf-
grund des Aussehens. Vor Jahren hatte der
Bundesstaat Arizona ein ähnliches Gesetz
erlassen, das vom Obersten Gerichtshof
weitgehend außer Kraft gesetzt wurde. Das
Verfahren um SB4 kann Jahre dauern.
96 DER SPIEGEL 27 / 2017
Die Schlacht, die um das Thema „Ein-
wanderung“ geschlagen wird, ist eine der
entscheidenden Auseinandersetzungen für
Amerika. Donald Trump wäre vermutlich
nicht Präsident geworden, wenn er nicht
versprochen hätte, die Zuwanderung zu
stoppen, wenn er nicht Mexikaner als „Ver-
gewaltiger“ bezeichnet hätte, die „Drogen
und Verbrechen ins Land bringen“.
Es geht dabei auch darum, was es heißt,
ein Amerikaner zu sein. Fast jeder in die-
sem Land stammt von Einwanderern ab.
Was in Europa vielen als eine Selbstver-
ständlichkeit erscheint – dass man nirgends
ohne gültige Papiere einwandern darf –, ist
in den USA deshalb weit umstrittener. Wer
ins Land kommt, seine Chance ergreift und
sich eine Existenz schafft, der kann Ame-
rikaner sein. Das war der alte Gesell-
schaftsvertrag der USA, auf den sich auch
in El Cenizo viele berufen. Heute leben in
den Vereinigten Staaten rund zwölf Mil-
lionen Menschen ohne gültige Papiere. Sie
arbeiten auf dem Bau, als Pflegerinnen,
Nannys und Verkäufer. Das Land würde
ohne sie kaum funktionieren. Aber der
alte Vertrag gilt nicht mehr, seit viele Wei-
„Ihr seid intelligent, ihr
seid stark, und der Be-
weis dafür ist, dass ihr es
hierher geschafft habt.“
ße Angst haben, dass ihnen die Latinos
Arbeit und Identität wegnehmen.
Der Druck auf Illegale nimmt seit Jah-
ren zu, auch unter Barack Obama wurden
rund drei Millionen Menschen abgescho-
ben. Zwar weiß niemand, ob Trump wirk-
lich eine Mauer bauen wird. Aber er will
die Grenzwächter massiv aufrüsten, und
die Kontrollen finden längst auch im Hin-
terland statt. Die Border Patrol hat an den
Highways Posten errichtet. Auch die Ille-
galen von El Cenizo sind nicht wirklich si-
cher. Die Beamten des Bezirkssheriffs pa-
trouillieren im Ort, sie sind an das Schutz-
statut nicht gebunden – und so kann, wer
eine Verkehrsübertretung begeht, schnell
in Abschiebehaft landen.
An diesem Abend haben sich am öst-
lichen Ende der Stadt, in der Turnhalle der
Kennedy-Zapata-Grundschule, rund 20
Frauen versammelt, viele haben ihre Kin-
der mitgebracht. Ein paar Männer sind
auch da. Die Schule hat zum Informations-
abend zu Einwanderungsfragen geladen.
Viele, die heute Abend hier sind, sind ille-
gal im Land. Es wird Spanisch gesprochen.
Die Polizei darf die Schule nicht betreten,
sie hat sich zur „safe zone“ erklärt.
Das mexikanische Konsulat hat einen
Mitarbeiter entsandt, der Broschüren ver-
teilt. „Si te detienen“ steht darauf: Wenn
du verhaftet wirst. Es ist ein Ratgeber für
Illegale, die mit der Polizei in Berührung
kommen: ruhig bleiben, keinen Wider-
stand leisten, keine Auskunft über den Ein-
wanderungsstatus erteilen. Im Falle einer
Verhaftung: nichts sagen, nichts unter-
schreiben. Und am besten: sich immer
schön an die Verkehrsregeln halten, damit
man gar nicht erst angehalten wird.
Das Konsulat hat eine Anwältin ge-
schickt, sie hält eine kleine Rede. Es stim-
me, dass Polizisten mit SB4 mehr Rechte
hätten, sagt sie. Aber die USA seien ein
Rechtsstaat, es gebe eine Gewaltenteilung
in diesem Land, und der Präsident könne
nicht einfach tun, was er wolle. „Das ist
die gute Nachricht!“ Sie sagt: „Ihr seid in-
telligent, ihr seid stark, und der Beweis da-
für ist, dass ihr es hierher geschafft habt.“
Eine Frau berichtet, wie sie vor 25 Jahren
hochschwanger über den Fluss kam. Eine
andere Frau möchte wissen, wie sie eine
Aufenthaltsgenehmigung für ihren Freund
bekommen kann. An der Seite steht ein äl-
terer Mann, der seit 32 Jahren hier ist. Auch
er kam einmal als Illegaler, mittlerweile ist
er US-Bürger. Doch seine Töchter sind mit
Männern verheiratet, die ohne Dokumente
im Land sind. Deshalb ist er heute hier.
Es ist wichtig zu verstehen, wie unüber-
sichtlich die Lage unter den hispanischen
Einwanderern in den USA ist. Da sind jene,
die ohne Papiere hier sind, da sind manche,
deren Kinder hier geboren und damit
Staatsbürger sind. Dann gibt es wieder an-
dere, die einen legalen Aufenthaltsstatus
oder die Staatsbürgerschaft haben – und
in vielen Familien gibt es von allem etwas,
die Trennlinie zwischen legal und illegal
geht mitten durch die Gemeinschaft.
Deshalb wollte Präsident Barack Obama
den Illegalen einen Weg zur Staatsbürger-
schaft öffnen. Doch die Republikaner blo-
ckierten seine Anstrengungen, und des-
halb gibt es von ihm in diesem Bereich
nur eine Hinterlassenschaft – einen präsi-
dialen Erlass für all jene, die von ihren El-
tern als Kinder in die USA gebracht wur-
den und hier zur Schule gegangen sind.
Sie durften sich registrieren, sind vorerst
von einer Abschiebung ausgenommen und
dürfen arbeiten. Rund 850 000 Jugendliche
und junge Erwachsene haben sich für das
Programm angemeldet. Sie werden „Drea-
mers“ genannt, Träumer.
Angel Garza war elf Monate alt, als seine
Mutter ihn über den Rio Grande trug. Jetzt
ist er 18 Jahre alt und gerade mit der
Highschool fertig, sein Abschluss gehörte
zu den besten drei Prozent in ganz Texas.
Im August beginnt er an der berühmten
Duke University in North Carolina sein Stu-
dium. Er hat wegen seiner guten Leistungen
ein umfassendes Stipendium bekommen.
In einer Ecke seines mit Wäsche und
Müll vollgestellten Teenagerzimmers, in
einem ärmlichen Haus in der Nähe des
Stadtzentrums von El Cenizo, steht ein al-
 tes Klavier, das er geschenkt bekommen
hat. Er setzt sich hin und spielt eine Noc-
turne von Chopin, das Klavierspielen hat
er sich selbst beigebracht. Auf den Regalen
an der Wand stehen Dutzende Medaillen
und Pokale, die er in der Schule bekom-
men hat. „Bester Achtklässler des Mo-
nats“, ein Preis für ein spanisches Gedicht,
Gewinner im Schachturnier und viele Aus-
zeichnungen in Mathematik und Robotik.
Angel Garza ist ein stiller, konzentrier-
ter junger Mann. Er trägt eine Brille, wei-

SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

ße Sneakers und eine Windjacke, trotz
der Hitze. Seine fünf Geschwister sind alle
auf dieser Seite der Grenze geboren, des-
halb sind sie US-Bürger. Sein Vater hat
eine Greencard, er hat als Bauarbeiter und
auf den Ölfeldern gearbeitet. Das Problem
Verkäuferin in einem Lebensmittelladen: Die Umgangssprache ist Spanisch ist seine Mutter. Sie ist schon dreimal ab-
geschoben worden. Einmal war er dabei,
als die Polizisten sie bei einer Verkehrs-
kontrolle abführten. Sie mussten das Haus
verkaufen, damit sie wiederkommen
konnte. Die Schlepper nehmen Tausende
Dollar, die Grenze ist in der Hand der
Drogenkartelle.
Seine Eltern haben ihm erzählt, sie seien
in die USA gekommen, damit er eine Aus-
bildung machen könne, sagt er. Deshalb
ist er zuletzt jeden Tag zwei Stunden hin-
und zurückgefahren, in eine Highschool
im Norden von Laredo. Er hat sie ausge-
sucht, weil sie auf Medizin spezialisiert ist
und er Arzt werden will.
Manche seiner Freunde in der Schule,
sagt er, seien Trump-Fans gewesen. „Weil
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

sie wussten, wo ich wohne, haben sie ge-

sagt, schau, dass du nicht abgeschoben
wirst, schau, dass du nicht erschossen wirst.
Sie hatten Angst, mich hier zu besuchen.“
Er hat sich nie für Politik interessiert. Nur
seit Trump im Amt ist, fragt er sich, ob
Straßenszene in El Cenizo: „Wenn Leute hierherkommen, denken sie: Bin ich in Mexiko?“ sich nun alles ändere. Der Präsident hat
gesagt, er habe ein Herz für „Dreamer“,
er wolle Obamas Erlass vorläufig in Kraft
lassen. Aber niemand weiß, was das heißt.
Die Familie von Angel Garza wird ihn
nicht begleiten können, wenn er demnächst
zum Studium nach North Carolina geht,
mehr als 2000 Kilometer von hier. Die Reise
wäre für seine Mutter zu riskant. Er selbst
war neulich eine Woche dort, um sich die
Uni anzusehen. Er hat eine Tüte mit Info-
Material mitgebracht. „Abschlussklasse
2021“ steht darauf, wie ein Versprechen.
Wenn er sein Studium abgeschlossen
hat, sagt er, will er wieder hierherkommen,
nach El Cenizo, wo der nächstgelegene
Krankenwagen so weit entfernt steht, dass
er fast immer zu spät eintrifft. Angel Garza
SCOTT DALTON / DER SPIEGEL

sagt, er wolle als Hausarzt arbeiten, in die-

ser einzigen Heimat, die er kennt.
Video: Stadt
der Einwanderer
spiegel.de/sp272017usa
oder in der App DER SPIEGEL
Bürgermeister Reyes: „Nichts interessiert mich weniger als die Frage, ob jemand illegal ist“

DER SPIEGEL 27 / 2017 97

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* SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige den Verlag, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von
acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
 Sport
Jeweilige Strecken- 1926:
länge der Tour de France 5745 km

Erster 1967:
Weltkrieg
4779 km
Zweiter
Weltkrieg 2017:
Gescheitert 3540 km
1919 erreichten
nur 16% der René Pottier
Fahrer das Ziel. siegte 1906 mit 24,5 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit.
Geschafft
1903: Die meisten Fahrer
2428 km kamen 2016 ins Ziel:
Lance Armstrong 88%

CO R VO S / ACT I O N P R E S S
siegte 2005 mit 41,7 km/h
Durchschnittsgeschwindigkeit.
Titel aberkannt

1920 1940 1960 1980 2000

Radsport obwohl es bei etlichen Etappen ziemlich steil bergauf ging.

Mit Helm und Epo
Die Tour de France, die an diesem Samstag in Düsseldorf
beginnt, wird in 190 Länder übertragen, Millionen Fans
werden in den nächsten Wochen die Straßen säumen und
ihren Idolen zujubeln. Im vorigen Jahr absolvierten die
Profis die 3519 Kilometer mit einer Durchschnittsgeschwin-
digkeit von fast 40 Kilometern pro Stunde – und das,
XINHUA / FOTOFINDER.COM
Wie schafft ein Mensch solch eine Leistung? Nun, wie es
der gefallene Tourheld Lance Armstrong geschafft hat, ist
bekannt. Epo, Wachstumshormon, Testosteron. Der Doping-
verdacht fährt auch bei der 104. Tour mit. Ein Fahrer des
US-Teams Trek-Segafredo wurde kurz vor dem Start wegen
eines positiven Dopingtests aus dem Verkehr gezogen.
In einer Hinsicht wenigstens ist die Wettfahrt inzwischen vor-
bildlich: Es besteht bei allen 21 Etappen Helmpflicht.

Magische Momente

„Sie wollten ihre Liebe ausdrücken“

Der Uruguayer Jorge Fossati, 64, Extrainer der katarischen Nationalmannschaft, über die Demonstration seiner Spieler

SPIEGEL: Vor gut zwei Wo-
chen gewann Katar in der
Fußball-WM-Qualifikation
3:2 gegen Südkorea. Ihre
Spieler wärmten sich in
T-Shirts mit dem Konterfei
des katarischen Emirs auf,
Stürmer Hasan Al Haydos
hielt ein solches T-Shirt nach
seinem ersten Tor in die Ka-
meras. Warum?
Fossati: Sie wollten damit ihre
Liebe für ihn ausdrücken. Es
gibt nur 300 000 Katarer, für
sie ist der Emir wie ein Vater.
Er lebt auch nicht abgeschot-
tet in einer anderen Welt, in
einem gläsernen Palast. Nein,
er ist einer von ihnen.
SPIEGEL: Katar liegt mit sei-
nen Nachbarstaaten im
Clinch, wurde isoliert. Die
politische Botschaft, das war
keine Positionierung für
oder gegen irgendwen. Es
war nur ein Gesicht, und
zwar nicht mal als Foto, son-
dern nur als Zeichnung.
Was werden denn sonst alles
für Bilder gezeigt? Von der
Mama, von der Tochter und
so weiter. Und uns hat vor-
her auch keiner gesagt, dass
das verboten ist.
SPIEGEL: Mit wem haben Sie
denn gesprochen?
Fossati: Mit den Leuten von
der Fifa. Unser Plan war, die
Emir-Shirts bei der National-
hymne zu tragen. Da wurde
uns gesagt, dass das nicht
okay sei. Also haben wir das
unterlassen. Wir haben die
Regeln respektiert.
habe mich sehr darüber SPIEGEL: Warum sind Sie
gefreut und werde gut darauf nach dem Spiel zurückge-
aufpassen. treten?
Fossati: Die Entscheidung
ist schon vorher gefallen.
Die Verbandschefs und ich
hatten unterschiedliche
Ideen bezüglich der Weiter-
entwicklung der National-
mannschaft, es hat so nicht
mehr gepasst. Aber das Ver-
hältnis ist exzellent.
SPIEGEL: In der WM-Qualifi-
kation stehen noch zwei
Gruppenspiele an. Katar
muss fünf Punkte auf Usbe-
kistan aufholen, um wenigs-
tens die Play-off-Spiele zu
erreichen.
Fossati: Solange man lebt,
gibt es Hoffnung. Wir müs-
sen Syrien und China besie-
KARIM JAAFAR / AFP

Fifa hält die Aktion für einen
politischen Protest und will
Katar bestrafen.
Fossati: Das verstehe ich
nicht. Das war doch keine
SPIEGEL: Sie trugen kein Emir-
Shirt.
Fossati: Aber die Spieler
haben mir eines geschenkt,
als Überraschung. Ich
Katarischer Nationalspieler
gen und dann schauen, was
Usbekistan macht. Ich glaube
noch daran. Katar spielt gu-
ten Fußball und kann gegen
jeden Gegner bestehen. trn

DER SPIEGEL 27 / 2017 99

Sport

„Ich konnte nicht mal weinen“

Missbrauch Eine Hamburger Boxerin wirft einem renommierten Trainer
sexuelle Gewalt vor. Die Verbandsfunktionäre bagatellisieren
den Fall, die anstehende Weltmeisterschaft in der Stadt scheint ihnen wichtiger zu sein.

M
it 17 Jahren zog Laura Weber* zu gegen schwächere Boxerinnen. Im Ring
Hause aus, um sich ihren Lebens- wirkte sie nervös, schüchtern.
traum zu erfüllen. Sie wollte ein- Laura Weber erzählte ihren Eltern,
mal bei den Olympischen Spielen boxen. dass sie nachts nicht schlafen könne. Sie
Sie zog von Hamburg nach Schwerin, an habe Angst. Wovor, wisse sie nicht, habe
den Bundesstützpunkt der Boxer. Vier Jah- sie gesagt. Die Eltern machten sich Sor-
re später kehrte sie nach Hamburg zurück, gen, also reisten sie an einem Wochenen-
ohne Medaillen, ohne Olympia. Heute quä- de nach Schwerin. Im Internatszimmer ih-
len sie nachts Albträume, am Tag schluckt rer Tochter hängten sie ein Kruzifix an
sie Psychopharmaka. die Wand über dem Bett. Aber das half
Laura Weber sagt, dass sie in Schwerin nicht.

NELE MARTENSEN / DER SPIEGEL

vom damaligen Landestrainer Christian M. Weber boxte nicht in der Trainingsgrup-
bedrängt und belästigt worden sei. Der pe von Christian M., aber sie fuhren ge-
Trainer habe sie bei Wettkämpfen und meinsam zu Wettkämpfen. Im September
Lehrgängen im Ausland missbraucht, er- 2011 ging es nach Schweden, Weber und
zählt Weber. 2011 sei das gewesen, die Bo- M. waren im selben Hotel untergebracht.
xerin war da noch minderjährig. Sie verbrachten den Nachmittag mit einer
Weber hat auf einem Sessel in Hamburg weiteren Boxerin, auch sie war minderjäh-
Platz genommen, sie ist inzwischen 23. Sie Mutmaßliches Opfer Weber* rig. Sie aßen bei McDonald’s, dort habe
hat die Füße umeinandergeschlungen, eine Nachts Albträume, tagsüber Psychopharmaka M. anzügliche Bemerkungen gemacht über
zierliche Frau, die Fingernägel akkurat be- Frauen, die ins Restaurant gekommen sei-
pinselt, und wenn sie lächelt, strahlt ihr Der SPIEGEL hat in den vergangenen en. Er habe ihr Aussehen mit Zahlen von
ganzes Gesicht. Doch sie lächelt nur selten. Monaten immer wieder über sexuelle Ge- eins bis zehn bewertet und Sätze gesagt
Im Dezember erstattete Weber Anzeige walt im Sport berichtet. Aus diesem Grund wie: „Kleine Frauen sind sexy.“ Das be-
gegen Christian M., die Staatsanwaltschaft wandte sich vor sieben Wochen ein Vertre- richten beide Boxerinnen.
in Schwerin hat Ermittlungen nach Para- ter des HABV an die Redaktion. Laura We- Weber hatte Rückenschmerzen, deswe-
graf 174 des Strafgesetzbuchs aufgenom- ber werde von seinen Kollegen „systema- gen habe M. ihr angeboten, sie zu massie-
men, wegen des „Verdachts des sexuellen tisch fertiggemacht“, erzählte der Mann. ren. Auch das erzählen beide Boxerinnen.
Missbrauchs von Schutzbefohlenen“, teilt Funktionäre würden sie als „Schlampe“ be- Abends sei Weber deswegen zu M. aufs
sie mit. Der Fall trägt das Aktenzeichen zeichnen, die „es selbst gewollt“ habe. Und: Zimmer gegangen. Er wollte, dass sie für
126 Js 3675/17. Es werden zurzeit mehrere „Damit die Sache nicht hochkommt, gehen die Massage sitzen bleibt, sich nicht hin-
Zeugen vernommen, andere Boxer, Trai- manche über Leichen.“ legt, so erinnert sie sich. „Das kam mir ko-
ner, der Vater und der Exfreund von Laura Weber hat lange überlegt, ob sie sich mit misch vor.“ Ihr BH habe vorn nur noch
Weber haben schon ausgesagt. Sie selbst dem SPIEGEL treffen soll, noch einmal alles leicht auf ihren Brüsten aufgelegen, der
auch. Vier Stunden lang erzählte Weber erzählen will. „Manchmal will ich mich mit Rücken sei frei gewesen. Während M. mas-
der Polizei, was der Trainer ihr angetan dem Thema einfach nicht beschäftigen“, sierte, hätten sie sich unterhalten, vor al-
haben soll. Nach der Befragung musste sie sagt sie, „dann ignoriere ich alles, was da- lem über ihr Heimweh, ihre Gefühle. Er
in eine psychiatrische Klinik, ihr wurden mit zu tun hat.“ Doch die Bilder von früher habe sie „ganz schön ausgefragt“. Dann
ein Trauma und Depressionen attestiert. kämen immer wieder hoch. habe M. angefangen, von seiner Freundin
Der Deutsche Olympische Sportbund Der Bundesstützpunkt in Schwerin liegt zu reden, habe gesagt, dass „da nichts
gibt seinen Vereinen und Verbänden Emp- am Stadtrand, auf dem Gelände befindet mehr läuft und so“. Und dass er ihr nicht
fehlungen, was zu tun ist, wenn solche Vor- sich ein Sportinternat und ein Sportgym- immer treu sei.
würfe im Raum stehen: Die beschuldigte nasium. Rund 40 Jugendliche leben und Weber erzählt, sie habe sich verabschie-
Person soll bis zur Klärung des Verdachts- boxen hier, die jüngsten sind 13 Jahre alt, den wollen, doch M. habe sie an der rech-
falls freigestellt werden. das erste Training beginnt um 7:30 Uhr, ten Schulter gepackt und nach hinten ge-
Im Boxsport, so scheint es, kümmern noch vor dem Schulunterricht. kippt. Sie habe gesagt: „Nein, ich muss
solche Regeln kaum jemanden. Chris- Weber war gerade Deutsche Jugend- wieder zurück auf mein Zimmer.“ Aber
tian M. war damals Landestrainer in Meck- meisterin geworden, als sie im Sommer er habe ihren BH weg- und seine Hose he-
lenburg-Vorpommern. Inzwischen ist er 2011 hierherkam. Sie boxte im National- runtergezogen und dann über ihr onaniert.
zum Sportdirektor des Hamburger Box- kader, galt als Kandidatin für Olympia in „Ich war wie erstarrt, konnte nichts ma-
verbands (HABV) aufgestiegen. Nach wie London. Am Stützpunkt erzählt man Gu- chen, habe einfach weggeschaut.“
vor trainiert er Kinder und Jugendliche, tes über sie, ein ruhiges Mädchen sei sie Weber wird unruhig, wenn sie darüber
fährt mit ihnen zu Turnieren. Die Vorwür- gewesen, talentiert. Nur an Kraft habe es spricht, ihr Daumen knetet auf dem Zeige-
fe von Weber bestreitet er. ihr noch gefehlt. Eine Frage der Zeit, dach- finger herum. Dann beschreibt sie, an wel-
ten ihre Trainer. Aber Weber wurde nicht chen Stellen M. sie angefasst haben soll,
* Name geändert. besser, im Gegenteil: Sie verlor plötzlich wie er sie mit seinen Knien an der Hüfte
100 DER SPIEGEL 27 / 2017
 HEINRICH HOLTGREVE / OSTKREUZ / DER SPIEGEL

Trainingshalle in Schwerin: „Damit die Sache nicht hochkommt, gehen manche über Leichen“

DER SPIEGEL 27 / 2017 101


Boxer beim Training am Bundestützpunkt in Schwerin: Kampf um die Wahrheit
eingeklemmt und über ihr gethront ha-
ben soll.
„Er wusste genau, dass ich das nicht woll-
te. Ich lag da und habe mich so hilflos ge-
fühlt. Mir ging die ganze Zeit durch den
Kopf, dass ich ihm zu viel von meiner
Familie erzählt habe und dass er mit mei-
nem Vater befreundet ist“, sagt Weber. „Ich
konnte nicht mal weinen.“ Wortlos habe
sie das Zimmer verlassen, am nächsten Tag
sei sie ihm aus dem Weg gegangen, erzählt
sie. Doch das sei erst der Anfang gewesen.
Ein paar Wochen nach jener Reise fuhr
sie mit M. zu einem Lehrgang nach Polen.
Er habe dafür gesorgt, dass sie mit ihm im
selben Hotelzimmer übernachtet, sagt We-
ber. „Ich ahnte, worauf es hinausläuft, und
hatte total Angst. Aber ich wusste nicht,
was ich tun soll. Ich hatte niemanden, mit
dem ich darüber reden konnte.“
Weber sagt, sie habe sich abends sofort
ins Bett gelegt, M. habe noch mit seiner
Freundin telefoniert, „,ich liebe dich‘ und
,gute Nacht‘ gesagt“. Dann habe er sich
neben Weber gelegt, sie habe ihm den Rü-
cken zugedreht. Er habe sie irgendwann
rumgedreht, ihr die Hose ausgezogen „und
mit mir geschlafen oder wie man das
nennt“. Weber atmet jetzt schwer, sie
stockt. „Vergewaltigt“, sagt sie dann. Ak-
tuell ermitteln die Behörden allerdings
noch nicht nach Paragraf 177 des Strafge-
setzbuchs, der Vergewaltigungen umfasst.
Zurück in Schwerin habe sie versucht,
alles zu verdrängen. Sie habe M. auf Ab-
stand halten wollen, was ihn aber nur noch
aggressiver gemacht haben soll.
Eines Abends, als Weber zu Fuß ins In-
ternat gehen wollte, habe M. sie mit dem
Auto abgefangen. Er habe verlangt, dass
sie in seinen Wagen steige, erzählt Weber.
Der Trainer habe ihr gesagt, dass er sie lie-
be. Als Weber abweisend regiert habe, sei
M. wütend geworden: „Er sagte, dass er
sonst was meinem Vater erzählen würde,
102 DER SPIEGEL 27 / 2017
Man kann also sagen, dass Christian M.
ein wichtiger Mann ist, für Funktionäre,
Politiker, für Hamburg sowieso. So ein
Missbrauchsskandal kommt für viele Leute
ziemlich ungelegen.
Für Jürgen Kyas zum Beispiel, den Prä-
sidenten des Deutschen Boxsport-Ver-
bands (DBV). Bei der Box-WM ist Kyas
Chef des Organisationskomitees, also das,
was Franz Beckenbauer bei der Fußball-
HEINRICH HOLTGREVE / OSTKREUZ / DER SPIEGEL
WM 2006 war: der Boss. Rechtswartin Ra-
des-Walther sagt, dass sie Kyas im Dezem-
ber angerufen habe. Sie habe um Hilfe
vom DBV gebeten. Die Antwort von Kyas
sei kurz gewesen: „Wir halten uns da raus.“
Und: „Legen Sie sich ein dickeres Fell zu.“
Im Januar zitierte Kyas den damaligen
HABV-Präsidenten Peter Hamel in ein
Hamburger Hotel, so erzählt es Hamel
selbst. Es sei bei dem Gespräch um die
Vorwürfe von Laura Weber gegangen. Ha-
mel berichtet, Kyas habe auf ihn eingere-
dass er den Schulleiter kennt, dass er mit det, dass die Sache „nicht hochkommen“
allen Trainern gut befreundet sei und mei- dürfe, „wegen der Weltmeisterschaft“.
ne Karriere zerstören könnte.“ Ein Megaevent wie die WM lässt man
Die Boxerin habe gewusst, dass M. frü- sich nicht von der möglichen Vergewal-
her als Polizist gearbeitet hatte. Deswegen tigung einer Nachwuchsboxerin beschädi-
habe sie sich damals nicht an die Polizei gen. Denkt Kyas so?
gewandt, sagt sie. Auch bei der Leitung Auf Anfrage bestreitet der DBV-Präsident,
des Stützpunkts hat sie sich nicht über M. sich so geäußert zu haben, wie von Rades-
beschwert, keine Hilfe gesucht bei anderen Walther und Hamel geschildert. Er habe le-
Trainern oder ihren Eltern. „Ich habe mich diglich darum gebeten, „die Öffentlichkeit
so geschämt“, sagt sie heute. nur auf Basis juristisch wasserfester Fakten
Und doch entstanden Gerüchte, dass da zu informieren“. Kyas legt ein Schreiben
etwas vorgefallen ist zwischen M. und ihr. von Ende Mai vor, in dem er dem HABV
Gerüchte, die Schwerin irgendwann ver- „nachdrücklich und eindringlich“ empfiehlt,
ließen und vor sieben Monaten Nele Ra- Christian M. zu suspendieren.
des-Walther erreichten, die Rechtswartin Unter den Hamburger Boxfunktionären
des Hamburger Boxverbands. Rades-Wal- ist in den vergangenen Monaten ein Kampf
ther arbeitet als Richterin am Amtsgericht um die Wahrheit ausgebrochen. Hamel
in Niebüll in Schleswig-Holstein. glaubte Weber, dann wurde er im März
Anfang Dezember traf sie Laura Weber als Präsident abgewählt. Sein Nachfolger
beim Training, sie setzten sich zusammen hat Christian M. wieder auf seinen Posten
in die Umkleidekabine. Rades-Walther als Sportdirektor berufen. Es gebe „keinen
sprach Weber auf M. an. Weber sagte: „Das nachweisbaren Grund“, den Trainer von
ist der schlechteste Mensch, den ich kenne.“ seinem Job zu entbinden. So steht es im
Dann brach alles aus ihr heraus. Als Juristin Protokoll einer Vorstandssitzung.
wusste Rades-Walther, dass die Vorfälle Ein paar wenige Funktionäre im HABV
laut Strafrecht noch nicht verjährt waren. nehmen Webers Anschuldigungen ernst.
Weber und sie fassten die Anschuldigungen Sie suchen Hilfe bei der Politik. Am 21.
gegen M. auf drei Seiten zusammen. Weber Mai schickten sie eine E-Mail an den Ham-
entschloss sich, den Trainer anzuzeigen. burger Innen- und Sportsenator Andy Gro-
Am 12. Dezember informierte Rades- te, SPD. Man bat ihn, „zu intervenieren“,
Walther den Vorstand des HABV über den damit Christian M. „von der Trainertätig-
Fall, Christian M. wurde sofort freigestellt. keit suspendiert“ werde. Grote antwortete
Aber das war nur der Beginn eines Skan- nicht. Erst auf eine zweite Beschwerde vier
dals im Skandal. Wochen später reagierte ein Staatsrat von
Denn Christian M. hat in den vergange- Grote: Dieser „Streit“ im Boxverband sei
nen Jahren eine steile Karriere hingelegt. „eine sport-interne Angelegenheit“, die
Er trainiert einige der besten Nachwuchs- man aber „sehr aufmerksam“ verfolge. Mit
boxer Deutschlands. Als Manager gründe- freundlichen Grüßen.
te er die Hamburg Giants, ein Team, das Sportsenator Grote gilt als großer Box-
in der Bundesliga boxt. Mit seinem Cousin fan, er lässt sich gerne bei den Kämpfen
leitet M. die Promotionfirma M-Fights. Die der Hamburg Giants blicken. Christian M.
wiederum ist an der Organisation der Box- und er kennen sich. Auf SPIEGEL-Anfrage
weltmeisterschaft beteiligt, die ab Ende will sich Grote nicht zu dem Fall äußern.
August in Hamburg ausgetragen wird. Aus seiner Behörde heißt es, es gebe keine
 Sport

Handhabe für den Senator, weil der Sport

in dieser Sache autonom sei.
Am Telefon sagt Christian M., die An-
schuldigungen gegen ihn seien „Humbug“:
Sein Anwalt und er könnten „belegen, dass
an den Vorwürfen nichts dran ist“, sagt
der Trainer, „wir haben Informationen und
Beweise.“ Welche? Will er noch nicht sa-
gen. Einen umfassenden Fragenkatalog
lässt Christian M. später unbeantwortet.
Sein Anwalt schreibt, die Anschuldigungen
seien „Teil einer äußerst schmutzigen Kam-
pagne“ gegen M. und „absolut haltlos“.
Aufgrund des laufenden Verfahrens wolle
man sich aber nicht im Detail äußern.
Es steht Aussage gegen Aussage, wie so
oft bei Missbrauchsfällen. Die Staatsan-
waltschaft wird auf Zeugen zurückgreifen
müssen, um der Wahrheit näherzukom-
men. In Schwerin kann man sich mit eini-
gen von ihnen unterhalten, sie gehörten
damals zur Clique von Laura Weber.
NEU
Ein Freund von ihr erinnert sich an ein Jetzt im
Gespräch mit Laura, das im Frühjahr 2015 Handel
stattgefunden habe: „Sie erzählte mir von
der Massage von Christian, dass sie sich
auf seinem Hotelzimmer freimachen sollte,
dass er versucht habe, sie anzufassen. Sie
heulte, als sie darüber redete.“
Der Exfreund von Laura Weber, der bis
2014 mit ihr zusammen war, sagt, er wuss-
te, dass zwischen M. und Weber „etwas
vorgefallen war“. Laura habe ihm Nach-
richten des Trainers gezeigt, in denen er
um Gespräche mit ihr gebettelt haben soll.
Auch Lauras Zimmernachbarin aus dem
Sportinternat sagt, dass zwischen M. und
Weber „etwas gelaufen“ sei. „Ich hielt das
erst für eine Affäre, die beide geheim halten
wollten.“ Über Missbrauch habe Laura nie
etwas gesagt, wenn sie über M. sprachen.
Verliebt habe Laura aber auch nicht gewirkt.
Später sei M. dann „ganz eklig zu ihr“ ge-
wesen. Laura habe Angst vor ihm gehabt,
sei nachts aus Albträumen aufgeschreckt. www.spiegel-biografie.de
Was genau zwischen Laura Weber und
Christian M. passiert ist, wissen letztlich
nur die beiden.
Sicher ist, dass jegliche sexuelle Hand-
lung zwischen Erziehern, Ausbildern oder
Betreuern und den ihnen anvertrauten 16-
bis 18-Jährigen verboten ist, wenn die Er-
wachsenen ihre Machtposition ausnutzen.
So steht es im Strafgesetzbuch. Wer dafür Weitere Themen:
vor Gericht landet, dem drohen bis zu fünf
Jahre Gefängnis. Schon der Versuch ist
strafbar. Die Ermittlungen der Staats-
Streng vertraulich!
anwaltschaft in Schwerin werden frühes-
tens Ende Juli abgeschlossen sein. Journalistenarbeit in Bonn
Laura Weber hat mit dem Boxen aufge-
hört. Zu viele schlechte Erinnerungen, sagt
sie. Sie macht in Hamburg eine Ausbildung
In Kontakt
zur Immobilienkauffrau. In den vergange-
nen Wochen war sie allerdings die meiste Kohl und der SPIEGEL
Zeit krankgeschrieben.
Lukas Eberle, Ann-Katrin Müller
Mail: lukas.eberle@spiegel.de, ann-katrin.mueller@spiegel.de
Blaue Strickjacke
DER SPIEGEL 27 / 2017 103 Im Haus der Geschichte
Sport

Der Blender
Fußball Beim Confederations Cup in Russland feiert sich die Fifa selbst, die Kritik an Weltverbandschef
Gianni Infantino aber wird lauter – wegen seines Führungsstils und seines Umgangs mit der Wahrheit.

G
ianni Infantino stand auf der Ehren- Ließ Infantino daraufhin die Ethiker ab- Antworten geben könnte ein enger Ver-
tribüne des Stadions in Sankt Pe- setzen? Dieser Verdacht steht seit Wochen trauter des Präsidenten: Marco Villiger,
tersburg, gemeinsam mit dem rus- im Raum. stellvertretender Generalsekretär, Chef-
sischen Staatspräsidenten Wladimir Putin Interne Unterlagen, die dem SPIEGEL jurist und Überbleibsel der Blatter-Ära. Er
feixte und schunkelte er. Es war das Eröff- vorliegen, zeigen, dass die Fifa-Spitze ist der Vorgesetzte von Rodriguez, dem
nungsspiel des Confederations Cup, und schon frühzeitig von der Existenz weiterer Briefeschreiber. Er kennt die Kommunika-
der Präsident der Fifa hatte beste Laune. Dokumente wusste. Dokumente, die die tion mit Borbély, und er wusste, so heißt
Vielleicht wusste er da ja schon, was nur neuen Ethiker zunächst hätten prüfen müs- es, von den extern gelagerten Akten. Wuss-
kurze Zeit später offiziell von der Fifa sen, bevor sie dem Präsidenten einen öf- te er auch von den Ermittlungen gegen In-
bekannt gegeben wurde: Die Ethikkom- fentlichen Freifahrtschein ausstellten. fantino? Wirkte er gar an der Borbély-Ab-
mission führe keine Ermittlungen gegen Alles begann mit einem Brief vom 12. Ju- setzung mit? Auf Anfrage: Schweigen.
Infantino. Dies habe die Kolumbianerin ni, den José Rodriguez, Sekretär der Ethik- Und die Borbély-Akten samt der Infan-
María Claudia Rojas, neue Chefermittlerin kommission, an Borbély schrieb. Auftrag- tino-Ermittlungen, die ja angeblich gar
der Fifa, bestätigt. geber: die neue Ethik-Chefermittlerin. In nicht existieren – wo sind die jetzt? Kein
Der Präsident, das war die Botschaft, sei
komplett sauber.
Mit der Pressemitteilung reagierte der
Verband auf einen Bericht des SPIEGEL,
der im April enthüllt hatte, dass ein Ver-
fahren gegen den 47-Jährigen eröffnet wur-
de und bereits Zeugen vernommen wor-
den waren. Der Verdacht: verbotene Ein-
flussnahme auf die Präsidentschaftswahlen
im afrikanischen Kontinentalverband. Gut
eine Woche später wurde Chefermittler
Cornel Borbély abgesetzt, er berichtete
von „Hunderten Verfahren“, die nicht ab-
geschlossen werden konnten. SPIEGEL
ONLINE meldete kurz darauf, dass Borbé-
ly vor seiner Abwahl mindestens einen
weiteren Zeugen im Infantino-Verfahren
nach Zürich geladen hatte. Umso überra-
schender war nun die Hausmitteilung der
Fifa, wonach es keine Ermittlungen gebe.
MAXIM SHEMETOV / REUTERS

Denn sie ist falsch.

Wie der SPIEGEL aus Fifa-Kreisen er-
fuhr, entschied sich die Verbandsspitze,
einen Teil der Ermittlungsunterlagen von
Borbély schlichtweg nicht in Empfang zu
nehmen. Der Schweizer Rechtsanwalt
führte während seiner Amtszeit nicht ei-
nen, sondern zwei Aktenbestände. Der
eine Teil mit Ermittlungen gegen Perso-
nen, die nicht direkt in der Verbandszen-
trale in Zürich arbeiten, lagerte ebendort,
im Sekretariat der Ethikkommission. Den
anderen, heikleren Teil – unter anderem
ebenjene Unterlagen zum Infantino-Ver-
fahren – verwahrte Borbély in einer An-
waltskanzlei.
Der simple Grund: Die Fifa-Spitze sollte
keinen Einblick in die Arbeit der unabhän-
gigen Ermittler haben. In der Vergangen-
heit hatte es Vorwürfe gegeben, wonach
Infantino über Anzeigen gegen ihn bei der
Ethikkommission heimlich informiert wor-
den war. Das sollte nicht mehr geschehen.
Stattdessen erfuhr der Fifa-Chef aus dem
SPIEGEL (18/2017) von der Untersuchung.
104 DER SPIEGEL 27 / 2017
Fifa-Präsident Infantino beim Confed Cup: Als Kopie von Sepp Blatter entpuppt
dem Schreiben bittet sie um alle Ermitt-
lungsunterlagen, „die mit den relevanten
Geschäften der Ethikkommission zu tun ha-
ben und die sich nicht im Besitz des Sekre-
tariats befinden“. Es geht um Borbélys ge-
heimen Aktenschrank. Drei Tage später bat
Borbély per E-Mail um Terminvorschläge
für ein Treffen. Eine Antwort bekam er
nicht mehr. Stattdessen dementierte die Fifa
per Pressemitteilung die Ermittlungen ge-
gen Infantino.
Dieses Vorgehen empört auch langjäh-
rige Fifa-Mitarbeiter, sie leiteten die Kom-
munikation zwischen dem Ethiksekretariat
und Borbély an den SPIEGEL weiter. Eine
Anfrage zu den Vorgängen beantwortete
die Fifa nicht.
Kommentar der Fifa. Mitarbeiter aus dem
Hauptquartier behaupten, Borbély habe
die Dokumente per Post dorthin geschickt.
Borbély will das nicht kommentieren.
Statt sich mit diesem Verfahren und den
brenzligen Dokumenten zu beschäftigen,
versucht die Fifa lieber, mit allen Mitteln
Infantinos Image aufzupolieren. Auf Kos-
ten der alten Ethiker. Die „Bild“-Zeitung
veröffentlichte Anfang dieser Woche den
lange gehüteten Garcia-Report, der sich
mit der unter Korruptionsverdacht stehen-
den Vergabe der Weltmeisterschaften an
Russland und Katar beschäftigt. Am
Dienstag stellte die Fifa den gesamten Be-
richt auf ihre Homepage. Garniert mit der
Meldung, man sei froh, dass dieser Report

endlich öffentlich geworden sei, Präsident
Infantino habe sich dies schon lange ge-
wünscht. Lediglich die mittlerweile abge-
setzten Ethiker hätten dagegen gemauert.
Richter Hans-Joachim Eckert und Borbély
meldeten sich umgehend per Pressemit-
teilung zu den Vorwürfen und schrieben,
sie seien niemals von Infantino aufgefor-
dert worden, den Report zu veröffent-
lichen.
Dass Fakten so offensichtlich ignoriert
und verdreht, dass Unwahrheiten per Pres-
semitteilungen verbreitet werden, damit
hatte nach Infantinos Wahl kaum mehr je-
mand gerechnet. Nicht nach all den skan-
dalträchtigen Jahren unter Sepp Blatter,
dessen bitteres Ende, so dachte man, für
Infantino eine Warnung sein würde. Welch
ein Trugschluss.
Reinhard Grindel sitzt wenige Stunden
vor dem letzten Gruppenspiel des deut-
schen Teams gegen Kamerun im Mann-
schaftshotel in Sotschi. Der DFB-Präsident
trägt Freizeitkleidung, ein gestreiftes
Hemd, Jeans, ist unrasiert. Der Auftritt sei-
ner jungen Nationalmannschaft macht ihm
großen Spaß. Grindel gießt sich in aller
Ruhe seinen schwarzen Tee ein, er wirkt
sehr entspannt.
Sein Gemütszustand wird sich im Laufe
des Gesprächs ändern.
Bislang, sagt er, hatte er noch keine Mög-
lichkeit, persönlich mit der neuen Ethik-
chefin Rojas zu sprechen. Er wisse deshalb
nicht, ob gegen Infantino ermittelt werde.
Sollten die Vorwürfe aber zutreffen, hätte
der Fifa-Präsident sich „wegen Befangen-
heit nicht derart in die personellen Verän-
derungen der Ethikkommission einbringen
dürfen“.
Kritik? An der Fifa und ihrem Präsiden-
ten? Grindel muss in Infantinos Augen ein
wirklich komischer Kauz sein. Der DFB-
Präsident nervt den Fifa-Chef sowieso
schon seit Längerem. Bei Grindels Einzug
in den Fifa-Rat im Frühjahr legte der DFB-
Mann sich gleich mal mit Infantino an und
kritisierte dessen Entscheidung, die Ethi-
ker abzusetzen.
Grindel nimmt einen weiteren Schluck
seines schwarzen Tees, lehnt sich zurück,
seine Augen werden schmaler hinter der
kleinen Goldrandbrille: „Wenn der Ein-
druck entstehen kann, dass Personalent-
scheidungen eher aus Eigeninteresse und
nicht als Folge inhaltlicher Argumente ge-
fällt werden, dann hilft das nicht dabei,
die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.“
Infantino, das war die Idee, sollte das de-
molierte Image der Fifa aufpolieren. Aber
davon ist nichts zu sehen, Infantino ent-
puppt sich als Blender, der immer mehr zu
einer Art Kopie von Sepp Blatter wird. Wo-
bei man Letzterem zugutehalten muss, dass
er zumindest den Ethikern freie Hand ließ.
Nun aber werden diese Reformen rückgän-
gig gemacht, die neue Ethikchefin hat ihre
Bin ich auch
Glaubwürdigkeit schon verspielt, bevor sie
mit ihrer Arbeit angefangen hat.
Auch innerhalb der Uefa wird der Wi-
nach der
derstand gegen den Fifa-Präsidenten grö-
ßer. Dort thront seit September mit Alek-
Scheidung
sander Čeferin ein enger Vertrauter Grin-
dels an der Spitze, und der Slowene fällt
noch euer Kind?
bislang nur damit auf, dass er nicht auffällt.
Hinter den Kulissen hat sich der 49-Jährige
als Gegenspieler von Infantino positioniert,
er ist genervt von dessen Alleingängen.
Jüngst schrieb die Uefa einen Beschwer-
debrief an die Fifa, weil sie sich nicht aus-
reichend informiert fühlte. „Es wird schlim-
mer und schlimmer“, sagt ein hochrangiger
Uefa-Mitarbeiter mit Blick auf die Ermitt-
lungen gegen Infantino.
Es ist derzeit unvorstellbar, dass sich die
Uefa bei der nächsten Fifa-Präsident-
schaftswahl 2019 hinter den Italo-Schwei-
zer stellt. Ausgerechnet der Verband, dem
er bis zu seiner Wahl zum Fifa-Präsidenten
als Generalsekretär diente, wendet sich
nun von ihm ab.
Und der nächste Ärger steht schon an.
Seit Wochen wird hinter verschlossenen
Türen über die Absetzung von General-
sekretärin Fatma Samoura beraten. An die-
sem Wochenende könnte am Rande des
Finals beim Confed Cup schon eine Ent-
scheidung fallen. Dabei galt Samoura als
eine der Erneuerungsfiguren des Weltver-
bands: eine Frau, Afrikanerin, Externe, die
vorher für die Vereinten Nationen gear-
beitet hatte. Endlich jemand, der als „un-
belastet“ galt. 96 Seiten · 9,99 € · ISBN 978-3-522-30472-6
Nun könnte ihr zum Verhängnis werden,
dass sie sich vor dem Fifa-Kongress im Mai
in Bahrain öffentlich für den Verbleib von
Ist eine Scheidung endgültig? Wo werde
Ethikchef Borbély einsetzte. Samoura durf-
te schließlich beim Kongress lediglich Län- ich wohnen? Bleibt ihr trotzdem noch
dernamen vorlesen, bei der anschließen- meine Eltern?
den Pressekonferenz saß sie nicht mal auf Wenn Eltern sich trennen wollen, haben
dem Podium, sondern im Zuschauerraum.
Fifa-intern heißt es, Infantino könne un- Kinder viele Fragen. Arne Jørgen Kjos-
fassbar nachtragend und gnadenlos sein. bakken, der viele Kinder während der
Der Umgang mit Samoura sei ein Lehr- Trennung oder Scheidung ihrer Eltern
stück dafür, was passieren würde, wenn begleitet hat, und Dialika Neufeld haben
man den Präsidenten kritisierte.
Samoura selbst beantwortete E-Mails des sich Antworten überlegt, die Kindern dabei
SPIEGEL zu ihrer geplanten Absetzung helfen können mit der neuen Situation
nicht. Stattdessen verteidigt DFB-Chef Grin- zurechtzukommen.
del die Noch-Generalsekretärin. „Ich habe
sie bei ihrem Besuch in Frankfurt als äußerst
kompetent und integer wahrgenommen und
ihr deshalb auch die Leitung der Fifa-Ad-
ministration absolut zugetraut“, sagt er.
Nichts in seinem Gesicht deutet mehr
auf Entspannung hin, er will auch keinen
weiteren Tee mehr. Grindel sagt, er müsse
nun leider feststellen, dass Samoura in den
vergangenen Wochen eine neue Rolle zu-
geteilt wurde.
Eine Rolle, sagt er, „die dem Geist der
neuen Fifa nicht entspricht“.
Rafael Buschmann, Tim Röhn GABRIEL
Twitter: @rafanelli, @tim_roehn Was wirklich zählt!
DER SPIEGEL 27 / 2017 105 www.gabriel-verlag.de
Die exklusive
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DER SPIEGEL – das deutsche Nachrichten-Magazin.

 Die Preview-Aktion wird am Dienstag,
dem 04.07.2017, stattfinden. Sie
können zwei kostenlose Kinokarten
– solange der Vorrat reicht – von
Samstag, den 01.07.2017, 12 Uhr, bis
Dienstag, den 04.07.2017, 18 Uhr,
unter den angegebenen
Telefonnummern reservieren.
Achtung: Die Tickets sind nicht
übertragbar. Missbrauch wird zur
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Berlin
Filmtheater am Friedrichshain
Bötzowstraße 1 – 5
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 62 62 – 0*

Düsseldorf
Cinema
Schneider-Wibbel-Gasse 5
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 62 62 – 1*

BEGABT Frankfurt am Main

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Der alleinstehende Frank Adler (Chris Zeil 125
Evans) hat die Vaterrolle für seine aufge- Beginn: 20.00 Uhr
weckte kleine Nichte Mary (Mckenna Hotline 0900 324 62 62 – 2*
Grace) übernommen und lebt mit ihr in
einem Küstenstädtchen in Florida. Mary Hamburg Zeise Kinos
Friedensallee 7 – 9
ist hochbegabt, doch Frank setzt alles
Beginn: 20.00 Uhr
daran, ihr ein normales Leben zu ermög- Hotline 0900 324 62 62 – 3*
lichen. Dennoch bleibt das mathematische
Talent der Siebenjährigen nicht unbe- Hannover
merkt, und so taucht eines Tages Franks ASTOR Grand Cinema
gebieterische Mutter Evelyn (Lindsay Nikolaistraße 8
Duncan) auf. Die Pläne der wohlhabenden Beginn: 20.00 Uhr
Bostonerin für ihre Enkelin drohen Frank Hotline 0900 324 62 62 – 4*
und Mary auseinanderzureißen. Als
die familiären Spannungen zunehmen,
Köln Cinenova
Herbrandstraße 11
bekommen Onkel und Nichte Unter- Beginn: 20.00 Uhr
stützung von ihrer resoluten Vermieterin Hotline 0900 324 62 62 – 5*
und besten Freundin Roberta (Octavia
Spencer) – sowie von Marys Lehrerin Leipzig Passage Kinos
Bonnie. In ihrer Fürsorge für ihre hochbe- Hainstraße 19a
gabte Schülerin nähert sich die junge Beginn: 20.00 Uhr
Frau auch Marys attraktivem Onkel an ... Hotline 0900 324 62 62 – 6*

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LEBENS ist ein herzerwärmender Film
München City Kinos
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Sonnenstraße 12
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starkes Spiegelbild unserer heutigen Hotline 0900 324 62 62 – 7*
Gesellschaft. Die Regie übernahm Marc
Webb („500 Days of Summer“). Er konnte Nürnberg Cinecittà
Gewerbemuseumsplatz 3
mit Chris Evans, Oscar®-Gewinnerin
Beginn: 20.00 Uhr
Octavia Spencer, Lindsay Duncan sowie Hotline 0900 324 62 62 – 8*
mit Newcomerin McKenna Grace ein
eindrucksvolles Ensemble gewinnen. Stuttgart
www.begabt-derFilm.de Metropol
Bolzstraße 10
/20thCenturyFoxGermany Beginn: 20.00 Uhr
Wählen Sie die Hotline eines der aufgeführten Kinos. Hotline 0900 324 62 62 – 9*
QR-Code scannen Sie erhalten eine vierstellige Eintrittsnummer und
und Trailer ansehen. können Ihre Karten bis kurz vor Beginn der Vorführung
abholen. Bei einer ausgebuchten Veranstaltung in Ihrer
* Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem
Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage. dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
 Physiologie
Junges Blut
Man ist so alt wie seine Ge-
fäße – wie man diese Erkennt-
nis nutzen kann, beschreiben
Forscher der Medizinischen
Hochschule Brandenburg mit
Kollegen in der Juniausgabe
von „Acta Physiologica“:
22 gesunde Probanden rann-
ten 30 Minuten lang – und
bildeten daraufhin in ihren
weißen Blutkörperchen ver-
stärkt ein bestimmtes Enzym
(„Telomerase“), das bekann-
termaßen der Zellalterung
entgegenwirkt. Der Effekt
wird offenbar durch höhere
Scherkräfte bei beschleunig-
tem Blutfluss ausgelöst, wie
weitere Experimente nahele-
gen: Zwölf ältere Menschen,
deren Gefäße bereits nicht
mehr normal durchblutet
wurden, bekamen spezielle
Bein- und Hüftmanschetten,
die komprimieren und das
Blut schneller durch die
Adern pressen. Nach fünf-
wöchiger Behandlung war
die Telomerase-Aktivität der
weißen Blutkörperchen
merklich erhöht. ble

Fußnote

2 Stunden
nach einem Samener-
guss bewegen sich
die – fürs nächste Eja-
kulat neu gebildeten –
Spermien besonders
flink. Forscher vergli-
chen die Samenflüssig-
keit nach solch kürze-
rer Abstinenz mit Pro-
ben derselben Männer,
nachdem diese vier
bis sieben Tage lang
pausiert hatten. Diese
wiesen ein größeres
Volumen auf, enthiel-
ten aber mehr schlap-
pe Spermien, so For-
scher im Journal „Hu-
man Reproduction“.
NASA

108 DER SPIEGEL 27 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
 Wissenschaft+Technik
Gesundheit Ioannidis: Es ist nicht so, dass
„Ernährungsratgeber die Wissenschaftler betrügen
sind heiße Luft“ wollen. Wenn man mehr
von einem Nährstoff zu sich
John Ioannidis, 51, nimmt, aber einen anderen
Ioannidis: Der Markt für Er-
nährungsratgeber ist riesig,
aber im Grunde wird da hei-
ße Luft verkauft. Manche
Leute lesen solche Bücher

IVO VAN DER BENT / HH / LAIF

Biostatistiker an weglässt und dabei einen Ef- nun einmal mit mehr Freude
der kalifornischen fekt beobachtet, weiß man als Märchen.
Stanford Univer- eben noch nicht, wo dieser SPIEGEL: Sollte man sich also
sity, über falsche denn nun herrührt. Hinzu einfach nach Gutdünken er-
Forschungsergeb- kommt der Einfluss unseres nähren?
nisse und die sonstigen Lebensstils, der Ioannidis: Na ja, ein paar Sa-
Frage, was man eigentlich noch die Erkenntnisse der Ernäh- chen wissen wir ja schon:
essen kann rungsmedizin durcheinander- nicht zu viel essen, nicht
bringt. übergewichtig werden, Maß
SPIEGEL: Es gibt eine Million SPIEGEL: Wieso sehnen wir halten, viel Obst und Gemüse
Studien zur Ernährung. Wie uns so sehr nach einfachen verzehren. Diese Botschaften
viele davon sind fehlerhaft? Antworten, wenn’s ums kann man in einen Satz fas-
Ioannidis: Mehr als 90 Prozent, Essen und Trinken geht? sen, und damit war’s das. ble
womöglich sogar fast 100 Pro-
zent. In einer Arbeit etwa
sollten 52 Behauptungen aus
epidemiologischen Studien
durch Experimente erhärtet
werden – das gelang in kei-
nem Fall. Ob ein bestimmtes
Vitamin oder ein Nahrungs-
ergänzungsmittel tatsächlich
eine Wirkung im Körper
entfaltet, das verraten diese
Studien nicht.
SPIEGEL: Warum kommen
gleiche Ernährungsstudien so
gut wie nie zu gleichen –
und damit verlässlichen – Er-

IMAGO
gebnissen?

Kommentar

Psssssst!
Warum Totschweigen kostbaren Pflanzen und Tieren das Leben garantiert
Das Verheimlichen von Forschungsergebnis-
sen ist eigentlich nicht vorgesehen. Wissen-
Sturmkugel schaftler müssen ihre Ergebnisse veröffent-
lichen, damit Kollegen diese überprüfen und
In 46 900 Kilometer Entfer- darauf aufbauen können. Auch dürfen dem
nung umkreiste die Nasa- Steuerzahler die Früchte der von ihm mit-
Sonde „Juno“ kürzlich den finanzierten Forschung nicht vorenthalten
größten Planeten unseres werden. All dies bedeutet für den Wissen-
Sonnensystems: den Jupi- schaftler: Sprich über deine Arbeit, erkläre,
ter. Die Erde würde in eines was du tust, gib die Daten heraus!
der umlaufenden Bänder In der Forschung ist Schweigen also nur
passen. Juno schoss Fotos sehr selten Gold; beispielsweise können Publi-
von ovalen Stürmen – das kationen über gefährliche Viren Bioterroris-
sind die weißen Kringel. Die ten als Anleitung für die Herstellung solch
Farben auf dem Bild wurden mörderischer Mikroben dienen, archäologi-
indes künstlich verstärkt, sche Angaben zu Fundorten locken Raubgrä-
um es spektakulärer wirken ber und Schatzsucher an.
zu lassen; die so entstan- Und auch im Artenschutz wird Offenheit
dene Ornamentik erinnert mehr und mehr zum Problem. Informationen
an prachtvolle Fresken der zu Standorten und Lebensräumen neu ent-
Renaissance. deckter oder seltener Pflanzen und Tiere kön-
nen, einmal im Internet verbreitet, praktisch
von jedem gelesen werden – mit fatalen Fol-
gen: Kaum hatten Forscher ein Habitat des
Chinesischen Leopardgeckos beschrieben, eil-
ten Sammler herbei. Der Gecko ist dort nun
ausgerottet; derweil werden im Internet Nach-
zuchten angeboten, auch von deutschen Pri-
vatpersonen, zum Stückpreis von 35 Euro.
Orchideen, Kakteen, Bergottern, Schlangen-
halsschildkröten und viele andere Lebewesen
sind schon durch wissenschaftliche Publika-
tionen Plünderern zum Opfer gefallen.
„Es ist nicht mehr zeitgemäß, wissenschaft-
liche Neubeschreibungen bestimmter Arten
mit konkreter Lokalität zu versehen“, sagt
Mark Auliya, Reptilienforscher vom Helm-
holtz-Zentrum für Umweltforschung in Leip-
zig. Heimlichtun ist leider nötig, und das gilt
nicht nur für Wissenschaftler. Ein scheinbar
harmloser Hinweis in Wikipedia etwa auf sel-
tene Schildkröten in einem Brandenburger
Bruchwald könnte dazu führen, dass dort
bald keine mehr sind. Jörg Blech

DER SPIEGEL 27 / 2017 109

Wissenschaft

Mehr Wumms
Waffentechnik Die Atommächte modernisieren ihre nuklearen Arsenale.
Kleinere, präzisere Bomben könnten dazu verlocken, sie auch
zu zünden – die Hemmschwelle sinkt. Rückt die Welt einem Atomkrieg näher?

O
b die Zivilisation im atomaren Feu- Doch dann kamen die Krimkrise, der Daalder sieht das Tabu des Atomwaf-
ersturm endet, hängt unter ande- Syrienkrieg, Donald Trump und Kim Jong feneinsatzes bereits fallen. „Ich fürchte,
rem von einem Computer des Typs Un. Seither rührt sich das alte Monster dass es bald Technologien geben könnte,
IBM Series/1 aus den Siebzigerjahren ab. wieder – nur dass es neue Akteure mit die dazu verleiten, diese Waffen tatsäch-
Eine schwarze 8-Zoll-Floppy-Disk lässt neuen Verstrickungen sind, die ihm Leben lich zu benutzen“, sagt er. „A bigger bang
sich von vorn in das hellgraue Gerät ein- einhauchen: ein aufstrebendes China, ein for the buck“, mehr Wumms fürs Geld, so
schieben. Der Arbeitsspeicher umfasst wirtschaftlich angeschlagenes Russland, wurden Nuklearwaffen in den Fünfziger-
kaum mehr als ein paar Tausend Byte. ein verunsichertes Amerika – und macht- jahren gepriesen. Gewöhnt sich die Welt
Seit rund 40 Jahren wacht die greise Ma- hungrige Männer an den Kommandostän- gerade wieder an diese Sichtweise?
schine über einige der mächtigsten Waffen, den der Atomarsenale, denen es offenbar Für Amerikas Strategen sind vor allem
die die Menschheit je erschaffen hat. „Die- wenige Probleme bereitet, mit dem Ein- zwei Männer schuld an der aktuellen De-
ses System koordiniert die operativen satz von Nuklearwaffen zu drohen. stabilisierung: Nordkoreas Kim Jong Un
Funktionen der US-Atomstreitkräfte, so „Wir müssen das militärische Potenzial und Russlands Wladimir Putin. Kim droht
etwa die Interkontinentalraketen, die nu- strategischer Atomwaffen stärken, beson- unverhohlen mit dem Atomschlag, obwohl
klearen Bomber und deren Tankflugzeu- ders mit Raketen, die zuverlässig jedes Ra- Nordkorea dazu noch nicht in der Lage ist.
ge“, heißt es in einem Bericht des US-Rech- ketenabwehrsystem überwinden können“, Bei Putin wiederum enden manche mi-
nungshofs vom vergangenen Jahr. sagte Kremlchef Wladimir Putin im De- litärischen Planspiele mit einer nuklearen
Das US-Verteidigungsministerium plant, zember vor Militärs. „Deeskalation“. Die Strategie folgt der
das System zu erneuern. Doch damit könn- Trump reagierte umgehend via Twitter: ebenso grausamen wie menschenverach-
ten die Probleme erst anfangen. Denn ein „Die USA müssen ihre nuklearen Fähig- tenden Logik von 1945: Bombe werfen,
neues atomares Wettrüsten hat begonnen. keiten erheblich verstärken und ausbauen, dann Frieden anbieten.
Und das Rechner-Update ist nur ein win- Im Dezember 2014 veröffentlichte Mos-
ziger Teil der Rüstungsoffensive.
Während in New York in dieser Woche
Viele Planspiele folgen kau eine neue Militärdoktrin, in der sich
Russland das Recht vorbehält, Atomwaffen
erneut die Uno-Mitgliedstaaten über ein der grausamen Logik von gegen Angriffe mit Massenvernichtungs-
weltweites Verbot von Atomwaffen ver- waffen einzusetzen. Auch ein konventio-
handeln, konterkarieren die Atommächte
1945: Bombe werfen, neller Angriff auf Russland, der „die Exis-
die Bemühungen mit der größten militäri- dann Frieden anbieten. tenz des Staates in Gefahr bringt“, könnte
schen Nuklearoffensive seit Jahrzehnten. den Einsatz von Atomwaffen auslösen.
1,2 Billionen Dollar wird allein die US- bis die Welt in Sachen Atomwaffen zur Russland hat eingeräumt, atomfähige
Regierung bis 2050 vermutlich ausgeben, Vernunft kommt.“ „Iskander“-Raketen zeitweilig zu Übungen
um ihre Atomwaffen zu modernisieren. Frieden schaffen mit möglichst fetten in die Enklave Kaliningrad verlegt zu ha-
Auch Russland und China, Indien, Pakistan, Waffen: Diese Logik funktionierte tat- ben. Sie können Ziele im westlichen Polen
Israel, Frankreich, Großbritannien und sächlich über ein halbes Jahrhundert, weil erreichen.
Nordkorea entwerfen neue Bomben, beide Seiten atomare Arsenale aufbauten, Im Februar ließen US-Stellen durch-
Sprengköpfe, Trägersysteme oder Abwehr- deren Einsatz keine Gewinner gekannt sickern, Putin habe zwei Bataillone einer
raketen. hätte. neuen russischen Mittelstreckenwaffe, Kür-
Plötzlich fühlt sich alles wieder so an Doch dieses Kalkül könnte nun aus der zel SSC-8, in Dienst gestellt. Russland be-
wie im Kalten Krieg, als sich in Europa Balance geraten. Kleinere Atomwaffen sol- streitet den Vorwurf. Stimmt die Geschich-
sowjetische SS-20- und amerikanische Per- len entstehen, deren Präzision die Hemm- te, dann hat das Land gegen den Washing-
shing-II-Raketen gegenüberstanden. Meh- schwelle zum atomaren Ersteinsatz sen- toner Vertrag über landgestützte nukleare
rere Zehntausend atomare Sprengsätze ken könnte. Neue Raketenabwehrsysteme, Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) ver-
gleichzeitig waren in den dramatischsten Überschallflugkörper, Pläne für hochprä- stoßen, jenes Abkommen, das 1987 das
Zeiten des Kalten Krieges einsatzbereit. zise konventionelle Langstreckenwaffen Ende des Kalten Krieges einleitete.
Heute sind es zwar nur noch etwa 2000 und Cyberkrieg-Tricks stören das Gleich- Drei U-Boote der neuen „Borei“-Klasse
auf jeder Seite, doch immer noch genug, gewicht des Schreckens. sind einsatzfähig, bestückt mit atomaren
um den gesamten Planeten in wenigen „Als der Kalte Krieg endete, dachten Interkontinentalraketen. Fünf weitere sol-
Stunden in die Steinzeit zurückzubomben wir, dass auch das Wettrüsten verschwin- len folgen. Der Flugzeughersteller Tupolew
(siehe Grafik Seite 113). den würde“, sagt Ivo Daalder, Chef der arbeitet an einem modernen Tarnkappen-
Dabei schien sich die Lage zu entspan- unabhängigen Denkfabrik Chicago Coun- bomber. Ebenfalls neu entwickelt werden
nen. Noch 2009 entwarf der damalige US- cil on Global Affairs und ehemaliger atomare Marschflugkörper, und Inter-
Präsident Barack Obama die Vision einer US-Botschafter bei der Nato, „aber was kontinentalraketen vom Typ „Sarmat“.
„atomwaffenfreien Welt“. Russland und wir in den letzten zwei, drei Jahren se- Letztere sollen bis zu 24 Sprengköpfe
die USA einigten sich 2010 im „New Start“- hen, ist eine fehlende Verantwortung im
Abkommen auf eine Reduzierung ihrer Umgang mit diesen außergewöhnlichen * Test der 37-Kilotonnen-Bombe „Priscilla“ in der Wüste
strategischen Atomwaffen. Waffen.“ von Nevada am 24. Juni 1957.

110 DER SPIEGEL 27 / 2017

 US DEPARTMENT OF ENERGY / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Atombombenexplosion in den USA*

DER SPIEGEL 27 / 2017 111

Wissenschaft

tragen und Raketenabwehrsysteme über- auch neue nukleare Langstreckenmarsch- jüngst zusammen mit Kollegen erstmals
winden können. flugkörper tragen soll. Der kantige Nurflüg- detailliert beschrieben. Es handelt sich um
Schon fürchten die Amerikaner, Putin ler könnte 2025 einsatzbereit sein. ein neues Zündsystem der Amerikaner, Su-
könnte den von Russland ratifizierten Dies alles ist zunächst Teil eines turnus- perzünder genannt, das alternde Atom-
Kernwaffenteststopp-Vertrag von 1996 mäßigen Waffenupgrades, das unter ande- sprengköpfe auf Langstreckenraketen in
ignorieren und die neuesten Sprengköpfe ren Umständen dazu beitragen könnte, die moderne Präzisionswaffen verwandelt.
unterirdisch ausprobieren. Der Vertrag gilt Lage zu stabilisieren. Die perverse Logik Bislang programmierten die US-Waffen-
als eines der wichtigsten Waffenkontroll- der nuklearen Abschreckung funktioniert bauer die Detonation ihrer auf ballisti-
abkommen überhaupt. nämlich nur, wenn alle Kontrahenten schen Raketen montierten Atomspreng-
„Die Russen fliegen Nuklearbomber bis glaubhafte Drohkulissen aufbauen. köpfe auf eine feste Höhe. Nicht berück-
zur Nordsee, ihre U-Boote verlassen Mur- Doch derzeit scheinen die US-Waffen- sichtigt wurde dabei, wie weit die Rakete
mansk, so wie zuletzt während des Kalten konstrukteure im Namen von Sicherheit auf ihrer Flugbahn vom Kurs abkommt.
Krieges“, sagt Ivo Daalder. Der Amerika- und Zuverlässigkeit den Brand eher zu Der neue Zünder nutzt nun Radar, um
ner erkennt eine „neue nukleare Doktrin“ schüren. „Die USA streben eindeutig nach Kursabweichungen zu erkennen, und passt
auf russischer Seite, ein Weltbild, „in dem Waffensystemen, die jenen aller anderen die Detonationshöhe entsprechend an.
atomare Eskalation als Mittel vorkommt, Länder überlegen sind“, sagt Hans Kris- Die Wahrscheinlichkeit, ein Ziel – etwa
Kriege zu führen und zu gewinnen“. tensen, Direktor des Nuclear Information ein feindliches Raketensilo – mit einem
Aber sind die Russen wirklich so aggres- Project, der Vereinigung amerikanischer einzigen 100-Kilotonnen-Sprengkopf zu
siv? Oder reagieren sie nur auf eine verän- Wissenschaftler in Washington. Die Gene- zerstören, erhöhe sich damit auf „fantasti-
derte Lage in Amerika? Schon Obama ord- räle versuchten vor allem, die Flexibilität sche“ 86 Prozent, sagt Kristensen. Der Su-
nete 2010 – entgegen seiner Vision von des Atomarsenals zu erhöhen: „Sie wollen perzünder erlaube eine höhere Zerstö-
einer nuklearlosen Welt – die umfassende die Freiheit haben, einzugreifen, wo und rungswahrscheinlichkeit mit weniger Ge-
Modernisierung des Atomwaffenarsenals wann sie wollen.“ Erhöht das die Gefahr fechtsköpfen. Über 500 der aufgerüsteten
an. Trump jedoch verleiht dem Vorhaben eines Kernwaffeneinsatzes? „Ich glaube Sprengköpfe sollen bereits auf Atom-U-
nun eine andere, aggressivere Note. ja“, sagt der Waffenexperte. Boot-Raketen der Amerikaner und Briten
„Die neue Regierung geht sehr provo- Ein Beispiel für eine technische Neue- installiert sein.
kant vor“, sagt Adam Mount vom Center rung, die das strategische Gleichgewicht Auch die atomare US-Fliegerbombe B61
for American Progress, einem Washing- erheblich stören könnte, hat Kristensen könnte ein neues Wettrüsten einleiten.
toner Thinktank. Der Präsident Etwa 150 Exemplare lagern in eu-
strebe nukleare Überlegenheit an. ropäischen Standorten, rund 20 da-
Den New-Start-Vertrag habe er als von auch auf dem Bundeswehr-
„schlechten Deal“ bezeichnet. Fliegerhorst beim Eifeldörfchen
Und die künftige atomare Ab- Büchel.
schreckung stellt Trump sich „mo- Die B61 wird derzeit für rund
dern, robust, belastbar und maß- zehn Milliarden Dollar zur Ver-
geschneidert“ vor – Vokabeln, die sion B61-12 aufgerüstet. Die ur-
laut Mount im Militärjargon eher sprünglich als Schwerkraftbombe
einsetzbare Kriegswaffen als stra- konzipierte Waffe hat ein neues
tegische Abschreckungswaffen be- Heckleitwerk und wird mit neuer
schreiben. „Russland und China Technik zur Lenkwaffe – und da-
könnten solche Signale als Ankün- mit zu einer mächtigen, hochprä-
digung der USA verstehen, die nu- zisen Vernichtungsmaschine.
klearen Kapazitäten auszubauen Kritiker wie Kristensen sehen in
statt sie nur zu erhalten“, warnt der renovierten B61 daher eine
Experte Mount. Atomwaffe mit völlig verändertem
Tatsächlich prescht das Penta- Profil, die den Unterschied zwi-
gon mit der teuersten Nuklear- schen taktischer Kriegswaffe und
modernisierung seit der Reagan- strategischer Abschreckungsbom-
Regierung voran. Die Firmen be verwischt. Damit verstoßen die
Lockheed Martin, Northrop USA gegen Obamas Versprechen,
Grumman und Boeing bewerben weder ganz neue Atomwaffen
sich derzeit um den Zuschlag für noch solche mit innovativen mili-
den Bau einer neuen Interkonti- tärischen Fähigkeiten zu entwi-
US DEPARTMENT OF ENERGY / SANDIA / SCIENCE PHOTO LIBRARY

nentalrakete, Codename GBSD ckeln.

(Ground Based Strategic Deter-
rent). Die Waffe wird die alte Mi-
nuteman III ersetzen. Das erste
U-Boot der neuen „Columbia“-
Klasse soll 2030 in Dienst gestellt
werden. Es wird ballistische Atom-
raketen tragen und soll besonders
leise sein, um sich besser anschlei-
chen zu können.
Zudem wird ein strategischer
Tarnkappenbomber, Typenbezeich-
nung B-21, entwickelt, der sowohl
Atombomben vom Typ B61 wie
Mit solchen Waffen, klein, prä-
zise und vermeintlich berechen-
bar, beschwören die Militärs ein
Schreckgespenst herauf: die Idee,
dass ein Atomkrieg mit begrenz-
ten Folgen möglich wäre.
„Bomben mit solchen Fähig-
keiten sind destabilisierend“, sagt
Adam Mount. „Sie nähren den Irr-
glauben, dass sich ein Nuklear-
* Im Waffenentwicklungslabor der Sandia
US-Atombombe B61-12*: Glaubhafte Drohkulisse National Laboratories in Albuquerque.

112 DER SPIEGEL 27 / 2017

 20
(höchstens)
davon
einsatz-
N O R D KO R E A
bereit:
1950
6800
U SA

Arsenal davon
des Grauens einsatz-
bereit:
Geschätzte Bestände 1740
an Atomsprengsätzen, 260
2017 CHINA

Waffen
und Trägersysteme
Die Atommächte entwickeln kleinere, präzisere Atomwaffen,
215
die nicht nur strategisch, sondern auch taktisch auf dem Schlacht-
G RO S S B R I TA N N I E N 7000
feld eingesetzt werden könnten. Interkontinentalraketen sollen RUSSL AND
künftig bis zu 24 Gefechtsköpfe tragen, die sich abkoppeln und
selbststeuernd weiterfliegen, teilweise mit mehrfacher Schall-
geschwindigkeit. Manche Mini-Nukes könnten auch in normale
Feldgeschütze passen. Andere Atombomben könnten so optimiert
120
werden, dass sie mit starken elektromagnetischen Pulsen
300
(höchstens)
PAK ISTAN
110
die Stromversorgung ganzer Länder außer Kraft setzen können. (höchstens)
F RA N K R E I C H INDIEN
80
ISRA EL

Raketen-
abwehr
Die Waffenindustrie entwickelt immer präzisere Raketen, die Atomwaffen noch im Flug Cyberkrieg
abfangen können. In Europa sind US-Systeme beispielsweise in Rumänien und ab kommen- Immer wichtiger wird die Störung der
dem Jahr in Polen stationiert. Auch Nato-Schiffe sind mit Raketenabwehrsystemen aus- Steuerungselektronik von Atomwaffen. Hacker
gerüstet. Dennoch zweifeln Experten an der Effektivität solcher Systeme, weil diese zum
Beispiel nicht zwischen Attrappen und echten Gefechtsköpfen unterscheiden können.
Er r o r versuchen, Computerviren in die Systeme des
Gegners einzuschleusen. Das Scheitern einiger
Sogenannte Hyperschallwaffen sollen Abhilfe schaffen. Sie könnten feindliche Raketen Raketentests Nordkoreas wird zum Beispiel auf
noch im Silo zerstören. Allerdings muss deren Position exakt bekannt sein. Cyberattacken aus dem Ausland zurückgeführt.

krieg gewinnen lässt oder dass man Atom-
bomben in einem konventionellen Krieg
als taktische Waffen benutzen könnte.“
US-Experten reden bereits von nuklearen
Marschflugkörpern für Nato-Kampfflug-
zeuge und Mini-Atombomben, die von 155-
Millimeter-Panzerhaubitzen zum Beispiel
aus dem Baltikum verschossen werden
könnten.
Und genau dort, in den Nato-Mitglieds-
ländern Lettland, Litauen und Estland,
könnte sich jenes Drama abspielen, vor
dem es den Sicherheitsexperten am meis-
ten graust. Was geschieht, wenn Russland
ins Baltikum einmarschiert und der Bünd-
nisfall eintritt? Zieht die Nato dann die
atomare Karte? „Das ist unsere größte Sor-
ge“, sagt Mount: „dass ein regionaler Kon-
flikt eskaliert und der Einsatz von Atom-
bomben erwogen wird.“
Die kalifornische Denkfabrik Rand, die
das US-Militär berät, hat 2014 und 2015
eine solche russische Invasion durchge-
spielt. Demnach hätte die Nato zunächst
keine Chance, das Baltikum zu verteidigen.
In 36 bis 60 Stunden würden russische Kräf-
te Tallinn und Riga erreichen.
Wäre in einer solchen Situation ein
Atomschlag sinnvoll, um die Russen in die
Schranken zu weisen? Adam Mount hat
dazu eine Studie mit verschiedenen Sze-
narien durchgeführt. Das Ergebnis: Der
Einsatz von Kernwaffen ergäbe kaum Sinn.
Eine Atombombe über dem besetzten
Gebiet zu zünden treffe vor allem die Zi-
vilbevölkerung des Verbündeten, erläutert
Mount. Ein Schlag über russischem Terri-
torium wiederum berge die Gefahr der
massiven Eskalation.
Selbst wenn die Russen eine kleine Fünf-
Kilotonnen-Atombombe in großer Höhe
explodieren ließen, um ihre Entschlossen-
heit zu untermauern, wäre es vermutlich
vernünftiger, konventionell zu antworten,
um eine weitere nukleare Eskalation zu
verhindern.
„Es gibt in regionalen Konflikten einfach
keine Ziele für Atomwaffen“, sagt Mount.
Daran ändere auch die Modernisierung der
Waffen nichts.
Denn selbst eine kleine, präzise Kern-
waffe bleibt eine Kernwaffe. Und es ist
wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, wie
Atombomben wirken.
Die derzeit gängige russische Interkonti-
nentalrakete SS-25 beispielsweise hat bis zu
800 Kilotonnen Sprengkraft und ist damit
53-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe.
Was so eine Waffe anrichten kann, lässt
sich auf der Internetseite von Nukemap
simulieren (https://nuclearsecrecy.com/
nukemap/). Würde eine SS-25 in einer
Höhe von einem Kilometer über dem
Brandenburger Tor in Berlin explodieren,
wären 520 000 Menschen sofort tot und
weitere 950 000 schwer verletzt. Der Feuer-
ball der Detonation hätte einen Durchmes-
ser von knapp 2,5 Kilometern.
Noch in zwei Kilometer Entfernung vom
100 Meter tiefen Bombenkrater wäre die
Strahlung tödlich. Zwischen Charlotten-
burg und Friedrichshain stünde kein Haus
DER SPIEGEL 27 / 2017 113
Wissenschaft

mehr. Vom Grunewald im Westen bis Mar- Und unter dem Codenamen „Objekt Dabei würde die weitere Begrenzung
zahn im Osten würden die Menschen Ver- 4202“ tüfteln die Russen an einer soge- der Nuklearwaffen den USA nur Vorteile
brennungen dritten Grades erleiden. 11 nannten Hyperschallwaffe. Die selbstflie- bringen, sagt Adam Mount. „Das jetzige
Krankenhäuser wären zerstört, 40 Feuer- genden Gefechtsköpfe sollen mehrfache Atomarsenal der USA reicht völlig aus, um
wehrstationen und 779 Schulen, Kitas und Schallgeschwindigkeit erreichen und damit uns und unsere Verbündeten zu verteidi-
andere Bildungseinrichtungen. jede Raketenabwehr überwinden können. gen. Wir sollten minimale Abschreckung
Muss sich die Welt nun darauf einstel- Auch Chinas Militär, befehligt von Prä- und gegenseitige Verwundbarkeit mit Chi-
len, dass solches Grauen wieder ernsthaft sident Xi Jinping, testet eine solche Waffe, na und Russland anstreben.“ Alles andere
erwogen wird, als probates Mittel der Kürzel DF-ZF. Die Amerikaner entwickeln sei zudem viel zu teuer.
Kriegführung? Männer wie Donald Trump für 2,4 Milliarden Dollar die AHW: Diese „Ich sehe eine wichtige Rolle für die
oder Kim Jong Un nähren die Sorge, dass tödlichen Flugobjekte sollen auf ballisti- nichtnuklearen Länder“, ergänzt Hans
Entscheidungen über Atomwaffeneinsätze schen Raketen im Dutzend in den Himmel Kristensen. „Sie müssen darauf drängen,
künftig impulsiv oder gar irrational ge- reiten, sich dort selbstständig machen und Atomwaffen zu ächten.“ Bei dem derzei-
troffen werden könnten. Wladimir Putin dann blitzschnell ins Ziel preschen. tigen Treffen der Vereinten Nationen in
gilt im Vergleich dazu zwar als rationaler Schon die schiere Wucht einer solchen New York verhandeln die Vertreter von
Politiker. Bei ihm jedoch sitzt die Angst Waffe würde ausreichen, ein feindliches über 130 der 193 Uno-Mitgliedstaaten ge-
vor einer technischen Überlegenheit der Raketensilo zu zerstören. Die USA arbei- nau dieses Thema. Die Atomwaffenmächte
USA tief. ten deshalb bislang nur an konventionellen sitzen allerdings nicht mit am Tisch. Auch
Die Modernisierung der Atomwaffen Hyperschallwaffen. Chinesen und Russen, Deutschland und die meisten anderen
schüre eine „alte russische Paranoia“, sagt so berichten Geheimdienstquellen, wollen Nato-Länder halten sich fern.
Otfried Nassauer vom Berliner Informa- ihre Blitzgeschosse womöglich auch mit Dabei könnte Europa mit gutem Bei-
tionszentrum für Transatlantische Sicher- Nuklearsprengköpfen ausstatten. spiel vorangehen. Der Russlandexperte Pa-
heit: Die Amerikaner könnten insgeheim vel Podvig vom Abrüstungsforschungs-
versuchen, sich die Fähigkeiten für einen
atomaren Erstschlag anzueignen, um Russ-
Nach einem Fehlalarm institut der Uno in Genf schlägt vor, alle
in Europa stationierten nichtstrategischen
land zu entwaffnen. blieb der Gegenschlag Nuklearsprengsätze wie etwa die ameri-
Tatsächlich sind die USA den anderen aus – wegen des veralte- kanischen B61-Bomben oder vergleichbare
Atommächten derzeit weit voraus, vor al- russische Waffen in Bunkern abseits ihrer
lem bei der Zielgenauigkeit und Verläss- ten Computersystems. Einsatzorte einzulagern. Waffeninspekteu-
lichkeit der Waffen sowie bei der militäri- re könnten überprüfen, ob es dabei bleibt.
schen Aufklärung. „Prompt Global Strike Weapons“ wer- „Wir müssen unter allen Umständen aus-
Raketenabwehrsysteme verstärken geg- den solche Vernichtungsmaschinen ge- schließen, dass Atomwaffen in einem euro-
nerische Ängste. Im Mai vergangenen Jah- nannt: Sie könnten jeden Ort der Welt ziel- päischen Konflikt eingesetzt werden“, sagt
res eröffnete die Nato eine Anti-Raketen- genau erreichen. Eine Abwehr ist bislang Podvig. Die Waffen aus dem Verkehr zu zie-
Basis im südlichen Rumänien. Eine weitere unmöglich. hen verringere darüber hinaus die Gefahr,
Anlage ist im polnischen Redzikowo in Was also ist zu tun, um einen neuen ato- dass sie aus Versehen gezündet werden.
Bau. Dazu kommen US-Kriegsschiffe im maren Rüstungswettlauf aufzuhalten? Kann Den gleichen Effekt soll auch das Up-
Mittelmeer, die mit sogenannten Aegis-Sys- man ihn überhaupt noch aufhalten? Donald date des Pentagon-Computersystems ha-
temen zur Raketenabwehr ausgerüstet sind. Trumps Tweets jedenfalls sind eher dazu ben, das die Betriebssteuerung der ameri-
Die Nato weist darauf hin, dass diese angetan, die Situation zu eskalieren. Er sei kanischen Interkontinentalraketen über-
Systeme nicht gegen Russland gerichtet „darauf eingestellt“, Japan und Südkorea wacht. Allerdings warnen Experten auch
sind. Moskau sieht dennoch das nukleare die Entwicklung eigener Atomwaffen zuzu- hier vor übertriebener Modernisierung.
Gleichgewicht gefährdet. Sobald eine Par- billigen, sagte er schon im Wahlkampf. Was 1979 und 1980 zum Beispiel löste das
tei die Raketen der Gegenseite noch in den wie ein Zugeständnis klingt, ist der Versuch, North American Air Defense Command
Silos zerstören oder effektiv abfangen sich aus der Verantwortung zu stehlen. Die der USA Fehlalarm wegen eines vermeint-
kann, ist die Logik der sogenannten gegen- Folge nämlich wäre die Weiterverbreitung lichen Atomwaffenangriffs der Sowjets aus.
seitig zugesicherten Zerstörung (mutual von Atomwaffen – ein Verstoß gegen den Ein US-Gegenschlag blieb bekanntlich aus
assured destruction, MAD) außer Kraft ge- Atomwaffensperrvertrag und eine Katastro- – was der britische Sicherheitsexperte An-
setzt. Auch neue Cyberkrieg-Methoden phe für die globale Sicherheit. drew Futter auf das veraltete Computer-
könnten diesen Effekt haben. In der Nato beginnt derweil eine neue system zurückführt. „Die Operatoren
„Bei den Russen spielt die Frage eine Diskussion über Kernwaffen. Jarosław konnten den Fehler schnell finden, weil
zentrale Rolle, ob sie nach einem Angriff Kaczyński, Führer der polnischen Konser- sie das System verstanden“, sagt er.
der USA noch genug Waffen übrig hätten, vativen, wünschte sich kürzlich Europa als Eine neue, vollständig digitalisierte Kom-
um zurückschlagen zu können“, sagt Nas- „atomare Supermacht“. Gespeist wird die- mandoapparatur, fürchtet Futter, werde sich
sauer. Wladimir Putin drückte sein Unbe- se Großmachtsvision von der Angst, den weitaus trickreicher gestalten. Bei komple-
hagen über das Nukleararsenal 2.0 im ver- Schutzschild der USA zu verlieren. Ein xen Systemen, vor allem bei jenen, die nie
gangenen Jahr vor Journalisten so aus: unberechenbarer Donald Trump bringt da- vollständig getestet werden können, sei die
„Eure Leute haben kein Gespür für die dro- mit auch Europas Sicherheitspolitik ins Gefahr der Fehlfunktion besonders groß.
hende Gefahr“, sagte er in Bezug auf die Schlingern. „Mehr Technologie schafft nicht auto-
USA und ihre Alliierten. „Das ist es, was Experten drängen deshalb darauf, dass matisch eine sicherere Welt“, sagt Futter.
mir Sorgen macht.“ Trump das Säbelrasseln einstellt und wie Philip Bethge
Und so dreht der Kremlchef die Rüs- sein Vorgänger auf Rüstungskontrolle setzt. Mail: philip.bethge@spiegel.de
tungsspirale weiter. Putins Marine entwi- Kremlchef Putin hat vorgeschlagen, den
ckelt russischen Medienberichten zufolge New-Start-Vertrag bis 2026 zu verlängern. Video:
eine Unterseedrohne, die vor feindlichen „Es wäre dumm von Trump, dieses Ange- Die Ära der Atombombe
Küstenstädten detonieren und diese in ra- bot nicht anzunehmen“, sagt Nassauer. spiegel.de/sp272017kernwaffen
dioaktive Wolken hüllen soll. Doch der US-Präsident zögert. oder in der App DER SPIEGEL

114 DER SPIEGEL 27 / 2017

Kopf im Topf
Kannibalismus Ein US-Zoologe
hat die befremdlichste Form der
Nahrungsbeschaffung untersucht:
Warum verspeisen selbst Men-
schen manchmal Artgenossen?
D
er widerwärtigste Mensch aller Zei-
ten lebte womöglich in einem Kaff
in Wisconsin. Dort hauste einst in
der Mitte des vergangenen Jahrhunderts
Ed Gein auf einer heruntergekommenen
Farm, weidete die Körper von Frauen aus
und legte das Herz eines seiner Opfer in
die Pfanne.
Vielleicht gebührt der zweifelhafte Titel
aber auch Andrej Tschikatilo aus Rostow,
der in Russland mindestens 52 Menschen
ermordete und anschließend auf der einen
oder anderen Zunge oder Brustwarze
herumkaute.
Oder ist der Kannibale von Rotenburg
der schlimmste von allen? Armin Meiwes
schnitt im Jahr 2001 seinem Opfer erst den
Penis ab. Dann fiel er über dessen rest-
lichen Körper her wie über Schlachtvieh.
Wenn es überhaupt möglich ist, dem ver-
störenden Menschenschlag der Kannibalen
aus wissenschaftlicher Sicht gerecht zu
werden, dann ist der US-Zoologe Bill
Schutt vermutlich der richtige Mann für
diese Aufgabe. Der Biologieprofessor von
der Long Island University im US-Bundes-
staat New York pflegt einen ebenso heite-
ren wie vorurteilsfreien Blick auf die Nei-
gung, Artgenossen zu verspeisen.
„Aus evolutionärer Sicht ergibt Kanni-
balismus einen perfekten Sinn“, behauptet
der Forscher in seinem neuen Buch*. Al-
lerlei drängende Probleme wie Überbevöl-
kerung und Nahrungsmangel ließen sich
mit dieser drastischen Maßnahme bestens
bekämpfen.
Schutt hatte das befremdliche Verhalten
zuvor überwiegend im Tierreich studiert.
Sandtigerhaie etwa werden schon vor der
Geburt zu Killern; noch im Mutterleib fällt
der am weitesten entwickelte Embryo über
seine kleineren Geschwister her, um in der
Gebärmutter Platz zu schaffen. Lässt sich
diese rohe Form des Daseinskampfes tat-
sächlich auf den Menschen übertragen?
Schutt stellte im Zuge seiner Recherchen
fest, dass die Geins und Tschikatilos dieser
Welt als Menschenfresser wenig repräsen-
tativ sind: seelisch schwer gestörte Serien-
täter, die ein pathologischer Vernichtungs-
wille umtreibt. Bei Urvölkern indes, die kol-
lektiv dem Kannibalismus frönen, landen
* Bill Schutt: „Cannibalism: A Perfectly Natural History“.
Algonquin Books; 352 Seiten.
Darstellung brasilianischer Ureinwohner, 1592: Oberschenkel mit Reisbrei
entgegen dem Klischee selten Köpfe im
Kochtopf.
Das Volk der Wari’ etwa pflegte der
Überlieferung zufolge im brasilianischen
Urwald über Generationen ein kurioses
Bestattungsritual: Um den Trauerschmerz
zu bewältigen, kauten die Eingeborenen
Körperteile und aufgeweichte Knochen,
die in Honig eingelegt waren – Überreste
von Verstorbenen. Doch stimmt diese Le-
gende überhaupt?
Der Anthropologe William Arens hatte
schon Ende der Siebzigerjahre einen auf-
fälligen Mangel in der Kannibalismus-
forschung beklagt: Ethnologen seien von
ihren Reisen zu diversen Urvölkern zwar
regelmäßig mit schaurigen Schilderungen
über Mahlzeiten aus Menschenfleisch zu-
rückgekehrt; kaum ein Feldforscher habe
aber je wirklich ein Stammesmitglied zu
Gesicht bekommen, das leibhaftig am
Schenkel eines Artgenossen nagte.
Der historischen Forschung halten auch
Christoph Kolumbus’ Schilderungen kan-
nibalischer Umtriebe auf den Antillen
nicht stand: Der Entdecker hatte beschrie-
ben, wie die Ureinwohner der von ihm
ausfindig gemachten karibischen Inseln die
Gliedmaßen von Stammesfeinden grillten.
Vermutlich hatte der Entdecker stark über-
trieben, um die Einheimischen unter dem
Vorwand unchristlicher Umtriebe verskla-
ven zu können.
Auch Bill Schutt hat kein Volk aufge-
spürt, bei dem noch Menschenfleisch auf
dem Speiseplan steht. Allerdings sei jener
Teil der Welt, der einst nicht unter dem
Einfluss der westlichen Hemisphäre stand,
deutlich weniger zimperlich im Umgang
mit dieser Ressource.
Darstellungen aus dem konfuzianisch
geprägten China weisen auf eine irritieren-
INTERFOTO
de Form der Selbstopferung hin. „Jüngere
Angehörige boten den Älteren dabei zu
deren Wohlbefinden Teile ihres eigenen
Körpers dar“, berichtet Schutt.
„Der Oberschenkel war der am häufigs-
ten verzehrte Körperteil, gefolgt vom
Oberarm. Beides wurde mit einem Reis-
brei namens Congee serviert“, schildert
der Wissenschaftler.
Eine weit grausigere Variante des Kan-
nibalismus kennt jedoch keine Landes-
grenzen: Es sind Begebenheiten, in denen
Menschen halb verrückt vor Hunger über
ihresgleichen herfallen. Schutt untersuchte
den historischen Fall eines solchen Gemet-
zels in den Vereinigten Staaten, bei dem
sich das Verhängnis beinahe wie in einer
schrecklichen Laboranordnung vollzog.
Auf der Suche nach einer Abkürzung
ins sonnige Kalifornien war 1846 eine
Gruppe von mehr als 80 Siedlern in den
Bergen der Sierra Nevada gestrandet. Ein
früher Wintereinbruch hatte die Reisegrup-
pe überrascht. Orientierungslos irrten die
Siedler in dem schneebedeckten Gebirge
umher. Nachdem sämtliche Lasttiere und
Haushunde geschlachtet worden waren,
zerkauten die eingeschneiten Mitglieder
des Trecks sogar ihre Schuhe.
Eine andere Kost ließ etwa die Hälfte
der sogenannten Donner-Party überleben:
Die Verzweifelten verspeisten die Leichen
jener Mitreisenden, die vor Erschöpfung
gestorben waren.
Autor Schutt erkennt in dem Horrortrip
der Siedler ein frühes Fanal. Er warnt vor
künftigen „Ausbrüchen eines weitgestreu-
ten Kannibalismus“, ausgelöst durch vom
Klimawandel verursachte Naturkatastro-
phen und Nahrungsknappheit.
Dann dürften sich selbst Veganer hin-
reißen lassen. Frank Thadeusz
DER SPIEGEL 27 / 2017 115

Genetikerin Hoekstra, Mitarbeiterin bei Feldforschung in Florida: „Ich kann der Evolution bei der Arbeit zuschauen“
Grammatik des Buddelns
Biologie Forscher sind dabei zu entschlüsseln, wie Gene Tunnelbau und Brutpflege von Mäusen
steuern – sogar das Graben von Notausgängen ist im Erbgut festgelegt.
J
ahrelang haben sie am evolutionsbio-
logischen Institut der Harvard-Univer-
sität Würste vermessen. Dreckige, un-
förmige Schaumstoffwürste. Die Gebilde
sollten den Forschern dabei helfen heraus-
zufinden, was es mit dem Notausgang von
Mäusenestern auf sich hat.
Hopi Hoekstra greift in einen großen
Kasten aus Plexiglas, der bis oben hin ge-
füllt ist mit diesen Montageschaumwürs-
ten: „Hier, die ist von einer Hirschmaus“,
sagt die Genforscherin. „Und diese“, fährt
sie fort und hält diesmal ein längeres, in
der Mitte geknicktes Objekt hoch, „die
stammt von einer Küstenmaus.“
Bei den schmutzig-weißen Schaumstoff-
würsten, die Hoekstra in der Hand hält,
handelt es sich um die Abgüsse von Mäuse-
bauen. Vielhundertfach haben Hoekstra
und ihre Mitarbeiter Kisten mit Sand
gefüllt, Mäuse darin ausgesetzt und diese
drauflosbuddeln lassen. Morgens fingen
die Wissenschaftler die Tiere dann ein,
schäumten ihre über Nacht angelegten
Baue aus und legten die Abgüsse frei.
116 DER SPIEGEL 27 / 2017
Durch diese Experimente konnten die
Forscher zeigen, dass das Grabungsverhal-
ten der Nager genetisch determiniert ist.
Jede Art hat offenbar einen festen Bauplan
im Kopf: Hirschmäuse legen schlichte,
rund acht Zentimeter lange Gänge an. Küs-
tenmäuse hingegen buddeln doppelt so
lange Tunnel – und mehr noch: Am Ende
versehen sie ihre Nestkammer an der
Rückwand stets mit einem Notausgang.
Hoekstra wollte wissen, wie das möglich
ist: Wie gelingt es Genen, das Verhalten
von Tieren so präzise zu steuern? Wie
kann ein langes, schraubenförmiges DNA-
Molekül einer Maus befehlen, einen Tun-
nel zu graben? Wie ihr verraten, wo sie ei-
nen Notausgang anzulegen hat? Und wie
schließlich ihr mitteilen, wann das Bau-
werk fertig ist?
Noch kennen die Forscher nicht alle Ant-
worten auf diese Fragen. Doch immerhin
ist es ihnen gelungen, jene Regionen im
Erbgut einzukreisen, in denen der Tunnel-
bauplan sitzt. Sie kreuzten dazu Mäuse
beider Arten und studierten dann die Baue
LYNN JOHNSON
der Hybriden. Hoekstra fasst die Ergeb-
nisse so zusammen: „Drei DNA-Abschnitte
auf den Chromosomen 1, 2 und 20 steuern
die Länge des Eingangstunnels.“ Vor allem
aber fasziniere sie die Region am Ende
von Chromosom 5: „Irgendwo dort ist das
Gen für den Fluchttunnel versteckt.“
Zu gern würde Hoekstra auch verstehen,
wie genau ein solches Gen seine Wirkung
ausübt. Bisher kann sie nur spekulieren:
Sorgt es vielleicht für die Ausschüttung von
Hormonen, die in den Tieren unvermittelt
Lust aufs Buddeln wecken? Oder legt es
die Verdrahtung der Nervenzellen in ir-
gendeinem Tunnelbauzentrum des Ge-
hirns fest?
Zuvor hatte sich Genforscherin Hoeks-
tra mit einer Frage befasst, die wesentlich
leichter zu beantworten war: Sie unter-
suchte die Fellfarbe der Mäuse. Jene Popu-
lationen nämlich, die ihre Nester in Fel-
dern anlegen, sind schmutzig-braun ge-
färbt. Auffallend hell dagegen ist das Fell
ihrer Vettern, die in Dünenlandschaften
heimisch sind. Hoekstra spürte die Schalter

im Erbgut auf, die von der Evolution um-
gelegt werden, wenn die Tiere ihren Le-
bensraum wechseln. Und sie konnte nach-
weisen, dass die blonde Farbe die Dünen-
bewohner tatsächlich vor den Blicken der
Greifvögel schützt.
Die unterschiedlichen Fellfarben den da-
für verantwortlichen Genen zuzuordnen
war vergleichsweise einfach: Die Forsche-
rin wusste, dass sie nach Pigmentgenen in
der Haut der Tiere suchen musste, und sie
hatte es mit einem einfachen Erbgang zu
tun. Um wie viel vertrackter dagegen ist
die Genetik komplexer Verhaltensweisen?
Beim Tunnelbau war zunächst vollkom-
men offen, welche Art von Genen zustän-
dig ist und in welcher Hirnregion sie wohl
aktiv werden. Vieles spricht zudem dafür,
dass am Verhalten recht viele Gene betei-
ligt sind.
Anders als viele Kollegen beschloss
Hoekstra, das Problem nicht anhand von
Labormäusen anzugehen. Sie studiert lie-
ber Wildtiere. Indem sie Verhaltensweisen
eng verwandter Spezies untersucht, hofft
die Forscherin, besser nachvollziehen zu
können, wie sich diese entwickelt haben.
„Ich kann so der Evolution bei der Arbeit
zusehen“, sagt sie. Mit dem Bau von
Fluchttunneln zum Beispiel hätten die Küs-
tenmäuse vermutlich erst begonnen, als
sie in einen Lebensraum vordrangen, in
dem es viele Schlangen gibt.
Auf den ersten Blick ähneln sich die bei-
den Schwesternarten Hirsch- und Küsten-
maus so sehr, dass der Laie sie nur anhand
der Etiketten unterscheiden kann, die vor
den Käfigen hängen: „Peromyscus mani-
culatus“ steht auf dem einen Schild, „Pe-
romyscus polionotus“ auf dem anderen.
Die Artunterschiede treten erst zutage,
wenn man das Verhalten der Tiere beob-
achtet. Sie buddeln nicht nur verschiedene
Nester. Hischmäuse, die sich gern im Wald-
laub verstecken, sind auch ängstlicher als
ihre Vettern, nur ungern wagen sie sich
auf offenes Terrain. Dafür können sie bes-
ser klettern.
Am deutlichsten aber zeigen sich die
Unterschiede bei der Brutpflege: Bei den
Küstenmäusen bilden Männchen und
Weibchen monogame Paare, die gemein-
sam die Nachkommen umhegen. Hirsch-
mausmännchen dagegen sind schlechte
Väter: Sie nehmen jede sich bietende Ge-
legenheit zur Paarung wahr und überlas-
sen die Pflege den Weibchen.
All diese Verhaltensweisen habe die Evo-
lution diesen Tieren ins Erbgut geschrieben,
sagt Hoekstra. Sie ist überzeugt davon, dass
die Natur dabei eine Art Grammatik ver-
wendet, und diese versucht die Forscherin
mit ihrem Team zu entschlüsseln.
„Natürlich ist die Pflege von Jungen
noch komplexer als das Graben von Tun-
neln“, sagt Hoekstras Mitarbeiter Andrés
Bendesky. Dann zieht er einen der Käfige
aus dem Regal, in dem sich ein Küsten-
mauspärchen eine gemütliche Nestkam-
mer eingerichtet hat. Verwendet haben sie
dazu Baumwollfasern, die Bendesky ihnen
in den Käfig gelegt hatte. „Auch das tun
sie unter der Regie ihrer Gene“, sagt er.
Vermutlich kennt sich niemand so gut
mit dem Nestkammerbau der Küstenmäu-
se aus wie Bendesky. Die vergangenen Jah-
re hat er damit verbracht, die Tiere mit
Hirschmäusen zu kreuzen; akribisch hat
er die Baukünste der Nachkommen dann
bewertet. Insgesamt 769 Hybridmäusen
hat er eine vorgegebene Menge Nestbau-
material angeboten und dann Noten ver-
geben für das, was sie im Laufe einer
Nacht daraus machten: „1“ heißt so viel
wie „mangelhaft“ – diese Note erhielten
Mäuse, die die angebotenen Fasern nur
wahllos im Käfig verstreut hatten. Die
Bestnote „4“ bekamen Tiere, die eine be-
zugsfertige Kammer gebaut hatten.
Ähnlich ging er bei der Einstufung der
Brutpflege vor. Als die Jungen geboren
waren, hat Bendesky minutiös protokol-
NICOLE BEDFORD
Küstenmaus
Elternliebe auf Chromosom 2
liert, wie häufig Vater und Mutter sie ab-
leckten, knuddelten – und ob sie die Jun-
gen ins Nest zurücktrugen, wenn diese da-
nebenlagen. Endlose Zahlenreihen hat der
Forscher auf diese Weise erstellt, die er
dann versuchte, mit genetischen Daten zu
korrelieren.
Insgesamt zwölf Orte im Erbgut konn-
ten Bendesky und seine Kollegen schließ-
lich lokalisieren, an denen Gene für die
Elternliebe der Küstenmäuse verborgen
liegen. Und wie schon beim Tunnelbau, so
ließen sich auch hier verschiedene Funk-
tionen unterscheiden: Auf Chromosom 2
etwa machte der Genetiker eine Region
dingfest, die eine Rolle beim Zurücktragen
der Jungen ins Nest zu spielen scheint.
Chromosom 9 beherbergt einen für den
Nestbau zuständigen DNA-Abschnitt.
Acht der zwölf identifizierten Regionen
haben auf Männchen und Weibchen unter-
schiedliche Wirkungen. „Das Brutpflege-
Wissenschaft
verhalten der beiden Geschlechter wird
also unabhängig voneinander gesteuert“,
folgert Bendesky.
Besonders genau hat er einen Abschnitt
des Chromosoms 4 ins Visier genommen,
wo er eine am Bau der Nestkammer betei-
ligte DNA-Region verorten konnte. Genau
an dieser Stelle findet sich auch das Gen
für Vasopressin, ein Hormon, von dem
schon seit Längerem vermutet wird, dass
es eine Schlüsselrolle im Sozialverhalten
spielt. Chemisch ist es ein enger Verwand-
ter des Bindungshormons Oxytocin.
Diesen Zusammenhang will Bendesky
genauer untersuchen, wenn er demnächst
an die Columbia-Universität in New York
wechselt. Dort wird er am Institut für Hirn-
forschung ergründen, wie Gene das Schalt-
werk der Nervenzellen beeinflussen. Auf
diese Weise hofft er die Lücke zu schließen,
die immer noch zwischen der Verhaltens-
genetik und der Neurobiologie klafft.
Seine Mentorin Hoekstra richtet derweil
in ihrem Institutskeller eine Art Fitness-
parcours für ihre Mäuse ein. Dort sollen
die Tiere über Abgründe springen, vor
greifvogelartigen Schatten flüchten oder
sich aus dem Schutz ihres Käfigs auf eine
erleuchtete Fläche vorwagen. All das sind
Verhaltensweisen, bei denen es große Un-
terschiede zwischen Hirsch- und Küsten-
mäusen gibt; die Ursache dafür hofft
Hoekstra in den Genen zu finden.
Ihre Mitarbeiterin Caroline Hu studiert
die Mäuse in einer speziellen Art von Bud-
delkiste: Zwischen zwei Plexiglaswänden
ist Sand aufgeschüttet. Wenn die Mäuse
hier graben, können die Forscher ihnen
bei der Arbeit zusehen. Das Labor ist
währenddessen in Rotlicht getaucht. Das
täuscht die Nager, denn sie sind fast blind
für Rot. Sie wähnen sich deshalb in Fins-
ternis.
Der Versuchsaufbau erlaubt es den Ver-
haltensforschern, nicht nur den fertigge-
stellten Tunnel, sondern auch dessen Bau
genau zu untersuchen: Wie lange brauchen
die Tiere, bis das Nest fertig ist? Wie rea-
gieren sie, wenn sie bereits halb fertige
Tunnel vorfinden? Und warum erweitern
trächtige Weibchen die Eingangstunnel?
Das Ziel der Forscher besteht darin, den
Grabungsvorgang in immer kleinere
Verhaltensmodule zu zerlegen und die
genetischen Programme dafür im Detail
zu verstehen. Irgendwann, sagt Hu, erlau-
be das dann auch Rückschlüsse auf den
Menschen.
Natürlich, räumt sie ein, Menschen
graben keine Baue. Für jede Spezies ent-
wickle die Evolution eben spezifische Ver-
haltensprogramme. Welches dieser Pro-
gramme sie beim Menschen interessieren
würde? Vorsichtig, weil sie weiß, dass dies
ein kühner Gedanke ist, antwortet Hu:
„Vielleicht die Sprache?“ Johann Grolle
Mail: johann.grolle@spiegel.de
DER SPIEGEL 27 / 2017 117
 Kunst
Frau im Blick
Die gebürtige Iranerin Shirin
Neshat, 60, gehört mit ihren
eindrücklichen Fotos und Fil-
men zu den großen Namen
der Gegenwart und längst
auch in der des anspruchsvol-
len Kinos. In der Kunsthalle
Tübingen eröffnet sie nun
eine große Ausstellung – eine
Sensation und eine eher selte-
ne Gelegenheit für das deut-
sche Publikum, sich ihrem
Werk zu nähern. Mehr als
zehn Jahre ist es her, seit ihr
hierzulande, damals in Ber-
lin, eine ähnlich umfassende
Schau gewidmet wurde. Nes-
hat war mit 17 Jahren in die
USA ausgewandert, noch vor
der iranischen Revolution
von 1979, bei einem späteren
Besuch in ihrer alten Heimat
war sie bestürzt über die Ein-
schränkungen, die Frauen
hinzunehmen hatten. Ihren
Schock darüber verarbeitete
sie in den Neunzigerjahren in

SHIRIN NESHAT, COURTESY GLADSTONE GALLERY, NEW YORK UND BRÜSSEL

ihrer fotografischen Serie
„Frauen Allahs“. Ihre präg-
nante, für sie so typische Äs-
thetik: weibliche Körper im
Tschador, mit persischen Ver-
sen beschriftete Gesichter
oder Hände, Pistolenläufe
zwischen den Füßen. 1998
drehte sie einen kurzen Film:
Ein Mann singt vor männli-
chem Publikum, eine Frau
vor leeren Rängen. Die Rolle
der Frauen, auch im Exil,
blieb ihr Thema. „Frauen in
Gesellschaft“ heißt ihre Prä-
sentation in Tübingen. uk Neshat-Werk „Allegiance with Wakefulness“, 1994

Biografien
Gruß aus dem Wald
Okay, Waldameisen, Biber,
Streifenhörnchen! Ihr könnt
euch schon mal langsam be-
reitmachen für die große Fei-
er des Wald- und
Tierverstehers von
einst. Der 200. Ge-
burtstag von H. D.
Thoreau steht kurz
bevor. Der Naturphi-
losoph kam am
12. Juli 1817 in Con-
cord, Massachusetts,
auf die Welt, zog
1845 in eine selbst gezimmer- vater unserer Landlust- sperren und rief zum Unge-
te Blockhütte am Waldensee. epoche, in der Hunderttau- horsam gegen den Staat auf.
Er schaute, schrieb und jagte, sende Leser dem geheimen Doch „Gutes zu tun“ war
und einmal pro Woche kam Leben der Bäume nachspü- ihm verdächtig. „Wenn ich
seine Mutter mit einem Fress- ren wollen. Frank Schäfer hat sicher wüsste, dass jemand in
korb zu Besuch. Sein Buch jetzt eine schöne Biografie mein Haus käme, mit der
„Walden“, das er über seine über ihn geschrieben: Henry festen Absicht, mir Gutes zu
Zeit am See schrieb, David Thoreau. Waldgänger und tun, würde ich um mein
ist ein Aussteiger- Rebell (Suhrkamp; 252 Seiten; Leben laufen“, schrieb er.
klassiker. Heute ist 16,95 Euro). Er, der Weise aus Die Weisheit und die Wider-
„Walden“ auch der dem Wald, ging uns voraus, standskraft ist nur in dir
Name eines deut- Freund der Tiere, Baumver- selbst: „Ich hätte ,Amok‘ ge-
schen Männermaga- steher. Aber auch ein Kämp- gen die Gesellschaft laufen
zins, das den Unter- fer. Aus Protest gegen können; aber lieber sollte die
titel „Abenteuer vor die Sklaverei weigerte er sich, Gesellschaft gegen mich
der Haustür“ trägt. Steuern zu zahlen, ließ sich ,Amok‘ laufen, sie war doch
Thoreau ist der Ur- für eine Nacht ins Gefängnis die verzweifelte Partei.“ vw

118 DER SPIEGEL 27 / 2017


Burgtheater-Nachfolge SPIEGEL: Können Sie gut mit
„Besser, vielfältiger“ Geld umgehen? Das Burg-
theater machte Schlagzeilen
mit einem Finanzskandal.
BERNHARD HUBER / LAIF
Kušej: Mein privates Konto ist
ausgeglichen; im Residenz-
theater generieren wir
seit Jahren Gewinne – doch,
ich denke, dass ich besonnen
und verantwortungsbewusst
Im Sommer 2019 wird Martin mit dem mir anvertrauten
Kušej, 56, der das Münchner Geld umgehen kann.
Residenztheater leitet, Direktor SPIEGEL: Haben Sie schon in-
des Wiener Burgtheaters. haltliche Pläne?
Kušej: Ein großes Thema ist
SPIEGEL: Warum Wien statt unsere immer stärker digitali-
München? sierte Gesellschaft, der ich das
Kušej: Das ist keine Frage des analoge Modell des Theaters
Vergleichens, sondern der entgegenstellen möchte. Und
Entwicklung. Es wird nicht dann ist da die unleugbare
leicht, das Residenztheater Tatsache einer multikulturel-
und das Münchner Publikum len Gesellschaft. Die Natio-
zu verlassen, aber am Burg- nalisten können noch so kra-
theater habe ich die Chance, keelen: Wien ist eine moder-
ein traditionsreiches, gutes ne Großstadt in Europa und
Theater noch besser zu kann nicht mehr von einer
machen. Außerdem bin ich singulären Kultur und Spra-
nun mal Österreicher. che aus betrachtet werden. tob
Castorf-Abschied sow“-Vorstellung der Schrift-
Rad ab zug „Ost“ vom Dach der
Volksbühne entfernt. Damit
Seit zwei Jahren war die Rede war weit in die Stadt hinein
davon, nun ist es tatsächlich sichtbar, dass das Theater
so weit: Die letzte Vorstel- fortan ein anderes sein wird.
lung, das letzte Fest, Frank Der Ost-Geist verschwindet
Castorfs Ära an der Berliner endgültig. Im Laufe der ver-
Volksbühne geht zu Ende. gangenen Woche wurde da-
Sie dauerte 25 Jahre, das mit begonnen, das legendäre
klingt nach einer langen Zeit, „Räuberrad“ zu demontieren,
doch Castorfs Intendanz das auf dem Platz vor der
glich in ihrer Dynamik seinen Volksbühne steht. Es soll mit
besten Inszenierungen: Im- der Theatertruppe zu einem
mer wenn man dachte, jetzt letzten Gastspiel nach Avi-
wird’s langweilig, passierte gnon reisen. Vorher aber, am
etwas Unerwartetes. Und 1. Juli, gibt es zum Abschied
auch das Ende gerät zur gro- ein Straßenfest. Dann ist
ßen Performance. Am vergan- Schluss. Harter Schnitt. An-
genen Samstag schon wurde ders ist dieser Abschied nicht
während der „Brüder Karama- denkbar. clv
PHOTOLIBRARY / GETTY IMAGES
Räuberrad vor der Volksbühne
Kultur
Nils Minkmar Zur Zeit
Wie es sich gehört
In diesem Restaurant, dessen Namen ich
nicht nennen soll, werden die Speisen
mit großer Ernsthaftigkeit durchdacht.
Es gibt zwar im Wesentlichen nur Bur-
ger und Pommes, dies aber auf eine
etwas nerdhafte Art. Im Frühjahr wur-
de der Durchmesser der hausgemach-
ten, sehr dünnen Pommes minimal ver-
größert – so sollte verhindert werden, dass
sie zu schnell erkalten. Aber würde der besondere Ge-
schmack auch beibehalten? Gäste wurden befragt, Kinder
wurden zu Juroren. Geführt wird der Laden von konzen-
triert wirkenden Männern in den besten Jahren. Ein Mi-
chelin-Stern wird nicht angestrebt, aber auch kein Filial-
netz – Mittelklasse für Mittelklasse eben.
Neulich Abend war der Laden geschlossen. Eine Tafel
informierte die enttäuscht abziehenden Gäste, es sei „Com-
munityabend“. Ich hatte eher zufällig davon gehört und
durfte es mir ansehen. Drei große Schecks lagen auf dem
Tresen. Ohne großen theoretischen Überbau hatten sich
die Burgerbrater entschlossen, als Bürger zu wirken. Sie
spendeten 8000 Euro an drei lokale Organisationen: Geld
ging an das Kinderhospiz Bärenherz, an das Manna Mobil,
eine Großküche für Kinder in schwierigen Verhältnissen
und an den großen Abenteuerspielplatz Biberbau. Die Rede
des Kochs war knapp: Es gehe ihnen, die das sympathische
Restaurant betreiben, gut – also wollten sie auch etwas Gu-
tes tun. Das gehöre sich so. Vertreter der drei Vereine waren
zum Abendessen eingeladen, es gab Burger und eben die
Pommes in der neuen Dimension.
Solche Initiativen sind nicht selten in Deutschland: Dass
Konzerne und Internettycoons etwas von ihren irren Ver-
mögen in Stiftungen tun, gehört zur kapitalistischen Nor-
malität. Dass es aber Unternehmer in lokaler Dimension
machen, ist eine Kulturleistung. Welches betriebswirtschaft-
liche Lehrbuch empfiehlt schon, 8000 Euro zu verschenken?
Nun kennt jeder, der aufrechte Linke im Freundeskreis hat,
folgendes Argument: Ein Kinderhospiz, die Verköstigung
armer Schulkinder und ein wilder Spielplatz sind von öf-
fentlichem Interesse, daher am besten über Steuern zu fi-
nanzieren. So kann man es sehen, und in diesem schwarz-
grün regierten Bundesland liegt sozial wirklich einiges im
Argen. Aber warum sollte das eine das andere ausschließen?
Der zusätzliche Funken an Freiheit ist es, der den Charme
solcher Abende ausmacht. Auch bei den bedachten Orga-
nisationen: Deren Abgesandte waren eine bunte Truppe,
die, trotz ihres gewaltigen Pensums, nicht klagten, wie sonst
alle immer, sondern schwärmten. Deutsche Vereinsmeierei
ist immer für einen Gag gut, aber es ist atemberaubend,
was solche auf freiwilligem Engagement basierenden Struk-
turen zu leisten vermögen. Politiker waren an jenem Abend
keine da. Es gibt im Lande eine soziale Energie, eine bür-
gerliche Kultur, die ohne Parteien ganz gut auskommt. Aus
solchen Erfahrungen entstehen Ansprüche: Unsere guten
alten Parteien werden nicht mehr als Vorzimmer zur Ob-
rigkeit respektiert, Bürger erwarten eine verständliche Spra-
che und konkrete Ergebnisse. In unserer Zeit und mit sol-
chen Personen wie jenen, die an jenem Abend diskutierten
und aßen, ist vieles möglich. En Marche!, die Bewegung
Emmanuel Macrons, hat auch mal so angefangen.
An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.
DER SPIEGEL 27 / 2017 119
Kultur
DAVID CARRENO HANSEN

Ausflug in die Natur: Über das Bier-Gefühl zum Wir-Gefühl

120 DER SPIEGEL 27 / 2017

Das Psychotop
Zeitgeist Regionales Essen und lokales Design, Provinzromane und Politiker mit Dialekt:
Heimat ist das Losungswort der Gegenwart. Von Tobias Becker

F
rüher war er Schicksal, der Ort der ei- Jahrzehntelang war schon der Begriff in ruht, dass der Wald eine Chiffre für Ewig-
genen Herkunft, der einen geprägt Deutschland kontaminiert, er erinnerte an keit ist und damit für Heimat.
hat, ob man wollte oder nicht; früher Blut und Boden. Heimatvereine und Hei- „Natur ist in den vergangenen Jahren
ist Heimat einem zugestoßen. Heute ist sie matmuseen, Trachtengruppen und Volks- vom Biotop zum Psychotop geworden“,
ein Selbstfindungsprozess. Weil die Men- musik. Das alles galt als nationalistisch, schreibt der Essayist Schüle. „Zurück zur
schen oft umziehen und oft ihren Arbeitge- engstirnig, kleinbürgerlich. Die Fähigkeit Natur heißt zurück zu sich selbst.“ Ein
ber wechseln, weil die Menschen radikale zum Hochdeutschen, schreibt Schüle, habe Trend, auf den seit 2015 auch die Männer-
Individualisten sind. Und natürlich auch, den deutschen Klein- zum Weltbürger er- zeitschrift „Walden“ setzt, die der Verlag
weil die Welt enger zusammengerückt ist, hoben. Was wurde der Kanzler Helmut Gruner + Jahr nach einem Outdoorklassi-
durch die Migration, den Tourismus, das In- Kohl für seinen Dialekt verhöhnt, für sein ker des US-Amerikaners Henry David
ternet, weil auch das letzte Kaff heute glo- Oggersheim, in das er die Staatsgäste Bill Thoreau benannt hat. Das Motto der Zeit-
balisiert ist. Lokalzeitungen gaben den Men- Clinton, Boris Jelzin, Margaret Thatcher schrift: „Draußen wartet mehr auf uns“.
schen mal Heimat, weshalb sich manche zum Saumagenessen einlud. Seither war Andreas Gabalier, der sich Volks-Rock-
gleich Heimatzeitung nannten. Die „West- wohl kein deutscher Spitzenpolitiker mehr ’n’-Roller nennt, tritt vor 20 000 Menschen
falenpost“ aus Hagen verspricht in ihrem so offensiv heimatverbunden. in der Berliner Waldbühne auf, und nicht
Titelkopf bis heute: „Stimme der Heimat – Und heute? Kohl war Kanzler trotz Og- wenige der Menschen sind gekleidet wie
Echo der Welt“. Wie lässt sich dieser An- gersheim, und wenn Schulz noch irgendei- er – in Lederhosen. Zum Münchner Okto-
spruch noch erfüllen: das Eigene pflegen – ne Chance haben sollte – dann wegen Wür- berfest, das auch Hamburger nur noch
ohne sich vor dem Fremden abzuschotten? selen. Er müsste noch viel häufiger Würse- Wiesn nennen, reisen selbst Touristinnen
Es ist die Herausforderung der Gegenwart. len sagen als ohnehin schon; Würselen im Dirndl an. Es ist en vogue, sich selbst
„Heute über Heimat zu sprechen heißt macht ihn authentisch, und drumrum müss- einer Gemeinschaft zuzuschreiben, weil
vor allem, über ihren Verlust zu reden“, te er möglichst viele jener sch-Laute in seine man von Natur aus keiner mehr angehört.
schreibt der Essayist Christian Schüle in ei- Reden streuen, die bei ihm, dem Rheinlän- Man hat keine Heimat, die man lieben
nem aktuellen Buch, das zunächst durch ei- der, ch-Laute sind. Die „Titanic“ nennt ihn könnte, also performt man Heimatliebe.
nen Gedanken besticht: Heimatverlust ist schon heute konsequent Chulz. Heimatkult. Über das Bier-Gefühl zum Wir-Gefühl.
ein Problem mit zwei Seiten*. Auf der ei- Schüle konstatiert eine Reromantisie- Früher konnte man Heimat nicht um-
nen die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlas- rung von Heimat und Natur, eine Antwort tauschen, heute schon. Denn heute wird
sen mussten, um zu überleben; ihre alte auf die Entgrenzung des Raums durch Glo- Heimat vor allem konsumiert. Die Leder-
Heimat haben sie nicht mehr, eine neue balisierung und Digitalisierung. Und Schü- hose, das St.-Pauli-Shirt mit Totenkopf-
noch nicht. Auf der anderen Seite die radi- le hat recht. Allein, wie viele Sachbücher, Druck, die Pudelmütze mit Aufschrift „Ver-
kalen Individualisten des Westens, die eben- neben seinem eigenen, zum Thema zuletzt ankert in Hamburg“. Wenn das Label „lo-
falls in ständiger Bewegung sind, auf der erschienen sind! Von Daniel Schreiber kales Design“ auf einem Produkt pappt,
Suche nach sich selbst, nach ihrer Identität. „Zuhause. Die Suche nach dem Ort, an verkauft sich auch der größte Kitsch. Le-
„Dem realen Verlust der Heimat migrieren- dem wir leben wollen“. Von Lucas Vogel- bensmittel müssen nicht mehr in erster Li-
der Massen steht der geistige Heimatverlust sang „Heimaterde. Eine Weltreise durch nie bio sein, sondern aus der Region. Sand-
des mobilen Individuums gegenüber.“ Bei- Deutschland“. Von Jörn Klare „Nach Hau- dorn ist die neue Mango.
de haben ihren Geborgenheitsraum verlo- se gehen. Eine Heimatsuche“. Dazu die Das lokalpatriotische Produkt schlecht-
ren, „der eine den physischen, der andere Bestseller- und Provinzromane „Altes hin ist und war schon immer Bier, mit all
den metaphysischen“. Land“ und „Unterleuten“. All die Regio- den Stadtwappen auf den Etiketten. Doch
Nicht ungefährlich ist diese Situation, weil nalkrimis, Taunus-Krimis von Nele Neu- seitdem der Craft-Beer-Hype deutsche
beide Probleme zwar losgelöst voneinander haus, Ostfriesen-Krimis von Klaus-Peter Großstädte im Griff hat, kann man den
aufgetreten sind, aber nun in Konflikt mit- Wolf, Allgäu-Krimis von Volker Klüpfel Eindruck bekommen, die Menschen trin-
einander geraten. Die Ankunft von Millio- und Michael Kobr. Und natürlich die ken Bier überhaupt nur, um sich an Heimat
nen Fremden wirft die Frage nach dem Ei- Megabestseller des Waldmeisters Peter zu besaufen. In Deutschland schmeckt Hei-
genen verstärkt auf, der reale Heimatverlust Wohlleben, deren Erfolg auch darauf be- mat nach Bier, und wer einen zu großen
der einen verstärkt den gefühlten Heimat- Schluck davon nimmt, wird nicht selten
verlust der anderen, zumindest bei einigen dumpf. Heimat, schreibt Schüle, werde wie-
von ihnen: den Pegidisten und AfDlern. der „aufgerüstet zum politischen Kampf-
Schüle liest Heimat als Losungswort begriff, der das Eigene gegen das Schicksal
der Gegenwart. Das Zeitalter der Migra- Lebensmittel müssen des Fremden verteidigt“.
tion, der permanenten Mobilität in einem
weiteren Sinne als Zeitalter der Heimat-
unbedingt aus Heimat, das war einmal Natur, das
war das Dorf in Abgrenzung von der Stadt.
losigkeit, einerseits, und andererseits als der Region sein. Heute ist in manchen Städten mehr Natur
Zeitalter der verstärkten Heimatsehnsucht. Sanddorn ist als in den Dörfern und wohl auch mehr Hei-
mat. Heute macht sich die Stadt zum Land.
* Christian Schüle: „Heimat – Ein Phantomschmerz“. die neue Mango. Bioläden, Bauernmärkte, Kräutergärten.
Droemer; 256 Seiten; 19,99 Euro. „Heimat wird zur Performance von Heimat,

DER SPIEGEL 27 / 2017 121

indem das Heimatliche inszeniert zialen Netzwerke erkennt Schü-
und geradezu museal ausgestellt le die Sehnsucht nach Zugehö-
wird.“ Heimat im Zeitalter ihrer rigkeit, „nach einem UNS, das
technischen Reproduzierbarkeit. ein WIR voraussetzt, welches
Die Heimatschutzbewegung lauter gleichgesinnte ICHs ver-
unserer Zeit heißt Gentrifizie- bindet“. Twitter als Ort der see-
rungskritik. Es muss kein Zufall lischen Selbstbeheimatung.
sein, dass die Gentrifizierungs- Populisten konstruieren einen
kritiker in keiner anderen deut- schlichten Antagonismus: die da
schen Stadt so rabiat sind wie oben, wir da unten. Sie sind im
in Berlin, dass die Heimat nir- Identitätsbusiness. Aber tun die
gendwo so verteidigt wird wie anderen, die Wohlmeinenden,
dort, in der Stadt der Zugezo- die politisch Korrekten, die wah-
genen. Was dem Sachsen der ren Europäer, nicht oft dasselbe?
Syrer, ist dem Berliner der Hier sie, die Guten, Klugen, Li-
Schwabe. Die Berliner Verkehrs- beralen. Dort die anderen, die
betriebe bedruckten vor ein Bösen, Dumpfen, Rechten. Wer
paar Monaten Busse mit dem auf Twitter laut Chauvinist, Se-
Spruch: „Liebe Schwaben, wir xist, Rassist ruft, stellt Menschen
bringen Euch gerne zum Flug- an den Pranger, um sie ohne wei-
hafen.“ Schwabenhass ist längst tere Diskussion auszugemein-
ein stehender Begriff. den. Wer Nazi ruft, betreibt Hei-
Die Angst vor Überfremdung matschutz, er wirft das ihm
hat viele Gesichter, nicht unbe- Fremde aus dem Eigenen heraus.
dingt eine hässliche Pegida-Frat- Nicht dass hier nun Missver-
ze. Damit das auch jeder versteht, ständnisse entstehen: Es gibt An-
pappte das Sternerestaurant No- sichten, die haben in einem
belhart & Schmutzig in Berlin- demokratischen Gemeinwesen
Kreuzberg Ende 2016 einen Auf- nichts zu suchen, aber dass es
kleber an die Eingangstür. Das Ansichten gibt, die den eigenen
Restaurant kocht radikal regional, widersprechen, macht eine De-

DAGMAR SCHWELLE / LAIF

nur mit Zutaten aus dem Berliner mokratie erst zur Demokratie.
Umland, ohne Olivenöl aus Grie- Eine Demokratie ist kein homo-
chenland, ohne Zitronen aus Ita- genes Heimatidyll, eine Demo-
lien, ohne Pfeffer aus Malaysia. kratie ist offen für den Fremden,
Die Botschaft des Aufklebers: aber auch für das Fremde.
AfD unerwünscht. Nicht dass je- Berliner Spreeufer: Die Stadt macht sich zum Land Schüle ist stark in der Diag-
mand auf falsche Ideen kommt. nose, nicht so stark in der Ent-
An Fassaden in Palma, der Hauptstadt ern aus Mecklenburg anstehen muss. Der wicklung von Behandlungsvorschlägen.
Mallorcas, tauchten 2016 erstmals Graffiti Großstädter will Gemüse aus der Region, Das wichtigste Bindemittel zerfallender
mit Aufschriften wie „Tourist Go Home“ keine Besucher aus der Region. Gemeinschaften, schreibt er, sei das Gefühl
auf. Auch „Tourist You Are the Terrorist“ Was kann das heute überhaupt sein: Hei- der Beteiligung: „Je größer das Mitspra-
war zu lesen. Solche Auswüchse gibt es in mat? Eher nicht mehr der Ort, an dem cherecht ist, desto eher identifizieren sich
Deutschland noch nicht, aber fragen Sie man geboren ist – und den man dann nach Menschen mit einer Gegebenheit.“ Dem
mal einen Hamburger, was er davon hält, dem Abitur fluchtartig verlassen hat. Bil- immer größer werdenden Teil der Migran-
dass seit einigen Monaten gefühlt die halbe den sich Identitäten heute vielleicht an- ten müsse das Gefühl gegeben werden, ge-
Welt zu Besuch gekommen ist, um sich die hand von Lebensstilen aus, von Lifestyles, braucht zu werden, ihnen müsse eine Hei-
Elbphilharmonie anzuschauen. Und nein, um die sich Communitys scharen? Kann mat gegeben werden, indem man sie ein
die Antipathien rühren nicht nur daher, Veganismus eine Heimat sein? Der Fuß- Geschäft ihrer Wahl aufziehen lässt, äthio-
dass die Hamburger die raren Konzert- ballklub, den wir anfeuern? Die Menschen, pische Cafés, nigerianische Restaurants, sy-
tickets lieber für sich hätten. Es geht schon denen wir in sozialen Netzwerken folgen? rische Ich-AGs. Wenn das mal reichen
auch darum, dass man auf dem Isemarkt, Ist unsere Filterblase unsere Heimat? Das wird. Generell müssten Güter und Dienst-
einem malerischen Wochenmarkt, am Grenzregime jedenfalls ist in virtuellen Ge- leistungen, so regt Schüle es an, in Ko-
Stand der Landwirte aus der Region neu- meinschaften oft strikter als in realen. Sie operativen organisiert werden, die Heimat
erdings mit, pardon, irgendwelchen Bau- lassen sich leichter abriegeln. der Zukunft entstehe in der Gemeinschaft
Die grenzenlose Gegenwart führt offen- mikrosozialer Einheiten. Das ist ein wenig
bar dazu, dass die Menschen ideologische wolkig, aber vielleicht passt es auch. Hei-
Grenzen enger ziehen, dass sie empörungs- mat heute, das ist ein flüchtiges Sujet.
bereiter werden und Konflikte suchen,
Heimatschutz aktuell: Daumen rauf, Daumen runter. „Die Schere Lesen Sie zum Thema auch
Was dem Sachsen zwischen Pro und Kontra spaltet sich mehr
als jene zwischen Arm und Reich“, schreibt
SPIEGEL WISSEN
der Syrer, Heimat. Annäherung an
Schüle, „der Gesinnungsfuror zwingt je-
ein schwieriges Gefühl
ist dem Berliner den Einzelnen zur klaren Kante.“ Bist du
Gutmensch oder Pack? Linksgrün-versifft Erhältlich im Buchhandel
der Schwabe. oder Rechtspopulist? Helles oder dunkles oder im SPIEGEL SHOP
Deutschland? Im Bekenntniseifer der so- unter www.spiegel.de/shop

122 DER SPIEGEL 27 / 2017


„Alles soll vor Gericht“
Weltkultur Mechtild Rössler, bei der Unesco zuständig fürs
Welterbe, über moderne Bedrohungen für die Kulturgüter
Die deutsche Geografin Rössler, 57, arbeitet
seit 25 Jahren für das Welterbezentrum der
Unesco in Paris, seit 2015 leitet sie es. Sie
ist zuständig für alle 1052 Stätten, die als Kul-
tur- oder Naturerbe der Menschheit gelten –
und damit die oberste Kulturhüterin der Welt.
Vom 2. bis 12. Juli tagt das Welterbekomitee
in Krakau. Seine Mitglieder entscheiden über
die Listung weiterer „einzigartiger Zeugnisse
der Menschheitsgeschichte und der Natur“ –
und sprechen über all das, was der Mensch
vernichtet.
SPIEGEL: Frau Rössler, viele Länder würden
gern Denkmäler und Landschaften als
Welterbe auszeichnen lassen. Ist der Titel
Weltkulturerbe begehrter denn je?
Rössler: Ja, auf jeden Fall. Nur müssen wir
uns mehr als bisher um das schon beste-
hende Welterbe kümmern.
SPIEGEL: Die Deutschen würden aber gern –
unter anderem – ihren mittelalterlichen
Naumburger Dom als Welterbe geschützt
wissen. Er wurde von deutscher Seite aus
schon zum zweiten Mal vorgeschlagen.
Wie stehen die Chancen?
Rössler: Nicht gut. Der Rat für Denkmal-
pflege hat den Naumburger Dom und die
ebenfalls von den Deutschen nominierte
Kulturlandschaft an Saale und Unstrut
nicht zur Einschreibung empfohlen. Besser
sind die Aussichten für die Höhlen der äl-
testen Eiszeitkunst auf der Schwäbischen
Alb. Aber noch einmal: Wir müssen all
die Stätten im Auge behalten, die seit Län-
gerem zum Welterbe zählen, viele sind in
Gefahr. Wir haben 2001 die Zerstörungen
der Buddhastatuen von Bamiyan in Zen-
tralafghanistan beobachten müssen, ein
terroristischer Akt durch die Taliban. Da-
nach entwickelten sich viele ähnliche
Brandherde, massive Zerstörungen und
Bedrohungen durch bewaffnete Konflikte.
Das sollte uns interessieren.
SPIEGEL: Vor allem die Situation in arabi-
schen Ländern, insbesondere in Syrien,
soll ein Schwerpunkt Ihres Treffens sein.
Worüber wollen Sie genau reden?
Rössler: Im vergangenen Jahr war ich in
Palmyra, die Zerstörungen sind extrem,
schrecklich. Doch meiner Meinung nach
ist Palmyra, dieser legendäre archäologi-
sche Komplex, zurzeit nicht unser größtes
Problem in Syrien, sondern Aleppo.
SPIEGEL: Warum?
Rössler: Weil viele Menschen irgendwann
wieder dort wohnen wollen! Auch in ihrer
jetzt noch zerstörten Altstadt. Zu mir haben
Archäologen gesagt, ach, Frau Rössler, ist
ja wunderbar, in Aleppo können wir jetzt
mit Ausgrabungen anfangen. Und ich habe
gesagt, wir brauchen stattdessen einen Auf-
bauplan, und das schnell. Schon drei Wo-
chen nach Ende der Kämpfe waren Leute
von uns in Aleppo. Wir und unsere Partner
räumen längst aus dem Souk, dem histori-
schen Geschäftsviertel, den Schutt heraus.
SPIEGEL: Viele Welterbestätten stehen we-
gen solcher Zerstörungen auch für die Bru-
talität der Gegenwart.
Rössler: Ja, und Menschen sind gestorben,
weil sie diese Orte schützen wollten. Aber
es gibt Entwicklungen, die hoffen lassen.
Denken Sie an die mittelalterlichen Mau-
soleen in Timbuktu, 2012 von Islamisten
zerstört. Im Juli 2015 standen sie wieder,
dank unserer Aufbauarbeit gemeinsam mit
den Familien vor Ort. Vor allem ging die
Tat vor den Internationalen Strafgerichts-
hof in Den Haag und wurde als Kriegsver-
brechen geahndet. Und das ist es, was mir
besonders wichtig ist – alle derartigen Zer-
störungen sollten vor Gericht.
SPIEGEL: In Krakau wird auch darüber dis-
kutiert, ob das historische Zentrum von
Wien künftig als bedrohtes Kulturerbe
zu gelten hat und auf eine rote Liste
rutscht, weil am Rande der Altstadt ein
wuchtiger Neubaukomplex entstehen soll.
Wie passt das alles zusammen? Aleppo
und Wien?
Rössler: Auch Fälle wie der in Wien gehö-
ren dazu, wenn man die Regeln ernst
nimmt – und das tun wir. Wir haben das
Welterbe-Beauftragte Rössler: „Wir räumen den Schutt aus Aleppo“
Kultur
bewiesen, als das Komitee Dresden den
Titel 2009 sogar entzog.
SPIEGEL: Dresden wollte an zentraler Stelle
eine Stahlbetonbrücke über die Elbe bau-
en. Ist angesichts der massiven Probleme
auf der Welt – Terror, Armut, Umweltver-
schmutzung, Klimawandel – der Schutz
einzelner Stätten oder Traditionen über-
haupt eine so dringliche Aufgabe?
Rössler: Viele dramatische Entwicklungen
lassen sich gerade am Zustand des Welt-
erbes veranschaulichen. Wenn in einem
von der Unesco gelisteten Eisfjord die Glet-
scher wegschmelzen wie in Grönland und
Sie nichts mehr von der Besucherplattform
aus erkennen – dann kann man sagen, lie-
be Tourismusindustrie, wenn ihr in ein
paar Jahren auf die Malediven kommt, ist
da auch nichts mehr. Dann ist alles unter
Wasser, und ihr könnt nicht Hunderte Dol-
lar für eine Übernachtung einstreichen.
SPIEGEL: Andererseits befördern Sie den
Tourismus. Der Titel Welterbe zieht Besu-
cher oft in Massen an. Umweltorganisatio-
nen halten Ihnen das regelrecht vor. Ein
Beispiel sind die Tempel von Angkor Wat
in Kambodscha, sie werden jedes Jahr von
zwei Millionen Menschen besucht.
Rössler: Was wäre die Alternative gewe-
sen? Angkor Wat wurde 1992 zum Welt-
kulturerbe erklärt – und musste erst ein-
mal von Minen befreit werden. Heute hat
das benachbarte Siem Reap, in dem da-
mals einige Tausend Menschen lebten,
200 000 Einwohner. Die Einschreibung wur-
de zum ökonomischen Motor für die Re-
gion. Aber natürlich, wir unterstützen die
Stätten längst beim Management und beim
Umgang mit Besucherströmen. Das Erle-
ben des Erbes dieser Welt soll eine positive
Erfahrung sein, ganz sicher auch für die
Menschen, die dort ihre Heimat haben.
Interview: Ulrike Knöfel
SIMONE PEROLARI / DER SPIEGEL
DER SPIEGEL 27 / 2017 123

Ansturm aufs Abendland
Literatur Der französische Schriftsteller Julien Gracq ist ein Idol der Konservativen – ein intellektueller
Zwilling Ernst Jüngers. Nun ist aus seinem Nachlass ein unbekannter Roman erschienen.
D
er Zauber einer fremden und be-
fremdenden Welt außerhalb der
Zeit und der Geschichte umspinnt
den Leser wie der betörende Gesang der
Sirenen. Der Mensch ahnt die Katastrophe
und steuert unausweichlich darauf zu. Sei-
ne Zukunft ist der Tod, sein Schicksal der
Untergang.
Wo sind wir? In einem Königreich ohne
Namen, dessen mythische Geografie es
nur erlaubt, es im „Abendland“ zu veror-
ten, eine poetische und pathetische Um-
schreibung für den Westen, die mehr als
eine Weltgegend bezeichnet – eine Zivi-
lisation.
Wann? Im 18. Jahrhundert vielleicht,
womöglich auch im späten Mittelalter oder
in der Renaissance.
Aus dem Nachlass des 2007 verstorbe-
nen Schriftstellers Julien Gracq, der als
letzter großer Klassiker der französischen
Literatur des 20. Jahrhunderts gerühmt
und von konservativ-elitären Kreisen wie
ein Halbgott verehrt wird, ist jetzt ein un-
vollendeter, zu Lebzeiten des Autors nie
zur Veröffentlichung freigegebener Roman
auf Deutsch erschienen, der vor drei Jah-
ren in Frankreich unter dem Titel „Les ter-
res du couchant“ publiziert wurde*. Das
* „Das Abendreich“. Aus dem Französischen von Dieter
Hornig. Droschl; 224 Seiten; 23 Euro.
** „Das Ufer der Syrten“. Aus dem Französischen von
Friedrich Hagen. Klett-Cotta; 358 Seiten; 19 Euro.
124 DER SPIEGEL 27 / 2017
Autor Gracq um 2000: „Stark radioaktiv“
Buch ist, was man eine „trouvaille“ nennt,
ein preziöses Fundstück wie ein Edelstein:
In eindringlicher, poetischer Prosa variiert
es ein Leitmotiv, das den 1910 geborenen
Gracq mit seinem 15 Jahre älteren deut-
schen Zeitgenossen Ernst Jünger verband –
den mythischen letzten Kampf.
Auf Situationsgenauigkeit, auf den Cha-
rakter der spärlich auftretenden Personen,
auf die Handlung kommt es nicht an.
Gracq verführt durch den Ton seiner Stim-
me, ihr Timbre, mit dem er Bilder be-
schwört, die in ihrer Surrealität nur ihm,
dem Blick des Dichters mit seiner unver-
brauchten Unterscheidungskraft, gegeben
sind. Die Verlegung des Raums und der
Zeit entfernt die Geschichte gleicherma-
ßen ins Imaginär-Fantastische und nähert
es der Aktualität wie in einem fernen Spie-
gel wieder an. Denn dieses Königreich, um
dessen Überlebensfähigkeit es hier geht,
ist unser Abendland. Sein ewig und un-
wandelbar scheinender Friede ist bedroht,
seine Ruhe drückt die Müdigkeit und die
Trägheit des Alters aus. Der Panzer abge-
klärter Gelassenheit, mit dem es sich um-
gibt, sperrt es in die Weigerung, zu denken
und vorauszusehen und das Schlimmste
ins Auge zu fassen.
Noch zeichnet sich die Gefahr sehr weit
hinter den Grenzen ab. Aber sie kommt
langsam und methodisch näher. Der Feind
steht schon in Sichtweite der Gebirgsket-
RAPHAEL GAILLARDE / GAMMA-RAPHO / GETTY IMAGES
ten, die das Reich abschirmen. In jeder
Zone, die sie erobern, machen die barba-
rischen Horden alles dem Erdboden gleich.
Ihre Massenvernichtungswaffe ist das Feu-
er. Sie treibt „eine zutiefst entschlossene
und selbstsichere Kraft an, ein kalter Wille
zur Auslöschung“.
Das Königreich dagegen „liebte sein
eigenes Bild nicht, für welches weit von
seinen Grenzen kleine Gruppen kämpften
wie verlorene Kinder, ein Bild, von dem
es ahnte, dass es heroisch war und verjüngt
durch eine ganze Schwade vergossenen
Bluts, ein Bild, gegen das sich alles in ihm
sträubte und das es gleichzeitig faszinierte,
weil es über dicke Schichten der Selbstauf-
gabe und Erschlaffung hinweg das Ge-
spenst einer Möglichkeit war, der Möglich-
keit, zu der es sich wider Willen berufen
fühlte und die es – es lag nur an ihm –
noch einmal verwirklichen konnte“.
Gegen den Anstieg der tödlichen Bedro-
hungen setzen die Würdenträger des Kö-
nigreichs lieber auf Diplomatie und Ent-
spannung. Sie sprechen von der Notwen-
digkeit, Ruhe zu bewahren, als wäre die
Ruhe ein Beweis für die Nichtigkeit der
Gefahr. Ihre Erfahrung, in der „das Reifen
der sehr hohen Kultur durchschimmerte,
zu der das Königreich gelangt war“, drängt
sie dazu, Verhandlungen aufzunehmen, in
der Annahme, man habe es mit einem
letztlich vernünftigen Gegner zu tun. Be-
 Kultur

stand nicht „der ewige Gang der Welt und ßen aus wie ein plötzlich zur Aktivität er- einer verschworenen Geheimgesellschaft
der weise Brauch der Staaten darin, von wachter Vulkan. aneinander fesselt.
Zeit zu Zeit kleine Schurkereien und an- Während Orsenna ein mediterraner, of- Die gesamte Literatur der Zeit, meinte
dauernd Schmiergelder auszutauschen“? fenkundig von der alten Dogenrepublik Gracq, sei jenes eine Buch von Jünger
Doch im Zusammenprall mit der rohen Venedig geprägter und einem imaginären nicht wert. Er lernte den Verfasser der
Gewalt versagen die geschickten Schach- Italien entlehnter Raum ist, muten die Ge- „Stahlgewitter“, der während des Krieges
züge der berechnenden Rationalität. Die genden der untergehenden Sonne, die der deutschen Militärverwaltung im be-
Emissäre, zu den feindlichen Vorposten Gracq im „Abendreich“ mit der Präzision setzten Paris angehörte und regen Um-
geschickt, werden umstandslos festgenom- eines Landvermessers schildert, die Berg- gang mit französischen Schriftstellern
men und auf der Stelle gepfählt. Den ketten, Kämme, Seen, Gletscher und Step- pflegte, erst 1952 persönlich kennen und
Gefangenen, die sie auf ihrem Vormarsch pen, unverkennbar germanisch, skandina- blieb ihm freundschaftlich verbunden.
machen, schlagen die Eroberer die Köpfe visch oder eurasisch an. Der Feind steht Zum 70. Geburtstag Jüngers 1965 schrieb
ab und stapeln sie zu entsetzlichen Schä- mal im Süden, mal im Osten. Das Reich er einen Aufsatz über „Ernst Jüngers
deltürmen wie Mandeln in einer Nugat- zerfällt, doch die Erde, die Natur, die Jah- Werk in Frankreich“, zum 85. im März
stange: Sie, diese zerstörungsbesessenen reszeiten, die Luft, das Licht und die Steine 1980 nahm er am Festakt in Stuttgart teil.
Barbaren, sind Gracqs Darstellung des überdauern in göttlicher Teilnahmslosig- Anders als Jünger, der sich daheim in sei-
Schattens, der Europa – den Westen, das keit. Ein Märchen, das aus den Tiefen des ner Käfer-Klause in Wilflingen von Hel-
„Abendreich“ – begleitet seit dem Unter- Unterbewusstseins hervorquillt. mut Kohl und François Mitterrand besu-
gang des römischen Weltreichs, seit den Als „Das Ufer der Syrten“ 1951 erschien, chen ließ, schlug Gracq eine Einladung
Hunnen, den Mongolen, den Türken, den konnten die wenigsten Leser erkennen, des literaturvernarrten französischen Prä-
Bolschewiken, den Nazis bis zur Aktualität dass Gracq ein Bruder im Geiste Ernst Jün- sidenten mehrmals aus. Von der Politik
der islamistischen Terrormilizen, seine gers war – gewissermaßen sein französi- wollte er sich ebenso wenig vereinnahmen
Ausformung der Urangst vor der unkon- scher Zwilling. Mit Jünger teilt er die ge- lassen wie vom Konsumentenbetrieb der
trollierten Gewalt. schichtsphilosophische Perspektive, den Literatur. Eine kurze Verirrung in die
Gracq, der unter seinem wahren Namen Ästhetizismus des Untergangs einer über- Kommunistische Partei, aus der er nach
Louis Poirier Lehrer für Geografie und Ge- reifen Kultur, die dem Einbruch der schie- dem Abschluss des deutsch-sowjetischen
schichte war, hatte während der Schulferi- ren Brutalität nichts entgegenzusetzen hat Nichtangriffspakts 1939 sofort wieder aus-
en im Sommer 1953 an dem Roman zu als taktische Durchtriebenheit, Winkelzü- getreten war, hatte ihm gereicht.
schreiben begonnen. Er sollte auf „Das ge oder Verrat. Wie Jünger in Deutschland ist Gracq in
Ufer der Syrten“ folgen, sein berühmtestes Aus der Seelenverwandtschaft mit Jün- Frankreich ein Autor für Eingeweihte, die
Werk, für das er 1951 gegen seinen Willen ger machte Gracq keinen Hehl, die Ähn- sich in ihrer Bewunderung und ihrem aris-
und seine zuvor angekündigte Ablehnung lichkeit mit dessen Roman „Auf den Mar- tokratischen Geschmack wie in einer Fes-
den Prix Goncourt, den bedeutendsten morklippen“, in dem die wilden Gesellen tung einschließen, die sich niemals ergeben
Literaturpreis Frankreichs, zugesprochen wird. Massenuntauglich, jedoch „stark ra-
bekommen hatte**. Seine Weigerung, die Ein Autor für Eingeweihte, dioaktiv“ (Gracq) strahlen sie in eine Geis-
Auszeichnung anzunehmen, begründete, tesströmung aus, die unterschwellig sowohl
obwohl kein Werbecoup, die Gracq-Legen- die sich in ihrem aristokrati- den rechten Pessimismus als auch den rech-
de und den Ruf des stolzen, hochmütigen schen Geschmack wie in ten Widerstand belebt. Wenn alles andere
Einzelgängers, des zurückgezogenen Aris- bricht, bleibt die Kunst als letztes Bollwerk.
tokraten in der lärmenden und geschäf- einer Festung einschließen. Und ihre Ausdrucksform ist in einer Um-
tigen „République des lettres“, als die gebung des Postheroischen die innere
Frankreich sich gern selbst definiert. des Oberförsters die hoch entwickelte, Haltung des Heroischen im Einstehen für
Vermutlich legte Gracq das fast fertige aber erodierende Zivilisation der Großen Werte und Tradition.
Manuskript beiseite, weil ihm die inhalt- Marina bedrohen, drängt sich auf. Der Nicht dass sich der Gang der Dinge da-
liche Nähe zum „Ufer der Syrten“ zu groß Stoff dieser Fantasy ist unsere Gegenwarts- durch aufhalten ließe. Der Wille zum Wi-
schien. Im „Abendreich“ zieht der Er- epoche, versetzt in das Reich der Sage; derstand kann den Zusammenbruch sogar
zähler mit einigen Freunden aus der ihre Kunst die Verdichtung des Erlebten noch beschleunigen. Der Niedergang er-
lethargischen, vor unausgesprochener im Imaginären. folgt mit der Gesetzmäßigkeit der Schwer-
Angst gelähmten Hauptstadt in das verbo- Auf Jüngers Werk war Gracq zufällig kraft, gegen die sich der Stürzende auch
tene Gebiet jenseits der Grenze, in der gestoßen, mitten im Krieg, während der nicht mit wilden Ruderbewegungen der
sich eine Entscheidungsschlacht ankündigt finstersten Jahre der deutschen Besetzung. Arme und Beine stemmen kann. In der
– eine Flucht in die Aktion, nicht in die Im Dezember 1943 kaufte er die französi- Hauptstadt von Gracqs Königreich, wo
Desertion. sche Übersetzung der 1939 erschienenen man die beunruhigenden Nachrichten von
„Das Ufer der Syrten“ erzählt von der „Marmorklippen“ im Bahnhofskiosk von der Grenze mit einem „eigentümlichen
verschlafenen Republik Orsenna, die in Angers, als er stundenlang auf den nächs- traumverlorenen Desinteresse“ zur Kennt-
der drohenden Konfrontation mit Far- ten Zug warten musste. Deutsche Autoren nis nimmt, lässt „eine Art Trägheit das Le-
ghestan auf der anderen Seite des Meeres waren zu der Zeit alles andere als populär; ben von oben zu den tieferen Stellen ab-
ihrem Untergang entgegengeht. Der junge Gracq, so erzählte er später, fühlte sich fließen“. Der geheime Ratschluss seiner
Adlige Aldo, mit einer Aufklärungsmission durch den Titel und den Einband des Bu- Regierenden war „die Abwesenheit jegli-
auf See betraut, gibt einem unwidersteh- ches angezogen. Er begann sofort auf einer cher Bewegung“; das hyperverwaltete
lichen Drang nach und überschreitet gegen Bank zu lesen und hörte, verwunschen, Reich, dessen wichtigstes Amt das Grund-
alle Befehle mit seinem Schiff die nicht mehr auf – das Lesen, wie das Schrei- buchamt ist, „fabrizierte unermüdlich
Demarkationslinie. Der Feind eröffnet das ben auch, verglich er mit einem Liebesakt, Gleichgewicht und brachte sich auf dem
Feuer, der kalte Krieg, der ein prekäres der einen so leer, verändert, traurig zu- Papier in der Gestalt seiner Identität mit
Gleichgewicht zwischen den Mächten rücklasse wie jedes intensive Gefühlserleb- sich selbst zur Deckung“. Diese Sätze, ver-
an beiden Ufern des Meers der Syrten nis, eine extreme, leidenschaftliche Erfah- fasst vor gut 60 Jahren, könnten sich heute
aufrechterhalten hatte, bricht in einen hei- rung, die den Autor und seine Jünger in durchaus wie eine ironische Beschreibung
DER SPIEGEL 27 / 2017 125

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Test Wie alt sind Sie wirklich?
126 DER SPIEGEL 27 / 2017
des juristisch-administrativen EU-Molochs
in Brüssel lesen.
Die Bewegung der Geschichte nimmt
bei Gracq die Form eines sich entfaltenden
Traums an, in dem der Mensch mehr oder
weniger hilf- und willenlos abgetrieben
wird. Das historische Ereignis verwandelt
sich in ein poetisches und wird zur Allego-
rie, aus der gelebten Geschichte destilliert
der Dichter ihren Geist: „Unser Unbeha-
gen kam von dieser müden Verankerung
und diesen Herzfasern, die eine um die
andere rissen und uns nun Fühler schenk-
ten, um den Wind, der sich zu erheben be-
gann, vorauszufühlen.“
Erhebt sich der Sturm wieder über
Europa? Der Belagerungskomplex, die
Zwangsvorstellung einer stets gefährdeten
und vom Untergang bedrohten Wohl-
standsgesellschaft erklärt dem Anthropo-
logen Emmanuel Terray zufolge den nach-
haltigen Erfolg von Beschwörern der Apo-
kalypse wie Jünger und Gracq in Frank-
reichs konservativen, jeder Globalisierung
abgeneigten Kreisen. Sie lässt sich ebenso
gut bei den Vordenkern des rechten, völ-
kischen Populismus in Deutschland aus-
machen.
Dass die Barbaren vor den Toren stehen,
ist seit je der Alarmruf der Verfechter der
bestehenden Ordnung. In seiner Analyse
des rechten Denkens („Penser à droite“)
quer durch die Ideengeschichte seit der
Französischen Revolution hat Terray die
„Ordnung“ als fundamentalen Grundbe-
griff des politischen Konservativismus de-
finiert, aus dem sich ein ganzes Bündel
von Axiomen ergibt: Realismus (das heißt
Ablehnung jeder Utopie), Hierarchie und
Autorität, Heimat und Widerständigkeit.
Die Verteidiger der Zivilisation haben im-
Jetzt im mer das Gefühl, in einer belagerten Fes-
tung zu leben; ihre Mauern sind die Gren-
ze, jenseits lauert die Gefahr: das Chaos.
Handel Es gibt keine Alternative außer der Zer-
störung.
Gracq und Jünger verwahrten sich hart-
näckig gegen den Versuch, ihnen eine
politische Botschaft anzudeuten. Sowohl
„Auf den Marmorklippen“ als auch „Das
Ufer der Syrten“ ließe sich ja als Parabel
lesen. Die Barbaren sind austauschbar: Na-
zis, die Rote Armee gestern, die IS-Frei-
korps heute. Wir stehen alle an der Grenze,
die Grenze ist überall. Deshalb musste die
Flüchtlingswelle, die massenhafte und un-
geregelte Ankunft der „Anderen“, mora-
lische Panik auslösen. In Krisenzeiten stei-
gert sich die Wachsamkeit der Hüter der
Ordnung bis zum Äußersten, zum Hass.
Die Faszination, welche die Thematik
von Niedergang, Dekadenz und Zerstö-
rung noch immer oder schon wieder aus-
übt, ist so erstaunlich wie beängstigend.
Die Erwartung der Katastrophe, der Un-
tergang des Volkes, jene seltsam vibrieren-
de Stimmung, die die apokalyptischen
126 DER SPIEGEL 27 / 2017
 IN DER SPIEGEL-APP
Kultur

THOMAS RABSCH / LAIF

Gracq-Geistesbruder Jünger 1996: Wenn die Aufklärung in Misskredit gerät

Dioskuren Jünger und Gracq meisterhaft Die Geschichte ähnlich wie einen Kreis-
klingen ließen, scheint wieder zum Basso lauf der Natur zu begreifen, ist eine alte
continuo im europäischen Panikorchester (nebenbei gesagt: heidnische) Denkfigur
zu werden. Die beiden Autoren eignen sich der Rechten. Die menschliche Geschichte
vortrefflich als Nachttischlektüre an sich verliert dann ihren Sinn, hat kein Ziel, kei-
zweifelnder notorischer Kulturpessimisten. ne Richtung und keinen Fortschritt, son-
Die Geschichtsphilosophie, die Gracq dern reduziert sich auf den Überlebens-
nach seinem eigenen Bekunden inspirierte, kampf in ständiger Abwehr von Unord-
war die von Oswald Spengler und dessen nung und Barbarei. Sie ist Schicksal, kein
„Untergang des Abendlandes“. Er las das Projekt. Das Handeln der Menschen kann
1918 erschienene Werk wohl erst unmittel- daran nichts ändern, sie sind bestenfalls
bar nach dem Zweiten Weltkrieg, zu der Geburts-, Entwicklungs- und Sterbehelfer.
Zeit, als er „Das Ufer der Syrten“ zu Oder Vollstrecker.
Surfin’ Fukushima
schreiben begann. In Spengler, den man Jünger und Gracq, das muss bei aller „Viele Leute halten mich für verrückt“, sagt
heute nicht anders denn als völlig überholt Hochachtung gesagt werden, sind Anti- Clinton Taylor. Im Neoprenanzug steht
bezeichnen kann, der aber nach dem Ers- aufklärer. Sie haben Konjunktur, wenn die er mit seinem Surfbrett am Strand von
ten Weltkrieg eine ungeheure Wirkung ent- Aufklärung in Misskredit gerät und ihren
Fukushima. Die Atomkatastrophe vor
faltete, sah er mehr einen Geschichtspoe- Atem verliert. Dann ist die Zeit der Ver-
ten als einen Geschichtsphilosophen. Seine unsicherung angebrochen, wird die Orien- sechs Jahren hat hier ganze Regionen
Lektüre bestärkte ihn in der Neigung, die tierung durch Wahnvorstellungen ersetzt, unbewohnbar gemacht, 150 000 Men-
Perioden des Zerfalls als die interessantes- die wahres Denken so verjagen wie Falsch- schen mussten evakuiert werden. Aber
ten über alle anderen zu stellen: jene Ab- geld das richtige verjagt. Clinton Taylor geht genau hier in die
schnitte der Geschichte, „in denen eine Gracq hat im nun wiederentdeckten Wellen: „Es ist ein Paradies für Surfer“,
Zivilisation entschlummert und von ganz „Abendreich“ das Klima der Auflösung, in sagt er. Ihm geht es dabei nicht nur
allein stirbt – ohne dafür Anstöße von dem sich das Ende ankündigt, mit wun- um die Brandung. Taylor hat eine Mission.
außen zu benötigen – man könnte sagen derschönen Sätzen beschrieben: „Wie man
aus Altersschwäche“. in Rom manche Verurteilte in einen Le-
Dass Kulturen sich wie Organismen ver- dersack mit einer Viper steckte, so ist hier Sehen Sie die Visual Story im digitalen
halten, dass sie Evolutionsphasen wie mit uns ein Gift eingelassen in die Mauer: SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
Lebewesen durchlaufen, Kindheit, Jugend, die Gerüchte. Sie entstehen in der Stadt,
Reife und Alter, dieser verlockende wie- diesem schwer vergorenen Teich, in die-
wohl historisch fragwürdige Topos lieferte sem Menschensumpf, in dem Tag und
Gracq die Bilder und Wörter, um seine Nacht die Hefe der Angst und der Hoff-
imaginäre Republik Orsenna oder das na- nung arbeitet wie diese Blasen, die im
menlose Abendreich zu beschreiben. Sie Sommer schmatzend auf den Tümpeln
werden als erstarrte Gebilde dargestellt, platzen.“
verschlafen, ohne Zukunft, in der Gegen- Vielleicht ist es an der Zeit, diesen Meis-
wart lebend, als wäre sie schon Vergan- ter und Verkünder des Untergangs zu le-
genheit. „Wir Zivilisationen, wir wissen sen, und wäre es als Impfung gegen die
nun, dass wir sterblich sind“, lautete Paul Angst der Zeit. Denn: „Die kranke Seele
Valérys berühmte Formel 1919 in seinem wälzt sich in ihrem Schweiß.“
Essay „Die Krise des Geistes“. Romain Leick JE TZ T D I GI TA L L E S E N

DER SPIEGEL 27 / 2017 127

 Das größte
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tern entdeckt er das Heute Glückskinder dtv; 26 Euro

www.dva.de 128 DER SPIEGEL 27 / 2017


Machtspiele
Filmkritik „Die Erfindung der Wahrheit“:
Jessica Chastain als Karrierefrau, die sich
mit der amerikanischen Waffenlobby anlegt
Kinostart: 6. Juli
V
ermutlich ist es ein Signal des Fortschritts, dass der
Film „Die Erfindung der Wahrheit“ dem Zuschauer
eine unglaublich rücksichtslose, stolze und hinrei-
ßend schöne Frau als Superstar der Politikwelt in der US-
amerikanischen Hauptstadt Washington vorführt. Warum
aber erzählt der Regisseur John Madden seine Geschichte
so irritierend altmodisch? „Miss Sloane“ heißt sein Film
im Original, was undezent auf die Bindungslosigkeit der
mit Ende dreißig nicht mehr jungen Heldin hinweist.
Tatsächlich geht es um eine
Frau, die statt mit Kollegen lie-
ber mit einem Callboy Sex hat,
und um Fake News. Die derzeit
in Hollywood sehr beliebte
Schauspielerin Jessica Chastain
tritt auf als eine Heldin, die hart
ist gegen sich selbst und gegen
die Welt – und die Tatsachen
verdreht, wo immer es ihr nützt.
Chastain spielt in „Die Erfin-
dung der Wahrheit“ Elizabeth
Sloane, die unter den Lobbyis-
ten von Washington als Königin
gilt. Sie bewegt sich in Büroräu-
men, die kahl und blitzeblank
sind. Sie blickt aus kalten Au-
gen auf die Welt. Sie trägt ihr
Gesicht wie eine Maske und ihr Lippenstiftrot, als wär’s
mit dem Spachtel aufgetragen.
Ihr Job ist es, eine Strafsteuer auf ungesundes Palmöl
zu verhindern, für die sie die Bezeichnung „Nutella-Steu-
er“ einführt. Also spendiert sie einem wichtigen Senator
eine als Studienfahrt getarnte Vergnügungsreise nach In-
donesien, ins Reich der Palmölproduzenten. Und hinterher
sorgt der Politiker dafür, dass die Lebensmittelhersteller
der USA ihre Konsumenten weiter unbeschränkt mit jeder
Art von Palmölpampe vollstopfen dürfen; dass solche
Deals den Bürgern schaden, ist allen Beteiligten egal.
„Die Erfindung der Wahrheit“ fängt wie viele Holly-
woodfilme über das Politikgeschäft (von „Erin Brocko-
vich“ bis „The Ides of March“) als Lehrfilm an, in dem
Gut und Böse und die Rollen klar verteilt sind. Elizabeth
Sloane arbeitet in einer Washingtoner Großkanzlei, wird
selbst von ihrem Chef gefürchtet und von den Mitarbeitern
angehimmelt. Im Lobbyismus zählten nicht die Ziele, son-
dern die Kunst der Manipulation, so lehrt die Meisterin:
„Ich bin angetreten, um zu gewinnen. Um zu gewinnen,
treibt man seine Gegner vor sich her.“ Die Vernichtung
des Widersachers muss mit Präzision, Geistesgegenwart
und Geschmeidigkeit erledigt werden, als handle es sich
um Kampfsport. Und niemals, wirklich niemals darf der
Kultur
Lobbyist juristisch verwertbare Spuren hinterlassen, die
gegen ihn oder seine Auftraggeber zu verwenden wären.
Natürlich passiert genau das. Zur Verblüffung ihrer Kol-
leginnen und Kollegen, aber auch zu der des Kinozuschau-
ers, lehnt es Elizabeth Sloane ab, für die US-Waffenlobby
zu arbeiten. Sie verlässt die Kanzlei, tut sich zur Bekämp-
fung der Waffenindustrie mit einem Aktivistenanwalt zu-
sammen – und wird von ihren Gegnern ins Visier genom-
men. „Es kommt darauf an, die anderen zu überraschen,
und darauf, sich nicht selbst überraschen zu lassen“, sagt
Frau Sloane. Es ist der Zauber und ein bisschen auch der
Fluch dieses Films, dass er sich konsequent an diese Devise
hält. „Die Erfindung der Wahrheit“ legt es derart übereif-
rig auf die Überraschung des Zuschauers an, dass die
Wandlung der Hauptfigur aus dem Blick gerät.
Für die Schauspielerin Jessica Chastain ist Sloane nur
eine Variante in ihrem Repertoire von Superkämpferinnen.
Sie hat in „Zero Dark Thirty“ (2012) eine CIA-Agentin
auf der Jagd nach Osama Bin Laden gespielt. In „A Most
Violent Year“ (2014) war sie Mafiabraut und in „Interstel-
lar“ (2014) Weltraumforscherin. In „Die Erfindung der
Wahrheit“ entschließt sie sich keineswegs aus Gewissens-
gründen zum Fight gegen Amerikas Waffenindustrie, son-
dern aus Karrierekalkül und Lust am Machtspiel. Sie testet
KERRY HAYES / UNIVERSUM FILM
Darstellerin Chastain: Ambivalenz als Reiz
die Loyalität ihrer Jüngerschaft aus und zwingt die Frauen
und Männer ihres Teams dazu, sich per Handzeichen für
oder gegen sie zu entscheiden. Ausgerechnet an ihrer er-
gebensten Schülerin begeht Miss Sloane Verrat.
„Die Erfindung der Wahrheit“ versteht sich als unter-
haltsame Aufklärung über die Zustände in den Hinter-
zimmern der Politik, zugleich treibt der Film ein merk-
würdiges Spiel mit seiner Hauptfigur. Bis zuletzt darf man
rätseln, ob Elizabeth Sloane eine nur sich selbst und ihrer
Lust an der Manipulation verpflichtete Autistin ist oder
doch eine Heldin der Demokratie. Man kann diese Ambi-
valenz als Reiz empfinden oder als Feigheit des Regisseurs
Madden. Jessica Chastain jedenfalls hat immer wieder
verkündet, sie wünsche sich mehr Frauenmacht in Holly-
wood, mehr tolle Frauenrollen, mehr Filmkritikerinnen
und mehr Regisseurinnen. Nun spielt sie die Hauptrolle
in einem Männerfilm, der mit einer schlichten Pointe ver-
blüfft: Ausgerechnet der Callboy folgt als Einziger mora-
lischen Prinzipien. Wolfgang Höbel
Video: Ausschnitte aus
„Die Erfindung der Wahrheit“
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MICHAEL BOND, 91 Schauspielerisches Talent be-
Er schrieb mehr als 150 Bü- wies er auch, als der in den
cher, gleich das erste machte USA gefangene sowjetische
ihn weltbekannt: „Ein Bär mit Spitzenspion Rudolf Abel
PUBLIC ADDRESS

Namen Paddington“ wurde in ausgetauscht werden sollte:

40 Sprachen übersetzt und Da gab sich Drosdow als Ver-
verkaufte sich zusammen mit wandter Abels aus Leipzig
seinen Fortsetzungen rund 35 aus, der auf eine Familienzu-
GUNTER GABRIEL, 75 Millionen Mal. Es handelt von sammenführung drängte. In
Der ausgestreckte Mittelfinger war die Pose, die seiner einem kleinen verwaisten An- den Sechzigerjahren war er in
Weltsicht am ehesten entsprach, er hatte sie sich abge- denbären mit Koffer und Hut, China tätig, in den Siebzigern
schaut bei seinem Vorbild Johnny Cash. Im Unterschied zu der von Peru aus nach Lon- in der sowjetischen Uno-Ver-
Cash war für Gabriel die Rolle einer nationalen Ikone je- tretung in New York. Dass er
doch nicht vorgesehen, und als er den Stinkefinger einmal auch die harten Seiten der Ge-
zur Begrüßung von Polizisten einsetzte, kostete ihn das heimdienstarbeit beherrschte,

MARK HARRISON / CAMERA PRESS / PICTURE PRESS

800 Euro. Malocher und Anwalt der kleinen Leute, so sah zeigte Drosdow 1979: Der
sich der Sänger, der eigentlich Günter Caspelherr hieß. Zu damals 54-Jährige nahm am
den Lebensweisheiten, mit denen er bei Begegnungen nie Sturm sowjetischer Spezial-
geizte, zählte die Maßgabe: „Wenn du geil im Leben bist, einheiten auf den afghani-
bist du geil im Bett.“ Dass er jahrelang im Wohnwagen leb- schen Präsidentenpalast in Ka-
te, hatte finanzielle Gründe, förderte aber auch sein Image bul teil. Anschließend leitete
als Outlaw; ebenso das Hausboot in Hamburg, das seit Mit- er die für die illegalen Aufklä-
te der Neunzigerjahre sein Heim war. Der Boulevardpresse rer zuständige Abteilung des
war Gabriel ein verlässlicher Lieferant von Geschichten: sowjetischen Auslandsgeheim-
Pleite, Führerscheinentzug, drei gescheiterte Ehen. Mal dienstes. Nach der Auflösung
war er auf der Flucht vor Gläubigern, mal vor seiner Alko- der Sowjetunion führte er
holsucht, und im RTL-Dschungelcamp hielt er es nur vier don reist, wo ihn eine Familie in Moskau einen imperial aus-
Tage lang aus. Sein musikalisches Schaffen war gleichwohl aufnimmt. In England geht es gerichteten Thinktank. Jurij
respektabel, er komponierte für Peter Alexander oder Ju- Paddington gut, er liebt bitte- Drosdow starb am 21. Juni. ukl
liane Werding („Wenn du denkst, du denkst, dann denkst re Orangenmarmelade und er-
du nur, du denkst“). Eines seiner drängendsten Probleme lebt bei seiner Pflegefamilie PAUL FALK, 95
thematisierte er bereits 1974 in seinem größten Hit: „Hey typisch Britisches, vom Pfer- Wenn er mit seiner Partnerin
Boss – ich brauch mehr Geld.“ Auch dafür fand er eine derennen bis zum Besuch des auf das Eis glitt, dann gab es
Lösung: In einer Talkshow hielt er 2007 einen Zettel mit Wachsfigurenkabinetts. An- für die Konkurrenten nichts
seiner Telefonnummer hoch, für 1000 Euro konzertierte er ders als der Bär in seinem zu holen. Paul Falk und Ria
fortan bei Fans im Wohnzimmer. Gunter Gabriel starb am englischen Idyll erlebte Bond Baran verloren keinen einzi-
22. Juni in Hannover an den Folgen eines Sturzes. akü auch düstere Zeiten, in denen gen Wettbewerb im Paarlauf.
er über Selbstmord nachdach- 1947 wurden sie erstmals deut-
te und sich mit Whisky und sche Meister, sie gewannen Ti-
MICHAEL NYQVIST, 56 Schlaftabletten betäubte. Ne- tel bei Europa- und Weltmeis-
Gute Schauspieler sind ben Kinderbüchern schrieb er terschaften und 1952 Gold bei
den Zuschauern ein Rät- Kriminalromane für Erwach- den Olympischen Winterspie-
sel: Wo hört ihre Per- sene. Michael Bond starb am len in Oslo. Die beiden Part-
sönlichkeit auf, wo fängt 27. Juni in London. lot ner, die einander im Lauf ih-
die Rolle an? Für den rer Karriere heirateten, sprüh-
CAPITAL PICTURES / ALL4PRICES

schwedischen Schauspie- JURIJ DROSDOW, 91 ten vor Kreativität, zeigten

ler Michael Nyqvist galt Viele Episoden seines Lebens als Erste Doppelsprünge und
das umso mehr, weil er könnten auch aus einem erfanden die sogenannte Las-
lange selbst nicht wusste, Agententhriller stammen. Der so-Hebung: Der Mann hebt
wer er eigentlich war. Sohn eines Offiziers der Za- seine Partnerin nach oben,
Als Sechsjähriger hatte renarmee, in Minsk mehrspra-
Nyqvist erfahren, dass er chig aufgewachsen, nahm
adoptiert worden war. Seine Adoptiveltern rieten ihm, 1945 als junger Leutnant an
darüber mit niemandem zu sprechen; „ein Geheimnis, das der Schlacht um Berlin teil.
mich sehr einsam machte“, wie er 2013 in einem Interview Dorthin kehrte er elf Jahre
sagte. Zu diesem Zeitpunkt war Nyqvist längst weltbe- später zurück, als Offizier des
rühmt: In „Verblendung“ (2009) und zwei weiteren Verfil- sowjetischen Geheimdienstes
ULLSTEIN BILD

mungen von Stieg Larssons Bestseller-Thrillern hatte er KGB. Sieben Jahre lang war
den Journalisten Mikael Blomkvist verkörpert – einen er in der KGB-Vertretung
Mann, der die Vergangenheit nicht ruhen lassen will. Die beim Ministerium für Staats-
Rolle machte Nyqvist zu einem auch international gefrag- sicherheit der DDR tätig. In
ten Darsteller. Er drehte mit Tom Cruise („Mission: Im- dieser Zeit warb er als „Baron stützt sie mit gestreckten Ar-
possible – Phantom Protokoll“) oder Keanu Reeves („John von Hohenstein“ und Mit- men und führt dabei mehrere
Wick“). In „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“, Flo- glied einer fiktiven neonazis- Drehungen aus. Paul Falk
rian Gallenbergers Politdrama von 2015, spielte Nyqvist tischen Organisation einen starb, wie erst jetzt bekannt
den grausamen Sektenführer Paul Schäfer. Michael Nyqvist Altnazi im Bundesnachrich- wurde, am 20. Mai in Quei-
starb am 27. Juni in Stockholm an Lungenkrebs. mwo tendienst als Agenten an. dersbach. gp
DER SPIEGEL 27 / 2017 133
 Doppel-Dementi
Es gab schon rosigere Zeiten im Le-
ben des Boris Becker, 49. Erst hat ihn
eine Richterin in London für bank-
rott erklärt, weil er einen fälligen
Kredit nicht rechtzeitgig zahlen
konnte, dann sorgte seine Frau Lily,
41, für Spekulationen, die Ehe des
dreimaligen Wimbledonsiegers aus
Leimen stecke in der Krise: Er sei
„schon lange gemein“ zu ihr, sagte
sie in der Show „Global Gladiators“.
Via Twitter dementierte Boris Be-
cker sowohl das eine als auch das
andere. Finanziell gehe es ihm pri-
ma, und er sei glücklich verheiratet.
Es ist offenbar alles eine Frage der
Perspektive. Becker bezeichnet sich
selbst immer noch als Tennisprofi,
Botschafter und Unternehmer. Dem
SPIEGEL sagte Becker vor drei
Jahren, er sei „fast ein Workaholic“;
wenn er seine Besitztümer und
Firmenanteile verkaufen würde,
könnte er es sich leisten, den halben
Tag Golf zu spielen. Becker erklärte
damals: „Macht euch keine Sorgen
um mich. Nicht jeder Deal hat funk-
tioniert, aber 51 Prozent.“ 50 Leute
seien für und mit ihm im Einsatz,
was genau die tun, das erzählte
Becker nicht, aber allzu fleißig
können sie in den vergangenen Jah-
ren nicht gewesen sein. Tennisprofi
Novak Djoković, den Becker drei
Jahre lang trainierte, bot finanzielle
Unterstützung an. In der Schweiz
beglich Becker Schulden in Höhe
von 197 000 Franken plus Zinsen –
DARMER / DAVIDS

Schweizer Beamte hatten angeblich

schon seit 2010 versucht, die
Summe per Zahlungsbefehl einzu-
treiben. mag

Lob aus der Ferne
Propheten zählen ja bekannt-
lich im eigenen Land am
wenigsten, Politikerinnen er-
geht es in ihrer Partei manch-
mal ähnlich. Marieluise Beck,
65, kümmert sich als Osteuro-
pa-Expertin der Grünenfrak-
MARTIN LENGEMANN / LAIF
Parteibasis allerdings nicht so
gut an: Bei der Kandidatenauf-
stellung für die Bundestags-
wahl drohte der Grünen der
ersten Stunde eine Niederlage.
Da verzichtete Beck lieber auf
ihre Kandidatur. Als sie jetzt
mit 200 Gästen in der Bremer
Kulturkirche St. Stephani
eigenen Partei wurde Beck
von Rednern aus Osteuropa
gewürdigt. Der ukrainische
Botschafter Andrij Melnyk
zollte der „unermüdlichen
Streiterin für Menschenrechte“
seinen Respekt. Und Irina
Scherbakowa von der russi-
schen Menschenrechtsorgani-

tion lieber um Menschen-
rechte, als ständig nur die
Interessen ihres Bremer Wahl-
kreises zu bedienen. Ihr
Engagement kommt bei der
Abschied und 65. Geburtstag
feierte, ließ sich nach drei
Jahrzehnten Bundespolitik
kaum ein Bremer Grünenfunk-
tionär blicken. Statt von der
sation Memorial sagte: „Für
uns ist es sehr traurig, dass
Marie den Bundestag verlässt.“
Sie sei „so empathisch, so
enthusiastisch, so ehrlich“. stg

134 DER SPIEGEL 27 / 2017

 Personalien
Zeigen, was man hat schen Standorte Miami, Los
Angeles oder New York ent-
Der New Yorker Kunstlieb- schieden, sondern für das
haber Andrew Hall, 66, dürfte kleine niedersächsische Der-
vielen Landsleuten als ex- neburg. Dort erwarb das Paar
zentrisch gelten. Zwar sam- von Maler Georg Baselitz vor
meln vermögende Amerika- Jahren ein Schloss, sanierte
ner gern moderne Kunst das Gemäuer aufwendig und
in großem Stil, und nicht we- zeigt nun vom ersten Juli-
nige eröffnen große, fast lu- wochenende an, welche
xuriöse Privatmuseen so wie Kunst es schätzt, darunter
er. Andrew Hall und seine Werke des ewigen New Yor-

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Frau Christine, 66, jedoch ha-
ben sich nicht für die typi-
MARTINE FOUGERON
ker Enfant terrible Julian
Schnabel. Eine eigene Schau
ist der verstorbenen deut-
schen Galeristin Barbara
Weiss gewidmet. Die Eindrü-
cke werden spektakulär sein,
das hiesige Publikum darf sich
darüber freuen, dass Mr Hall – Der Augenzeuge
als Händler an der Wall Street
zur Legende geworden – seine
Kunst nach Deutschland trans-
„Mit Tunnelblick“
feriert hat. Besichtigen darf Die Theorieprüfung für den Führerschein ist vielen zu schwer,
man diese allerdings nur nach im vorigen Jahr betrug die Durchfallquote 35 Prozent, der

Voranmeldung und mit einer höchste Wert seit zehn Jahren. Sven Gottas, 43, Fahrlehrer in
geführten Tour. Der Hausherr Berlin, glaubt, dass der Anteil noch steigen wird.
gilt als scheu und will gele-
gentlich seine Ruhe haben. uk „Die Durchfallquote bei der Theorieprüfung wundert
mich überhaupt nicht. Der vielleicht wichtigste
Grund dafür ist der fehlende Mumm der jungen
Leute. Im Unterricht haben sie Angst, etwas Falsches
Vom Feinsten zu sagen, sich zu blamieren. Das ist verständlich,
aber auch fatal. Aus Fehlern lernt man nämlich am
Für die Netflix-Produktion meisten. Doch die Schüler stellen nur wenige Fragen,
„Okja“ hat die Schauspielerin das behindert ihren Lernfortschritt und den eigen-
Tilda Swinton, 56, ihre guten ständigen Denkprozess. Google ist da ein zusätzliches
Kontakte zur Modebranche Hemmnis. Mittlerweile weiß jeder alles, denn er
spielen lassen. Den Großteil braucht ja nur kurz sein Handy zu zücken und hat
der Ausstattung ihrer Figur eine Antwort auf seine Fragen in Sekundenschnelle
Lucy Mirando hat auf Swin- zur Hand.
tons Betreiben hin Chanel Das alles rächt sich spätestens in der Prüfung. Dort
übernommen. Die amerika- sind die Kandidaten dazu angehalten, nicht nur aus-
nisch-südkoreanische Kopro- wendig Gelerntes wiederzugeben, sondern unterschied-
duktion, ein Fantasy-Action- liche Aspekte miteinander zu verbinden. Daran schei-
Film um ein Riesenschwein tern sie oft. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es
unter der Regie von Bong besser wäre, wenn die Schule das Denken in Zusammen-
Joon-ho, dankt es der Firma hängen stärker fördern würde. Das könnte den Tunnel-
im Abspann. „Mir kam der blick verhindern, den viele Schüler in der Theorieprü-
Gedanke, dass Lucy viel- fung spätestens dann haben, wenn Videos von Verkehrs-
leicht etwas Besonderes tra- szenen gezeigt werden und zu beurteilen sind. Viele
gen möchte“, sagte Swinton Prüflinge blenden etliche Faktoren, die sich seitlich der
über die neurotische Chefin Straße abspielen, schlicht aus. Und dann rasseln sie
eines globalen Multikonzerns. durch die Prüfung.
Das Unternehmen habe auf Ein Letztes noch: Ich will auch uns Fahrlehrer nicht
ihre Anfrage gleich positiv aus der Verantwortung nehmen. Wir haben ein Nach-
reagiert, so die Oscarpreisträ- wuchsproblem, immer weniger junge Leute wollen
gerin, die 2013 das Kam- Fahrlehrer werden. Deswegen unterrichten immer älte-
pagnengesicht für Chanel re Kollegen immer jüngere Fahrschüler. Da gibt’s ein
war. Swinton schätzt auch an- Kommunikationsproblem. Die älteren Kollegen sind
WIREIMAGE / GETTY IMAGES

dere Luxuslabels: Im Jahr auch keine Pädagogen, sondern Fachleute. Dass der
2009 spielte sie die Hauptrol- Unterricht dann etwas zäh werden kann, liegt in der
le in dem hochgelobten ita- Natur der Sache. Wenn man das alles zusammennimmt,
lienischen Arthousefilm muss man befürchten, dass die Durchfallquote eher
„I Am Love“ und trug dabei steigen als sinken wird. Leider.“
ausschließlich Jil Sander. ks Aufgezeichnet von Philip Kaleta

DER SPIEGEL 27 / 2017 135

 „Richtig und sehr wichtig, sich nach all dem Jubel
über den so großartigen Kanzler auch noch mal dessen
Schattenseiten in Erinnerung zu rufen.“
Manfred Metz, Berlin

Bei allem Respekt
Nr. 26/2017 Kampf um einen Toten – das vergiftete
Erbe des Helmut Kohl
Das „Scheißblatt“ SPIEGEL, für Kohl nur
„für die Tonne“ tauglich, adelt seinen
Verächter durch einen Tabubruch: Der
SPIEGEL erscheint ihm zu Ehren schon
am Donnerstag statt am Samstag. Schade,
dass Kohl das nicht mehr mitkriegt.
Harald Dupont, Ettringen (Rhld.-Pf.)
16 Jahre lang haben Sie versucht, gegen
Helmut Kohl anzuschreiben – ohne Erfolg.
Jetzt nach seinem Tod machen Sie halt
weiter. Haben Sie nicht mal was Neues?
Matthias Heck, Gerlingen (Bad.-Württ.)
Ein wohltuender Beitrag in der Kakofonie
der Lobhudeleien auf Kohl. De mortuis
nihil nisi bene – über Tote rede man nur
gut – war schon in der Antike blanke
lers gar nicht in Abrede stellen. Er wird si-
cherlich als sogenannter Einigungskanzler
in die Annalen der Geschichte eingehen –
obwohl auch viele andere Politiker (Gor-
batschow, Mitterrand et cetera) und vor al-
lem viele demonstrierende Bürger in der
DDR daran einen großen Anteil haben.
Vielmehr geht es um die richtige Einord-
nung von Kohls Leistungen, und da wird
mir doch ein wenig zu viel Schönfärberei
und Legendenbildung betrieben. Schließ-
re der ersten Familie von Helmut Kohl,
die auf so vieles verzichten musste, was
wir heute genießen dürfen: Familienglück
und Freiheit!
Achim Schneider, Karlsruhe
Die Frauen Kohl-Richter und Seebacher-
Brandt bestimmen die Beerdigung, haben
die Verfügungsgewalt über ihren Mann
und dessen Werke, verbannen die echten
Angehörigen und Freunde dieser Politiker.
Ja, ihr jämmerlichen Herren, das habt ihr
nun davon, dass ihr eure „alten“ Frauen
weggeworfen habt.
Josefine Klosa, Pfarrkirchen (Bayern)
Kohls direktes, sehr persönliches Verhalten
im Umgang mit dem Normalbürger konnte
ich hautnah erleben und war hier sehr an-
getan von ihm. Als er Ministerpräsident
von Rheinland-Pfalz war, lernte ich als par-
teiloser Ludwigshafener Bürger ihn bei der

DPA
Scheinheiligkeit. Der Streit im Hause Kohl Ausbildung seines Schäferhundes im Ver-
über die Modalitäten der Beisetzung ist Helmut Kohl mit Familie 1976 ein und bei verschiedenen Saunabesuchen
symptomatisch für das Leben des Herrn im öffentlichen Hallenbad kennen; er hatte
Kohl. Selbstüberschätzend und maßlos ar- lich darf man bei allem Respekt vor Hel- dabei ein offenes Ohr für meine berufs-
rogant. Speyer statt Familiengrab, begra- mut Kohl nicht vergessen, dass ihm bei der bezogenen Themen als damaliger Gerichts-
ben und vergessen. Parteispendenaffäre das Ehrenwort wich- vollzieher in Ludwigshafen. Ich habe Hel-
Rudolf Stueben, Schwanstetten (Bayern) tiger war als all unsere Gesetze und die mut Kohl als sehr bürgernah erlebt und in
deutsche Verfassung! keiner Situation als arrogant, überheblich
Ich bin seit Jahrzehnten SPIEGEL-Leser Thomas Henschke, Berlin oder abweisend. Er war ein Pfälzer, der
und kann mich nicht entsinnen, je einen sich auch als sogenannter Machtmensch
so tendenziösen Beitrag gelesen zu haben Ein ranghoher Politiker, der die Regeln, sehr menschliche Züge bewahrte.
wie den von Michael Sontheimer über Hel- die für alle Bürger vor Gericht gelten, miss- Peter Klett-Engel, Dackenheim (Rhld.-Pf.)
mut Kohl. Man merkt die Absicht und ist achtet – wie in der Spendenaffäre –, ver-
verstimmt. Da argumentiert Klaus Brink- letzt mein Demokratieverständnis. Wenn Jeder, der wie ich heiß geliebte Verwandte
bäumer in seinem Leitartikel bei aller Kri- er zusätzlich noch wissentlich das Volk in der (ehemaligen) DDR hatte und hat,
tik wesentlich differenzierter, wenn er sagt: belügt („Blühende Landschaften“), hat er wird Helmut Kohl ewig dankbar sein für
„Der Politiker Kohl glaubte an Europa, meine Achtung verloren. die Wiedervereinigung.
kämpfte für Europa, was seine Lebensleis- Björn Uhlhorn, Laatzen (Nieders.) Barbara Heinken, Bremerhaven
tung bleibt.“ So hätte es sicherlich auch
Kohls Intimfeind, der SPIEGEL-Herausge- Es verstößt gegen die Würde des Mannes, Das Verhältnis der Deutschen zu Helmut
ber Rudolf Augstein, gesagt! ihn mit lauter wertenden Begriffen bar je- Kohl war lange ambivalent. Als „Kanzler
Günter Riemer, Münster den geschichtlichen Urteilsvermögens der der Einheit“ hatte er vieles richtig gemacht,
Redaktion abzuwatschen, bis nichts mehr und die Schmunzler und die Häme wurden
Vielen Dank an Herrn Sontheimer für sei- übrig bleibt als der „Provinzpolitiker“ und weniger. Seine Bodenständigkeit, oft zu
nen kritischen Artikel in dieser Zeit des „Tollpatsch“. Lieber SPIEGEL, wo waren Unrecht als Provinzialität verspottet – sehr
unkritischen Lobs über Kohl! Es hat mir eigentlich bei der Erstellung dieser Aus- viele Deutsche leben in der sogenannten
sehr gutgetan und mich beruhigt und er- gabe die vielgerühmten Zeithistoriker der Provinz –, und sein innerer Kompass mach-
freut, dass Sie diese andere, sehr wesent- Redaktion, um euch selbst ein „nun mal ten ihn zu einem großen Europäer. Im Ge-
liche Seite seines Wirkens benennen und langsam!“ zuzurufen und den Schreibern gensatz zu seiner Nachfolgerin verkörperte
große Kollateralschäden seines Tuns an den Schaum vom Mund zu wischen? er die CDU. Einst trat ich unter anderem
Mensch und Umwelt transparent machen Dr. Peter Müller-Rockstroh, Stuttgart seinetwegen in die Partei ein, und ihret-
und explizit benennen. wegen trat ich wieder aus. Unter der Kohl-
Clemens Michalek, Freiburg Eins von Millionen Schicksalen: Meine Ost- Regierung hätte es mit Sicherheit keine un-
West-Ehe, meine Familie und mein beruf- kontrollierte und ungesteuerte Massenein-
Auch ich habe meine Vorbehalte gegen licher Lebensweg „hüben wie drüben“ wanderung nach Europa und Deutschland
das mediale Theater, das nun um den Tod sind ohne die vom DDR-Volk erreichte gegeben. Politiker wie Kohl fehlen schon
von Helmut Kohl inszeniert wird. Dabei Wende und den „Kanzler der Einheit“ un- lange. Gerade in Europa.
will ich die politische Leistung dieses Kanz- denkbar. Unser Mitgefühl gilt insbesonde- Chris Dasch, Saulgrub (Bayern)

136 DER SPIEGEL 27 / 2017


Die Vernunft globalisieren cedes fuhr bereits mit Wasserstoff um die
Welt. Warum bietet Mercedes dann noch
Nr. 25/2017 Warum weltweit mehr als 20 Millionen immer kein wasserstoffbetriebenes Fahr-
Menschen zu verhungern drohen
zeug an? Wartet man darauf, dass Japaner,
Selten wohl wurde der Zusammenhang Koreaner oder gar Chinesen den ersten
von Welternährung, Klimawandel und Massenmarkt dafür bedienen?
Agrarindustrie so schlüssig einem breiten Wolfgang Koller, Meerbusch (NRW)
Publikum vermittelt. Nach Dampfmaschi-
ne, Eisenbahn, Ottomotor und Computer Es gibt etwa eine Milliarde Pkw und 300
müsste nun, global gedacht, das Zeitalter Millionen Lkw. Diese auf Elektroantrieb
des Heimat-Ackers zurückkehren, als An- umzustellen ist bei Lkw praktisch unmög-
tagonismus gegen Hunger und Umwelt- lich, und für Pkw würden vermutlich die
zerstörung. Dem steht jedoch die Profit- gesamten Weltvorräte an Lithium für Bat-
maschinerie der Agrarlobby und der rei- terien beziehungsweise seltenen Erden für
chen Länder der Investoren entgegen. Eine E-Motoren verbraucht. Der öffentliche Per-
anhaltende Basisbewegung zur Nachhal- sonennahverkehr in Deutschland wird seit
tigkeit, der kleinen Schritte in die richtige Jahren nicht besser. Umsteigen wird einem
Richtung, könnte lebensrettend sein für hierzulande noch erschwert.
große Teile der Weltbevölkerung. Uwe Schwinn, Hof
Peter Hülcker, Norderstedt (Schl.-Holst.)
Ihre Behauptung über die Sparsamkeit von
Nahrung dort zu produzieren, wo sie ge- Hybridfahrzeugen halte ich für Unsinn.
braucht wird, finde ich richtig. Zur Versor- Welcher Hybrid ist in vergleichbaren Fahr-
gung von Stadtbevölkerungen benötigt zeugen sparsamer als ein Dieselmotor? Je
man weiterhin auch eine moderne Agrar- länger die Strecke, je größer das Gewicht
industrie, nur nicht in dem Ausmaß. Wir und je höher die Geschwindigkeit wird,
wollen ja nicht ins vorindustrielle Zeitalter desto deutlicher wird der Vorteil des Die-
zurück, oder? Nicht der Profit, sondern sel. Der Diesel hat die geringsten CO -Wer-
²
die Vernunft sollte globalisiert werden! te und kann mit vertretbarem Aufwand
Sonja Wallenborn, Apen (Nieders.) tatsächlich sauber sein. Wie kann man da
allen Ernstes den Tod des Diesel ausrufen?
Umsteigen erschwert Markus Gickler, Köln
Nr. 25/2017 Deutschland braucht eine radikale Die notwendige Verkehrswende darf sich
Verkehrswende
nicht auf die Antriebsart der Pkw be-
Ein Bravo für Ihren ebenso mutigen wie schränken. In den Sechzigerjahren sprach
zutreffenden Artikel. Es ist schon viel zu man von „integrierter“ Stadtplanung, bei
spät, um die deutsche Autoindustrie noch der Wohnen und Arbeiten eng vernetzt
werden sollten. Das Ziel war eine Stadt
weitgehend ohne Autoverkehr, mit kurzen
Distanzen, die zu Fuß, per Fahrrad oder
mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln
bewältigt werden könnten. Aber genau das
Gegenteil wird realisiert: eine Konzen-
TOBIAS TITZ / FSTOP / PLAINPICTURE
tration von Arbeitsplätzen in den Innen-
städten mit immer mehr Wohnbebauung
außerhalb und entsprechender Zunahme
des Autoverkehrs. Die Arbeitenden müs-
sen einen großen Teil ihrer Lebenszeit in
den Staus auf den Zufahrtsstraßen verbrin-
gen und dabei selbst zur Vergiftung der
Atemluft beitragen. Solange es keine Wen-
zu retten. Das Elektroauto basiert vollkom- de der Stadtplanung gibt, werden unsere
men auf der Akkutechnologie, und da Städte immer menschenfeindlicher.
herrscht Funkstille in Deutschland; die Siegfried Ullmann, Alfter (NRW)
Neuentwicklungen mit bis zu zehnfacher
Kapazität finden in Ostasien und den USA Bundeswehr als Fremdkörper
statt. Schuld sind die überbezahlten Köpfe
der Autoindustrie, lauter Fachleute für Ver- Nr. 25/2017 In der Truppe wächst der
Widerstand gegen Ministerin von der Leyen
brennungsmotoren, die kapieren das nicht
und kleben an ihren Stühlen. Die ekelerregenden Vorkommnisse in Pful-
Dr.-Ing. Artur Seibt, Wien (Österreich) lendorf sind Auswirkungen einer auf Be- Angela Holstiege, Bünde (NRW)
fehl und Gehorsam basierenden Männer-
Ich habe die Hoffnung, dass mit Wasser- bastion. Bis vor wenigen Jahren gab es Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
stoffautos alles gut wird, dass deutsche Au- keine Frauen bei der Bundeswehr, schon (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
tofirmen weiterhin ausgelastet sein werden gar nicht in Führungspositionen. Man stel- sowie digital zu veröffentlichen und unter
und gleichzeitig die Umwelt retten. Mer- le sich vor, so etwas passierte in einem Un- www.spiegel.de zu archivieren.
Briefe
ternehmen! Frau von der Leyen ist meines
Erachtens auf dem richtigen Weg, diese
Zustände in aller Klarheit zu benennen
und einigen der Herren auf die Füße zu
BERND THISSEN / DPA
Befehlshaberin von der Leyen
treten. Nur so wird sich die Bundeswehr
an aktuelle gesellschaftliche Veränderun-
gen anpassen.
Martin Holzmann, Tübingen
Wie immer ist Ihre Recherche sauber. Was
aber – egal bei welchem Artikel Ihrer oder
einer anderen Zeitung – auffällt: dass die
Skandale, Tragödien und „Unwirtschaft-
lichkeiten“ klar im Vordergrund stehen. Es
ist richtig, gnadenlos aufzuklären, aber lei-
der nimmt die Öffentlichkeit die Bundes-
wehr als Fremdkörper wahr. „Oh, du bist
Soldat. Hast du schon auf Menschen ge-
schossen? War Afghanistan wirklich so
schlimm? Die Flintenuschi verheizt euch
doch.“ Wenn die Öffentlichkeit mithilfe
vernünftiger Aufklärung in Schulen und
Medien unseren wahren Auftrag, unseren
Platz in der Gesellschaft und unseren Eid
kennenlernen würde, hätte die Bundeswehr
in jedem Staatsbürger einen mündigen Un-
terstützer. Für das, was wir jeden Tag leis-
ten, haben wir es nicht verdient, auf solche
schlimmen Dinge reduziert zu werden.
Hendrik Wendland, Soldat, Celle
Wie wollen Sie in einem Laden, der an-
scheinend noch von feudalen Zeiten
träumt, ohne einen direkten Beschwerde-
weg zur Ministerin und ohne autoritären
Kommandoton aufräumen? Sie schlagen
Empathie vor. Empathie mit wem? Mit
selbstverliebten, nicht an demokratischen
und effizienten Strukturen interessierten,
zunächst bestenfalls feigen und später la-
mentierenden Generälen? Ursula von der
Leyen ist für mich eine Heldin. Ich bewun-
dere ihren Mut und ihren Willen, sich
durchzusetzen, und bete dafür, dass sie die
vollste Unterstützung von Angela Merkel
und allen Frauen hat, die etwas auf sich
halten.
DER SPIEGEL 27 / 2017 137
Hohlspiegel
Aus dem Amtsblatt
„Rottenburger Mitteilungen“
Aus der „Braunschweiger Zeitung“:
„Mit ein paar Unfallschäden
am alten Auto lässt sich ein Mehrfaches
des Marktwertes erzielen.“
Aus der „Wetzlarer Neuen Zeitung“
Aus der „Frankfurter Allgemeinen“:
„Als der Ostblock zerfiel und die Mauer
Risse bekam, wusste Kohl die einmalige
historische Chance zu nutzen. Die Vo-
raussetzungen dafür hatte er geschaffen,
ohne ahnen zu können, dass sie ihm
eines Tages bei der Überwindung der
deutschen Einheit hilfreich sein würden.“
Tafel im Detmolder Freilichtmuseum
Aus dem „Mindener Tageblatt“:
„Im Rahmen des Entwicklungsprozesses
der Gemeinden im Pastoralraum
Werre Weser rückte eine Bibelstelle
in den Vordergrund: Der Gang
Jesu auf dem Wasser. Diese Erzählung
soll ausprobiert werden.“
Schild vor einem Haus in der
Fuhlsbüttler Straße in Hamburg
138 DER SPIEGEL 27 / 2017
Rückspiegel
JETZT IM HANDEL:
Zitate
SCHWERPUNKT „Die Welt“ zum SPIEGEL-Bericht
KARRIERE „Spionageziel Weißes Haus“ über den
Bundesnachrichtendienst (Nr. 26/2017):
Befeuert wird die Kritik an der Informa-
tionspolitik der Bundesregierung vor der
vergangenen Wahl zudem durch einen
SPIEGEL-Bericht. Demnach soll der BND
zwischen 1998 und 2006 mit rund 4000
Suchbegriffen amerikanische Kommuni-
kation überwacht haben.
Die „Mitteldeutsche Zeitung“ zum
SPIEGEL-Bericht „Zittern im Zug“ über
den neuen ICE 4 (Nr. 26/2017):
Im neuen ICE 4, seit knapp einem Jahr
im Probebetrieb ..., treten während der
Fahrt Vibrationen auf. Die Deutsche
Bahn AG und der Zughersteller Siemens
bestätigten einen Bericht des Nachrich-
ten-Magazins DER SPIEGEL, wonach ein-
zelne Waggons des neuen Hochgeschwin-
digkeitszuges auf bestimmten Strecken-
abschnitten bei hohem Tempo immer
Weitere Themen: wieder vibrieren.
TRANSFORMATION Der SPIEGEL berichtete …
Machen Sie Ihr … in Nr. 25/2017 „Hauptstadt Hamburg“
über „Elbphilharmonie, G-20-Gipfel,
Unternehmen fit für Schanzenviertel – Comeback einer
Metropole“:
die Zukunft
Die Titelzeile „Hauptstadt Hamburg“
SELBSTMANAGEMENT hatte ein amüsantes Nachspiel in der Fra-
gestunde des Berliner Abgeordnetenhau-
Wie Pendler ihre ses: Die Opposition wollte wissen, was
der Senat zu unternehmen gedenke. Kul-
Fahrzeit besser nutzen tursenator Klaus Lederer (Die Linke)
antwortete, man habe ja erst vor sechs
MARKETING Monaten das schwere Erbe der Großen
Koalition übernommen – er sei aber gu-
Was ein Like auf ten Mutes, dass innerhalb der nächsten
fünf Jahre auch das Hamburger Nach-
Facebook wirklich richten-Magazin wieder erkenne: „Die
Hauptstadt ist Berlin.“ Er habe gerade
wert ist die Elbphilharmonie besucht und könne
versichern, dass Hamburger Kulturschaf-
fende durchaus mit Neid auf die vielfäl-
tige Kulturszene in Berlin schauten.
Ehrung
SPIEGEL-Redakteurin Ann-Kathrin Ne-
! zik ist mit dem Herbert-Quandt-Medien-
preis ausgezeichnet worden. In ihrem
Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
prämierten Artikel „Schmerzpunkte
harvardbusinessmanager.de überall“ (Nr. 40/2016) beschreibt sie, wie
ein mittelständisches Maschinenbauunter-
nehmen versucht, den Anschluss ans
digitale Zeitalter zu finden. Nezik habe
„mit viel journalistischem Gespür die
Relevanz eines Themas gut erkannt und
gut umgesetzt“, befand die Jury.
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