Sie sind auf Seite 1von 9

See discussions, stats, and author profiles for this publication at: https://www.researchgate.

net/publication/12211026

[The psychology of childhood trauma].

Article  in  ains · Anästhesiologie · Intensivmedizin · November 2000


Source: PubMed

CITATIONS READS

0 130

1 author:

Markus Landolt
University of Zurich
272 PUBLICATIONS   7,353 CITATIONS   

SEE PROFILE

Some of the authors of this publication are also working on these related projects:

Development of a website and app for psychoeducation and early screening after accidental trauma in children and adolescents (KidTrauma project) View project

Development and Evaluation of the CARE intervention program in young children after burn accidents View project

All content following this page was uploaded by Markus Landolt on 28 July 2015.

The user has requested enhancement of the downloaded file.


DER BESONDERE BEITRAG n 615
nnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnnn

­­ Die Psychologie
des verunfallten Kindes
M. A. Landolt
Universitäts-Kinderspital Zürich

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
Zusammenfassung. Eine bedeutsame Zahl von Kindern ent- schen psychischen Reaktionen bei verunfallten Kindern. Im
wickelt nach Unfällen psychische Symptome, welche als post- deutschsprachigen Raum existieren bisher überhaupt keine
traumatische Belastungsreaktionen bezeichnet werden können. Publikationen hierzu. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man
Es wird ein Überblick über die Literatur zum Thema der psychi- um die Bedeutung einer frühzeitigen Erfassung allfällig
schen Konsequenzen nach Unfällen im Kindesalter gegeben. vorhandener posttraumatischer psychischer Reaktionen weiû:
Neben Klassifikation und Erfassung posttraumatischer psychi- mehrere Forschungsgruppen konnten bei verschiedenen Grup-
scher Reaktionen, werden die Prävalenz, die Pathogenese, die pen psychisch traumatisierter Kinder nachweisen, dass solche
Biologie sowie die Prävention und Behandlung solcher Störun- Störungen ohne adäquate Behandlung über Monate bis Jahre
gen behandelt. Es wird empfohlen, dass zukünftig in der Be- persistieren können [9, 22, 31]. Sie können nicht nur vielfältige
handlung des verunfallten Kindes vermehrt psycho-traumatolo- psychosoziale Konsequenzen haben und zu einer verminderten
gische Aspekte berücksichtigt werden. Lebensqualität führen, sondern auch die Compliance mit der
medizinischen Behandlung entscheidend beeinträchtigen [1].
Schlüsselwörter: Unfall ± Kind ± Jugendliche ± Psychologie ±
posttraumatische Belastungsstörung Im Folgenden wird ein Überblick über die Literatur zum Thema
der psychischen Konsequenzen von Unfällen im Kindesalter
gegeben. Nach einer Übersicht über die Klassifikation und
The Psychology of Children after Trauma. A significant Erfassung posttraumatischer psychischer Reaktionen, werden
number of child victims of accidents develops psychological die Prävalenz, die Pathogenese, die Biologie sowie die Be-
symptoms which can be described as posttraumatic stress reac- handlung solcher Störungen nach Unfällen im Kindesalter
tions. This article reviews the literature on psychological conse- behandelt.
quences of accidents. Classification, diagnosis, prevalence, pa-
thogenesis, biology, prevention, and therapy of post-traumatic Klassifikation posttraumatischer psychischer Reaktionen
stress reactions in children and adolescents are discussed. Con-
sideration of psychotraumatological aspects in the treatment Kinder und Jugendliche zeigen nach akuten Psychotraumata
of children and adolescents after accidents is recommended. eine groûe Spannbreite von psychischen Reaktionen, ein-
schlieûlich ¾ngsten, Albträumen, Schlafstörungen, dissoziati-
Key words: Accident ± Child ± Adolescent ± Psychology ± Post- ven Symptomen, Konzentrationsproblemen, Trennungsäng-
traumatic stress disorder sten, u. v. m. Die meisten dieser auf den ersten Blick un-
zusammenhängenden Symptome und Störungen lassen sich
unter Berücksichtigung der modernen Psychotraumatologie
besser einordnen. Kinder und Jugendliche reagieren auf akut
Einleitung traumatisierende Ereignisse wie beispielsweise einen Ver-
kehrsunfall in gewisser Hinsicht vorhersehbar. Abb. 1 zeigt die
Jedes Jahr werden Tausende von Kindern und Jugendlichen mit aktuell gültige Klassifikation posttraumatischer psychischer
unfallbedingten Verletzungen ins Spital aufgenommen und
behandelt. Viele der erlittenen Verletzungen sind die Folgen
von objektiv und/oder subjektiv bedrohlichen und ängstigen- Reaktionen auf schwere Belastungen
den Unfällen, die bei den Betroffenen einhergehen mit aus- ICD-10 Ziffer F43
geprägten Gefühlen der Angst und der Hilflosigkeit. Damit
erfüllen solche Ereignisse die modernen Definitionskriterien
für ein Psychotrauma [5]. Obwohl dieser Zusammenhang
offensichtlich ist und jeder Kliniker weiû, dass Kinder auch Akute Belastungsreaktion Posttraumatische Belastungsstörung
ICD-10 Ziffer F43.0 ICD-10 Ziffer F43.1
mit ihrer Psyche auf organische Traumata reagieren, gibt es bis
heute nur vereinzelte Studien zur Prävalenz von posttraumati-
Anpassungsstörungen
ICD-10 Ziffer F43.2
Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35:615 ± 622
 Georg Thieme Verlag Stuttgart New York
·

ISSN 0939 ± 2661 Abb. 1 Klassifikation psychotraumatischer Reaktionen gemäss ICD-10


[11].
616 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 Landolt MA

Reaktionen gemäss dem von der WHO entwickelten Klassifika- Stumpfheit und Gleichgültigkeit anderen Menschen und der
tionssystem ICD-10 [11]. Die initiale Reaktion auf ein belasten- Umgebung gegenüber. Bei Jugendlichen sind Vorstellungen
des Ereignis wird als akute Belastungsreaktion bezeichnet. über eine beeinträchtigte Zukunft und damit zusammenhän-
Diese akuten Symptome können übergehen in kürzer- oder gende Zukunftsängste häufig. Das Wiedererleben des trauma-
längerdauernde sogenannte Anpassungsstörungen wie bei- tischen Ereignisses und der dauernde Versuch, auslösenden
spielsweise depressive oder aggressive Reaktionen. Am häu- Reizen aus dem Weg zu gehen, gehen einher mit einer
figsten allerdings entwickeln sich in der Folge von akut vegetativen Übererregung, welche im Zusammenhang steht
traumatisierenden Ereignissen Symptome der sogenannten mit der vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen. Es
posttraumatischen Belastungsstörung. Ein Teil der Kinder und
Jugendlichen zeigen weder akute Belastungsreaktionen noch Tab. 1 DSM-IV Diagnosekriterien für eine posttraumatische Bela-
längerdauernde Störungen. stungsstörung [5].

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
Akute Belastungsreaktion: Es handelt sich hierbei um eine A. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert,
vorübergehende Störung, die sich bei einem vorbestehend bei dem die folgenden beiden Merkmale vorlagen:
psychisch gesunden Kind als Reaktion auf eine auûergewöhn- (1) Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder
liche physische oder psychische Belastung entwickelt. Die mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder
Symptomatik ist wechselnd. Symptome von Bewusstseinsein- drohenden Tod, ernsthafte Verletzungen oder eine Gefahr für
die körperliche Unversehrtheit der eigenen Person oder
engung, Desorientiertheit und eingeschränkter Aufmerksam-
anderer Personen beinhalteten.
keit wechseln sich ab mit Unruhezuständen und Hyperaktivi- (2) Die Reaktion der Person beinhaltete intensive Furcht, Hilf-
tät. Meistens treten vegetative Zeichen panischer Angst auf, wie losigkeit, Grauen, aufgelöstes oder agitiertes Verhalten.
Tachykardie, Schwitzen und Erröten. Die Symptome erscheinen B. Das traumatische Ereignis wird beharrlich auf eine oder mehrere
im allgemeinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden der folgenden Weisen wiedererlebt:
Ereignis und gehen innerhalb von Stunden bis wenigen Tagen (1) wiederkehrende oder eindringliche belastende Erinnerungen
zurück. Teilweise oder vollständige Amnesie bezüglich dieser an das Ereignis, die Bilder, Gedanken oder Wahrnehmungen
Episode kann vorkommen. beinhalten können oder bei kleinen Kindern wiederholtes
Spielen, bei dem Themen oder Aspekte des Traumas aus-
Anpassungsstörungen: Bei diesen Störungen handelt es sich um gedrückt werden,
(2) wiederkehrende belastende Träume von dem Ereignis,
Zustände subjektiver Bedrängnis und emotionaler Beeinträch-
(3) Handeln oder Fühlen als ob das Ereignis wiederkehre
tigung, die im allgemeinen soziale Funktionen und Leistungen (beinhaltet Gefühl, das Ereignis wiederzuerleben, Tagträume,
behindern und während des Anpassungsprozesses nach einem Halluzinationen und dissoziative Flash-back-Episoden, wie sie
belastenden Ereignis auftreten. Die Symptomatik beginnt in beim Aufwachen oder bei Vergiftungen auftreten können),
der Regel innerhalb des ersten Monats nach dem Ereignis und Hinweis: Bei jungen Kindern können trauma-spezifische
umfasst kürzere und längere depressive Reaktionen sowie Wiederholungen auftreten.
¾ngste und Störungen des Sozialverhaltens (z. B. dissoziales (4) Intensives körperliches Unwohlsein bei der Konfrontation mit
Verhalten). internalen oder externalen Reizen, die einen Aspekt des
Traumas symbolisieren oder an Aspekte desselben erinnern,
(5) Körperliche Reaktionen bei Konfrontation mit internalen oder
Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS): Tab. 1 zeigt die externalen Reizen, die das Trauma symbolisieren oder an
aktuell gültigen Diagnose-Kriterien gemäss DSM-IV.1 Es han- Aspekte desselben erinnern.
delt sich hierbei um das gleichzeitige Vorhandensein einer C. Anhaltende Vermeidung von Reizen, die mit dem Trauma
Symptomtrias, bestehend aus Symptomen des Wiedererlebens verbunden sind oder Abflachung der Reagibilität (Beginn erst nach
(Kriterium B), der Vermeidung (Kriterium C) und der physio- dem Trauma). Mindestens drei der nachfolgend genannten
logischen Übererregung (Kriterium D). Bilder von belastenden Symptome:
Ereignisse drängen immer wieder hervor, sei es im Rahmen von (1) bewusstes Vermeiden von Gedanken, Gefühlen oder
Alb- und Tagträumen oder sogar von Flash-backs. Es kann zu Gesprächen, die mit dem Trauma assoziiert sind,
körperlichen Reaktionen kommen, wenn das betroffene Kind (2) bewusstes Vermeiden von Aktivitäten, Orten oder Menschen,
die Erinnerungen an das Trauma bewirken,
Reizen ausgesetzt ist, die an das belastende Ereignis erinnern.
(3) Unfähigkeit, einen wichtigen Aspekt des Traumas zu
Bei jüngeren Kindern kann man häufig das sogenannte erinnern,
traumatische Spiel beobachten: Belastende Szenen werden (4) deutlich verringertes Interesse an wichtigen Aktivitäten,
auf fast zwanghafte Weise immer und immer wieder nachge- (5) Gefühl der Losgelöstheit oder Fremdheit von anderen,
spielt, ohne dass dies einen kathartischen Effekt hätte. Da die (6) eingeschränkter Affektspielraum (z. B. erwartet nicht, eine
Symptome des Wiedererlebens unangenehm und quälend sind, Karriere, Ehe, Kinder oder normal langes Leben zu haben).
werden auslösende Reize zu vermeiden versucht. Das Kind D. Anhaltende Symptome erhöhter Aktivierung (Beginn erst nach
entwickelt eine Vielfalt von Vermeidungsstrategien, welche im dem Trauma). Mindestens zwei der folgenden Symptome:
Extremfall zu einer Amnesie für Teilaspekte des Traumas (1) Schwierigkeiten einzuschlafen oder durchzuschlafen
führen können. Zusätzlich besteht oft ein allgemein verrin- (2) Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
(3) Konzentrationsschwierigkeiten,
gertes Interesse an der Umwelt sowie ein Gefühl emotionaler
(4) übermäûige Wachsamkeit,
(5) übermäûige Schreckreaktionen.
E. Die unter Kriterium B, C und D genannten Symptome halten
1
Die Diagnosekriterien gemäû des in Europa gebräuchlicheren Klassi- mindestens einen Monat an.
fikationssystems ICD-10 unterscheiden sich nur unwesentlich von F. Die Störung verursacht klinisch relevantes Unwohlsein oder
jenen des DSM-IV [5]. Da in der Forschungsliteratur fast ausschlieû- Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
lich auf die DSM-IV Kriterien Bezug genommen wird, werden diese in Funktionsbereichen.
der Folge ausführlicher vorgestellt.
Die Psychologie des verunfallten Kindes Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 617

kommt zu Schlafstörungen, Konzentrationsproblemen, Hyper- Ein 6jähriges Mädchen bleibt nach einer Kollission eines Autos
vigilanz und oft auch einer erhöhten Reizbarkeit und Schreck- mit einer Straûenbahn während fast einer Stunde im völlig
haftigkeit. Die Diagnose einer PTBS darf erst gestellt werden, zerstörten Auto eingeklemmt. Obwohl das Kind den Unfall
wenn die oben erwähnten Symptome während mindestens unverletzt überstanden hat, hatte es groûe ¾ngste. Zwei
eines Monates vorhanden sind (Kriterium E). Eine Diagnose Monate nach diesem Ereignis leidet es an einer ausgeprägten
setzt schlieûlich auch ein klinisch relevantes Unwohlsein oder posttraumatischen Belastungsstörung. Das Mädchen hat jede
eine Beeinträchtigung im Alltag voraus (Kriterium F). Nacht Albträume und muss auch tagsüber sehr oft an das
Geschehene denken, was mit groûer Angst verbunden ist
Das Symptombild, welches heute als PTBS bezeichnet wird, ist (Kriterium B). Es weigert sich standhaft, wieder in ein Auto zu
in der Fachliteratur schon seit dem amerikanischen Bürgerkrieg steigen, hat starke Trennungsängste entwickelt und vermeidet
in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bekannt [7]. Erstaunlicher- geschlossene Räume (Kriterium C). Zusätzlich zeigen sich eine

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
weise fand es jedoch erst 100 Jahre später im Zusammenhang Reihe von Übererregungssymptomen, wie beispielsweise Kon-
mit den umfangreichen Untersuchungen zu den gesundheitli- zentrationsprobleme, Hypervigilanz und übermäûige Schreck-
chen Folgen bei den Vietnam-Veteranen im Jahre 1980 Einzug haftigkeit (Kriterium D).
in die modernen Klassifikationssysteme [3]. Es dauerte dann
nochmals fast ein Jahrzehnt, bis die Fachwelt das Vorhanden- Die Erfassung posttraumatischer psychischer Reaktionen
sein solcher Störungen auch bei Kindern in Betracht zog und
schlieûlich anerkannte. Bis weit in die 80er Jahre herrschte in Die Erfassung von posttraumatischen Belastungsreaktionen
den Lehrbüchern der Kinderpsychiatrie nämlich die Ansicht sollte durch ein sorgfältiges klinisch-psychologisches Inter-
vor, dass Kinder zwar auf ein akutes traumatisches Ereignis view mit dem betroffenen Kind sowie im Rahmen eines
reagieren, dass diese Reaktionen jedoch fast immer kurz- Gesprächs mit den Eltern erfolgen. Es ist bekannt, dass Eltern
fristiger Natur sind [12]. Die Gründe für diese Unterschätzung die Symptomatik ihrer Kinder häufig unterschätzen [46]. Bei
von posttraumatischen Belastungsreaktionen im Kindes- und Kindern im Schulalter und Jugendlichen kann eine Reihe von
Jugendalter sind wohl methodischer Art und liegen in inad- Fragebogenverfahren bzw. standardisierten Interviewleitfäden
äquaten Messinstrumenten sowie in der alleinigen Abstützung eingesetzt werden [30], welche allerdings bisher in deutscher
auf Fremdurteile von Eltern und Lehrern, die das Ausmaû der Sprache nicht erhältlich sind. Messinstrumente zur Erfassung
kindlichen Reaktionen nachweisbar unterschätzen [46]. Syste- der allgemeinen psychischen Auffälligkeit (z. B. Verhaltens-
matische Beschreibungen von posttraumatischen Belastungs- fragebögen), wie sie in der kinderpsychiatrischen Diagnostik
reaktionen im Kindesalter finden sich in der Literatur erst seit häufig eingesetzt werden, sind in der Regel nicht in der Lage, die
ungefähr Mitte der 80er Jahre, wobei das diagnostische spezifischen posttraumatischen Symptome zu identifizieren.
Konzept anfänglich noch unklar blieb. Erst im Klassifikations- Sie sollten deshalb bei psychisch traumatisierten Kindern
system DSM-III-R [4] wurde erwähnt, dass posttraumatische höchstens ergänzend eingesetzt werden.
Belastungsstörungen auch bei Kindern vorkommen können
und es wurden erstmals Besonderheiten der kindlichen PTBS- Eine besondere Schwierigkeit stellt die Diagnose posttrauma-
Symptomatik hervorgehoben, welche in der Folge weiter tischer Belastungsreaktionen im Kleinkind- und Säuglingsalter
spezifiziert wurden [5]. Heute besteht in der Fachliteratur dar. In diesem frühen Lebensalter ist die Validität der heutigen
weitgehende Einigkeit, dass auch Kinder im Vorschul- und Kriterien nicht nachgewiesen. Es gibt in der Literatur allerdings
Schulalter posttraumatische Stressreaktionen zeigen können, vielversprechende Versuche, eigene Diagnoseleitlinien für
die jenen der Erwachsenen ähnlich sind und über Monate bis psychisch traumatisierte Säuglinge und Kleinkinder zu ent-
Jahre andauern können [43]. Allerdings beschränkten sich wickeln [34].
entsprechende Studien bis in jüngste Zeit vorwiegend auf
Kinder, welche Gewaltereignisse und Naturkatastrophen erlebt Prävalenz posttraumatischer Belastungsreaktionen nach
hatten. Die systematische Untersuchung der psychischen Unfällen
Konsequenzen von Unfällen hat eben erst begonnen.
Es gibt eine wachsende Anzahl Studien über die psychosozialen
Fallbeispiele Folgen von Verkehrsunfällen bei Erwachsenen [6, 24]. Dagegen
haben die Auswirkungen von Unfällen auf die Psyche von
Ein 7jähriger Knabe erlebt als Autopassagier eine durch seinen Kindern bisher noch wenig Aufmerksamkeit erhalten. Nach-
Vater verursachte Frontalkollision. Der Junge erleidet eine dem es zunächst nur wenige Einzelfallbeschreibungen in der
Hirnerschütterung und eine Vorderarmfraktur, der Vater einige Literatur gab [14, 38], wurden in jüngster Zeit nun eine Reihe
Prellungen. Ein in einem anderen Fahrzeug mitfahrendes von systematischen Studien, insbesondere bei Kindern nach
Mädchen erleidet ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. In den Verkehrsunfällen publiziert, welche nachweisen, dass post-
ersten Tagen nach dem Unfall zeigen sich beim Knaben traumatische Belastungsreaktionen unerwartet häufig sind.
Symptome einer akuten Belastungsreaktion. 6 Wochen nach Stallard and Law [35] fanden bei allen 7, in einen Schulbusunfall
dem Ereignis kommt der Patient in die Sprechstunde mit dem verwickelten Jugendlichen, nach drei Monaten klinisch rele-
Vollbild einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er leidet vante psychische Auffälligkeiten, welche die Kriterien für die
unter Albträumen und angstauslösenden Bildern vom Unfall Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüll-
(Kriterium B), hat ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten ten. Di Gallo et al. [10] untersuchten in einem prospektiven
auslösenden Reizen (Auto) gegenüber entwickelt (Kriterium Design 57 Kinder und Jugendliche, die einen Verkehrsunfall
C) und zeigt weiterhin ein hohes physiologisches Erregungsni- erlitten hatten und fanden, dass 14 % der Kinder nach 12 ± 15
veau (Kriterium D), welches sich in Konzentrationsschwierig- Wochen unter mittleren bis starken posttraumatischen Bela-
keiten, Hypervigilanz und ausgeprägter Schreckhaftigkeit äu- stungsstörungen litten. Stallard et al. [36] untersuchten 119
ûert. Kinder und Jugendliche nach einem Verkehrsunfall sowie 66
618 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 Landolt MA

Kinder und Jugendliche nach einem Sportunfall. 6 Wochen umfeldspezifische Merkmale als Prädiktoren der psychosozia-
nach dem Ereignis litten 34,5 % der Verkehrsunfallopfer, aber len Folgen fungieren, deren Wirkungen durch kognitive
nur 3 % der im Sport verunfallten Kinder unter einer post- Bewertungen und Bewältigungsprozesse vermittelt und modi-
traumatischen Belastungsstörung. Mirza et al. [28] befragten fiziert werden. Dabei können die Prädiktoren sowohl als
119 im Verkehr verunfallte Kinder und Jugendliche und stellten Risikofaktoren wie auch als Ressourcen wirken. Neben den
fest, dass 6 Wochen nach dem Ereignis 28 % die Kriterien für die indirekten Wirkungen via Bewertungen und Bewältigungs-
Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfüll- prozesse sind auch direkte Wirkungen möglich, welche die
ten. Landolt et al. [18] untersuchten in einer explorativen Studie indirekten Wirkungen komplementieren.
16 Kinder und Jugendliche 6 ± 8 Wochen nach einem Verkehrs-
oder Verbrennungsunfall. 42 % der im Verkehr verunfallten
sowie 50 % der brandverletzten Kinder wiesen eine post- Unfallspezifische

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
traumatische Belastungsstörung auf. Solche psychischen Re- Merkmale
aktionen nach Brandverletzungen im Kindesalter fanden auch
Stoddard et al. [37]. Aaron et al. [1] fanden bei 40 Kindern einen Personenspezifische Umfeldspezifische
Monat nach einem Unfall ebenfalls hohe Raten an psychischen Merkmale Merkmale
Auffälligkeiten: 22,5 % der Kinder zeigten das Vollbild der
posttraumatischen Belastungsstörung, 47,5 % erfüllten die Bewertungen
entsprechenden Diagnosekriterien in mindestens zwei der drei
Symptomclustern. De Vries et al. [9] befragten 102 Eltern von
Bewältigungsverhalten
im Verkehr verunfallten Kindern zum psychischen Befinden
ihrer Kinder. 7 ± 12 Monate nach dem Unfall erfüllten 25 % der
Kinder die Diagnosekriterien für eine posttraumatische Bela- kurz- und mittelfristige psychosoziale Folgen
stungsstörung. Levi et al. [22] verglichen in einem prospektiven
Design 81 Kinder mit einem Schädel-Hirn-Trauma mit 59 Abb. 2 Transaktionales Unfallbewältigungsmodell im Kindes- und
Kindern mit orthopädischen Verletzungen. 6 Monate nach dem Jugendalter (in Anlehnung an Landolt, Vollrath, Gnehm u. Sennhauser,
Unfall zeigten 22,2 % der Kinder mit orthopädischen Verlet- 1998).
zungen, 18,4 % der Kinder mit leichten Schädel-Hirn-Traumata
und 42,4 % der Kinder mit schweren Schädel-Hirn-Traumata
klinisch relevante posttraumatische Belastungssymptome auf.
Die Prävalenzraten nach 12 Monaten bewegen sich in ähnlicher Unfall- und verletzungsspezifische Faktoren
Höhe.
Interessanterweise hängen objektive Ereignismerkmale wie
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in jüngster Zeit beispielsweise Art oder Schweregrad der Verletzung in den
einige Studien zur Prävalenz posttraumatischer Belastungsre- meisten Studien nicht oder nur minimal mit dem Vorhanden-
aktionen bei verunfallten Kindern erschienen sind. Die Präva- sein von posttraumatischen psychischen Reaktionen zusam-
lenzraten entsprechender Störungen sind insbesondere bei im men [9,10,18, 28, 36]. Auch die Präsenz einer verletzungsbe-
Verkehr verunfallten Kindern erstaunlich hoch, auch wenn die dingten Amnesie schützt nicht unbedingt vor posttraumati-
Spannbreite der Befunde aufgrund unterschiedlicher metho- schen Belastungssymptomen [10,16, 26]. Dass Unfallmerkmale
discher Zugänge recht breit ist. Leider konzentrieren sich die trotzdem wichtig sind, zeigt eine englische Studie von [36],
bisher publizierten Studien fast ausschlieûlich auf Opfer von welche nachweist, dass Verkehrsunfälle längerdauernde und
Verkehrsunfällen, obwohl es deutliche Hinweise gibt, dass auch schwerwiegendere psychische Konsequenzen haben als andere
anderweitig verunfallte Kinder (z. B. brandverletzte Kinder) Unfälle. Auch innerhalb der Vielzahl möglicher Verkehrsunfälle
hohe Raten an posttraumatischen psychischen Reaktionen gibt es interessante Unterschiede in der Prävalenz posttrau-
aufweisen können [18, 37]. Die zweite Einschränkung, welche matischer psychischer Störungen: Als Passagiere in Autos
sich aus den bisherigen Studien ergibt, betrifft die fast aus- entwickeln die Kinder mehr längerdauernde Störungen als
schlieûliche Fokussierung auf das Konstrukt der posttraumati- wenn sie zu Fuû oder auf dem Fahrrad verunfallen [9, 28].
schen Belastungsstörung. Die Prävalenz anderer psychischer
Reaktionen nach Unfällen (Anpassungsstörungen) wurde bis- Personspezifische Faktoren
her von keiner Forschungsgruppe untersucht. Studien bei
Erwachsenen zeigen, dass das Spektrum posttraumatischer Die Befunde hinsichtlich der Bedeutung personspezifischer
Reaktionen bedeutend breiter ist [25]. Merkmale für die Entwicklung posttraumatischer Belastungs-
reaktionen sind kontrovers. Während einige Autoren ein
Pathogenese posttraumatischer Belastungsreaktionen erhöhtes Risiko bei Mädchen gefunden haben [28, 36], gibt es
andere Gruppen, die keinen solchen Zusammenhang nach-
Obwohl posttraumatische psychische Reaktionen in direktem wiesen [1, 9,10]. Auch die Bedeutung des Alters für die
ätiologischem Zusammenhang mit einem Trauma stehen, gibt Entwicklung posttraumatischer psychischer Symptome ist
es eine Vielzahl verschiedener Faktoren, welche die Entstehung zum heutigen Zeitpunkt unklar. Während eine Reihe von
und den Verlauf solcher Reaktionen mitbeeinflussen. Abb. 2 Studien keinen diesbezüglichen Zusammenhang fanden
zeigt ein auf der transaktionalen Stressbewältigungstheorie [1, 28, 36], fanden andere Forschungsgruppen, dass ältere
[21] basierendes Belastungsbewältigungsmodell, welches ver- Kinder [9] bzw. jüngere Kinder [10, 22] höhere Raten post-
sucht die bisherigen Forschungsbefunde zu integrieren [19]. traumatischer Belastungsreaktionen aufwiesen. Etwas ein-
Dabei wird davon ausgegangen, dass unfall- und verletzungs- heitlicher sind die Befunde hinsichtlich vorbestehender psy-
spezifische Merkmale, personenspezifische Merkmale und chischer Auffälligkeiten beim verunfallten Kind: Diese stellen
Die Psychologie des verunfallten Kindes Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 619

einen erheblichen Risikofaktor für die Entwicklung posttrau- ziertes Hippocampus-Volumen. Im Rahmen von PET-Studien
matischer Belastungsstörungen dar [28, 39]. wurde eine deutliche Aktivierung der Amygdala bei Flashbacks
gefunden. Einige Arbeiten aus dem Bereich der Psycho-
Umfeldfaktoren neuroimmunologie beschreiben negative Auswirkungen chro-
nischer posttraumatischer Belastungsreaktionen auf das
Entwicklung und Verlauf posttraumatischer Belastungsreak- menschliche Immunsystem.
tionen werden gerade im Kindesalter erheblich durch Faktoren
des sozialen Umfeldes mitbestimmt. Eine groûe Bedeutung Leider gibt es bis zum heutigen Zeitpunkt kaum Studien zu
kommt dabei insbesondere den Eltern zu. Kinder, welche sozial biologischen Auffälligkeiten bei psychisch traumatisierten
gut unterstützt sind, entwickeln weniger Störungen [42]. Kindern, obwohl immer wieder darauf hingewiesen wird, dass
Allgemeine psychopathologische Auffälligkeiten [13, 27] und der sich entwickelnde kindliche Organismus besonders vulne-

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
vor allem die Präsenz post-traumatischer psychischer Auffäl- rabel auf andauernde neurobiologische Abnormalitäten ist
ligkeiten bei den Eltern erhöhen das Risiko für posttraumati- [41]. De Bellis et al. [8] konnten bei sexuell missbrauchten
sche Belastungsstörungen bei den Kindern [9]. Levi et al. [22] Mädchen Beeinträchtigungen des Immunsystems sowie
fanden bei Kindern nach Unfällen einen Zusammenhang schwerwiegende neuroendokrine Störungen nachweisen, ins-
zwischen der sozioökonomischen Herkunft und der Stärke besondere im Bereich der Steroid- und Schildrüsenhormone.
der posttraumatischen Belastungsreaktionen: Kinder aus der Marti u. Landolt [23] fanden bei brandverletzten Kindern
Unterschicht entwickelten schwerere Störungen. Dies hängt massiv erhöhte Cortisolwerte im Speichel.
wahrscheinlich damit zusammen, dass Unterschichtangehöri-
ge über weniger Bewältigungsressourcen verfügen. Noch
Behandlung posttraumatischer Belastungsreaktionen
wenig untersucht ist die Bedeutung von Schule und Gleich-
altrigengruppe im Hinblick auf die Bewältigung unfallbeding- Primäre Prävention
ter psychischer Traumata. Yule [42] konnte zeigen, dass in der
Schule erfahrene soziale Unterstützung eine protektive Wir- Da posttraummatische Belastungsreaktionen direkte Folgen
kung hat. von Unfällen sind, sind Anstrengungen im Bereich der primären
Prävention von hoher Bedeutung. Jede Verminderung der
Bewertungs- und Bewältigungsprozesse Unfallzahl führt automatisch zu einer Abnahme jener Zahl
von Kindern, die unter klinisch relevanten psychischen Unfall-
Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung und den konsequenzen zu leiden haben. Einen Überblick über mögliche
Verlauf von posttraumatischen Belastungsstörungen sind sub- präventive Maûnahmen geben Kemp u. Sibert [17]. Im Vorder-
jektive Bewertungsprozesse in bezug auf den Unfall, und zwar grund stehen eine Verbesserung der Stellung des Kindes im
insbesondere die peritraumatisch erlebte Angst und Hilflosig- Verkehr, sicherere Verkehrswege sowie allgemeine unfallprä-
keit: Je gröûer die während des Unfalls erlebte Angst, desto ventive Massnahmen.
höher das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu
entwickeln [1,10]. Damit zusammenhängend sind die Befunde, Sekundäre Prävention
welche zeigen, dass der Schweregrad der initialen posttrau-
matischen Reaktionen (akute Belastungsreaktion) einen hohen Sekundär präventive psychosoziale Interventionen sollen nach
prädiktiven Wert in Bezug auf die Langzeitfolgen hat [31, 45]. einem psychisch belastenden Unfall sicherstellen, dass akute
Die mit dem Unfall verbundenen Kausalattributionen des Belastungsreaktionen nicht in längerdauernde posttraumati-
betroffenen Kindes sind ebenfalls von Bedeutung. Joseph et sche Belastungsstörungen oder in Anpassungsstörungen mün-
al. [15] fanden ein erhöhtes Risiko für posttraumatische den. Genauso wie das somatische Trauma einer sofortigen
Belastungsreaktionen bei Jugendlichen, die trotz offensichtlich Intervention durch den Notfallarzt bedarf, sollte auch das
unkontrollierbarem äuûerem Ereignis (Sinken eines Schiffes) Psychotrauma baldmöglichst angegangen werden. Hier
eine Mitschuld am Ereignis auf sich nahmen. Noch wenig braucht es einen Ansatz, der im Folgenden als Psychologische
untersucht sind die Bedeutung spezifischer Bewältigungs- Erste Hilfe bezeichnet wird. Zunächst sind hierbei Angehörige
strategien für den Verlauf posttraumatischer Belastungssym- und Medizinalpersonen gefragt. Nur gut informierte und
ptome. In einer kürzlich publizierten Studie konnten Aaron et betreute Angehörige sowie optimal ausgebildetes und geführ-
al. [1] bei verunfallten Kindern zeigen, dass die Vermeidung der tes Personal können gewährleisten, dass die bei jedem Kind
Auseinandersetzung mit den belastenden Bildern und Gedan- auch in belastenden Situationen vorhandenen Ressourcen
ken, das Risiko von längerdauernden posttraumatischen Bela- mobilisiert werden können. Es braucht als Grundprämisse in
stungsstörungen erhöht. der Klinik ein den Patienten und seine Angehörigen emotional
unterstützendes Umfeld. Die Rolle des Psychologen oder
Biologie posttraumatischer Belastungsreaktionen Psychiaters besteht dabei einerseits in der Beratung der
Angehörigen und Medizinalpersonen und andererseits in der
Aus Studien bei Erwachsenen weiû man, dass posttraumatische Durchführung spezifischer sekundär präventiver Interventio-
Belastungsstörungen mit einer Reihe von psychobiologischen nen mit den betroffenen Patienten. Eine anerkannte, jedoch
Auffälligkeiten einhergehen [40, 41]. Der mit einer psychischen wissenschaftlich im Hinblick auf ihre Auswirkungen noch
Traumatisierung einhergehende chronische physiologische ungenügend abgesicherte Intervention ist das psychologische
Übererregungszustand führt zu vielfältigen neuro-hormonalen Debriefing [29]. Diese Technik, die ursprünglich zur Prävention
Wirkungen wie z. B. erhöhten Katecholaminwerten, veränder- posttraumatischer psychischer Symptome bei verschiedenen
ter glukokortikoider Stressantwort und verminderter Seroto- Helfergruppen (Feuerwehr, Polizei, Ambulanzpersonal) ent-
ninaktivität. Ebenfalls wurde eine Reihe von neuroanatomi- wickelt wurde, ist von Stallard u. Law [35] für den Einsatz im
schen Auswirkungen beschrieben wie beispielsweise ein redu- Jugendalter adaptiert worden. Im Rahmen eines psychologi-
620 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 Landolt MA

schen Debriefings sollen die Betroffenen im Beisein einer reiche Behandlung sein, da die psychische Traumatisierung
Fachperson noch einmal hoch strukturiert und geleitet das eines Kindes immer Auswirkungen auf das ganze Familien-
traumatische Ereignis erzählen. Die kognitive Einordnung ist system hat. Es gibt zudem deutliche empirische Befunde, dass
dabei von entscheidender Bedeutung für die Bewältigung. das elterliche Befinden und Verhalten signifikante Prädiktoren
Wenn man sich mit dem Ablauf des Geschehenen auseinander- der Traumabewältigung durch das Kind sind [9]. Eltern sind
gesetzt, einen roten Faden der Geschichte erzeugt hat, können auch hier oft die geeignetsten Therapeuten ihrer Kinder, wenn
die schwer lastenden, oft schlecht definierten Gefühle ein- sie entsprechend beraten werden.
facher geklärt und integriert werden. Von besonderer Bedeu-
tung und Bestandteil jedes psychologischen Debriefings ist die Da Kinder mit vorbestehender Psychopathologie ein erhöhtes
Information der Betroffenen und deren Angehörigen über die Risiko für posttraumatische Belastungsstörungen haben, ist es
normalen Stressreaktionen sowie die Vermittlung und Ein- wichtig, psychische Störungen zu erkennen, die nicht mit dem

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
übung hilfreicher Stressbewältigungsstrategien. Im Rahmen Trauma in Verbindung stehen. Diese Störungen benötigen
einer solchen, in den ersten Tagen nach einem Unfall durch- häufig eine andere Therapie als die trauma-bezogene Sym-
zuführenden Debriefing-Sitzung können zudem Kinder und ptomatik. Eine sorgfältige Diagnostik ist in diesem Zusammen-
allenfalls am Unfall beteiligte Angehörige mit einem erhöhten hang sehr wichtig.
Risiko für längerfristige posttraumatische Belastungsreaktio-
nen identifiziert und einer frühzeitigen Behandlung zugeführt Auch pharmakologische Therapien können indiziert sein und
werden. beispielsweise vorübergehend zur Behandlung von Übererre-
gungssymptomen wie Schlafstörungen eingesetzt werden [32].
Die Eltern, das ärztliche und pflegerische Personal sowie Zusätzlich kann eine begleitende pharmakologische Behand-
weitere Bezugspersonen des verunfallten Kindes sind darüber lung bei einem Vorherrschen von depressiven Symptomen und
aufzuklären, dass über das traumatische Ereignis geredet starken Angstsymptomen in Betracht gezogen werden. Bis zum
werden sollte. Keinesfalls soll das Kind aus Gründen einer heutigen Zeitpunkt gibt es allerdings keine klinischen Studien,
falsch verstandenen Schonung vor der Auseinandersetzung mit die die Effektivität bestimmter pharmakologischer Behand-
dem Erlebten ¹geschütztª werden, was auch die Studie von lungen bei Kindern mit posttraumatischen Belastungsstörun-
Aaron et al. [1] zeigt. Auch Stallard u. Law [35] konnten in einer gen belegen.
methodisch allerdings nicht befriedigenden Studie zeigen, dass
das psychologische Debriefing in einer Gruppe von Mädchen Gruppentherapeutische Ansätze sind dann in Betracht zu
nach einen Schulbusunfall zu einer signifikanten Reduktion der ziehen, wenn mehrere Kinder und Jugendliche in einem Unfall
posttraumatischen Symptomatik führte. Allerdings zeigen involviert sind (z. B. Schulbusunfall). In solchen Gruppen
neueste Forschungsarbeiten zur Wirkung von Debriefing- Gleichbetroffener geht es neben dem Austausch von Infor-
Interventionen bei Erwachsenen, dass mit solchen Interven- mationen und Gefühlen besonders um die gegenseitige Unter-
tionen vorsichtig umgegangen werden muss, damit es nicht zu stützung sowie das Entwickeln gemeinsamer und individueller
einer Retraumatisierung der Betroffenen kommt [33]. Syste- Bewältigungsstrategien [44].
matische Studien zu den Auswirkungen von Debriefing-Inter-
ventionen bei verunfallten Kindern liegen bis heute keine vor. Schlussfolgerungen
Es ist deshalb zum jetzigen Zeitpunkt unklar, welche früh-
zeitigen psychosozialen Interventionen im Langzeitverlauf Die heute vorliegenden Befunde zeigen deutlich, dass eine
einen positiven Effekt haben und wann sie durchgeführt bedeutsame Zahl von Kindern nach Unfällen psychische Sym-
werden sollen. ptome entwickelt, welche als posttraumatische Belastungsre-
aktionen bezeichnet werden können. Je nach Studie leiden bis
Tertiäre Prävention zu 40 Prozent der verunfallten Kinder auch Wochen bis Monate
nach dem Ereignis an solchen Störungen. Bis zum heutigen
Kinder, bei denen klinisch relevante posttraumatische Bela- Zeitpunkt werden solche Reaktionen bei verunfallten Kindern
stungssymptome 4 ± 6 Wochen nach einem Unfall persistieren, praktisch nie zu einem frühen Zeitpunkt erfasst. Es gibt im
sollten einer geeigneten kinderpsychologisch-psychiatrischen deutschen Sprachraum keine standardisierten Screeningver-
Behandlung zugeführt werden. Es gibt eine Reihe verschiede- fahren zur Identifikation betroffener Kinder. Trotz deutlichen
ner therapeutischer Zugänge, die von Einzeltherapien, über Hinweisen, dass Kinder, die in subjektiv bedrohliche und
Familien- und Gruppentherapien bis hin zu Pharmakothera- angstauslösende Unfälle verwickelt waren, von frühzeitigen
pien reichen [39, 44]. Allerdings gibt es erst wenig gesichertes psychologischen Interventionen profitieren könnten [1, 36],
Wissen zur Wirksamkeit spezifischer psychotherapeutischer werden Methoden der Psychologischen Ersten Hilfe kaum
Interventionen bei posttraumatischen Belastungsstörungen im eingesetzt. Solche sekundär präventive Interventionen müss-
Kindesalter. Die aktuellen Richtlinien der amerikanischen ten gemäû heutigem Wissen insbesondere bei jenen Patienten
Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie [2] empfehlen in Betracht gezogen werden, die nach einem psychotraumati-
ein therapeutisches Vorgehen, welches die folgenden Kompo- schen Ereignis mit starken Vermeidungsreaktionen reagieren.
nenten beinhaltet: 1. Direkte Exploration des Traumas und Dabei sollte aus mehreren Gründen unbedingt die Familie
Ausdruck der mit dem Trauma einhergehender Emotionen, miteinbezogen werden: Eltern können sensibilisiert und infor-
2. Einübung spezifischer Stressbewältigungsstrategien (z. B. miert werden in bezug auf die möglichen posttraumatischen
progressive Muskelrelaxation, Autogenes Training), 3. Explora- Belastungssymptome. Eltern sind die nächsten Bezugsperso-
tion und Korrektur inadäquater, das Trauma betreffender nen des Kindes und können diesem helfen, funktionale Bewäl-
Bewertungen (z. B. Schuldgefühle) und 4. Einbezug der Eltern tigungsstrategien zu entwickeln. Da auch die Eltern im
und allenfalls der Geschwisterkinder in die Behandlung. Zusammenhang mit Unfällen oder schweren Erkrankungen
Letzteres kann von entscheidender Bedeutung für eine erfolg- ihrer Kinder häufig unter posttraumatischen Belastungsstö-
Die Psychologie des verunfallten Kindes Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 621

12
rungen leiden [9,18], können frühe psychologische Interven- Garmezy N, Rutter M: Acute reactions to stress. In: Rutter M,
tionen auch für die Eltern hilfreich sein. Hersov L (eds): Child and adolescent psychiatry: modern
approaches, 2nd ed. Oxford. Blackwell 1985: 152
13
Insgesamt kann festgestellt werden, dass das posttraumatische Green BL, Korol M, Grace MC, Vary MG, Leonard AC, Gleser GC,
Stressbewältigungsmodell hilfreich für das Verständnis der Smitson-Cohen S: Children and disaster: age, gender, and parental
effects on PTSD symptoms. J Am Acad Child Adolesc Psychiat 1991;
kindlichen Reaktionen nach Unfällen ist. Um die psycho-
30: 945
sozialen Auswirkungen von somatischen Traumata zu vermin- 14
Jones RW, Peterson LW: Post traumatic stress disorder in a child
dern, muss die Entwicklung von Konzepten der Psychologi-
following an automobil accident. J Fam Pract 1993; 36: 223
schen Ersten Hilfe in Zukunft weiter intensiviert und deren 15
Joseph SA, Brewin CR, Yule W, Williams R: Causal attributions and
Anwendung bei Risikogruppen sichergestellt werden. Dass eine posttraumatic stress in adolescents. J Child Psychol Psychiat 1993;
erhebliche Anzahl verunfallter Kinder neben der somatischen 34: 247

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
Therapie auch einer über die Akutsituation hinausgehenden 16
Joseph S, Masterson J: Posttraumatic stress disorder and traumatic
psychosozialen Betreuung bedürfen, haben die jüngsten Stu- brain injury: are they mutually exclusive? J Traum Stress 1999; 12:
dien zur Prävalenz von posttraumatischen Belastungsstörun- 437
gen sehr deutlich gezeigt. Zur Sicherstellung und frühzeitigen 17
Kemp A, Sibert J: Childhood accidents: epidemiology, trends, and
Verfügbarkeit solcher Behandlungsangebote haben sich soge- prevention. J Acid Emerg Med 1997; 14: 316
18
nannte Liaisonmodelle der Zusammenarbeit zwischen psycho- Landolt MA, Boehler U, Schwager C, Schallberger U, Nuessli R:
sozialen und medizinischen Fachleuten bewährt [20]. In Posttraumatic Stress Disorder in Paediatric Patients and Their
solchen Konzepten gehören psychosoziale Fachpersonen bei Parents: An Exploratory Study. J Paediatr Child Health 1998; 34:
Hoch-Risiko-Patienten selbstverständlich in das multidiszipli- 539
19
näre Behandlungsteam, und zwar idealerweise von Anfang an. Landolt MA, Vollrath M, Gnehm HpE, Sennhauser FH: Das
Gemeinsam mit den medizinischen und paramedizinischen transaktionale Belastungsbewältigungsmodell. Zürich. Universi-
täts-Kinderklinik 1998
Fachpersonen wird so eine ganzheitliche, auch die Erkenntnisse 20
Lask B: Paediatric liaison work. In: Rutter M, Taylor E, Hersov L
der Psychotraumatologie berücksichtigende Behandlung des
(eds): Child and adolescent psychiatry: modern approaches.
verunfallten Kindes und seines Umfeldes sichergestellt.
Oxford. Blackwell 1994: 996
21
Lazarus RS, Folkman S: Stress, appraisal and coping. New York.
Literatur Springer
22
Levi RB, Drotar D, Yeates KO, Taylor HG: Posttraumatic stress
1
Aaron J, Zaglul H, Emery RE: Posttraumatic stress in children symptoms in children following orthopedic or traumatic brain
following acute physical injury. J Pediatr Psychol 1999; 24: 335 injury. J Clin Child Psychol 1999; 28: 232
2
American Academy of Child and Adolescent Psychiatry AACAP: 23
Marti D, Landolt MA: Does Bugs Bunny alleviate pain and stress in
Summary and practice parameters for the assessment and burned children undergoing dressing changes? 5th Workshop.
treatment of children and adolescents with posttraumatic stress Lissabon. European Club of Pediatric Burns 1997
disorder. J Am Acad Child Adolesc Psychiat 1998; 37: 997 24
Mayou R, Bryant B, Duthie R: Psychiatric consequences of road
3
American Psychiatric Association: Diagnostic and statistical traffic accidents. Br Med J 1993; 307: 647
manual of mental disorders, 3rd ed. Washington. American 25
Mayou R, Tyndel S, Bryant B: Long-term outcome of motor vehicle
Psychiatric Association 1980 accident injury. Psychosom Med 1997; 59: 578
4
American Psychiatric Association: Diagnostic and statistical 26
Max JE, Castillo CS, Robin DA, Lindgren SD, Smith WL, Sto Y, Arndt
manual of mental disorders, 3rd ed. rev. Washington. American S: Posttraumatic stress symptomatology after childhood trauma-
Psychiatric Association 1987 tic brain injury. J Nerv Ment Dis 1998; 186: 589
5
American Psychiatric Association: Diagnostic and statistical 27
McFarlane AC: Posttraumatic phenomena in a longitudinal study
manual of mental disorders, 4th ed. Washington. American of children following a natural disaster. J Am Acad Child Adolesc
Psychiatric Association 1994 Psychiat 1987; 26: 764
6
Blanchard EB, Hickling EJ, Taylor AE: Psychiatric morbidity 28
Mirza KAH, Bhadrinath IM, Goodyer IM, Gilmour C: Posttraumatic
associated with motor vehicle accidents. J Nerv Ment Dis 1995; stress disorder in children and adolescents following road traffic
183: 495 accidents. Br J Psychiat 1998; 172: 443
7
DaCosta JM: On irritable heart: a clinical study of a form of 29
Mitchell JT, Everly GS: Critical incident stress debriefing: an
functional cardiac disorder and its consequences. Am J Med Sci operations manual for the prevention of trauma among emer-
1871; 61: 2 gency service and disaster workers. Baltimore. Chevron 1997
8
De Bellis MD, Chrousus GP, Dorn LD, Burke L, Helmers K, Kling MA, 30
Nader KO: Assessing traumatic experiences in children. In:
Trickett PK, Putnam FW: Hypothalamic-pituitary-adrenal axis Wilson JP, Keane TM (eds.): Assessing psychological trauma and
dysregulation in sexually abused girls. J Clin Endocrinol Metab PTSD. New York. Guilford 1997: 291
1994; 78: 249 31
Nader KO, Pynoos R, Fairbanks L, Frederick C: Children©s PTSD
9
De Vries APJ, Kassam-Adams N, Cnaan A, Sherman-Slate E, reactions one year after a sniper attack at their school. Am J
Gallagher PR, Winston FK: Looking beyond the physical injury: Psychiat 1990; 147: 1526
Posttraumatic stress disorder in children and parents after 32
Pfefferbaum B: Posttraumatic Stress Disorders in Children: A
pediatric traffic injury. Pediatrics 1999; 104: 1293 Review of the Past 10 Years. J Am Acad Child Adolesc Psychiat
10
Di Gallo A, Barton J, Parry-Jones WL: Road traffic accidents: early 1997; 36: 1503
psychological consequences in children and adolescents. Br J 33
Rose S, Bission J: Brief early psychological interventions following
Psychiat 1997; 170: 358 trauma: a systematic review of the literature. J Traum Stress 1998;
11
Dilling H, Mombour W, Schmidt MH (Hrsg): Internationale 11: 697
Klassifikation psychischer Störungen. ICD 10, Kapitel V (F). Bern. 34
Scheeringa MS, Zeanah CH, Drell MJ, Larrieu JA: Two approaches to
Huber 1991 the diagnosis of posttraumatic stress disorder in infancy and early
childhood. J Am Acad Child Adolesc Psychiat 1995; 34: 191
622 Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2000;35 Landolt MA

35
Stallard P, Law F: Screening and psychological debriefing of
adolescent survivors of life-threatening events. Br J Psychiat 1993;
163: 660
36
Stallard P, Velleman R, Baldwin S: Prospective study of post-
traumatic stress disorder in children involved in road traffic
accidents. Br Med J 1998; 317: 1619
37
Stoddard FJ, Norman DK, Murphy JM, Beardslee WR: Psychiatric
outcome of burned children and adolescents. J Am Acad Child
Adolesc Psychiat 1989; 28: 589
38
Thompson A, McArdle P, Dunne F: Psychiatric consequences of
road traffic accidents. Children may be seriously affected. Br Med J
1993; 307: 1282

Heruntergeladen von: IP-Proxy Universität Zürich, UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich. Urheberrechtlich geschützt.
39
Odwin O: Annotation: children©s reactions to traumatic events. J
Child Psychol Psychiat 1993; 34: 115
40
Van der Kolk B: The body keeps the score: approaches to the
psychobiology of posttraumatic stress disorder. In: Van der Kolk B,
McFarlane AC, Weiseath L (eds): Traumatic Stress. New York.
Guilford 1996: 214
41
Van der Kolk B: Zur Psychologie und Psychobiologie von Kind-
heitstraumata. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychia-
trie 1998; 47: 19
42
Yule W: Resilience and vulnerability in child survivors of disasters.
In: Tizard B, Varma V (eds): Vulnerability and Resilience: A
Festschrift for Ann and Alan Clarke. London. Jessica Kingsley
1992: 82
43
Yule W: Posttraumatic Stress Disorder. In: Rutter M, Hersov L
(eds): Child and adolescent psychiatry: modern approaches.
Oxford. Blackwell 1994: 392
44
Yule W: Posttraumatic stress disorder in children and its
treatments. In: Miller T (ed): Children of Trauma. Madison. Intern
Univ Press 1998: 219
45
Yule W, Udwin O: Screening child survivors for post-traumatic
stress disorder: experiences from the ¹Jupiterª sinking. Br J Clin
Psychol 1991; 30: 131
46
Yule W, Williams RM: Posttraumatic stress reactions in children. J
Traum Stress 1990; 3: 279

Dr. phil. M. A. Landolt

Universitäts-Kinderspital
Steinwiesstrasse 75
8032 Zürich
Schweiz

E-mail: mlandolt@kispi.unizh.ch

View publication stats

Das könnte Ihnen auch gefallen