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Emilia Galotti ist ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen von Gotthold Ephraim Lessing.
Es wurde am 13. März 1772 im Herzoglichen Opernhaus in Braunschweig von Karl Theophil
Döbbelin anlässlich des Geburtstages der Herzogin Philippine Charlotte uraufgeführt.
Lessing war bei der Uraufführung nicht anwesend und besuchte auch später keine der
Wiederholungen.[1] Er verarbeitete in seiner Tragödie den Stoff der Legende um die Römerin
Verginia, den er an zentralen Stellen allerdings entscheidend veränderte.
Daten
Originalsprache: Deutsch
Erscheinungsjahr: 1772
Personen
Emilia Galotti
Conti, Maler
Graf Appiani
Gräfin Orsina
Figurenübersicht
Achte und letzte Szene im fünften Akt von Emilia Galotti.
Emilia Galotti ist ein Drama der Aufklärung, das dem damals vorherrschenden französischen
Vorbild widerspricht und sich auch von der durch Johann Christoph Gottsched formulierten
Regelpoetik absetzt.[2] Obwohl die Liebe ein zentrales Thema dieser Tragödie ist und Lessing
selbst den Stoff in seiner Bearbeitung vom „Staatsinteresse“ reinigen wollte, gilt Emilia Galotti
auch als politisches Stück. Der willkürliche Herrschaftsstil des Adels steht der neuen
aufgeklärten Moral des Bürgertums gegenüber.[3] Alte feudale Vorstellungen von Liebe und
Ehe treffen auf das neue bürgerliche Liebesverständnis der Empfindsamkeit. Diese
konfliktgeladene Kombination machte das Stück einst so brisant.
Handlung
Inhaltsangabe
Die Handlung folgt der Verginia-Geschichte in Livius’ römischer Geschichte oder zumindest
ihrem ersten Teil.
Der Prinz von Guastalla, der sich in Emilia Galotti verliebt hat, erfährt, dass sie noch am
selben Tag den Grafen Appiani heiraten soll. Marinelli, der Kammerherr des Prinzen, lässt
sich freie Hand geben, das Problem aus der Welt zu schaffen, und sorgt für die Ermordung
Appianis und die Entführung Emilias. Von der ehemaligen Mätresse des Prinzen, der Gräfin
Orsina, erfährt Emilias Vater, Odoardo, von dem Komplott, wenn auch zu spät; er versucht,
seine Tochter zu befreien, und als das nicht gelingt, ersticht er sie auf ihren eigenen Wunsch,
um ihre Tugend zu bewahren.
Der zweite Teil von Livius’ Erzählung, in dem der Tod Verginias einen erfolgreichen Aufstand
des Volks gegen den Tyrannen Appius Claudius auslöst, hat in Lessings Stück keine
Entsprechung.[4]
Bühnengeschehen
Sein Hofmaler Conti bringt zwei Bilder: das vom Prinzen in Auftrag gegebene Porträt dieser
Mätresse und das Duplikat eines von Vater Galotti bestellten Bildes von Emilia. Er entlohnt
den Maler fürstlich.
Sein Kammerherr Marinelli informiert ihn von der Hochzeit Emilias mit dem Grafen Appiani,
die noch am gleichen Tag vollzogen werden soll. Der Prinz gibt Marinelli freie Hand, dies zu
verhindern.
Odoardo Galotti kontrolliert bei einem kurzen Besuch in der Stadt die
Hochzeitsvorbereitungen seiner Frau Claudia. Er missbilligt, dass Emilia allein zur Kirche
gegangen ist. Währenddessen erfragt Marinellis Handlanger Angelo von seinem ehemaligen
Spießgesellen Pirro, der inzwischen im Dienst der Galottis steht, den Weg der
Hochzeitsgesellschaft zum Trauungsort.
Claudia erzählt ihrem Ehemann von dem Entzücken des Prinzen über Emilia auf einem
abendlichen Fest; Odoardo ist entsetzt darüber. Er bricht auf, um seinen zukünftigen
Schwiegersohn zu besuchen und anschließend auf sein Landgut, den Ort der Trauung,
zurückzukehren.
Emilia stürzt in das Zimmer und berichtet ihrer Mutter, dass der Prinz sie in der Kirche
angesprochen habe. Claudia beruhigt sie mit der Erklärung, es handele sich nur um höfische
Galanterie.
Appiani erscheint und äußert seine Bewunderung für seinen Schwiegervater; Emilia
beschreibt ihm ihre Hochzeitskleidung.
Marinelli fordert den Bräutigam zu einem sofortigen Dienst für den Prinzen auf, den Appiani
wegen seines Hochzeitstermins ablehnt; Marinelli reizt ihn zu einer Beleidigung; eine Duell-
Aufforderung Appianis verweigert Marinelli. Marinelli zieht sich zurück.
Marinelli informiert den Prinzen von seinem Misserfolg bei Appiani. Er weiht ihn in Teile
seiner Intrige ein. In Hörweite des Lustschlosses fallen Schüsse.
Der Bandit Angelo berichtet ihm von dem gelungenen Überfall: Appiani sei tot, ein Bandit
ebenfalls.
Der Prinz und Marinelli beobachten, wie Emilia auf das Schloss zueilt.
Emilia will zurück zum Tatort, um mit ihrer Mutter und ihrem Bräutigam zusammen zu sein;
Marinelli verhindert dies.
Der Prinz bittet sie um Entschuldigung für sein morgendliches Verhalten in der Kirche und
führt die sich sträubende Emilia in einen Nebenraum.
Ein Diener kündigt Marinelli die Ankunft von Claudia an; der Kammerherr befiehlt ihm, das sie
begleitende Volk wegzuschicken.
Prinz und Marinelli streiten, wer von den beiden den Intrigen-Erfolg verdorben hat.
Orsina analysiert mit der Hilfe von Marinellis Informationen ihre Lage und besteht auf den
Empfang durch den Prinzen. Dieser weist sie aus dem Schloss und befiehlt Marinelli zu sich.
Marinelli lässt sich von Gräfin Orsina entlocken, dass Emilia Galotti beim Prinzen ist. Da
Orsina durch ihre Kundschafter von der Kirchenbegegnung und der vom Prinzen gestandenen
Liebe zu Emilia erfahren hat, bezichtigt Orsina ihn des Mordes an Appiani; sie wolle dies an
die Öffentlichkeit bringen.
Odoardo bittet Marinelli, ihn zu Claudia und Emilia zu bringen; Marinelli verzögert dies.
Orsina überzeugt Odoardo von der prinzlichen Schuld an Appianis Tod und der
Entführungsintrige; Odoardo demonstriert seine Absicht, den Prinzen zu töten; Orsina gibt
ihm dafür einen Dolch.
Claudia bestätigt Behauptungen Orsinas zum Tathergang und schildert Emilias Zustand.
Orsina erfüllt seine Bitte, Claudia in die Stadt zurückzubringen.
Der Prinz erläutert Marinelli die Schwierigkeit, Emilia ihrem Vater vorzuenthalten; Marinelli
verspricht ihm eine neue Intrige.
Odoardo korrigiert sein positives Bild von Orsina und nimmt sich vor, alleine seine Tochter zu
retten.
Er nennt Marinelli seine Absicht, Emilia aus der Residenz zu entfernen; Marinelli deutet einen
Hinderungsgrund an.
Angesichts dessen kehrt Odoardo zu seinem Plan, den Prinzen zu töten, zurück.
Der Prinz entscheidet im Sinn von Marinellis Intrigenplan, die Familienmitglieder voneinander
zu trennen; Odoardo bittet darum, Emilia zuvor noch einmal allein sprechen zu können.
Aus Misstrauen, dass Emilia im Einverständnis mit dem Prinzen stehen könnte, will er Dosalo
verlassen; ihr Erscheinen lässt diesen Vorsatz unausgeführt.
Sie erörtern verbliebene Handlungsmöglichkeiten; Emilia bringt Odoardo dazu, sie zu töten.
Odoardo fordert vom Prinzen, ihm gegenüber sein Richteramt wahrzunehmen. Der Prinz
verbannt Marinelli vom Hof.
Zu den Dramenfiguren
Außer Marinelli seien alle Gestalten komplizierte Individuen (und selbst Marinelli mehr als ein
herkömmlicher Typ). Sie seien alle labil, hin- und hergerissen zwischen widersprüchlichen
Impulsen: der Prinz zwischen Leidenschaft und Pflicht, Emilia zwischen gefühlsmäßiger
Unsicherheit und moralischer Entschlossenheit, Odoardo zwischen moralischer Strenge und
Ehrerbietung gegenüber der Autorität, Claudia zwischen Neigung zum Hofleben und Liebe
zum wohlanständigen Familienleben, Orsina schließlich zwischen Liebe zum Prinzen und
Rachedurst. Unter dem Druck rasch wechselnder Umstände könne jeder von ihnen diese oder
jene Richtung einschlagen. So stark sei dieser Druck, dass ihnen wenig Zeit zum Nachdenken
bleibe, und mit wenigen Ausnahmen erlaubten ihre rapide vorangetriebenen und lakonischen
Dialoge nur begrenzte Einsicht in ihre seelische Verfassung.[5]
Nisbet akzentuiert den literarischen Entwicklungssprung durch dieses Drama und seine
anregende Wirkung für die folgende Epoche des Sturm und Drangs, sieht aber auch
Schwierigkeiten in der konsequenten Verwirklichung der Neuerungen:
Das Stück falle durch seine stilistische Originalität und seinen Gegensatz zu den damaligen
Konventionen der Tragödie auf. Die umgangssprachliche Zwanglosigkeit, Unverblümtheit und
auch Derbheit seiner Sprache („Hofgeschmeiß“, „Dich Kuppler!“, „ein ganzer Affe“ usw.)
verleihe dem Dialog eine für Tragödien vor 1772 ungewöhnliche Natürlichkeit, was auch von
den abrupten Leidenschaftsausbrüchen (z. B. in Aufzug III, Auftritt 6) gelte, die von der Sturm-
und-Drang-Bewegung dann bald nachgeahmt werden sollte. Nur gelegentlich, etwa in einigen
der Redepartien Orsinas, mache die rhetorische Deklamation der klassischen Tragödie sich
noch geltend, und die literarischen Anspielungen und poetischen Bilder Emilias und ihres
Vaters in den Schlussszenen wirkten angestrengt und künstlich. Doch außer Emilias
verstörtem Bericht über ihre Begegnung mit dem Prinzen in der Kirche kämen keine längeren
Erzählpartien vor und die neun Monologe (des Prinzen, Claudias, Marinellis und Odoardos)
seien kurz, lebhaft und spontan.
Stilistisch steche der knappe, eindringliche und kraftvolle Dialog der meisten Szenen hervor,
der die Handlung rasch vorantreibe und den Druck zu erkennen gebe, unter dem die Gestalten
stünden. Das Schnellfeuer der Wechselreden im ersten Akt passe mit seinem Witz, seiner
Schlagfertigkeit und seinen aphoristischen, ja epigrammatischen Formulierungen perfekt zu
dem Prinzen und seinem kultivierten Gefolge. Weniger passe es in die Welt Emilias und ihrer
Eltern, wo man gelegentlich den spontanen Ausdruck der Gefühle vermisse, der in
Krisenmomenten – wie etwa in Emilias stockendem Bericht über den Vorfall in der Kirche —
zu erwarten wäre; allzu oft würden die Gestalten über ihre Gefühle nachdenken, streiten oder
sogar über sie mit einem Maß von Bewusstheit philosophieren, das schwer mit ihrer
fürchterlichen Situation zu vereinbaren sei. Auch Emilia Galotti bezeuge, wie schon Miss Sara
Sampson, den Übergang von älteren, ausgeprägter künstlichen Konventionen zu einem
höheren Grad von Realismus, wobei der Widerspruch der beiden Tendenzen sich manchmal
allzu sehr bemerkbar mache.[6]
Interpretationsansätze
Emilia Galotti gehört zu den meistinterpretierten literarischen Werken in deutscher Sprache.
Die folgenden Richtungen werden besonders nachdrücklich vertreten:
1. Politische Deutungen (als Gegensatz zwischen dem Prinzen bzw. dem absolutistischen
Hof und der Galotti-Familie) lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen:
Zu a): Insbesondere die marxistische Forschung identifizierte einfach die Familie Galotti mit
dem Bürgertum und verband den Klassengegensatz mit der Konfrontation von Tugend – auf
der bürgerlichen – und Laster – auf der adligen Seite – (Mehring, Rilla [siehe
Literaturverzeichnis]).
Zu b): Von anderen wird in der prinzlichen Machtkonzentration die Voraussetzung für die
Tragödienkatastrophe gesehen (Alt, Nisbet).
Zu c): Wenn man in Verhaltensweisen als Ausdruck einer Egozentrik aller Figuren die
Voraussetzung von Emilias Tod sieht, entdeckt man in dem Drama vielfältige Impulse zur
Versöhnung, wodurch von Lessing das Unnötige des tragischen Ausgangs gezeigt werde
(Ter-Nedden).
2. Soziologische Deutungen betonen die Opposition von Hof und Familie. Zum einen: Der
Prinz erlaube sich ‚bürgerliche‘ – z. B. empfindsame – Gefühle, wodurch er aus der ihm
zugewiesenen sozialen Rolle falle (Eibl). Zum anderen: Da Odoardo Galotti die Welt außerhalb
der Familie als lasterhaft ansehe, empfinde seine Tochter Emilia ihre sinnliche Natur als
Gefahr, verführt zu werden (explizit im V. Aufzug, 7. Auftritt).
In der Opus-Dei-nahen Zeitung Die Tagespost wurde das Stück 2022 als „katholisches
Manifest“ bezeichnet, da Lessing darin den Übergang von der mittelalterlichen Feudal- zur
Seelsorgekirche im 19. Jahrhundert vorweggenommen habe.[7]
So wird mittels des Strukturmodells der Komödie des 18. Jahrhunderts, der Commedia
dell’arte, das Lessing in Emilia Galotti in einer raffinierten Umkehrung benutze, der tragische
Inhalt politisch interpretierbar (Müller).
Die Auseinandersetzung Lessings mit dem Virginia-Stoff wird als Zwang der Vorlage
(Schröder) oder gegensinnig als Anti-Virginia (Ter-Nedden) gedeutet.
Wichtige Forschungsdivergenzen
Viele Interpreten von Emilia Galotti geben zu verstehen, dass sie mit ihrer Deutung nicht
vollständig glücklich sind; einige geben ihre Ratlosigkeit offen zu.[9] Andere berufen sich auf
die prinzipielle Zeit- bzw. Interpretengebundenheit von Deutungen,[10] besonders Mutige
kritisieren Lessing, dass er die Aufgaben, die er sich selbst gestellt habe, nicht gelöst
habe.[11] Angesichts dieser inzwischen viele Jahrzehnte bestehenden Situation ist ein radikal
abweichender Ansatz faszinierend, der sich bei maßgeblichen Lessingforschern (z. B. FICK
2016) weitgehend durchgesetzt hat, aber von vielen anderen – insbesondere in
schulorientierter Literatur – immer noch ignoriert wird: TER-NEDDEN 1986, 2011 und 2016.
Ter-Nedden wendet sich 1986 dezidiert gegen die seit den 1970er Jahren herrschende
politisch-soziologische Interpretationsrichtung zu Emilia Galotti, z. B. gegen die folgende
Zusammenfassung von Mattenklott:
Die strikte Polarisierung von Hof- und Familiensphäre, der die Zuordnung von Laster des
Hofes und Tugend der Bürger genau entspreche, verdeutliche die soziale Stoßrichtung von
Lessings antihöfischer Kritik.[12]
Kein äußerer Zwang treibe die Helden in den Tod, sondern ihre Blindheit für mögliche
Auswege.[13]
Lessings traditionskritisch motivierter Ausgangspunkt in der Emilia Galotti sei das Motiv des
Tochtermords aus Freiheits- oder Tugendliebe (so in Lessings Livius-Quelle): Darin sei
nämlich der blitzartige Übergang vom Guten zum Bösen (dem jeder Mensch ausgesetzt sei),
von der Liebe zur Tugend zum schlimmsten Verbrechen gegen die Tugend der Liebe auf
unüberbietbare Weise materialisiert. Odoardo sei Lessings tragischer Held par excellence,
weil er in äußerster Verblendung den einen Schritt, der die Gesinnung dieses „Muster[s] aller
männlichen Tugend“ (II.7) vom schlimmsten Verbrechen trenne, auf exemplarische Weise
vorführe. Odoardo gehe diesen Schritt allerdings nicht allein; alle anderen Figuren trügen zu
seinem Sündenfall bei und nähmen ihn auf ihre Weise sogar vorweg — zuerst und auf
gleichermaßen exemplarische Weise der Prinz, schon im I. Akt (1986, S. 184): durch den
mitleidlosen Verweis seiner Liebe Orsinas in die für ihn abgeschlossene Vergangenheit (I.1),
durch die bedenkenlose Vollmacht für Marinelli, alles zur Verhinderung von Emilias Hochzeit
zu gestatten (I.6), durch seine von Hast geprägte gedankenlose Bereitschaft, ein Todesurteil
zu unterschreiben (I.8) und durch sein Liebesbekenntnis vor Emilia während eines
Gottesdienstes (zwischen I. und II. Akt).
Ähnlich endeten im II. Akt viele Auftritte damit, dass Verständigungschancen versäumt
würden: Pirro verschweige seinem Herrn den geplanten Raubüberfall; Odoardo versäume die
Rückkehr Emilias aus der Kirche; Emilia verschweige Appiani die Begegnung mit dem
Prinzen; Appiani lasse sich den Gang zum Prinzen von Marinelli abnehmen (1986, S. 205).
Entscheidend für die Beurteilung Odoardos und Emilias in dem die meisten Interpreten
verstörenden 7. Auftritt des V. Akts sei die vorläufige Untersuchungshaft, die Emilias
„Entfernung aus der Welt“ (durch ein Einsperren im Kloster, so Odoardo in V.5) verhindern und
dem Prinzen die Möglichkeit erhalten soll, sie zu sehen und zu sprechen.[14] Diese
Untersuchungshaft sei – so Ter-Nedden – für sich genommen nichts, was ohne Wahn zum
Gegenstand eines Kampfes auf Leben und Tod werden könne (1986, S. 232). Am Ende (V.7)
fliehe Emilia also wie am Anfang (II.6) vor der Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie; und zwar
sei es mitnichten eine ihr noch unbewusste Neigung zum Prinzen, die mit Hilfe des
väterlichen Dolches im Keim erstickt werden müsse, sondern eine ins Wahnhafte gesteigerte
Sündenfurcht, dem Echo des misanthropischen Tugendrigorismus ihres argwöhnischen
Vaters, die sie in eine solche blinde Furcht treibe (1986, S. 208).
Lessing ersetze dadurch den Rahmen, innerhalb dessen sich die traditionellen dramatischen
Kampfhandlungen abspielten, also die Pole „Sieg“ (der Gegen-Gewalt, auch bei Livius) und
„Niederlage“ (der Gewalt), durch die Pole „Verführung zur Gewalt“ und „Führerschaft zur
Vernunft“ (1986, S. 235). Tragödienwürdig sei nicht das Verbrechen des Bösewichts – solch
eine Problemstellung sei trivial –, sondern die Untat des Tugendhelden sei der
darstellungswürdige Skandal in der lessingschen Moralphilosophie (1986, S. 244).
Das Motiv der Flucht der Jungfrau vor der aggressiven Sexualität männlicher Machthaber in
den Tod gehöre zu den zeitlosen Handlungsmustern, deren Varianten sich überall antreffen
ließen, in den antiken Mythen so gut wie in Produkten der zeitgenössischen (trivialen)
Kulturindustrie (2016, S. 313). Bei Lessing hingegen flüchte seine Heldin nicht vor der
männlichen Gewalt, sondern in religiös begründeter Sündenfurcht vor der eigenen weiblichen
Sexualität in den Tod; das sei unerhört – früher und heute immer noch (2016, S. 314). Dass
man die Tugend eines Menschen nicht dadurch bewahren könne, dass man ihn – so wie
Odoardo seine Tochter – umbringe, verstehe sich aber eigentlich von selbst (2016, S. 321).
Die Aufgabe, die zu lösen Lessing sich vorgenommen habe, bestehe aber darin, den Weg in
den Tod als das Resultat einer wahnhaften Verirrung kenntlich zu machen, und zwar – und
dies trägt wohl entscheidend zum Missverständnis bei – ohne den Figuren die Empathie und
Sympathie der Zuschauer zu entziehen (2016, S. 377).
Zur Gattungsproblematik
Hugh Barr Nisbet weist hingegen darauf hin, dass Lessing sein geplantes Stück zwar 1758
zunächst als „eine bürgerliche Virginia“ bezeichnete, dass der abgeschlossenen Fassung der
Untertitel aber fehlt. Auch aus dem Untertitel von Miss Sara Sampson strich Lessing in der
Neuausgabe seiner gesammelten Tragödien, die ebenfalls 1772 erschienen, das Adjektiv
„bürgerlich“ – wobei nicht bekannt ist, ob er die Bezeichnung als unnötig ansah oder sich von
anderen Stücken aus dieser Zeit distanzieren wollte. Allerdings sahen bereits einige frühe
Kritiker Emilia Galotti nicht als ein bürgerliches Trauerspiel im üblichen Sinn. So ordnete es
der Dramenkritiker C. H. Schmid 1773 in „einer Mittelgattung zwischen dem bürgerlichen und
dem heroischen Trauerspiel“ ein, und August Wilhelm Schlegel formulierte in seinen
Vorlesungen von 1809–11: „Es ist nicht eigentlich ein bürgerliches Trauerspiel, sondern ein
Hoftrauerspiel im Conversationstone.“ Das Publikum, das eine Tragödie in der Art von Miss
Sara Sampson erwartete hätte, habe sich durch das Stück befremdet gefühlt, mit dessen
Figuren es nicht identifizieren konnte und deren Gefühle nicht tränenreich dargestellt wurden.
In neueren Untersuchungen wird Emilia Galotti wesentlich vielschichtiger verstanden und der
gesellschaftlich-politische Gehalt stärker in den Vordergrund gerückt. Laut Hugh Barr Nisbet
schafft das Stück „Distanz und fordert zum Nachdenken auf, und der Schluss ist aufstörend
und beunruhigend statt rührend und kathartisch.“ Während vor allem in marxistisch
geprägten Untersuchungen in den 1960er und 1970er Jahren der Klassenunterschied
zwischen Bürgertum und Aristokratie herausgestellt wurde, herrsche inzwischen
Übereinstimmung, dass die Galotti aus dem niederen Landadel stammen. Der entscheidende
Unterschied sei somit nicht ein Klassenunterschied, sondern einer „von Herrscher und
Untertanen, öffentlicher und privater Sphäre und vor allem von höfischer Gesellschaft und
Familienleben im kleinen Kreis und den entsprechenden wechselseitig unvereinbaren
Wertvorstellungen.“[17]
Cornelia Mönch versteht Emilia Galotti sogar als eine Art „‚Abrechnung‘ mit der knapp 20-
jährigen Geschichte des bürgerlichen Trauerspiels“. So besitze der Mord Odoardos an seiner
Tochter eine traditionskritische Bedeutung, die vom damaligen Publikum kaum verstanden
werden konnte. In der Tradition des bürgerlichen Trauerspiels sei ein solcher
Verwandtenmord jedoch irritierend und nicht mit der Vorstellung einer „Schule der Sitten“ in
Einklang zu bringen. Lessing habe in seinem Stück selbst die Frage nach dem Gattungsbezug
thematisiert, als Odoardo in V, 8 zum Prinzen spricht: „Sie erwarten vielleicht, dass ich den
Stahl wider mich selbst kehren werde, um meine Tat wie eine schale Tragödie zu
beschließen? – Sie irren sich.“ Der Verweis auf das um Rache schreiende Blut wecke im
Zuschauer noch einmal den „Erwartungshorizont der Doktrin der poetischen Gerechtigkeit“,
doch Lessing enttäusche und irritiere sein Publikum, indem er weder traditionelle
Erwartungen erfülle, noch eine neue, akzeptable Lösung biete. Dies würde laut Cornelia
Münch „die traditionskritische Dolchspitze der Emilia Galotti entschärfen“.[18]
Historische Hintergründe
Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti steht in der Tradition literarischer Bearbeitungen der
römischen Verginia-Legende. Um einer möglichen Zensur zuvorzukommen, verlegt er die
Handlung nicht in eines der von ihm eigentlich gemeinten typisch deutschen
Kleinfürstentümer, sondern nach Guastalla, einen italienischen Zwergstaat der Renaissance,
der zu der italienischen Region Emilia-Romagna gehört. Bei dem Prinzen Hettore Gonzaga
handelt es sich zwar um eine fiktive Figur, doch gab es tatsächlich ein Geschlecht der
Gonzaga, das seit 1328 in Mantua herrschte. Ferrante, ein Bruder von Federigo II., war seit
1539 Besitzer der Grafschaft Guastalla. Mit dem Tod des Herzogs Joseph Maria von
Guastalla starb 1746 die jüngere Linie der Gonzaga aus. 1748 gingen seine Territorien an
Parma.
Lessing, der zeit seines Lebens an Geldnot litt, da er dem Glücksspiel nicht abgeneigt war,
wollte seinen Herren, den Herzog von Braunschweig, indirekt um eine Gehaltserhöhung
bitten. Dies tat er mehr oder weniger diskret in der zweiten Szene des Buches, als der
Künstler Conti mit dem Prinzen darüber redet, dass die "Kunst nach Brot geht". Tatsächlich
wurde alsbald sein Gehalt erhöht.[19]
Über fünfzehn Jahre lang beschäftigt sich Lessing mit dem Verginia-Stoff. Er übersetzt nicht
nur verschiedene Schriftstücke, die sich mit der Legende befassen, sondern auch den Anfang
von Samuel Crisps Trauerspiel Virginia (1754). Lessings Briefe dokumentieren, dass er seit
1757 selbst den Plan für eine „bürgerliche Virginia“ verfolgt. In der Neuen Bibliothek der
Wissenschaften und freyen Künste schreibt Lessing zusammen mit Friedrich Nicolai und
Moses Mendelssohn einen Wettbewerb aus, zu dem deutsche Trauerspiele eingeschickt
werden sollten. Lessing beschließt, an dem Wettbewerb selbst anonym teilzunehmen, und
verfasst zu diesem Zweck seine Emilia Galotti, die er allerdings nicht termingerecht
abschließt. In einem Brief teilt er Friedrich Nicolai mit:
Trivia
Emilia Galotti spielt eine wesentliche Rolle in Goethes Werk Die Leiden des jungen Werthers,
da Werther und Lotte viel mit diesem Stück verbindet.
Verfilmungen
AT/D 2003/2005: Emilia Galotti, (Regie: Andrea Breth, Fernsehregie: Andreas Morell)
Vertonungen
Herbert Fritsch inszenierte das Trauerspiel als Opera buffa mit Musik von Mozart.[20]
Der niederländische Musiker Marijn Simons schrieb eine gleichnamige Oper in einem Akt,
die 2014 uraufgeführt wurde.[21]
Hörspiele (Auswahl)
Aktuelle Ausgaben
Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Reclam, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-15-
019225-2 (Text und Kontext, herausgegeben von Thorsten Krause), ISBN 978-3-15-019262-
7 (Studienausgabe, herausgegeben von Elke Bauer und Bodo Plachta).
Elke Monika Bauer: Emilia Galotti: ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. von Gotthold Ephraim
Lessing, historisch-kritische Ausgabe. Niemeyer, Tübingen 2004, ISBN 3-484-10848-7
(Zugleich Dissertation Uni Osnabrück 2001).
Literatur
Gesa Dane: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Erläuterungen und Dokumente. Reclam,
Stuttgart 2002, ISBN 3-15-016031-6, S. 26–27, 34–35, 37, 42–43.
Beate Herfurth-Uber: Lessing, Emilia Galotti, Hören & Lernen, Wissen kompakt in 80 Minuten.
Mit Schlüsselszenen einer Inszenierung am Hessischen Landestheater Marburg. Interview
mit dem Regisseur Karl Georg Kayser. MultiSkript, Eppstein 2007, ISBN 978-3-00-021494-3.
(Audio-CD)
Sebastian Kaufmann, Günter Saße: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. (= Schroedel
Interpretationen. Band 28). Schroedel, Braunschweig 2012, ISBN 978-3-507-47724-7.
Wolf Dieter Hellberg: Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Interpretationshilfe für
Oberstufe und Abitur. Klett Lerntraining, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-12-923137-1.
Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. 13. Auflage. Stuttgart 1957 (zuerst 1906).
Karl Eibl: Identitätskrise und Diskurs. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Band
21, 1977, S. 138–191.
Monika Fick: Verworrene Perzeptionen. Lessings Emilia Galotti. In: Jahrbuch der Deutschen
Schillergesellschaft. Band 37, 1993, S. 139–163.
Judith Frömmer: Vom politischen Körper zur Körperpolitik: Männliche Rede und weibliche
Keuschheit in Lessings Emilia Galotti. In: Deutsche Vierteljahresschrift für
Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Band 79, 2005, S. 169–195.
Gerd Hillen: Die Halsstarrigkeit der Tugend. In: Lessing-Yearbook. Band 2, 1970, S. 115–134.
Gert Mattenklott: Drama – Gottsched bis Lessing. In: Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.):
Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang,
1740–1786. Reinbek 1980, S. 277–298.
Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Eine Rettung. (1893). In: Thomas Höhle u. a. (Hrsg.):
Mehring: Gesammelte Schriften. Band 9, Berlin 1963.
Klaus-Detlef Müller: Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel. Lessings Emilia
Galotti und die commedia dell’arte. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft
und Geistesgeschichte. Band 46, 1972, S. 28–60.
Peter Horst Neumann: Der Preis der Mündigkeit. Über Lessings Dramen. Stuttgart 1977.
Paul Rilla: Lessing und sein Zeitalter. (= Lessing, Gesammelte Werke. Band 10). 2. Auflage.
Berlin 1968.
Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972.
Inge Stephan: „So ist die Tugend ein Gespenst“. Frauenbild und Tugendbegriff im
bürgerlichen Trauerspiel bei Lessing und Schiller. In: Lessing-Yearbook. Band 17, 1985, S. 1–
20.
Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem
Geist der Kritik. Stuttgart 1986.
Gisbert Ter-Nedden, Der fremde Lessing. Eine Revision des dramatischen Werks., hrsg. v.
Robert Vellusig, Stuttgart 2016.
Alois Wierlacher: Das Haus der Freude oder Warum stirbt Emilia Galotti? In: Lessing-
Yearbook. Band 5, 1973, S. 147–162.
Benno von Wiese: Die Deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. 1. Teil: Tragödie und
Theodizee. 2. Teil: Tragödie und Nihilismus. 6. Auflage. Hamburg 1964 (zuerst 1948).
Wolfgang Wittkowski: Hausväter im Drama Lessings und des Sturm und Drangs. Frankfurt
am Main 2013.
Karin A. Wurst: Familiale Liebe ist die ‚wahre Gewalt‘. Die Repräsentation der Familie in G. E.
Lessings dramatischem Werk. Amsterdam 1988.
Weblinks
Einzelnachweise
1. Rolf Hagen: Gotthold Ephraim Lessing in Braunschweig. In: Gerd Spies (Hrsg.): Festschrift
zur Ausstellung: Brunswiek 1031, Braunschweig 1981. Die Stadt Heinrich des Löwen von
den Anfängen bis zu Gegenwart, Waisenhaus-Druckerei, Braunschweig 1981, S. 636.
3. Oft wird die Familie Galotti fälschlich als bürgerlich bezeichnet, obwohl sie im niederen
Adel angesiedelt ist. Tatsächlich sind im so genannten bürgerlichen Trauerspiel des 18.
Jahrhunderts typischerweise nicht die Personen, sondern die Probleme bürgerlicher Natur.
7. Die Tagespost: Ein katholisches Manifest. Mit seiner vor 250 Jahren in Braunschweig
uraufgeführten „Emilia Galotti“ legte Gotthold Ephraim Lessing auch ein persönliches
Glaubensbekenntnis ab. (https://www.die-tagespost.de/kultur/emilia-galotti-lessing-legt-ei
n-katholisches-manifest-ab-art-226405) 12. März 2022, abgerufen am 6. April 2022
(deutsch).
11. Siehe Steinmetz 1987, S. 389 und 395. Zusammenfassend auch Nisbet 2008, S. 651, 652,
656, 659, 660 und 663.
12. Gert Mattenklott, Drama – Gottsched bis Lessing. In: Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.):
Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und
Drang, 1740–1786. Reinbek 1980, S. 277–298, hier S. 294.
13. Gisbert Ter-Nedden, Lessings Trauerspiele, Stuttgart 1986, S. 164; Ter-Neddens Werke
werden im Folgenden abgekürzt zitiert mit der Jahres- und Seitenzahl.
14. Vgl. auch Monika Fick, Lessing-Handbuch. 4. Auflage. Stuttgart 2016, S. 354–357.
15. Gisbert Ter-Nedden, Der fremde Lessing. Eine Revision des dramatischen Werks. hrsg. v.
Robert Vellusig, Stuttgart 2016, prägnant zusammengefasst und kritisch gewürdigt in der
Rezension von Monika Fick in Das achtzehnte Jahrhundert. In: Zeitschrift der Deutschen
Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts. Band 42, Heft 1, 2018, S.
148–150. Ter-Neddens anfangs erwähnte dritte Emilia-Galotti-Interpretation, die
religionsphilosophische Problemdarstellung 2011, ist argumentativ so in sich geschlossen,
dass eine Zusammenfassung kaum möglich erscheint: Gisbert Ter-Nedden, Lessings
dramatisierte Religionsphilosophie. In: Christoph Bultmann u. a. (Hrsg.): Lessings
Religionsphilosophie im Kontext. Berlin 2011, S. 283–335.
17. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, S. 651–653.
18. Cornelia Mönch: Abschrecken oder Mitleiden. Das deutsche bürgerliche Trauerspiel im 18.
Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 156–158.
Dramen
Damon, oder die wahre Freundschaft | Der junge Gelehrte | Die alte Jungfer | Der Misogyn | Der
Freigeist | Die Juden | Der Schatz | Emilia Galotti | Miss Sara Sampson | Philotas | Minna von
Barnhelm | Nathan der Weise
Dramenfragmente
Samuel Henzi | D. Faust
Gedichte
Lieder | Oden | Sinngedichte
Fabeln
Fabeln und Erzählungen
Ästhetische Schriften
Rezensionen | Briefe | Vorreden | Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele |
Über das Lustspiel »Die Juden« | Ein Vade mecum für den Hrn. Sam Gotthl. Lange. Pastor in
Laublingen | Rettungen | Briefwechsel über das Trauerspiel | Abhandlungen über die Fabel | Briefe,
die neueste Literatur betreffend | Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie |
Hamburgische Dramaturgie | Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können … | Wie die
Alten den Tod gebildet | Leben und leben lassen | Selbstbetrachtungen und Einfälle
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title=Emilia_Galotti&oldid=221975674“