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VO Klinische Psychologie (200019, 2022W)

PD Dr Dr Ricarda Nater-Mewes & PD Dr Jennifer Randerath

Aufzeichnung starten!
1. Dienstag 04.10.: Was ist Klinische Psychologie? RNM
2. Dienstag 11.10.: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen JR
3. Dienstag 18.10.: Epidemiologische Beiträge zur KP RNM
4. Dienstag 25.10.: Kennen Sie die Grundlagen für diese VO? – Quiz mit den Online verfügbaren
Karteikarten: https://lehrbuch-psychologie-springer-com.uaccess.univie.ac.at/karteikarten/5648/1
5. Dienstag 08.11.: kurzer Überblick Therapieverfahren; Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen I JR
6. Dienstag 15.11.: Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen
Verhaltensweisen II JR
7. Dienstag 22.11.: Affektive Störungen RNM
8. Dienstag 29.11.: Somatoforme Störungen und stressabhängige körperliche Beschwerden RNM
9. Dienstag 06.12.: Angststörungen I JR
10. Dienstag 13.12.: Angststörungen II JR
11. Dienstag 10.01.: Posttraumatische Belastungsstörung; Zwangsstörung RNM
12. Dienstag 17.01.: Psychotische Störungen und Schizophrenie JR; Evaluation
13. Dienstag 24.01.: Persönlichkeitsstörungen RNM
14. Dienstag 31.01.: 1. Prüfungstermin
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https://ufind.univie.ac.at/de/course.html?lv=200019&semester=2022W
Übersicht & Lernziele
1. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
2. Zwangsstörung
Lernziele:
1. Sie kennen die zentralen Kennzeichen und Diagnosekriterien der beiden
Störungen.
2. Sie verstehen, was ein Trauma ist und welche Konsequenzen es haben
kann.
3. Sie verfügen über Kenntnisse zu ätiologischen Modellen der PTBS und der
Zwangsstörungen.
4. Sie haben eine Einschätzung zu empfohlenen Therapieverfahren.
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Posttraumatische Belastungsstörung
(PTBS)

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 4


Fallbeispiel
Herr S. (28 Jahre) wollte mit seinem Fahrrad eine Kreuzung überqueren, als er von einem
rechts abbiegenden Auto erfasst wurde. In dem Moment, in dem er das Auto auf sich
zukommen sah, ging ihm der Gedanke durch den Kopf: „Das war es, jetzt sterbe ich!“. Durch
den Aufprall wurde er vom Fahrrad geschleudert und blieb verletzt auf der Fahrbahn liegen.
Ein entgegenkommendes Auto konnte nur knapp vor ihm bremsen.
Obwohl sich Herr S. rasch von den körperlichen Folgen des Unfalls erholte, merkte er bereits
in den ersten Tagen und Stunden, dass ihm immer wieder ungewollt lebhafte Bilder des
Unfalls vor Augen kamen. Diese konnten auch ganz plötzlich auftreten, ohne dass ihm ein
besonderer Auslöser bewusst war. Zudem konnte er nur sehr schwer einschlafen und wurde
in der Nacht häufig durch Albträume geweckt.
Herrn S. fiel es sehr schwer, über den Unfall zu sprechen; er versuchte, Gedanken und
Gespräche darüber zu vermeiden. Er vermied es außerdem, Fahrrad oder Auto zu fahren
und benutzte nur noch öffentliche Verkehrsmittel. Wenn er auf dem Bürgersteig unterwegs
war, versuchte er immer, Autos aus allen Richtungen im Blick zu behalten, und kam dadurch
langsamer voran als sonst.
Die Angstsymptome und belastenden Erinnerungen machten Herrn S. große Sorge; er
fürchtete, verrückt zu werden. Er fühlte sich zunehmend von anderen Menschen entfremdet
und begann, sich zurückzuziehen. Auch seine Arbeit fiel ihm nun sehr schwer, da er sich
kaum noch auf seine Aufgaben konzentrieren konnte.
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Traumatisches Ereignis als spezifischer ätiologischer Faktor
-> Was ist ein Trauma?
• ICD-10: „belastende Ereignisse oder Situationen außergewöhnlicher Bedrohung
oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz- oder langanhaltend), die bei fast
jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würden“
• ICD-11: „an extremely threatening or horrific event or series of events“
• DSM-IV: “Ereignis/ Ereignisse welche(s) den tatsächlichen oder drohenden Tod,
ernsthafte Verletzung oder Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der
eigenen oder anderer Personen beinhaltet” + subjektives Trauma-Kriterium: die
betroffene Person hat auf das Ereignis mit Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen
reagiert
• DSM-5: “Konfrontation mit tatsächlichem Tod, schwerer Verletzung oder
sexueller Gewalt“; selbst erlebt, als Zeug*in; erfahren, dass eine nahestehende
Person Gewalt oder einen Unfall erlebt hat; Konfrontation mit aversiven Details
von traumatischen Erlebnissen

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Traumatisches Ereignis als spezifischer ätiologischer Faktor
-> Was ist ein Trauma?
• „Man-made“ Trauma vs. andere Traumata
• Terr, 1991:
Typ-I Traumata: einmalige, unerwartete und plötzliche Ereignisse
Typ-II Traumata: wiederholte, daher nach einiger Zeit erwartete und lang
andauernde Ereignisse

• Verschiedene Trauma-Typen führen zu ähnlichen Symptomprofilen,


beeinflussen aber die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer PTBS und
die Komplexität des Symptombildes

• Traumata können auch zu anderen psychischen Störungen führen (z.B.


Depressionen, substanzbezogene Störungen, Angststörungen usw.)

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Häufigkeit traumatischer Ereignisse in der dt.
Allgemeinbevölkerung

Maercker et al. (2018). ICD-11 Prevalence Rates of Posttraumatic Stress Disorder and Complex Posttraumatic Stress Disorder in a
German Nationwide Sample

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Wahrscheinlichkeit, nach Trauma eine PTBS zu
entwickeln…
- bei ca. 10-20% (bei schweren Traumata auch bis zu 30%)
- abhängig vom Traumatyp

Maercker et al. (2018). ICD-11 Prevalence Rates of Posttraumatic Stress Disorder and Complex Posttraumatic Stress Disorder in a German
Nationwide Sample
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Prototypische Verläufe (nach Erleben eines Traumas)

5-30%
*

0-15%
Nach mehreren Monaten

* Üblicherweise nach
wenigen Monaten bis zu 2
Jahren

15-25%

35-65%

Prototypische Verläufe nach Bonanno et al. (2011), Übersichtsarbeit

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
PTBS im ICD-11

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VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 12
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Diagnostik und Klassifikation

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
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Diagnostik und Klassifikation

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
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Definition: Dissoziation
Als Dissoziation bezeichnet man die Desintegration psychischer Prozesse (z. B.
Wahrnehmung, Motorik, Emotion, Gedächtnis), die üblicherweise integriert
ablaufen.
Peritraumatische Dissoziation, d. h. Dissoziation während des Traumas, erhöht
das Risiko für die Entwicklung einer PTBS.
Posttraumatische dissoziative Symptome treten im Rahmen der PTBS häufig
auf, z. B. in Form von dissoziativen Flashbacks, aber auch Symptomen der
Depersonalisation (Reduktion oder Verlust des Kontaktes zum Selbst, z. B.
Erinnerungen, Gefühle, Körperempfindungen) und/oder Derealisation
(Reduktion oder Verlust des Kontaktes zur Umgebung). Sie werden klinisch
häufig als automatische Form der Vermeidung aversiver Erinnerungen, Gefühle
oder Gedanken betrachtet. Differenzialdiagnostisch ist dies von dissoziativen
Störungen zu unterscheiden, bei denen dissoziative Symptome als Leitsymptom
auftreten.

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Akute Belastungsreaktion
(kein krankheitswertiges Störungsbild)

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Epidemiologie (nach ICD-10)

Komorbide
Störungen bei
ca. 88%
(v.a. Angststörungen,
affektive Störungen,
Substanzabhängigkeiten)
-> als Vulnerabilität und/
oder (häufiger) als Folge

Trotz höherer Prävalenz kann die Anzahl betroffener Personen in einzelnen Fällen geringer ausfallen als bei Störungen
mit geringerer Prävalenz, weil sich die Schätzungen bei den einzelnen Störungen auf unterschiedliche Altersgruppen
beziehen können
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Epidemiologie (1-Monats-Prävalenz) nach ICD-11

Maercker et al. (2018). ICD-11 Prevalence Rates of Posttraumatic Stress Disorder and Complex Posttraumatic Stress Disorder in a
German Nationwide Sample

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Ätiologie
Psychobiologische Veränderungen aufgrund des starken Stresses (Traumas)
–> hierzu auch die Folien 25&26 zu Stressmodellen in der Einheit zu somatoformen Störungen
• Erhöhtes autonomes Arousal (Herzrate, Blutdruck), verringerte
Herzratenvariabilität und abnorme Schreckreaktionen auf auditive
Stimuli; höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen; nicht spezifisch
für PTBS, auch bei anderen Angststörungen in gewissem Ausmaß
• Als Folge der initial hohen Ausschüttung von Stresshormonen +
anhaltende hoher Erregungszustand: erniedrigte basale
Kortisolkonzentration und erhöhte Feedbacksensitivität
(Hypocortisolismus)
• Hyperaktivierung der Amygdala, Hypoaktivierung des medialen
präfrontalen Kortex
• Volumenreduktion in Gedächtnis-assoziierten Arealen (z.B. Hippocampus)
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 19
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Ätiologie: Emotional-Processing-Theory (Foa & Rothbaum, 1998)
Furchtstruktur im Gedächtnis, in der traumatische Erinnerungen repräsentiert sind.
Enthält:
1. Repräsentation von Reizen, die während des Traumas anwesend waren, und die durch
assoziatives Lernen verknüpft sind mit
2. behavioralen und physiologischen Reaktionen; sowie
3. die subjektive Bedeutung dieser Reiz-Reaktions-Verknüpfungen.

Eine pathologische Furchtstruktur ist gekennzeichnet durch:


• unrealistische Assoziationen zwischen harmlosen Reizen und bedrohungsbezogenen
Reizen, Reaktionselementen und Bedeutungselementen,
• besonders starke Reaktionselemente,
• eine hohe Anzahl an repräsentierten Reizelementen,
• Fragmentierung und Desorganisation der expliziten Erinnerung an das Trauma.

-> viele verschiedene Reize können Traumaerinnerungen auslösen


-> Sicherheitshinweise/ Korrektive Erfahrungen können nicht integriert werden
-> prolongierte Expositionstherapie
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
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Ätiologie: Emotional-Processing-Theory (Foa & Rothbaum)

Beispiel nach einer


Vergewaltigung:
a nicht-pathologische
Traumaerinnerung/
Furchtstruktur
b Ausgeprägte Furchtstruktur bei
Vorliegen von PTBS.
(Aus Foa und Rothbaum, 1998)

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Ätiologie: Duale Repräsentationstheorie
(Brewin et al., 1996, 2010)
• Traumatische Erinnerungen werden in 2 verschiedenen
Gedächtnissystemen/Erinnerungsarten gespeichert:
1. verbally accessible memory (VAM), contextual memory representation
-> narrativer, bewusster Teil; intentional abrufbar und in andere autobiografische
Erinnerungen integriert
2. situationally accessible memory (SAM), sensory-bound memory representation
-> nicht bewusst zugänglich; automatisch aktiviert durch assoziative internale oder
externale (Trauma-)Reize; keine Informationen zum Kontext der Erinnerung ->
Flashbacks, Albträume, „Hier-und-Jetzt“ Erleben
• Bei hohem Stress/ hoher Erregung (Trauma) Hemmung des Hippocampus
-> verhindert detaillierte und lückenlose Encodierung der Traumainhalte
im VAM; eingeschränkte kognitive Kapazität fördert gleichzeitig
Encodierung im SAM
• Aktivierung des SAM in der Therapie und Integration/Verknüpfung beider
Erinnerungs-Repräsentationen
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 22
23

Duale Repräsentationstheorie: Tetris spielen reduziert


Intrusionen (Studien von Holmes et al., 2004, 2008, 2009)

• Tetris-Spielen fordert visuell-räumliche


Arbeitsgedächtniskapazität (das SAM) und
verhindert Encodierung von sensorischen
Traumainhalten -> weniger Intrusionen
• Zeigte sich in Studien unter Verwendung des
Traumafilmparadigmas für Tetris-Spielen
während des Films und nach dem Film
-> visuelle Intrusionen für Inhalte aus dem Film
verringert
• Verbale Aufgaben, die die Encodierung im VAM
beeinträchtigen können, reduzierten
Intrusionen nicht

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
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Ätiologie & Interventionen: Kognitives Modell nach Ehlers & Clark,


2000 (derzeit das elaborierteste und empirisch am besten fundierte Modell)

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Behandlung der PTBS: Schlüsselempfehlungen

z.B. KVT: prolongierte


Exposition (nach Foa),
cognitive processing therapy
(nach Resick), kognitive
Therapie der PTBS (nach
Ehlers & Clark), narrative
Expositionstherapie (nach
Schauer); Eye Movement
Desensitization and
Reprocessing (EMDR; nach
Shapiro).
Prä-Post Effektstärken d=1,4;
Remissionsraten ca. 70%

Schäfer et al. (2019). S3-LEITLINIE POSTTRAUMATISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG. SPRINGER VERLAG, BERLIN

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 25


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Interventionen für dysfunktionale Verhaltensweisen

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
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Behandlung der PTBS: Schlüsselempfehlungen

Schäfer et al. (2019). S3-LEITLINIE POSTTRAUMATISCHE BELASTUNGSSTÖRUNG. SPRINGER VERLAG, BERLIN

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Zwangsstörung

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Fallbeispiel
Frau M. (31 Jahre alt) berichtet, dass sie fast den ganzen Tag mit Putzen und Aufräumen
beschäftigt sei und zu nichts anderem mehr komme.
Sie habe große Angst davor, sich oder ihre Familie mit HIV zu infizieren und würde deshalb
insbesondere in Bad und Küche mehrfach täglich saubermachen und einmal am Tag die
Böden wischen. Als gelernte Krankenschwester sei ihr eigentlich klar, dass diese Angst
„etwas übertrieben“ sei, aber sie könne das Risiko einfach nicht eingehen.
Wenn sie das Haus verlasse, vermeide sie es, mit anderen Menschen in Berührung zu
kommen (z. B. Händeschütteln), Dinge anzufassen, die von anderen Personen berührt
wurden (z. B. Türgriffe, Haltegriffe in der U-Bahn) oder sich in öffentlichen Verkehrsmitteln
hinzusetzen. Zuhause würde sie sich anschließend trotz des Vermeidungsverhaltens
ausführlich Hände und Gesicht reinigen, um Keime und Verunreinigungen zu beseitigen.
Neben den Wasch- und Reinigungszwängen beschreibt Frau M. Ordnungszwänge. Sie habe
die Befürchtung wichtige Dokumente, aber auch alltägliche Haushaltsgegenstände nicht
mehr finden zu können bzw. ins Chaos zu verfallen. Sie würde daher viel Zeit für das
Ordnen und Aufräumen verwenden. Beispielsweise käme es häufig vor, dass sie beim
Ausräumen der Spülmaschine die Küchenschränke neu ordnen müsse, weil sonst alles
durcheinander käme.

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Kernsymptome: Gedanken
Zwangsgedanken:
• aufdringliche, wiederkehrende und unangenehme Gedanken, Bilder oder
Impulse
• der Inhalt der Zwangsgedanken ist deutlich übertrieben
• lösen Angst, Unruhe, Scham oder Ekel aus
• Gedanken drehen sich typischerweise um potenzielle Gefahren, die durch
Unachtsamkeit oder Fehler dazu führen, sich oder andere zu verletzen oder zu
infizieren
• Verbotene oder tabuisierte Inhalte, wie sie bei sexuellen, religiösen oder
aggressiven Zwangsgedanken auftreten, stehen im Konflikt mit den
Überzeugungen und Werten der Person
• werden als eigene Gedanken erkannt und typischerweise besteht eine gewisse
Einsicht, dass die Gedanken übertrieben sind
• die Betroffenen versuchen die Gedanken zu ignorieren oder zu unterdrücken

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Kernsymptome: Verhalten
Zwangshandlungen:
• Verhaltensweisen (auch Gedanken), die in Reaktion auf die Zwangsgedanken
ausgeführt werden, um Gefahren abzuwenden bzw. die Unruhe zu reduzieren
• sind typischerweise übertrieben in Relation zum angestrebten Ziel
• Sind mit einem erheblichen Zeitaufwand im Tagesablauf verbunden (nach
ICD-11 und DSM-5 mind. 1 Stunde/Tag)
• folgen häufig einer sehr individuellen Logik, die für Außenstehende
schwer nachvollziehbar ist, und werden über die Zeit automatisiert bzw.
nehmen ritualhafte Züge an
Vermeidungsverhalten, um Situationen auszuweichen, die
Zwangsgedanken oder -handlungen auslösen könnten
Rückversicherungsverhalten
Neutralisieren in Gedanken oder im Verhalten, um Befürchtungen
auszugleichen oder aufzuheben
31
32

Symptombereiche

• 66% der Betroffenen geben Symptome aus 3 oder mehr Bereichen an


• Zwangsgedanken: 43% moralische Inhalte, 30% sexuelle oder religiöse
Themen, 26% Kontamination, 24% Verletzungen, 14% Krankheiten
• Zwangshandlungen: 79% Kontrollieren, 62% Horten, 57% Ordnen
Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Zwangsstörung im ICD-11
(im DSM-5 sehr ähnlich)

8,5% 0,5% 91%

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 33


Diagnostik

VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 34


Frauen scheinen häufiger
betroffen zu sein, aber keine
signifikanten Geschlechts-
unterschiede in Studien

90% Komorbidität
(Angststörungen, affektive
Störungen, Impulskontroll-
störungen, Sucht);
Zwangsstörung beginnt in 80%
später als die komorbide
Störung

Trotz höherer Prävalenz kann die Anzahl betroffener Personen in einzelnen Fällen geringer ausfallen als bei Störungen
mit geringerer Prävalenz, weil sich die Schätzungen bei den einzelnen Störungen auf unterschiedliche Altersgruppen
beziehen können
Verlauf
• Beginnt typischerweise vor dem 35. Lebensjahr; durchschnittlich bei
19,5 Jahren
• Bei 75% Beginn vor dem 21. Lj., dann durchschnittliches Alter bei
Störungsbeginn 11 Jahre
• Bei Beginn nach dem 21. Lj. durchschnittl. Alter bei Störungsbeginn 23
Jahre
• Beginnt meistens schleichend und verläuft dann chronisch mit
durchschnittlicher Erkrankungsdauer von 9-10 Jahren
• Früher Beginn eher bei Männern; assoziiert mit höherer
Symptomschwere und häufigeren komorbiden Störungen im
Zwangsspektrumsbereich
• Kann (selten!) durch Streptokokken-Infektion in der Kindheit ausgelöst
werden, dann Besserung durch Behandlung der Infektion
Ätiologie

Familiäre Häufung:
• Lebenszeitprävalenz bei Verwandten 1. Grades bei 10-12%; Odds Ratio ist
für diese Gruppe um das 5-fache erhöht im Vergleich zu Verwandten 1.
Grades von Gesunden
• Bei Zwangsstörungen im Kindesalter sogar noch höher: 22,5%
Lebenszeitprävalenz bzw. OR bei 32,5
• Erblichkeit bei 48%
Neurobiologische Faktoren:
• Hyperaktivität im orbitofrontalen Kortex und Striatum aufgrund einer zu
geringen Hemmung des Thalamus durch Veränderungen in der
Signalübertragung kortiko-striato-thalamo-kortikaler Schaltkreise (sehr
robuster Befund bei Zwangsstörungen); aber offen ob kausaler Faktor oder
Korrelat
• Hyperaktivität in anterioren cingulären Cortex und in der Amygdala ->
gestörte Handlungsüberwachung & stärkere Bewusstwerdung von Fehlern
Ätiologie
Umwelteinflüsse:
• Komplikationen rund um die Geburt und erhöhtes Alter der Eltern
• Kritische Lebensereignisse
• Schwangerschaften und die Phase nach der Geburt gehen mit erhöhtem
Risiko für die Entwicklung einer Zwangsstörung einher, auch bei Vätern
• … insgesamt nur wenige gesicherte Befunde da häufig kleine Stichproben
und retrospektive Designs
Kognitive Verzerrungen:
• Perfektionismus
• Gefahrenüberschätzung
• Überbewertung von Gedanken
• Überhöhte Verantwortlichkeit
• Niedrige Unsicherheitstoleranz
• Unvollständigkeitsgefühle und „nicht-ganz-richtig-Erfahrungen“
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Ätiologie: Kognitiv-behaviorales Modell


nach Rachman (1997) und Salkovskis (1985)

-> Behandlung durch:


1. Psychoedukation
2. Exposition mit Reaktionsverhinderung
3. Bearbeiten dysfunktionaler Bewertungen

Aus: Hoyer, J. & Knappe, S., Klinische Psychologie und Psychotherapie, 3. Aufl.,
doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1, © Springer-Verlag 2020
Behandlung

• Medikamentöse Behandlung mit selektiven Serotoninwiederaufnahme-


hemmern (SSRIs); Überlegenheit gegenüber Placebo in zahlreichen Studien
belegt, Dosis höher als bei Angststörungen oder Depressionen
• Wirksamkeit tiefenpsychologischer oder psychoanalytischer Verfahren nicht
gesichert
• Wirksamkeit von Exposition mit Reaktionsverhinderung und kognitiver
Therapie sowie deren Kombi in zahlreichen Studien und Metaanalysen belegt
(Effektstärken gegenüber Placebo-Behandlungen und Wartekontrollgruppen
bei 1,0-1,5), hohe Stabilität der Verbesserungen auch nach 5 Jahren
• 80%, die eine Therapie zu Ende führen, erreichen eine Symptomverbesserung
von 40-60%
• Aber: etwas 25-30% brechen die Therapie ab
• Für therapieresistente Patient*innen Tiefenhirnstimulation ggfs. effektiv
Übersicht & Lernziele
1. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
2. Zwangsstörung
Lernziele:
1. Sie kennen die zentralen Kennzeichen und Diagnosekriterien der beiden
Störungen.
2. Sie verstehen, was ein Trauma ist und welche Konsequenzen es haben
kann.
3. Sie verfügen über Kenntnisse zu ätiologischen Modellen der PTBS und der
Zwangsstörungen.
4. Sie haben eine Einschätzung zu empfohlenen Therapieverfahren.
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 41
1. Dienstag 04.10.: Was ist Klinische Psychologie? RNM
2. Dienstag 11.10.: Diagnostische Klassifikation psychischer Störungen JR
3. Dienstag 18.10.: Epidemiologische Beiträge zur KP RNM
4. Dienstag 25.10.: Kennen Sie die Grundlagen für diese VO? – Quiz mit den Online verfügbaren
Karteikarten: https://lehrbuch-psychologie-springer-com.uaccess.univie.ac.at/karteikarten/5648/1
5. Dienstag 08.11.: kurzer Überblick Therapieverfahren; Störungen im Zusammenhang mit
psychotropen Substanzen und abhängigen Verhaltensweisen I JR
6. Dienstag 15.11.: Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen und abhängigen
Verhaltensweisen II JR
7. Dienstag 22.11.: Affektive Störungen RNM
8. Dienstag 29.11.: Somatoforme Störungen und stressabhängige körperliche Beschwerden RNM
9. Dienstag 06.12.: Angststörungen I JR
10. Dienstag 13.12.: Angststörungen II JR
11. Dienstag 10.01.: Posttraumatische Belastungsstörung; Zwangsstörung RNM
12. Dienstag 17.01.: Psychotische Störungen und Schizophrenie JR; Evaluation
13. Dienstag 24.01.: Persönlichkeitsstörungen RNM
14. Dienstag 31.01.: 1. Prüfungstermin
VO Klinische Psychologie, Nater-Mewes & Randerath Seite 42
https://ufind.univie.ac.at/de/course.html?lv=200019&semester=2022W

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