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Die Blümlein alle. – Der Satz, von Jean Paul wohl, die Erinnerungen seien der einzige
Besitz, den niemand uns wegnehmen könne, gehört in den Vorrat des ohnmächtig
sentimentalen Trostes, der die entsagende Zurücknahme des Subjekts in die Innerlichkeit
jenem als eben die Erfüllung einreden möchte, von der es abläßt. Mit der Einrichtung des
Archivs seiner selbst beschlagnahmt das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als
Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. Das
vergangene Innenleben wird zum Mobiliar, wie umgekehrt jedes Biedermeierstück
geschaffen ward als holzgewordene Erinnerung. Das Interieur, in dem die Seele die
Sammlung ihrer Denkwürdigkeiten und Kuriositäten unterbringt, ist hinfällig. Erinnerungen
lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht
unauflöslich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. Keiner verfügt mit der Freiheit
und Willkür darüber, deren Lob die Sätze Jean Pauls schwellt. Gerade wo sie
beherrschbar und gegenständlich werden, wo das Subjekt ihrer ganz versichert sich meint,
verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht. Wo sie aber,
geschützt durchs Vergessene, ihre Kraft bewahren, sind sie gefährdet wie alles
Lebendige. Die gegen Verdinglichung gewandte Konzeption Bergsons und Prousts,
derzufolge das Gegenwärtige, die Unmittelbarkeit nur vermittelt durchs Gedächtnis sich
konstituiert, die Wechselwirkung von Jetzt und Damals, hat darum nicht bloß den
rettenden, sondern auch den infernalischen Aspekt. Wie kein früheres Erlebnis wirklich ist,
das nicht durch unwillkürliches Eingedenken aus der Totenstarre seines isolierten Daseins
gelöst ward, so ist umgekehrt keine Erinnerung garantiert, an sich seiend, indifferent
gegen die Zukunft dessen, der sie hegt; kein Vergangenes durch den Übergang in die
bloße Vorstellung gefeit vorm Fluch der empirischen Gegenwart. Die seligste Erinnerung
an einen Menschen kann ihrer Substanz nach widerrufen werden durch spätere
Erfahrung. Wer liebte und Liebe verrät, tut Schlimmes nicht nur dem Bilde des
Gewesenen, sondern diesem selber an. Mit unwiderstehlicher Evidenz drängt in die
Erinnerung eine unwillige Gebärde beim Erwachen, ein abwesender Tonfall, eine leise
Hypokrisie der Lust sich ein und macht die Nähe von einst schon zu der Fremdheit, die sie
heut geworden ist. Verzweiflung hat den Ausdruck des Unwiderruflichen nicht, weil es
nicht noch einmal besser werden könnte, sondern weil sie die Vorzeit selber in ihren
Schlund hineinzieht. Darum ist es töricht und sentimental, vor der Schmutzflut des
Gegenwärtigen Vergangenes rein erhalten zu wollen. Diesem ist keine Hoffnung gelassen,
als daß es, schutzlos dem Unheil ausgeliefert, aus diesem als anderes wieder hervortrete.
Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst.
Hildegard O’Kane – CU Language Centre LAP Basic2 Vokab: Adorno LT 2023, Woche 5
widerrufen to revoke
verraten to betray
Gewesenes, no pl, n past events
unwiderstehlich compelling
drängen to urge, push
unwillig reluctant
Erwachen, no pl, n awakening
von einst formerly
Fremdheit, no pl, f alienation
unwiderruflich irrevocable
Schlund, u e, m abysm, throat
hineinziehen to draw into
töricht foolish, silly
Schmutzflut, en, f dirt flood
erhalten to keep
schutzlos without protection
jdm (dat) ausgeliefert to be at sb’s mercy
sein
hervortreten to emerge
verzweifelt desparate
sterben to die
umsonst futile