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Schwerpunkt Business Model Innovation

Daniel R. A. Schallmo Hrsg.

Daniel R. A. Schallmo 
Klaus Lang · Thomas Werani 
Barbara Krumay Hrsg.

Digitalisierung
Fallstudien, Tools und Erkenntnisse
für das digitale Zeitalter
Schwerpunkt Business Model Innovation

Reihe herausgegeben von


Daniel R. A. Schallmo, Institut für Digitale Transformation
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Innovative Geschäftsmodelle sind für den Erfolg eines Unternehmens entscheidend, da
das Unternehmensumfeld einem ständigen Wandel unterliegt. Eine höhere Transparenz
der Leistungen von Unternehmen, Preiswettbewerbe, geringere Differenzierungsmöglich-
keiten ausschließlich mit Produkten und Dienstleistungen und die unzureichende Nutzung
von Potenzialen im technologischen Bereich sind einige Beispiele für Auslöser, denen
sich Unternehmen ausgesetzt sehen.
In den letzten Jahren hat die Innovation von Geschäftsmodellen in Theorie und Praxis
eine hohe Aufmerksamkeit erlangt.
Im Rahmen der Reihe „Schwerpunkt Business Model Innovation“ werden aktuelle
wissenschaftliche Ansätze durch neue Erkenntnisse, z. B.  Instrumente, Beispiele, Best
Practices und Studien, ergänzt. Damit soll ein neuer Standard in der unternehmerischen
Praxis sowie der Managementliteratur gesetzt werden.
Die Leserinnen und Leser erhalten somit aktuelle Ergebnisse aus Theorie und Praxis zu
dem Themenfeld Business Model Innovation und werden darin unterstützt, ihr Wissen und
Können zu erweitern und zielgerichtet einzusetzen.
Daniel R. A. Schallmo  •  Klaus Lang
Thomas Werani • Barbara Krumay
Hrsg.

Digitalisierung
Fallstudien, Tools und Erkenntnisse für das
digitale Zeitalter
Hrsg.
Daniel R. A. Schallmo Klaus Lang
Hochschule Neu-Ulm Hochschule Neu-Ulm
Neu-Ulm, Deutschland Neu-Ulm, Deutschland

Thomas Werani Barbara Krumay


Johannes Kepler Universität Linz Johannes-Kepler-Universität Linz
Linz, Österreich Linz, Österreich

ISSN 2569-2348     ISSN 2569-4944  (electronic)


Schwerpunkt Business Model Innovation
ISBN 978-3-658-36633-9    ISBN 978-3-658-36634-6  (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6

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lierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer Gabler
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Planung/Lektorat: Ann-Kristin Wiegmann


Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist
ein Teil von Springer Nature.
Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort

Die Digitalisierung betrifft alle Bereiche der Gesellschaft, insbesondere Unternehmen.


Gleichzeitig eröffnet die Digitalisierung neue Vernetzungsmöglichkeiten und ermöglicht
die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren, die beispielsweise Daten aus-
tauschen und so Prozesse initiieren. Die Auseinandersetzung mit der Digitalisierung um-
fasst mehrere Aspekte, z. B. die Messung der digitalen Reife, die digitale Strategie, die
digitale Transformation und die digitale Implementierung.
Der vorliegende Sammelband präsentiert aktuelle akademische Forschungsergebnisse
und praktische Erkenntnisse aus dem Bereich der Digitalisierung. Dabei liegt der Schwer-
punkt auf empirischen und konzeptionellen Beiträgen, die sich mit den Herausforderungen
und Chancen der Digitalisierung befassen. Neben Fallstudien und Ansätzen werden auch
Tools behandelt.
Wir haben die Beiträge in die folgenden vier Teile gegliedert: Digitale Treiber & digi-
tale Reife, Digitalstrategie, Digitale Transformation und Digitale Implementierung.
Der erste Teil „Digitale Treiber & digitale Reife“ geht der Frage nach, welche Treiber
es für die Digitalisierung gibt und wie Treiber identifiziert und bewertet werden können.
Ferner wird die Frage geklärt, was digitale Reife ist und wie digitale Reife bewertet wer-
den kann. Folgende Beiträge sind in diesem Teil enthalten: 1) Integrierter Ansatz für den
digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte Analyse, 2) Digitalisierung, Ge-
sellschaft und Unternehmen 3) Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels
Reifegradmodellen und 4) Digital Sales Excellence: Ein Modell zur Bewertung der digi-
talen Reife von Vertriebsorganisationen.
Basierend auf digitalen Treibern und der digitalen Reife eines Unternehmens ist die
Entwicklung einer Digitalstrategie ein integraler Bestandteil der Aktivitäten eines Unter-
nehmens. Obwohl viele Unternehmen die Notwendigkeit einer digitalen Strategie erkannt
haben, stellt die strukturierte Entwicklung dieser Strategie und die Integration individuel-
ler Digitalisierungsbemühungen in ein strategisches Konzept immer noch eine große
Herausforderung dar. Oft fehlt es Unternehmen an Klarheit darüber, welche Richtung sie
in Bezug auf ihre digitale Strategie einschlagen und welche allgemeinen Prinzipien und
Optionen sie anwenden sollen.

V
VI Vorwort

Eine digitale Strategie ist die strategische Form der Digitalisierungsabsichten eines
Unternehmens und befasst sich mit kurz- und mittelfristige Zielen und der Schaffung
neuer oder der Aufrechterhaltung von Wettbewerbsvorteilen. Innerhalb der digitalen
­Strategie werden digitale Technologien und Methoden auf Produkte, Dienstleistungen,
Prozesse und Geschäftsmodelle angewendet. Um eine digitale Strategie zu entwickeln,
müssen das Unternehmen und sein aktuelles Umfeld als Grundlage für mehrere Zukunfts-
szenarien analysiert werden.
Der zweite Teil „Digitalstrategie“ beinhaltet folgende Beiträge: 5) Digitalstrategie:
Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell, 6) Konzeption und Erprobung
eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf Basis der Systemtheorie, 7) Strategi-
sche Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie, 8) Fluch und Segen digitaler Dis-
ruption für den deutschen Mittelstand, 9) Digital Marketing Leadership  – Modell und
empirische Ergebnisse aus dem B-to-B-Umfeld und 10) Digitalisierungs-induzierte Ver-
änderungen für die Geschäftsmodelle von B2B-Unternehmen.
Auf der taktischen Ebene wird die digitale Transformation von Geschäftsmodellen
durchgeführt. Die digitale Transformation von Geschäftsmodellen befasst sich mit einzel-
nen Geschäftsmodellelementen, dem gesamten Geschäftsmodell, Wertschöpfungsketten
und der Vernetzung verschiedener Akteure zu einem Wertschöpfungsnetzwerk. Die digi-
tale Transformation dient dazu, die digitale Strategie innerhalb von Geschäftsmodellen
klarer zu definieren. Sie basiert auf einem Ansatz mit einer Abfolge von Aufgaben und
Entscheidungen, die logisch und zeitlich miteinander verbunden sind.
Im dritten Teil „Digitale Transformation“ sind folgende Beiträge enthalten: 11) Die
Evolution der Digitalen Transformation, 12) Digitale Transformation und Technologien,
Strategien und Geschäftsmodelle – Ergebnisse einer systematischen Literaturanalyse, 13)
Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen Kern-
geschäft und digitalen Innovationen, 14) Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgs-
faktor für die Digitale Transformation, 15) Human Resources – Treiber und Enabler der
digitalen Transformation und 16) Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für
die digitale Transformation.
Im Rahmen der digitalen Implementierung wird die Digitalstrategie umgesetzt und die
digitale Transformation des Geschäftsmodells unterstützt. Generell sind folgende Be-
reiche für die digitale Umsetzung relevant: Technische Implementierung (z.  B.  Ver-
wendung von Sensoren, Erstellung von Datenbanken und Vernetzung von Komponenten),
Organisation (z. B. Definition von Strukturen und Verantwortlichkeiten, Einrichtung von
Abteilungen und Definition von Prozessen), Fähigkeiten (z. B. IT-Know-how, Verwendung
von Tools für die Zusammenarbeit, Entwicklung von Fähigkeiten für Führung und Zu-
sammenarbeit und Erwerb von Methoden) und Kultur (z. B. kulturelle Verankerung im
Unternehmen, Sensibilisierung der Mitarbeiter, Kommunikation innerhalb des Unter-
nehmens).
Der letzte Teil „Digitale Implementierung“ enthält die folgenden Beiträge: 17) Digita-
lisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und Handlungsempfehlungen für eine
erfolgreiche Umsetzung, 18) Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein
Vorwort VII

kontextorientierter Bewertungsrahmen, 19) Technologiebasierte Konzepte der digitalen


Wertschöpfung unter besonderer Berücksichtigung von Künstlicher Intelligenz, 20) Re-
porting im Zeitalter der Digitalisierung, 21) Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine
Daten-dominante Logik braucht, 22) Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert!
Digitalisierung von Geschäftsprozessen am Beispiel des Auftragsmanagementprozesses,
23) Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und deren
Entwicklung im Zuge der Digitalisierung der Automobilbranche, 24) Digitale Wert-
schöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part und 25) Status Quo und
Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU.
Die Herausgeber hoffen, dass der vorliegende Sammelband zu einer intensiven Dis-
kussion zwischen Wissenschaftlern, Lehrenden und Studierenden aus den Bereichen Digi-
talisierung, Digitalstrategie, digitale Transformation und digitale Implementierung anregt
und die Inhalte in Forschung und Lehre genutzt werden.
Wir wünschen uns, dass Praktiker aus den Bereichen Management, Strategische Pla-
nung und Business Development die Erkenntnisse nutzen können, um die Digitalisierung
erfolgreich zu praktizieren und so Potenziale innerhalb ihres Geschäftsmodells oder einer
Branche zu nutzen.
Die Herausgeber danken dem Team von Springer und allen, die am Satz und am Design
beteiligt waren. Insbesondere danken wir Frau Walburga Himmel und Frau Ann-Kristin
Wiegmann von Springer und den wissenschaftlichen Mitarbeitern an der Hochschule Neu-­
Ulm, Herrn Daniel Hasler und Herrn Tobias Hackl, für ihren wertvollen Input und ihre
Bereitschaft, uns jederzeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
Im Namen aller Autorinnen und Autoren wünschen wir den Lesern des Sammelbands
wertvolle Erkenntnisse und viel Erfolg bei der Umsetzung.

Ulm, Neu-Ulm, München und Linz Daniel Schallmo



Januar 2023 Klaus Lang
 Thomas Werani
 Barbara Krumay
Inhaltsverzeichnis

Teil I  Digitale Treiber & digitale Reife


1 Integrierter
 Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und
detaillierte Analyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3
Daniel Schallmo und Christopher A. Williams
2 Digitalisierung,
 Gesellschaft und Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25
Achim Weiand
3 Bewertung
 der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen. . .  49
Martin Gabriel
4 Digital Sales Excellence . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  69
Maja Julia Malewski, Christian Ahlfeld und Sven Maihöfer

Teil II  Digitalstrategie


5 Digitalstrategie:
 Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell. . . . .  99
Daniel Schallmo und Jochen Lohse
6 Konzeption
 und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen
Transformation auf Basis der Systemtheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Klaus Lang, Daniel Hasler, Tobias Hackl und Katharina Ehmig-­Klassen
7 Strategische
 Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie. . . . . . . . . . . . . 147
Leon Özcan, Marvin Drewel, Christian Koldewey und Roman Dumitrescu
8 Fluch
 und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand. . . . . . . 171
Matthias Gut
9 Digital
 Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse
aus dem B-to-B-Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Carsten Baumgarth und Lars Binckebanck

IX
X Inhaltsverzeichnis

10 Digitalisierungs-induzierte
 Veränderungen für die Geschäftsmodelle
von B2B-­Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Alexander Brendel-Schauberger

Teil III  Digitale Transformation


11 Die
 Evolution der Digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Cheng Gong, Xavier Parisot und Detlef Reis
12 Digitale
 Transformation und Technologien, Strategien und
Geschäftsmodelle – Ergebnisse einer systematischen Literaturanalyse . . . . . 317
Patrick Ulrich, Wolfgang Becker und Alexandra Fibitz
13 Digitale
 Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld
zwischen Kerngeschäft und digitalen Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Micha Bosler
14 Soziotechnisches
 Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale
Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Jörn Steffen Menzefricke, Stefan Gabriel, Thomas Gundlach, Daniela
Hobscheidt, Christian Kürpick, Felix Schnasse, Michel Scholtysik, Heiko
Seif, Christian Koldewey und Roman Dumitrescu
15 Human
 Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation. . . . 409
Ralf T. Kreutzer
16 Der
 Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale
Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437
Amaury-Alexandre Schaller und Ronald Vatananan-Thesenvitz

Teil IV  Digitale Implementierung


17 Digitalisierung
 der Produktion im Mittelstand: Status quo und
Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . 469
Marc Bayer und Fabian Bauer
18 Künstliche
 Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein
kontextorientierter Bewertungsrahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Christoph Haag und Nicolas Pyschny
19 Technologiebasierte
 Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter
besonderer Berücksichtigung von Künstlicher Intelligenz. . . . . . . . . . . . . . . . 513
Sonja Köppl
20 Reporting
 im Zeitalter der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529
Martin Stirzel und Selcuk Yaldiran
Inhaltsverzeichnis XI

21 Aus
 Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik
braucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553
Petra Kugler
22 Stellen
 Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569
Francesco Fusaro
23 Mehr
 „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in
Innovationsnetzwerken und deren Entwicklung im Zuge der
Digitalisierung der Automobilbranche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613
Fabian Reck und Sebastian Posset
24 Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel
Pay-per-Part . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643
Daniel Werth, Simon Hiller, Heiner Lasi und David Rygl
25 Status
 Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain
Management bei KMU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665
Jürgen Grinninger, Philipp Kaiser und Christian Lieb
Autorenverzeichnis und Herausgeber

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Daniel Schallmo  ist Ökonom, Unternehmensberater und Autor zahlreicher Pu-
blikationen. Er ist Professor für Digitale Transformation und Entrepreneurship an der
Hochschule Neu-Ulm, Direktor des Instituts für Entrepreneurship und Mitglied am Insti-
tut für Digitale Transformation. Zuvor war er Professor an der Technischen Hochschule
Ulm. Daniel Schallmo ist Gründer und Gesellschafter der Dr. Schallmo & Team GmbH,
die auf Beratung und Trainings spezialisiert ist (www.gemvini.de). Er ist ebenso Initiator
der Digital Excellence Group, einer Plattform für Beratung, Trainings und Studien zu dem
Thema der Digitalen Transformation (www.digital-­excellence-­group.com).
Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Kontext der Digitalisierung: die
Messung des Digitalen Reifegrads, die Entwicklung von Digitalstrategien, die Digitale
Transformation von Geschäftsmodellen und die Implementierung digitaler Initiativen.
Dazu gehören z. B. die Führung im digitalen Zeitalter, Technologien und die Gestaltung
von Organisationen.
Daniel Schallmo verfügt über mehrere Jahre Praxiserfahrung, die er in Unternehmen
der verarbeitenden Industrie, des Handels, der Medien, der Unternehmensberatung und
des Bauwesens gewonnen hat. Als Unternehmensberater unterstützt er DAX-­Unternehmen
und mittelständische Unternehmen bei der Beantwortung unterschiedlicher Frage-
stellungen. Er ist sowohl in der Managementausbildung als auch in Bachelor- und Master-
studiengängen für die Themengebiete Design Thinking, Strategie-, Geschäftsmodell-,
Prozess- und Innovationsmanagement sowie Digitale Transformation als Dozent tätig und
war Gastprofessor an der Deutschen Universität in Kairo, Ägypten. Seine Methoden, ins-
besondere die Innovation von Geschäftsmodellen, wurden bereits über 200-mal und über
10.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorgestellt; dazu zählen auch Konferenzteilnah-
men und Vorträge (>100).

XIII
XIV Autorenverzeichnis und Herausgeber

Prof. Dr. Klaus  Lang  ist Professor für Unternehmensführung und Informations-
management an der Hochschule Neu-Ulm, Gründer und Leiter des Instituts für digitale
Transformation (IDT). Er ist Wirtschaftswissenschaftler und Informatiker, Dozent, Unter-
nehmensberater und Autor. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen
IT-Strategie und Digitale Transformation.
Klaus Lang verfügt über zehn Jahre Praxiserfahrung in verschiedenen Beratungsunter-
nehmen. Als Studiendekan ist er für das Qualitätsmanagement der Fakultät verantwort-
lich. Eine Reihe von internationalen Partnerhochschulen werden von ihm betreut. Er ist als
unabhängiger Gutachter für die Bewertung von Studiengängen bei verschiedenen
­Akkreditierungsstellen tätig. Klaus Lang ist außerdem Autor mehrerer Publikationen und
Referent auf Konferenzen.

Prof. Dr. Thomas Werani  leitet die Abteilung Business-to-Business-Marketing am In­


stitut für Handel, Absatz und Marketing der Johannes Kepler Universität Linz. Er ist Trä-
ger namhafter Forschungspreise wie des 1996 Business Marketing Doctoral Support
Award des Institute for the Study of Business Markets (ISBM) an der Pennsylvania State
University (USA) und des 4. Nestlé-Preises. Seine primären Forschungsinteressen liegen
im Business-­to-Business-Marketing mit Fokus auf Geschäftsmodelle, Digitalisierung,
Wert-, Produkt- und Beziehungsmanagement. Neben seiner universitären Tätigkeit ist
Prof. Werani in Beratungsprojekten für nationale und internationale Unternehmen tätig.

Barbara  Krumay  studierte Wirtschaftsinformatik an der WU Wien and war vor ihrer
wissenschaftlichen Laufbahn in der IT-Beratung tätig. Sie ist in die wissenschaftliche
Community der Wirtschaftsinformatik aber auch der Information Systems Research durch
Publikationen aber auch als Conference Chair, Track Chair und Editor direkt eingebunden.
In ihrer Forschung betrachtet sie die Möglichkeiten, wie Informationssysteme von Orga-
nisationen genutzt werden können um Herausforderungen, die aus der Digitalisierung ent-
stehen, zu adressieren. Ihre Forschungsergebnisse wurden in hochrangigen wissenschaft-
lichen Journals publiziert. Seit 2019 ist sie Professorin und Institutsvorständin des Instituts
für Wirtschaftsinformatik  – Information Engineering an der Johannes Kepler Uni-
versität Linz.

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Christian Ahlfeld  Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Industrial Sales and Service


Engineering, Bochum, Deutschland
Fabian Bauer  Roland Berger GmbH, München, Deutschland
Carsten Baumgarth  HWR Berlin, Berlin, Deutschland
Marc Bayer  Roland Berger GmbH, Stuttgart, Deutschland
Autorenverzeichnis und Herausgeber XV

Wolfgang Becker  Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland


Lars Binckebanck,  Klein Nordende, Deutschland
Micha  Bosler  Lehrstuhl für Innovations- und Dienstleistungsmanagement, Universität
Stuttgart, Stuttgart, Deutschland
Alexander Brendel-Schauberger  University of Applied Sciences Upper Austria, School
of Engineering, Wels, Österreich
Marvin Drewel  Miele & Cie. KG, Gütersloh, Deutschland
Roman Dumitrescu  Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Insti-
tut, Paderborn, Deutschland
Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn, Deutschland
Katharina Ehmig-Klassen  Institut für Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm,
Neu-Ulm, Deutschland
Alexandra Fibitz  Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland
Francesco  Fusaro  FUSARO Unternehmensentwicklung, Leinfelden-Echterdingen,
Deutschland
Martin Gabriel  St. Margarethen im Burgenland, Burgenland, Österreich
Stefan  Gabriel  Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn,
Deutschland
Cheng  Gong  Institute for Knowledge and Innovation Southeast Asia, Bangkok Uni-
versity, Bangkok, Thailand
Jürgen Grinninger  Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Thomas Gundlach  Unity AG, Büren, Deutschland
Matthias Gut  COFM Corp, Munich, Deutschland
Christoph Haag  TH Köln, Köln, Deutschland
Tobias  Hackl  Institut für Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm,
Deutschland
Daniel  Hasler  Institut für Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm,
Deutschland
Simon Hiller  Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Stuttgart, Deutschland
Daniela  Hobscheidt  Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn,
Deutschland
Philipp Kaiser  BLSG AG, Ingolstadt, Deutschland
XVI Autorenverzeichnis und Herausgeber

Christian Koldewey  Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Insti-


tut, Paderborn, Deutschland
Sonja Köppl  Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Ralf T. Kreutzer  HWR, Berlin, Deutschland
Petra  Kugler  Institut für Unternehmensführung, Ost  – Ostschweizer Fachhochschule,
St.Gallen, Schweiz
Christian  Kürpick  Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn,
Deutschland
Klaus  Lang  Institut für Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm,
Deutschland
Heiner Lasi  Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Stuttgart, Deutschland
Christian Lieb,  Ingolstadt, Deutschland
Jochen Lohse  Hoppe Marine GmbH, München, Deutschland
Sven Maihöfer  Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Industrial Sales and Service En-
gineering, Bochum, Deutschland
Maja Julia Malewski,  Berlin, Deutschland
Jörn Steffen Menzefricke  Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf
Institut, Paderborn, Deutschland
Leon Özcan  Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut, Pader-
born, Deutschland
Xavier Parisot  Institute for Knowledge and Innovation Southeast Asia, Bangkok Uni-
versity, Bangkok, Thailand
Sebastian Posset  LIDL Stiftung & Co. KG, Heilbronn, Deutschland
Nicolas Pyschny  TH Köln, Köln, Deutschland
Fabian Reck  Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland
Detlef Reis  Institute for Knowledge and Innovation Southeast Asia, Bangkok University,
Bangkok, Thailand
David Rygl  Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Nürnberg, Deutschland
Amaury-Alexandre Schaller,  Düsseldorf, Deutschland
Daniel Schallmo  Institut für Entrepreneurship und Institut für Digitale Transformation,
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Autorenverzeichnis und Herausgeber XVII

Felix  Schnasse  Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, Dortmund,


Deutschland
Michel Scholtysik  Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut,
Paderborn, Deutschland
Heiko Seif  Unity AG, Munich Business School, München, Deutschland
Martin Stirzel  Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Patrick Ulrich  Hochschule Aalen, Aalen, Baden-Württemberg, Deutschland
Ronald Vatananan-Thesenvitz,  Bangkok, Thailand
Achim Weiand  Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
Daniel Werth  Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Heilbronn, Deutschland
Christopher A. Williams  Johannes Kepler Universität, Österreich
Selcuk  Yaldiran  Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Geislingen, Geislingen,
Deutschland
Abbildungsverzeichnis

Abb. 1.1 Forschungsdesign des integrierten Ansatzes für die digitale Reife
(eigene Darstellung)����������������������������������������������������������������������������������   7
Abb. 1.2 Dimensionen des integrierten Ansatzes für die digitale Reife
(eigene Darstellung)����������������������������������������������������������������������������������   9
Abb. 1.3 Klassifikation im Kontext der Digitalisierung������������������������������������������  10
Abb. 1.4 Verfahren zur Messung und Verbesserung der digitalen Reife
(eigene Darstellung)����������������������������������������������������������������������������������  13
Abb. 1.5 Beispielhafte Initialanalyse für die digitale Reife
(eigene Darstellung)����������������������������������������������������������������������������������  14
Abb. 1.6 Beispielhafte detaillierte Analyse der digitalen Reife auf der Ebene
der digitalen Transformation (eigene Darstellung) ����������������������������������  16
Abb. 3.1 Die maslowsche Bedürfnispyramide (In Anlehnung an: https://www.
simplypsychology.org/maslow.html, o. J.)������������������������������������������������  54
Abb. 3.2 Darstellung der Handlungsfelder in der digitalen Transformation.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  55
Abb. 3.3 digital Canvas – (Schlimbach & Asghari, 2020)��������������������������������������  57
Abb. 3.4 Darstellung Analyseprozess – eigene Darstellung������������������������������������  58
Abb. 3.5 Digital Maturity Matrix, In Anlehnung an (Westerman et al., 2017)��������  63
Abb. 3.6 In Anlehnung an die Reifegrad Matrix des KPMG Maturity
Assessment (Ennemann & Kalmeyer, 2016)��������������������������������������������  64
Abb. 4.1 Vertriebsstruktur nach Homburg et al. (2012)������������������������������������������  73
Abb. 4.2 Vertriebsstruktur nach Binckebanck (2016b)��������������������������������������������  74
Abb. 4.3 Konzeption einer idealtypischen Vertriebsorganisation
(Malewski et al., 2020)������������������������������������������������������������������������������  75
Abb. 4.4 Vorgehen im Rahmen der Modellbildung (Malewski et al., 2020) ����������  76
Abb. 4.5 Entwicklung und Inhalte der Dimension Strategie und Planung.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  77
Abb. 4.6 Entwicklung und Inhalte der Dimension Customer Relation.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  78

XIX
XX Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.7 Entwicklung und Inhalte der Dimension Fähigkeit und Kultur.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  78
Abb. 4.8 Entwicklung und Inhalte der Dimension Organisation und Prozesse.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  79
Abb. 4.9 Entwicklung und Inhalte der Dimension IT und Controlling.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  80
Abb. 4.10 Entwicklung und Inhalte der Dimension Technologietrends.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  80
Abb. 4.11 Entwicklung und Inhalte der Dimension IT und Technologie.
(Quelle: Eigene Darstellung)��������������������������������������������������������������������  86
Abb. 4.12 Framework zur Bestimmung der digitalen Reife von
Vertriebsorganisationen (Malewski et al., 2020)��������������������������������������  88
Abb. 4.13 Vorgehensmodell zur Bestimmung der digitalen Reife von
Vertriebsorganisationen. (Quelle: In Anlehnung an Appelfeller &
Feldmann, 2018) ��������������������������������������������������������������������������������������  93
Abb. 5.1 Bestandteile der Digitalstrategie (eigene Darstellung in Anlehnung
an Schallmo et al., 2018, S. 3)������������������������������������������������������������������ 101
Abb. 5.2 Einordnung in den Kontext der Digitalisierung (Schallmo,
2019, S. 34) ���������������������������������������������������������������������������������������������� 102
Abb. 5.3 Zusammenhang zwischen Digitalstrategie und Unternehmensstrategie
(eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 106
Abb. 5.4 Phasen zur Entwicklung einer Digitalstrategie (eigene Darstellung)�������������� 107
Abb. 5.5 Digitalstrategie-Matrix (Basis) (eigene Darstellung)�������������������������������� 110
Abb. 5.6 Vorgehensmodell zur Entwicklung einer Digitalstrategie
(eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 112
Abb. 6.1 Systemtheorie: Input, Output, Elemente, Beziehungen und Umwelt
(eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 121
Abb. 6.2 Unternehmen als soziale produktive Systeme. (Quelle:
in Anlehnung an Pfeiffer & Weiss, 1994; Wettengl, 2018) ���������������������� 122
Abb. 6.3 Systemtheorie-basiertes Framework für die digitale Transformation
(Neu-Ulmer Modell) (eigene Darstellung)����������������������������������������������� 135
Abb. 7.1 Treiber der Plattformökonomie. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������� 152
Abb. 7.2 Die zehn wertvollsten Unternehmen der Welt von 1995 bis 2020.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 154
Abb. 7.3 Phasen der strategischen Führung nach Gausemeier und Plass (2014)���������� 155
Abb. 7.4 Definierte Branchen für ein Anwendungsbeispiel in Anlehnung an
die NACE-Systematik der Europäischen Kommission (2008) ���������������� 157
Abb. 7.5 Plattformtendenz von Branchen nach Drewel (2021) ������������������������������ 159
Abb. 7.6 Eignung von Produktfamilien für digitale Plattformen nach Drewel
(2021)�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 161
Abbildungsverzeichnis XXI

Abb. 7.7 Strategieoptionen für den Einstieg in die Plattformökonomie


nach Drewel (2021)���������������������������������������������������������������������������������� 162
Abb. 7.8 Eignungs-Tendenz-Portfolio nach Drewel (2021)������������������������������������ 163
Abb. 7.9 Variation des strategischen Fokus einer digitalen Plattform in
Abhängigkeit der Lebensphase. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������������� 165
Abb. 8.1 Top10 der höchst bewerteten Startups weltweit. (Quelle: Autor,
adaptiert von Statista (2021))�������������������������������������������������������������������� 175
Abb. 8.2 Relative Häufigkeit der Onlinesuchereignisse nach ‚Digital
Disruption‘ in USA und Deutschland. (Quelle: Autor, adaptiert
von Google Trends, 2018)������������������������������������������������������������������������ 176
Abb. 8.3 Massenskalierung disruptiver Technologien. (Quelle: Autor,
adaptiert von Supratim Adhikari (2017))�������������������������������������������������� 179
Abb. 8.4 Das disruptive Innovationsmodell von Christensen (1997).
(Quelle: Autor, adaptiert von King & Baatartogtokh, 2015)�������������������� 180
Abb. 8.5 Gegenstände von Innovation. (Quelle: Autor)������������������������������������������ 180
Abb. 8.6 Durchschnittliche Lebensdauer der S&P-Firmen zwischen 1965
und 2018. (Quelle: Autor, adaptiert von Innosight.com (2015))�������������� 185
Abb. 8.7 Übersicht über das Forschungsdesign. (Quelle: Autor)���������������������������� 198
Abb. 8.8 Interviewergebnisse: Übersicht Herausforderungen. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 200
Abb. 8.9 Strategien zur Reaktion auf digitale Disruption. (Quelle: Autor) ������������ 201
Abb. 8.10 Ziele von digitalen disruptiven Innovationsinitiativen.
(Quelle: Autor)������������������������������������������������������������������������������������������ 202
Abb. 8.11 Merkmale des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Autor)�������������������������� 204
Abb. 8.12 Performance von KMU während eines Änderungsprozesses.
(Quelle: Autor, adaptiert von Kübler Ross et al., 1972)���������������������������� 208
Abb. 9.1 Modell „Digital Marketing Leadership“. (Quelle: eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 230
Abb. 9.2 Niveaus der DML-Dimensionen. (Quelle: eigene Darstellung)���������������� 234
Abb. 10.1 Revidierte Business Model Canvas. (Quelle: in Anlehnung an
Osterwalder und Pigneur (2011, S. 48))���������������������������������������������������� 249
Abb. 10.2 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Management von Kundennutzen. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������� 262
Abb. 10.3 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Management von Kundenbeziehungen. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 263
Abb. 10.4 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für die
Segmentierung von Märkten und Kunden. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 264
XXII Abbildungsverzeichnis

Abb. 10.5 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das


Distributionsmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung) ������������������������ 266
Abb. 10.6 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Verkaufsmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������� 267
Abb. 10.7 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Kommunikationsmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������ 269
Abb. 10.8 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Preismanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������� 270
Abb. 10.9 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Management von Schlüsselaktivitäten. (Quelle: Eigene Darstellung) �������� 271
Abb. 10.10 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Management von Schlüsselressourcen. (Quelle: Eigene Darstellung)�������� 272
Abb. 10.11 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Management von Schlüsselpartnern. (Quelle: Eigene Darstellung) �������� 273
Abb. 10.12 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das
Kostenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������������������� 274
Abb. 11.1 Etymology der digitization, digitalization und digital transformation.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 285
Abb. 11.2 Bewertungsskala für die Bewertung der Konzeptgüte. (Quelle:
Eigene Darstellung). Anmerkungen. Die acht Kriterien der
Konzeptgüte sind von Gerring (1999) übernommen�������������������������������� 292
Abb. 11.3 Das Konzept der digitization. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������� 294
Abb. 11.4 Die visuelle Darstellung der internen Kohärenz der
rekonzeptualisierten digitization. (Quelle: Eigene Darstellung).
Hinweis: Die unter dem Begriff „Action of Technical Encoding“
zusammengefassten drei definierenden Attribute sind peripher���������������� 295
Abb. 11.5 Das Ergebnis der Konzeptbewertung der „digitization“.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 297
Abb. 11.6 Die Kern- und Peripherie-Attribute der digitalization. (Quelle:
Eigene Darstellung). Hinweis: Die Kerndefinitionsattribute
werden im inneren Ring und die peripheren Attribute im äußeren
Ring dargestellt. Die definierenden Attribute in den kleinen
Kreisen sind Außenseiter (niedrige Häufigkeit)���������������������������������������� 299
Abb. 11.7 Die Kern- und Peripherie-Attribute der digital transformation.
(Quelle: Eigene Darstellung). Hinweis: Die Kerndefinitionsattribute
werden im inneren Ring und die peripheren Attribute im äußeren
Ring dargestellt. Die definierenden Attribute in den kleinen
Kreisen sind Außenseiter (niedrige Häufigkeit)���������������������������������������� 302
Abb. 12.1 Balanced Value Map in Anlehnung an Becker, 2019a, S. 22�������������������� 321
Abb. 12.2 Ergebnisse der systematischen Literaturanalyse�������������������������������������� 326
Abb. 12.3 Ergebnisse der Beraterstudienanalyse������������������������������������������������������ 327
Abbildungsverzeichnis XXIII

Abb. 12.4 Prozess zur Implementierung digitaler Geschäftsmodelle in


Anlehnung an Remane et al., 2017 ���������������������������������������������������������� 333
Abb. 13.1 Mehrebenen-Architektur Connected Cars. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 358
Abb. 14.1 Design Science Research nach Hevner et al., (2004). (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 378
Abb. 14.2 Soziotechnischer Strukturierungsrahmen nach Hobscheidt
et al. (2020) ���������������������������������������������������������������������������������������������� 383
Abb. 14.3 Referenzprozess des Risikomanagements (ISO 31000:2018)������������������ 385
Abb. 14.4 Risikomanagement-Strukturierungsrahmen. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 390
Abb. 14.5 Beispielhafte Darstellung einer Risikokette. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 391
Abb. 14.6 Vereinfachte Darstellung des Use Case Radars. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 392
Abb. 14.7 Vorgehensmodell für das soziotechnische Risikomanagement.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 393
Abb. 14.8 Beispielhaft ausgefüllte Risiko-Canvas in der Dimension
Mensch. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an
Schnasse et al. (2020))������������������������������������������������������������������������������ 395
Abb. 14.9 Beispielhafte Bow-Tie-Analyse für das Risiko Fehlende
Kompetenzen im Bereich Datenmanagement. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 395
Abb. 14.10 Ermittlung des digitalen Reifegrads im Kontext eines Use Cases.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 397
Abb. 14.11 Transfer der Risikobewertung in das Netzdiagramm am Beispiel des
Risikos Fehlende Kompetenzen im Bereich Datenmanagement.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 399
Abb. 14.12 Exemplarischer Risikosteckbrief des Risikos Fehlende Kompetenzen
im Bereich Datenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������ 400
Abb. 14.13 Roadmap der Handlungsoptionen zur Risikobehandlung. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 402
Abb. 15.1 Flankierung der Veränderungen von Organisations- und IT-Architektur
durch die Personalentwicklung. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������������� 411
Abb. 15.2 Flywheel der Arbeitskultur. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������ 412
Abb. 15.3 Verschmelzen von Aufgabe, Individuum, Gruppe und Organisation.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 413
Abb. 15.4 Strategische Qualifizierungslücke. (Quelle: Eigene Darstellung)������������ 415
XXIV Abbildungsverzeichnis

Abb. 15.5 Klassifizierung von Ländern nach „Auswirkungen der Megatrends“


und „Zeitaufwand für die eigene Qualifikation“. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 417
Abb. 15.6 Persönlicher Qualifizierungspass. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������� 419
Abb. 15.7 MCG-Rollenmodell des Arbeits- und Teamverhaltens – basierend
auf der Verhaltens-­Präferenz-­Analyse. (Quelle: Eigene Darstellung)���������� 422
Abb. 15.8 Phasen zur Ausweitung der individuellen Komfortzone. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 423
Abb. 15.9 Paradigmenwechsel in der Personalführung. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 426
Abb. 15.10 Einordnung der Gallup-Fragen in eine Bedürfnispyramide.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 427
Abb. 15.11 Ergebnisse zum Engagement Index in Deutschland. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 428
Abb. 15.12 Hierarchische vs. netzwerkorientierte Strukturen der
Aufbauorganisation. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������������������� 431
Abb. 15.13 Aufgabe der Führungskraft – von „par ordre de Mufti“ zum
Enabler – zum Enabler. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������������ 433
Abb. 15.14 Aufgabe der Führungskraft als Netzwerker – über den eigenen
Verantwortungsbereich hinaus. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������ 434
Abb. 16.1 Generische Roadmap. (Quelle: Phaal et al., 2001) ���������������������������������� 443
Abb. 16.2 Darstellung der BMI-R. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������������������������� 445
Abb. 16.3 S-Plan Workshop Ansatz. (Quelle: Phaal et al., 2007)������������������������������ 450
Abb. 16.4 Der Roadmapping-Framework integriert mit anderen strategischen
Planungstool. (Quelle: Phaal et al., 2005)������������������������������������������������ 451
Abb. 16.5 Finaler BMI-R Ansatz. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������������ 458
Abb. 17.1 Hauptziele der Digitalisierung in der Fabrik. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)���������������������������������������������������������������������������������������������������� 475
Abb. 17.2 Überblick über die am häufigsten genutzten Technologien.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 476
Abb. 17.3 Anwendungsbeispiele in der digitalen Fabrik. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 477
Abb. 17.4 Der Weg zur Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung) ������������������������ 477
Abb. 17.5 Vergleich aktueller und künftiger Treiber der Digitalisierung in der
Produktion (Mehrfachnennungen möglich). (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 478
Abb. 17.6 Investitionen in die digitale Fabrik. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������� 478
Abb. 17.7 Das Zielbild der digitalen Produktion. (Quelle: Eigene Darstellung)������ 480
Abb. 18.1 Stufenmodell der Datenverarbeitung (i. A. a. North, 2002)���������������������� 491
Abb. 18.2 Bezugsrahmen zur Bestimmung des Digitalisierungsgrades.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 495
Abbildungsverzeichnis XXV

Abb. 18.3 Komplexität von Entscheidungssituationen (i. A. a. Ulrich & Probst,


1991) �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 499
Abb. 18.4 Strategien bei Entscheidungssituationen mit unterschiedlichen
Komplexitätsgraden (i. A. a. Snowden, 2007)������������������������������������������ 501
Abb. 18.5 Mögliches Digitalisierungspotenzial in Abhängigkeit der
Unternehmensspezifität (schematische Darstellung)�������������������������������� 502
Abb. 18.6 Kontextspezifisches Nutzenpotenzial der Digitalisierung für
einen Anbieter konfigurierbarer, technischer Systeme������������������������������ 503
Abb. 18.7 Übersicht der kontextspezifischen Nutzenpotenziale der
Digitalisierung für die sechs Unternehmenstypen������������������������������������ 504
Abb. 18.8 Ausprägungsbeispiele der Digitalisierung in den Teilprozessen
industrieller Wertschöpfung���������������������������������������������������������������������� 505
Abb. 18.9 Künstliche Intelligenz zur Erreichung eines hohen vertikalen
Grads der Digitalisierung�������������������������������������������������������������������������� 506
Abb. 18.10 Einordnung des Praxisbeispiels zur Anlagenüberwachung und
Instandhaltung ������������������������������������������������������������������������������������������ 508
Abb. 18.11 Einordnung des Praxisbeispiels zur Qualitätskontrolle und
Prozessoptimierung ���������������������������������������������������������������������������������� 509
Abb. 18.12 Einordnung des Praxisbeispiels zur KI in der Intralogistik���������������������� 510
Abb. 19.1 IT-Architektur um KI Anwendungsfälle zu realisieren���������������������������� 520
Abb. 20.1 Szenario im Unternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������ 536
Abb. 20.2 Datenbankstruktur. (Quelle: Eigene Darstellung) ������������������������������������ 540
Abb. 20.3 Pflichtspalten. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������� 540
Abb. 20.4 Historische Daten. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������� 540
Abb. 20.5 Übersicht über die Gesamtlösung. (Quelle: Eigene Darstellung) ������������ 542
Abb. 20.6 Beispielhafte Visualisierung Testdaten Gesamtsicht. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 544
Abb. 20.7 Beispielhafte Visualisierung Ticketverlauf. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 545
Abb. 20.8 Kontrollbefragung der Benutzer. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������� 546
Abb. 20.9 Prozess vor Implementierung. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������� 547
Abb. 20.10 Prozess nach Implementierung. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������������� 548
Abb. 20.11 Effizienzsteigerung im Prozess. (Quelle: Eigene Darstellung) ���������������� 549
Abb. 22.1 Robert M. Lencioni – die 5 Dysfunktionen eines Teams. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 597
Abb. 22.2 Beispiel Subteam Konfiguration als Kommunikator zwischen
Projektteam und Software-­Hersteller. (Quelle: eigene Darstellung)�������� 601
Abb. 22.3 Übersicht des Auftragsmanagementprozesses. (Quelle: eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 606
XXVI Abbildungsverzeichnis

Abb. 23.1 Arten von Innovationsnetzwerken. (Quelle: Eigene Darstellung)������������ 617


Abb. 23.2 Entwicklung von Innovationsnetzwerken im Zuge der
Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung)������������������������������������������ 621
Abb. 23.3 Datenquellen der empirischen Untersuchung. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 622
Abb. 23.4 Übersicht der betrachteten Innovationsprojekte. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 623
Abb. 23.5 Übersicht der betrachteten Innovationsprojekte – Fortsetzung.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 624
Abb. 23.6 Schematische Darstellung der beobachteten Netzwerkformen.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 625
Abb. 23.7 Erklärungsansätze für das Netzwerkverhalten von
Automobilunternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������������� 628
Abb. 24.1 Interdisziplinäre Geschäftsfähigkeiten. (Quelle: Eigene Darstellung) �������� 647
Abb. 24.2 Wertschöpfungsorientiertes Verständnis und Abgrenzung
Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������������������������������� 648
Abb. 24.3 Digitales Abbild. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������������������������� 651
Abb. 24.4 Alternative Darstellung der Industrial Internet Reference
Architecture (angelehnt an (Lin et al., 2017))������������������������������������������ 652
Abb. 24.5 Digitale Wertschöpfungsnetzwerke. (Quelle: Eigene Darstellung)���������� 653
Abb. 24.6 Micro Testbed (angelehnt an (Weber & Lasi, 2017))�������������������������������� 654
Abb. 24.7 Ineinandergreifende Wertschöpfungsketten am Fallbeispiel Industrial
Services ((Weber et al., 2019a) angelehnt an (Westkämper & Zahn,
2009))�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 656
Abb. 24.8 3-Ebenen-Architektur (Weber et al., 2019a) angelehnt an (Lin et al.,
2017) �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 656
Abb. 24.9 Pay-per-Part Ökosystem, Fallstudie. (Quelle: Eigene Darstellung)���������� 658
Abb. 24.10 Kooperative Datenräume. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������� 659
Abb. 25.1 Bedeutung von KMU in der globalen Supply Chain. (Quelle: Eigene
Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������������������� 666
Abb. 25.2 Zyklen im Supply Chain Management. (Quelle: Chopra & Meindl,
2014) �������������������������������������������������������������������������������������������������������� 668
Abb. 25.3 Verteilung der Grundgesamtheit der Befragten auf Industriezweige.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 670
Abb. 25.4 Verteilung der Grundgesamtheit der Befragten auf deren Position.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 670
Abb. 25.5 Digitalisierungsstrategie und Roadmap. (Quelle: Eigene Darstellung)������ 672
Abb. 25.6 Stand der Digitalisierung in befragten Unternehmen. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 672
Abb. 25.7 Jährlich geplantes Budget für Digitalisierungsprojekte.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 673
Abbildungsverzeichnis XXVII

Abb. 25.8 Besetzte Rollen zu Digitalisierung in den befragten Unternehmen.


(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 674
Abb. 25.9 Überblick Technologien und Digitalisierungslösungen für das
Supply Chain Management. (Quelle: Eigene Darstellung)���������������������� 675
Abb. 25.10 Bewertung der Technologien durch die Befragten. (Quelle:
Eigene Darstellung)���������������������������������������������������������������������������������� 676
Abb. 25.11 Zusammenhang Künstliche Intelligenz/Machine Learning/Deep
Learning���������������������������������������������������������������������������������������������������� 676
Abb. 25.12 Umsetzungsstand Digitalisierungsprojekte in befragten Unternehmen.
(Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������������������������� 679
Abb. 25.13 Beispiele für umgesetzte Digitalisierungsprojekte unter den
Befragten. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������������� 680
Abb. 25.14 Problem und Befürchtungen der Unternehmen in
Digitalisierungsprojekten. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������� 681
Abb. 25.15 Einschätzung der umgesetzten Digitalisierungsprojekte in den
Unternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)�������������������������������������������� 682
Abb. 25.16 Faktoren für ein erfolgreiches und nachhaltiges
Digitalisierungsprojekt. (Quelle: eigene Darstellung)������������������������������ 683
Tabellenverzeichnis

Tab. 1.1 Befragte���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 8


Tab. 2.1 Vergleich der Zeichenbandbreiten unterschiedlicher Medien���������������������� 41
Tab. 3.1 Analysierte und dokumentierte Reifegradmodelle �������������������������������������� 59
Tab. 4.1 In Ergänzung untersuchte inhaltliche Themen �������������������������������������������� 77
Tab. 4.2 Übersicht der an den Workshops teilnehmenden Expert:innen�������������������� 82
Tab. 4.3 Festlegung der Ergebniswerte und resultierender Maßnahmen�������������������� 84
Tab. 4.4 Durchschnittliche Bewertungen der Inhalte (a–f) der
Dimensionen (1–6) �������������������������������������������������������������������������������������� 84
Tab. 4.5 Ergebnis der inhaltlichen Überarbeitung ausgewählter Aspekte������������������ 85
Tab. 4.6 Identifizierte Verbindungen zwischen den Dimensionen (1–6)�������������������� 87
Tab. 4.7 Kumulierte Betrachtung der Verbindungen zwischen den
Dimensionen (1–6) �������������������������������������������������������������������������������������� 87
Tab. 4.8 Ergebnisse der Workshops am Beispiel der Dimension Fähigkeit
und Kultur (Auszug) ������������������������������������������������������������������������������������ 92
Tab. 5.1 Ausgewählte Definitionen im Kontext der Digitalstrategie������������������������ 100
Tab. 5.2 Vergleich der Grundlagen bestehender Ansätze (eigene Darstellung)�������� 105
Tab. 6.1 Abbildung existierender Frameworks zur Geschäftsmodellinnovation
auf die Terminologie der Systemtheorie ���������������������������������������������������� 126
Tab. 6.2 Abbildung existierender Ansätze, Modelle und Frameworks zur
Digitalen Transformation auf die Terminologie der Systemtheorie ���������� 128
Tab. 6.3 Abbildung existierender digitaler Reifegradmodelle auf die
Terminologie der Systemtheorie���������������������������������������������������������������� 130
Tab. 6.4 Anwendung der Konzepte auf ein systemtheoretischen Begriffen
basierendes Framework für die digitale Transformation���������������������������� 132
Tab. 6.5 Übersicht der Fallstudien���������������������������������������������������������������������������� 139

XXIX
XXX Tabellenverzeichnis

Tab. 8.1 Verschiedene Arten von Innovationen. (Quelle: Christensen, 1997)���������� 173
Tab. 8.2 Beispiele digitaler disruptiver Innovation. (Quelle: Autor)������������������������ 174
Tab. 8.3 Primäre und sekundäre Forschungsfragen. (Quelle: Autor) ���������������������� 177
Tab. 8.4 Merkmale von disruptiven Technologien. (Quelle: Bower &
Christensen, 1995)�������������������������������������������������������������������������������������� 178
Tab. 8.5 Unterscheidungsmerkmale digitaler disruptiver Innovation. (Quelle:
McQuivey, 2013)���������������������������������������������������������������������������������������� 181
Tab. 8.6 Ziele disruptiver Innovation aus makroökonomischer Sicht. (Quelle:
Capgemini, 2015) �������������������������������������������������������������������������������������� 181
Tab. 8.7 Ziele disruptiver Innovation aus mikroökonomischer Sicht.
(Quelle: Moore, 2015)�������������������������������������������������������������������������������� 182
Tab. 8.8 Merkmale deutscher mittelständischer Unternehmen. (Quelle:
Adaptiert von Kayser, 2003)���������������������������������������������������������������������� 183
Tab. 8.9 Definition des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Autor)���������������������������� 183
Tab. 8.10 Prominente Management-Muster gescheiterter Firmen.
(Quelle: Bower & Christensen, 1995)�������������������������������������������������������� 187
Tab. 8.11 Herausforderungen im Umgang mit disruptiver Innovation.
(Quelle: O’Reilly & Tushman, 2016) �������������������������������������������������������� 188
Tab. 8.12 Kritikalität der Herausforderungen im Umgang mit digitaler
disruptiver Innovation. (Quelle: Thomond et al., 2003) ���������������������������� 188
Tab. 8.13 Zusammenfassung der Herausforderungen. (Quelle: Autor)���������������������� 189
Tab. 8.14 Zusammenfassung der Reaktionsstrategien. (Quelle: Autor) �������������������� 192
Tab. 8.15 Merkmale des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Williams
et al., 2018) ������������������������������������������������������������������������������������������������ 193
Tab. 8.16 Spezifische Merkmale des deutschen Mittelstandes (Auszug).
(Quelle: Becker et al., 2008)���������������������������������������������������������������������� 194
Tab. 8.17 Hebel digitaler Technologien zur Veränderung von Branchen.
(Quelle: Forrester-­Bericht, 2011)��������������������������������������������������������������� 195
Tab. 8.18 Definition der Interview-Stichprobengruppe. (Quelle: Autor) ������������������ 197
Tab. 8.19 Zwei verschiedene Typen von Interviewpartnern. (Quelle: Autor)������������ 198
Tab. 8.20 Liste der Interviewpartner (anonymisiert). (Quelle: Autor)������������������������ 198
Tab. 9.1 DML-Dimension���������������������������������������������������������������������������������������� 228
Tab. 9.2 Beurteilung des Gesamtmodells ���������������������������������������������������������������� 232
Tab. 9.3 Gütebeurteilung der Messmodelle�������������������������������������������������������������� 232
Tab. 9.4 Strukturmodell�������������������������������������������������������������������������������������������� 233
Tab. 9.5 DML-Niveaus differenziert nach dem internen und externen Erfolg �������� 235
Tab. 10.1 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde���������������������������������������������������������� 252
Tab. 11.1 Definierende Attribute und Häufigkeit der digitization. (Quelle:
Eigene Darstellung)������������������������������������������������������������������������������������ 293
Tab. 13.1 Spannungsfelder zwischen Kerngeschäft und digitalen Innovationen���������� 368
Tabellenverzeichnis XXXI

Tab. 16.1 Forschungsfragen, -ziele und -methode������������������������������������������������������ 440


Tab. 16.2 Übersicht über den Stichprobenumfang der Untergruppen������������������������ 447
Tab. 20.1 Gegenüberstellung von BI-Lösungen �������������������������������������������������������� 539
Tab. 21.1 Charakteristika von „Big Data“: Die fünf „Vs“. (Quelle: Fosso
Wamba et al., 2015, 2017; Remane et al., 2017)���������������������������������������� 557
Tab. 21.2 Big Data, Big Data Analytics und Big Data Analytics Fähigkeiten ���������� 561
Tab. 21.3 Indikatoren einer dominanten Logik���������������������������������������������������������� 564
Tab. 22.1 Beispiel Aufstellung Kostenpositionen, eigene Darstellung���������������������� 579
Tab. 22.2 Beispiel einer Kommunikationsstruktur als
Change-Management-Werkzeug. (Quelle: eigene Darstellung) ���������������� 602
Teil I
Digitale Treiber & digitale Reife
Integrierter Ansatz für den digitalen
Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und 1
detaillierte Analyse

Daniel Schallmo und Christopher A. Williams

Zusammenfassung

Das Ziel dieses Beitrags ist es, einen integrierten Ansatz zur Messung und Verbesse-
rung des digitalen Reifegrads zu entwickeln. Der integrierte Ansatz besteht aus drei
grundlegenden Ebenen für eine strategie-orientierte Digitalisierung. Dazu gehören di-
gitale Strategie, digitale Transformation und digitale Umsetzung. Der Ansatz besteht
auch aus drei relevanten Schritten: einer initialen Analyse des digitalen Reifegrads, ei-
ner detaillierten Analyse und der Ableitung von Maßnahmen. Aufbauend auf unserer
bisherigen Forschung (z. B. der Analyse von 25 Reifegradmodellen) haben wir semi-­
strukturierte Interviews eingesetzt, um einen Ansatz für die Messung des digitalen Rei-
fegrads zu entwickeln. Der Beitrag bietet ein Ansatz zur Messung des digitalen Reife-
grads und skizziert eine geeignete Forschungsmethodik, um diesen Forschungsbereich
voranzubringen. Damit schließt sich eine bestehende Forschungslücke in Bezug auf die
Messung und Verbesserung des digitalen Reifegrads.

Schlüsselwörter

Digitaler Reifegrad · Digitalisierung · Digitale Transformation · Digitalstrategie ·


Digitale Implementierung

D. Schallmo (*)
Hochschule Neu-Ulm, Institut für Entrepreneurship und Institut für Digitale Transformation,
Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: daniel.schallmo@hnu.de
C. A. Williams
Johannes Kepler Universität, Linz, Österreich

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 3


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_1
4 D. Schallmo und C. A. Williams

1.1 Einführung

Die digitale Transformation hat organisatorische Prozesse, Produkte und Dienstleistungen


sowie bestehende Organisationsstrategien grundlegend verändert (Mittal et al., 2018). Es
überrascht nicht, dass sich die Mehrheit der Unternehmen bereits mitten in bedeutenden
digitalen Transformationsinitiativen befinden, die von groß angelegten, organisationsüber-
greifenden digitalen Initiativen bis hin zu kleineren digitalen Projekten reichen (Melchior,
2018). Die digitale Transformation betrifft dabei alle Bereiche der Gesellschaft, insbeson-
dere Volkswirtschaften. Gleichzeitig eröffnet die strategie-orientierte Digitalisierung neue
Vernetzungsmöglichkeiten und ermöglicht die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen
Akteuren, die beispielsweise Daten austauschen und damit Prozesse initiieren. Die Be-
griffe „digitale Transformation“ und „strategie-orientierte Digitalisierung“ enthalten dabei
mehrere sich überschneidende Merkmale. Die Forschung hat mehrere Möglichkeiten zur
Umsetzung der digitalen Transformation aufgezeigt. Typische Möglichkeiten sind 1) digi-
tale Strategie, 2) digitale Geschäftsmodelle, 3) digitale Produkte/Dienstleistungen, 4) di-
gitale Prozesse und 5) digitale Reifegradmodelle (Accenture, 2015). In unserer bisherigen
Forschung bezieht sich die digitale Transformation auf strategisch-orientierte digitale Ini-
tiativen und digitale Geschäftsmodelle (Schallmo et  al., 2018). Bisher wurde jedoch
­argumentiert, dass bestimmte Initiativen (z.  B. digitales Betriebs-/Prozessmodell) auch
strategie-­orientierte Perspektiven aufweisen können. Darüber hinaus könnte die Idee der
digitalen Transformation für Unternehmen als zu abstrakt angesehen werden, ähnlich dem
Begriff „Industrie 4.0“ (Gimpel et al., 2018). Daher verwenden wir den Begriff „strategie-­
orientierte Digitalisierung“, um digitale Initiativen zu beschreiben, die sich auf eine stra-
tegische Ebene konzentrieren und zusätzlich Strategie, Geschäftsmodelle und Umset-
zungsprojekte beinhalten (Schallmo et al., 2019a). Jüngste Erkenntnisse aus der Forschung
zu Reifegradmodellen haben gezeigt, dass digitale Strategie (Williams et al., 2019) und
digitale Geschäftsmodelle zwei der am häufigsten genannten Dimensionen sind (Rübel
et al., 2018). Entgegen den Erwartungen haben mehrere Studien bei der Messung der di-
gitalen Reife herausgefunden, dass strategie-orientierte Initiativen oft schlecht entwickelt
und in Unternehmen umgesetzt werden oder nicht vorhanden sind (Williams & Schallmo,
2020). Basierend auf unseren ersten Erkenntnissen fehlt noch eine ganzheitliche Sicht auf
die digitale Reife, die alle grundlegenden Ebenen der strategie-orientierten Digitalisierung
anspricht. Darüber hinaus fehlt ein integrierter Ansatz mit einer ersten Studie der digitalen
Reife, einer eingehenden Studie und der Ableitung von Maßnahmen. Ziel dieses Beitrags
ist es daher, einen integrierten Ansatz zu entwickeln, der darauf abzielt, ein ganzheitliches
digitales Reifegradmodell zu entwickeln, das sich auf die wesentlichen digitalen Defizite
konzentriert. Unter Berücksichtigung einer ganzheitlichen digitalen Reife für die strategie-­
orientierte Digitalisierung sollten alle drei grundlegenden Ebenen berücksichtigt werden.
In unserer Forschung entwickeln wir daher einen integrierten Ansatz zur Messung der
digitalen Reife mit einem ganzheitlichen, strategie-orientierten Blick auf die Digitalisie-
rung. Wir stützen unsere Forschung auf unsere bisherigen Arbeiten (z. B. eine ­systematische
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 5

Literaturanalyse von 25 Reifegradmodellen aus verschiedenen Branchen und Ländern;


siehe (Williams et al., 2019)) und wenden semi-strukturierte Interviews an, um eine erste,
fundierte Theorie für Reifegradmodelle zu entwickeln.

1.2 Theoretischer Hintergrund

Der digitale Reifegrad wurde in mehreren Publikationen diskutiert (Becker et al., 2009;
Tarhan et al., 2016; Williams & Schallmo, 2020). Im Allgemeinen bestehen Reifegradmo-
delle aus gemeinsamen Eigenschaften (Lahrmann et al., 2010), einschließlich 1) Reife-
gradkonzept, 2) Dimensionen und 3) Ebenen. Die meisten Ansätze skizzieren mehrere
Dimensionen eines Unternehmens und werden separat behandelt und bewertet. Dimensi-
onen in einem Reifegradmodell können als Grundkonzepte definiert werden, die aus Un-
terdimensionen und deren Anforderungen bestehen, die nach dem Reifegrad bewertet wer-
den (Hamidi et  al., 2018; Mittal et  al., 2018). Nach Ansicht der Forschung besteht der
primäre Zweck eines Reifegradmodells darin, die aktuellen Fähigkeiten eines Unterneh-
mens zu bewerten und die notwendigen Fähigkeiten für die Zukunft abzuleiten (Anggra-
hini et  al., 2018). Die Reifegradforschung hat die digitalen Kompetenzen im Bereich
IT-Management (Becker et al., 2009), Supply Chain Sustainability (Correia et al., 2017),
Projektmanagement (Backlund et al., 2014) und Geschäftsprozesse (Tarhan et al., 2016)
eingehend untersucht. So gibt es beispielsweise rund 30 verschiedene Reifegradmodelle
im Bereich „Projektmanagement“ (Cook-Davies, 2002) und sogar 150 Reifegradmodelle
für „IT-Servicefähigkeit, strategische Ausrichtung, Innovationsmanagement, Programm-
management“, Unternehmensarchitektur oder Reifegrad des Wissensmanagements (De
Bruin et al., 2005). Die Definition eines digitalen Reifegradmodells ist aufgrund der unter-
schiedlichen verwendeten Begriffe etwas schwieriger zu operationalisieren. Im Rahmen
der Literaturauswertung werden folgende Kategorien als digital betrachtet (Williams &
Schallmo, 2020):

• Bereiche technologischer Aktivität: Dazu gehören Bereiche wie IT und Business In-
telligence.
• Verwendete digitale Begriffe: Dazu gehören bereits erwähnte Begriffe wie Digital, In-
dustrie 4.0, Smart, Daten, Cloud usw.

Zusammengefasst beinhalten die Reifegradmodelle, ob allgemein oder digital, über-


schneidende Untersuchungen zu der Lücke zwischen den aktuellen und zukünftigen Fä-
higkeiten eines Unternehmens.
Es überrascht nicht, dass sich viele der Reifegradmodelle mit der Bewertung der digi-
talen Transformation oder von Industrie 4.0-Initiativen befassen. Eines der am häufigsten
zitierten Rahmen für allgemeine Fälligkeitsmodelle ist das Capability Maturity Model
(Caiado et al., 2016).
6 D. Schallmo und C. A. Williams

Insgesamt befasst sich der Reifegrad eines Untersuchungsgegenstands mit der Erfül-
lung bestimmter Kriterien, einschließlich Objektiven, Merkmalen oder Indikatoren (Be-
cker et al., 2009). Mehrere Dimensionen und Kriterien innerhalb dieser Dimensionen, die
notwendig sind, um einen Reifegrad zu erreichen, sind in Modellen wie CMMI (CMMI
Product Development Team, 2011) vordefiniert, werden aber oft nach einem Bottom-­up-­
Ansatz entwickelt, der das digitale Reifegradmodell sehr individuell an das Unternehmen
anpasst. Dieses Vorgehen ist allerdings sehr zeitaufwändig; ferner sind individuell entwi-
ckelte Reifegradmodell nicht auf andere Unternehmen übertragbar. Darüber hinaus kann
der Zeitpunkt, an dem das digitale Reifegradmodell entwickelt wird, willkürlich sein
(Pfeifer-Silberbach, 2005), da das Modell den aktuellen Zustand eines Unternehmens und
seine Produkte, Dienstleistungen, Geschäftsmodelle und Prozesse misst.

1.3 Forschungsziel und Forschungsfragen

Mehrere bestehende Ansätze haben unseren Wissensstand zu digitalen Reifgradmodellen er-


weitert. Die Ansätze gehen jedoch nicht mit einer ganzheitlichen, strategie-orientierten Sicht
der Digitalisierung auf die digitale Reife ein. Basierend auf dem beschriebenen Forschungs-
problem und unserem aktuellen Verständnis hat unsere Forschung zum Ziel, einen integrier-
ten Ansatz zur digitalen Reife mit einer ganzheitlichen, strategie-orientierten Sicht der Digi-
talisierung zu entwickeln. Dabei werden wir die folgenden Forschungsfragen beantworten:

• Welche grundlegenden strategie-orientierten Ebenen sind relevant, um die digitale


Reife eines Unternehmens aus einer ganzheitlichen Perspektive zu messen?
• Welche Schritte sind relevant, um die digitale Reife auf den grundlegenden strategie-­
orientierten Ebenen zu messen und die digitale Reife zu verbessern?
• Wie kann die digitale Reife im Detail bewertet werden, um sich auf die relevanten Kri-
terien der grundlegenden strategie-orientierten Dimensionen zu konzentrieren?

1.4 Forschungsmethode

1.4.1 Forschungsdesign

Eine Theorie kann anhand des „Grounded Theory“-Ansatzes entwickelt werden (Basker-
ville & Wood-Harper, 1998; Glaser, 1992; Glaser & Strauss, 1967; Kromrey, 2009; Martin
& Turner, 1986). Grundlegend ist dabei die Datenerhebung und -analyse. Die Theorie
basiert auf iterativer Datenerfassung und -analyse, um praktische statt abstrakte Erfahrun-
gen zu integrieren (Kromrey, 2009).
Basierend auf unserem Forschungsziel und den Forschungsfragen haben wir unsere
bisherige Forschung zur digitalen Reife integriert (z. B. Schallmo et al., 2020; Williams
et al., 2019; Williams & Schallmo, 2020) und Digitalisierung (z. B. Schallmo & Williams,
2017, 2020; Schallmo et al., 2017, 2018, 2019a, b).
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 7

Bisherige Beiträge zu digitalen


Bisherige Beiträge zur Dimension 1: Ebenen der
strategie-orientierten Reifegradmodellen als Basis für
Digitalisierung als Basis für
Digitalisierung die Dimensionen 2 und 3:
Dimension 1: Ebenen (Auszug;
Prozess zur detaillierten Analyse
siehe Referenzen für weitere
der digitalen Reife (Auszug;
Details)
siehe Referenzen für weitere
• Digital Strategy: Integrated
Details)
Approach and Generic Options • Digital Maturity Models for Small
(IJIM, 23[8], 2019) → Ebene 1: and Medium-sized Enterprises: A
Inhalt und Prozess für Systematic Literature Review.
Digitalstrategie. (ISPIM Florence, 2019) →
• Digital Transformation of Dimension 2: Prozess zur Grundlage für den Prozess und
Business Models - Best Messung und Verbesserung der die detaillierte Analyse
Practices, Enablers and digitalen Reife • An Approach for a Digital Maturity
Roadmap (IJIM 21[8], 2017) → 1 2 3
Model for SMEs Based on Their
Ebene 2: Inhalt und Prozess für Requirements (ISPIM Berlin
die digitale Transformation. virtual, 2020) → Modell für den
Dimension 3: detaillierte Analyse
• An Integrated Approach to Digital Prozess und die detaillierte
der digitalen Reife
Implementation: TOSC Model Analyse
and DPSEC-Circle (ISPIM Berlin • How SMEs Digitally Mature:
virtual, 2020) → Ebene 3: Inhalt Conceptual Research Framework
und Prozess für die digitale and Initial Findings (ISPIM Berlin
Implementierung virtual, 2020) → Modell für den
Prozess und die detaillierte
Analyse

Aktueller Beitrag zu einem integrierten Ansatz für die digitale Reife


• Kombination früherer Beiträge und Erkenntnisse in einem integrierten Ansatz für die digitale Reife
• Entwicklung eines Leitfadens für die semi-strukturierten Interviews
• Expertenauswahl und Abschluss von Interviews
• Transkription aufgezeichneter Interviews
• Analyse und Auszug von Transkripten
• Schlussfolgerungen aus den Erkenntnissen
• Weiterentwicklung des integrierten Ansatzes für die digitale Reife

Abb. 1.1  Forschungsdesign des integrierten Ansatzes für die digitale Reife (eigene Darstellung)

Aufgrund der Komplexität im Kontext des digitalen Reifegrads wird empfohlen, einen
„Mixed Method“-Ansatz (d. h. qualitativ und quantitativ) zu verwenden, um Reifegrad-
modelle zu untersuchen (Frederico et al., 2020; Schumacher et al., 2016). Qualitative Me-
thoden wie semi-strukturierte Interviews gelten als geeignete Forschungsmethode zur
Entwicklung von Reifegradmodellen; in aktuellen Studien gab es diesbezüglich allerdings
einige Kritikpunkte. Zum Beispiel sind die Interviewtermine und die Transparenz, wie die
Interviews analysiert wurden, oft nicht klar (Kim et al., 2018; Warnecke et al., 2018). Da-
her folgt der Datenerhebung mit einem qualitativen Forschungsansatz die Analyse von
semi-strukturierten Interviews (Schmidt, 2004).
In Kombination mit unserer bisherigen Forschung haben wir semi-strukturierte Inter-
views eingesetzt, um eine erste Theorie (d. h. konzeptionelles Modell) für die Messung
des digitalen Reifegrads zu entwickeln. Unser Forschungsdesign ist in Abb. 1.1 dargestellt.

1.4.2 Datenerfassung

Um Einblicke von Experten zur Digitalisierung zu gewinnen, haben wir einen Leitfaden für
semi-strukturierte Interviews entwickelt. Der Interview-Leitfaden wurde zuvor getestet und
enthält die folgenden drei Fragenblöcke (weitere Einzelheiten siehe auch Abschn. 1.8):
8 D. Schallmo und C. A. Williams

Tab. 1.1 Befragte
Position Unternehmen/Institution Datum
Experte 1 Digital Transformation Fertigungsunternehmen für 30.04.2021
und Manager Verpackungsmaschinen
Experte 2
Experte 3 Projektleiter und Leiter Unternehmen für Engineering-­ 30.04.2021
der autonomen Dienstleistungen und Softwareentwicklung
Mobilität
Experte 4 Partner und Director Beratungsunternehmen zur Transformation 30.04.2021
Digital Solutions und Digitalisierung von Geschäftsmodellen,
Produkten und Prozessen
Experte 5 Executive Vice Unternehmen für Beratung und IT-Services 30.04.2021
President Industrie
Experte 6 Geschäftsführer Unternehmen für IT-Services 10.05.2021

• Aktueller Stand im Kontext der Digitalisierung (Verankerung, Struktur, Initiativen und


Erfahrungen)
• Aktueller Stand im Kontext der digitalen Reife (Verankerung, Struktur, Initiativen und
Erfahrungen))
• Modell zur Messung der digitalen Reife mit den Ebenen strategie-orientierter Digitali-
sierung, Prozess zur Messung und Verbesserung der digitalen Reife und einer detaillier-
ten Analyse (Bewertung, Praktikabilität, fehlende Elemente, überflüssige Elemente)

Wir haben vom 30. April bis 10. Mai 2021 sechs Experten zur Digitalisierung aus Deutsch-
land befragt. Die semi-strukturierten Interviews sind in Tab. 1.1 dargestellt.
Im Rahmen unserer Datenanalyse konzentrieren wir uns auf die Ergebnisse des Mo-
dells zur Messung der digitalen Reife. Die Experten 1 und 2 wurden gemeinsam befragt,
da beide demselben Unternehmen angehören.

1.4.3 Qualitätskriterien

Um die Validität der Ergebnisse zu gewährleisten (Denzin, 1970), haben wir die Triangu-
lation auf verschiedene Weise angewandt, indem wir Daten aus verschiedenen Quellen
gewonnen haben. Zunächst haben wir bestehende Ansätze zur digitalen Reife und Digita-
lisierung kombiniert, um Vorteile und Erkenntnisse aus vorhandenem Wissen zu nutzen
(Denzin, 1970). Zweitens haben wir sechs semi-strukturierte Interviews geführt, um Er-
kenntnisse von Experten zur Digitalisierung zu gewinnen.
Die Reliabilität unseres Ansatzes wurde durch die Transkribierung der Ergebnisse der
semi-strukturierten Interviews sichergestellt. Die so gewonnenen Informationen bilden ein
empirisches Datenmuster und bilden in Kombination mit der bisherigen Arbeit die Grund-
lage für einen integrierten Ansatz zur digitalen Reife. Die Objektivität wurde durch Pre-
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 9

tests unter Einbeziehung vorhandener Ansätze und des Interviewleitfadens sichergestellt.


Die Verallgemeinerung unseres Ansatzes ist eine Herausforderung, die eine Anpassung die
individuellen Bedürfnisse eines Unternehmens erfordert.

1.5 Integrierter Ansatz für digitale Reife

Im Rahmen unseres integrierten Ansatzes befassen wir uns mit drei verschiedenen Dimen-
sionen: grundlegende Ebenen der strategie-orientierten Digitalisierung, Prozess zur Mes-
sung und Verbesserung der digitalen Reife sowie eine eingehende Analyse der digitalen
Reife. Die drei Dimensionen sind in Abb. 1.2 dargestellt.
Im folgenden Abschnitt zeigen wir jede Dimension unseres Modells, Auszüge aus den
Interviews und Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung unseres Modells auf.

1.5.1 Grundlegende Ebenen der strategie-orientierten


Digitalisierung

Die strategie-orientierte Digitalisierung lässt sich in die folgenden drei grundlegenden


Ebenen einteilen: die Digitalstrategie, die digitale Transformation von Geschäftsmodellen
und die digitale Umsetzung unter dem Einfluss des Makro- und Mikroumfelds (Schallmo
et al., 2019a). So können Unternehmen die digitale Reife eines Unternehmens ganzheit-
lich messen. Die drei grundlegenden Ebenen der strategie-orientierten Digitalisierung sind
in Abb. 1.3 dargestellt.
Die Entwicklung einer Digitalstrategie ist ebenso integraler Bestandteil der Aktivitäten
eines Unternehmens wie die digitale Transformation von Geschäftsmodellen. Unterneh-

Dimension 1: Ebenen der strategie-


orientierten Digitalisierung

Integrierter
Ansatz für die
Dimension 3: detaillierte Analyse der Dimension 2: Prozess zur Messung
digitalen Reife Digitale Reife und Verbesserung der digitalen Reife

1 2 3

Abb. 1.2  Dimensionen des integrierten Ansatzes für die digitale Reife (eigene Darstellung)
10 D. Schallmo und C. A. Williams

Digitalstrategie

Makro- Mikro-
Umfeld Umfeld
Digitale Transformation
im im
des Geschäftsmodells
digitalen digitalen
Kontext Kontext

Digitale Implementierung

Abb. 1.3  Klassifikation im Kontext der Digitalisierung

men haben oft keine Klarheit darüber, welche Richtung sie in Bezug auf ihre Digitalstra-
tegie einschlagen und welche allgemeinen Grundsätze und Optionen anzuwenden sind.
Die erste Ebene der strategie-orientierten Digitalisierung ist die Digitalstrategie. Die
Digitalstrategie ist die ganzheitliche Ausrichtung von Digitalisierungsvorhaben in Unter-
nehmen und Organisationen, um den digitalen Wandel zu antizipieren und mitzugestalten.
Das mittel- und langfristige Ziel ist es, Wettbewerbsvorteile zu erhalten oder neu zu
schaffen.
Die Digitalstrategie wird anhand eines strukturierten Vorgehens entwickelt. Hierbei
werden digitale Technologien und neue Methoden auf Produkte, Prozesse oder ganze Ge-
schäftsmodelle angewendet, was den digitalen Reifegrad eines Unternehmens erhöht. Die
Digitalstrategie hat folgende Bestandteile: Vision, Mission, strategische Ziele, strategische
Erfolgsfaktoren, Werte sowie Projekte und Maßnahmen. Diese Bestandteile werden dabei
immer im Kontext der Digitalisierung betrachtet (Bharadwaj et al., 2013; Cordon et al.,
2016; Greiner et al., 2017; Hille et al., 2016; Kraewing, 2017; Peppard & Ward, 2016;
Petry, 2016; Rauser, 2016; Schallmo et al., 2018).
Die zweite Ebene der strategie-orientierten Digitalisierung ist die digitale Transforma-
tion von Geschäftsmodellen. Die Digitale Transformation von Geschäftsmodellen betrifft
einzelne Geschäftsmodell-Elemente, das gesamte Geschäftsmodell, Wertschöpfungsket-
ten sowie die Vernetzung unterschiedlicher Akteure in einem Wertschöpfungsnetzwerk.
Dabei dient die Digitale Transformation dazu, die Digitalstrategie in Geschäftsmodellen
zu konkretisieren. Sie erfolgt anhand eines Vorgehens mit einer Abfolge von Aufgaben
und Entscheidungen, die in logischem und zeitlichem Zusammenhang zueinanderstehen
(BMWi, 2015; Boueé & Schaible, 2015; Bowersox et al., 2005; Mazzone, 2014; Schallmo
et al., 2017; Westerman et al., 2011).
Die dritte Ebene der strategie-orientierten Digitalisierung ist die Umsetzung der Digi-
talstrategie beschäftigt und die digitale Transformation eines oder mehrerer Geschäftsmo-
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 11

delle unterstützt (Cordon et  al., 2016; Kraewing, 2017; Peppard & Ward, 2016; Petry,
2016; Rauser, 2016). Folgende Bereiche sind für die digitale Umsetzung relevant
(Schallmo & Williams, 2020):

• Technische Umsetzung: z. B. Einsatz von Sensoren, Erstellung von Datenbanken und


Vernetzung von Komponenten.
• Organisation: z. B. die Definition von Strukturen und Verantwortlichkeiten, die Ein-
richtung von Abteilungen und die Definition von Prozessen.
• Fähigkeiten: z. B. IT-Know-how (Hardware, Software-Anwendung/Entwicklung, etc.),
Einsatz von Kollaborationstools, Entwicklung von Führungs- und Kollaborationskom-
petenzen und der Erwerb von Methoden.
• Kultur: z. B. kulturelle Verankerung im Unternehmen, Sensibilisierung der Mitarbeiter,
Kommunikation im Unternehmen.

1.5.2 Erkenntnisse zu den grundlegenden Ebenen der


strategie-orientierten Digitalisierung

Basierend auf den Interviews und Transkripten betrachten wir folgende Auszüge zu den
Ebenen der strategie-orientierten Digitalisierung:

• … Die drei Ebenen sind sehr wichtig und sehr sinnvoll … (E1)
• … Mit der Umsetzung, die man dann konkretisieren muss, ist es natürlich auch wichtig,
dass man […] wirklich etwas Konkretes macht … (E1)
• … Technologie, digitale Produkte, das haben wir haben – das ist eine zusätzliche Säule
bei den Geschäftsmodellen. Das wäre auf der untersten Ebene, aber ich denke, das ist
auch eine gute Möglichkeit, dies in diese zweite Ebene zu bringen, denn es ist eine
strategischere Frage als die anderen Bereiche. (E1)
• … Wenn es [digitale Strategie] am Anfang steht und man darauf aufbauen kann, [kann
es] die digitale Transformation vorantreiben … (E2)
• … Jedes Unternehmen sollte eine Digitalisierungsstrategie haben. Deshalb ist dies nur
schlüssig …, (E3)
• … Natürlich muss ich mich in bestimmten Bereichen und mit meinen Geschäftsmodel-
len und dann mit den vier Bereichen [Technologie, Organisation, Fähigkeiten, Kultur]
anpassen … (E3)
• … Was mir hier [digitale Strategie] fehlt, ist Differenzierung. Also, was wir hatten: die
Digitalisierung des Geschäftsmodells. Wir unterscheiden also zwischen zwei Berei-
chen. Einerseits habe ich die Digitalisierung meines Geschäftsmodells, d. h. die Digi-
talisierung meines Leistungsspektrums, meiner Produkte etc. Und auf der anderen
Seite die Digitalisierung meiner Services … (E4)
• … Ich sehe das Thema Kultur als überlegen … Wie ermächtige ich meine Organisation,
wie kommuniziere ich, nehme alle mit? Und für mich ist dies eher ein Rahmen, auf
dem das Ganze stattfindet … (E4)
12 D. Schallmo und C. A. Williams

• … Es gibt hier keine überflüssigen Punkte [im Modell] … (E4)


• … Zum einen natürlich über die gesamte Lieferkette, das ist Teil meiner Service-­
Lieferung, aber natürlich auch meine Kunden. Wie funktionieren die Prozesse für
meine Kunden? Wie kann ich das optimieren? Das gehört auch dazu … (E4)
• ‚… So haben wir dies sowohl in unserem Unternehmen als auch bei unseren Kunden
strukturiert ….’ (E5)
• ‚… Für uns sehe ich den Aspekt, des Geschäftsmodells und den unteren Bereich der
digitalen Implementierung, ich erlebe es nicht so sehr, dass diese beiden Ebenen ge-
trennt sind. Aber wir neigen dazu, nach unten zu schauen. Kultur eher aus organisati-
onstheoretischer Sicht …’ (E5)
• … Aber dies sind die Elemente [auf der Ebene der Implementierung] von Technologie,
Organisation, Menschen und Unternehmen mit den Bereichen Betriebswirtschafts-
lehre, Psychologie, Soziologie, IT und Informatik … (E5)
• … Schauen Sie sich vielmehr die Beziehung z. B. zwischen Organisation und Betriebs-
führung nach dem Motto an: Müssen wir die Organisation ein wenig verändern und
geschäftsmäßig besser aufgestellt sein? (E5)
• … Nein, [das Modell] passt, wenn man es also ein wenig abflacht, dann passt es zu
unserer Ansicht … (E5)
• … Damit vermisse ich das ganze Thema der Messung der digitalen Strategie. Das Ein-
zige ist also, Initiativen zu bringen und umzusetzen und zu planen. Aber dieses ganze
Thema der Messung  – Messung des Fortschritts und des digitalen Reifegrades  – ist
kontinuierlich … (E6)
• … Andernfalls ist es logisch strukturiert und klar und eindeutig für mich …. (E6)

Basierend auf den beschriebenen Ebenen der strategie-orientierten Digitalisierung und


den Interviewauszügen sind folgende Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung des
Modells relevant:

• Die drei grundlegenden Ebenen sollten beibehalten werden, müssen aber an die spezi-
fischen Bedürfnisse des Unternehmens angepasst werden können.
• Technologien sind bereits im Geschäftsmodell und in der Roadmap für die digitale
Transformation enthalten, sollten aber deutlicher hervorgehoben werden.
• Die Differenzierung zwischen Digitalisierung von Produkten/Dienstleistungen und
Servicebereitstellung (externe und interne Digitalisierung) ist im Geschäftsmodell und
in der Roadmap für die digitale Transformation enthalten, sollte aber deutlicher hervor-
gehoben werden.
• Kultur und Kommunikation sollten von Anfang an und auf allen drei Ebenen einbezo-
gen werden.
• Der gegenseitige Einfluss der vier Bereiche (Technologie, Organisation, Kompetenzen
und Kultur) wird auf der Umsetzungsebene berücksichtigt, sollte jedoch deutlicher her-
vorgehoben werden.
• Die Messung des Fortschritts auf jeder Ebene wird in dem Prozess berücksichtigt,
sollte jedoch deutlicher hervorgehoben werden.
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 13

1.5.3 Prozess zur Messung und Verbesserung der digitalen Reife

Die zweite Dimension beinhaltet den Prozess zur Messung und Verbesserung der digitalen
Reife und besteht aus den folgenden drei Schritten, die in Abb. 1.4 dargestellt sind: 1. ini-
tiale Analyse der digitalen Reife, 2. detaillierte Analyse und 3. Ableitung von Maßnah-
men. Die initiale Analyse unterstützt die Fokussierung auf die relevanten Ebenen der
strategie-­orientierten Digitalisierung und ist als einfacher Überblick konzipiert. Die Ana-
lyse unterteilt sich in Ergebnisse (z. B. eine Digitalstrategie) und Organisation (z. B. Pro-
zess für digitale Strategie).
Inspiriert durch die Bewertung von Objekten im EFQM-Modell (EFQM, 2003) schla-
gen wir die vier Stufen der digitalen Reife für die erste Analyse vor, wie in Abb. 1.5 dar-
gestellt.
Auf dieser Grundlage werden die relevanten Bereiche für eine detaillierte Analyse aus-
gewählt. Diese Analyse liefert Details zu den einzelnen Ebenen der strategie-orientierten
Digitalisierung und enthaltenen Kriterien. Der dritte Schritt ist die Ableitung von Maßnah-
men zur Verbesserung der digitalen Reife eines Unternehmens.

1.5.4 Erkenntnisse zum Prozess zur Messung und Verbesserung der


digitalen Reife

Basierend auf den Interviews und Transkripten betrachten wir die folgenden Auszüge für
den Prozess zur Messung und Verbesserung der digitalen Reife:

• … Ich denke, wenn man es auf einer höheren Ebene betrachtet, macht es Sinn, und die
Ableitung von Maßnahmen – ich bin sowieso immer sehr Fan davon … (E1)
• … Guter Prozess … das ist sehr einfach … überhaupt nicht überflüssig … (E3)

1 2 3
Detaillierte Analyse der Ableitung von Maßnahmen zur
Initial-Analyse der
digitale Reife Verbesserung der digitalen Reife
digitale Reife
(für eine oder zwei Ebenen; z. B. digitale (für eine oder zwei Ebenen; z. B. digitale
(für alle drei Ebenen)
Transformation) Transformation)

Maßnahmen zur Verbesserung


Digitalstrategie Digitalstrategie digitale Reife, z. B.
Digitaler Reifegrad

• Einrichten einer
Technologiebewertung
Digitale Transformation Digitale Transformation • Testen neuer digitaler
des Geschäftsmodells des Geschäftsmodells Kundenkanäle
• Implementierung neuer digitaler
Dienste
• …

Digitale Implementierung Digitale Implementierung

Abb. 1.4  Verfahren zur Messung und Verbesserung der digitalen Reife (eigene Darstellung)
14 D. Schallmo und C. A. Williams

Elemente in Form von 1 2 3 4


Ergebnissen Nicht Geringer Fortschritt: Erheblicher Vollständig erreicht:
gestartet/vorhanden: einige Ergebnisse und Fortschritt: eine Lösung, bzw. ein
keine Ergebnisse; evtl. einige Belege für klare Ergebnisse und Vorbild; schwierig,
einige gute Ideen, die Projekte; zufällige und Belege dafür, dass das weitere wesentliche
aber noch nicht gelegentliche Analysen, Thema behandelt wird; Verbesserungen zu
umgesetzt wurden die zu Verbesserungen regelmäßige und berücksichtigen; alle
führen routinemäßige Analysen Ergebnisse werden
und Verbesserungen transparent
kommuniziert,
verstanden und gelebt
Digitalstrategie (inkl.
Vision, Mission, Werte…)

Digitale Transformation
(inkl. Digitale
Geschäftsmodelle,
Kanäle…)

Digitale Implementierung
(inkl. Technologie,
Organisation,
Fähigkeiten…)

Elemente in Form von 1 2 3 4
Organisation Nicht Geringer Fortschritt: Erheblicher Vollständig erreicht:
gestartet/vorhanden: weniger Prozessschritte Fortschritt: eine Lösung, bzw. ein
kein/e und einige Belege für klare Schritte und Vorbild; eine
Prozess/Verantwortung; Projekte; zufällige und Verantwortlichkeiten und Organisationsstruktur für
vll. einige gute Ideen, gelegentliche Aktivitäten Belege für Projekte; dieses Thema; es ist
die aber nicht in einen regelmäßige und schwierig, weitere
Prozess integriert sind routinemäßige wesentliche
Aktivitäten Verbesserungen
abzuleiten; alle
Prozesse und
Verantwortlichkeiten
sind transparent,
verstanden und gelebt
Digitalstrategie (inkl.
strategische externe
Analyss, strategische
Prognose,
Digitalstrategie-Team…)

Digitale Transformation
(inkl. digitale Realität,
digitale Ambition,
digitales
Transformations-Team…)

Digital Implementierung
(inkl. Ableitung digitaler
Initiativen, Umsetzung
der digitalen Agenda,
digitales
Implementieerungs-
Team…)

Abb. 1.5  Beispielhafte Initialanalyse für die digitale Reife (eigene Darstellung)

• … Die Frage, die eindeutig aus einer Digitalisierungsstrategie herausgearbeitet werden


muss … [ist] ob ich mein Unternehmen intern digitalisieren will, ob wir ein gewisses
Maß an Reife nehmen wollen, oder ob ich mein Unternehmen auch auf ein gewisses
Maß an Reife erhöhen möchte … ansonsten ist der Prozess natürlich auch in der Ein-
fachheit praktisch, um es so zu sagen … (E3)
• … Ich denke, es passt sehr gut, ja … (E4)
• … Was mache ich mit den Maßnahmen? (E4)
• … Was die profitabelsten Anwendungsfälle sind, die ich hier aus diesen Maßnahmen
oder aus den Potenzialen abfasse, ist ein wesentliches Element … (E4)
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 15

• … Wie es jetzt präsentiert wird, passt aber vor allem das zentrale Element. Wie geht es
weiter? (E4)
• … Wir schauen uns sehr viel einen Zyklus an, so viel mehr, zum Beispiel, erste Ana-
lyse … (E5)
• … Eine grundlegende Steigerung durch einen Grad der Digitalisierung muss nicht un-
bedingt ein Ziel sein …. nicht unbedingt jeder lokale Digitalisierungsgradanstieg des
gesamten Unternehmens macht Sinn … (E5)
• … Den Reifegrad selbst, aber auch den Reifegrad der Umwelt … (E5)
• … Die Analysen sollten vor der Abfolge der Maßnahmen evaluiert werden … (E6)
• … Kann auch zwei verschiedene Teams in Unternehmen sein, also: Dass man das be-
wertet, Schwachstellen zeigt, und nur die Ableitung von Maßnahmen könnte jemand
anderes sein …. (E6)

Basierend auf dem oben beschriebenen Prozess zur Messung und Verbesserung der digi-
talen Reife und den Auszügen aus den Interviews sind folgende Schlussfolgerungen rele-
vant, um das Modell weiterzuentwickeln:

• Die drei Schritte des Prozesses sollten beibehalten werden, müssen aber an die spezifi-
schen Bedürfnisse des Unternehmens angepasst werden können.
• Der Zusammenhang zwischen der Bewertung der digitalen Reife, Maßnahmen und den
drei Ebenen der Digitalisierung (digitale Strategie, digitale Transformation und digitale
Umsetzung) sollte deutlicher hervorgehoben werden.
• Die Bewertung der digitalen Reife sollte kontinuierlich erfolgen, einschließlich der
Bewertung des Erfolgs von Maßnahmen (im Ansatz für die digitale Umsetzung behan-
delt) und Iterationen zwischen mehreren Schritten.
• Neben der Analyse des digitalen Reifegrads von Unternehmen sollte der digitale Reife-
grad des Umfelds analysiert werden, einschließlich einer Ausrichtung (im Ansatz der
digitalen Transformation abgedeckt).
• Die Auswertung der Analyse erfolgt in Schritt zwei (detaillierte Analyse), um sich auf
die relevanten Positionen zu konzentrieren.

1.5.5 Detaillierte Analyse der digitalen Reife

Die dritte Dimension ist im Wesentlichen der zweite Schritt des beschriebenen Prozesses
und beinhaltet eine detaillierte Bewertung von relevanten Elementen. Die bewerteten Ele-
mente liefern Einblicke für jede Ebene der strategie-orientierten Digitalisierung – zum Bei-
spiel den Prozess zur Entwicklung einer Digitalstrategie, Verantwortlichkeiten, organi­
satorische Integration, Existenz einer Vision etc. Daher werden die Ergebnisse
(z. B. Digitalstrategie, Geschäftsmodell) und grundlegende Schritte (z. B. Roadmap für die
digitale Transformation von Geschäftsmodellen) dekonstruiert und in die eingehende Ana-
lyse ­einbezogen. Jedes Element wird anhand einer Skala mit vier verschiedenen Graden
16 D. Schallmo und C. A. Williams

Elemente auf der Ebene der Digitale Reife im Potenzial zur Relevanz für die
digitalen Transformation (Ergebnis = Vergleich zum Weiterentwicklung Weiterentwicklung
Geschäftsmodell) stärksten des Elements des Elements, auch
Wettbewerber (1-4) Dringlichkeit (1-4)
(1-4)
Kundenkanäle
Kundenbeziehungen
Produkte und Dienstleistungen
Ressourcen
Fähigkeiten
Prozesse


Elemente auf der Ebene der Digitale Reife im Potenzial zur Relevanz für die
digitalen Transformation (Organisation Vergleich zum Weiterentwicklung Weiterentwicklung
= Geschäftsmodell) stärksten des Elements des Elements, auch
Wettbewerber (1-4) Dringlichkeit (1-4)
(1-4)
Verantwortung für die digitale
Transformation
Struktur für die digitale Transformation
Schritt 1: Digitale Realität
Schritt 2: Digitale Ambition

Abb. 1.6  Beispielhafte detaillierte Analyse der digitalen Reife auf der Ebene der digitalen Trans-
formation (eigene Darstellung)

(von 1 – sehr niedrig bis 4 – sehr hoch) für die folgenden Kriterien bewertet: digitale Reife,
Verbesserungspotenzial und Relevanz für das Unternehmen. Abb. 1.6 zeigt ein Beispiel für
eine eingehende Analyse der digitalen Reife auf der Ebene der digitalen Transformation.
Durch die Anwendung mehrerer Kategorien ist es möglich, sich noch stärker auf rele-
vante digitale Initiativen zur Verbesserung der digitalen Reife eines Unternehmens zu kon-
zentrieren. Es ist auch möglich, jedes Element verbal zu beschreiben, um mehr Einblicke
zu gewinnen. Zwei wichtige Punkte sind die Quantifizierung der digitalen Reife und die
Anpassung des integrierten Ansatzes an spezifische Unternehmensanforderungen.

1.5.6 Erkenntnisse zur detaillierten Analyse der digitalen Reife

Aufbauend auf den Interviews und Transkripten liegen folgende Auszüge für detaillierte
Analyse der digitalen Reife:

• … Ich finde es hilfreich – die drei Säulen zu betrachten und dann zu sagen: Ok, wie
beurteilen wir den digitalen Reifegrad, und wo sehen wir das Potenzial? (E2)
• … Und was ist die Relevanz? Ich glaube, wir könnten dann vielleicht noch detaillier-
tere und sogar einfachere Maßnahmen ableiten und wissen, was wichtig ist. (E2)
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 17

• … Ich finde es gut, dass ich es jetzt hier sehe, dass man sich nicht nur die inneren, son-
dern auch die äußeren Faktoren anschaut  – also die Kanäle, die nach draußen ge-
hen … (E3)
• … Zu den Elementen, denke ich, das ist schon ein sehr vollständiges Bild …, und so
können Sie auch den digitalen Reifegrad abfragen … (E3)
• … Das ist klar, logisch, gut und sehr einfach, also glaube ich nicht, dass Sie eine wei-
tere Skala hinzufügen müssen; das macht es nur komplizierter … (E3)
• … Und ich denke auch, dass das Potenzial gut ist. Relevanz: Ist die Frage, ob dies auf
alle einzelnen Bereiche angewendet werden kann …? (E3)
• … Ich finde es einfach, und doch gibt es auch ein vollständiges Bild … (E3)
• … Was ist die Referenz für die Bewertung? … (E4)
• … Hängt natürlich vom Kenntnisstand des jeweiligen Befragten ab … wie er es sieht
und wo er sich konzentrieren möchte … (E4)
• … Option 1: Wir haben keine Digitalisierungsstrategie, wir haben im Moment nichts
dazu geplant …. Option 2: Wir haben keine Digitalisierungsstrategie, aber wir pla-
nen …. Option 3 ist dann: Wir sind gerade dabei, die Digitalisierungsstrategie umzuset-
zen …, und Option 4 lautet: Wir haben sie abgeschlossen und befinden uns in der Op-
timierung [Phase] … (E4)
• … Was sind die nächsten Punkte, wohin ich gehen müsste? (E4)
• … Die Spalten geben mir eine positive Antwort … (E5)
• … Jetzt müssten wir die Metrik selbst anpassen …. Wie machen Sie das? Das war
Wahnsinn … (E5)
• … Und dann war die Diskussion da, und diese Diskussion hat sich im Nachhinein ge-
ändert, so dass der einzige wirkliche Nutzen davon die Diskussion war … (E5)
• … Ja, aber nehmen Sie das unternehmerische Risiko mit – mit jeder Zeile am Ende.
Also, das Risiko, dass ich dort auf dem Markt habe … und das Risiko, wenn ich mir
jetzt mein Geschäftsmodell am Kundenkanal ansehe, ist vielleicht höher, als ob ich –
keine Ahnung – völlig neu in der Organisation implementieren würde … (E6)

Basierend auf der oben beschriebenen detaillierten Analyse der digitalen Reife und den
Auszügen aus den Interviews sind folgende Schlussfolgerungen für die Weiterentwick-
lung des Modells relevant:

• Die Idee, eine erste Analyse und dann eine eingehende Analyse durchzuführen, sollte
beibehalten werden, muss aber an spezifische Unternehmensbedürfnisse angepasst
werden können.
• Es sollten keine zusätzlichen Skalen hinzugefügt werden, um die Komplexität gering
zu halten.
• Die Referenz für die Bewertung wurde durch den Vergleich des Unternehmens mit dem
stärksten Wettbewerber aufgenommen.
• In Bezug auf die Befragten sollten Experten in einem Unternehmen einbezogen werden
und nicht fachfremde Mitarbeiter.
18 D. Schallmo und C. A. Williams

• Eine differenziertere Bewertung (nicht geplant, geplant …) wurde in die erste Analyse
einbezogen; die Auswertung von 1 bis 4 könnte mehr erklärt oder individuali-
siert werden.
• Das Management der Komplexität sollte im Auge behalten werden.
• Die detaillierte Analyse kann auch als Kommunikationsinstrument gesehen werden,
um den Bedarf an Digitalisierungsprojekten zu ermitteln.
• Das jeweilige Risiko ist in der Skala „Relevanz für die Weiterentwicklung von Ele-
ment“ enthalten.

1.6 Beiträge für Wissenschaft und Praxis

Unsere Forschung beinhaltet einen integrierten Ansatz zur Messung und Entwicklung der
digitalen Reife. Dieser Ansatz besteht aus mehreren grundlegenden Ebenen für die
strategie-­orientierte Digitalisierung. Zu den grundlegenden Ebenen gehören Digitalstrate-
gie, digitale Transformation und digitale Umsetzung. Darüber hinaus beschrieben wir drei
relevante Schritte, darunter eine erste Analyse der digitalen Reife, eine detaillierte Analyse
und die Ableitung von Maßnahmen. Damit schließt sich eine bestehende Forschungslücke
in Bezug auf die Messung und Verbesserung der digitalen Reife.
Führungskräfte und Unternehmensentwickler werden von den Ergebnissen profitieren,
indem sie einen integrierten Ansatz für die digitale Reife vorfinden, der mehrere Ebenen
der Digitalisierung abdeckt. Der integrierte Ansatz ermöglicht es Unternehmen, ihr digita-
les Potenzial zu nutzen. Durch die Ableitung von Maßnahmen sind Unternehmen in der
Lage, ihre aktuelle Situation zu optimieren und einen deutlichen Wettbewerbsvorteil zu
schaffen. Spezifische Anforderungen von Unternehmen sollten durch eine Anpassung des
vorliegenden Ansatzes abgedeckt werden.

1.7 Fazit und Ausblick

Unser Beitrag zielte darauf ab, unsere bestehende Forschung zur digitalen Reife fortzuset-
zen und unsere ersten Erkenntnisse über die Anwendbarkeit unseres integrierten Ansatzes
aufzuzeigen. Wir sehen die folgenden Einschränkungen in diesem Beitrag. Die Leser müs-
sen sich darüber im Klaren sein, dass die dargestellten Ergebnisse aufgrund theoretischer
Zwänge und weniger primärer Datenquellen möglicherweise nicht verallgemeinerbar
sind. Darüber hinaus erfordern die skizzierten Grundsätze und die vorgeschlagene For-
schungsmethodik eine weitere Untersuchung.
Weitere Untersuchungen über den integrierten Ansatz sind empfehlenswert. Praktiker
sollten dabei noch stärker in die weitere Forschung einbezogen werden, da der integrierte
Ansatz somit weiter getestet werden könnte, um zusätzliche empirische Daten zum Ver-
gleich bereitzustellen. Es wäre interessant, eine allgemein zugängliche und anonymisierte
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 19

Datenbank oder eine Wissenscommunity zu schaffen, um analysieren zu können, welche


grundlegenden Ebenen und Schritte relevant sind und wie anwendbar die detaillierte Ana-
lyse ist. Insbesondere die quantifizierte Messung und Beobachtung der digitalen Reife
(z. B. einschließlich KPI) wäre interessant. Diese Datenbank würde es Forschern ermög-
lichen, Einblicke aus verschiedenen Branchen, Regionen oder Ländern zu gewinnen;
Praktiker würden auf ein zuverlässiges Benchmarking-Tool zugreifen, das Empfehlungen
für weitere Maßnahmen innerhalb ihrer Unternehmen enthält.

1.8 Anhang: Leitfaden für die semi-strukturierten Interviews

Aktueller Stand im Kontext der Digitalisierung


Ist das Thema der Digitalisierung in Ihrem Unternehmen verankert, wenn ja, wie (z. B. or-
ganisatorische Verankerung; Verantwortung)?

Ist das Thema der Digitalisierung in Ihrem Unternehmen strukturiert, wenn ja, wie
(z. B. verschiedene Ebenen, die betrachtet werden)?
Haben Sie in den letzten zwei Jahren Initiativen und Projekte im Kontext der Digitali-
sierung begonnen und durchgeführt, wenn ja, welche?
Welche Erfahrungen haben Sie bisher im Kontext der Digitalisierung gemacht?

Aktueller Stand im Kontext des Digitalen Reifegrads


Ist das Thema des Digitalen Reifegrads in Ihrem Unternehmen verankert, wenn ja, wie
(z. B. organisatorische Verankerung; Verantwortung)?

Wird in Ihrem Unternehmen der Digitale Reifegrad gemessen, wenn ja, wie (z. B. Ebe-
nen, Grade …)?
Haben Sie in den letzten zwei Jahren Initiativen und Projekte im Kontext des Digitalen
Reifegrads begonnen und durchgeführt, wenn ja, welche?
Welche Erfahrungen haben Sie bisher im Kontext des Digitalen Reifegrads gemacht?

Modell zur Messung des digitalen Reifegrads (Ebenen, Prozess, Messung)


Wie ist Ihre Einschätzung bzgl. der drei Ebenen (Digitalstrategie, Digitale Transforma-
tion, Digitale Implementierung)? Sind diese praktikabel? Was fehlt? Was ist überflüssig?

Wie ist Ihre Einschätzung bzgl. des Prozesses (Initialanalyse des Digitalen Reifegrads,
Detailanalyse des Digitalen Reifegrads, Ableitung von Maßnahmen)? Ist dieser praktika-
bel? Was fehlt? Was ist überflüssig?
Wie ist Ihre Einschätzung bzgl. der detaillierten Messung (Messung des digitalen Rei-
fegrads, Verbesserungspotenzial und Relevanz für das Unternehmen)? Ist diese praktika-
bel? Was fehlt? Was ist überflüssig?
20 D. Schallmo und C. A. Williams

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Prof. Dr. Daniel Schallmo  ist Ökonom, Unternehmensberater und


Autor zahlreicher Publikationen. Er ist Professor für Digitale Trans-
formation und Entrepreneurship an der Hochschule Neu-Ulm, Direk-
tor des Instituts für Entrepreneurship und Mitglied am Institut für
Digitale Transformation. Zuvor war er Professor an der Technischen
Hochschule Ulm. Daniel Schallmo ist Gründer und Gesellschafter
der Dr. Schallmo & Team GmbH, die auf Beratung und Trainings
spezialisiert ist (www.gemvini.de). Er ist ebenso Initiator der Digital
Excellence Group, einer Plattform für Beratung, Trainings und Stu-
dien zu dem Thema der Digitalen Transformation (www.digital-­
excellence-­group.com).
Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Kontext
der Digitalisierung: die Messung des Digitalen Reifegrads, die Ent-
wicklung von Digitalstrategien, die Digitale Transformation von Ge-
schäftsmodellen und die Implementierung digitaler Initiativen. Dazu
gehören z. B. die Führung im digitalen Zeitalter, Technologien und
die Gestaltung von Organisationen.
1  Integrierter Ansatz für den digitalen Reifegrad: Ebenen, Vorgehen und detaillierte … 23

Daniel Schallmo verfügt über mehrere Jahre Praxiserfahrung, die


er in Unternehmen der verarbeitenden Industrie, des Handels, der
Medien, der Unternehmensberatung und des Bauwesens gewonnen
hat. Als Unternehmensberater unterstützt er DAX-­Unternehmen und
mittelständische Unternehmen bei der Beantwortung unterschiedli-
cher Fragestellungen. Er ist sowohl in der Managementausbildung
als auch in Bachelor- und Masterstudiengängen für die Themenge-
biete Design Thinking, Strategie-, Geschäftsmodell-, Prozess- und
Innovationsmanagement sowie Digitale Transformation als Dozent
tätig und war Gastprofessor an der Deutschen Universität in Kairo,
Ägypten. Seine Methoden, insbesondere die Innovation von Ge-
schäftsmodellen, wurden bereits über 200-mal und über 10.000 Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern vorgestellt; dazu zählen auch Konfe-
renzteilnahmen und Vorträge (>100).

Christopher A. Williams  hat Abschlüsse in Kommunikation, Mas-


ters of Business Administration (MBA) und in 2016 schloss er seinen
Master im ­ Bereich Bildung und Technologie  von der Learning
Science Research Institution der Universität  Nottingham  ab. Seit
2018 ist er Doktorand am Institut für Wirtschaftsinformatik – Infor-
mation Engineering der Johannes-­ Kepler-­
Universität  Linz. Seine
Forschungsinteressen umfassen Innovationsmanagement, einschließ-
lich digitaler Reifegradmodelle und andere  strategische Manage­
mentbereiche, Human Resources Management, Unternehmenskom-
munikation und angewandtes Lernen.
Digitalisierung, Gesellschaft und
Unternehmen 2
Achim Weiand

Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die Auswirkungen dar von Digitalisierung als neuartiger und lawinen-
artig umgesetzter Technik auf das Verhalten von Individuen und auf die Gesellschaft,
welche wiederum auf Unternehmen zurückwirken. Individuen sind Kunden und Liefe-
ranten, aber auch Mitarbeitende und bringen so ihre durch Digitalisierung veränderten
Verhaltensweisen mit in Unternehmen, die sich darauf einstellen müssen. Diese ver-
haltenswirksamen Auswirkungen von Digitalisierung (am Beispiel von sozialen
Massenmedien, Suchmaschinen und Möglichkeiten zur Verhaltensbeeinflussung) wer-
den hier dargestellt in Bezug auf Menschen, ihre Identität, auf Arbeit in der digitalen
Ökonomie und auf Führen in der Digitalisierung.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Auswirkungen · Gesellschaft · Unternehmen · Führung

cc „Der Inhalt der Physik geht die Physiker an, die Auswirkung alle Menschen.“
Dürrenmatt (2015, S. 901)

A. Weiand (*)
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: achim.weiand@hnu.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 25


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_2
26 A. Weiand

2.1 Der Mensch als gesellschaftliches Produkt

Es ist eine Binsenweisheit, dass das Verhalten von Menschen beeinflusst wird einerseits
von seinen Einstellungen und Motiven, andererseits aber auch durch seine Umwelt. Weit
gefasst besteht Umwelt aus so heterogenen Systemen wie Staaten mit ihren Gesetzen, aus
Kulturen, aus dem, was verlangt und an Verhalten eingeübt wird in Unternehmen, Ver-
einen, Religionsgemeinschaften, Familien … Andreas Reckwitz formuliert dies prägnant
(2019a, S. 206 f.): „Das Individuum ist keine autonome Einheit, sondern ein gesellschaft-
liches Produkt. Erst in der Gesellschaft wird aus dem Amalgam aus körperlichen und darin
auch psychischen Grundeigenschaften eines Menschen ein Subjekt: ein gesellschaftlich
vollwertiges Wesen, das im Idealfall jene Kompetenzen, Wunschstrukturen und Mentali-
täten verinnerlicht, welche die jeweilige Gesellschaftsform voraussetzt. Die psychische
Struktur ist damit immer schon eine psychosoziale Struktur.“ Jede Gesellschaft und jede
historische Entwicklungsstufe einer Gesellschaft bringen demnach in den sozialen Inter-
aktionen andere Formen von Subjektivität hervor mit jeweils anderen Erwartungen, Wün-
schen, Motiven etc.
Zur Umwelt zählt aber auch Technik, die uns als Konsumenten entgegentritt etwa als
Produkt mit bestimmten Eigenschaften/Features, das z. B. neue Möglichkeiten der ortsun-
gebundenen Kommunikation erlaubt, oder die uns als Arbeitnehmern entgegentritt als
Technik innerhalb einer Organisation, die eine bestimmte Arbeitsweise erfordert, ja er-
zwingt, da das technische Arrangement dazugehört zu Arbeitsvertrag und zu Arbeitsplatz.
„Wie in einer Gesellschaft gehandelt und gefühlt, wie produziert, geherrscht, kommuni-
ziert und imaginiert wird, ist entscheidend von den Formen der Technik und der Techno-
logie beeinflusst, über die sie verfügt.“ (Reckwitz, 2019b, S. 225) Anzumerken ist hier
allerdings, dass Technik nicht selbst „auf- oder entgegentritt“, sondern dass Technik in
einer Gesellschaft eingesetzt wird, dass ihr also nichts Naturhaft-Elementares eignet.
Digitalisierung ist ein enormer Technik-Schub, dessen Auswirkungen derzeit noch
nicht abzusehen sind. Er erfasst derzeit nicht nur Wirtschafts-Unternehmen, sondern reicht
durch sie weit in die Gesellschaft und andere gesellschaftliche Teil-Systeme wie Politik,
Religion, Wissenschaft, Erziehung, Recht, Kunst, Sport, Massenmedien, Gesundheits-
system sowie Intimbeziehungen und Familie hinein. Kaum ein Teil-System, das von Digi-
talisierung unberührt bleibt: Von interaktiven sozialen Massenmedien (Massenmedien)
über Dating-Portale (Intimbeziehungen) bis zum Tracking von individuellen Gesundheits-
daten (Gesundheitssystem) und hin zu E-Sports (Sport). Es ist oft nicht die Frage, ob
etwas digitalisierbar ist, sondern ob man es digitalisieren sollte. So sind elektronische
Wahlen zu Parlamenten prinzipiell möglich; diskutiert wird aber, ob Wahlen aufgrund des
hohen Symbolgehalts der demokratischen Mitbestimmung nicht weiterhin persönlich in
einem Wahllokal erfolgen sollten.

cc „Wir sind überzeugt, dass Portale wie Google, Facebook, Amazon oder Apple weit-
aus mächtiger sind, als die meisten Menschen ahnen, und dass unsere Zukunft durch
ihre weltweite Nutzung geprägt sein wird. Diese Plattformen stellen einen echten
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 27

Paradigmenwechsel dar, ähnlich wie die Erfindung des Fernsehens. Ihre Macht be-
ruht auf der Fähigkeit, exponentiell zu wachsen. Mit Ausnahme von biologischen
Viren gibt es nichts, was sich mit derartiger Geschwindigkeit, Effizienz und
Aggressivität ausbreitet wie diese Technologieplattformen, und dies verleiht auch
ihren Machern, Eigentümern und Nutzern neue Macht.“ (Schmidt & Cohen, 2013,
S. 22) (Eric Schmidt, erst CEO, dann Executive Chairman von Google Inc., dann
Executive Chairman der Muttergesellschaft Alphabet Inc.)

Digitalisierung wird hier nicht verstanden als ein rein technischer Akt der Umwandlung
von analogen Daten in digitale (und damit leicht verarbeitbare/sortierbare, kopierbare/teil-
bare) Daten, sondern Digitalisierung wird begriffen als neue, umfassende technisch-­
ökonomische Möglichkeiten für alle gesellschaftlichen Akteure. Diese Möglichkeiten bie-
ten sich insbesondere dem gesellschaftlichen Teilsystem Wirtschaft, dort insbesondere
den Informations- und Finanz-Unternehmen und dort insbesondere Google, Amazon,
Facebook, Apple (GAFA) (vgl. Staab, 2020, S.  21). Dabei „geschieht“ Digitalisierung
nicht, sondern sie wird von identifizierbaren Akteuren (Unternehmen, Regierungen,
Wissenschaftlern …) mit identifizierbaren Interessen entwickelt, als digitales Produkt
oder Dienstleistung in den Markt eingeführt/angeboten, forciert, erlaubt, toleriert …

2.2 Digitale Technik und Massenkommunikation

Schauen wir uns im Folgenden exemplarisch an, welche Auswirkungen digitale Technik
auf Information und Kommunikation hat und welche Folgen es mit sich bringt für die
davon betroffenen Individuen und die Gesellschaft. Im Rückblick erscheint die Zeit der
klassischen Massenmedien wie Rundfunk, Tageszeitungen oder Fernsehen schon als his-
torische, vergangene Epoche, weit weg von den aktuellen digitalen Massenmedien wie
den sozialen Medien, die sich auf digital-basierte Kommunikationskanäle und An-
wendungen stützen, und ihrer Nutzung. Auch die klassischen Medien sind technisch her-
gestellte (Druckmaschinen, Rundfunk- und Fernsehstudio …) und distribuierte Medien,
auch ihr Konsum ist durch Technik vorgeprägt. Wo aber liegen die wichtigen Unter-
schiede? Armin Nassehi charakterisiert diese klassischen Massenmedien in Abgrenzung
von neuen, interaktiven Massenmedien wie folgt (2019, S. 276): „Diese klassische Form
lebt von einer eindeutigen Trennlinie zwischen Sender und Empfänger. Die Charakteris-
tika lauten:

• wenige Sender
• viele Empfänger, strukturiert parallel zum Sender
• eher einseitige Kommunikation
• hochschwelliger Zugang zu Sendefunktionen
• Professionalisierung/Verberuflichung der Senderfunktion.“
28 A. Weiand

Yvonne Hofstetter führt den Aufstieg von Tageszeitungen und Politmagazine zu Leit-
medien für die politische Kultur in Deutschland auf politische und gesetzliche Rahmen-
bedingungen zurück (2017, S. 34): „Die nach der Schreckensherrschaft des NS-Regimes
einsetzende gelebte Demokratisierung forderte die Pflicht zur ausgewogenen Bericht-
erstattung, bei der auch Minderheitsmeinungen eine Stimme fanden, die den strengen
Vorgaben des Presserechts, später des Medienrechts und der Rechtsprechung des
­Bundesverfassungsgerichts genügen und ausgewogen so berichten und redaktionell ein-
wandfrei arbeiten mussten, dass Minderheiten immer wieder die Chance hatten, zur
Mehrheit zu werden.“ Hofstetter führt weiter aus zu den Funktionen dieser Massen-
medien (2017, S. 34): „Jeder konnte sich dieselben Informationen, in den allermeisten
Fällen aus gesicherten, zuverlässigen Quellen, beschaffen und sich eine Meinung
bilden.“

cc „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen
wir durch die Massenmedien. Das gilt nicht nur für unsere Kenntnis der Gesellschaft
und der Geschichte, sondern auch für unsere Kenntnis der Natur … Andererseits
wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen
können. Wir wehren uns mit einem Manipulationsverdacht, der aber nicht zu
nennenswerten Konsequenzen führt, da das den Massenmedien entnommene Wis-
sen sich wie von selbst zu einem selbstverstärkenden Gefüge zusammenschließt.“
(Luhmann, 2004, S. 9)

Massenmedien vermitteln in einer Ein-Weg-Kommunikation Informationen, kreieren


damit zugleich auch eine Weltsicht und erzeugen ein „soziales Gedächtnis“. Wegen dieser
großen Macht von Massendien, spezieller der Macht der darin herrschenden Akteure (Be-
sitzer, Herausgeber, Chefredakteure …) erklärt sich die hohe gesetzliche Regelungsdichte,
die diese informationsverteilenden und meinungsbildenden Medien gleichsam einhegen
soll (vgl. Landespressegesetze, Rundfunkstaatsvertrag, Landesrundfunkgesetze und Lan­
desmediengesetze der Bundesländer).
Dies ändert sich grundlegend mit einer neuen technischen Informations- und
Kommunikations-­Möglichkeit: dem Internet. Waren die klassischen Massenmedien noch
gekennzeichnet durch eine klare Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten und
eine große Macht-Ungleichheit unter ihnen mit etablierten, zeitlich stabilen Hierarchien,
so ändert sich dies aufgrund neuer technischer Möglichkeiten bei den neuen, interaktiven
Massenmedien gravierend. Nassehi kennzeichnet das Internet wie folgt (2019, S.  276):
„Im Netz kehren sich diese Verhältnisse um:

• viele Sender
• viele Empfänger, weniger strukturiert
• multidirektionale Kommunikation
• niedrigschwelliger Zugang zu Sendefunktionen
• voraussetzungsloser Zugang zu Senderfunktion.“
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 29

Jeder Teilnehmende wird potenziell zum Sender, was in den Frühzeiten des Internet oft
mit dem Versprechen einer radikal demokratisierten Kommunikation verbunden wurde:
Jeder könnte sich jetzt potenziell an alle Empfänger richten, so dass kommunikative Herr-
schaftspositionen entfallen würden. Dieses Versprechen hat sich mit dem Herausbilden
von mächtigen Quasi-Monopolen in bestimmten technologischen Bereichen (z. B. Google
für Suchfunktionen, Amazon für elektronische Marktplätze oder Facebook für soziale
Netzwerke) definitiv nicht erfüllt.
Mobile Kommunikation ist mittlerweile kein Privileg von Wenigen mehr, sondern ein
günstiges und zudem leicht handhabbares Massen-Kommunikationsinstrument geworden.
Was hat sich geändert außer dem Preis? Prinzipiell ist man über ein Smartphone jederzeit
und überall erreichbar. Zudem haben sich die technischen Möglichkeiten der Smartphones
gegenüber den ersten Mobile Phones derart entwickelt, dass neben der Telefonie viele
weitere, digitale Anwendungen möglich sind: Messenger-Funktion, mobiler E-Mail-­
Verkehr, Adressbuch-Funktion, Kalenderfunktion, Streamen von Musik- oder sogar gro-
ßen Video-Dateien, Fotografieren … Dies führte dann auch zu einem dramatischen Um-
satzrückgang anderer Produkte oder deren kompletten Verschwinden wie z. B. Personal
Digital Assistant (das Produkt Palm), MP3-/ MP4-Player, Fotoapparate. Interessant sind in
diesem Kontext die Applikationen, die eine elektronisch vermittelte Kommunikation er-
lauben, die fast in Echtzeit erfolgt, zwei oder mehrere Mitglieder erlauben, das Erstellen
von offenen oder geschlossenen Gruppen beinhalten sowie den Austausch von Daten
(Fotos, Texte, Adressdaten, Videos …) ermöglichen: Social Media. Dank der techno-
logischen Entwicklung gibt es kein starres und hierarchisch gegliedertes Sender-Empfän-
ger-Modell, sondern jeder kann prinzipiell senden.

2.3 Suchmaschinen und soziale Massenmedien

Schauen wir uns exemplarisch Suchmaschinen, das „Tor“ zur digitalen Welt (z. B. Goo-
gle), und soziale Medien (z. B. Facebook) an (zur Definition vgl. Wikipedia, 2021). Es gibt
mehrere wichtige Spezifika, die bei beiden erwähnt werden müssen. Dazu gehört zum
einen die technisch mögliche Personalisierung und Kontextualisierung von Informatio-
nen, die Felix Stalder am Beispiel von Google darstellt. Durch ein permanentes Daten-
tracking der Nutzer wird Google in die Lage versetzt, für den Nutzer einen auf ihn spezia-
lisierten Suchalgorithmus einzusetzen, der die Historie der persönlichen Suchabfragen
kennt und dementsprechend eine (dem Nutzer nicht bekannte) Vorauswahl unter den
Suchergebnissen trifft. Zu den Folgen führt Stalder aus (2019, S. 189): „Für jede Person
wird eine andere Ordnung erstellt und nicht mehr nur ein Ausschnitt aus einer vorgängig
bestehenden Ordnung. Die Welt wird nicht mehr repräsentiert; sie wird für jeden User ei-
gens generiert und anschließend präsentiert.“ Und weiter heißt es bei ihm (2019, S. 194):
„… denn Suchmaschinen beschreiben die Welt nicht nur, sie bringen sie auch hervor.“ So
entstehen persönliche oder gruppenbezogene „Filterblasen“ oder „Echokammern“ (Hofs-
tetter, 2017, S. 25 ff.) statt geteilten Wahrheiten. Dass diese technisch aufwändige perso-
30 A. Weiand

nalisierte Suche primär ökonomisch motiviert ist, ist mittlerweile (fast) jedem klar, da sich
personalisierte Werbung im Internet besser verkaufen lässt als klassische Werbung mit
immens großen Streuverlusten. Diese Filterblasen begünstigen aber das Entstehen ab-
gekapselter Kommunikations-Gemeinschaften, die beispielsweise Verschwörungsideo-
logien einen guten Nährboden bieten.

cc „With your permission you give us more information about you, about your friends,
and we can improve the quality of our searches,“ he said. „We don’t need you to type
at all. We know where you are. We know where you’ve been. We can more or less
(k)now what you’re thinking about.“ Eric Schmidt, Google’s CEO in The Atlan-
tic (2010)

Problematisch wird dies, da Suchmaschinen und soziale Medien für viele Menschen
die klassischen Massenmedien abgelöst haben als erste Informationsquelle. Diese Infor-
mationen aber werden primär ausgefiltert über persönliche Informationsvorlieben und
über Relevanz, wobei Relevanz definiert wird als das, was oft geteilt und gelikt wird, und
der Wahrheitsgehalt von Informationen kein relevantes Filterkriterium ist. Zudem „funk-
tionieren“ soziale Medien über fortwährende Skandalisierung. Hofstetter führt aus (2017,
S. 34): „Mit den sozialen Medien des 21. Jahrhunderts findet nun ein grundlegender Um-
bau unserer Kommunikation statt. Zur Letztbegründung unserer Online-Kommunikation
wird nunmehr das Erregende, die virale Künstlichkeit, der Internet-Hype.“ Es funktionie-
ren die Aufregung und der Skandal, die die Aufmerksamkeit der Nutzer fesseln und sie im
System halten sollen – damit lukrative Werbeplätze verkauft werden kann. Und die Nutzer
selbst sorgen mit ihren Beiträgen in den sozialen Medien dafür, dass fortlaufend Skandale
entstehen. Hate speech, Hass-Rede und Hass-Beiträge, sowie Cyber-Mobbing sind ein
Dauerphänomen seit Etablierung der sozialen Medien und gehören in diesem Medium
ohne Filterfunktion und (scheinbar) ohne individuelle Rechenschaftspflicht dazu. Nassehi
formuliert dazu prägnant (2019, S. 279):

„Um es plakativ zu sagen: Frei flottierende Kommunikation im Netz kennt wenig Selektions-
druck, weil die Verheißung, dass jeder prinzipiell alles sagen kann, eben dazu führt, dass ge-
meinschaftsstabilisierende Formen der Selektion außer Kraft gesetzt werden. Wer sagen
kann, was er will, wird das auch tun – und wenn das geschieht, nehmen Kommunikationsver-
läufe eher polemogene als gemeinschaftsstiftende Wege. Wer das für eine Krisendiagnose
hält, hatte zuvor unrealistische, nachgerade naive Erwartungen.“

Suarez argumentiert ähnlich (2017, S. 158 f.):

„Bedenken wir aber: Der rationale Diskurs ist nicht der Zweck sozialer Medien. Dieser be-
steht vielmehr darin, Klicks zu generieren und zum Teilen anzuspornen … Sie sind dafür
gemacht, dass man immer wieder zu ihnen zurückkehrt, sich Beiträge ansieht und sie teilt.
Was diesem Zweck dienlich ist, wird gefördert.“
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 31

cc „Die Kommunikationstechnologie wird nämlich nicht nur eine technische, sondern


auch eine kulturelle Revolution bedeuten. Die virtuelle Welt wird nicht nur unseren
Umgang mit anderen Menschen verändern, sondern auch unsere Selbstwahr-
nehmung.“ (Schmidt & Cohen, 2013, S. 16)

In diesen Kontext gehört auch die vehemente Weigerung der Provider, Verantwortlich-
keit zu übernehmen für die über ihre Dienste geposteten Inhalte. Die Politik tut sich schwer
mit einer übernationalen Regelung (siehe netzpolitik.org, 2020 zum Netzwerkdurch-
setzungsgesetz); die Regelungen der Provider selbst sind undurchsichtig und für Externe
nicht transparent, was man am Fall der umstrittenen Sperrung des Facebook-Accounts des
ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump sehen kann, die aus Sicht vieler Beobachter zu
lange auf sich warten ließ. Die Entscheidungsgremien der Provider selbst sind nicht demo-
kratisch legitimiert. Sie stehen im doppelten Zwiespalt zwischen dem Grundrecht auf freie
Meinungsäußerung und ihren sogenannten Gemeinschaftsstandards sowie zwischen Auf-
merksamkeit und Reichweite, die durch skandalisierende Äußerungen erreicht werden,
einerseits und dem Wohlwollen der Zivilgesellschaft andererseits, die sie zwingt, Ver-
antwortlichkeit zu übernehmen (siehe netzpolitik.org, 2021). Wichtig erscheint an dieser
Stelle der Hinweis, dass dies konkrete Erscheinungsformen von sozialen Medien sind, die
technisch möglich sind, aber nicht aus technischen Gründen zwingend in dieser Form um-
gesetzt werden müssten. Möglich wären prinzipiell auch andere Erscheinungsformen von
sozialen Medien.

2.4 Neuartige Möglichkeiten zur Verhaltensbeeinflussung

Der Psychiater Manfred Spitzer war einer der ersten, der in seinem Bestseller „Digitale
Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ (2014) publikums-
wirksam aufmerksam machte auf negative Wirkungen der Nutzung u. a. von sozialen Me-
dien. Er zählt auf: gestörte Aufmerksamkeit, Desorientierung, schlechtere Noten bei Kin-
dern, Schlaflosigkeit, Depression, etc pp.
Einen anderen Aspekt neuer Medien beleuchten Richard H. Thaler und Cass R. Suns-
tein (2011) in ihrem Buch „Nudge“. Ihnen geht es um technische Möglichkeiten, das Ver-
halten von Nutzern zu beeinflussen, d. h. um intendiert verhaltensbeeinflussende Sozial-­
Techniken. Bei den Autoren lag der Schwerpunkt in der Kreation von sogenannten
Entscheidungsarchitekturen, die „kluge“ Entscheidungen von Bürgern zum Sozialver-
sicherungssystem, zum Gesundheitssystem oder zum Umweltschutz befördern sollten.
Allerdings benennen die Autoren selbst ihren verhaltensbeeinflussenden Ansatz als einen
„libertären Paternalismus“. Kann man Entscheidungen von Bürgen nun zu „klugen“ Ent-
scheidungen machen durch Manipulation (was immer von einem bestimmten Standpunkt
aus betrachtet auch „klug“ bedeuten mag), dann lassen sich ihre Entscheidungen auch
32 A. Weiand

anders beeinflussen. Hier bieten sich den Betreibern sozialer Medien ungleich größere
Beeinflussungs-Möglichkeiten aufgrund der Daten, die in großen Mengen und fortlaufend
von den Nutzern selbst kreiert werden. Diese können analysiert und auch gegen ihre Nut-
zer verwendet werden. Sarah Spiekermann spricht hier mit einer schönen ­Wortneuschöpfung
von einem Technologiepaternalismus (2019, S. 254). Erinnert sei in diesem Kontext nur an
den Skandal um das Datenanalyse-Unternehmen Cambridge Analytica, dessen Dienste im
US-Wahlkampf 2016 und bei der Brexit-Kampagne zur gezielten Beeinflussung von Wäh-
lern in Anspruch genommen wurden („targeted posts“).
Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Hoffmann-Riem,
warnt deshalb eindrücklich vor den Möglichkeiten einer präskriptiven Analytik, mit der
Strategien formuliert werden können, um unbemerkt Einstellungen und Verhalten zu
beeinflussen (2017, S. 125 f.). Auch Stalder weist unter dem Begriff „Der dunkle Schat-
ten der Kybernetik“ auf die Möglichkeiten zur Verhaltensbeeinflussung hin (Stalder,
2019, S. 225): „In den sozialen Massenmedien ist die Fähigkeit, die Umgebung zu ma-
nipulieren, höchst einseitig verteilt. Sie ist einzig und allein den Akteuren auf der Rück-
seite vorbehalten, und diese setzen sie dazu ein, den Profit einer kleiner Gruppe zu ma-
ximieren und deren Macht zu erweitern. Man könnte diese Gruppe als den inneren Kern
des postdemokratischen Systems bezeichnen, bestehend aus den Spitzen der Wirtschaft,
der Politik und der Geheimdienste. Die Nutzer erfahren diese Macht, die den Möglich-
keitsraum ihrer alltäglichen Handlungen festlegt, meist in ihrer weichen Form, etwa
wenn neue Features eingeführt werden, welche die Informationsumgebung verändern.“
Anders als in der Zeit vor den neuen Massenmedien ist diese Macht unsichtbar und wird
nicht verhandelt: „Die Ausübung von Macht, welche die Gesellschaft formt, stützt sich
immer weniger auf einen inhaltlichen Grundkonsens, auf kulturelle Hegemonie, son-
dern auf das technokratische Argument der Alternativlosigkeit und das der Optimierung
durch umfassende Kontrolle und Manipulation der (informationellen) Umwelt, in der
sich Menschen selbst zurechtfinden müssen, ob sie nun zustimmen oder nicht.“ (Stalder,
2019, S. 242 f.)
Amazon führte im Jahr 2015 seinen intelligenten Lautsprecher Echo mit dem sprach-
gesteuerten, internetbasierten intelligenten persönlichen Assistenten Alexa ein. Dieses Ge-
rät nimmt permanent alle Umgebungsgeräusche auf, reagiert auf Aktivierungswörter
(„Alexa“) und führt Befehle (z. B. Bestellungen bei Amazon) aus. Alle Sprachbotschaften
werden dauerhaft bei Amazon gespeichert, Drittanbieter speichern Sprachbotschaften un-
begrenzt lange. Was als technisches Gadget Einzug in die Wohnzimmer nahm, nimmt die
Gestalt eines neuen, unheimlichen Gastes in der eigenen Wohnung an, der alle Gespräche
mithört und speichert. Es ist klar, dass sich bei vielen reflektierenden Konsumenten dann
die Gesprächsthemen ändern werden  – oder Echo in den Wandschrank wandert. Cons-
tanze Kurz und Frank Rieger weisen auf die Konsequenzen hin (2017, S. 89): „Schließlich
kann man am Beispiel von unablässig die Umgebung aufnehmenden Computern – gleich,
ob es sich dabei um Fernseher, häusliche Assistenten oder Telefone handelt – ganz wunder-
bar über die Entwicklung sozialer Normen diskutieren. Denn diese verändern sich durch
den Einsatz von Technik unweigerlich.“
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 33

2.5 Die möglichen Folgen von sozialen Massenmedien auf


Menschen und ihre Identität

Der Begriff der Identität wird in den Sozialwissenschaften (Soziologie, Psychologie, Pä­
dagogik …) als einer der Kernbegriffe diskutiert, wenn auch jeweils mit anderen Akzentu-
ierungen. Unbestritten ist, dass persönliche Identität entsteht aufgrund vermittelnder Pro-
zesse zwischen Kultur, Gesellschaft und Individuen; Identität ist also jeweils sozial
konstituiert. Es bilden sich Verhaltensdispositionen und Selbstbilder heraus, die dem sich
selbst reflektierenden Individuum die Frage beantworten: „Wer bin ich?“ Durch die sozia-
len Massenmedien verändert sich der Prozess der Herausbildung von Identitäten wesent-
lich, dazu später mehr.
Jürgen Straub definiert Identität in einem Lehrbuch der Soziologie wie folgt (2018,
S.  175): „Identität bezeichnet den Zusammenhang, den jene höchst verschiedenen Ele-
mente und disparaten Momente, welche das Leben einer Person ausmachen, bilden kön-
nen. Dieser stets subjektiv erlebte und gedeutete Zusammenhang bildet eine Einheit oder
Gestalt, die mehr und anders ist als die bloße Summe ihrer Teile. Er ist im Übrigen niemals
einfach gegeben, sondern muss vom Subjekt aktiv gebildet und vergegenwärtigt werden,
etwa durch das Erzählen von Geschichten.“ Straub weist allerdings darauf hin, dass dies
eine westlich geprägte Definition ist und dass das Konzept der Identität je nach Kultur
anders interpretiert wird. Identitätsbildung geschieht in der realen Auseinandersetzung mit
anderen Personen, Gruppen, Institutionen und Gegenständen, denen das Individuum be-
gegnet. Mit dem Fortschreiten von (Transport- und Kommunikations-) Technik erweitert
sich der persönliche Bewegungsradius von Individuen, räumlich weiter entfernte Bezugs-
personen treten auf und traditionelle Bindungen zu Familie und zu unmittelbaren Bezugs-
personen am Wohnort nehmen an Bedeutung ab.
Mit den sozialen Massenmedien verändert sich dieser Prozess elementar: Die Bildung
von Identität geschieht öfters vermittelt über ein elektronisches Medium und orientiert an
sozialen Statusbeziehungen, die in sozialen Massenmedien kreiert werden. Dabei werden
persönliche Beziehungen „abstrakter“ und weniger reichhaltig an sinnlichen Erfahrungen
(sehen und hören und spüren …); es gibt vielleicht ein Mehr an Beziehungen und das In-
dividuum hat eine größere Auswahl, die Bindungen aber werden insgesamt „schwächer“
und unverbindlicher. Der Fokus von Identitätsarbeit verschiebt sich unmerklich von einer
Innen- zu einer Außengeleitetheit: „Der seelische Kreiselkompass innerer Gleichgewichts-
bildung wird durch das soziale Radargerät der Registrierung der Signale anderer ersetzt.“
(Bude zitiert bei Mau, 2018, S. 66) Stalder fasst zusammen (2019, S. 140): „Das Ziel be-
steht darin, die eigene, singuläre Identität zu etablieren. Der dazu notwendige Prozess ist
nicht mehr primär nach innen gewendet, er gipfelt nicht mehr in Fragen wie: „Wer bin ich
wirklich, frei von äußeren Einflüssen?“ Vielmehr richtet er sich nach außen. Er vollzieht
sich durch die Verbindung mit anderen und orientiert sich an Fragen wie: „Wer ist in mei-
nem Netzwerk, und was ist meine Position darin?““ Stalder fährt fort (2019, S. 143 f.):
„Einige empirisch arbeitende Soziologen haben dafür den Begriff des vernetzten
Individualismus (networked individualism) eingeführt. Sie stützen sich dabei auf die Be-
34 A. Weiand

obachtung, dass die Menschen in westlichen Gesellschaften (die Fallstudien sind zumeist
aus Nordamerika ) ihre Identität immer weniger über die Familie, den Arbeitsplatz oder
andere stabile Kollektive definieren, sondern zunehmend über ihre persönlichen sozialen
Netzwerke, also über die gemeinschaftlichen Formationen, in denen sie als Einzelne aktiv
sind und in denen sie als singuläre Personen wahrgenommen werden.“ In diesen sozialen
Netzwerken ist permanente Präsenz aber eine Voraussetzung, um als Individuum erkannt
und anerkannt zu werden. Das heißt, das Individuum muss sich dort permanent präsentie-
ren, wird aber gleichzeitig einer Bewertung durch andere unterzogen.
Ein Merkmal dieser sozialen Netzwerke ist der ständige Vergleich, der gezogen wird
zwischen den Teilnehmenden, messbar beispielsweise anhand der Anzahl an „Likes“ oder
positiven Kommentaren, an dem Feedback, das man erhält oder das man nicht erhält. Ist
die Teilnahme an sozialen Netzwerken zwar freiwillig, so entwickelt sich durch die Teil-
nahme ein Darstellungs-Druck. Die Entscheidung, ob etwas gelungen oder misslungen ist,
trifft dabei die „Gemeinschaft“ der anderen Teilnehmenden. Nicht-Bestätigung kann dann
zur Auflösung der eigenen, in diesen Netzwerken „kommunikativ-konstituierten sozialen
Existenz“ (Stalder, 2019, S. 139) führen. Stalder zitiert populäre „Tipps“, wie man den
eigenen Wert in sozialen Netzwerken steigern kann (2019, S. 140, vgl. Wikihow, 2021):
„Um zu bekommen, muss man geben. Nimm dir die Zeit, um ein Foto eines Freundes zu
kommentieren, oder um zu liken, was du siehst. Je öfter du das machst, desto eher werden
andere das erwidern. Wenn du nie die Bilder deiner follower anerkennst, dann wirst du im
Gegenzug auch nicht viel Anerkennung erhalten.“ Diese „Tipps“ entsprechen dann den
gängigen Praktiken zur „Suchmaschinenoptimierung“, bei denen Suchmaschinen dahin-
gehend beeinflusst werden sollen, einen bestimmten Inhalt als populär oder aktuell wahr-
zunehmen (vgl. Schmidt & Cohen, 2013, S. 63).
Teilnehmern wird in diesem Prozess Wert zugeschrieben, dessen Maßstab die Anzahl
an Likes oder Followern ist. Schwierig wird es für Individuen, wenn ihre Selbst-
konstituierung und ihr Selbstwert einzig von virtuellen Referenzgruppen abhängt.

cc „Valuation … bezeichnet jede soziale Praktik, „bei der Wert oder Werte von etwas
etabliert, eingeordnet, verhandelt, provoziert, erhalten, konstruiert und/oder heraus-
gefordert werden“. Wenn Wert nicht als gegeben, sondern als sozial hergestellt an-
gesehen wird, lautet eine Grundprämisse der Analyse solcher gesellschaftlichen
Vorgänge immer: Es hätte auch anders sein können!“ (Mau, 2018, S. 16)

Steffen Mau weist in seinem eindrucksvollen Buch „Das metrische Wir“ auf die Quanti-
fizierung des Sozialen und Vergleichsprozesse hin (2018, S. 49): „Zwar mag der Vergleich
eine anthropologische Konstante und dem Sozialen immanent sein – schon Kinder ver-
gleichen sich in vielerlei Hinsicht-, aber es gibt historisch und kulturell eine enorme Va-
rianz der Intensität und auch der Praktiken des Vergleichs.“ Mau zitiert einige Gesetz-
mäßigkeiten zu sozialen Vergleichen, denen wir auch in den sozialen Netzwerken
unterworfen sind (2018, S. 54 ff.):
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 35

• „Von der Referenzgruppentheorie wissen wir, dass das Empfinden von Status eng damit
verknüpft ist, was andere innerhalb der relevanten Referenzgruppe haben, können oder
darstellen …: Je besser man bei diesen sozialen Vergleichen abschneidet, desto positi-
ver ist auch das Selbstwert- bzw. Statusgefühl und desto grösser ist in der Regel die
Zufriedenheit …
• Wir tendieren allerdings eher zu Aufwärts- als zu Abwärtsvergleichen … Studien zei-
gen weiterhin, dass Aufwärtsvergleiche eher mit Einbußen an Wohlbefinden einher-
gehen, während Abwärtsvergleiche tendenziell eine positive Wirkung auf das Selbst-
wertgefühl haben …
• Zugleich zeigt die Forschung, dass das unentwegte Vergleichen unserem Streben nach
Zufriedenheit im Wege stehen kann: Je wichtiger Menschen den Sozialvergleich neh-
men, desto weniger glücklich sind sie …
• Wir können an dieser Stelle einen weiteren Befund der Theorie sozialer Vergleichs-
prozesse hinzuziehen. Er besagt, dass die Vergleichsneigung desto größer ausfällt, je
unsicherer eine Person in der eigenen sozialen Position und der damit verbundenen
Selbstwahrnehmung ist.“

Eine gänzlich andere Auffassung von Identität präsentiert Eric Schmidt, erst CEO, dann
Executive Chairman von Google Inc., dann Executive Chairman der Muttergesellschaft
Alphabet Inc. Er versteht unter Identität nicht mehr das von einem Individuum in realen
sozialen Prozessen gewonnene Selbst, sondern primär eine Online-Identität. Diese lässt
sich mit einigen Mausklicks generieren und muss dann ungeachtet der körperlichen, geis-
tigen und seelischen Voraussetzungen des Individuums nur noch virtuell behauptet werden.

„In zehn Jahren wird die Erde mehr virtuelle als physische Bewohner haben. Fast alle Men-
schen werden über mehrere Online-Identitäten verfügen und sich zu lebendigen aktiven Ge-
meinschaften mit ihren gemeinsamen Interessen zusammenschließen, die unsere Welt ab-
bilden und bereichern.“
„Wir stehen vor einem Wandel von einer Identität, die in der physischen Welt entsteht und
in die virtuelle Welt projiziert wird, hinzu einer Identität, die in der virtuellen Welt geschaffen
und in der physischen Welt erlebt wird. Dies hat erhebliche Auswirkungen für Bürger, Staaten
und Unternehmen, die sich in der neuen digitalen Welt bewegen.“
„Die Identität wird in Zukunft das wertvollste Gut der Bürger sein, und sie wird vor allem
in virtuellen Medien existieren. Die Online-Erfahrung wird mit der Geburt beginnen, oder
vielleicht sogar schon früher.“ (Schmidt & Cohen, 2013, S. 55, 57, 60)

Es ist offen, welche Definition von „Identität“ in Zukunft die bestimmende sein wird. Im
Gegensatz zur radikal-verkürzten Auffassung von Schmidt & Cohen hat der deutsche
Soziologe Hartmut Rosa das Konzept der Resonanz wieder einem breiten Publikum be-
kannt gemacht (2018). Er unterscheidet Resonanzbeziehungen des Menschen zu anderen
Menschen, Resonanzbeziehungen zur Dingwelt und Resonanzbeziehungen zur Welt als
eine über das Individuum selbst hinausgehende Erfahrung. Resonanz ist für ihn ein Be-
ziehungsmodus. Altmeyer führt aus zur Bedeutung von Resonanz (2016, S. 193): „Wer
36 A. Weiand

­Resonanz erhält, hat einen Beweis dafür, dass er sozial überhaupt vorhanden und von Be-
deutung ist. Resonanzbeziehungen sind deshalb lebens- und überlebensnotwendig. Ohne
Antworten des anderen beginnt das Selbst an der eigenen Existenz zu zweifeln. Ohne
Spiegelung und Echo aus der Umwelt fühlen wir uns verlassen und verloren.“ Rosa führt
in einem schönen Beispiel aus, welchen Einfluss Technik (in diesem Fall Smartphones)
auf uns und unsere Welt-Wahrnehmung haben. Ein längeres Zitat erscheint hierzu gerecht-
fertigt (Rosa, 2018, S. 716):

„Das dialektische Verhältnis zwischen Reichweitenvergrößerung und Weltverlust wird in der


Technik und Funktionsweise des Smartphones wie in einem Brennglas gebündelt: Der Bild-
schirm vermag uns viel genauer darüber zu informieren, wo wir gerade sind, wie das Wetter
(Temperatur, Luftdruck, Luftfeuchtigkeit, Sichtweite usw.) dort ist, wie die Welt um uns
herum geschaffen ist, aber auch was wir gestern getan haben oder morgen tun werden
(Terminkalender), ob wir müde sind und genug Bewegung hatten, was wir mögen und nicht
mögen, wer unsere Freunde sind und schließlich: wer wir sind, als wir dies von uns selbst aus
könnten. Doch trotz dieser ungeheuren Vergrößerung, Verfeinerung und Vertiefung des von
uns erreichbaren, kontrollierbaren und verstehbaren Weltausschnitts drohen wir just jene
Weltzugänge als Resonanz- und Antwortsphären zu verlieren, die wir auf diese technische
Weise erschließen. Natürlich muss sich das Smartphone nicht auf diese Weise zwischen uns
und die Welt stellen, eine solche Wirkung ist ihm keineswegs inhärent – aber es birgt ein be-
trächtliches Potential, dies unter den Bedingungen einer entfesselten Wettbewerbsgesell-
schaft mit ihren Steigerungsimperativen zu tun. Sich nicht mehr fühlen, nicht mehr spüren,
nicht mehr hören zu können, ist zum zentralen Symptom dieses Verlustes geworden, den
weder Berührungsindustrien noch Schmerztherapien ausgleichen können.“

cc „Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan … hat in den sechziger Jahren be-
merkt, dass jede technische Revolution paradoxerweise auch eine Selbst-­Amputation
des Menschen ist.“ (Schirrmacher, 2009, S. 77 f.)

2.6 Arbeit in der digitalen Ökonomie

Wie sieht das Arbeiten in der digitalen Ökonomie aus und welche Jobs bilden sich heraus?
Für die postindustrielle Ökonomie haben die Arbeitssoziologen Maarten Goos und Alan
Manning (2003) die oft zitierte Unterteilung von Jobs in „lovely jobs“ und „lousy jobs“
geschaffen. Zu den lovely jobs gehören anspruchsvolle Tätigkeiten in Forschung und Ent-
wicklung, in Marketing und Beratung, in Bildung und der Medizin. Alle Jobs sind interes-
sante Tätigkeiten mit hohen benötigten Qualifikationen; diese Jobs werden dauerhaft
nachgefragt und sind dementsprechend mit einem hohen Entgelt und hohem Sozialprestige
versehen. Dem gegenüber steht die wachsende Anzahl an lousy jobs vor allem im Dienst-
leistungssektor: schlecht bezahlt, körperliche Routineaufgaben bei geringer Qualifikation,
oft auf Abruf, oft jenseits eines sicheren Normalarbeitsverhältnisses.
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 37

Die Arbeit in der digitalen Ökonomie verteilt sich ebenfalls neu. So gibt es neue, hoch
bezahlte und deshalb attraktive Berufe wie den des Influencers, der im Grunde nichts an-
deres als Lebensberatung und Produktwerbung für eine scheinbar orientierungslose und
gelangweilte Zielgruppe anbietet (vgl. etwa Nymoen & Schmitt, 2021). Auf der anderen
Seite gibt es die lousy jobs, die über Job-Plattformen vermittelt werden. Diese Job-­
Plattformen sind aktiv beispielsweise bei Personenbeförderung, Essens- und Paket-
zustellung sowie Unterkunftsvermittlung. Sie bieten über ihre Website/ihre App Aufträge
an, die dann von Selbständigen übernommen werden. Bezahlt wird jeweils der Plattform-
betreiber, der dann einen Anteil an die Selbständigen weitergibt. Diese verfügen nicht über
einen Arbeitsvertrag mit der Jobplattform und damit über keine Vergünstigungen eines
Normalarbeitsverhältnisses wie etwa feste Arbeitszeiten, Sozialversicherung, Urlaub …
Diese Lösung der traditionellen Bindung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und
das Schwinden des klassischen Normalarbeitsverhältnisses hat nach Colin Crouch wesent-
liche Konsequenzen für unsere Gesellschaft, die im Umbruch ist. Die anstehenden Heraus-
forderungen wie eine noch stärkere Digitalisierung der Wirtschaft, die Umverteilung von
Arbeit und Einkommen, die Rettung der Sozialsysteme, die Bewältigung von Corona und
die noch wichtigere Bewältigung der Klimakatastrophe erfordern das Mitwirken aller und
ihr Engagement. Wie Crouch angesichts fragiler Beschäftigungsverhältnisse in der
„Gig-Wirtschaft“ aber anmerkt, sieht es mit den Voraussetzungen für dieses Engagement
aller schlecht aus (2019, S. 18): „Wie der Ökonom und Sozialreformer William Bever-
idge … anmerkte: Man kann von den Menschen nur dann erwarten, einen gesellschaft-
lichen Wandel zu begrüßen und an ihm mitzuarbeiten, wenn sie über ein hinreichendes
Maß grundlegender Sicherheit verfügen.“

cc „Was früher das Fließband war, sind heute die Apps und Algorithmen.“ (Nachtwey
& Staab, 2015, S. 76)

Das Arbeiten in der digitalen Ökonomie ist aber darüber hinaus gekennzeichnet durch
neue Möglichkeiten der Überwachung, die vor allem die lousy jobs trifft. People-­Analytics-­
Instrumente ermöglichen gerade dort eine digitale, permanente Überwachung (Staab
spricht von einem „algorithmischen Management“ (2020, S.  233))  – mit den ent-
sprechenden Konsequenzen im Hinblick etwa auf variable Entgeltbestandteile, Be-
förderungen, Personalentwicklung, den Verbleib im Unternehmen oder im Falle von platt-
formvermittelten Jobs die Möglichkeit, neue Aufträge zu erhalten (vgl. Staab, 2020,
S.  226  ff.). Dieser permanent arbeitenden Kontrollmaschinerie eignet eine einseitige
Transparenz, bei der nur die Betreiber wissen, welche Daten erhoben und verwertet wer-
den. Im Fall des Online-­Modehändlers Zalando zwang letztendlich die Berliner Daten-
schutzbehörde das Unternehmen zu weitreichenden Änderungen an ihrer Software
„Zonar“ zur Überwachung ihrer Mitarbeiter (vgl. Hagelüken & Kläsgen, 2021). Bei Zonar
beurteilten Vorgesetzte und Kollegen umfassend Stärken und Schwächen von 5000 An-
gestellten, was sich auf Gehalt und Jobsicherheit auswirkte. Es gab eine Punkteskala, in
der Mitarbeiter zu Negativ-­Bewertungen ihrer Kolleginnen und Kollegen verpflichtet
38 A. Weiand

waren, wenn sie auch positive Aspekte nannten. Philipp Staab & Sascha-Oliver Geschke
weisen auf drei exemplarische Konfliktfelder bei derartigen Rating- und Scoringtechnolo-
gien in der Arbeitswelt hin (2020, S. 57 f.):

• „Sofern solche Rating- und Scoringsysteme auf der Erhebung horizontaler Bewertungs-
daten basieren, sind Fragen der Legitimität von Kontrolle durch die permanente
wechselseitige Beobachtung der Beschäftigten wahrscheinlich, wie sich am Beispiel
von Zonar zeigen lässt.
• Wenn die in solchen Systemen erhobenen Daten algorithmisch verarbeitet werden,
ohne dass die Beschäftigten die zugrundeliegende Logik der jeweiligen Algorithmen
kennen, sind Konflikte um die Intransparenz der Bewertungsmaßstäbe und -prozedu-
ren ebenso wahrscheinlich.
• Solange der Extraktivismus personenbezogener Daten und deren Verarbeitung in
Blackbox-Algorithmen den Kern solcher Systeme bilden, werden sich wahrscheinlich
regelmäßig Fragen des Datenschutzes stellen. Gerade für Betriebsräte und Gewerk-
schaften ist dabei relevant zu wissen, dass datenschutzrechtliche Vergehen auf spezi-
fische Weise bearbeitet werden können, die von der gängigen Gewerkschaftspraxis ab-
weicht. Datenschutzbeauftragte sind im Falle von Problemanzeigen einzelner Personen
an Prüffristen gebunden, die zumindest theoretisch ein relativ schnelles Agieren gegen
eventuelle Rechtsbrüche möglich machen  – ohne dass dafür ein spezifischer
Organisationsgrad von Belegschaften oder ein konfliktbereiter Betriebsrat vonnöten
sind. Zudem sind die mit der DSGVO verbundenen Bußgeldkataloge womöglich ein
probates Mittel um Beschäftigtenmacht zu stärken.“

Unter dem Stichwort der „Paradoxien der Rationalisierung und Lohnrepression“ fällt ihr
Fazit zu Zonar selbst aus der Perspektive des Unternehmens negativ aus (Staab &
Geschke, 2020, S. 58 f.): „Zweitens legen unsere Befunde deutliche Zweifel nahe hin-
sichtlich der betriebswirtschaftlichen Funktionalität von Zonar als Instrument betrieb-
licher Kontrolle. Das System ist mit hohem Aufwand verbunden und erzeugt zahlreiche
nicht intendierte Effekte wie eine Verschlechterung des Betriebsklimas, Stress und
psychologische Belastungen auf Seiten der Beschäftigten, Bummelstreiks und andere
Praktiken des verdeckten Widerstandes sowie das willentliche Ausscheiden einzelner
Arbeitnehmer_innen aus dem Unternehmen. All dies sind letztlich Faktoren, die der
Produktivität der Mitarbeiter_innen schaden  – ganz zu schweigen von dem Umstand,
dass Zonar einen nicht zu vernachlässigenden Teil ihrer Arbeitszeit verschlingt und sich
dagegen die daraus resultierenden Erträge des Systems, im Sinne von Effizienzgewinnen,
kaum messen lassen.“
Diese neuen Arbeitsformen für viele kontrastieren merkwürdig mit den positiven Er-
zählungen über Empowerment, Talentschmieden und Förderung des persönlichen Wachs-
tums, die etwa Google selbst von der neuen Arbeits- und Lebenswelt bei Google präsen-
tiert (vgl. Bock, 2016, Senior Vice President People Operations von Google, Inc.).
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 39

2.7 Führen in der Digitalisierung

Führung kann man mit Kühlmann wie folgt definieren (2008, S. 22): „Führung ist jeder
beabsichtigte Versuch einer Person, durch ihr Handeln das Handeln anderer Mitglieder
eines Unternehmens derart zu beeinflussen, dass die gesetzten Unternehmensziele erreicht
werden.“ „Digitales Führen“ ist kein gebräuchlicher Begriff, eine bessere Formulierung
wäre stattdessen: Führen von Mitarbeitenden in einer digitalisierten Wirtschaft/Gesell-
schaft. Bei dieser Art von Führen kulminieren aus meiner Sicht vier Entwicklungslinien.
Zum einen durch neue elektronische Massenmedien veränderte Verhaltensweisen
von Menschen, die als Mitarbeitende diese Verhaltensweisen auch in die Unternehmen
mitbringen. Neben den weiter oben gezeigten Auswirkungen weist Rudolf Wimmer noch
auf eine direkte Auswirkung neuer Medien hin (2017, S. 200): „Die neuen Medien be-
sitzen organisationsintern eine erhebliche Sprengkraft. Sie überwinden räumliche und
zeitliche Begrenzungen – eine wesentliche Voraussetzung für die sich beschleunigen­
den Internationalisierungsprozesse. Sie ermöglichen ganz neue Vernetzungsformen,
organisationsintern wie auch im Verhältnis zu externen Partnern. Sie stellen damit die
hierarchiestützenden, äußerst selektiven Kontaktformen der klassischen Berichtswege
total auf den Kopf. Letztlich machen sie Problemlösungswissen potenziell für jedermann
zugänglich, ein Umstand, der neue Beteiligungserwartungen an die Generierung und
Pflege dieses Wissens erzeugt und gleichzeitig neue Regelungen für die Nutzung dieses
Wissens erzwingt.“ Das heißt Kommunikation und Kommunikationswege müssen neu
­gedacht werden. Auch Corporate Blogs als neue Form der Außenkommunikation sind von
Unternehmen selbst schwer zu kontrollieren.
Dann ermöglichen  – rein instrumentell gesehen  – digitale Kommunikations- und
Arbeits-­Techniken ein anderes, räumliche und zeitliche Distanzen überbrückendes Füh-
ren. Das Führen virtueller Teams, d.  h. von auf mehrere Standorte verteilten Mit-
arbeiter/-innen, durch digitale Kommunikations- und Moderationstechniken wird immer
einfacher. Immer mehr Arbeitsplätze können technisch gesehen leicht von einem physisch
im Unternehmen angesiedelten Arbeitsplatz verlagert werden hin an einen anderen Stand-
ort oder in ein Homeoffice; es entstehen dabei nur geringe Kosten für die benötigte IT;
eine Echtzeit-Kommunikation ist möglich. Es gibt zudem eine ausreichende Verfügbarkeit
von erprobten und sicheren elektronischen Kommunikations- und Kooperations-Tools.
Damit können entweder einzelne Arbeitsplätze oder alle Arbeitsplätze eines Teams räum-
lich ausgelagert werden oder bereits räumlich verteilte Arbeitsplätze können leicht zu
einem Arbeitsteam zusammengefasst werden. Sind die technischen Herausforderungen
eher leicht zu bearbeiten, so stellt sich die Frage, welche Auswirkungen eine rein virtuell
wahrgenommene Führung hat auf das Verhältnis zwischen Führungskraft und Mit-
arbeitenden.
Homeoffice als Verlagerung des Arbeitsplatzes vom Unternehmen in die Wohnung des
Arbeitnehmers betrifft dabei nur traditionelle Büroarbeitsplätze, so dass es eine Spaltung
der Arbeitnehmer/-innen geben wird in diejenigen mit Chancen auf Homeoffice und
40 A. Weiand

­diejenigen, die weiterhin vor Ort Produktions- oder Servicetätigkeiten durchführen müs-
sen. Durch die Corona-Krise ausgelöst, hat Homeoffice einen großen Schub erhalten.
Backhaus et al. (2021, S. 18) bieten einen instruktiven Beitrag unter anderem zu „Chancen
und Risiken der Arbeit von zu Hause  – aus der Sicht von Beschäftigten und von Be-
trieben“.
Zwei weitere Entwicklungslinien können hier nur kurz angesprochen, aber nicht ver-
tieft dargestellt werden. Digitalisierung bedeutet zudem, dass von Unternehmen Schnellig-
keit gefordert wird, in Produktentwicklung wie in Produkterstellung oder -lieferung. Zu-
erst wurden bei der Software-Entwicklung agile Methoden wie z. B. Scrum erprobt, die
mittlerweile aber im gesamten Unternehmen und in allen Funktionsbereichen eingesetzt
werden. Viele Autoren (z. B. Boos & Buzanich-Pöltl, 2020) weisen allerdings nachdrück-
lich auf veränderte organisationale Rahmenbedingungen hin (z. B. ein agiles Führungs-
verständnis oder agile Organisationsstrukturen), die zur Umsetzung agiler Methoden ge-
schaffen werden müssen – agiles Arbeiten mit neuen Methoden wird in einem ansonsten
gleich gebliebenen organisationalen Umfeld nicht funktionieren.
Hinzu kommt noch das Notwendigkeit einer organisationalen Ambidextrie („Beid-
händigkeit“), die durch die Digitalisierung immer wichtiger wird. Ambidextrie soll helfen,
disruptive Herausforderungen erfolgreich zu gestalten. Ambidextrie beschreibt die Fähig-
keit einer Organisation, gleichzeitig einander widersprechende Zielsetzungen zu ver-
folgen, die unterschiedliche Vorgehensweisen und Zeithorizonte erfordern: Exploitation
(Ausnutzung von Bestehendem) in Bezug auf das angestammte Kerngeschäft sowie Ex-
ploration (Erkundung von Neuem) als geschäftliche Neuentwicklung (vgl. Schumacher &
Wimmer, 2020).
Schauen wir uns das Themenfeld des Führens von virtuellen Arbeitsteams genauer an.
Sandra Müller definiert virtuelle Teams wie folgt (2017, S. 1): „Ein virtuelles Team ist
eine räumlich verteilte Arbeitsgruppe. Diese Organisationsform ermöglicht die Zu-
sammenarbeit über geografische, zeitliche und auch organisationale Grenzen hinweg. Die
Arbeitsgruppe arbeitet auf der Grundlage von Arbeitsaufträgen zusammen und erbringt
gemeinsame Ergebnisse. Die Kommunikation und Kooperation in den virtuellen Teams
erfolgt im Schwerpunkt durch die Nutzung von Informations- und Kommunikations-
techniken wie z. B. E-Mail, Telefon, Fax, Videokonferenz, Chats oder spezieller Software
für Arbeitsgruppen. Auf Face-to-Face-Kommunikation wird meistens verzichtet bzw. sie
ist aufgrund der räumlichen Entfernung nur selten durchführbar.“
Die Ermöglichung von Kommunikation und Kooperation über räumliche Grenzen hin-
weg erfolgt über IK-Techniken. Kai Matthiesen & Jonas Spengler konstatieren richtig,
dass nicht alle Medien die gleiche Bandbreite an Zeichen bieten wie eine Face-to-Face-­
Kommunikation, wie in Tab. 2.1 sichtbar (2020, S. 32).
Allerdings stellen die Autoren auch fest, dass nicht für alle Arten von Kommunikation
und Problemlösung die gesamte Bandbreite an Zeichen vonnöten ist. Es könnte auch un-
nötige Komplexität reduziert werden durch die passende Wahl an Medien und damit an
Interaktion (Matthiesen & Spengler, 2020, S. 35):
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 41

Tab. 2.1  Vergleich der Zeichenbandbreiten unterschiedlicher Medien

„Vergleich der Zeichenbandbreiten unterschiedlicher Medien (wahrnehmbar in grau unterlegt)


*
Bei Videoübertragung ist die Wahrnehmung von Gestik und Körperhaltung begrenzt, da i. d. R. nur
ein Ausschnitt des Gegenübers zu sehen ist.
**
Bild Streaming bezieht sich auf die Übertragung des Bildschirminhaltes auf die Monitore aller
Teilnehmenden. Somit ist wahrnehmbar, worauf sich die Sprechenden beziehen.“

„Digitale Kommunikation ist kein Segen – sie ist aber auch kein Fluch. Durch den Wechsel
von analog zu digital verändert sich der Verständigungsprozess. Einerseits können digitale
Medien nur eine reduzierte Bandbreite an Zeichen „durchfiltern“. Dies erschwert die Ver-
ständigung in komplexen Interaktionen. Andererseits lässt sich im digitalen Raum bestimmen,
welche Signale wahrgenommen werden sollen. Daraus ergibt sich ein erhöhter Grad an Kon-
trolle für Interaktionsplaner*innen. Es gilt also, die Komplexitätslimitierungen des digitalen
Raumes zu erkennen und durch informierte Wahl des Mediums, die passende Zeichenband-
breite festzulegen.“

Ursula Bohn geht einen Schritt weiter, wenn sie elektronische Tools vorstellt, die im
Change Management eingesetzt werden können. Dabei unterscheidet sie vier sogenannte
Fokusfelder, bei denen Change elektronisch unterstützt werden kann (2020, S. 10 f.):

• Analysieren, messen und prognostizieren: Einstellungen und Haltungen können elek­


tronisch schnell und ohne großen Zeit- und Kostenaufwand erfragt werden; zudem
können andere Parameter (wie z. B. Klickraten bei bestimmten Artikeln auf der Web-
site) zur Entscheidungsfindung hinzugezogen werden. Hier sieht die Autorin das größte
Potenzial für den Einsatz digitaler Tools.
• Kommunikation und Vernetzung: Die Interaktion mit vielen Beteiligten wird einfacher
und schneller (aber ohne den Impact einer Face-to-face-Kommunikation); diese Inter-
aktion kann orts- und zeitunabhängig geschehen; sie kann sowohl hierarchie- und
­bereichsübergreifend gestaltet werden als auch für geschlossene Gruppen gestaltet
werden; sie kann synchron oder asynchron erfolgen.
42 A. Weiand

• Co-Design und Beteiligung, d. h. Beteiligung von vielen Betroffenen am Wandel bei-
spielsweise über digitale Whiteboards, auf denen trotz räumlicher Trennung gemeinsam
und zeitgleich Themen bearbeitet werden können.
• Wissensaustausch und Befähigung: Digitale Lernmanagementsysteme und Wissens-
plattformen befördern ein selbstgesteuertes und bedarfsorientiertes Lernen.

Ihr Fazit zu digitalen Medien im Change Management lautet (2020, S. 12):

„Zunächst ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Arbeit im Change Management
grundsätzlich technologieagnostisch ist. Die Frage ist nicht, wie Change Management digita-
lisiert werden kann, sondern wie damit die Ziele am besten erreicht werden können. Tools
sind immer nur ein Hilfsmittel, um Verständigung, Diskurs, Beteiligung und Erkenntnis zu
schaffen. Erst wenn die Frage nach dem „Warum“ der Veränderung und das Ziel geklärt sind,
hat es Sinn, nach den bestmöglichen Mitteln zu suchen, um dieses Ziel zu erreichen … An
den Grundprinzipien von Change Management wird sich auch durch die voranschreitenden
Digitalisierung in den nächsten Jahren nichts substanziell ändern. Im Mittelpunkt ist und
bleibt der Mensch mit seinen Bedürfnissen. Allerdings bietet Digitalisierung die Chance, die
Art wie wir Change Management betreiben, weiter zu entwickeln und neu zu gestalten.“

Man könnte fortfahren: Und in einer digitalisierten Welt muss sich Change Management
auch weiterentwickeln, um anschlussfähig zu bleiben an veränderte Kommunikations-
verhalten.
Virtueller Kontakt ist aber allemal unverbindlicher als ein direkter persönlicher Kontakt.
Die zunehmende Vereinzelung von Mitarbeitenden im digitalen Homeoffice kann zu Ver-
einsamung und einer Zunahme von Leistungsdruck führen. Außerdem fehlt die unmittelbar
wahrnehmbare Unterstützung durch die Arbeitsgruppe. Von daher stellt sich die Frage nach
den spezifischen Aufgaben von Führung in der Digitalisierung. Michael Groß postuliert
hier erstaunlicher Weise die Wiederkehr alter Führungsaufgaben statt des Hochlebens von
digitalen Tools und von Software-Kenntnissen (2019, S. 17): „Je weiter die Digitalisierung
von Angeboten und Abläufen voranschreitet, auch in der Zusammenarbeit von Teams,
desto wichtiger werden analoge Fähigkeiten, um als Digital Leader erfolgreich zu sein. Das
Menschsein, schon immer Teil guter Führung, wird zum entscheidenden Merkmal.
Authentizität der eigenen Person prägt jeden Digital Leader.“ Deshalb gehören klassische
Führungsaufgaben wie etwa Vorbild-Funktion oder passgenaue Kommunikation zu einem
Digital Leader ebenso wie Selbstreflexion und ein kybernetisches Steuerungsverständnis,
das Wechselwirkungen einbeziehen kann (vgl. Wimmer, 2017, S. 200 ff.).

2.8 Gegen-Strategien

Der Psychologe Rüdiger Maas stellt in seinem Buch „Cyberpsychologie in der Arbeits-
welt“ (Maas, 2021) die Auswirkungen von Internetkonsum auf Menschen dar – und die
daraus resultierenden Probleme für Unternehmen. Er nennt exemplarisch Internetsucht
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 43

aus der Angst heraus, etwas zu verpassen; ein laxer Umgang mit persönlichen Daten;
scheinbares Multitasking mit Qualitätsverlusten bei der Aufgabenausführung; unhinter-
fragtes Vertrauen in digitale Bewertungssysteme; Bilden von „Meinungsblasen“ ohne
Rückkoppelung zu anderen Informationsquellen; Anspruch auf eine schnelle Bedürfnis-
befriedigung. Er berichtet, dass Internetsucht offiziell als Krankheit in die internationale
statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD)
aufgenommen werden soll (Schritt, 2021, S. 66).
Es gibt viele Empfehlungen, wie man einer Internet-Sucht, einer WhatsApp- oder einer
Instagram-Abhängigkeit begegnen oder entgehen kann. Oft findet aber eine Individuali-
sierung von Gegenmaßnahmen mit vielen guten Ratschlägen zur Selbstbeschränkung
beim digitalen Konsum statt (vgl. exemplarisch Grzanna, 2021, S. 13). Diese Individuali-
sierung ist unzulässig, da es doch gerade das Ziel der mächtigen Internet-Industrie ist, vor
allem jungen Konsumenten z. B. über Gamification so lange wie möglich am Bildschirm
von Laptop oder PC oder am Smartphone zu halten. Das wäre in etwa so, als wenn man
Kindern im Alter von vier bis sechs Jahren sagen würde, dass sie beim Warten mit den
Eltern an der Kasse im Supermarkt mehr Willensstärke aufbringen sollten angesichts der
vielen verlockenden Impulsware (Süßigkeiten, Spielzeug), die dort von den Handelsunter-
nehmen strategisch platziert wird.
Eine Steigerung individueller Gegenmaßnahmen ist ein radikaler Internet-„Aus-
stieg“, wie ihn etwa Rolf Dobelli, 2019 oder Guido Zurstiege, 2019 vorstellen. Beide
Autoren erklären, dass man beim Ausstieg beispielsweise aus digitalen Netzwerken
wenig an wichtigen „News“ oder „Kontakten“ verpasst, sondern sich im Gegenteil bes-
ser um die wichtigen Dinge des Lebens kümmern kann: Familie, Freundschaften, Er-
weiterung des eigenen Wissens-Horizontes. Dobelli empfiehlt speziell mit Blick auf
Print- wie elektronische Zeitungen und Zeitschriften, auf Push-Nachrichten oder auf
RSS-Feeds (2019, S. 22): „Ich kann Ihnen den News-Verzicht mit gutem Gewissen ans
Herz legen. Sie werden bessere Entscheidungen treffen. Sie werden ein besseres Leben
haben. Und glauben Sie mir: Sie werden nichts Wichtiges verpassen.“ Und dann listet er
nachvollziehbar Argument nach Argument aus der Psychologie auf, warum News und
ihr Konsum prinzipiell schlecht sind.
Sind individuelle Widerstandskraft und bewusstes Konsumieren wichtig, so sollten
trotzdem Hersteller und Anbieter mehr in die Pflicht genommen werden von den Gesetz-
gebern. Was aber wäre ein Maßstab? Die Maßstäbe der Hersteller sind eindeutig und im
Endeffekt renditeorientiert: viele Kunden, lange Nutzungsdauer, hohe Anzahl an ver-
kaufter Werbung, hoher Umsatz, hoher Gewinn. Was wären wichtige Gegenpositionen,
wenn es um digitale Produkte und Dienstleistungen geht? Eine Gegenposition zu einem
rein effizienz- und renditeorientierten Wirtschaften nimmt beispielsweise Sarah Spieker-
mann ein. Sie beschreibt in ihrem Buch „Digitale Ethik“, wie sie bei ihren studentischen
Programmierern über drei Fragenkomplexe einen Reflexionsprozess über die rein techni-
sche Umsetzung und über die Funktionalität der Codes hinaus anstößt (Spiekermann,
2019, S. 33):
44 A. Weiand

• „Wie wirkt sich die Technik, die ihr euch in eurer ersten Hausübung ausgedacht habt,
langfristig auf den Charakter der betroffenen Stakeholder, beispielsweise also der Ku-
riere und der Kunden, aus?
• Welche menschlichen, sozialen, ökonomischem oder sonstigen Werte sind im Positiven
wie im Negativen durch den neuen Dienst tangiert? Überwiegen Vor- oder Nachteile?
• Welche persönlichen Maximen oder Wertprioritäten seht ihr durch den Service be-
troffen, die ihr aus eurer Sicht für so wichtig haltet, dass ihr sie gerne in unserer Gesell-
schaft bewahren möchtet?“

Spiekermann führt aus, dass es ihr bei der ersten Frage um Entwicklung und Bewusst-
werdung von Tugenden als wünschenswerten sittlichen Eigenschaften von Menschen
geht. Tugenden würden benötigt, um zufrieden in einer Gemeinschaft zu leben. Ihre zweite
Frage ist utilitaristisch ausgerichtet und fragt nach dem Nutzen einer technischen Lösung,
Vor- und Nachteile werden hier gegeneinander abgewogen. Bei der dritten Frage dreht es
sich ethischen Maximen, die universal gelten sollten und an denen man sich orientieren
sollte. Es geht ihr letztendlich um Werte in einer „digitalen Ethik“ (Spiekermann, 2020,
S. 53): „Bei Ethik geht es also um eine Form des Lebens und Wirtschaftens, die Menschen
als Haltung durchgängig begleitet, und zwar eine Form und Haltung, die die Gemein-
schaft, das Sozialsystem und die Stabilität der Gruppe ebenso im Auge hat wie die Inte­
ressen des Einzelnen. Kapitalgeber sind dabei auch nur Einzelne.“
Einer Veränderung von Menschen sind dadurch Grenzen gesetzt, da sich die Men-
schen nicht „einfach so“ zu einem neuen Verhalten anleiten lassen, auch nicht durch
gute, rational nachvollziehbare Gründe  – ansonsten würde es beispielsweise weniger
Raucher geben, wenn Verhalten alleine über gute Gründe und Einsicht veränderbar
wäre. Denn, so konstatiert der Soziologe Nassehi, die Gründe für Handeln liegen in den
wenigsten Fällen bei bewussten Entscheidungen, sondern in den meisten Fällen bei
vor-bewussten Entscheidungen. Er stellt fest, dass Handeln oft bestimmt wird durch
Muster, Routinen und Gewohnheiten, so dass es weitgehend „automatisiert“ und damit
für den Handelnden ressourcenschonend erfolgen kann (Nassehi, 2013, S. 125 ff.). Und
diese Automatismen (und die soziale Konstruktion von dem, was „wirklich“ oder „wahr“
ist) lassen sich nicht durch neues, „besseres“ Wissen oder Appelle an die Moral ver-
ändern  – man denke nur an die Klimakatastrophe und unser aller weitgehend davon
unberührtes Handeln. Die einzige Möglichkeit zur Änderung von Verhalten sieht Nas-
sehi in der Änderung von Rahmenbedingungen in Organisationen (Staat, Unternehmen,
Verbände, Schulen, Universitäten …), da in ihnen letztendlich auch das „Organisier-
bare“ einer Gesellschaft stecke.

cc „Die Umformung einer Gesellschaft kann man nicht den Ingenieuren überlassen, nicht
den Industriegiganten und schon gar nicht den Geheimdiensten, die angeblich Risiken
in selbstregulierten Systemen ausschließen wollen.“ (Schirrmacher, 2018, S. 68)

Kurz & Rieger fordern eine gesellschaftliche Diskussion und gesetzgeberische Aktio-
nen unter der Überschrift „In drei Schritten zu mehr Autonomie“ (2017, S. 95 ff.):
2  Digitalisierung, Gesellschaft und Unternehmen 45

• „Erstens müssen neben der Beschränkung der Datenerfassung die Auswirkungen der
Datenverwendung ins Zentrum der Diskussion rücken …
• Zweitens darf es keine Scheu geben, bestimmte Geschäftsmodelle anhand ihrer Aus-
wirkungen zu regulieren, ganz zu verbieten oder offen zu boykottieren, wenn der
Gesetzgeber zu langsam handelt …
• Drittens müssen wir uns deshalb über Macht unterhalten. Wieviel Macht wollen wir
einzelnen Unternehmen zugestehen und zu welchen Konditionen? Welche Möglich-
keiten zum Ausgleich, zur Eindämmung, zur Offenlegung von Machtstrukturen und
ihrer Methoden gibt es? Traditionell ist eines der Mittel zum gesellschaftlichen Macht-
ausgleich die Transparenz …“

cc „Während die weltweite Vernetzung ihren beispielslosen Siegeszug fortsetzt, müs-


sen sich alte Institutionen und Hierarchien anpassen, weil sie sonst Gefahr laufen, in
der modernen Gesellschaft überflüssig zu werden. Die Veränderungen, die wir heute
in vielen großen und kleinen Unternehmen beobachten können, sind Vorboten der
anstehenden gesellschaftlichen Revolution. Durch Druck von innen und außen wird
die Kommunikationstechnologie unsere Institutionen weiter verändern.“ (Schmidt
& Cohen, 2013, S. 17)

Besondere Bedeutung gewinnt die Diskussion um unternehmerische Macht und Trans-


parenz vor dem Hintergrund von immer mehr Entscheidungen, die von Künstlicher Intel-
ligenz getroffen werden. Und die dafür programmierten Algorithmen sind nicht
­wertungs-„neutral“, sondern nehmen die bewussten/unbewussten Wertungen der Pro-
grammierenden mit. Die Futuristin Amy Webb warnt vor einer westlichen Selbstgefällig-
keit im Vergleich zu den Überwachungssystemen Chinas (Sozial-Kreditsystem) (Kreye,
2021, S. 9): „In Wirklichkeit werden wir die ganze Zeit bewertet. Wir alle haben täglich
mit dem algorithmischen Determinismus zu kämpfen. Irgendein Algorithmus hat Ihnen
irgendwo einen Wert zugewiesen, und als Ergebnis zahlen Sie mehr oder weniger Geld für
Toilettenpapier, wenn Sie online einkaufen. Es werden Ihnen bessere oder schlechtere
Hypotheken angezeigt. Es ist wahrscheinlicher oder unwahrscheinlicher, dass Sie als
Krimineller profiliert werden.“ Insbesondere Frauen und afroamerikanische Bürger
würden unter den meist von männlichen Programmierern entwickelten Algorithmen leiden.

2.9 Ein kurzer Ausblick

Die bisherigen großen Auswirkungen von Digitalisierung auf alle menschlichen Lebens-
bereiche sind unbestritten – und können auch nicht wieder zurückgenommen werden. Es
dreht sich alleine um die weitere bewusste Gestaltung der Zukunft. Angesichts der immen-
sen technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die Digitalisierung den wirtschaft-
lichen Akteuren bietet, müssen sich Politik und Bürger einig werden, welchen regulativen
Rahmen sie den primär wirtschaftlich orientierten Unternehmen geben.
46 A. Weiand

cc „Die überwiegende Mehrheit der Menschen wird gleichzeitig in zwei Welten leben
und arbeiten und zwei Regelsystemen unterstehen. An der virtuellen Welt werden
wir durch eine Vielzahl von Geräten teilhaben. In der physischen Welt werden wir
wie bisher mit den Gegebenheiten der Geographie, der Willkür der Herkunft (einige
kommen als reiche Menschen in reichen Ländern zur Welt, andere als Arme in
armen), Missgeschicken und Unglücksfällen sowie den guten und schlechten Seiten
der menschlichen Natur konfrontiert.“ (Schmidt & Cohen, 2013, S. 17)

Von daher stellt sich die Frage nach einem ethisch verantwortlichen Handeln. Ein
Rückblick ist hier angebracht: Der deutsche Philosoph Hans Jonas hatte bereits 1979 an-
gesichts der Atomenergie und der daraus resultierenden Möglichkeit einer globalen Ver-
nichtung von Leben auf die besondere Rolle von verantwortlichem Handeln hingewiesen
und seinen bekannten Imperativ formuliert (Jonas, 2020, S. 36):

„Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten
menschlichen Lebens auf Erden.“

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Dr. phil. Achim Weiand  ist Professor für Personal- und


Organisationsentwicklung an der Hochschule Neu-Ulm. Er war in
leitenden Positionen in den Arbeitsbereichen Personalentwicklung,
Management Development und Human Resources tätig. Seine
Berufserfahrung liegt in den Branchen Automobilzulieferer, inter-
nationaler Mischkonzern mit dem Schwerpunkt Energie sowie Im-
mobilien. Beratungs- und Trainingserfahrung hat er u. a. in den Bran-
chen Stahlerzeugung, Bauzuliefererindustrie, Keramikindustrie,
Industriegüterproduktion, Spielzeugindustrie, Gesundheitsprodukte,
Automobilzulieferer, öffentliche Verwaltungen. Publikation sind u. a.
Vahs, D. & Weiand, A. (2020). Workbook Change Management. 3.
Auflage. Stuttgart und Weiand, A. (2016): Toolbox Change Manage-
ment. Stuttgart.
Bewertung der digitalen Reife von
Unternehmen mittels Reifegradmodellen 3
Grundlagen & Vergleich bestehender Reifegradmodelle

Martin Gabriel

Zusammenfassung

Der nachfolgende Beitrag setzt sich mit der Herausforderung auseinander, wie in
Unternehmen die eigene digitale Reife unter dem Einsatz von Reifegradmodellen be­
wertet werden kann. Seit der Einführung des Capability Maturity Model (CMM) im
Jahr 1991 haben sich in vielen Domänen Reifegradmodelle etabliert und stellen ein
wichtiges Instrument dar, um ganze Unternehmen oder einzelne Bereiche auf Basis des
Istzustandes zu bewerten und um Entwicklungsperspektiven für die Zukunft aufzu­
zeigen. Ein Reifegradmodell bedient sich dabei einer festgelegten Struktur und legt ein
Rahmenwerk fest, welches zu einer Vergleichbarkeit von verschiedenen Bewertun­
gen führt.

3.1 Einleitung

Die digitale Transformation ist ein weltweites und gesamtgesellschaftliches Phänomen,


welches die Strategien & Geschäftsmodelle von Unternehmen nachhaltig und auf lange
Sicht beeinflusst.
Durch den stets größer werdenden Fortschritt im Bereich der digitalen Technologien
wird der Ruf nach einem objektiven Modell zur Bestimmung der digitalen Reife von
Unternehmen und Organisationen immer lauter.
Reifegradmodelle stellen in diesem Zusammenhang ein wichtiges Instrument dar,
weil  sie die Positionierung der eigenen Organisation ermöglichen und Entwicklungs­

M. Gabriel (*)
St. Margarethen im Burgenland, Burgenland, Österreich

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 49


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_3
50 M. Gabriel

perspektiven aufzeigen (Becker et al., 2009). Nach aktuellen Schätzungen existieren der­
zeit in etwa 200 Reifegradmodellen aus verschiedenen Domänen wie IT, Produktion und
Management (Schmelzer & Sesselmann, 2013).
Eines der Bekanntesten ist das CMMI (Capability Maturity Model Integration), wel­
ches in der Softwareentwicklung eingesetzt wird und bereits 1984 in einer ersten Version
veröffentlicht wurde (Kasse, 2008).
Es gilt nun in diesem Beitrag die Frage zu beantworten, welches aus der Vielzahl von
vorhandenen Reifegradmodellen dazu geeignet ist, die digitale Reife eines Unternehmens
zu bestimmen, welche objektivierten Kriterien dazu notwendig sind und wie diese Reife­
gradmodelle aufgebaut sind.
Laut einer Studie des MIT Sloan Management Review haben Unternehmen einen
hohen digitalen Reifegrad, wenn diese nicht nur digitale Leader innerhalb der Organisa­
tion besitzen, sondern auch aktiv, welche hervorbringen (Kane et al., 2018).

3.2 Der Modellbegriff

Weder im Alltag noch in der Wissenschaft ist der Begriff des Modells einheitlich. Ein
Modell ist immer ein Abbild der Realität, wobei der Begriff als solches eine Doppeldeutig­
keit aufweist. Ein Modell kann sowohl ein Vorbild sein oder aber ein Abbild von etwas
bereits Bestehenden (Stachowiak, 1973).
Der Autor Stachowiak (1973) analysierte in seinem Buch den Modellbegriff tief­
ergehend und kam zu dem Schluss, dass der allgemeine Modellbegriff mit 3 Hauptmerk­
malen beschrieben werden kann.

Abbildungsmerkmal
Modelle sind Abbildungen von originalen, natürlichen oder künstlichen Ursprungs, wobei
diese Originale wieder selbst Modelle von etwas sein können. Jede natürliche oder ma­
schinelle erstellbare Entität kann dabei ein Original eines oder mehrere Modelle sein.

Verkürzungsmerkmal
Ein Modell umfasst nie alle Attribute eines Originals. Der Modellerschaffer bzw. der
Modellbenutzer verwenden nur die Attribute des Originals, welche für die Erstellung eines
Modells als sinnvoll erachtet werden. Dies hat zur Folge, dass aus einem Modell heraus
die Eigenschaften des Originals nie vollständig und objektiv bestimmbar sind.

Pragmatisches Merkmal
Der Modellbegriff kann auf Dreifache weise pragmatisch relativiert werden. Ein Modell
ist nur nicht die darstellende Form von etwas, sondern es wurde auch für jemanden er­
schaffen. Modelle erfüllen Funktionen in ihrer Zeit und werden für einen bestimmten
Zweck gebildet.
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 51

Aufbauend auf diese Merkmale können zwei verschiedene Ansätze und Modellver­
ständnisse definiert werden. Jenes des abbildungsorientierten- und des konstruktions­
orientierten Modellverständnisses (Schütte, 1998).

Abbildungsorientierte Modellverständnis
Das abbildungsorientierte Modellverständnis geht davon aus, dass in der Abbildung des
Modells sich die Realität widerspiegelt. Es wird angenommen, dass auf Basis von glei­
chen Wahrnehmungen durch unterschiedliche Subjekte das Ergebnis stets die gleiche Ab­
bildung bzw. das gleiche Modell hervorbringt. Dieses Modellverständnis wird als am
weitverbreitetsten angesehen (Adam, 1996).

Ein großer Kritikpunkt an diesem Verständnis ist die Tatsache, dass stets davon aus­
gegangen wird, dass die modellierenden Subjekte bei gleichem Realitätsausschnitt zu den­
selben Ergebnissen gelangen (Schütte, 1998).
Spezifische Erfahrungen sowie individuelle Sinneswahrnehmungen und das jeweilig
erlernte Wissen beeinflussen den Prozess der Modellierung. Jedes Individuum nimmt die
jeweilige Realität als seine eigene Realität wahr und kommt damit zu individuellen Er­
gebnissen in der Modellierung. Dieser Umstand führt im speziellen dann zu Problemen,
wenn das Modell einen universellen Geltungsanspruch besitzen soll. Ein universeller
Geltungsanspruch ist bei der Modellierung durch ein einzelnes Subjekt nicht zu erzielen
(Lorenz, 1995).

Konstruktives Modellverständnis
Die Kritiken zum abbildungsorientierten Modellverständnis führten zum konstruktiven
Modellverständnis. Bei diesem wird davon ausgegangen, dass die Konstruktion des Mo­
dells ein subjektiver und vom Individuum abhängiger Prozess ist. Das Subjekt erfasst
dabei einen Ausschnitt der Realität und überführt diesen in ein implizites Modell.
(­Lorenz, 1995).

3.3 Das Reifegradmodell

Ein Reifegradmodell besteht aus einer Folge von Reifegraden für eine bestimmte Klasse
von Objekten. Durch aufeinander folgende diskrete Rangstufen kann dadurch der ge­
wünschte Entwicklungspfad von diesen bestimmten Objekten dargestellt werden. Dieser
Entwicklungspfad beginnt dabei von einem Anfangsstadium und endet bei der voll­
kommenen Reife des zu betrachteten Objektes. Die Entwicklung entlang des festgelegten
Entwicklungspfades bedeutet eine stetige Steigerung bzw. Verbesserung der Leistungs­
fähigkeit oder der Güte des Objekts. Zur Feststellung dieser Steigerung dient das Reife­
gradmodell als Skala zur Beurteilung und Einstufung. Ein Reifegrad innerhalb des Reife­
gradmodells ist durch definierte Merkmale des zu betrachtenden Objekts dargestellt. Um
die Erreichung eines Reifegrades betrachten zu können, sind erforderliche Merkmalsaus­
52 M. Gabriel

prägungen definiert. Die einzelnen Reifegrade bauen dabei aufeinander auf und bilden ein
kumuliertes Gesamtbild, wobei ein hoher Reifegrad alle Merkmale und Anforderungen
der darunterliegenden Reifegrade beinhaltet und erfüllt (Becker, Knackstedt, & Pöppel­
buß, Entwicklung von Reifegradmodellen für das IT-Management– Vorgehensmodell und
praktische Anwendung, 2009).
Ziele eines Reifegradmodells soll einerseits die Darstellung des Istzustandes und
andererseits der Ausblick auf den Sollzustand sein. Nach aktuellen Schätzungen existieren
derzeit in etwa 200 Reifegradmodellen aus verschiedenen Domänen wie IT, Produktion
und Management (Schmelzer & Sesselmann, 2013).

3.3.1 Komponenten von Reifegradmodellen

Um eine möglichst hohe Akzeptanz des Reifegradmodells zu gewährleisten, müssen bei


der Entwicklung die Bedürfnisse der Zielgruppe mit Hinblick auf die Fragestellungen,
warum sie das Modell anwenden sollen und in welche Organisationseinheiten das Modell
Anwendung findet, berücksichtigt werden. Das Modell muss daher ein Gleichgewicht
zwischen der Darstellung eines einfachen Modells und der Abbildung einer Komplexität
Realität bilden. Aus diesem Grund bestehen alle Reifegradmodelle aus mehreren Grund­
komponenten und Designprinzipien (De Bruin et al., 2005):
Ein Reifegrad wird als kumulative Stufe dargestellt. Die „Endstufen“ sind klar defi­
niert. Eine klare Definition jedes Reifegrads aufgrund des Status wie z. B.: „initial“, „de­
finiert“, „steuerbar“. Typischerweise werden in gängigen Reifegradmodellen entweder
vier oder fünf Stufen zur Feststellung des Reifegrads verwendet.
Reifegrade sollen eine generische Beschreibung enthalten, welche die wichtigsten
Aktivitäten und Maßnahmen dieses Reifegrades darstellen.
Die genaue Ausgestaltung und Definition der oben genannten Punkte sind je nach Mo­
dell unterschiedlich. Es können aber zwei grundlegende Arten von Reifegradmodellen
beschrieben werden.

3.3.2 Arten von Reifegradmodellen

Optimierungsmodelle (Capability Maturity Model)


In Optimierungsmodellen wird anhand von Best Practices ein Pfad vorgegeben, um eine
Verbesserung für einen Gegenstandsbereich zu erwirken. Dieser Entwicklungspfad wird
explizit vorgegeben (Paulk et al., 1993).

Bewertungsmodelle (Assessment Models)


Am Beispiel des PEMM (Process Enterprise Maturity Model) ist zu sehen, dass im Unter­
schied zum CMM kein direkter Pfad vorgegeben ist, sondern die Entwicklung als dynami­
scher Prozess stattfindet (Power, 2007).
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 53

Eine andere Unterteilung von Reifegradmodellen kann nach deren Struktur vor­
genommen werden. Hierbei werden drei Gruppen von Reifegradmodellen unterschieden
(Fraser et al., 2002).

Maturity Grids
Bei sogenannten Grid-Modellen wird ein Raster gebildet, indem jede Aktivität in jedem
Reifegrad textuell beschrieben wird. Dies hat zur Folge, dass diese Modelle eine geringe
Komplexität aufweisen, aber dadurch aus mehreren Seiten Text bestehen (Fraser
et al., 2002).

CMM based Models


Modelle, welche auf dem CMM-Ansatz beruhen, weisen in ihrer Struktur einen höheren
Grad an Formalität auf. Jeder Abschnitt wird durch eine Reihe von Maßnahmen und
Aktivitäten beschrieben, welche dann zu einer Reihe von Zielen führen. Dies führt zu
einer höheren Komplexität, da keine Beschreibung auf Ebene der einzelnen Reifegrade
vorliegt (Fraser et al., 2002).

Likert-like questionnaire
Diese Art von Fragebögen kann, wenn richtig aufgebaut, als eine Art von einfachen Reife­
gradmodellen mit geringer Komplexität betrachtet werden. Die Frage dient dabei als eine
Art Reifegrad und die Beantwortung als eine Einstufung. Bei dieser Art von Fragebögen
gilt aber, sobald es zu einer Frage mehr als eine Antwort gibt, handelt es sich um eine
Checkliste und nicht mehr um ein vereinfachtes Reifegradmodell (Fraser et al. 2002).

3.3.3 Historische Entwicklung von Reifegradmodellen

Eines der ersten Modelle, welches als Reifegradmodell bezeichnet werden kann, ist die
Bedürfnispyramide von Abraham Maslow (Abb.  3.1), welche im Jahr 1943 entwickelt
wurde. Dieses Modell umfasst fünf Stufen, wobei die ersten 4 Stufen von Maslow als
Mangelbedürfnisse und die letzte Stufe als Wachstumsbedürfnis beschrieben worden ist.
Nach dem Durchlaufen aller Stufen der Pyramide wurde der „Endzustand“ erreicht und
die Person gilt nach der Theorie von Maslow als „Reif“. Maslow selbst erkannte bei der
Entwicklung, dass ein Mensch zuerst alle Kriterien der vorhergehenden Stufe erfüllt haben
muss, bis er die nächste Stufe erreichen kann (Wongkayi, 2016).
Ein Modell, welches auch bereits die Bezeichnung „Reifegradmodell“ trug, war das
von Peter Crosby entwickelte Quality Management Maturity Grid (QMMG), welches im
Jahr 1979 veröffentlicht wurde. Beim QMMG handelt es sich um ein Raster, welches die
Reifegrade ähnlich wie die Maslowsche Bedürfnispyramide in 5 Stufen unterteilt. Dieses
Modell sollte dabei helfen die „Reife“ eines Unternehmens im Bezug des Qualitäts­
managements darzustellen (Crosby, 2000).
54 M. Gabriel

Abb. 3.1  Die maslowsche Bedürfnispyramide (In Anlehnung an: https://www.simplypsychology.


org/maslow.html, o. J.)

Ein weiterer Meilenstein in Bezug auf die Entwicklung von Reifegradmodellen stellt die
Entwicklung des Capability Maturity Model (CMM) dar. Das CMM wurde aus der Not des
amerikanischen Verteidigungsministeriums (DoD) entwickelt, um Anbieter für zuver­
lässige Software zu ermitteln. Das SEI (Software Engineering Institute) der Carnegie Mel­
lon University arbeitete ab 1988 an der Entwicklung eines entsprechenden Modells, wel­
ches im Jahr 1990  in der Version 1.0 veröffentlicht wurde. Dieses Modell, welches den
Namen Capability Maturity Model trug, gilt heute noch vielen als Referenzmodell. Aus
dem CMM entwickelte sich das Capability Maturity Model Integration (CMMI) (ITSM-Pro­
cesses, o. J.)

3.4 Die digitale Transformation

Die digitale Transformation beschreibt einen fortlaufenden Prozess innerhalb von Organi­
sationen. In der Literatur ist man sich einig, dass die digitale Transformation aus mehreren
Themenfeldern besteht, wobei die Anzahl und Inhalte der Themenfelder variiert. Abb. 3.2
zeigt einen Auszug von Themenfeldern, welche betrachtet werden müssen, um der digita­
len Transformation erfolgreich begegnen zu können.
Jedes dieser Themenfelder hat nicht nur Einfluss auf den eigenen Teilbereich, sondern
wirkt sich auf die gesamte Organisation aus.
Die nachfolgende Aufzählung beschreibt die einzelnen Themenbereiche und aus­
gewählte Konzepte im Detail, dabei stellt die Reihenfolge der Themen kein Ranking oder
Gewichtung dar.

3.4.1 Technisierung

Die Technisierung ist einer der Grundpfeiler der digitalen Transformation in Organisa­
tionen. Ohne den Einsatz von Technologie kann eine Transformation auf digitaler
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 55

Abb. 3.2  Darstellung der Handlungsfelder in der digitalen Transformation. (Quelle: Eigene Dar­
stellung)

Ebene nicht durchgeführt werden. Dabei kann man unterscheiden, welchen Bereich der
Einsatz von Technologie berührt, wobei eine Überschneidung der einzelnen Bereiche
besteht.
In den meisten Unternehmen spielen die hierarchische Stufe des Mitarbeiters nur mehr
eine untergeordnete Rolle, wenn es um die Vergabe der Technik im Sinne von Hardware
geht. Mitarbeiter bekommen in der Regel sämtliches Equipment, welches Sie für die
­tägliche Erledigung Ihrer beruflichen Aufgaben benötigen. Neben der benötigten Hard­
ware wie zB Laptop & Mobiltelefon bieten die Unternehmen den Mitarbeitern auch eine
umfassende Softwareausstattung (Hoffmann et al., 2020).
Ein anderer Ansatz zur Technisierung innerhalb von Organisationen im Zuge der digi­
talen Transformation kann das Konzept des „Bring your own device“ sein.
„Bring your own device“ beschreibt ein Konzept in der Arbeitswelt, bei dem Mit­
arbeiter ihre eigenen privaten Geräte mit ins Unternehmen bringen, um damit zu arbeiten.
Meist erhalten die Arbeitnehmer dabei Zugriff auf betriebliche Ressourcen wie das
E-Mail-­ Postfach, den Kalender oder das Unternehmensnetzwerk. Das Ziel soll eine
Kostenreduzierung und eine gesteigerte Effizienz beim Arbeiten sein (Evans, 2020).
Das Konzept „Bring your own device“ bezieht sich dabei meist auf sogenannte mobile
Geräte, wie z.  B. das Smartphone, Laptop oder Tablet. Während sich das Konzept in
Europa bei den meisten Unternehmen noch nicht durchgesetzt hat, sind in den USA be­
reits 95  % der Unternehmen bereit, nach dem BYOD-Konzept zu arbeiten (Kohne
et al., 2015).
Neben den Vorteilen bringt dieses Konzept als Teil der digitalen Transformation in der
Organisation auch Nachteile mit sich. Neben dem physischen Risiko, wie zum Beispiel
der Verlust von einem oder mehreren Geräten, kann auch der Verlust von Daten auf dem
Gerät zu einem erheblichen Schaden in der Organisation führen.
Unternehmen sind daher bereits in einer frühen Phase der Technisierung gefordert,
organisationsweite Standards und Regeln aufzustellen. Auch Normen und Zertifizierungen
wie zum Beispiel die ISO Norm 27001 für Informationssicherheit können dabei behilf­
lich sein.
56 M. Gabriel

Einen weiteren Aspekt der Technisierung innerhalb der digitalen Transformation spielt
der Einsatz von Cloud-Diensten.
Mithilfe von Cloud-Diensten ist es möglich, jeden Mitarbeiter Orts- und zeitunabhängig
Informationen bereitzustellen sowie Rechenleistung und Speicherplatz auszulagern. Da­
neben können verschiedene Tools genutzt werden, um miteinander in Kontakt zu bleiben
und Informationen einfach und in Echtzeit zu teilen.

3.4.2 Geschäftsmodell

Der Begriff des Geschäftsmodells hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Er kann
als Teil eines Unternehmens betrachtet werden oder philosophisch wie von Peter Dru­
cker, welcher den Begriff des Geschäftsmodells herunter gebrochen hat auf die
wesentlichen zwei Fragen „Wer ist der Kunde?“ und „Welchen Wert hat der Kunde?“
(Ovans, 2015).
Das Internet und andere digitale Technologien haben es Unternehmen vereinfacht,
auf eine disruptive Art und Weise ihre Geschäftsmodelle zu digitalisieren (Büllingen,
2017). Unternehmen erhoffen sich von der Digitalisierung ihres Geschäftsmodells eine
Steigerung der Marktposition und Vorteile gegenüber den Mitbewerbern (Hoffmann
et al., 2020).
(Gassmann & Sutter, 2019), beschreiben in ihrem Buch, das ein digitales Geschäfts­
modell ein Element der vier Grundpfeiler der Digitalisierung darstellt. Durch die Digitali­
sierung der Geschäftsprozesse werden die Bindung und Präsenz nach außen verstärkt.
Innerhalb des Unternehmens kann die Digitalisierung dazu führen, dass die Reaktionszeit
gesteigert wird.
Der Weg zum digitalen Geschäftsmodell ist nicht einfach und wird auch oft unter­
schätzt. Die Änderungen im Geschäftsmodell umfassen nicht nur das Unternehmen und
seine Mitarbeiter als solches, sondern auch alle beteiligten Stakeholder wie Lieferanten
und Kunden. Die Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit gegenüber dem Wettbewerb
rücken dadurch in den Mittelpunkt (Gassmann & Sutter, 2019).

Digital Canvas  Als Hilfsmittel für die Entwicklung eins digitalen Geschäftsmodells
wurde von (Schlimbach & Asghari, 2020) der „digital Canvas“ entwickelt.

Anhand von bereits identifizierten Schwachstellen des „Business Model Canvas“ im


Bereich der Digitalisierung, welche mittels Experteninterviews und einer Online Be­
fragung erhoben wurden, leiteten die beiden Autoren spezifische Anforderungen für den
„digital Canvas“ ab.
Das Ergebnis war ein Werkzeug als Hilfestellung für die Entwicklung von digitalen
Geschäftsmodellen. Abb. 3.3 zeigt den „digital Canvas“ und seine Dimensionen.
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 57

Abb. 3.3  digital Canvas – (Schlimbach & Asghari, 2020)

3.4.3 Arbeitsmodelle & Mitarbeiter

In der Literatur wird der Begriff Arbeitsmodell meist mit dem Begriff der Arbeitszeit
gleichgesetzt. Ein Arbeitsmodell besteht aus mehreren Dimensionen, wobei die Arbeits­
zeit eine davon ist.
Im Bereich der Arbeitswelt findet sich die digitale Transformation oftmals in der Flexi­
bilisierung der Arbeitsverhältnisse wieder. Waren früher die Mitarbeiter an einen Ort und
einer fest definierten Arbeitszeit gebunden, so gibt es jetzt in vielen Organisationen die
Möglichkeiten der Teilzeitarbeit, Gleitzeit oder Vertrauenszeit. Neben der zeitlichen
­Komponente wird auch der Ort der zu erbringenden Leistung flexibel. Mobiles Arbeiten,
Homeoffice oder arbeiten direkt beim Kunden werden immer mehr umgesetzt.

3.4.4 Leadership & Führung

Die digitale Transformation macht auch nicht vor den Themen Leadership und Führung
halt. Gesteigerte Kundenerwartungen und die Notwenigkeit der schnelleren Reaktions­
fähigkeit verlangen von Führungspersönlichkeiten ein flexibleres und agileres Vorgehen
(Petry, 2010).
Um erfolgreich bei der digitalen Transformation im Unternehmen zu sein, ist es wich­
tig, bestehende Führungspersonen zu leiten und neue Strategien zu entwickeln, um auf die
geänderte Situation reagieren zu können. (Sebastian et al., 2017).
58 M. Gabriel

Die digitale Transformation kann dabei als eine Art Orchester betrachtet werden, wobei
die Führungsperson den Dirigenten darstellt.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam (Schrage et al., 2021) in seiner neusten Studie im
MITSloan Management Review. Er führte eine Umfrage durch, bei der mehr als 90 % der
Befragten Führungspersonen angaben, dass eine gewisse digitale Affinität sie bei der Aus­
übung Ihrer Rolle unterstützt.
Eine konträre Ansicht liefert die Studie „Impact of leadership on digital trans-
formation“. Die Autoren dieser Studie kamen zu dem Schluss, dass es keinen spezifischen
­Führungsstil innerhalb der digitalen Transformation brauche, obwohl die Rolle des Füh­
renden eine wichtige ist. (Sow & Aborbie, 2018).

3.5 Methodik zur Analyse der Reifegradmodelle

Reifegradmodelle können im Kontext der digitalen Transformation den Istzustand von


Organisationen in Form von einer Bewertung darstellen (Waidelich et al., 2019).
Diese Bewertung wird anhand von objektivierten Kriterien durchgeführt und hilft dabei
auch Unternehmen vergleichbar zu machen. Neben dem Status quo können Handlungs­
empfehlungen auf Basis des Modells abgeben werden.
Im Zuge dieses Beitrags wurden verschiedene Reifegradmodelle analysiert. Abb. 3.4
zeigt den Analyseprozess, welcher sich in vier Schritten gliederte.
Im ersten Schritt wurde eine Grobrecherche durchgeführt, welche Reifegradmodelle
das Thema digitale Transformation oder die Digitalisierung von Unternehmen zum Thema
haben. Danach wurde die Zugänglichkeit der Informationen analysiert. Sind die Reife­
gradmodelle frei verfügbar oder gibt es Barrieren wie zum Beispiel proprietäre Lizenzen.
Diese Information wurde mit den zwei Ausprägungen „frei verfügbar“ und „nicht frei
verfügbar“ beschrieben. Diese zwei Ausprägungen stellen keine Wertung dar, sondern sol­
len nur zeigen, wie viele der analysierten Modelle auch ohne finanzielle Aufwände durch
Lizenzkosten verwendet werden können.
Im dritten Schritt wurden die Modelle nach Schulnoten 1–5 bewertet. Am Ende der
Analyse ergibt die Bewertung eine Durchschnittsnote.
Die folgende Aufzählung zeigt die einzelnen Bewertungskriterien:

Abb. 3.4  Darstellung Analyseprozess – eigene Darstellung


3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 59

• Komplexität der Anwendung


Unter der Komplexität der Anwendung wird bewertet, ob eine Organisation die Be­
wertung selbst durchführen kann oder ob dazu externe Ressourcen benötigt werden.
Kommt das Modell gänzlich ohne externe Ressourcen aus, wird es mit 1 bewertet, ist
hingegen der Einsatz ohne externe Ressourcen nicht möglich ist die Bewertung eine 5.
• Anzahl der bewerteten Dimensionen.
Wie viele betrachtete Dimensionen gibt es und wie werden diese innerhalb des Modells
bewertet. Dieses Bewertungskriterium soll vor allem die Ganzheitlichkeit des Modells
abbilden.
• Visuelle Darstellung des Modells
Hierbei wird bewertet, wie und ob das Modell eine visuelle Darstellung besitzt. Gibt es
eine visuelle Darstellung und in welcher Komplexität.
• Alter des Modells
Wie lange gibt es das Modell schon und wurden Aktualisierungen in Form von ver­
schiedenen Versionen veröffentlicht. Ist das Modell aktuell, gibt es die beste Note.
• Fokussierung des Modells
Gibt es für das Modell einen Industriefokus oder wurde das Modell für einen ein­
gegrenzten Themenbereich entwickelt bspw. Industrie 4.0 oder IOT. Die Höchstnote
erhält ein Modell in dieser Übersicht, wenn es sich stark auf einen Bereich fokussiert,
diesen aber dadurch ausführlich betrachtet.

Im vierten und letzten Schritt wurden die Merkmale der Reifegradmodelle aus den beiden
vorherigen Stufen dokumentiert.
Unter die Merkmale fielen der Aufbau und die Anzahl der Reifegradstufen, Bewertungs­
kriterien, Anzahl und Inhalt der bewerteten Dimensionen sowie Meta-Informationen wie
Quelle, Veröffentlichungsdatum und Autoren. Die gesammelten Informationen wurden in
einem standardisierten Analyseformular erfasst und dokumentiert. Aufgrund des Umfangs
des Beitrags kann diese Übersicht nur einen Ausschnitt aller der am Markt befindlichen
Reifegradmodelle zum Thema digitale Transformation von Unternehmen aufzeigen.
Die Tab. 3.1 zeigt die analysierten und dokumentierten Reifegradmodelle sowie deren
Durchschnitts Note.
Die folgenden Abschnitte stellen einen detaillierten Überblick über die analysierten
Reifegradmodelle und stellen da.

Tab. 3.1  Analysierte und dokumentierte Reifegradmodelle

Reifegradmodell Durchschnitts Note


Industry 4.0 Maturity Model 2,8
Digital Maturity Model 3,8
Digital Maturity Matrix 2,6
KPMG Digital Readiness Assessment 3,2
FME Reifegradmodell 3,8
60 M. Gabriel

3.6 Industry 4.0 Maturity Model

Das Industry 4.0 Maturity Model wurde vom Fraunhofer Institut in Österreich entwickelt,
um Produktionsunternehmen dabei zu unterstützen, den Istzustand zu bewerten und um
den Weg aufzuzeigen, wie ein Sollzustand aussehen kann. Es gibt einen klar definierten
Prozess, welcher sich nicht nur mit der Bewertung des Reifegrades befasst, sondern auch
Hilfestellungen bietet, wenn es um die Themen Vision und Implementierung im Unter­
nehmen geht.
Das Modell ist nicht frei verfügbar, allerdings gibt es die Möglichkeit, Online einen
sogenannten „Industrie 4.0 Quick-Check“ durchzuführen.

3.6.1 Komplexität der Anwendung

Das Reifegradmodell besitzt einen stringenten Durchführungsprozess, welcher sich in


sechs einzelnen Schritten darstellt. Innerhalb dieser Schritte wird versucht, alle Beteiligten
der relevanten Abteilungen abzuholen und in den Prozess zu integrieren sowie ein ge­
meinsames Verständnis zu schaffen.
In mehreren Workshops wird dabei neben der Bewertung des IST-Reifegrades auch
eine Vision für den SOLL-Reifegrad entwickelt. Steht die Vision und das Zielbild des
SOLL-Reifegrades fest, wird eine Roadmap erstellt und daraus alle relevanten Handlungs­
felder abgeleitet.
Das Fraunhofer Institut hilft auch bei der Ausrollung im Unternehmen und stellt not­
wendige Instrumente zur Verfügung, um einerseits benötigten neue Technologien im
Unternehmen zu implementieren und andererseits den Fortschritt zu überwachen.
Um die Workshops durchzuführen und für die Hilfestellung bei der Entwicklung der
Vision und der Roadmap werden externe Ressourcen benötigt.

3.6.2 Anzahl der bewerteten Dimensionen.

Das Reifegradmodell arbeitet mit Reifeattributen, welche dazu genutzt werden, den
IST-Reifegrad als auch den SOLL-Reifegrad zu bestimmen.
Das Konzept Industrie 4.0 wird dabei in 65 Reifeattribute zerlegt und soll dadurch dem
Unternehmen die Möglichkeit geben, die eigene Reife messbar zu machen.

3.6.3 Visuelle Darstellung des Modells

Es gibt aktuell keine frei verfügbare visuelle Darstellung des Modells.


3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 61

3.6.4 Alter des Modells

Das Modell wurde im Jahr 2016 veröffentlicht.

3.6.5 Fokussierung des Modells

Das Modell ist zielgerichtet auf Produktionsunternehmen, welche sich weiter in die Rich­
tung Industrie 4.0 entwickeln möchten. Durch einen ausgeprägten und definierten Prozess
sowie der Menge an Kriterien zur Bestimmung der Reifegrade ist dieses Modell in der
Lage, Unternehmen ganzheitlich auf den Weg der digitalen Transformation zu begleiten.

3.7 Digital Maturity Model

Das Digital Maturity Model wurde von der Universität St. Gallen am Institut der Wirt­
schaftsinformatik entwickelt. Es richtet sich unabhängig von Branchen an Unternehmen,
welche sich in der digitalen Transformation befinden. Es bewertet den Reifegrad von
Unternehmen anhand eines Fragebogens.
Das Modell ist ein rein deskriptives Modell, es zeigt Best Practices und Fähigkeiten
auf, gibt aber keine konkreten Handlungsanweisungen. Zum Zeitpunkt der Erstellung die­
ses Beitrags war der Online-Fragebogen nicht frei verfügbar.

3.7.1 Komplexität der Anwendung

Die Bewertung und anschließende Bestimmung des Reifegrades wird mit einem Online-­
Fragebogen durchgeführt. Der Fragebogen besteht aus den definierten Dimensionen des
Modells, wobei jede Dimension 3 Reifekriterien enthält. Jedes Reifekriterium wird mit
2–3 Fragen bewertet, wobei jede dieser Fragen mit konkreten Merkmalen definiert ist.
Das Modell gibt anhand einer Likert-Skala an, wie sehr die Merkmale auf ihr Unter­
nehmen zutreffen.

3.7.2 Anzahl der bewerteten Dimensionen.

In dem Modell werden zur Bestimmung des Reifegrades 7 Dimensionen betrachtet. Diese
sieben Dimensionen wurden aus der Business Engineering Landkarte von Hubert Österle
und Robert Winter abgeleitet.
Die Dimensionen wurden anhand bereits bestehender Reifegradmodelle und unter Ein­
beziehung von Experteninterviews definiert. Die Reifegrade werden dabei nicht im Vor­
hinein, sondern im Zuge der Befragung definiert.
62 M. Gabriel

3.7.3 Visuelle Darstellung des Modells

Es gibt aktuell keine frei verfügbare visuelle Darstellung des Modells.

3.7.4 Alter des Modells

Das Modell wurde in der zweiten Version im Jahr 2016 veröffentlicht.

3.7.5 Fokussierung des Modells

Das Digital Maturity Model besitzt keine klare Fokussierung. Die Erhebung kann
branchenunabhängig durchgeführt werden. Neben der Branchenunabhängigkeit wird kein
spezifischer Themenbereich wie beispielsweise IOT oder Industrie 4.0 abgefragt. Auch
angegebene Referenzen des Modells spiegeln die Branchenunabhängigkeit wieder (Retail,
Industrie 4.0, Dienstleistung).

3.8 Digital Maturity Matrix

Die Digital Maturity Matrix wurde gemeinsam vom MIT Sloan Review mit Capgemini
Consulting entwickelt. Sie besteht aus vier Quadranten und zwei Dimensionen. Die Ma­
trix bewertet neben den Fähigkeiten im Bereich der Anwendung von digitalen Techno­
logien auch das digital Leadership.

3.8.1 Komplexität der Anwendung

Die Datenerhebung basiert auf standardisierten Interviews.

3.8.2 Anzahl der bewerteten Dimensionen

Es werden zwei Dimensionen bewertet. Innerhalb dieser zwei Dimensionen können die
Unternehmen in vier Quadranten segmentiert werden, diese Quadranten werden als „Be­
ginners“, „Conservatives“, „Fashionistas“ sowie „Digital Masters“ bezeichnet.
Die Dimension „Digital Capabilities“ beinhaltet alle technologiebasierten Initiativen
innerhalb des Unternehmens, welche die Förderung der Customerer Experience sowie die
Optimierung interner Prozesse und die Weiterentwicklung des Unternehmens zur Auf­
gabe hat.
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 63

Abb. 3.5  Digital Maturity


Matrix, In Anlehnung an
(Westerman et al., 2017)

Bei der zweiten Dimension „Leadership Capabilities“ liegt der Fokus auf die Steuerung
der digitalen Transformation. Dabei geht es vor allem um die Entwicklung einer starken
digitalen Vision für das jeweilige Unternehmen.

3.8.3 Visuelle Darstellung des Modells

Die Abb. 3.5 zeigt den Aufbau der Digital Maturity Matrix. Die visuelle Darstellung ist
frei verfügbar.

3.8.4 Alter des Modells

Das Modell wurde erstmals im Jahr 2017 im Zuge einer Studie veröffentlicht.

3.8.5 Fokussierung des Modells

Die Digital Maturity Matrix besitzt keine bestimmte Fokussierung, vielmehr kann das
Modell branchenunabhängig verwendet werden.

3.9 KPMG Digital Readiness Assessment

Das Digital Readiness Assessment wurde von der KPMG-­Wirtschaftsberatungsgesellschaft


entwickelt. Es basiert auf einem 4-stufigen Anwendungsprozess und kann branchen­
unabhängig eingesetzt werden.
64 M. Gabriel

3.9.1 Komplexität der Anwendung

Das Modell basiert auf einen Prozess, welcher sich aus 4 Stufen zusammensetzt.
Zu Beginn werden die Motivation des Unternehmens betrachtet sowie die Ziele defi­
niert. Im nächsten Schritt wird basierend auf den Ergebnissen das Assessment aufgesetzt
und Teilnehmer definiert. Im dritten Schritt wird das ausdefinierte Assessment durch­
geführt und moderiert. Zum Schluss werden die Ergebnisse aus dem Assessment grafisch
aufbereitet und präsentiert.
Bei diesem Modell handelt es sich um ein proprietäres Modell von KPMG, deshalb
müssen auch zwingend Ressourcen dieser Beratungsgesellschaft zugekauft werden.

3.9.2 Anzahl der bewerteten Dimensionen.

Es werden vier Dimensionen ähnlich der Digital Maturity Matrix für die Bewertung heran­
gezogen. Eine Besonderheit dieses Modells ist der Vergleich mit Benchmarkwerten von
anderen Unternehmen.

3.9.3 Visuelle Darstellung des Modells

Die Ergebnisse des Modells werden grafisch dargestellt und sind somit visuell leicht ver­
ständlich. Abb. 3.6 zeigt die Matrix, auf welcher dieses Modell basiert.

3.9.4 Alter des Modells

Das Modell wurde im Jahr 2016 veröffentlicht.

Abb. 3.6  In Anlehnung an die


Reifegrad Matrix des KPMG
Maturity Assessment
(Ennemann & Kalmeyer, 2016)
3  Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen mittels Reifegradmodellen 65

3.9.5 Fokussierung des Modells

Dieses Modell bietet keinen besonderen Branchenfokus.

3.10 FME Reifegradmodell

Das FME Reifegradmodell wurde von der FME AG entwickelt und ist ein proprietäres
Reifegradmodell. Es besitzt ein klares Vorgehensmodell und bewertet die Dimensionen
mit fünf Reifegraden.

3.10.1 Komplexität der Anwendung

Der Aufbau des FME Reifegradmodells ist schlüssig und folgt einem klaren Vorgehens­
modell, allerdings sind die einzelnen Betrachtungen in den jeweiligen Dimensionen um­
fangreich. Zu Beginn wird für jede Dimension der IST-Reifegrad erhoben, um zu ver­
stehen, wo man sich im Bereich der digitalen Transformation gegenüber von Mitbewerbern
befindet. Danach wird der SOLL-Reifegrad definiert. Dieser Sollreifegrad soll zeigen, wie
das Unternehmen in der Zukunft aufgestellt sein muss, um den Herausforderungen der
Digitalisierung gewachsen zu sein.
Im letzten Schritt werden mittels einer Gap-Analyse konkrete Maßnahmen definiert,
welche es dem Unternehmen ermöglichen sollen, von dem IST auf das prognostizierte
SOLL zu kommen.
Da es sich bei diesem Modell um ein entwickeltes Modell des Unternehmen FME han­
delt, werden Beratungsleistungen gebraucht.

3.10.2 Anzahl der bewerteten Dimensionen.

Es werden fünf Hauptdimensionen (Strategie, Kultur, Prozesse & Organisation, Techno­


logie, Produkte & Leistung) bewertet, wobei jede der einzelnen Dimensionen aus weiteren
fünf Themenbereichen besteht.

3.10.3 Visuelle Darstellung des Modells

Eine visuelle Darstellung des Modells ist auf der Unternehmenswebseite verfügbar und
bietet auch einen Gesamtüberblick der bewerteten Dimensionen.
66 M. Gabriel

3.10.4 Alter des Modells

Es gibt keine Information über das Alter des Modells.

3.10.5 Fokussierung des Modells

Das Modell kann branchenübergreifend eingesetzt werden.

3.11 Ausblick & Fazit

Es gibt bereits eine Reihe von Übersichtsarbeiten zum Thema Reifegradmodelle der digi­
talen Transformation. Aktuell springen viele Institutionen wie Universitäten und Fach­
hochschulen als auch Unternehmen auf den Zug der digitalen Transformation auf und
entwickeln eigene Reifegradmodelle. Viele dieser Reifegradmodelle sind dabei an Be­
ratungsleistungen gebunden. Freie Reifegradmodelle findet man dagegen wesentlich sel­
tener am Markt. Dies mag zum einen daran liegen, dass die Entwicklung eines umfang­
reichen Reifegradmodells viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt und zum anderen
lässt sich mit der Beratung gutes Geld verdienen.

Was können Reifegradmodelle leisten


Reifegradmodelle können von hohem Nutzen sein, wenn es darum geht, Unternehmen zu
unterstützen, sich der gegenwärtigen Situation bewusst zu sein und eine Vision für die Zu­
kunft zu entwickeln. Die Modelle bieten meist einen stringenten Ansatz, welcher einen
klaren Vorgehensmodell folgt.

Was können Reifegradmodelle nicht leisten


Reifegradmodelle, egal von welchem Anbieter, können klar aufzeigen, wo man sich in der
digitalen Transformation befindet und wohin man gehen könnte. Viele Modelle bieten
auch Handlungsanweisungen oder Best Practices, um möglichst zu einem Sollzustand zu
gelangen, allerdings ist das Unternehmen schlussendlich selbst dafür verantwortlich, ob
und wie sie den Weg gehen.

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Martin Gabriel, MSc.,  ist seit mehreren Jahren in der Unterneh­


mensberatung und im Projektmanagement tätig, setzt er sich mit
­Vertriebs- und Marketingprozessen seiner Kunden auseinander. Sein
Schwerpunkt liegt dabei in der Entwicklung, Umsetzung und Ein­
führung von komplexen CRM & Marketingautomation Lösungen.
Vor seiner Beratertätigkeit hat er an der Fachhochschule Burgenland
den Bachelorstudiengang Information, Medien & Kommunikation
sowie darauf aufbauend den Masterstudiengang Businessprocess En­
gineering & Management studiert.
Digital Sales Excellence
Ein Modell zur Bewertung der digitalen Reife von
4
Vertriebsorganisationen

Maja Julia Malewski, Christian Ahlfeld und Sven Maihöfer

Zusammenfassung

An der Schnittstelle zwischen dem eigenen Unternehmen, den Kunden und den Wett-
bewerben entstehen für den Vertrieb mehrdimensionale Anforderungen, die im digi-
talen Wandel wachsenden Handlungsdruck aufkommen lassen. Die Treiber der Digi-
talisierung können entsprechend der Schnittstellenrolle des Vertriebs im digitalen
Umfeld zu drei Handlungsfeldern verdichtet werden: (1) Die Interaktionsformen mit
dem Kunden müssen aufgrund der sich verändernden Kundenbedürfnisse in Ver-
bindung mit der Digitalisierung von Buying Centern analysiert und neu ausgelegt
werden. (2) Die Abstimmung interner Vertriebsabläufe muss hinsichtlich der wach-
senden Anzahl technologischer Hilfsmittel und des zunehmenden Digitalisierungs-
grades des eigenen Unternehmens angepasst werden. (3) Es muss eine Analyse des
digitalen Umfeldes stattfinden, um sich zu positionieren, von den Markteilnehmern
abzugrenzen sowie vor neuen Konkurrenten zu schützen. Die Umsetzung einzelner
Maßnahmen ist in diesem Zusammenhang jedoch nicht hinreichend. Das Streben
nach digitaler vertrieblicher Exzellenz als höchste Entwicklungsstufe setzt die um-
fassende Weiterentwicklung einer Vertriebsorganisation voraus, in der eine Vielzahl

M. J. Malewski
Berlin, Deutschland
C. Ahlfeld (*) · S. Maihöfer
Ruhr-Universität Bochum, Lehrstuhl für Industrial Sales and Service Engineering,
Bochum, Deutschland
E-Mail: christian.ahlfeld@isse.rub.de; sven.maihoefer@isse.rub.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 69


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_4
70 M. J. Malewski et al.

von Maßnahmenpaketen in den Abläufen verankert und integriert umgesetzt werden


müssen. In der Praxis fehlen allerdings Handlungsanleitungen bzw. -empfehlungen,
die Unternehmen dabei unterstützen, ihre Vertriebsorganisation vor dem Hintergrund
einer zunehmenden Digitalisierung ganzheitlich weiterzuentwickeln.

Schlüsselwörter

Digitaler Reifegrad · Vertrieb · Digitalisierung · Vertriebsexzellenz ·


Vertriebsorganisation

4.1 Einleitung

Komplexer werdende Kundenanforderungen, neue Wettbewerber mit disruptiven Ge-


schäftsmodellen, eine wachsende Beschaffungskompetenz und die damit steigende Ein-
kaufsmacht von Kunden drängen Vertriebsorganisationen im Business-to-Business-­
Geschäft (B2B) dazu, die eigenen Interaktions- und Geschäftsmodelle grundlegend zu
hinterfragen (Gebhardt & Handschuh, 2016). Im Gegensatz zum endkundendominierten
bzw. -orientierten Business-to-Consumer-Geschäft (B2C), in dem digitale Technologien
den Vertrieb z. B. durch Online-Bestellprozesse regelrecht neu definiert haben (Devaraj
et  al., 2002), leisten die angebotenen Produkte und Dienstleistungen einen Beitrag zur
Wertschöpfung auf Seiten des abnehmenden Unternehmens und erfordern schon deshalb
ein bedeutend höheres Maß an direkter Zusammenarbeit, die aber, anders als in weiten
Teilen des B2C, nicht oder nicht vollständig durch den Einsatz z. B. einer Online-­Plattform
substituiert werden kann (Shea & Cain, 2018). Dieser als Digitalisierung bezeichnete
kontinuierliche Wandel impliziert im B2B neben der Überführung der Leistungserfüllung
aus dem analogen in den computerhandhabbaren Bereich vor allem auch die Weiter-
entwicklung von Geschäftsmodellen sowie von innerbetrieblichen Strukturen und Ab-
läufen (Fend & Hofmann, 2018; Wolf & Strohschen, 2018). An der Schnittstelle zwischen
dem eigenen Unternehmen, den Kunden und den Wettbewerben entstehen vor allem für
den Vertrieb folglich mehrdimensionale Anforderungen, die im digitalen Wandel wach-
senden Handlungsdruck aufkommen lassen; im Einzelnen lassen sich die folgenden sechs
zentralen Treiber identifizieren:

1. Eskalierende Kundenansprüche: Durch das Internet begünstigte Recherche- und


Vergleichsmöglichkeiten steigern die Anforderungen von Kunden an eine funktionie-
rende Kundenbeziehung (Gebhardt & Handschuh, 2016). Standardprozesse sollen
schnell und effizient ablaufen, während komplexe Problemlösungen durch eine persön-
liche Interaktion ermöglicht werden (Binckebanck, 2016a).
2. Digitalisierung der Buying Center: Durch den Einsatz digitaler Medien wachsen
Kunden in Bezug auf ihre Beschaffungskompetenz. Damit verändert sich der Vertriebs-
prozess zu einer Pull-Logik, in der Kunden darüber entscheiden, in welcher Form wel-
cher Anbieter in die Wertschöpfung integriert werden (Lang, 2012). Darüber hinaus
4  Digital Sales Excellence 71

bekleiden zunehmend Millenials Positionen in Buying Center, für die der Gebrauch
digitaler Medien in Entscheidungsprozessen zur Normalität gehört (IBM Institute for
Business Value, 2015).
3. Steigender Wettbewerbsdruck: Die fortschreitende Digitalisierung führt nicht nur zu
der Notwendigkeit, den Vertrieb international auszurichten (Badrinarayanan et  al.,
2011). Darüber hinaus wird es schwieriger, die Produktqualität als alleinigen Wett-
bewerbsvorteil zu nutzen. Die Differenzierung muss auch durch ein individuelles Ver-
triebssystem erreicht werden (Binckebanck, 2016a).
4. Neue Wettbewerber: Neue Wettbewerber drängen mit unkonventionellen Geschäfts-
modellen und Vertriebskompetenz auf den Markt. So beanspruchen z. B. digitale Ver-
kaufsriesen wie Alibaba oder Amazon immer mehr Marktanteile für sich, weil sie als
Distributoren oder Aggregatoren agieren (Lässig et al., 2015).
5. Bestehende digitale Unternehmensstrategie: Im Zuge der Digitalisierung integrieren
immer mehr Unternehmen immer neuere Technologien, vor allem in Produktions-
prozesse – die Schnittstelle zum Kunden wird aber oft vernachlässigt, sodass aus zur
Geltung gebrachten Kosten- bzw. Erfolgspotenzialen resultierende Vorteile nicht zum
Kunden finden (Lässig et al., 2015).
6. Revolution der Interaktionsformen: Der Einsatz mobiler Endgeräte, webbasierte
Kommunikation sowie die Einbindung sozialer Medien verändern die bisherige Kom-
munikation mit Kunden grundlegend (Niehaus & Emrich, 2016).

Die zuvor beschriebenen Treiber der Digitalisierung können entsprechend der Schnitt-
stellenrolle des Vertriebs zu drei zentralen Handlungsfeldern im digitalen Wandel ver-
dichten werden:

1. Die Interaktionsformen mit dem Kunden müssen aufgrund der sich verändernden
Kundenbedürfnisse in Verbindung mit der Digitalisierung von Buying Centern ana-
lysiert und neu ausgelegt werden.
2. Die Abstimmung interner Vertriebsabläufe muss hinsichtlich der wachsenden An-
zahl technologischer Hilfsmittel und des zunehmenden Digitalisierungsgrades des
eigenen Unter-nehmens angepasst werden.
3. Es muss eine Analyse des digitalen Umfeldes stattfinden, um sich zu positionieren,
von den Markteilnehmern abzugrenzen sowie vor neuen Konkurrenten zu schützen.

Die durch die Digitalisierung induzierten Veränderungen dürfen aber nicht nur als Treiber,
sondern müssen gleichzeitig auch als strategische Ressource verstanden werden, die ge-
zielt zur Steigerung der unternehmerischen Wettbewerbsfähigkeit eingesetzt werden kön-
nen (Binckebanck, 2016a; Ingram et al., 2002; Storbacka et al., 2009). Dabei ist besonders
die Digitalisierung der eigenen Wertschöpfungskette bis hin zur Kundeninteraktion zum
Zwecke der Individualisierung der eigenen Leistung von Bedeutung. In diesem Bereich
können die Wettbewerbsdifferenzierung und Kundenorientierung unterstützt und eine
nachhaltige Stärkung der Wettbewerbsposition erreicht werden. Insbesondere ermöglicht
72 M. J. Malewski et al.

die systematische Sammlung und Verarbeitung von Kundendaten den Aufbau eines ganz-
heitlichen Marktverständnisses, das zu individuellen Kundenlösungen, höherer Kunden-
zufriedenheit und in der Folge zu erhöhter Zahlungsbereitschaft und Kundenloyalität
führt. Die Digitalisierung im Vertrieb bietet daher drei zentrale Vorteile, die dem Gesamt-
unternehmen zugutekommen (Binckebanck, 2016a; Strauß, 2013):

1. Vereinfachte Identifizierung und Analyse von Kunden sowie deren Bedürfnissen zur
kundenspezifischen Ansprache.
2. Zeitersparnis bei der Gewinnung der relevanten Informationen.
3. Überführung von Kundendaten in Planungs- und Steuerungssysteme.

Vor dem beschriebenen Hintergrund wird deutlich, dass die Digitalisierung im Vertrieb
nicht ausschließlich auf den Einsatz digitaler Technologien reduziert werden darf; viel-
mehr impliziert diese im Sinne einer kundenorientierten Unternehmensführung (Bruhn,
2002, 2009, 2012) auch – und vielleicht auch gerade im digitalen Zeitalter die ganzheit-
liche Ausrichtung und Anpassung von Strukturen und Prozessen sowie von Informations-
systemen und nicht zuletzt auch von individuellen sowie kollektiven Denk- und Ver-
haltensweisen an sich immer schneller ändernde Kundenpräferenzen, an immer länger
werdende Verkaufsprozesse mit immer mehr Akteuren, die Einfluss auf die Kaufent-
scheidung nehmen, und an ein sich aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung ins-
gesamt kontinuierlich wandelndes im Umfeld.
In der Praxis fehlen allerdings Handlungsanleitungen bzw. -empfehlungen, die Unter-
nehmen dabei unterstützen, ihre Vertriebsorganisation im Hinblick einer zunehmenden
Digitalisierung ganzheitlich weiterzuentwickeln. Der vorliegende Beitrag beschreibt vor
diesem Hintergrund die Entwicklung eines Modells zur Bewertung der digitalen Reife von
Vertriebsorganisationen, das Unternehmen dabei unterstützen kann, die Vertriebs-
organisation zu analysieren und im Hinblick auf digitale Vertriebsexzellenz, zukunfts-
orientierte Organisationsformen und die Nutzung richtungsweisender Technologien
weiterzuentwickeln.

4.2 Gestaltungsebenen der Digitalisierung im Vertrieb

Vor dem Hintergrund der einleitend beschriebenen Herausforderungen ist zu konstatieren,


dass die Umsetzung einzelner Maßnahmen nicht hinreichend ist. Das Streben nach digita-
ler vertrieblicher Exzellenz, verstanden als die höchste Entwicklungsstufe einer Vertriebs-
organisation im digitalen Wandel, setzt eine umfassende Weiterentwicklung voraus, in der
eine Vielzahl von Maßnahmenpaketen in den Abläufen verankert und integriert umgesetzt
werden müssen. Denn digitale vertrieblicher Exzellenz wird vor allem durch (1) eine be-
darfsgerechte Auswahl an Technologien, (2) die Arbeitsweise einer agilen Organisation
und (3) Beschäftigte, die in ihrer täglichen Arbeit Kundenzufriedenheit und Innovation
anstreben, erreicht. In der Literatur ist eine Vielzahl von Vertriebskonzeptionen zu identi-
4  Digital Sales Excellence 73

fizieren, die zur Spezifizierung der Gestaltungsebenen bzw. -dimensionen, auf denen sich
die Weiterentwicklung einer Vertriebsorganisation im Zuge der Digitalisierung vollziehen
muss, herangezogen werden kann.
So stammt eine frühe und generische Definition von Tushman und O’Reilly (1996),
nach der die Struktur des Vertriebs als ein Konstrukt aus Menschen, Organisation, Füh-
rung und Kultur sowie kritischen Aufgaben, Prozessen und der damit einhergehenden
­Verwendung von Informationstechnologien zu verstehen ist, das im Sinne des Ansatzes
Structure follows Strategy mit der Strategie und Vision in Einklang stehen muss (Maier,
2015). Homburg et  al. (2012) beschreiben die Struktur einer exzellenten Vertriebs-
organisation und fassen die einzelnen Aufgaben exzellenter Vertriebsarbeit zu den vier
übergeordneten Dimensionen Vertriebsstrategie, Vertriebsmanagement, Informations-
management und Kundenbeziehungsmanagement unter Einbezug der Vertriebspersönlich-
keit als ein weiteres Element exzellenter Vertriebsarbeit zusammen, vgl. Abb. 4.1.
Binckebanck (2016b) präsentiert eine idealtypische Vertriebsstruktur im Sinne eines
klassischen Input-Process-Output-Modells, indem er die Elemente einer idealtypischen
Vertriebsorganisation grundlegend in strategische Grundsatzentscheidungen (Input) und
Vertriebsergebnisse und Controlling (Output) differenziert und die Führungsebene als
verbindendes Element zwischen der Konzeptionsebene und der Durchführungsebene (Pro-
cess) definiert, vgl. Abb. 4.2.

Abb. 4.1  Vertriebsstruktur nach Homburg et al. (2012)


74 M. J. Malewski et al.

Vertriebs- Vertriebs- Steuerungs- Kunden- Kultur &


ziele organisation systeme beziehung Philosophie

Konzeptionsebene
Bestandteile
Vertriebsarbeit

Strategische
Entscheidungen
Kunden-
segmentierung Führungs-
Definition von ebene als Vertriebser-
Wettbewerbs- verbindung gebnisse und
vorteilen und Trans- Controlling
Kundenbezie- mission
hungsstrategie
Vertriebska-
nalstrategie

Durchführungs-
ebene
Vertriebspersönlichkeit

Selbst- Persönlich-
Selbst- Soziale Fach-
verstand- keits-
organisation Kompetenz kompetenz
nis merkmale

Abb. 4.2  Vertriebsstruktur nach Binckebanck (2016b)

Der Vergleich der zuvor exemplarisch dargestellten Vertriebskonzeptionen verdeut-


licht, dass der Aufbau einer Vertriebsorganisation zwar grundsätzlich unterschiedlich defi-
niert werden bzw. sein kann; dennoch können allen Modellen bzw. Konzeptionen ge-
meinsame Merkmale ermittelt werden, wie z. B. die Vertriebsstrategie als übergeordneter
Führungsrahmen, die Operationalisierung der Vertriebsziele, die im Vertrieb Beschäftigten
als zentrale humane Ressource und als operatives Organ in einer Vertriebsorganisation
sowie die Informationsverarbeitung und die Bearbeitung der Kundenschnittstelle, vgl.
Abb. 4.3.
Vor dem Hintergrund des Ziels, ein Reifegradmodell zu entwickeln, das Unternehmen
in der praktischen Anwendung dabei unterstützt, den in Abschn.  4.1 beschriebenen
­Handlungsfeldern durch die ganzheitliche Weiterentwicklung ihrer Vertriebsorganisation
zu begegnen, bilden die in Abb. 4.3 herausgearbeiteten Gestaltungsdimensionen bzw. Ele-
mente einer idealtypischen Vertriebsorganisation die konzeptionelle Grundlage sowohl für
die Definition als auch die inhaltliche Ausgestaltung der Dimensionen des dem zu ent-
wickelnden Reifegradmodells zugrundeliegenden Frameworks zur Bestimmung der digi-
talen Reife von Vertriebsorganisationen.
4  Digital Sales Excellence 75

Abb. 4.3  Konzeption einer idealtypischen Vertriebsorganisation (Malewski et al., 2020)

4.3 Framework zur Bestimmung der digitalen Reife


von Vertriebsorganisationen

Im Rahmen der Modellbildung wurde sowohl wissenschaftliche als auch praxisbezogene


Literatur analysiert. Die in diesem Zusammenhang identifizierten und in Wissenschaft und
Praxis bestätigten Erfolgsfaktoren repräsentieren dabei keine singulären Erfolgs-
geschichten (Strauß, 2013), sondern sich häufende Praktiken, die die gesamtunter-
nehmerische Leistung nachweislich positiv beeinflusst haben, und schließen den Einsatz
von Technologien oder Anwendungen ebenso ein wie Neuerungen in Bezug auf
Organisationsstrukturen und Kompetenzen. Das Vorgehen zur Definition und inhaltlichen
Ausgestaltung der Dimensionen des Frameworks veranschaulicht Abb. 4.4.
Die Ergebnisse der Untersuchung von Strauß (2013), der die Praxis im Digitalgeschäft
auf Basis von 34 Einzelinterviews und einer anschließenden Befragung von 138 Unter-
nehmen untersucht und zu digitalen Spitzenleistungen verdichtet hat, bilden die Grund-
lage für die Modellbildung und darin insbesondere für die Konzeptualisierung der Dimen-
sionen des Frameworks, weil diese z.  B. sowohl den Einsatz neuer Technologien zur
Informationsverarbeitung als auch Veränderungen in Bezug auf organisationale Struktu-
ren und Kompetenzen berücksichtigen und damit mit den zuvor beschriebenen Elemente
einer idealen Vertriebskonzeption korrespondieren. Die insbesondere für eine Vertriebs-
organisation relevanten Spitzenleistungen wurden unter Einbezug der von Binckebanck
(2016a) beschriebenen Determinanten der Digital Sales Excellence bzw. der Erfolgs-
faktoren im E-Business sukzessive zu insgesamt sechs Dimensionen verdichtet und auf
Basis der Ergebnisse weiterführender Literaturanalysen zu spezifischen Aspekten (vgl.
Tab. 4.1) inhaltlich ergänzt. In der Gesamtheit stellen die im weiteren Verlauf hinsichtlich
ihrer inhaltlichen Grundzüge charakterisierten Dimensionen damit einen Überblick über
mögliche Implikationen der digitalen Transformation für eine Vertriebsorganisation dar.

(1) Strategie und Planung  In der Strategie sind im digitalen wie im klassischen Vertrieb
neben den zu erreichenden Vertriebszielen auch Entscheidungen z. B. im Hinblick auf die
76 M. J. Malewski et al.

Abb. 4.4  Vorgehen im Rahmen der Modellbildung (Malewski et al., 2020)

Markt- und Kundenbearbeitung sowie im Hinblick auf Absatzkanäle und Vertriebspartner


verankert (Hofbauer & Hellwig, 2016). Die Dimension Strategie und Planung (vgl.
Abb.  4.5) umfasst deshalb jene Erfolgsfaktoren, die für eine Vertriebsorganisation hin-
sichtlich strategischer Entscheidungen, vor allem solcher zur Stärkung der Position im
Wettbewerb, von Bedeutung sind.

(2) Customer Relation  Die effiziente Gestaltung der Kundenkommunikation, eine mög-
lichst individuelle Kundenbearbeitung und die daraus resultierende Stärkung der Kunden-
beziehungen kann durch den Einsatz digitaler Informations- und Kommunikationstechno-
4  Digital Sales Excellence 77

Tab. 4.1  In Ergänzung untersuchte inhaltliche Themen


Beispiele weiterer untersuchter Themen Beispiele untersuchter Quelle
Technologieradar Bullinger (2012)
Technologiefilterung Amberg et al. (2011)
Befähigung von Mitarbeiter:innen z. B. zur Nutzung Möhrle und Isenmann (2017)
neuer Technologien
Entwicklung bzw. Einkauf neuer Technologie Schuh et al. (2011)
Implementierung neuer Technologien Specht et al. (2017)
Überprüfung bestehender Technologien Gerybadze (2004)
Customer Experience, Customer Journey Rusnjak und Schallmo (2018)
Agiles Organisationsmanagement BearingPoint (2018)

Dimension Strategie und Planung: Entwicklung einer Safes Digitalstrategie und Vorgabe digitaler Erfolgsfaktoren

Strategie
Digitale Spitzenleistungen
und Planung

Markt-, Wettbewerbs- und Kundenanalyse zur


Softwaregestützte Analysen Ausgestaltung einer digitalen
a Vertriebsstrategie
Definition einer Vertriebskanalstrategie unter
Multi-Channel-Nutzung
Elemente der Ausgestaltung eines Multi- oder Omni-
Omni-Channel-Nutzung b Channel-Vertriebs
Vertriebsstrategie
Vertriebsstrategie Definition einer Kundenbeziehungsstrategie
Customer Experience
Kundenbeziehung c zur Optimierung der Customer Experience
Kundenbeziehungs- Definition eine Marktpositionierung durch
Vertriebskanalstrategie führerschaft Kundenbeziehungsführerschaft/Indivi-
Individualisierung d dualisieung (Wettbewerbsvorteile)
Wettbewerbsvorteile
Digitalisierungsgrad von Kunden oder
Kundensegmentierung Softwaregestützte Analysen Vertriebspartnem als weiteres Kriteriun zur
e Segmentierung

KPI, die Digitalisierung Planung und Steuerung durch KPI, die die
messbar machen f Digitalisierung einbeziehen
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.5  Entwicklung und Inhalte der Dimension Strategie und Planung. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

logien unterstützt werden. Deshalb umfasst die Dimension Customer Relation (vgl.
Abb.  4.6) jene Erfolgsfaktoren, die für eine Vertriebsorganisation in Bezug auf die Be-
arbeitung von Kunden relevant sind, um ein exzellentes Kundenbeziehungsmanagement
zu gewährleisten.

(3) Fähigkeit und Kultur  Da der digitale Wandel nicht nur strukturelle Veränderungen
impliziert, sondern auch die Zusammenarbeit und damit die Vertriebskultur verändert, ver-
eint die Dimension Fähigkeit und Kultur (vgl. Abb. 4.7) jene Erfolgsfaktoren, die dazu
beitragen, dass Kompetenzen auf fachlicher und persönlicher Ebene des Einzelnen und im
Kollektiv gestärkt werden. Diese reichen z. B. von der Anpassung der Vertriebskultur an
sich verändernde Rahmenbedingungen über die zielgerichtete Kommunikation von Ver-
änderungen an Mitarbeitende bis zum Einsatz von Blended-Learning zur Unterstützung
der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Mitarbeitenden.
78 M. J. Malewski et al.

Dimension Customer Relation: Die Kundeninteraktion entwickelt sich zum Social Selling und wird durch Technologien effizienter gestaltet

Digitale Spitzenleistungen Customer Relation

Einbindung von Social-Media-Kanälen zur


Social Media Kanäle
a Unterstützung der Kontaktaufuahme

Elemente des Integration von Technologien, die dem


Kommunikationstools
Kundenbeziehungs- b Kunden Self-Services ermöglichen
managements
Erbringung ausgewählter Value-Added-
Key Account Management VAS
c Services in der Kundenarbeit
Außendarstellung
Weiterentwicklung zum Social Selling
Konzept des Social Selling
Beschwerdemanagement (Listening - Analyzing - Collaborating)
d
Value-Added-Services Nutzung eines CRM-2.0-Systems
CRM 2.0 für Kundenkontakt und
Beziehungsmanagement e Informationsgenerierung

Unterstützung von Verkaufs-


VR/AR
präsentationen durch VR/AR
f
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.6  Entwicklung und Inhalte der Dimension Customer Relation. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dimension Fähigkeit und Kultur: Eine ausgestaltete Vertriebstkultur und digitale Kompetenzen der Vertriebsmitarbeiter

Digitale Spitzenleistungen Fähigkeit und Kultur

Digitale Unternehmenskultur Ausarbeitung einer Vertriebskultur anhand von


Markenidentität a Unternehmenskultur und Markenidentität

Vertriebskultur und Sales Zielgerichtete Kommunikation der


Transparente Zusammenarbei
Personality b Digitalstrategie und der Veränderungen

Definition einer Veriebskultur Customer Touchpoint Selbstverständnis der Vertriebsabteilung als


Customer Experience c Customer Touchpoint im Rahmen der CX
Selbstverständnis der MA

Sales Personality: Digital Skills der Vertriebsmitarbeiter


Technologische Kompetenz
Wahmehmungsfähigkeit d enwickeln (sozial, fachlich, technologisch)
Freundlichkeit
Teamfähigkeit Selbstverständnis der Vertriebspersönlichkeit
Flexibilität Digital Sales Personality
e entsprechend der Digital Sales Personality

Einsatz von Blended Learning, on-/offline


Blended Learning
f Anwendung zur stetigen Weiterentwicklung
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.7  Entwicklung und Inhalte der Dimension Fähigkeit und Kultur. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

(4) Organisation und Prozesse  Die Dimension Organisation und Prozesse (vgl. Abb. 4.8)
umfasst einerseits jene Erfolgsfaktoren, die die quantitativen Ergebnisgrößen der
­Vertriebsleistung, wie z.  B.  Deckungsbeiträge oder Quoten, bedingen (Homburg et  al.,
2012). Andererseits ist es für den Erfolg einer Vertriebsorganisation im digitalen Wandel
unumgänglich, die internen Abläufe so anzupassen, dass die Organisation den aus der
Digitalisierung im Umfeld resultierenden Veränderungen bestmöglich gewachsen ist (Be-
aringPoint., 2018).
4  Digital Sales Excellence 79

Dimension Organisation und Prozesse: Implementierung und Anwendung eines CRM 2.0 (Social CRM oder Collaborative CRM)

Organisation
Digitale Spitzenleistungen und Prozesse

Schaffung einer dezentralen Aufbauorgani-


Dezentralisierung
a sationen und definierter Aufgabenbereiche

Definition einer agilen Ablauforganisation mit


Agiles Arbeiten
Operative Elemente des b Klaren Umsetzungsverantwortlichkeiten
Vertribsmanagements
Operationalisierung von Vertriebszielen in
Organisation Transparente Zusammenarbei
c Absprache mit Organen der Lieferkette
Interne Abläufe
Automatisierung Automatisierung, Optimierung und
Erreichung der Virtualisierung d Virtualisierung der internen Prozesse
Vertriebsziele Einbindung mobiler Endgeräte in die
Einsatz mobiler Endgeräte
e Vertriebstätigkeit (Mobile Business)

Implementierung eines CRM 2.0


CRM 2.0
f (Social CRM oder Collaborative CRM)
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.8  Entwicklung und Inhalte der Dimension Organisation und Prozesse. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

(5) IT und Controlling  Informations- und Steuerungssysteme unterstützen die Arbeit im


Vertrieb, weil diese sowohl Markt-, Kunden- und Wettbewerbsinformationen (Market In-
telligence) als auch Informationen in Bezug auf die eigenen Abläufe (Business Intelli-
gence) erfassen, analysieren und adressatengerecht aufbereitet zur Verfügung stellen – und
damit die Grundlage für die strategische Vertriebsplanung und -steuerung bilden (Hom-
burg et al., 2012). Die Dimension IT und Controlling (vgl. Abb. 4.9) umfasst daher jene
Erfolgsfaktoren im Zusammenhang mit der Generierung von für den Vertrieb relevantem
Wissen, z. B. über Verhaltensweisen, Präferenzen und Bedürfnisse von Kunden (Leußer
et al., 2011), um Maßnahmen zur kontinuierlichen Verbesserung oder Anpassung der ope-
rativen (Geschäfts-) Prozesse abzuleiten.

(6) Technologietrends  Der digitale Wandel impliziert auch für den Vertrieb vielfältige
Möglichkeiten der Weiterentwicklung. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass der Vertrieb
häufig nur „mitdigitalisiert“ wird und oftmals auf die Einführung eines Customer-­
Relationship-­
Management- oder eines Enterprise-Resource-Planning-Systems be-
schränkt bleibt (Elste, 2016). Vor diesem Hintergrund gilt es, die für den Vertrieb
­relevanten Entwicklungen, maßgeblich, aber nicht ausschließlich in Bezug auf Informa-
tions- und Steuerungssysteme sowie neue Möglichkeiten und Formen der Market oder
Business Intelligence, zu erkennen (Schuh et al., 2011). Die Dimension Technologie-
trends (vgl. Abb.  4.10) umfasst deshalb die zur Identifikation, Bewertung und
­Implementierung (informations-) technischer Lösungen im Vertrieb relevanten Erfolgs-
faktoren.
80 M. J. Malewski et al.

Dimension IT und Controlling: Einsatz digitaler Technologien und IT-Systeme zur vertriebsorientierten Datenverarbeitung

Digitale Spitzenleistungen IT und Controlling

Überührung der lokalen IT-Infrastruktur


Cloud Lösungen
a in eine Cloud-Infrastruktur

Elemente des Reduzierung von Datensilos, Aggegation von


Informationsmanagements Cloud Lösungen
b Daten zu aussagekräftigen Informationen
Kundeninformationen
Einsatz von Big Data zur Erfassung und
Big Data
Marktinformationen c Aufbereitung kundenbezogener Daten

Wettbewerberinformationen Einsatz von Business Intelligence zur Verar-


Business Intelligence
d beitung intemer vertriebsrelevanter Daten
interne Informationen
Einsatz von Market Intelligence zur
Überführung der Daten ins Market Intelligence Marktanalyse und Generierung von
CRM e Informationsvorsprüngen

CRM 2.0 Auswahl und Einführung eines CRM 2.0


f
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.9  Entwicklung und Inhalte der Dimension IT und Controlling. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dimension Technologietrends: Innovationen auf dem Markt werden erkannt und zur Steigerung der Vertriebsleistung in die Abteilung überführt

Digitale Spitzenleistungen Technologietrends

Etablierung einer Art Technologie-


Technologiemanagement
a management für den Vertrieb

Technologiefrüherkennung als
Technologieradar
Elemente Technologischer b übergreifender Prozess
Trends
Methoden der Technologieplanung und
Technologie Scans Wirkungsanalyse ausführliche Wirkungsanalyse
c
Technologieauswahl
Einkauf/Entwicklung zur Optimierung der
Technologieeinkauf
Integration d Vertriebsprozesse (z. B. RPA, Al, etc.)

Iterative Anpassung Begleitung und Sicherstellung der


Schnittstellenarbeit
e Implementierung der Technologie

Stetige Überprüfung der eingesetzten Tech-


Feedback & Feed Forward
f nologien hinsichtlich der Marktentwicklung
Sales Excellence Digital Sales Excellence

Abb. 4.10  Entwicklung und Inhalte der Dimension Technologietrends. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

Das entwickelte Framework stellt einen für eine Vertriebsorganisation einheitliche Ele-
mente definierenden State of the Art dar. Durch die konsequente Ausrichtung der Dimen-
sionen an den drei in Abschn. 4.1 herausgearbeiteten zentralen Handlungsfeldern ist es auf
dieser Grundlage möglich, die notwendigen Gestaltungsaufgaben zu strukturieren und die
Implikationen der mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen transparent zu
machen und damit eine strukturierte Weiterentwicklung einer Vertriebsorganisation zu ini­
tiieren.
4  Digital Sales Excellence 81

4.4 Weiterentwicklung zu einem Reifegradmodell

Eine Möglichkeit zur Initiierung und zielgerichteten (digitalen) Transformation einer


Organisation bieten Reifegradmodelle, die als spezielle Form eines Kompetenzmodells
angesehen werden können (Ahlemann et al., 2005). Die Besonderheit von Reifegrad-
modellen besteht darin, dass die Erfüllung zuvor definierter Anforderungen im Sinne
eines zu erreichenden Soll-Zustandes in eine sequenzielle, d. h. in eine aufeinander auf-
bauende Ordnung (ausgedrückt durch sog. Reifegrade) gebracht werden kann (Grande,
2014; Knackstedt et al., 2009). So wird es durch den Abgleich des gegenwärtigen Ist- mit
einem definierten Soll-Zustand einerseits möglich, individuelle Entwicklungspotenziale
und -bedarfe zu ermitteln und sogar damit korrespondierende Handlungsmaßnahmen
abzuleiten. Andererseits ermöglichen Reifegradmodelle auch einen Vergleich mit ande-
ren Organisationen im Sinne eines Benchmarkings (Wolf & Strohschen, 2018).

Methodisches Vorgehen  Das Vorgehen zur Weiterentwicklung des in Abschn.  4.3 be-
schriebenen Frameworks zur Bestimmung der digitalen Reife von Vertriebsorganisationen
zu einem Reifegradmodell folgt im Wesentlichen dem von Knackstedt et al. (2009) be-
schriebenen Vorgehensmodell zur Entwicklung von Reifegradmodellen. Vor dem Hinter-
grund der von den Autoren formulierten Forderungen nach einem iterativen und vor allem
multimethodischen Vorgehen einerseits und einer kontinuierlichen Evaluierung anderer-
seits, wurden zunächst die Inhalte der Dimensionen des Frameworks in Kooperation mit
Expert:innen einer international tätigen Management- und Technologieberatung im Rah-
men einer mehrstufigen, schriftlichen Online-Befragung auf Vollständigkeit, inhaltliche
Konsistenz und Problemadäquanz überprüft, vgl. Abschn. 4.4.1.

Im Rahmen auf dieser Befragung aufbauender Workshops mit weiteren Expert:innen


wurden daraufhin insgesamt fünf generische Reifegradstufen entwickelt (vgl. Abschn. 4.4.2)
und in einem wiederum iterativen Vorgehen mit einer sehr hohen Detailtiefe so auf jede
Dimensionen des Frameworks adaptiert, dass auch Handlungsempfehlungen für die ganz-
heitliche Weiterentwicklung einer Vertriebsorganisation im digitalen Wandel entwickelt
werden konnten, vgl. Abschn. 4.4.3.
Die Entscheidung zur Durchführung von Workshops basiert im Wesentlichen auf der
mit diesen einhergehenden Ergebnisperspektive: Im Rahmen eines Workshops befasst sich
eine Gruppe von Personen – i. d. R. losgelöst von ihrem Arbeitsalltag – mit einem be-
stimmten Thema und generiert (zumeist unter Zeitdruck) auf Basis einer oder mehrerer
konkreter Arbeitsaufgaben ein konkretes Ergebnis (Lipp & Will, 2008; Schiersmann &
Thiel, 2018). Abgesehen von der konkreten Ergebnisperspektive war darüber hinaus der
Umstand, dass die Zusammenarbeit im Rahmen von Workshops auch die Kreativität sowie
die Motivation der Teilnehmer:innen fördert, ausschlaggebend für die Entscheidung zur
Durchführung von Workshops. Für diese wurden deshalb das Format von Konzeptions-
workshops (Lipp & Will, 2008) gewählt, um den teilnehmenden Expert:innen (vgl.
Tab. 4.2) die größtmögliche Freiheit zu eröffnen, ihre jahrelange Praxiserfahrung in die
Zusammenarbeit einfließen zu lassen.
82 M. J. Malewski et al.

Tab. 4.2  Übersicht der an den Workshops teilnehmenden Expert:innen


Bezeichnung Fachgebiet bzw. Spezialisierung Erfahrung
Senior Consultant Digitale Transformation in der Konsumgüter- und > 5 Jahre
Automobilbranche, Erfahrung im technischen Vertrieb
und Supply Chain Management
Sales Director Vertrieb von CRM-Lösungen und > 20 Jahre
Beratungsdienstleistungen
Manager Digitale Transformation mit dem Schwerpunkt > 7 Jahre
Organisationsanalyse und -entwicklung
Partner Customer Management, digitale Transformation in der > 25 Jahre
Konsumgüterindustrie und im Handel
Senior Manager Business Development Automotive und IT-Themen, > 12 Jahre
Schwerpunkt eMobility
Senior Manager Globale strategische Digitaltransformationsprojekte mit > 20 Jahre
dem Schwerpunkt digitale Geschäftsmodelle,
Prozessoptimierung und agiles Management
Senior Business Sales- und Key-Account-Management > 10 Jahre
Development Manager

Vor dem Hintergrund der mit den Workshops verbundenen Ziele wurden diese grund-
legend in zwei Phasen differenziert: Das Ziel der ersten Phase bestand darin, den Begriff
Digital Sales Excellence vor dem Hintergrund der in Abschn. 4.2 beschriebenen Elemente
einer idealtypischen Vertriebskonzeption möglichst präzise zu definieren und die Aus-
wirkungen der durch den digitalen Wandel induzierten Veränderungen im Spannungsfeld
zwischen Mensch (z. B. in Bezug auf einen notwendig werdenden Mindshift), Technik
(z. B. in Bezug auf den Einsatz und die Nutzung neuer Technologien) und Organisation
(z. B. in Bezug auf Aufbau- und Ablauforganisation) zu beschreiben. Das Ziel der zweiten
Phase bestand aufbauend auf den Ergebnissen der ersten Phase darin, möglichst konkrete
Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die Unternehmen dabei unterstützen, ihre Ver-
triebsorganisation zu analysieren und im Hinblick auf digitale Vertriebsexzellenz, zu-
kunftsorientierte Organisationsformen und die Nutzung richtungsweisender Technologien
weiterzuentwickeln.

4.4.1 Überprüfung des Frameworks

Die Grundlage für die Überprüfung der Dimensionen des Frameworks auf Vollständig-
keit, inhaltliche Konsistenz und Problemadäquanz bildet eine mehrstufige, schriftliche
Online-­Befragung von insgesamt 15 Expert:innen (Consultants mit einer Beratungs-
erfahrung von mind. zwei Jahren in) einer international tätigen Management- und
Technologieberatung. Im Rahmen der Online-Befragung wurden drei verschiedene
Fragetypen verwendet:
4  Digital Sales Excellence 83

• Fragen vom Fragetyp 1 sind als geschlossene Fragen mit dem Ziel gestaltet, die Rele-
vanz der einzelnen inhaltlichen Aspekte im Hinblick auf die jeweilige Dimension des
Frameworks auf einer Likert-Skala von 1 (wenig relevant) bis 10 (sehr relevant) zu
beurteilen. In Verbindung mit jeder Frage dieses Typs wird außerdem abgefragt, ob der
im Fokus stehende inhaltliche Aspekt auch in Verbindung mit einer anderen Dimension
des Frameworks gebracht werden könnte (Einfachauswahl: Ja oder Nein).
• Fragen vom Fragetyp 2 sind in logischer Fortführung (logic jump) der Fragen vom
Fragetyp 1 ebenfalls als geschlossene Fragen mit dem Ziel gestaltet, Verbindungen des
jeweils im Fokus stehenden inhaltlichen Aspekts mit anderen Dimensionen des Frame-
works zu identifizieren. Aus diesem Grund sind hier Mehrfachnennungen durch Aus-
wahl vorgegebener Antworten, wie z. B. Strategie und Planung oder Fähigkeiten und
Kultur, also der Dimensionen des Frameworks, möglich.
• Fragen vom Fragetyp 3 sind ebenfalls als geschlossene Fragen (Einfachauswahl: Ja
oder Nein) mit dem Ziel gestaltet, die Einhaltung des sog. MECE-Prinzips (vgl. Blok-
dyk, 2018) zu überprüfen bzw. die inhaltliche Überschneidungsfreiheit der inhaltlichen
Aspekte in jeder einzelnen Dimension des Frameworks zu gewährleisten. Bei Fragen
dieses Fragetyps besteht im Falle der Verneinung der Frage die Möglichkeit, in einem
Freitextfeld Kommentare, inhaltliche Ergänzungen oder Konkretisierungen usw.
anzugeben.

Inhaltliche Überprüfung der Dimensionen  Für die inhaltliche Validierung der Dimen-
sionen des Frameworks auf Basis der Antworten auf die Fragen des Fragetyps 1 wurde
aufgrund der geringen Stichprobengröße (n  =  15) eine Auswertung auf der Grundlage
arithmetischer Mittelwerte gewählt; darüber hinaus wird aufgrund der spezifischen Aus-
richtung der Befragung angenommen, dass keine Störgrößen zu berücksichtigen sind. Zur
Beurteilung der Ergebnisse der Online-Befragung im Hinblick auf u. U. notwendig wer-
dende inhaltliche Anpassungen einzelner inhaltlicher Aspekte, einzelner Dimensionen
oder des Frameworks insgesamt wurden folgende Grenzwerte sowie damit korrespondie-
rende Maßnahmen festgelegt, vgl. Tab. 4.3.

Auch wenn die durchschnittliche Bewertung in Bezug auf die sechs Dimensionen einen
Wert erreicht, auf dessen Basis das Framework in Einklang mit den vorgenannten Rahmen-
bedingungen insgesamt als akzeptiert angesehen werden kann, liegen die ­durchschnittlichen
Bewertungen z. T deutlich unterhalb der definierten Grenzen, ab der ein Aspekt oder eine
Dimension als akzeptiert angesehen werden kann, vgl. Tab. 4.4.
Zwar wurde keiner der insgesamt 36 abgefragten inhaltlichen Aspekte schlechter als
mit dem Wert 4 bewertet, dennoch erreichen insgesamt 13 inhaltliche Aspekte aus den
Dimensionen Strategie und Planung, Customer Relation, Fähigkeit und Kultur, Organisa-
tion und Prozesse sowie Technologietrends keinen Wert, der eine Akzeptanz im zuvor be-
schriebenen Sinne rechtfertigt. In Einklang mit den in Tab. 4.3 festgelegten Maßnahmen
wurden diese Aspekte deshalb in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Expert:innen kri-
84 M. J. Malewski et al.

Tab. 4.3  Festlegung der Ergebniswerte und resultierender Maßnahmen


Ergebniswert Zu ergreifende Maßnahmen
< 4,0 Aspekt, Dimension oder Framework muss überarbeitet werden.
4,0 ≤  < 8,0 Aspekt, Dimension oder Framework muss kritisch hinterfragt und mit
Unterstützung von Expert:innen überarbeitet werden.
8,0 ≤  < 10,0 Aspekt, Dimension oder Framework ist als akzeptiert anzusehen.

Tab. 4.4  Durchschnittliche Bewertungen der Inhalte (a–f) der Dimensionen (1–6)

(1) (2) (3) (4) (5) (6)

a 9,47 7,40 8,73 6,67 8,53 6,33

b 8,60 8,13 8,60 8,60 9,00 8,00

c 8,67 7,80 8,47 7,93 8,93 7,93


8,49 7,32 8,29 8,10 8,77 7,87
d 7,40 7,27 8,80 8,67 9,00 7,67

e 8,48 7,40 8,60 8,93 8,87 9,20

f 8,33 5,93 6,53 7,80 8,27 8,07

tisch hinterfragt und inhaltlich überarbeitet. Auf diese Weise wurden die inhaltlichen As-
pekte wie folgt überarbeitet, vgl. Tab. 4.5.
Für die Auswertung der Antworten auf die Fragen des Fragetyps 3 wurde auch deshalb
ein qualitatives Vorgehen gewählt, weil bereits im Vorfeld der Online-Befragung an-
genommen werden konnte, dass aufgrund des Umfangs der Befragung (in Abhängigkeit
von dem individuellen Antwortverhalten mind. 71 Fragen, max. 107 Fragen) nur wenige
Expert:innen die Möglichkeit wahrnehmen würden, in einem Freitextfeld zusätzliche
Kommentare, inhaltliche Ergänzungen oder Konkretisierungen auszuführen. Erwartungs-
gemäß nutzten auch nur zwei der insgesamt 15 Expert:innen diese Möglichkeit; im Nach-
gang zu der Online-Befragung wurde jedoch von einem Großteil der befragten Expert:in-
nen auf unterschiedlichen, teilweise informellen Wegen zurückgemeldet, dass die
Dimensionen IT und Controlling sowie Technologietrends inhaltlich nur schwerlich bzw.
gar nicht voneinander zu trennen seien. In Verbindung mit der ohnehin vergleichsweise
sehr niedrigen Bewertung des inhaltlichen Aspektes 6a der Dimension Technologietrends
(vgl. Tab. 4.4) wurde deshalb die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Fortbestandes der ge-
samten Dimension gestellt.
Die kritische Diskussion dieser Frage mit den jeweiligen Expert:innen führte im Ergeb-
nis dazu, die beiden ursprünglichen Dimensionen IT und Controlling sowie Technologie-
trends zu einer einzigen Dimension IT und Technologie (vgl. Abb. 4.11) zu vereinen und
in dieser jene Erfolgsfaktoren zu integrieren, die zur Etablierung und Aufrechterhaltung
einer bedarfsgerechten Technologie- bzw. IT-Landschaft im Vertrieb beitragen. Im Hin-
blick auf die Kundenbearbeitung unterstützen besonders Analyse- und Steuerungssysteme
die Vertriebsorganisation, weil den Mitarbeitenden vertriebsrelevante Markt-, Kunden-
4  Digital Sales Excellence 85

Tab. 4.5  Ergebnis der inhaltlichen Überarbeitung ausgewählter Aspekte


Aspekt Ursprüngliche Bedeutung Bedeutung nach Überarbeitung
1d Definition einer Marktpositionierung durch Definition einer Marktpositionierung
Kundenbeziehungsführerschaft/ durch stringente Kundenbearbeitung mit
Individualisierung (Wettbewerbsvorteile) der Möglichkeit der
Leistungsindividualisierung
2a Einbindung von Social-Media-Kanälen zur Nutzung für das Unternehmen relevanter
Unterstützung der Kontaktaufnahme Kanäle in den sozialen Medien
2c Erbringung ausgewählter Value-Added-­ Erbringung zusätzlicher Dienstleistungen,
Services in der Kundenarbeit die vom Kunden nutzenstiftend
wahrgenommen werden
2d Weiterentwicklung zum Social Selling Individuelle Anpassung der Ansprache/des
(Listening – Analyzing – Collaborating) Austausches zwischen Außendienst und
Kunden (Social Selling)
2e Nutzung des CRM-2.0-Systems für Nutzung einer zeitgemäßen CRM-Lösung
Kundenkontakt und für Kundenkontakt und
Informationsgenerierung Informationsgenerierung
2f Unterstützung von Verkaufspräsentationen Unterstützung von Verkaufspräsentationen
durch VR/AR durch VR/AR für entsprechende Produkte
oder Dienstleistungen
3f Anwendung des Blended Learning, on- und Anwendung des Blended Learning, d. h.
offline Anwendung zur stetigen on- und offline Anwendungen zum
Weiterentwicklung stetigen, persönlichen Wissensaufbau
4a Gliederung einer dezentralen Sinnvolle Festlegung der regionalen
Aufbauorganisationen mit definierten Entscheidungsbefugnisse in der
Aufgabenbereichen Vertriebsorganisation
4c Definition und Operationalisierung von Definition und Operationalisierung von
Vertriebszielen in Absprache mit Organen Vertriebszielen in Absprache mit der
der Lieferkette internen Leistungserstellung
4f Implementierung und Anwendung des CRM Implementierung und Anwendung einer
2.0 (Social CRM oder Collaborative CRM) zeitgemäßen CRM-Lösung
6a Etablierung einer Art Ausgestaltung eines
Technologiemanagements für den Vertrieb Technologiemanagements, das die
Vertriebszielen berücksichtigt
6c Technologieplanung und ausführliche An den Vertriebszielen ausgerichtete
Wirkungsanalyse Technologieplanung und ausführliche
Wirkungsanalyse
6d Einkauf bzw. Entwicklung zur Optimierung Einkauf bzw. Entwicklung passender
der Vertriebsprozesse (z. B. RPA, AI usw.) Technologie zur Optimierung der
Vertriebsprozesse (z. B. RPA, AI usw.)

und Wettbewerbsinformationen, aber auch Informationen über die eigenen Abläufe zur
Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus wird auch die Weiterentwicklung bestehender
Technologien berücksichtigt  – hinsichtlich der Passgenauigkeit der bereits eingesetzten
Systeme, beispielsweise eines CRM- oder ERP-Systems, sind z. B. Trend- und Bedarfs-
analysen Teil der neu geschaffenen Dimension.
86 M. J. Malewski et al.

Abb. 4.11  Entwicklung und Inhalte der Dimension IT und Technologie. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

Untersuchung der Zusammenhänge  Die Fragen des Fragetyps 2 zielen darauf ab, Zu-
sammenhänge zwischen den Dimensionen des Frameworks zu identifizieren. Vor diesem
Hintergrund wurde eine einfache Einflussanalyse zur Auswertung der Ergebnisse der On-
line-Befragung mit dem Ziel durchgeführt zu bestimmen, in welchem Maß welche Di-
mension beeinflusst wird bzw. in welchem Maß eine Dimension Einfluss auf andere Di-
mensionen nimmt. Zur Ermittlung des Beziehungsgefüges innerhalb des Frameworks
wurden zunächst die arithmetischen Mittelwerte aus den Antworten auf die Fragen des
Fragetyps 2 zur Ermittlung Zusammenhänge zwischen den Dimensionen ermittelt, vgl.
Tab. 4.6.

Im Ergebnis wird deutlich, dass die Dimension (1) Strategie und Planung die durch-
schnittlich höchste Anzahl von Verbindungen zu anderen Dimensionen aufweist und
damit eine aktiv beeinflussende Rolle im Beziehungsgefüge einnimmt. Dieser Umstand
ist ­insofern erwartungsgemäß, weil diese Dimension vor dem Hintergrund ihrer inhalt-
lichen Bedeutung (vgl. Abschn.  4.3) die in allen anderen Dimensionen zu treffenden
Entscheidungen determiniert. Die im Durchschnitt ähnlich hohe Anzahl von Ver-
bindungen der Dimension (2) Customer Relation zu anderen Dimensionen ist insofern
zu begründen, als dass sich in dieser Dimension die in strategischer Hinsicht getroffenen
Entscheidungen in konkreten Maßnahmen bzw. Aktionen operativer Natur manifestie-
ren, für deren Durchführung bestimmte Voraussetzungen z. B. in struktureller und pro-
zessualer sowie technologischer Hinsicht notwendig sind, die wiederum Bestandteil
anderer Dimensionen („Befähigerdimensionen“) sind. Vor diesem Hintergrund sind des-
halb die bei kumulierter Betrachtung aller Verbindungen zwischen den Dimensionen
4  Digital Sales Excellence 87

Tab. 4.6  Identifizierte Verbindungen zwischen den Dimensionen (1–6)

(1) (2) (3) (4) (5) (6) ∑ µn


(1) 55 41 50 39 29 214 43
(2) 31 41 61 43 33 209 42
(3) 25 56 34 11 17 143 29
(4) 25 23 34 46 37 165 33
(5) 24 33 26 32 49 164 33
(6) 22 17 37 43 49 168 34
µn beschreibt den Mittelwert der von einer Dimension n ausgehenden Verbindungen zu anderen
Dimensionen; dabei gilt: Je größer der Wert ist, den µn annimmt, desto größer ist der Einfluss der
Dimension n im Beziehungsgefüge.

μn beschreibt den Mittelwert der von einer Dimension n ausgehenden Verbindungen zu anderen Di-
mensionen; dabei gilt: Je größer der Wert ist, den μn annimmt, desto größer ist der Einfluss der Di-
mension n im Beziehungsgefüge.

Tab. 4.7  Kumulierte Betrachtung der Verbindungen zwischen den Dimensionen (1–6)

(1) (2) (3) (4) (5) (6) ∑


(1) 86 66 75 63 51 341
(2) 97 84 76 50 307
(3) 68 37 54 159
(4) 78 80 158
(5) 98 98
(6)

vergleichsweise zahlreichen Verbindungen insbesondere zwischen den Dimensionen (2)


Customer Relation und (3) Fähigkeiten und Kultur sowie zwischen den Dimensionen (4)
Organisation und Prozesse, (5) IT und Controlling sowie (6) Technologietrends zu er-
klären, vgl. Tab. 4.7.
Auf den ersten Blick unerwartet erscheint hingegen die vergleichsweise hohe Anzahl
an Verbindungen zwischen den Dimensionen (3) Fähigkeit und Kultur sowie (4) Orga-
nisation und Prozesse, die allerdings vor dem Hintergrund der inhaltlichen Bedeutung
der beiden Dimensionen (vgl. Abschn.  4.3) in Verbindung mit den Ausführungen in
Bezug auf Abb. 4.4 zu erklären ist: Die Inhalte der Dimension Organisation und Pro-
zesse betreffen vor allem Entscheidungen bzw. Gestaltungsaufgaben operativen Charak-
ters, die deshalb in enger Verbindung zu den im Vertrieb Beschäftigten als operatives
bzw. ausführendes Organ stehen. Das Treffen dieser Entscheidungen bzw. die Um-
setzung der aus diesen Entscheidungen resultierenden Gestaltungsaufgaben erfordert
88 M. J. Malewski et al.

gewisse fachliche und/oder persönliche Kompetenzen, deren Stärkung und kontinuier-


liche Weiterentwicklung wiederum wesentliche Inhalte der Dimension Fähigkeiten und
Kultur darstellen.

Zusammenfassung der Ergebnisse  Die aus der Online-Befragung resultierenden Ergeb-


nisse spiegeln in struktureller Hinsicht die in Abb. 4.3 dargestellten Elemente einer ideal-
typischen Vertriebsorganisation wider und bestätigten das zuvor entwickelte Framework
zur Bestimmung der digitalen Reife von Vertriebsorganisationen auch in Bezug auf wesent-
liche inhaltliche Aspekte, wenngleich die ursprüngliche Konzeptualisierung von zwei Di-
mensionen (IT und Controlling sowie Technologietrends) revidiert werden musste. Durch
die inhaltlich zu begründende Vereinigung dieser beiden Dimensionen zu der Dimension IT
und Technologie ist es aber dennoch möglich, die für eine ganzheitliche Weiterentwicklung
einer Vertriebsorganisation relevanten inhaltlichen Aspekte der beiden ursprünglichen Di-
mensionen zu erhalten. Auf der Grundlage der Einflussanalyse ist es darüber hinaus mög-
lich, die Dimensionen in einer ihrer Bedeutung im Beziehungsgefüge entsprechenden und
mit den Elementen einer idealtypischen Vertriebskonzeption korrespondierenden Struktur
anzuordnen. Das inhaltlich überarbeitete Framework, das im weiteren Verlauf die Grund-
lage für das zu entwickelnde Reifegradmodell bildet, zeigt Abb. 4.12.

Aufbauend auf den zuvor beschriebenen Ergebnissen der Online-Befragung verfolgten


die mit weiteren Expert:innen durchgeführten Workshops im Wesentlichen zwei Ziele in
Bezug auf die Weiterentwicklung des Frameworks zur Bestimmung der digitalen Reife
von Vertriebsorganisationen zu einem Reifegradmodell: (1) Die Entwicklung möglichst
generischer Reifegradstufen für das Gesamtmodell und (2) deren Adaption auf die einzel-
nen Dimensionen des Frameworks, um mit den definierten Reifegradstufen korrespondie-
rende Handlungsempfehlungen für die ganzheitliche Weiterentwicklung einer Vertriebs-
organisation im digitalen Wandel ableiten zu können.

Strategie und Planung

Entwicklung einer Sales Digitalstrategie und Customer Relation


Strategie und Planung
Vorgabe digitaler Erfolgsfaktoren

Kultivierung der Kundeninteraktion zum


Customer Relation
Collaborative Selling Fähigkeit und Organisation IT und
Kultur und Prozesse Technologie

Anpassung der Vertriebsphilosophie sowie des


Fähigkeit und Kultur Selbstverständnisses an das digitale Zeitalter

Optimierung bzw, Automatisierung interner


Organisation und
Prozesse durch Einsatz digitaler Technologien in
Prozesse einer agilen Organisation

Einsatz digitaler Technologien und IT-Systeme zur


IT und Technologie vertriebsorientierten Datenverarbeitung

Abb. 4.12  Framework zur Bestimmung der digitalen Reife von Vertriebsorganisationen (Malewski
et al., 2020)
4  Digital Sales Excellence 89

4.4.2 Entwicklung generischer Reifegradstufen

In Vorbereitung auf die Entwicklung möglichst generischer Reifegradstufen wurden zu-


nächst die Auswirkungen der durch den digitalen Wandel induzierten Veränderungen im
Spannungsfeld zwischen Mensch, Technik und Vertriebsorganisation beschrieben und
die Bedeutung des Begriffs Digital Sales Excellence im vorliegenden Kontext definiert.
Auf Basis einer Synthese der im Verlauf der Workshops mit den Expert:innen er-
arbeiteten Inhalte wird der Begriff Digital Sales Excellence im Hinblick auf die zu ent-
wickelnden Reifegradstufen deshalb in Ergänzung zu Binckebanck (2016a) wie folgt
definiert.

cc Digital Sales Excellence verbindet die bedarfsgerechte Auswahl und den prozess-
orientieren Einsatz IT-gestützter Hilfsmittel (Technologien) zur Verarbeitung relevan-
ter interner und externer Daten im Rahmen vertriebsstrategischer Grundsatzent-
scheidungen mit der Struktur sowie der Arbeitsweise einer agilen Organisation und
Mitarbeitenden, die in ihrer täglichen Arbeit Kundenzufriedenheit und Innovation an-
streben, mit dem Ziel, die Absatzergebnisse durch eine optimale Kundenkollaboration
nachhaltig zu steigern und den Vertrieb als eigenständigen Wettbewerbsvorteil zu
positionieren.

Ausgehend von dieser Definition wurden in einem iterativen Vorgehen und einer ab-
schließenden Synthese der Arbeitsergebnisse die nachfolgenden generischen Reifegrad-
stufen entwickelt:

1. Digital Beginner (Reifegrad 1): In der Organisation existieren keine oder nur sehr
wenige Kenntnisse im Hinblick auf die durch die zunehmende Digitalisierung resul-
tierenden Auswirkungen; die Organisation ist insgesamt durch starke Beharrungs-
kräfte gekennzeichnet und für die Notwendigkeit von Veränderungen weder in struk-
tureller, noch in prozessualer und technologischer Hinsicht sensibilisiert bzw.
empfänglich.
2. Digital Minded (Reifegrad 2): Aufgrund des in der Organisation entstandenen
Bewusstseins, den durch die zunehmende Digitalisierung resultierenden Auswirkungen
begegnen zu müssen, existieren erste, noch sehr generische Konzepte für die Weiter-
entwicklung in einzelnen Bereichen; konkrete Umsetzungspläne oder gar Pilotprojekte
werden nicht verfolgt.
3. Digital Readiness (Reifegrad 3): Es existiert ein bereichsübergreifender bzw.
organisationsweiter Konsens in Bezug auf die Notwendigkeit zur Veränderung bzw.
Anpassung sowie in Bezug auf die mit diesen Veränderungen verfolgten Ziele (Nut-
zen); es liegen ausgearbeitete Konzepte für strukturelle sowie prozessuale und
technologische Veränderungen in immer mehr Bereichen vor, deren Umsetzung pro-
jektiert ist.
90 M. J. Malewski et al.

4. Digital Integration (Reifegrad 4): Die in einzelnen Bereichen umgesetzten Maß-


nahmen manifestieren sich in ersten messbaren Erfolgen; die in struktureller sowie
prozessualer und technologischer Hinsicht herbeigeführten Veränderungen sind mit
dem Ziel eines bereichsübergreifenden bzw. organisationsweiten Roll-Out aufeinander
abgestimmt.
5. Digital Excellence (Reifegrad 5): Die Transformation ist bereichsübergreifend bzw.
organisationsweit sowohl in struktureller als auch in prozessualer und technologischer
Hinsicht abgeschlossen; in der Organisation existiert ein ausgeprägtes Bewusstsein für
die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Anpassung bzw. Weiterentwicklung im digi-
talen Wandel.

Ein weiteres Ergebnis der ersten Phase der Workshops besteht darüber hinaus in der
Formulierung eines Nutzenversprechens in Bezug auf die Anwendung des zu ent-
wickelnden Reifegradmodells in der Praxis: Das Nutzenversprechen des zu ent-
wickelnden Reifegradmodells besteht explizit darin, dass mit der Analyse des Ist-Zu-
standes auch konkrete Handlungsempfehlungen für eine schrittweise Weiterentwicklung
der Vertriebsorganisation verbunden sind bzw. werden können. Mit diesem einher geht
deshalb die Anforderung, dass in der praktischen Anwendung des zu entwickelnden
Reifegradmodells zu gewährleisten ist, dass die in einer Reifegradstufe definierten In-
halte vollständig umgesetzt worden sind, bevor die Weiterentwicklung in Richtung des
nächsthöheren Reifegrades erfolgen kann. Erst die Festlegung dieser Nebenbedingung
macht es möglich, auf Basis der zuvor entwickelten Reifegradstufen konkrete Hand-
lungsempfehlungen für jede Dimension des Frameworks abzuleiten und damit eine Art
Roadmap zur Weiterentwicklung der Vertriebsorganisation bis zum Erreichen der Digi-
tal Sales Excellence zu formulieren.

4.4.3 Ableitung von Handlungsempfehlungen

Vor dem Hintergrund des Ziels, die fünf zuvor entwickelten Reifegradstufen auf die einzel-
nen Dimensionen des Frameworks zu adaptieren, um mit diesen korrespondierende Hand-
lungsempfehlungen für die ganzheitliche Weiterentwicklung einer Vertriebsorganisation im
digitalen Wandel abzuleiten, wurden auf Basis einer übergeordneten Fallstudie aus dem
Beratungsalltag der Expert:innen drei Fallbeispiele entwickelt, die inhaltlich an jeweils
zwei Dimensionen des Frameworks ausgerichtet sind. Die Entscheidung, welche Dimen-
sionen miteinander kombiniert werden, wurde zum einen vor dem Hintergrund der jeweili-
gen Fachgebiete bzw. Spezialisierungen der Expert:innen und zum anderen vor dem Hinter-
grund der folgenden inhaltlichen Überlegungen getroffen: Während die ­ Dimensionen
Customer Relation sowie Fähigkeit und Kultur miteinander kombiniert wurden, um De-
fizite einerseits in Bezug auf das für die digitale Transformation notwendige Mindset und
andererseits in Bezug auf die Kundeninterkation abzubilden, wurden die Dimensionen
Strategie und Planung sowie Organisation und Prozesse miteinander kombiniert, um ver-
4  Digital Sales Excellence 91

triebsstrategische und strukturelle sowie prozessuale Defizite in der Vertriebsorganisation


abzubilden. Die Kombination der zum Zeitpunkt der Workshops noch eigenständigen Di-
mensionen IT und Controlling sowie Technologietrends bildet Defizite in Bezug auf die
Unterstützung vertriebsstrategischer Aktivitäten z. B. durch Informationssysteme ab.
Der übergeordnete Fall beschreibt grundlegend das Vorhaben eines Unternehmens, sich
und insbesondere die Vertriebsorganisation zu einer exzellenten digitalen (Vertriebs-) Or-
ganisation ganzheitlich weiterzuentwickeln. Im Hinblick auf die aus diesem Fall ab-
geleiteten Beispiele wird angenommen, dass das entwickelte Reifegradmodell für die Er-
hebung bzw. Bewertung des Ist-Zustandes der Vertriebsorganisationen herangezogen
worden ist und in den jeweils zwei im Fokus stehenden Dimensionen eklatante Mängel
identifiziert wurden. Das nachfolgende Beispiel beschreibt exemplarisch das für die Kom-
bination der Dimensionen Customer Relation sowie Fähigkeit und Kultur entwickelte
Fallbeispiel.

Fallbeispiel (Auszug)

Die Mahlhöfer GmbH & Co. KG ist mit Blick auf die zahlreichen Digitalisierungs-
initiativen, die die Geschäftsführung in den vergangenen Jahren auf den Weg gebracht
hat, im Vergleich zu ihren Marktbegleitern durchaus als Vorzeigeunternehmen in ihrer
Branche zu sehen. Doch trotz aller mit zum Teil sehr hohen Kosten verbundenen Ver-
änderungen sind keine positiven Effekte in Bezug auf relevante Ergebnisgrößen des
Unternehmens zu verzeichnen. Die Zahlen geben der Geschäftsführung indes Grund zu
der Annahme, dass die Ursache dafür im Vertrieb begründet liegt und beauftragt des-
halb eine unabhängige Management- und Technologieberatung mit der umfassenden
Analyse der Vertriebsorganisation. Die findigen Berater:innen kommen in ihrem Ab-
schlussbericht zu dem folgenden ernüchternden Ergebnis: […]
Wenngleich allgemeine Wertvorstellungen, die von der übergeordneten Unter-
nehmenskultur vorgegeben werden, die tägliche Arbeit im Vertrieb prägen, existiert,
wenn überhaupt, eine nur sehr diffuse Vorstellung z. B. in Bezug auf die Rolle und das
Selbstverständnis der Abteilung sowohl im Innen- als auch im Außenverhältnis. Zwar
versteht sich der Vertrieb als die zentrale Schnittstelle zum Kunden, aber darüber, wel-
che Aufgaben an dieser Schnittstelle mit welchen Hilfsmitteln im Hinblick auf ein
ganzheitliches Kundenerlebnis zu bearbeiten sind, herrscht absolute Unwissenheit. Die
Befragung der im Vertrieb Mitarbeitenden förderte darüber hinaus zutage, dass die mit
den Digitalisierungsinitiativen verbundenen Ziele „von oben“ schon kommuniziert
werden – nur die Frage, was die bzw. der Einzelne dazu beitragen kann, soll oder gar
muss, die gesetzten Ziele zu erreichen, und in welcher Hinsicht und vor allem wie sich
jede:r Einzelne auch individuell, z. B. in Bezug auf Kompetenzen und Einstellungen,
weiterentwickeln muss, bleibt vollkommen unbeantwortet. Diese Ungewissheit hat
nach Ansicht der Berater:innen zur Entstehung einer gewissen „Verharrungsmentalität“
geführt, die sicherlich auch dem Umstand geschuldet ist, dass ein Großteil der im Ver-
trieb Mitarbeitenden nur eine sehr vage Vorstellung von der „Digitalisierung im Ver-
trieb“ hat und damit vor allem mobiles Arbeiten verbindet. An dieser Grundeinstellung
92 M. J. Malewski et al.

ändern aber auch die von Seiten des Unternehmens angebotenen Schulungs- und Quali-
fizierungsprogramme nur wenig, weil diese einerseits nicht auf die individuellen Be-
darfe der im Vertrieb Mitarbeitenden abgestimmt sind und andererseits das Thema „Di-
gitalisierung“ nur in rudimentären Grundzügen behandelt wird. ◄

Mit dem Ziel, die generisch formulierten Reifegradstufen auf die inhaltlichen Aspekte
der einzelnen Dimensionen des Frameworks mit einem hohen Detaillierungsgrad zu adap-
tieren und mit diesen korrespondierende Handlungsempfehlungen abzuleiten, bestand die
Aufgabe der Expert:innen darin, für die in den drei Fallbeispielen jeweils im Fokus ste-
henden Dimensionen auf Basis ihrer Erfahrung in der Praxis denkbare und vor allem sinn-
voll bzw. realistisch umzusetzende Maßnahmen bzw. Handlungsempfehlungen zur Er-
reichung der fünf Reifegradstufen zu entwickeln. Ein Teil der Ergebnisse der Workshops
sind für die Reifegradstufe Digital Readiness am Beispiel der Dimension Fähigkeit und
Kultur in Tab. 4.8 dargestellt.

Tab. 4.8  Ergebnisse der Workshops am Beispiel der Dimension Fähigkeit und Kultur (Auszug)
Digital Readiness
a Es existiert ein Konzept zur Ausgestaltung der Vertriebskultur; in diesem ist ein Idealzustand
in Bezug auf das Selbstverständnis, das Verhalten und die Rolle der im Vertrieb
Mitarbeitenden im eigenen Unternehmen und ggü. Kunden beschrieben; es sind Anreize
(Incentives) definiert, die Mitarbeitende motivieren, einen aktiven Beitrag zur Ausarbeitung
der Vertriebskultur beizutragen.
b Der aus der Digitalisierung resultierende Nutzen bzw. Mehrwert für die Organisation und die
bzw. den Einzelne:n ist ebenso klar formuliert und kommuniziert wie die damit verbundenen
Anforderungen an die im Vertrieb Mitarbeitenden; aus strategischen Entscheidungen
resultierende Ziele werden nicht nur regelmäßig kommuniziert, sondern auch für verschiedene
Ebenen operationalisiert.
c Die im Vertrieb Mitarbeitenden sind sich der Wichtigkeit ihrer Rolle als zentrale Schnittstelle
zum Kunden und damit als Wissens- und Ideengeber:in innerhalb der eigenen Organisation
bewusst; es herrscht ein Verständnis in Bezug auf den Zusammenhang zwischen einer
erfolgreichen Kundeninteraktion und dem eigenen Erfolg.
d Es existiert ein Instrument (Assessment-Tool) zur Bewertung der individuellen Schulungs-
bzw. Qualifizierungsbedarfe vor allem in Bezug auf sog. Digital Skills der im Vertrieb
Mitarbeitenden; es sind Anreize (Incentives) definiert, die Mitarbeitende motivieren, sich
kontinuierlich weiterzubilden.
e Die Erwartungen bzw. Anforderungen an eine Digital Sales Personality sind
organisationsspezifisch definiert; die Ausbildung bzw. Weiterentwicklung der im Vertrieb
Mitarbeitenden z. B. in Bezug auf ihre Teamfähigkeit und Flexibilität im Sinne der Digital
Sales Personality wird durch ein entsprechendes Trainingskonzept gezielt gefördert.
f Schulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sind inhaltlich optimal bzw. individuell auf die im
Vertrieb Mitarbeitenden abgestimmt; klassische Offline-Angebote bzw. Offline-Inhalte werden
vereinzelt durch Online-Angebote ergänzt; die Wirksamkeit der Maßnahmen wird
systematisch erhoben und reflektiert.
4  Digital Sales Excellence 93

4.5 Zusammenfassung

Das entwickelte Reifegradmodell repräsentiert in Bezug auf die fünf Dimensionen und vor
allem in Bezug auf die darin abgebildeten inhaltlichen Aspekte einen umfassenden State of
the Art, der für Vertriebsorganisationen einheitliche Elemente definiert und diese in Be-
ziehung zueinander setzt. Die konsequente Ausrichtung an den drei als zentral heraus-
gestellten Handlungsfeldern ermöglicht es auf der einen Seite, die Implikationen der mit der
Digitalisierung einhergehenden Veränderungen transparent zu machen. Auf der anderen
Seite unterstützt es Unternehmen in der praktischen Anwendung dabei, individuelle Ent-
wicklungspotenziale auf dem Weg zur Digital Sales Excellence aufzudecken und die für eine
ganzheitliche Weiterentwicklung notwendigen Gestaltungsaufgaben zu initiieren. Zur Ge-
währleistung der zielgerichteten Umsetzung wurde das Reifegradmodell in das in Abb. 4.13
in Anlehnung an Appelfeller und Feldmann (2018) dargestellte Vorgehensmodell integriert.
Abschließend bleibt herauszustellen, dass das beschriebene Reifegrademodell vor-
nehmlich aus einer anwendungsorientierten Perspektive mit dem Ziel entwickelt worden
ist, Unternehmen neben der Möglichkeit zur Analyse des Ist-Zustandes ihrer Vertriebs-
organisation auch konkrete Handlungsempfehlungen bzw. -vorschläge für eine schritt-
weise Weiterentwicklung anzubieten, um auf dieser Grundlage die Weiterentwicklung
ihrer Vertriebsorganisation bis zum Erreichen der Digital Sales Excellence zielgerichtet zu
planen. Vor dem Hintergrund der im Ergebnis erfolgreichen Pilotierung des entwickelten
­Reifegradmodells bei ausgewählten Lead Usern bleibt festzuhalten, dass das Modell dem
zuvor formulierten Ziel bzw. Anspruch gerecht wird, und dass die Absicht besteht, die in

Abb. 4.13  Vorgehensmodell zur Bestimmung der digitalen Reife von Vertriebsorganisationen.
(Quelle: In Anlehnung an Appelfeller & Feldmann, 2018)
94 M. J. Malewski et al.

der Beratungspraxis gesammelten Daten perspektivisch für eine auch wissenschaftlichen


Ansprüchen gerecht werdende Validierung zu nutzen.

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Maja Julia Malewski  studierte von 2011 bis 2017 „Sales Enginee-
ring and Product Management“ an der Ruhr-Universität Bochum und
untersuchte in ihrer Masterarbeit das Konzept der Digital Sales Excel-
lence. Seit dem Abschluss ihres Masterstudiums ist sie bei der un-
abhängigen Management- und Technologieberatung BearingPoint
GmbH beschäftigt und befasst sich insbesondere mit den Themen der
IT-getriebene Geschäftsentwicklung, der Optimierung technischer
Prozesse sowie der zielgerichteten Entwicklung und Einbindung von
CRM-Systemen in unterschiedlichen Industrien.

Dr.-Ing. Christian Ahlfeld  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Lehrstuhl für Industrial Sales and Service Engineering (ISSE) an der
Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität Bochum. Er studierte
von 2005 bis 2011 „Sales Engineering und Produktmanagement“ an
der Ruhr-Universität Bochum, bevor er 2017 promoviert wurde. Seine
Forschung konzentriert sich auf ausgewählte Themen sowohl im Pro-
dukt- als auch im Vertriebsmanagement mit dem Ziel, ein tieferes Ver-
ständnis von Innovations- und Vertriebsprozessen zu erlangen, um die
Innovationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit insbesondere kleiner und
mittlerer Unternehmen zu verbessern.

Sven Maihöfer  ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Lehrstuhl für Industrial Sales and Service Engineering (ISSE) an der
Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität Bochum. Er studierte
von 2011 bis 2018 an derselben Universität „Sales Engineering und
Produktmanagement“. Die Implementierung additiver Fertigungsver-
fahren in industriellen Unternehmen ist sein Forschungsschwerpunkt.
Er konzentriert sich bei seiner Forschung insbesondere auf die Rolle
des Menschen in Implementierungsprozessen und auf die Analyse der
dazugehörigen ­Erfolgsfaktoren.
Teil II
Digitalstrategie
Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende
Ansätze und Vorgehensmodell 5
Daniel Schallmo und Jochen Lohse

Wie wird der Begriff „Digitalstrategie“ definiert, welche Ansätze


bestehen und wie wird vorgegangen, um eine Digitalstrategie zu
entwickeln?

Zusammenfassung

Die Digitalisierung hat in den letzten Jahren sowohl in der Praxis als auch in der
Wissenschaft an Relevanz gewonnen. In diesem Zusammenhang ist auch das Thema
der Digitalstrategie in den Vordergrund gerückt. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags
gehen wir zunächst auf die Grundlagen der Digitalstrategie ein. Hierbei betrachten wir
bestehende Definitionen und leiten auf dieser Basis eine eigene Definition ab. Ferner
betrachten wir die Bestandteile einer Digitalstrategie und ordnen diese in einen Gesamt-
kontext ein. Anschließend gehen wir kurz auf acht Ansätze, die sich mit der Ent-
wicklung einer Digitalstrategie auseinandersetzen, ein und vergleichen diese. Auf Basis
der bestehenden Ansätze zeigen wir dann ein Vorgehensmodell auf, das dazu dient, eine
Digitalstrategie zu entwickeln. Das Vorgehensmodell besteht aus sechs Phasen und be-
inhaltet auch einen Ansatz für vier generische Digitalstrategien.

D. Schallmo (*)
Institut für Entrepreneurship, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: daniel.schallmo@hnu.de
J. Lohse
Hoppe Marine GmbH, München, Deutschland

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 99


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_5
100 D. Schallmo und J. Lohse

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Digitalstrategie · Ansatz · Vorgehensmodell · Digitale Transformation

5.1 Grundlagen

Für den Begriff der Digitalstrategie besteht im betriebswirtschaftlichen Kontext aktuell


kein einheitliches Verständnis. Etymologisch lässt ich das Wort selbst auf die beiden Wort-
elemente „digital“ bzw. „Digitalisierung“ (für Definitionen siehe: Borucki, 1985, S.  1;
Heuermann et al., 2018, S. 9; Hippmann et al., 2018, S. 9; Hippmann et al., 2018; Knoll &
Strahinger, 2017, S. 152; Schawel & Billing, 2018, S. 105; Wolf & Strohschen, 2018, S. 3)
und „Unternehmensstrategie“ (für Definitionen siehe: Andrews, 1980, S. 18; Ansoff, 1965,
S. 118; Chandler, 1962, S. 13; Drucker, 1954, S. 17; Henderson, 1989, S. 141; Hungen-
berg, 2012, S. 6; Johnson et al., 2008, S. 3; Mintzberg, 1979, S. 25; Porter, 1996, S. 68;
Steiner & Miner, 1977, S. 19) zurückführen.
Anhand dieser Definitionen kann bei der Digitalstrategie auf eine Unternehmens-
strategie für Digitalisierungsvorhaben geschlossen werden. Die wesentlichen Kernpunkte
der beiden Wortteile lassen sich auch in der Auswahl von Digitalstrategie-Definitionen
wiederfinden (siehe Tab. 5.1).
Die Begrifflichkeiten „Digitalstrategie“, „Digitalisierungsstrategie“, „digitale Unter-
nehmensstrategie“ und „digitale Transformationsstrategie“ sowie deren englische Über-
setzungen werden oft als Synonyme genutzt. In den Definitionen selbst, aber auch in an-
deren Veröffentlichungen, sind jedoch unterschiedliche Schwerpunkte und Einordnungen
der Digitalstrategie erkennbar.

Tab. 5.1  Ausgewählte Definitionen im Kontext der Digitalstrategie


Quelle Definition Digitalstrategie
Bharadwaj „Digital business strategy is organizational strategy formulated and executed by
et al., 2013, leveraging digital resources to create differential value.“
S. 471
Fraunhofer „Eine Digitalstrategie fasst Ziele, Leitlinien und Kontrollstrukturen des digitalen
IAO, 2016 Transformationsprozesses zusammen und fungiert als Klammer zur Koordination
der verschiedenen Digitalisierungsaktivitäten. Die Digitalstrategie beinhaltet eine
digitale Unternehmensvision und drückt die Ziele und Prioritäten der Geschäfts-
strategie in Digitalisierungsvorhaben aus.“
Hille et al., „[…] Digitalisierungsstrategie ist die dokumentierte Form der strategischen
2016, S. 9 f. Bestandsaufnahme und Planung der Maßnahmen und Initiativen des jeweiligen
Unternehmens.“
Rauser, 2016, „[…] digital strategy refers to the strategy a company would apply to all of its
S. 1 digital initiatives. This includes the entire process: collecting all required
information, planning, identifying risks and opportunities, maintaining your
digital strategy, and creating substrategies such as your digital-marketing
strategy.“
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 101

Aus Basis bestehender Definitionen zu Digitalisierung, Unternehmensstrategie und


Digitalstrategie definieren den Begriff „Digitalstrategie“ wie folgt (in Anlehnung an:
Schallmo et al., 2018, S. 3):

cc Definition  Die Digitalstrategie ist die ganzheitliche Ausrichtung von Digitalisierungs-


vorhaben in Unternehmen und Organisationen, um den digitalen Wandel zu antizipieren
und mitzugestalten. Das mittel- und langfristige Ziel ist es, Wettbewerbsvorteile zu er-
halten oder neu zu schaffen.
Die Digitalstrategie wird anhand eines strukturierten Vorgehens entwickelt. Hierbei
werden digitale Technologien und neue Methoden auf Produkte, Prozesse oder ganze Ge-
schäftsmodelle angewendet, was den digitalen Reifegrad eines Unternehmens erhöht. Die
Digitalstrategie hat folgende Bestandteile: Vision, einer Mission, strategischen Zielen,
strategischen Erfolgsfaktoren, Werte, Projekte und Maßnahmen. Diese Bestandteile wer-
den dabei immer im Kontext der Digitalisierung betrachtet.

In Abb. 5.1 sind die Bestandteile der Digitalstrategie dargestellt.

Digitalstrategie

Vision
Wo möchten wir mit unserem
Unternehmen im digitalen Kontext in
Zukunft (z. B. fünf Jahre) stehen?

Mission
Strategische Für wen erfüllen wir welchen
Erfolgsfaktoren Auftrag im digitalen Kontext? Werte
Welche
Welche Werte sind
strategischen
für uns im digitalen
Erfolgsfaktoren Strategische Ziele Kontext relevant?
liegen im digitalen Welche strategischen Ziele
Kontext vor? sind im digitalen Kontext für
uns relevant?

Projekte und Maßnahmen


Welche Projekte und Maßnahmen sind für uns im digitalen Kontext relevant?

Abb. 5.1  Bestandteile der Digitalstrategie (eigene Darstellung in Anlehnung an Schallmo et al.,
2018, S. 3)
102 D. Schallmo und J. Lohse

Nachdem wir in dem Beitrag „Roadmap zur digitalen Transformation in der Energie-
wirtschaft: So gelingt der Wandel vom Versorger zum Utility 4.0-Anbieter“ (Schallmo &
Herbort, 2017) den Fokus auf die Digitale Transformation gelegt haben, betrachten wir in
dem vorliegenden Beitrag das Thema der Digitalstrategie. Die Digitalstrategie behandelt
einen wesentlichen Baustein im Kontext der Digitalisierung. In diesem Zusammenhang ist
es sinnvoll, eine Einordnung der Digitalstrategie in den Gesamtkontext vorzunehmen.
Wir betrachten dabei neben der Digitalstrategie folgende drei wesentliche Aspekte:
Umfeld im digitalen Kontext, Digitale Transformation von Geschäftsmodellen, Digitale
Implementierung, deren Zusammenhang in Abb. 5.2 dargestellt ist.

Umfeld im digitalen Kontext


Das Umfeld im digitalen Kontext orientiert sich an der Makro- und Mikro-Umwelt von
Unternehmen. Die Makro-Umwelt beinhaltet folgende Dimensionen: politisch, wirtschaft-
lich, sozio-kulturell, technologisch, ökologisch und rechtlich. Die Mikro-Umwelt be-
inhaltet folgende Dimensionen: potenzielle Neueintritte, Rivalität unter Wettbewerbern,
Substitutionsprodukte und -dienstleistungen, Verhandlungsmacht von Abnehmern und
Verhandlungsmacht von Lieferanten.

Selbstverständlich spielt das allgemeine Umfeld von Unternehmen im Rahmen der


strategischen Analyse und im Rahmen der Geschäftsmodell-Innovation eine Rolle. Das
Umfeld im digitalen Kontext betrachtet allerdings die allgemeinen Einflussfaktoren der
jeweiligen Dimensionen aus dem Blickwinkel der Digitalisierung.

Digitale Transformation von Geschäftsmodellen


Die Digitale Transformation von Geschäftsmodellen betrifft einzelne Geschäftsmodell-­
Elemente, das gesamte Geschäftsmodell, Wertschöpfungsketten sowie die Vernetzung

Digitalstrategie

Makro- Mikro-
Umwelt Umwelt
Digitale Transformation
im im
von Geschäftsmodellen
digitalen digitalen
Kontext Kontext

Digitale Implementierung

Abb. 5.2  Einordnung in den Kontext der Digitalisierung (Schallmo, 2019, S. 34)
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 103

unterschiedliche Akteure in einem Wertschöpfungsnetzwerk. Dabei dient die Digitale


Transformation dazu, die Digitalstrategie in Geschäftsmodellen zu konkretisieren. Sie er-
folgt anhand eines Vorgehens mit einer Abfolge von Aufgaben und Entscheidungen, die in
logischem und zeitlichem Zusammenhang zueinanderstehen.

Digitale Implementierung
Die Digitale Implementierung setzt die Digitale Strategie um und unterstützt die Digitale
Transformation eines Geschäftsmodells/mehrerer Geschäftsmodelle von Unternehmen.
Im Rahmen der Digitalen Implementierung sind die folgenden Bereiche relevant:

• Organisation: z. B. Festlegung von Strukturen und Verantwortlichkeiten, Aufbau von


Abteilungen, Definition von Prozessen.
• Technische Umsetzung: z. B. Einsatz von Sensorik, Aufbau von Datenbanken, Ver-
netzung von Komponenten.
• Fähigkeiten: z. B. IT-Know-how (Hardware-, Softwareanwendung/-entwicklung etc.),
Einsatz von Tools zur Zusammenarbeit, Entwicklung von Kompetenzen für die Füh-
rung und für die Zusammenarbeit, Erlenen von Methoden.
• Kultur: z.  B. kulturelle Verankerung im Unternehmen, Sensibilisierung von Mit-
arbeitern, Kommunikation innerhalb des Unternehmens.

5.2 Bestehende Ansätze und Vergleich

Nachfolgende werden acht ausgewählte Ansätze kurz vorgestellt. Eine detaillierte Be-
trachtung und weitere Ansätze finden sich (Schallmo et al., 2018, S. 4 ff.).

5.2.1 Bestehenden Ansätze

Ansatz von Kraewing (2017)


Kraewing richtet sich mit seinem Ansatz zur Digitalstrategie (hier auch „Digital-­Business-­
Strategie“) an Führungskräfte international agierender, mittelständischer Unternehmen
mit Interesse an der digitalen Transformation. Für seine Aussagen legt er seine aus der
Beratung von Unternehmen gewonnen Beobachtungen zugrunde (Kraewing, 2017, S. 12).

Ansatz von Greiner et al. (2017)


Die Publikation von Kieninger mit Fokus auf die Unternehmenssteuerung, sowie der Ab-
schnitt zur Digitalstrategie (hier auch „Digitalisierungsstrategie“) von Greiner et al. ba-
siert auf theoretischen Erkenntnissen und Beratungserfahrungen (Greiner et  al., 2017,
S. V.). Eine bestimmte Zielgruppe wird nicht genannt.
104 D. Schallmo und J. Lohse

Ansatz von Rauser (2016)


Rauser konzipiert seinen Ansatz zur Digitalstrategie (hier auch „Digital Strategy“) auf
Basis von Erfahrungen aus der Beratung unterschiedlicher Unternehmen und richtet den
Ansatz auch an diese (Rauser, 2016, S. 151).

Ansatz von Peppard und Ward (2016)


Der Ansatz zur Digitalstrategie (hier auch „digital strategy“ oder „IS/IT strategy“) von Pep-
pard und Ward legt zwar den Fokus auf gewinnorientierte Unternehmen aller Branchen,
schließt aber auch staatliche Institutionen sowie soziale und Non-Profit-­Organisationen mit
ein. Die Erkenntnisse stammen aus wissenschaftlichen Studien und Praxiserfahrungen
durch den Austausch mit Führungskräften (Peppard & Ward, 2016, S. XIII).

Ansatz von Petry (2016)


Petrys Ansatz richtet sich an Führungskräfte, die sich mit den Konsequenzen der Digitali-
sierung im Kontext der Unternehmens- und Personalführung auseinandersetzen möchten.
Basis hierfür sind Fallstudien und Analysen aus der Praxis (Petry, 2016, S. 13).

Ansatz von Cordon et al. (2016)


Grundlage des Ansatzes ist eine auf bestehenden Modellen (klassische sowie modernere
Strategieansätze) basierende theoretische Recherche, erweitert durch Studien und Praxis-
beispiele (Cordon et al., 2016, S. 19 ff., 30). Die Digitalstrategie (hier auch „Digital Stra-
tegy“) legt ihren Schwerpunkt auf den Einsatz von BigData (Cordon et al., 2016, S. 1–6).

Ansatz von Hille et al. (2016)


Ausgangsbasis des Ansatzes von Hille ist theoretisches Expertenwissen, welches durch
eine empirische Studie gestützt wird. (Hille et al., 2016, S. 3, 49) Die Digitalstrategie (hier
auch „Digitalisierungsstrategie“) richtet sich hier primär an den Mittelstand (Hille et al.,
2016, S. 3).

Ansatz von Bharadwaj et al. (2013)


Dieser Ansatz basiert auf vorherigen Veröffentlichungen zum Thema Digitalstrategie
(hier auch „digital business strategy“) und Gesprächen mit anderen Akademikern sowie
Führungskräften aus Unternehmen. Ziel ist die Unterstützung weiterer Recherchen zu die-
sem Thema (Bharadwaj et al., 2013, S. 473).

5.2.2 Vergleich der bestehenden Ansätze

In der bestehenden Literatur ist bisher kein integrativer Ansatz für die Entwicklung einer
Digitalstrategie zu finden. In Tab. 5.2 sind die acht Ansätze anhand der wesentlichen Cha-
rakteristika dargestellt. Nahezu keiner der Ansätze basiert auf mehr als zwei verschiedenen
Quellen. Einigen Ansätzen liegen eine theoretische Recherche oder Fallstudien bzw.
Tab. 5.2  Vergleich der Grundlagen bestehender Ansätze (eigene Darstellung)
Greiner Peppard Cordon Hille Bharadwaj
Kraewing et al. Rauser und Ward Petry et al. et al. et al.
(2017) (2017) (2016) (2016) (2016) (2016) (2016) (2013)
Basis Theoretische Recherche ● ● ● ●
Wissenschaftliche Studie(n) ● ○ ○
Praxiserfahrung durch Beratung ● ● ●
Fallstudien/Praxisanalysen ○ ● ○ ●
Einordnung Digitalstrategie ist wesentlicher Bestandteil der ● ● ● ● ●
und Unternehmensstrategie
wesentliche Digitalstrategie und Unternehmensstrategie sind ○ ○
Prinzipien dasselbe
Digitalstrategie-Anteil an der ● ● ○
Unternehmensstrategie ist abhängig von der
digitalen Reife
Digitalstrategie als gebündelte Reaktion auf ○ ● ● ●
Digitalisierungstreiber
Fokus sowohl nach innen (Effizienz) als auch nach ● ● ● ○ ● ○ ○ ○
außen (Wertsteigerung beim Kunden)
Schnelligkeit/Einfachheit vor Perfektion/ ● ● ● ○ ○ ●
Komplexität
Erfolg nur mit „richtigem“/qualifiziertem Team ● ● ○
Breite Verankerung in Organisation und Kultur ● ● ●
wichtig
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell

Phasen-ab- sequenziell ● ● ● ● ○
folge individuell ● ○ ○
kontinuierlich/iterativ ● ● ● ○ ○
● trifft zu
○ trifft teilweise zu
105
106 D. Schallmo und J. Lohse

A: B: C:
Digitalstrategie ist von der Digitalstrategie ist Teil der Digitalstrategie ist die
Unternehmensstrategie losgelöst Unternehmensstrategie Unternehmensstrategie

Unternehmens-
Unternehmens- Unternehmens-
Digitalstrategie Digitalstrategie strategie =
strategie strategie
Digitalstrategie

Abb. 5.3  Zusammenhang zwischen Digitalstrategie und Unternehmensstrategie (eigene Dar-


stellung)

Praxisanalysen zugrunde. Drei Autoren nutzten ihre praktische Beratungsexpertise und


einer hat eine wissenschaftliche Studie durchgeführt. Lediglich ein Ansatz basiert dabei
auf drei verschiedenen Quellen.
Für die meisten der betrachteten Ansätze ist die Digitalstrategie ein wesentlicher Be-
standteil der Unternehmensstrategie und wird von dieser abgeleitet. Zwei Ansätze er-
wägen sogar eine Gleichsetzung. In drei Fällen steht der Anteil der Digitalstrategie an der
Unternehmensstrategie in Abhängigkeit von der digitalen Reife des Unternehmens. Eine
Aufteilung mache somit nur während des Transformationsprozesses Sinn. Während nur
jeder zweite Ansatz in der Digitalstrategie eine Art gebündelte Reaktion auf die Digitali-
sierung von Gesellschaft und Technik (Digitalisierungstreiber) sieht, sind sich alle einig,
dass sie sowohl die Effizienzsteigerung des Unternehmens (interner Fokus; Operational
Excellence – OP-EX) als auch die Wertsteigerung beim Kunden (externer Fokus; Custo-
mer Experience – CU-EX) berücksichtigen sollte.
Die unterschiedlichen Sichtweisen in Bezug auf den Zusammenhang zwischen Digital-
strategie und Unternehmensstrategie sind in Abb. 5.3 dargestellt.
Für die große Mehrheit geht Schnelligkeit und Einfachheit bei der Strategieentwicklung
und -umsetzung vor Perfektion und Komplexität. Bei der Hälfte der Ansätze spielt das
„richtige“ Team mit qualifizierten Mitarbeitern eine wesentliche Rolle und auch die Be-
deutung der organisationalen und kulturellen Verankerung der Digitalstrategie wird gleich
oft herausstellt wird.
In den meisten Ansätzen wird eine sequenzielle und iterative bzw. kontinuierliche Ab-
folge der einzelnen Phasen im Vorgehensmodell vorgeschlagen. Lediglich drei der An-
sätze bevorzugen eine individuelle Reihenfolge.

5.3 Vorgehensmodell zur Entwicklung einer Digitalstrategie

Auf Basis der bestehenden Ansätze zur Digitalstrategie (siehe für eine detaillierte Er-
läuterung: (Schallmo et al., 2018), S. 4 ff.), erfolgt nun die Darstellung einer Vorgehens-
weise, die dazu dient, strukturiert eine Digitalstrategie zu entwickeln. Die Vorgehensweise
besteht aus sechs Phasen, die in Abb. 5.4 dargestellt sind.
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 107

Phasen zur Entwicklung einer Digitalstrategie

1 2 3 4 5 6
Strategische Strategische Strategische Strategisches Strategische Strategie-
Analyse extern Prognose Analyse intern Leitbild Optionen formulierung

Abb. 5.4  Phasen zur Entwicklung einer Digitalstrategie (eigene Darstellung)

Es handelt es sich um eine generelle Vorgehensweise für die Entwicklung einer Digital-
strategie. Je nach Anforderung des Unternehmens, können in einzelnen Phasen Schwer-
punkte gesetzt werden, bzw. Phasen selektiv bearbeitet werden. Die Phasen zur Ent-
wicklung einer Digitalstrategie lehnen sich ebenfalls an bestehenden Ansätzen zur
Entwicklung von Unternehmensstrategien an, da wir die Digitalstrategie als Teil einer
Unternehmensstrategie verstehen, bzw. die Digitalstrategie mit der Unternehmensstrategie
gleichsetzen. Die Phasen werden nachfolgend mit einem kurzen Beispiel erläutert. Selbst-
verständlich würde in der Praxis eine weitreichendere Gewinnung von Ergebnissen in den
jeweiligen Phasen stattfinden. Uns geht es an dieser Stelle darum, eine exemplarische An-
wendung aufzuzeigen.

Strategische Analyse extern


Innerhalb dieser Phase erfolgt die Analyse von Einflussfaktoren der Makro- und Mikro-­
Umwelt (Kraewing, 2017; Greiner et al., 2017; Rauser, 2016; Peppard & Ward, 2016). Bei
der Makro-Umwelt (PESTEL) liegt dabei der Fokus auf Technologien. Innerhalb der
Mikro-­Umwelt (5 Forces) liegt der Fokus auf Kunden und Wettbewerber. Die relevanten
Einflussfaktoren werden aus heutiger Sicht bewertet und priorisiert.

Beispiel

Für ein etabliertes Unternehmen aus der Energiewirtschaft können aus der Makro-­
Umwelt z.  B. folgende technologische Einflussfaktoren relevant sein: Smart Grids,
Smart Meter und Predictive Analytics. Rechtliche Einflussfaktoren können z.  B. die
Umwelt-Gesetzgebung und Energie-Subventionen sein. Aus der Mikro-Umwelt kön-
nen z. B. Eintrittsbarrieren für neue Wettbewerber in Form von hohen Infrastruktur-
kosten und die zunehmende Transparenz auf der Angebotsseite sein. ◄

Strategische Prognose
Die erhobenen Einflussfaktoren aus der vorherigen Phase werden hinsichtlich ihrer zu-
künftigen Relevanz (z. B. zehn Jahre) ausgewählt und anschließend bewertet und priori-
siert. Dabei liegt der Fokus auf der zukünftigen Entwicklung, um darauf aufbauend für die
Makro- und Mikro-Umwelt Szenarien abzuleiten (Kraewing, 2017; Cordon et al., 2016;
Hille et al., 2016).

Beispiel  Im Rahmen der strategischen Prognose können für ein Unternehmen aus der
Energiewirtschaft z.  B. folgende zwei Szenarien abgeleitet werden. Szenario 1: Unter-
108 D. Schallmo und J. Lohse

nehmensfreundliches gesetzliches Umfeld und zunehmende Aktivitäten neuer kleinerer


­Wettbewerber (insb. Plattformen), die den Fortbestand der Unternehmen aktiv gefährden.
Szenario 2: Verschärftes gesetzliches Umfeld mit zahlreichen Auflagen, hoher Kostendruck
und Konzentration einiger weniger Marktteilnehmer.

Diese Szenarien würden in der Praxis detaillierter beschrieben und mit Eintrittswahr-
scheinlichkeiten bewertet werden.

Strategische Analyse intern


Im Rahmen dieser Phase wird das Unternehmen analysiert (Kraewing, 2017; Greiner
et al., 2017; Rauser, 2016; Hille et al., 2016). Hierbei können z. B. folgende Bereiche be-
trachtet werden: Organisation, Prozesse, IT, Infrastruktur, Systeme, Technologien, Fähig-
keiten und aktuelle Initiativen im digitalen Kontext. Dabei geht es um eine Bestandsauf-
nahme der Stärken und Schwächen (z.  B. im Vergleich zu Wettbewerbern) in dem
jeweiligen Bereich. Zusätzlich wird auch der digitale Reifegrad (z. B. Unternehmen, Ge-
schäftsmodell) analysiert.

Beispiel  Für die Analyse das Unternehmen aus der Energiewirtschaft könnten z. B. eine
agile Organisation, teilautomatisierte interne und externe Prozesse und technisches
Know-how vorliegen. Ferner liegen im Bereich aktueller Initiativen ein Chief Digital Offi-
cer, Digitaltage zur Information und Qualifikation der Mitarbeiter und Projekte zur Instal-
lation von Smart Meter bei Nutzern vor. Im Vergleich zum Wettbewerb innerhalb der Re-
gion weist das Unternehmen in den einzelnen Bereichen besondere Stärken auf. Daraus
lässt sich ableiten, dass der aktuelle digitale Reifegrad mit mittel zu bewerten ist.

Strategisches Leitbild
Auf Basis der ersten drei Phasen werden innerhalb dieser Phase zunächst aktuelle und zu-
künftige Handlungsfelder zu identifiziert. Diese Handlungsfelder können erste Ideen und
Ansätze zu Operational Excellence (OP-EX; Prozesse) oder zu Customer Experience
(CU-EX; Kundenerfahrung) beinhalten.

Anschließend wird das strategische Leitbild im digitalen Kontext entwickelt. Dieses


Leitbild beinhaltet folgende Bestandteile: Vision, Mission, strategische Ziele, strategische
Erfolgsfaktoren und Werte (in Anlehnung an: Kraewing, 2017; Greiner et al., 2017; Rau-
ser, 2016; Petry, 2016).
Für die Bestandteile liegen folgende Leitfragen vor:

• Vision: Wo möchten wir mit unserem Unternehmen im digitalen Kontext in Zukunft


(z. B. in fünf Jahren) stehen?
• Mission: Für wen erfüllen wir welchen Auftrag im digitalen Kontext?
• Strategische Ziele: Welche fünf bis sieben strategischen Ziele sind im digitalen Kon-
text für uns relevant?
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 109

• Strategische Erfolgsfaktoren: Welche Faktoren liegen für den strategischen Erfolg


unseres Unternehmens im digitalen Kontext vor?
• Werte: Welche Werte sind für uns im digitalen Kontext relevant?

Das erstellte strategische Leitbild im digitalen Kontext wird ggf. mit dem vorhandenen
strategischen Leitbild der Unternehmensstrategie abgeglichen.

Beispiel  Für unser Unternehmen aus der Energiewirtschaft können z. B. folgende Hand-
lungsfelder identifiziert werden: Schulung aller Abteilungsleiter in Bezug auf die Digitale
Transformation ihres Bereichs, Anstoßen von Kooperationen mit Forschungseinrichtungen
und Initiierung eines Digitalisierungsrates bestehend aus unterschiedlichen Stakeholdern.

Bzgl. des Leitbilds könnten folgende Punkte relevant sein:

• Vision: Wir sind innerhalb von D-A-CH das digitale Energieunternehmen.


• Mission: Wir bieten unseren Kunden, eine Transparenz hinsichtlich ihres Energie-
bedarfs- und Verbrauches und unterstützen ebenfalls bei der Energieoptimierung. Digi-
talisierung stellt dabei einen wesentlichen Befähiger dar.
• Strategische Ziele: Vollständige Digitalisierung und Automatisierung unserer internen
Prozesse bis 2024; Schaffung einer idealen digitalen Kundenerfahrung durch Ver-
netzung mit Kunden (>75  % bis 2022); hohes Servicelevel durch Nutzung digitaler
Potenziale etc.
• Strategische Erfolgsfaktoren: Know-how zur Digitalisierung, bzw. zur Erstellung
von digitalen Leistungen; Arbeit in Netzwerken mit Zugang zu digitalem Know-how;
Verständnis und Begeisterung bei Führungskräften und Mitarbeitern zum Thema Digi-
talisierung etc.
• Werte: Verantwortungsvoller Umgang mit dem Thema Digitalisierung; Respekt vor
Meinungen/Ängsten im Hinblick auf Digitalisierung; Nachhaltigkeit bzgl. Initiativen
im digitalen Kontext etc.

Strategische Optionen
Auf Basis der Ergebnisse der vorangegangenen Phasen und insbesondere auf Basis der
Szenarien werden nun strategische Optionen (Kraewing, 2017; Cordon et al., 2016; Hille
et al., 2016) im digitalen Kontext für das Unternehmen abgeleitet. Hierbei kommen eben-
falls generische Digitalstrategien zum Einsatz.

Die generischen Digitalstrategien orientieren sich an folgenden zwei Dimensionen:

• Leistungen: Worauf wird der Fokus im Hinblick auf die Leistungen gelegt? Welche
Leistungen werden primär erbracht? Liegt der Fokus auf materiellen Leistungen
(z.  B.  Produkte/Komponenten), oder auf immateriellen Leistungen (z.  B.  Dienst-
leistungen/Informationen)?
110 D. Schallmo und J. Lohse

• Rolle: Worauf wird der Fokus im Hinblick auf die Rolle gelegt? Welche Rolle wird
primär eingenommen? Liegt der Fokus auf der Erstellung von Leistungen, oder auf
dem Aufbau/dem Betrieb einer Plattform?

Die beiden Dimensionen lassen sich miteinander kombinieren, wodurch sich vier generi-
sche Digitalstrategien ableiten lassen, die in die Digitalstrategie-Matrix (Basis) integriert
und in Abb. 5.5 dargestellt sind.
Die vier generischen Digitalstrategien sind nachfolgend kurz erläutert:

• Product Provider: hierbei liegt der Fokus auf der Bereitstellung von materiellen Leis-
tungen, wie Produkte und Komponenten. Diese werden dann entweder selbst direkt
oder auf einer Plattform, bzw. einem Plattform-Betreiber angeboten. Beispiele sind
hierfür: Hersteller von Notebooks und Hersteller von Automobilzulieferteilen.
• Service Provider: diese Digitalstrategie stellt primär immaterielle Leistungen, wie
Dienstleistungen und Informationen bereit. Diese werden dann, analog zum Product

Digitalstrategie-Matrix (Basis)
Aufbau und Betrieb einer

Product Service
Plattform

Platform Platform
Worauf wird der Fokus im
Hinblick auf Rolle gelegt?

Operator Operator
Erstellung von
Leistungen

Product Service
Provider Provider

Dienstleistungen/
Produkte/Komponenten
Informationen

Worauf wird der Fokus im


Hinblick auf Leistungen gelegt?

Abb. 5.5  Digitalstrategie-Matrix (Basis) (eigene Darstellung)


5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 111

Provider, entweder direkt, oder auf einer Plattform, bzw. einem Plattform Betreiber an-
geboten. Beispiele sind hierfür: Versicherungsunternehmen und Logistikdienstleister.
• Product Platform Operator: im Rahmen dieser Digitalstrategie liegt der Schwerpunkt
auf den Aufbau und dem Betrieb einer Produkt-Plattform. Hierbei werden eigene/fremde
materielle Leistungen einzeln, oder als Bündel auf einer Plattform angeboten. Beispiele
sind hierfür: Online-Händler für Elektronikartikel und Online-Händler für Schuhe.
• Service Platform Operator: die Digitalstrategie des Service Platform Operator fokus-
siert sich primär auf den Aufbau und den Betrieb einer Dienstleistungs-Plattform. Hier-
bei werden eigene/fremde immaterielle Leistungen einzeln, oder als Bündel auf einer
Plattform angeboten. Beispiele sind hierfür: Vergleichsplattform für Strom und Platt-
form für die Vermittlung von Übernachtungen.

Die vier generischen Digitalstrategien stellen Reinformen dar und kommen in der Praxis
oftmals als Kombination vor. So kann z. B. ein Online-Händler für Elektronikartikel (Pro-
dukt) auch eine Versicherung und eine Finanzierung (Dienstleistung) anbieten. Die vier
generischen Digitalstrategien bieten, je nach Ausgangslage und Zielsetzung unterschied-
liche Einstiegspunkte sowie Entwicklungsmöglichkeiten. Das heißt, dass ein Unternehmen
aktuell ein Product Provider ist und sich zukünftig zu einem Product Platform Provider
entwickeln möchte.
Mit Hilfe der vier generischen Digitalstrategien können für das Unternehmen strategi-
sche Optionen abgeleitet werden. Die strategischen Optionen dienen dazu, die wahr-
scheinlichsten Szenarien zu antizipieren. Ferner können auch strategische Optionen ab-
geleitet werden, um selbst (Mit-)Gestalter von Szenarien zu sein. Die abgeleiteten
strategischen Optionen werden anschließend bewertet. Anschließend werden die relevan-
ten strategischen Optionen ausgewählt.

Beispiel  Unser Unternehmen aus der Energiewirtschaft könnte sich z.  B. dazu ent-
scheiden, statt Produktanbieter (z. B. Gas) zu sein, in Zukunft auch mehr Dienstleistungen
(z. B. Energieberatung) anzubieten und zusätzlich ein Kundenportal anzubieten, auf dem
auch Leistungen Dritter integriert und angeboten werden. Somit würde das Unternehmen
die Digitalstrategie des Product and Service Platform Operator (Mischform) anstreben.

Strategieformulierung
Innerhalb der letzten Phase werden die relevanten strategischen Optionen mit Projekten
und Maßnahmen ausgeprägt (Kraewing, 2017; Rauser, 2016; Peppard & Ward, 2016;
Petry, 2016; Cordon et al., 2016). Hierbei erfolgt ggf. auch ein Abgleich mit der Unter-
nehmensstrategie und dem erstellten Leitbild. Im Rahmen der Strategieformulierung kann
z. B. der Fokus von Projekten auf Operational Excellence (OP-EX; Prozesse), bzw. auf
Customer Experience (CU-EX; Kundenerfahrung) liegen.

In Kombination mit dem entwickelten Leitbild stellen die Projekte und Maßnahmen die
Digitalstrategie dar.
112 D. Schallmo und J. Lohse

Vorgehensmodell zur Entwicklung einer Digitalstrategie


1 2 3 4 5 6
Strategische Strategische Strategische Strategisches Strategische Strategie-
Analyse extern Prognose Analyse intern Leitbild Optionen formulierung
o Analyse von o Entwicklung von o Analyse des o Entwicklung des o Festlegung o Formulierung der
Ziele

Einflussfaktoren Szenarien Unternehmens strategischen strategischer Digitalstrategie


aus der Makro- und des digitalen Leitbilds Optionen
und Mikro-Umwelt Reifegrads
Analyse der Ein- Prognose für Analyse des Ableitung von Ableitung von Ausprägung der
flussfaktoren aus Einflussfaktoren Unternehmens, aktuellen und strategischen strategischen
der Makro- der Makro- und z. B. Organisation, zukünftigen Optionen auf Optionen mit
Umwelt, insb. Mikro-Umwelt Prozesse, IT, Handlungsfeldern Basis generischer Projekten und
Technologien Entwicklung von Infrastruktur, im digitalen Digitalstrategien Maßnahmen mit
Aktivitäten

Analyse der Szenarien Systeme, Kontext Bewertung von Fokus auf OP-EX
Einflussfaktoren Technologien, Entwicklung der strategischen und CU-EX
aus der Mikro- Fähigkeiten und Vision, Mission, Optionen Ggf. Abgleich mit
Umwelt, insb. aktuelle Initiativen strategischen Auswahl Unternehmens-
Kunden und im digitalen Ziele, strategischer strategie
Wettbewerber Kontext strategischen Optionen
Analyse des Erfolgsfaktoren
digitalen und Werte im
Reifegrads digitalen Kontext
Aktuelle Szenarien für die Aktuelle Aktuelle und Bewertete Digitalstrategie
Einflussfaktoren Makro- und Mikro- Ausprägung des zukünftige strategische mit Projekten und
Ergebnisse

aus der Makro- Umwelt Unternehmens Handlungsfelder Optionen Maßnahmen


Umwelt Digitaler im digitalen
Aktuelle Reifegrad Kontext
Einflussfaktoren Strategisches
aus der Mikro- Leitbild im
Umwelt digitalen Kontext

Abb. 5.6  Vorgehensmodell zur Entwicklung einer Digitalstrategie (eigene Darstellung)

Beispiel  Für unser Unternehmen aus der Energiewirtschaft könnten z. B. folgende Pro-
jekte abgeleitet werden: Ausbau der agilen Organisation (z.  B. mittels Schulungen der
Mitarbeiter und Restrukturierung); Ausbau des digitalen Know-hows und Aufbau von Ko-
operationen (z. B. mittels der Etablierung einer digitalen Einheit, Einstellung eines Chief
Digital Officers und Gründung eines Netzwerks für Digitalisierung in der Energiewirt-
schaft); Sensibilisierung und Begeisterung von Mitarbeitern (z.  B. mittels Digitaltagen
und Informationen im Intranet).

In Abb. 5.6 sind die einzelnen Phasen jeweils mit der Zielsetzung, den Aktivitäten und
den Ergebnissen zusammengefasst.
Die ausformulierte Digitalstrategie ist nun der Ausgangspunkt, um bestehende Ge-
schäftsmodelle digital zu transformieren, oder neue Geschäftsmodelle zu entwickeln.

5.4 Zusammenfassung

Im Rahmen des vorliegenden Beitrags haben wir die Grundlagen zur Digitalstrategie auf-
gezeigt und sind dabei auf bestehende Definitionen eingegangen. Neben einer eigenen
Definition haben wir die Bestandteile einer Digitalstrategie betrachtet und eine Ein-
ordnung dieser in einen Gesamtkontext vorgenommen.
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 113

Im Anschluss sind wir auf acht theoretische Ansätze eingegangen, die sich mit der Ent-
wicklung einer Digitalstrategie auseinandersetzen und haben diese miteinander ver-
gleichen. Auf Basis der bestehenden Ansätze haben wir dann ein Vorgehensmodell mit
sechs Phasen aufgezeigt, das dazu dient, eine Digitalstrategie zu entwickeln. Die sechs
Phasen sind: strategische Analyse extern, strategische Prognose, strategische Analyse in-
tern, strategisches Leitbild, strategische Optionen und Strategieformulierung. Im Rahmen
des Vorgehensmodells haben wir ebenso vier generische Digitalstrategien vorgestellt: Pro-
duct Provider, Service Provider, Product Platform Operator und Service Platform Operator.

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der digitalen Reife. Informatik-Spektrum.

Prof. Dr. Daniel Schallmo  ist Ökonom, Unternehmensberater und


Autor zahlreicher Publikationen. Er ist Professor für Digitale Trans-
formation und Entrepreneurship an der Hochschule Neu-Ulm, Direk-
tor des Instituts für Entrepreneurship und Mitglied am Institut für
Digitale Transformation. Zuvor war er Professor an der Technischen
Hochschule Ulm. Daniel Schallmo ist Gründer und Gesellschafter
der Dr. Schallmo & Team GmbH, die auf Beratung und Trainings
spezialisiert ist (www.gemvini.de). Er ist ebenso Initiator der Digital
Excellence Group, einer Plattform für Beratung, Trainings und Stu-
dien zu dem Thema der Digitalen Transformation (www.digital-­
excellence-­group.com).
Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Kontext
der Digitalisierung: die Messung des Digitalen Reifegrads, die Ent-
wicklung von Digitalstrategien, die Digitale Transformation von Ge-
schäftsmodellen und die Implementierung digitaler Initiativen. Dazu
gehören z. B. die Führung im digitalen Zeitalter, Technologien und
die Gestaltung von Organisationen.
Daniel Schallmo verfügt über mehrere Jahre Praxiserfahrung, die
er in Unternehmen der verarbeitenden Industrie, des Handels, der
Medien, der Unternehmensberatung und des Bauwesens gewonnen
hat. Als Unternehmensberater unterstützt er DAX-­Unternehmen und
mittelständische Unternehmen bei der Beantwortung unterschied-
licher Fragestellungen. Er ist sowohl in der Managementausbildung
als auch in Bachelor- und Masterstudiengängen für die Themen-
gebiete Design Thinking, Strategie-, Geschäftsmodell-, Prozess- und
5  Digitalstrategie: Grundlagen, bestehende Ansätze und Vorgehensmodell 115

Innovationsmanagement sowie Digitale Transformation als Dozent


tätig und war Gastprofessor an der Deutschen Universität in Kairo,
Ägypten. Seine Methoden, insbesondere die Innovation von Ge-
schäftsmodellen, wurden bereits über 200-mal und über 10.000 Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern vorgestellt; dazu zählen auch Konfe-
renzteilnahmen und Vorträge (> 100).

Jochen Lohse  verantwortet für den Bereich Digital Strategy die


strategische Ausrichtung der Hoppe Marine GmbH. Als OKR Mana-
ger, Moderator für Strategie-/und Innovationsworkshops und als Lei-
ter zahlreicher Digitalisierungsinitiativen beschäftigt er sich aus
unterschiedlichen Perspektiven mit der Geschäftsmodell-/Organisati-
ons- und Kulturentwicklung des Unternehmens.
Nach seinem Abschluss zum Dipl.- Wirt.-Ing. Maschinenbau
(FH) an der Hochschule Kempten absolvierte Jochen Lohse das Stu-
dium zum Master of Business Administration (MBA) an der Nord-
akademie Graduate School in Hamburg. Im Rahmen seiner wissen-
schaftlichen Arbeiten setzte er sich dabei durch theoretische und
praktische Recherchen mit der Digitalisierung von Wertanalyse-
projekten sowie dem Vorgehen bei Digitalstrategien auseinander.
Konzeption und Erprobung eines
Frameworks zur Digitalen Transformation 6
auf Basis der Systemtheorie

Klaus Lang, Daniel Hasler, Tobias Hackl


und Katharina Ehmig-­Klassen

Zusammenfassung

Dieses Kapitel untersucht den Beitrag der Systemtheorie zur Umsetzung von Vorhaben
zur Digitalen Transformation (DT) von Unternehmen. Grundlegend hierfür ist ein Ver-
ständnis von Unternehmen als produktive soziale Systeme, welche mit der Umwelt
agieren und aus Menschen, Technologien und Organisation bestehen. Untersuchungs-
gegenstand waren bestehende Ansätze und Modelle zur Digitalen Transformation,
Beschreibungsmodelle (Templates) für Geschäftsmodelle und Geschäftsmodell-
­
innovationen und Modelle zur Bewertung der digitalen Reife von Unternehmen. Im
Rahmen der Analyse wurden die bestehenden Modelle aus Wissenschaft an der
Terminologie der Systemtheorie gespiegelt und Lücken identifiziert. Ergebnis der Ana-
lyse war, dass viele Modelle zwar wichtige Handlungsfelder zur DT adressieren, je-
doch die Einbettung und die Interaktion von Unternehmen mit der Umwelt, ins-
besondere mit Stakeholdern, nicht adäquat abdecken und damit eine systematische und
ganzheitliche Betrachtung erschweren. In einem zweiten Schritt wurde auf Basis der
Analyseergebnisse und der Systemtheorie als Analyseansatz ein Framework zur DT
von Unternehmen entwickelt und anhand von drei Case Studies erprobt. Es zeigte sich,
dass eine systemtheoretische Perspektive zu einer ganzheitlichen, stabilen, und stärker
kundenzentrierten Sicht beitragen, und damit die Umsetzung und das Change-Manage-
ment von DT effektiv unterstützen kann.

K. Lang · D. Hasler (*) · T. Hackl · K. Ehmig-Klassen


Institut für Digitale Transformation, Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: klaus.lang@hnu.de; daniel.hasler@hnu.de; tobias.hackl@hnu.de;
katharina.ehmig-klassen@hnu.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 117


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_6
118 K. Lang et al.

Schlüsselwörter

Systemtheorie · Konzeptionelles Framework · Digitale Transformation ·


Digitalisierung · Digitale Roadmap

6.1 Einleitung

In Literatur und Praxis mangelt es nicht an Ansätzen, Modellen und Frameworks zur Um-
setzung der Digitalen Transformation (DT) von Unternehmen (z. B. Schallmo & Williams,
2018). Während kommerzielle Beratungsunternehmen und Softwarefirmen eine Vielzahl
von Modellen und Frameworks veröffentlicht haben, sind nur wenige Modelle und Frame-
works der Digitalen Transformation aus der akademischen Forschung hervorgegangen
(Peter et  al., 2020). Theoretische Frameworks mit Handlungsfeldern wurden beispiels-
weise von Kane et al. (2016) und Westerman et al. (2011) entwickelt. Impulse zur Um-
setzung der DT in der Praxis kommen auch von Reifegradmodellen zur Bewertung der
digitalen Reife einer Organisation mit allerdings den Schwachpunkten einer phänomeno-
logischen Herleitung und einer unzureichenden empirischen Validierung (Bumann &
Peter, 2019). Praktische Modelle für DT basieren meist auf der Beobachtung von
ad-hoc-Problemen und -Handlungsfeldern, anstatt aus einer wissenschaftlichen Theorie
abgeleitet zu werden. Ein weiterer Forschungsstrang zur DT sind Modelle (Templates) zur
Beschreibung von Geschäftsmodellen (Gassmann et  al., 2014; Osterwalder & Pigneur,
2010; Schallmo, 2013). Diese Modelle ermöglichen es, die Geschäftslogik von Unter-
nehmen aufzuzeigen und Geschäftsmodellinnovationen zu entwickeln (Porter & Heppel-
mann, 2015). Da sie sich hauptsächlich auf die Wertschöpfung (Amit & Zott, 2001) kon-
zentrieren, vernachlässigen sie aber relevante Aspekte, wie z. B. die Dynamik, Hierarchien
oder Informationsflüsse (Massa et  al., 2018). Diesen Modellen fehlt ein ganzheitlicher
Ansatz und eine theoretische Fundierung. Sie müssen im Laufe der Zeit angepasst werden,
wenn neue Herausforderungen und Entwicklungen (neue Organisationskonzepte, Techno-
logien, Märkte oder Kundenbedürfnisse) und damit neue Handlungsfelder für die DT ent-
stehen. In der Praxis bleiben trotz all der Veröffentlichungen jedoch die Forschungs-
erkenntnisse und die praktischen Anleitungen für die Umsetzung der DT von Unternehmen
begrenzt (Peter et  al., 2020), nicht zuletzt ein Grund, warum viele DT-Projekte häufig
scheitern (Bughin et al., 2018).
Vielen Organisationen fällt es schwer, DT ganzheitlich anzugehen und Handlungsfelder
systematisch abzuleiten  – wie zum Beispiel in den Bereichen Talentgewinnung, Kultur,
Führung, Strategie oder Technologien (Kane et al., 2016) – und diese effektiv umzusetzen.
Unternehmen fehlt es häufig an Zeit, Geld oder Know-how, um digitale Initiativen effektiv
anzugehen (Arendt, 2008) und sie ziehen es häufig vor, eine konkrete, aber für sich isolierte
Problemstellung zu lösen, anstatt einen übergreifenden, ganzheitlichen und unternehmens-
weiten Ansatz zu verfolgen, um vom Nutzenpotenzial der DT vollständig profitieren zu
können (Kane et al., 2017). Grundsätzlich benötigt DT einen strukturierteren und integrier-
ten Ansatz, um verständlicher, zuverlässiger und gleichzeitig effektiver zu sein.
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 119

Um diese Herausforderung anzugehen, zielt dieser Beitrag darauf ab, die bestehende
Vielfalt an Modellen mit den grundlegenden Konzepten der Systemtheorie zu analysieren
und hierbei die Terminologie der Systemtheorie anzuwenden, um in einem nächsten
Schritt ein konzeptionelles DT-Framework zu entwickeln und zu erproben. Die System-
theorie wird hier zugrunde gelegt, weil sie als Theorie für die Analyse von Unternehmen
anerkannt ist (Bleicher, 1972; Ulrich, 1968). Sie bietet eine solide und gut erforschte theo-
retische Grundlage, die zeitlich beständig ist. Darüber hinaus wurde sie bereits umfassend
im organisatorischen und geschäftlichen Kontext erforscht, jedoch nicht oder unzureichend
im Hinblick auf DT.
DT und insbesondere die Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle gilt als eine
der größten Herausforderungen für Unternehmen im digitalen Zeitalter (Gassmann et al.,
2014; Davenport & Westerman, 2018; Hess et al., 2016). DT wird als ein Prozess wahr-
genommen, der darauf abzielt, ein Unternehmen zu verbessern, indem er durch Kombina-
tionen von Informations-, Computer- und Kommunikationstechnologien signifikante Ver-
änderungen ihrer Eigenschaften auslöst (Vial, 2019), S. 118. Die DT von Unternehmen
beinhaltet die schnelle Integration, Anpassung und Nutzung von entstehenden digitalen
Technologien in Geschäftsprozesse und Produkte, was auch Veränderungen im Geschäfts-
modell, der Unternehmenskultur und in einigen Kompetenzen erfordert (Morakanyane
et al., 2017; (Morakanyane et al., 2020; Berman, 2012), (Matt et al., 2015). Die Trans-
formation eines Unternehmens hinsichtlich dieser Anforderungen erweist sich als eine
mehrdimensionale, komplexe und risikoreiche Herausforderung.

6.2 Forschungsfragen und Forschungsdesign

6.2.1 Forschungsfragen

In diesem Beitrag nehmen wir eine systemtheoretische Perspektive auf die DT von Unter-
nehmen ein, die zu einer ganzheitlichen Betrachtung beiträgt und dazu dienen soll, Vor-
haben der DT effektiv zu managen. Wir verwenden das auf der Systemtheorie basierende
Modell von Unternehmen, welches von (Bleicher, 1972; Ulrich, 1968) vorgeschlagen wird
und Unternehmen als produktive soziale Systeme begreift.
Basierend auf den vorangegangenen Überlegungen werden die folgenden drei
Forschungsfragen untersucht:

1. Wie kann die Systemtheorie genutzt werden, um die zahlreichen Ansätze, Modelle und
Frameworks zur erfolgreichen Bewältigung der DT von Unternehmen zu analysieren
und zu strukturieren?
2. Wie kann die Systemtheorie zur Entwicklung eines ganzheitlichen konzeptionellen
Frameworks für die DT von Unternehmen beitragen? Wie können vorhandene Ansätze
für Frameworks der Digitalisierung zu einem ganzheitlicheren und zeitlich un-
abhängigeren Ansatz kombiniert werden, um die DT zu ermöglichen und aus welchen
Elementen setzt sich dieser zusammen?
120 K. Lang et al.

3. Wie kann ein auf der Systemtheorie basierendes Framework in der Praxis zu einer
ganzheitlichen DT von Unternehmen beitragen? Wie kann dieses Modell in der Praxis
evaluiert und angewendet werden? Liefert die Anwendung der Systemtheorie Anhalts-
punkte und Erkenntnisse für eine umfassendere und ganzheitlichere Gestaltung und
effektive Implementierung von unternehmensweiter DT?

6.2.2 Forschungsdesign

Einem deduktiven Forschungsansatz folgend (Hyde, 2000) haben wir Konzepte und
Terminologie der Systemtheorie für die DT von Unternehmen übernommen und ein von
der Systemtheorie abgeleitetes Framework für DT entwickelt.
Wir haben mit einer Literaturanalyse (Webster & Watson, 2002) zur allgemeinen
Systemtheorie (Abschn.  6.3.1) und dessen Weiterentwicklungen für den Einsatz in der
Unternehmensführung (Abschn. 6.3.2) begonnen. Basierend auf der Literaturanalyse zur
Systemtheorie haben wir Kriterien abgeleitet, um bestehende Modelle für die DT zu be-
werten (Abschn. 6.3.3).
Im zweiten Teil haben wir Geschäftsmodell-Templates (Abschn. 6.4.1), Modelle zur
DT und Digitalisierung (Abschn. 6.4.2) sowie Reifegradmodelle für die DT (Abschn. 6.4.3)
analysiert, die auf verschiedenen Ansätzen basieren und unterschiedliche Handlungsfelder
(z. B. digitale Strategie, DT, Prozesse und Implementierung) betonen (z. B. Schallmo &
Williams, 2018). Basierend auf der Analyse der vielfältigen Ansätze und Modelle haben
wir die Konzepte und Terminologie der Systemtheorie auf DT übertragen und ein auf der
Systemtheorie basierendes Modell zur erfolgreichen Bewältigung der DT entwickelt
(Abschn. 6.5). Dazu wurden die Gestaltungsprinzipien des Design Science angewendet
(Hevner et al., 2004).
Abschließend haben wir unser Framework durch Fallstudien validiert, indem wir das
Framework auf mehrere mittelständische Unternehmen der süddeutschen Fertigungs-
industrie angewendet haben (Abschn. 6.6). Der Fallstudien-Ansatz wurde gewählt, weil
sie als effektive Methode gilt, um Theorien zu erforschen und zu verifizieren. Sie ermög-
licht es, neue Phänomene in der Managementpraxis leicht zu erfassen und nachzuvoll-
ziehen (Eisenhardt, 1989; Yin, 2018). Als empirische Forschungsmethode können Fall-
studien Fragen nach dem „Warum?“ und „Wie?“ beantworten (Stake, 1995; Yin, 1994)
und die Antworten auf die Frage nach dem, was sein sollte, weiter untersuchen.

6.3 Systemtheorie: Entwicklung von Bewertungskriterien für


die Analyse

Zunächst wird die Allgemeine Systemtheorie (General System Theory) und deren zu-
grundeliegende Terminologie erklärt, um sie im nächsten Schritt auf Unternehmen, die als
soziale produktive Systeme verstanden werden, anzuwenden. Anschließend leiten wir auf
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 121

der Systemtheorie basierende Kriterien zur Beurteilung der Ansätze, Modelle und Kon-
zepte für DT von Unternehmen ab.

6.3.1 Allgemeine Systemtheorie (General System Theory)

Die Systemtheorie ist für die Analyse und Modellierung von Phänomenen in vielen Be-
reichen weit verbreitet, z. B. in der Psychologie, Biologie, den Wirtschafts- oder Sozial-
wissenschaften. Die Forschungsobjekte werden als Systeme betrachtet, aus denen Er-
kenntnisse und Wissen abgeleitet werden können. Ursprünglich wurde sie von dem
Biologen von Bertalanffy (Von Bertalanffy, 1950, 1951) als das transdisziplinäre Studium
der abstrakten Organisation von Phänomenen vorgestellt, unabhängig von ihrer Be-
schaffenheit, Art oder räumlichen oder zeitlichen Dimension der Existenz. Sie untersucht
sowohl Prinzipien, die allen komplexen Objekten gemein sind, als auch die (meist mathe-
matischen) Modelle, die zu ihrer Beschreibung verwendet werden können (Heylighen &
Joslyn, 1992), S. 1.
Die Systemtheorie ist nach Luhmann (1984) eine besonders beeindruckende Super-
theorie, die die soziale Realität abbilden kann. Sie kann auf viele verschiedene Bereiche
angewendet werden. Es sind sehr ähnliche Konzeptionen unabhängig voneinander in ver-
schiedenen Wissenschaftszweigen entwickelt worden (Von Bertalanffy, 1950). Heute sind
beispielsweise ganzheitliche Interpretationen in den vielfältigen Wissenschaftsdisziplinen
vorherrschend, während in der Vergangenheit häufig atomistische Erklärungen üblich
waren. Die Systemtheorie gilt als zeitlich unabhängig; Beer (Beer & Beer, 1979), S.  7
definiert ein System als eine Menge von dynamisch zusammenhängenden Elementen ohne
zeitliche Begrenzung nach einem kohärenten Muster und für einen definierten Zweck.
Abb. 6.1 zeigt ein beispielhaftes System mit seinen ineinandergreifenden Elementen, In-
put und Output, und die umgebende Umwelt.
Systeme haben eine funktionale Ausrichtung (Luhmann, 1988). Die Spezialisierung
auf bestimmte Problemlösungen kann als charakteristisch und konstituierend für jedes
Unternehmen, das als System betrachtet wird, angesehen werden. Darüber hinaus ist es so

Umwelt

System

Input Output

Abb. 6.1  Systemtheorie: Input, Output, Elemente, Beziehungen und Umwelt (eigene Darstellung)
122 K. Lang et al.

konzipiert, dass es ein spezielles funktionales Bedürfnis erfüllt, was der ursprüngliche
Grund für seine Entstehung war.

6.3.2 Unternehmen als soziale produktive Systeme

Ähnlich wie biologische Organismen können auch Unternehmen als Systeme interpretiert
werden, die mit ihrer Umwelt interagieren, um zu überleben. Johnson et al. (1964) und
Ulrich (1968) haben die Systemtheorie auf Unternehmen und Management übertragen,
und Bleicher (1972) erkannte die Eignung systemtheoretischer Ideen und Begrifflich-
keiten, um Gestaltungsempfehlungen für Managementprobleme abzuleiten. Er vertritt die
These, das Systemdenken ein integratives Verständnis von komplexeren Zusammen-
hängen unterstützt. Soziale Organisationen haben die einzigartige Fähigkeit, sich anzu-
passen, sich gegen Bedrohungen zu wehren, und um Chancen in der Umwelt zu konkur-
rieren. Ulrich (1968) beschreibt ein Unternehmen als ein produktives soziales System, in
dem die Ergebnisse des betrieblichen Prozesses (Output) von einer Entscheidungsinstanz,
welche die Kompetenz und Befugnis hat, verschiedene Korrekturen, Regelungen und An-
passungen vorzunehmen, kontrolliert und mit einem Sollwert verglichen werden. Neben
diesen eher einfachen Regelkreiskonzepten hilft die Systemtheorie dabei, Modelle zu ent-
werfen, die dem komplexen Charakter des Unternehmens durch kontinuierliche Lern-
prozesse gerecht werden.
Unternehmen als Systeme sind ganzheitliche Strukturen, die in die Summe der äußeren
Einflüsse einer größeren Umwelt eingebunden sind, auf die sie reagieren müssen. Systeme
werden daher als Handlungseinheiten verstanden, die Strategien zur Komplexitäts-
reduktion anwenden müssen, um die Probleme einer komplexen und sich verändernden
Umwelt zu bewältigen und um zu überleben.
Abb. 6.2 zeigt ein auf der Systemtheorie basierendes Unternehmensmodell mit seinen
in Beziehung zueinanderstehenden Elementen: Organisation, Mitarbeiter und Techno-

Umwelt

Beschaffungs- System Absatz-


märkte märkte
Organisation
Input Output

Mensch Technologie

Abb. 6.2  Unternehmen als soziale produktive Systeme. (Quelle: in Anlehnung an Pfeiffer & Weiss,
1994; Wettengl, 2018)
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 123

logie. Der Input kann über Lieferanten von Beschaffungsmärkten bereitgestellt werden
und Output auf Absatzmärkten verkauft werden. Beide Markttypen sind Teil der sich stetig
verändernden Umwelt des Systems (Pfeiffer & Weiss, 1994; Wettengl, 2018). Die System-
theorie hat die Managementlehre nachhaltig beeinflusst, da viele von der Systemtheorie
formulierten Fragen und Probleme heute zum Standard geworden sind. Basierend auf der
Organisationstheorie wurden Impulse aus der Systemtheorie in Konzepte umgesetzt.
Die Systemtheorie lässt sich auf die DT von Unternehmen übertragen, da Systeme den
Auswirkungen von disruptiven Technologien, Menschen, und ihren komplexen Be-
ziehungen in einer Organisation ausgesetzt sind, die mit externen Faktoren (z. B. Kunden,
Lieferanten, und anderen Stakeholdern) interagiert.

6.3.3 Kriterien für die Entwicklung eines auf der Systemtheorie


basierenden Analyseframeworks

Konzepte der Systemtheorie und die Anwendung der Theorie auf das Management durch
Bleicher (1972) und Ulrich (1968) sind durch eine Reihe von spezifischen Begriffen
­gekennzeichnet. Unternehmen als soziale produktive Systeme können durch die folgenden
Konstrukte der Systemtheorie beschrieben werden.
Ein System ist in sich geschlossen, besteht aus Teilsystemen bzw. Elementen, Input
und Output und befindet sich in ständiger Veränderung. Systeme entstehen durch die sub-
jektive und vom Erkenntniszweck getriebene Festlegung einer Grenze, die die Unter-
scheidung zwischen dem System und seiner Umwelt ermöglicht. Die Elemente innerhalb
eines Systems, die Organisation aus Strukturen und Prozessen, Mitarbeiter und Techno-
logien bzw. Maschinen, beeinflussen sich gegenseitig. Das System kann nur durch die
Interaktion der Elemente funktionieren und Bedeutung haben (Bleicher & Müller-Ste-
wens, 1996).

Input  Input ist etwas, das in ein System eingebracht und in dessen Betrieb verwendet
wird, um einen Output oder ein Ergebnis zu erzielen. Output ist die Information, die von
einem System oder Prozess oder einem Teil eines Prozesses aus einem bestimmten Input
erzeugt wird (z. B. die Ergebnisse eines Vorgangs). Im Falle eines mehrstufigen Prozesses
kann der Output eines Teils eines Prozesses der Input für einen anderen Teil des Prozesses
sein (Ulrich, 1968).

Umwelt  Obwohl Organisationen durch den Einsatz von Systemgrenzen versuchen, sich
von ihrer Umwelt abzuschotten, sind sie nicht isoliert (von Bertalanffy, 1951); Unter-
nehmen interagieren mit Kunden, Lieferanten und untereinander und sind von Ver-
änderungen und Umbrüchen betroffen (Singh & Hess, 2017). Offene Systeme stehen im
Austausch mit der Umwelt und können durch interne Prozesse nach Synergien suchen
(Liboni et al., 2015). Vergleichbar mit biologischen Systemen eliminiert die Umwelt die
Vielfalt der Systeme, die sich nicht oder nicht ausreichend an die spezifischen äußeren
124 K. Lang et al.

Bedingungen angepasst haben. Unangepasste Systeme werden ausgeschlossen, neue Sys-


teme entstehen, der evolutionäre Prozess prägt die Entwicklung und Zusammensetzung
der S
­ ystempopulation entsprechend ihrer Dynamik. Die Umwelt von Unternehmen um-
fasst die Makroumwelt und die Wettbewerbssituation (Porter, 1979).

Organisation  Eine Reihe von Geschäftsprozessen und ein Fokus auf die interne Ge-
staltung sowie die Struktur eines Organisationssystems tragen zu einer effizienten und
effektiven Input-Output-Leistung bei (Rummler & Brache, 1995). Dazu zählt beispiels-
weise, wie Abteilungen zusammenarbeiten, um Arbeit zu erledigen.

Mitarbeiter  Ein System kann als eine komplexe soziale Organisation konzeptualisiert
werden, die aus Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen, Fähigkeiten, Talen-
ten, widersprüchlichen Interessen und asymmetrischer sowie unausgewogener Einfluss-
kraft besteht.

Technologie  Der stetige Fortschritt in der Informations- und Kommunikationstechno-


logie kann sowohl als Grund als auch als Treiber für einen dynamischen organisatorischen
Wandel gesehen werden, der zu stärker vernetzten, abgeflachten Bottom-up-Organisations-
formen führt (Yoon & Kuchinke, 2005). Die intensive Auseinandersetzung mit neuer und
disruptiver Technologie spielt eine herausragende Rolle, da sie als wesentlicher Treiber
der DT angesehen wird.

Die dargestellten Konstrukte der Systemtheorie werden in den folgenden Abschnitten


zur Analyse der verschiedenen Ansätze, Modelle und Frameworks herangezogen. Dies
bestimmt vor allem die Grundlage für die Entwicklung eines systemtheoretisch fundierten
Rahmens für DT.

6.4 Systemtheoretische Analyse von Ansätzen, Modelle und


Frameworks für die digitale Transformation

Nachdem im vorhergehenden Abschnitt ein Analyseraster auf Basis der Systemtheorie er-
arbeitet wurde, werden in diesem Abschnitt die in der Literatur identifizierten Ansätze,
Modelle und Frameworks der DT analysiert, indem diese der Begriffswelt der System-
theorie zugeordnet werden. Gegenstand der Analyse sind hierbei Frameworks (Templates)
zur Beschreibung von Geschäftsmodellen, Frameworks für die DT sowie Reifegrad-
modelle zur DT. Jeder der folgenden Abschnitte gliedert sich in eine Definition des Unter-
suchungsgegenstandes, einer Aufbereitung in Form einer Tabelle (siehe Abschn. 6.1) mit
der Zuordnung der Komponenten zu den Begriffen der Systemtheorie und einer ab-
schließenden Analyse und Bewertung.
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 125

6.4.1 Frameworks für die Modellierung von Geschäftsmodellen

In den letzten Jahren war DT ein Hype für Wissenschaft und Forschung, und es wurden
verschiedenartige Ansätze, Modelle und Frameworks zur DT geschaffen. In diesem Ver-
lauf hat sich insbesondere aufgrund der Arbeiten von Osterwalder und Pigneur (2010) das
Konstrukt „Geschäftsmodell“ als Methode zur DT etabliert. Methoden zur Geschäfts-
modellbeschreibung werden häufig in Bezug auf Initiativen der DT und insbesondere di-
gitale Produktinnovationen angewendet (z.  B.  Porter & Heppelmann, 2015). Da Unter-
nehmen auf der Suche nach Innovationsmöglichkeiten sind, wird die Anpassung ihres
Geschäftsmodells als Schlüsselfaktor für das Überleben der Firma angesehen (Gassmann
et al., 2014). Daher erkennen wir eine inhaltliche Nähe zwischen Frameworks für die Mo-
dellierung von Geschäftsmodellen und Modellen zur DT. In Tab. 6.1 haben wir drei be-
kannte Modellierungsmethoden für Geschäftsmodell untersucht (Osterwalder & Pigneur,
2010; Gassmann et  al., 2014; Schallmo, 2013). Geschäftsmodelle stellen grundsätzlich
den Inhalt, die Struktur und die Steuerung von Transaktionen dar, die so konzipiert sind,
dass sie Wertschöpfung erzeugen (Amit & Zott, 2001). Sie werden als „die heuristische
Logik, die technisches Potenzial mit der Realisierung von wirtschaftlichem Nutzen ver-
bindet“ gesehen (Chesbrough & Rosenbloom, 2002). Geschäftsmodelle werden zudem als
eine Architektur für Produkt-, Dienstleistungs- und Informationsflüsse (Timmers, 1998)
beschrieben, einschließlich einer Beschreibung der Geschäftsakteure, ihrer Rollen des
potenziellen Nutzens sowie möglicher Einnahmequellen. Geschäftsmodelle konzentrieren
sich auf die Wertschöpfung, -bereitstellung und -erfassung (Teece, 2010), vernachlässigen
aber viele andere Aspekte, wie z. B. Dynamik, Hierarchien und detaillierte Informations-
flüsse (Massa et al., 2018).
Aus Tab. 6.1, der die Kategorisierung der einzelnen Komponenten entsprechender An-
sätze zu Begriffen der Systemtheorie veranschaulicht, ist ersichtlich, dass die überwiegend
verwendeten Geschäftsmodellansätze den Fokus auf Organisation, Output und Umwelt
legen, aber in der Regel eine ganzheitliche Betrachtung fehlt, da Input, Mitarbeiter und
Technologie häufig vernachlässigt werden. Die Komponente der Organisation wird von
allen drei Geschäftsmodellansätzen stark betont und auch Mitarbeiter und Technologie
werden in gewissem Maße mit einbezogen. Darüber hinaus sind die Finanzen (Einnahmen
und Ausgaben) eine wichtige Teilkomponente der Organisation. Alle drei oben auf-
geführten Ansätze definieren Wertschöpfung als ein Ergebnis, das an die Umwelt – ge-
nauer gesagt, an den Kunden – geliefert wird.
Daher konzentrieren sich alle Ansätze auf die Innenperspektive, um dem Kunden einen
Nutzen zu liefern und somit die Kundenorientierung zu fördern. Dementsprechend fehlt
eine Außenperspektive, die die Einbeziehung von Kunden und speziell Lieferanten des
Unternehmens beinhaltet. Eine Außenperspektive ist jedoch zwingend erforderlich, um
ein Unternehmen an Umweltveränderungen anzupassen, da die Systemtheorie besagt,
dass nicht angepasste Systeme ausscheiden. Wir können auch feststellen, dass sich die
Modelle in ihrer Komplexität unterscheiden; Gassmann et  al. (2014) schlagen das ein-
126 K. Lang et al.

Tab. 6.1  Abbildung existierender Frameworks zur Geschäftsmodellinnovation auf die Termino-
logie der Systemtheorie
Autor (Jahr) Input Organisation Mitarbeiter Technologie Output Umwelt
Gassmann Value chain Value Customer
et al. (2014) Revenue proposition
model
Osterwalder Key activities Key Key Value Key
& Pigneur Customer resources resources Proposition partners
(2010) Relationship Customer
Channels segments
Cost structure
Revenue
streams
Schallmo Value-­ Value-added Value-­ Benefit Customer
(2013) added dimension added dimension dimension
dimension (processes) dimension Partner
(resources) Financial (skills) dimension
dimension
(revenue,
expenses)

fachste Modell vor, das die Wertschöpfung stark betont, und Osterwalder und Pigneur
(2010) unterstützen eine komplexere Zusammensetzung eines Geschäftsmodells, das die
gesamte Organisation abbildet.

6.4.2 Digitale Transformation und Digitalisierung: Ansätze,


Frameworks, und Modelle

Gegenstand dieses Abschnitts ist die systemtheoretische Analyse von Ansätzen, Frame-
works und Modellen zur DT.
Vial (2019) bietet eine umfassende Übersicht von 23 Definitionen für die DT. DT be-
fasst sich mit allen Aspekten eines Organisationssystems, wie z. B. der Nutzung digitaler
Technologien sowie organisatorischer und menschlicher Fähigkeiten zur Verbesserung
von Geschäftsprozessen und Unternehmenserfolg (Westerman et  al., 2011; Westerman
et al., 2014; Karagiannaki et al., 2017), der Steuerung und Rationalisierung von Geschäfts-
prozessen und Märkten (Matt et al., 2015), der Schaffung neuer Geschäftsmodelle (Fitz-
gerald et al., 2014) und der Verbesserung bestehender physischer Produkte mit digitalen
Funktionen (Berghaus & Back, 2016) sowie der Umgestaltung des Kundenerlebnisses
(Piccinini et  al., 2015) und der Vertriebs- und Kommunikationskanäle (Horlach et  al.,
2017). DT ist mehr als nur ein einfaches Technologie-Upgrade (Andriole, 2017) und hat
einen ganzheitlichen Charakter (Hartl & Hess, 2017). Darüber hinaus erfordert DT Fähig-
keiten, die sowohl die Gewinnung und den Austausch von Daten als auch deren Analyse
und Umwandlung in nutzbare Informationen umfassen.
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 127

Bei der Betrachtung von DT konzentrierte sich die aktuelle Forschung häufig auf deren
Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie (z. B. Vial, 2019). Während einige Autoren die
Auffassung vertreten, dass DT die Strategie beeinflusst und Chancen aufgrund innovativer
digitaler Technologien (Tan et al., 2015) oder einer Zusammenführung oder Angleichung
zwischen IT/IS-Strategien und Geschäftsstrategie schafft, sehen andere eine klare Ab-
grenzung. Wir definieren Digitalstrategie in Anlehnung an Schallmo et  al. (2019) wie
folgt als:

cc The strategic form of digitization intentions of companies. The short and mid-term
objectives are to create new or to maintain competitive advantages. Within the digital stra-
tegy, digital technologies and methods are applied to products, services, processes, and
business models. In order to develop a digital strategy, the company and its environment
have to be analyzed as a basis for several future scenarios. The digital strategy consists of
a vision, mission, strategic objectives, strategic success factors, values, and measures.

Hierbei gilt zu unterscheiden: Nach unserem Verständnis umfasst „digitalization“


„grundlegende Veränderungen von Geschäftsabläufen und Geschäftsmodellen auf Basis
von neu gewonnenem Wissen, das durch wertschaffende Digitalisierungsinitiativen ge-
wonnen wird“, während im Gegensatz dazu die „digitization“ als “digitales Aktivieren von
analogen oder physischen Artefakten […] mit dem Ziel, neu gebildetes Wissen zu er-
werben und neuen Wert für die Stakeholder zu schaffen“ definiert wird (Schallmo & Wil-
liams, 2018), S. 5–6.
Tab.  6.2 zeigt die semantische Zuordnung von Teilkomponenten bestehender DT- und
Digitalisierungsansätze, Frameworks und Modelle zu Kategorien der Systemtheorie. Ähnlich
wie beim Geschäftsmodell-Cluster fehlen in der existierenden Literatur häufig die In-
put-Komponente und auch die Output-Komponente wird teilweise vernachlässigt. Außerdem
wird der Fokus auf die innere Geschäftsperspektive gelegt, die nicht nur die Organisations-
komponente, sondern auch eine detaillierte Spezifikation von Mensch und Technologie um-
fasst. In der Regel schlagen die oben genannten Ansätze eine detaillierte Innensicht vor und
geben sogar Handlungsempfehlungen zu den Komponenten der Prozesse innerhalb der Orga-
nisation ab. Es ist wichtig, Mitarbeiter, Führung, Kultur und Fähigkeiten zu berücksichtigen.
Technologien haben keinen besonderen Fokus, was möglicherweise an der Vielseitigkeit di-
gitaler Technologien im Allgemeinen liegt, und bis zu einem gewissen Grad stechen Daten
und Datennutzung hervor. Die Mischung aus einem Nutzenversprechen (einschließlich Pro-
dukten und Dienstleistungen) und Wertschöpfung dominiert den Output. Darüber hinaus
spielt die Kundenzentrierung eine große Rolle, da mehrere Ansätze sie einbeziehen.

6.4.3 Digitale Reifegradmodelle

Digitale Reifegradmodelle werden in der Praxis häufig verwendet, um den Reifegrad eines
Unternehmens in Bezug auf digitale Initiativen zu bestimmen, oft über eine DT-Roadmap,
128

Tab. 6.2  Abbildung existierender Ansätze, Modelle und Frameworks zur Digitalen Transformation auf die Terminologie der Systemtheorie
Autor (Jahr) Input Organisation Mitarbeiter Technologie Output Umwelt
Aguiar et al. Operations (Business Organization Operations (Enter- Value proposition Customer (Customer
(2019) Processes, Monito- (Innovation, HR, prise Architecture, (Products, Services, Experience, Digital
ring and Control, Culture, Collabora- Digitalization and Portfolio) Channels)
Portfolio), Trans- tion, Knowledge, Automation)
formation Manage- Communication,
ment (Digital Business Agility)
Strategy, Changes,
Governance, Business
Model, Structure),
Data (Information,
Data, Security)
Ismail et al. Business model, People/employees Technologies Customer experience Networks (including the
(2017) Operations (compri- (incl. skills, talent (comprising digitally entire value system),
sing processes and and culture) enabled products and Operating environment,
decision-­making) services) Customers, competition,
Financial, operatio- start-ups
nal, differentiation
and innovation
contexts
K. Lang et al.
Morakanyane Determine Develop Digital Cultivate Digital Determine Digital Determine Digital
et al. (2020) Digital Vision Culture: Organiza- Drivers: Technologies Triggers
Drivers: Establish Digital tional Leadership to be Leveraged Determine Impacts:
Other Organization: Digital Traits, Good Define, Determine,
resources Innovation Functional Governance Measure Impacts Facing
that and Implementation Practices the Customer
impact Structure Determine Digital
Determine Transfor- Drivers: Skills and
med Areas: Opportu- Capacities Required,
nities, Target Areas, Digital Leadership
DT Initiatives, Traits
Determine Impacts:
Define, Determine,
Measure Impacts
Facing the Organiza-
tion
Peter et al. Process engineering, Digital leadership Cloud and data, new Customer centricity
(2020) Digital business and culture technologies Digital marketing
development, Digital
marketing
Vial (2019) Strategic responses: Structural Changes: Disruptions: Data Changes in value Disruptions: Consumer
digital business & culture, leadership, availability creation process: Value behavior, Competition
digital transformation employees, skills Use of digital Proposition, Value
strategy Organizational technologies network, Digital
Structural Changes: barriers: resistance, channels, Agility,
Organizational inertia Ambidexterity
structure
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf …
129
130 K. Lang et al.

Tab. 6.3  Abbildung existierender digitaler Reifegradmodelle auf die Terminologie der System­theorie
Autor
(Jahr) Input Organisation Mitarbeiter Technologie Output Umwelt
Back & Organization Collaboration Process Product Customer
Berghaus Strategy Culture & digitization innovations experience
(2016); Transformation expertise Information
Berghaus management technology
et al.
(2017)
Boasman-­ Strategy Culture Technology Customer
Patel Operations
(2019)
Heinrich Digital strategy Talent and Ecosystem
(2016) and targets capabilities leverage
Organization Culture change
structure
Test-and-learn
approach
Hentrich Digital Digital Digital
(2014) identities commerce ecosystem
Digital
consumption
Wyss Digital strategy Organizational New Digital
(2017) & digital structure technologies customer
business models (people & processes
Digital culture) Digital
operational products
processes and services

nachdem bestimmte Handlungsfelder definiert wurden. In Anlehnung an Schallmo et al.


(2020) stellen wir fest, dass digitale Reifegradmodelle Merkmale in einer bestimmten
Dimension zu einem bestimmten Zeitpunkt zusammenfassen. Sie zielen darauf ab, den
aktuellen digitalen Reifegrad in Bezug auf z. B. Kompetenz, Leistung und Erfahrungs-
niveau zu bestimmen. Darüber hinaus ermöglichen Reifegradmodelle Empfehlungen für
künftige Maßnahmen bezüglich digitaler Initiativen.
Tab. 6.3 zeigt bestehende digitale Reifegradmodelle und ihre auf die Systemtheorie an-
gewandten Dimensionen. Wir haben diese auf der Grundlage unserer früheren Forschung
(Schallmo et al., 2020) und ihrer Anwendbarkeit in der Praxis ausgewählt. Obwohl einige
Modelle aus der akademischen Forschung stammen (siehe Peter et al. (2020), für einen
Überblick), haben wir diese zugunsten der praxisorientierten Literatur vernachlässigt, wo
sie ursprünglich eingeführt wurden (Remane et al., 2017). Während zu erkennen ist, dass
sich keines der fünf untersuchten Modelle mit den systemtheoretisch typischen Inputs be-
schäftigt, konzentrieren sich fast alle auf den Output in Form von digital erweiterten Pro-
dukten und Dienstleistungen, digitalem Handel und dem Kundenerlebnis. Darüber hinaus
konzentrieren sie sich hauptsächlich auf die internen Aspekte eines Unternehmens – seine
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 131

Strategie, Geschäftsmodelle und operativen Prozesse – und lassen den Aspekt der Umwelt
teilweise völlig außer Acht (Back & Berghaus, 2016; Berghaus & Back, 2016; Berghaus
et al., 2017; Wyss, 2017; Boasman-Patel, 2019). Diejenigen, die die Umwelt als wichtige
Dimension betrachten, vernachlässigen andererseits teilweise das, was innerhalb des Sys-
tems liegt, insbesondere den Einfluss digitaler Technologien (z. B. Heinrich, 2016; Hen-
trich, 2014).

6.5 Entwicklung eines auf der Systemtheorie basierenden


Frameworks für digitale Transformation (Neu-Ulmer Modell)

Das Kernziel dieses Beitrags ist die Entwicklung eines auf der Systemtheorie basie-
renden Frameworks für DT. Durch die Anwendung der Systemtheorie, seiner Termino-
logie und Konzepte auf Unternehmen wird eine ganzheitliche Sicht auf die Hand-
lungsfelder für DT angestrebt. Diesem Ansatz folgend werden ein Unternehmen bzw.
eine Organisationseinheit als ein System betrachtet, das auf verschiedene Weise mit
seiner Umwelt und insbesondere mit seinen Kunden und Lieferanten verbunden ist
und mit diesen interagiert.
Basierend auf den Elementen der Allgemeinen Systemtheorie, die auf einen Unter-
nehmens- und Managementkontext angewandt werden, und der Bewertung bestehender
Modelle und Frameworks aus der DT sowie verwandter Konzepte aus der Geschäfts-
modellinnovation und der digitalen Reife bis hin zur Systemtheorie, haben wir sechs
Hauptdimensionen für unser Modell identifiziert: digitales Geschäftsmodell, Input,
Lieferantenschnittstelle, Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen sowie die Kunden-
schnittstelle. Die Zusammenfassung der Literatur und die Anwendung auf unsere Dimen-
sionen sind in Tab. 6.4 dargestellt.
Diese sechs großen Handlungsfelder zeigen die Schlüsselbereiche für eine Digitale
Transformation auf und sind in unserem Modell in Abb. 6.3 dargestellt. Hier stehen die
Schnittstellen der Beziehung zur Umwelt und insbesondere die Interaktion und die Schnitt-
stelle zu Kunden, Lieferanten und anderen Stakeholdern im Vordergrund. Dieser In-
side-Out-Ansatz verschiebt den Digitalisierungsschwerpunkt von den Unternehmens-
prozessen hin zu den Interaktionen mit der externen Umwelt. Der systemtheoretische
Blick auf die Innensicht des Systems führt zu Unterscheidungen zwischen Technologie,
Organisation und Mensch und resultiert in digitalen Handlungsfeldern bei der Gestaltung
von Technologien, Prozessen und Mitarbeitern.

A. Geschäftsmodell: Die Entwicklung einer Strategie für die DT umfasst die organisatori-
sche Verankerung von DT im Unternehmen und die Entwicklung eines Ertragsmodells
(Gassmann et al., 2014), um festzulegen, wie mit digitalen Initiativen Erträge erzielt
werden können. Im Hinblick auf die Systemtheorie dient das Geschäftsmodell mit sei-
nen verschiedenen Elementen als die projizierte Struktur des Systems und der Be-
ziehungen zwischen seinen Elementen, während die Implementierung und das tägliche
Tab. 6.4  Anwendung der Konzepte auf ein systemtheoretischen Begriffen basierendes Framework für die digitale Transformation
132

A. Geschäfts-­ C. Lieferanten-­ D. Unter- E. Produkte & F. Kunden-­


Autor (Jahr) modell B. Input schnittstelle nehmen Dienstleistung. schnittstelle
Organisation Technologie Mitarbeiter
Gassmann Value chain Value Customer
et al. (2014) Revenue model proposition
Osterwalder Key partners Key activities, Key resources Key resources Value Customer
& Pigneur Customer relation- proposition segments
(2010) ship, Cost structure, Channels
revenue model
Schallmo Value-­ Partner Value-added Value-added Benefit Customer
(2013) added dimension dimension dimension dimension dimension
dimension (processes), (skills)
(resources) Financial dimen-
sion
Aguiar et al. Trans- Operations Operations Organization Value Customer
(2019) formation (processes, (enterprise (innovation, HR, proposition (Customer.
management monitoring, architecture, culture, (products, experience,
portfolio) digitalization, collaboration, services, digital
Data automation) knowledge, portfolio) channels)
communication,
business agility)
Ismail et al. Business Networks (incl. Operations Technologies People/ Customer Customers
(2017) model entire value (processes, employees experience
system) decision-­making) (skills, talent, (digitally
Financial, operatio- culture) enabled
nal, Differenziation products and
and innovation services)
contexts,
Operational
environment
K. Lang et al.
Morakanyane Develop Determine Determine Establish digital Determine Cultivate digital Define,
et al. (2020) digital vision, Digital digital drivers: organization digital drivers: culture, determine,
Determine Drivers: other resources Define, determine, technologies Determine measure
transformed Other measure impacts digital drivers: impacts
areas: transf. resources facing the organiza- skills, culture, facing the
opportunities that impact tion leadership customer
and initiatives
Peter et al. Strategic Structural changes: Disruptions: Structural Changes in Disruptions:
(2020) responses, Organizational data availabi- changes: value creation consumer
digital structure lity Culture, process: value behavior,
business & Use of digital leadership, proposition competition
digital transf. technologies employees, value
strategy skills network,
digital
channels
Vial (2019) Process engineering Cloud and Digital leader- Customer-­
Digital business data, new ship and culture centricity
development technologies Digital
Digital marketing marketing
Back & Strategy Organization Process Collaboration Public Customer
Berghaus Trans- digitization Culture und innovations experience
(2016), formation Information expertise
Berghaus et management technology
al. (2017)
(Fortsetzung)
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf …
133
134

Tab. 6.4 (Fortsetzung)
A. Geschäfts-­ C. Lieferanten-­ D. Unter- E. Produkte & F. Kunden-­
Autor (Jahr) modell B. Input schnittstelle nehmen Dienstleistung. schnittstelle
Organisation Technologie Mitarbeiter
Boasman-­ Strategy Operations Technology Culture Customer
Patel (2019)
Heinrich Digital Organization Talent and Ecosystem
et al. (2016) strategy and structure capabilities leverage
targets Test-and-learn Culture change
approach
Hentrich Digital identities Digital Digital
(2014) commerce ecosystem
Digital
consumption
Wyss (2017) Digital Digital operational New techno- Organizational Digital Digital
strategy and processes logies structure: products and customer
digital (people & services processes
business culture)
model
K. Lang et al.
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 135

Abb. 6.3  Systemtheorie-basiertes Framework für die digitale Transformation (Neu-Ulmer Modell)
(eigene Darstellung)

Leben die Funktion des Systems widerspiegeln oder, um es mit der Geschäftsmodell-­
Literatur zu vergleichen, das „Grundprinzip, wie eine Organisation Wert schafft, liefert
und erfasst“ (Osterwalder & Pigneur, 2010). Einige Autoren beziehen das Geschäfts-
modell explizit in ihr DT-Framework mit ein (z.  B.  Ismail et  al., 2017; Vial, 2019),
während andere die Digitalstrategie (Vial, 2019; Heinrich, 2016), die explizite Etablie-
rung einer digitalen Vision (Morakanyane et  al., 2020) oder das Transformations-
management (Aguiar et al., 2019; Back & Berghaus, 2016; Berghaus et al., 2017) als
eigene Felder betrachten.
B. Input: Lieferanten und Partner liefern Input für das System, der aus der Umwelt
stammt. Diese Dimension scheint eine der am wenigsten erforschten in der Literatur
bezüglich DT zu sein. Während Schallmo (2013) den Input zu den Ressourcen der
Wertschöpfungsdimension zählt, sprechen Morakanyane et  al. (Morakanyane et  al.,
2020) von anderen Ressourcen als Technologien, die die digitale Transformation be-
einflussen.
C. Lieferantenschnittstelle: Externe Partner und das Ökosystem müssen über neue digi-
tale Schnittstellen in das System integriert werden. Basierend auf der Terminologie der
Systemtheorie definieren wir die Grenze des Systems, über die Input in das System
geliefert wird, als Lieferantenschnittstelle. In der Geschäftsmodell-Literatur werden
diese Schnittstellen grob als Schlüsselpartner (Osterwalder & Pigneur, 2010) oder
Partnerdimensionen (Schallmo, 2013) bezeichnet, andere Autoren sprechen von gan-
zen Wertschöpfungsnetzwerken (Ismail et  al., 2017) oder allgemeinen Ökosystem-­
Hebelwirkungen (Heinrich, 2016), fokussieren sich aber meist auf den Kunden, anstatt
auf mögliche Lieferanten oder Partner. Wenn man bedenkt, dass DT mehr ist als ein
Projekt zur Verbesserung der Lieferkette (Andriole, 2017), müssen Unternehmen
­ähnliche Fragen bezüglich der digitalen Kommunikation mit sowie dem Management
von möglichen Lieferanten und Partnern stellen.
136 K. Lang et al.

D. Unternehmen: Analog zur Systemtheorie bestehen die zentralen Elemente innerhalb


eines Unternehmens aus (1) der Organisationsstruktur und ihren internen Prozessen,
(2) dem Einsatz und der Implementierung von Technologien und (3) dem Einsatz der
menschlichen Arbeit.
Auf das digitale Zeitalter projiziert, sehen wir eine durchgängige Prozess-
digitalisierung, die in der Wirtschaftsinformatik seit Jahrzehnten ein zentrales
Forschungsgebiet ist (Weill & Woerner, 2013). Praktisch alle Ansätze, die wir im Rah-
men unserer Forschung betrachtet haben, umfassen ein oder mehrere prozessbezogene
Elemente; bei den Geschäftsmodell-Frameworks sind dies die Schlüsselaktivitäten
(Osterwalder & Pigneur, 2010), die Wertschöpfungsdimension (Schallmo, 2013) oder,
einfach ausgedrückt, die gesamte Wertschöpfungskette (Gassmann et al., 2014). An-
dere Autoren fügen in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte hinzu, die berück-
sichtigt werden sollten, wie z. B. Entscheidungsprozesse (Ismail et al., 2017), die Im-
plementierung eines agilen Test-und-Lern-Ansatzes angesichts neuer Initiativen
(Heinrich, 2016), die folgenden organisatorischen und strukturellen Veränderungen
(Vial, 2019) und die Notwendigkeit der Messung aller Elemente, die die Organisation
beeinflussen (Morakanyane et al., 2020).
Ein Schlüsselelement der meisten Definitionen von DT ist der Einsatz von dis-
ruptiven digitalen Technologien (Vial, 2019). Neue und disruptive Technologien wer-
den als Treiber für Veränderungen interpretiert, die im Vorfeld bestimmt und auf die
entsprechend reagiert werden muss (Morakanyane et  al., 2020). Zu diesen Techno-
logien gehört das Cloud Computing, das zu einer neuen und leichteren Verfügbarkeit
von Daten führt (Peter et al., 2020). In Anlehnung an Vial (2019), der ebenfalls die
Cloud als zentralen Treiber nennt, können neue Technologien darüber hinaus in die
Kategorien Social, Mobile, Analytics, Internet of Things sowie Plattformen und Öko-
systeme eingeordnet werden. Neue Technologien wirken sich auf andere Dimensionen
unseres Modells aus und haben einen großen Einfluss darauf, wie ein Unternehmen
über seine Systemgrenzen hinaus mit seiner Umwelt interagiert und wie die Schnitt-
stellen zu Lieferanten oder Kunden modelliert werden. Außerdem erweitern sie be-
stehende Produkte um digitale und Smarte Services.
Der dritte wichtige Aspekt innerhalb eines Unternehmenssystems sind die Mit-
arbeiter. Im Hinblick auf die DT müssen die Mitarbeiter auf allen Hierarchien des
Unternehmens auf die Auswirkungen von DT auf die tägliche Arbeit vorbereitet wer-
den. Dieses Thema wurde in digitalen Geschäftsmodell-Frameworks nicht so klar
spezifiziert (obwohl Schallmo (2013) die Fähigkeiten in der Wertschöpfungsdimension
erwähnt) wie in akademischen DT- und digitalen Reifegrad-Frameworks. Die Mit-
arbeiterdimension des Modells umfasst daher verschiedene Teilaspekte. Neben digita-
len Kompetenzen, Talenten und Fähigkeiten der Mitarbeiter sind digitale Führungs-
kompetenz auf Managementebene (Morakanyane et al., 2020; Vial, 2019; Peter et al.,
2020) und die Etablierung einer digitalen Kultur (Aguiar et  al., 2019; Ismail et  al.,
2017; Boasman-Patel, 2019) zwei wichtige Felder, die in der Literatur genannt wer-
den. Auf operativer Ebene werden neue Formen der Zusammenarbeit und Kommuni-
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 137

kation (Back & Berghaus, 2016; Berghaus et al., 2017) eine neue unternehmerische
Agilität (Aguiar et al., 2019) und letztlich die digitale Identität des Unternehmens de-
finieren.
E. Produkte und Dienstleistungen: Der Output in der Systemtheorie ist die Summe der
Produkte und Dienstleistungen, die durch Prozesse, Mitarbeiter und Technologie
innerhalb eines Systems entstehen. In Bezug auf Geschäftsmodellinnovationen wird er
häufig als Wertversprechen verstanden (Osterwalder & Pigneur, 2010; Gassmann
et al., 2014; Schallmo, 2013) und beschreibt den Wert, den ein Unternehmen für den
Kunden in Form von Produkten, Dienstleistungen oder einer Kombination aus beidem
schafft. Einige Modelle, die sich mit DT beschäftigen (Aguiar et al., 2019; Vial, 2019),
verwenden diese Terminologie ebenfalls.
Neue disruptive Technologien (insbesondere das Internet der Dinge) ermöglichen
die Digitalisierung bestehender Produkte sowie die Entwicklung von smarten Produk-
ten und smarten Dienstleistungen (Porter & Heppelmann, 2015). Andere Forschungen
verwenden ähnliche Begriffe wie digitale (Wyss, 2017) oder digital unterstützte Pro-
dukte und Dienstleistungen (Ismail et  al., 2017), ganz allgemein Produktinnovation
(Back & Berghaus, 2016; Berghaus et  al., 2017) oder Digital Commerce (Hen-
trich, 2014).
F. Kundenschnittstelle: Als Kundenschnittstelle definieren wir die Grenze des Systems,
über die der Output an den Kunden geliefert wird. Eine zentrale Rolle in der DT spielt
die Entwicklung von Kundenplattformen, über die Kundentransaktionen abgewickelt
werden. Digitale Kundenschnittstellen können in Form von mobilen Apps oder Web-
portalen auftreten und zu neuen digitalen Plattformen und Ökosystemen führen. Die
Wertschöpfung erfolgt zunehmend über digitale Kanäle (Aguiar et al., 2019) und digi-
tales Marketing (Peter et al., 2020) sowie innerhalb von Wertschöpfungsnetzwerken
aufgrund des veränderten Kundenverhaltens (Vial, 2019). Dieser Fokus auf Kunden-
orientierung (Peter et  al., 2020) hilft, das digitale Ökosystem zu nutzen (Heinrich,
2016) und den digitalen Konsum zu erleichtern (Hentrich, 2014). Daher sehen Mora-
kanyane et  al. (Morakanyane et  al., 2020) es als erfolgskritisch an, alle kunden-
relevanten Aspekte zu definieren, zu bestimmen und zu messen.

6.6 Fallstudien zur Validierung des Frameworks

Um das vorgeschlagene Framework zu validieren, wurde die Methode der Fallstudie an-
gewandt, da „qualitative Fallstudien gut geeignet sind, um Wie- und Warum-Fragen zu
beantworten und ein gegenwärtiges Phänomen in seinem realen Umfeld zu untersuchen“
(Yin, 2013). Mehrere Fallstudien erhöhen die Generalisierbarkeit der Ergebnisse sowie die
externe Validität. IT-Artefakte können in Bezug auf Funktionalität, Vollständigkeit, Kon-
sistenz, Genauigkeit, Leistung, Zuverlässigkeit, Benutzerfreundlichkeit, Eignung für die
Organisation sowie weiteren relevanten Qualitätsmerkmalen bewertet werden (Hevner
et al., 2004). Mit Hilfe von Fallstudien kann das entworfene Artefakt in einer bestimmten
138 K. Lang et al.

Geschäftsumgebung eingehend untersucht werden. Dieser Beitrag enthält drei Fallstudien


mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) aus Süddeutschland, die sich im Prozess
der DT befinden. In verschiedenen Workshops und Interviews mit Führungskräften konn-
ten so wertvolle Einblicke in die aktuellen Herausforderungen sowie die Praktikabilität
des entwickelten Frameworks zur DT gewonnen werden. Die Ergebnisse sind in Tab. 6.5
zusammengefasst.
Die Ausgangssituationen für alle drei Unternehmen sind sehr unterschiedlich. Während
ein Unternehmen noch erhebliche Probleme mit analogen Prozessen hat (Fall 2), hat ein
anderes eine digitale Strategie und Transformations-Roadmap entworfen, obwohl es un-
sicher ist, wie es diese umsetzen soll (Fall 1). Das letzte Unternehmen hat bereits einige
projektorientierte digitale Initiativen in bestimmten Bereichen umgesetzt (Fall 3). Man
kann bereits an dieser Stelle feststellen, dass die Bewältigung der DT eine komplexe
Herausforderung ist, die eine Vielzahl von unterschiedlichen Bereichen in jedem Unter-
nehmen betrifft.
Diese verschiedenartigen Herausforderungen waren deutlich sichtbar in den unter-
schiedlichen Problemdefinitionen der Fälle, die folglich sehr unterschiedliche Prioritäten
setzten. Ein Unternehmen suchte in erster Linie nach einem ganzheitlicheren Ansatz, an-
statt Probleme von einzelnen Abteilungen anzugehen (Fall 3). Die Notwendigkeit von
Transparenz in Bezug auf Daten und die Verknüpfung dieser Informationen mit der
Kundendimension, um digital verbesserte Produkte und Dienstleistungen anzubieten,
wurde als Schlüsselfaktor für den Erfolg identifiziert. Ein anderes Unternehmen (Fall 1)
konzentrierte sich darauf, seine digitalen Initiativen zu präzisieren, wofür es diese sowohl
gegenüber den eigenen Mitarbeitern als auch vor den Kunden verständlich machen musste.
Daher wurde die Notwendigkeit erkannt, klare digitale Prozesse und Geschäftsmodelle zu
schaffen und zu kommunizieren. Das dritte Unternehmen (Fall 2) hatte Technologien und
Infrastruktur als Hauptthema priorisiert, um Papier und analoge Prozesse zu eliminieren
und Wissen für Mitarbeiter leicht zugänglich zu machen. Es ist interessant zu sehen, dass
die beiden Komponenten Kunde und Prozesse, die von der Mehrheit der Ansätze und Frame­
works während unserer Literaturrecherche genannt wurden, ebenfalls im Mittelpunkt
standen.
Außerdem waren die ursprünglichen Auslöser für den Umgang mit DT strategie- (Fall
1), technologie- (Fall 2) und produktorientiert (Fall 3), was zu unterschiedlichen Lösungs-
ansätzen führte. Während sich das erste Unternehmen für einen internen Ansatz entschied,
um seine digitale Strategie und in der Folge auch sein Geschäftsmodell neu zu definieren,
setzten die beiden anderen Unternehmen auf die Digitalisierung ihrer Kundenschnittstelle.
Aufgrund eines umfangreichen Portfolios entschied sich das Fahrzeugbauunternehmen
(Fall 2), einen Produktkonfigurator für Kunden auf seiner Website zu implementieren, um
die Auftragsabwicklung zu beschleunigen und zu digitalisieren und den Papieraufwand zu
reduzieren, während der Komponentenzulieferer (Fall 3) eine mobile App bereitstellte,
damit Kunden ihre Produkte über einen schnellen QR-Scan nachbestellen können und
Lieferengpässe zu vermeiden.
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 139

Tab. 6.5  Übersicht der Fallstudien


Fall 1: Spezial- Fall 3: Fahrzeug-
maschinenbau Fall 2: Fahrzeugbau komponenten
Ausgangslage Erster Entwurf einer IT-Infrastruktur nicht Erste digitale Initiativen
digitalen Strategie auf dem neuesten zur Datenerfassung
inklusive Roadmap Stand (keine und -strukturierung, z. B.,
existiert Datenschnittstelle Teilautomatisierung der
Frage nach Kosten vs. zwischen ERP und Auftragsabwicklung über
Nutzen von digitalen CRM), Einkauf und Kundenportal oder
Buchhaltung nur
Initiativen, keine klaren digitale
Geschäftsmodelle teilweise digital, Wissensmanagement-­
Produktion über- Plattform
wiegend analog
Problemdefinition Mitarbeiter und Kunden Interne Prozesse sind Projektorientierter,
mit sehr unterschied- nicht digitalisiert, nicht-ganzheitlicher
lichem Verständnis für benötigen noch viel Ansatz, größte Heraus-
die Nutzung digitaler Papier forderungen hinsichtlich
Produkte und Dienst- Bedarf an internem interner Prozesse in
leistungen, fehlendes Wissens- und Change-­ Logistik und Lager-
Know-how und Management management,
Manpower für die Digitalisierung des Produktionsdaten sichtbar
Umsetzung digitaler Kundensupports machen, wie Produkte
Initiativen oder die sowie des Bestell- und Dienstleistungen
Digitalisierung von prozesses digital aufgewertet
Geschäftsmodellen werden können
Ziel und Lösungs- Verfeinerung der Erste digitale Mobile Kunden-App zur
ansatz digitalen Strategie und Initiative umfasst Nachbestellung von
Quantifizierung digitaler Online-­ Produkten per QR-Code-­
Initiativen zur Priorisie- Produktkonfigurator Scan
rung zukünftiger zur Verbesserung der Mobile App zur Visuali-
Initiativen Kundenschnittstelle sierung von Produktions-
und Digitalisierung daten ist geplant
kundenbezogener
Prozesse
Dimensionen des Geschäftsmodell, Mitarbeiter, Techno-Produkte und Dienst-
DT Frameworks Prozesse, Kunden- logie, Prozesse, leistungen, Technologien,
schnittstelle, Mitarbeiter Kundenschnittstelle Input, Lieferanten- und
Kundenschnittstelle,
Prozesse
Hilfe durch unser Argumente für eine digi- Hilfe bei der Input zur digitalen
DT Framework tale Zukunft finden Priorisierung von Verbesserung von
(Change Management), digitalen Initiativen Produkten und zur
Priorisierung von und der Erstellung Digitalisierung von
Geschäftsmodellen eines Aktionsplans/ internen Prozessen sowie
einer Roadmap für die zur Nutzung von Daten
digitale Trans-
formation
140 K. Lang et al.

Die Anwendung und Erprobung des Frameworks bei verschiedenen Unternehmen


zeigte, dass das Geschäftsmodell eine übergeordnete Rolle spielt. Weiterhin wurde das
Framework, visualisiert als Input-Output-Modell, als intuitiv und kundenzentriert wahr-
genommen. So hilft es Unternehmen, einen Gesamtüberblick zu erstellen und kritische
Handlungsfelder zu identifizieren, um eine stabile und ganzheitliche digitale Strategie
über einen längeren Zeitraum bereitzustellen, da die Dimensionen zeitlich unabhängig
sind, aber ein Modell auf untergeordneter Ebene kontinuierlich und iterativ entwickelt
werden könnte.
Darüber hinaus wurden alle Dimensionen des Frameworks von den Unternehmen be-
rücksichtigt, um ihren eigenen Weg zur Beherrschung von DT zu finden: das Geschäfts-
modell (Fall 1), der Input (Fall 3), die Lieferantenschnittstelle (Fall 3), das Unternehmen
und seine Prozesse (alle drei Fälle), Mensch (Fälle 1 und 2) und Technologien (Fälle 2 und
3), Produkte und Dienstleistungen (Fall 3) und die Kundenschnittstelle (alle drei Fälle). Es
wurde beobachtet, dass diese Unternehmen zwar abteilungs- oder projektorientiert den-
ken, aber schnell erkennen, dass eine digitale Initiative immer das gesamte System und die
Wechselbeziehung seiner Dimensionen betrifft.
Die befragten Unternehmen gaben an, dass ihnen das Framework insbesondere bei der
Etablierung einer klareren Wahrnehmung von DT und der digitalen Zukunft des Unter-
nehmens, der Bedeutung digitaler Geschäftsmodelle und dem Wert von Unternehmens-
daten, der Notwendigkeit einer strukturierten Transformations-Roadmap mit gesetzten
Prioritäten sowie dem Veränderungsmanagement und den Möglichkeiten zur digitalen
Verbesserung von Produkten und Dienstleistungen geholfen hat.

6.7 Beitrag zur Forschung und praktische Implikationen

Diese Forschung zielt darauf ab, einen Beitrag zur Unterstützung von DT durch die Ent-
wicklung einer theoretischen Grundlage für DT in Unternehmen zu leisten. Die Ergeb-
nisse verbessern das Verständnis dafür, wie DT in Organisationen durch eine Analyse, die
auf einer ganzheitlichen von der wissenschaftlichen Theorie abgeleiteten Methode basiert,
ermöglicht werden kann. Obwohl die Systemtheorie von Haus aus als komplex gilt,
­verfügt sie über eine hohe konzeptionelle Präzision und trägt durch ihre universelle An-
wendbarkeit und Beschreibung aller Arten von Phänomenen zur Beobachtung und Ana-
lyse der sozialen Realität bei. Ihr stabiles und zeitunabhängiges theoretisches Fundament
ermöglicht es der Systemtheorie, über Jahrzehnte hinweg immer wieder neue Forschungs-
erkenntnisse zu produzieren.
Die Ergebnisse geben dem Leser einen Einblick in die DT aus einer systemtheoretischen
Perspektive und führen zu einer umfassenden Struktur für den Umgang mit DT. Das vor-
gestellte Modell ist ein intuitiver und kundenzentrierter Ansatz, der bei der zukünftigen
Weiterentwicklung des Themas genutzt werden kann.
Die Forschungsergebnisse lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass das vor-
geschlagene, auf der Systemtheorie basierende Framework zu einer ganzheitlicheren Be-
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 141

trachtung von DT beitragen kann, indem es alle Aktivitäten entlang der sechs Dimensio-
nen des Frameworks in den Fokus nimmt. Die Erkenntnisse können als DT-Roadmap
verwendet werden (z.  B. digitale Reifegradanalyse, digitale Strategie-entwicklung
und -implementierung). Darüber hinaus erwies es sich als effektives Visualisierungs- und
Kommunikationsmodell für alle Handlungsbedarfe der DT innerhalb und außerhalb des
Unternehmens. Werden digitale Transformationsinitiativen mit einer klaren Struktur für
Maßnahmen begonnen, kann dies das Risiko des Scheiterns mindern und Führungskräfte
in die Lage versetzen, Probleme der Unternehmens-transformation aufgrund der hohen
Variabilität von Technologien und Kundenbedürfnissen effektiv zu bewältigen.

6.8 Einschränkungen und Empfehlungen für weitere Forschung

Diese Arbeit kommt nicht ohne Einschränkungen und theoretische Abgrenzungen aus.
Erstens bietet das Framework eine ganzheitliche Perspektive auf die DT und damit einen
relativ breiten Überblick über ein Unternehmen. So lassen sich zwar Handlungsfelder für
eine erfolgreiche DT ableiten, für eine detaillierte Anleitung ist jedoch weitere Forschung
ratsam. Zweitens ist die untersuchte bestehende Literatur zur Definition der Handlungs-
felder zwar repräsentativ, aber nicht allumfassend. Schließlich ist diese Studie insofern
begrenzt, als das entwickelte Framework lediglich durch die Anwendung auf drei KMU in
Süddeutschland validiert wurde, die unser Modell einerseits erfolgreich anwandten, es
andererseits aber für unterschiedliche Zwecke nutzten (z. B. Geschäftsmodellinnovation,
Prozessoptimierung oder Implementierung neuer Technologien). Wir empfehlen daher,
die Gesamtzahl zusätzlicher Anwendungsfälle zu erhöhen, um jedes Handlungsfeld zu
validieren und die Anwendbarkeit über Unternehmen verschiedener Größen und geo-
grafischer Regionen hinweg sicherzustellen.

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Prof. Dr. Klaus Lang  ist Professor für Unternehmensführung und


Informationsmanagement an der Hochschule Neu-Ulm, Gründer und
Leiter des Instituts für digitale Transformation (IDT). Er ist Wirt-
schaftswissenschaftler und Informatiker, Dozent, Unternehmens-
berater und Autor. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Be-
reichen IT-Strategie und Digitale Transformation.
Klaus Lang verfügt über zehn Jahre Praxiserfahrung in ver-
schiedenen Beratungsunternehmen. Als Studiendekan ist er für das
Qualitätsmanagement der Fakultät verantwortlich. Eine Reihe von
6  Konzeption und Erprobung eines Frameworks zur Digitalen Transformation auf … 145

internationalen Partnerhochschulen werden von ihm betreut. Er ist


als unabhängiger Gutachter für die Bewertung von Studiengängen
bei verschiedenen Akkreditierungsstellen tätig. Klaus Lang ist außer-
dem Autor mehrerer Publikationen und Referent auf Konferenzen.
Daniel Hasler  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule
für Angewandte Wissenschaften Neu-Ulm und Mitglied des Instituts
für digitale Transformation. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im
Bereich Digitale Plattformen. Er unterstützt das Professoren-Team
in  verschiedenen Forschungsprojekten des Instituts in Bezug auf
Smarte Services, Digitaler Reifegrad oder Digitale Transformation
und KMU.
Daniel Hasler studierte International Management an der Hoch-
schule Düsseldorf und Internationales Marketing an der Hochschule
Niederrhein. Er absolvierte Auslandssemester an der Universidad de
Lima in Peru sowie an der Université de Haute-Alsace in Colmar,
Frankreich. Er verfügt über mehrjährige praktische Erfahrung in den
Bereichen Marketing, Vertrieb, Schulung und Unternehmensent-
wicklung in mittelständischen Softwareunternehmen.

Tobias Hackl  fokussiert sich in der Forschung auf das Thema


Datenstrategie und datenbasierte Geschäftsmodelle. Im erweiterten
Forschungsfokus beschäftigt er sich mit der strategischen Implemen-
tierung von Emerging Technologies und Big Data Analytics.
Hackl schloss seinen B.Sc. der Wirtschaftswissenschaften an der
Universität Konstanz ab, wobei er zwei Auslandssemester in den
USA verbrachte. Während seines M.Sc. der BWL mit Schwerpunkt
Wirtschaftsinformatik an der Universität Hamburg verbrachte er ein
Auslandssemester an der Copenhagen Business School. Seine prak-
tischen Erfahrungen sammelte er im strategischen und prozess-
orientierten Marketing der BMW AG sowie im Team des CMO der
KPMG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft.
Katharina Ehmig-Klassen  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an
der Hochschule für angewandte Wissenschaften Neu-Ulm und Mit-
glied des Instituts für digitale Transformation. Ihr Forschungs-
schwerpunkt ist der Bereich digitale Transformation von kleinen und
mittleren Unternehmen. Weitere Forschungsinteressen liegen im De-
sign Thinking, StartUp-Szene und Entrepreneurship.
Außerdem ist sie als Beraterin für Marketing, Kommunikation
und Unternehmens-­ entwicklung tätig. Berufsbegleitend absolviert
sie aktuell ihren MBA im Bereich „Digital Leadership und Informa­
tionsmanagement“.
Katharina Ehmig-Klassen hat nach ihrer Ausbildung zur Kauffrau
für Bürokommunikation an der Hochschule Neu-Ulm ihren Bachelor
in Informationsmanagement und ­Unternehmenskommunikation ab-
geschlossen und verfügt über mehrjährige praktische Erfahrung in
der Kommunikation im Mittelstand und der öffentlichen ­Verwaltung.
Strategische Planung des Einstiegs in die
Plattformökonomie 7
Leon Özcan, Marvin Drewel, Christian Koldewey
und Roman Dumitrescu

Zusammenfassung

Plattformen haben im Business-to-Consumer (B2C)-Bereich gravierende Ver-


änderungen ausgelöst und z.  B. im Hotel- und Taxigewerbe etablierte Strukturen
­erodiert. Es wird erwartet, dass diese Plattformisierung weiter voranschreitet und
in Zukunft auch im Business-to-Business (B2B)-Bereich ähnlich substantielle Ver-
änderungen herbeiführt. Der Aufstieg digitaler Plattformen betrifft somit auch etab-
lierte Industrieunternehmen. Diese sind mit der Herausforderung konfrontiert, die
Auswirkungen digitaler Plattformen richtig zu bewerten. In Abhängigkeit von an-
visierter Branche und der angebotenen Produkte variiert die Eignung für das Platt-
formmodell. Der Einstieg in die Plattformökonomie erfordert daher ein kluges strate-
gisches Agieren, um am wirtschaftlichen Erfolg des Plattformmodells partizipieren
zu können.

L. Özcan (*) · C. Koldewey


Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut, Paderborn, Deutschland
E-mail: leon.oezcan@hni.uni-paderborn.de; christian.koldewey@hni.uni-paderborn.de
M. Drewel
Miele & Cie. KG, Gütersloh, Deutschland
E-mail: marvin.drewel@miele.com
R. Dumitrescu
Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut, Paderborn, Deutschland
Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn, Deutschland
E-mail: roman.dumitrescu@iem.fraunhofer.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 147


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_7
148 L. Özcan et al.

Schlüsselwörter

Plattformökonomie · Strategische Planung · Digitale Plattform · Plattformökosystem ·


Mehrseitige Märkte

7.1 Einleitung

Im Zuge der Digitalisierung entfaltet das Plattformmodell sein ganzes Disruptionspotenzial.


Das Bewusstsein um die Bedeutung der Plattformökonomie wächst. In diesem Zuge be-
absichtigen etablierte Industrieunternehmen ihre Möglichkeiten zum Einstieg in die Plattform-
ökonomie auszuloten. Denn es scheint sicher, dass der Aufstieg digitaler Plattformen auch den
von klein- und mittelständischen Unternehmen geprägten Maschinen- und Anlagenbau erfassen
wird. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019) geht davon aus, dass der Bei-
trag von digitalen Plattformen zur Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes von
1,5 % im Jahr 2018 auf bis zu 7,8 % im Jahr 2024 steigen wird. Eine digitale Plattform fungiert
dabei als Intermediär in einem Markt und bringt zum Beispiel Anbieter digitaler Dienstleitungen
mit produzierenden Unternehmen zusammen (Choudary, 2015). Dieses Konzept ist nicht neu
und klassische Marktplätze bringen Verkäufer und Käufer bereits seit Jahrhunderten zusammen
(Siemens, 2016). Der Durchbruch moderner Informations- und Kommunikationstechnologien
ermöglicht digitalen Marktplätzen jedoch innerhalb kurzer Zeit stark zu skalieren (Alstyne et al.,
2016; Choudary, 2015). Plattformunternehmen unterscheiden sich dabei von klassischen Unter-
nehmen insofern, dass Plattformunternehmen selbst keine Wertschöpfung betreiben, sondern
vielmehr wertschöpfende Interaktionen zwischen Produzenten und Kunden ermöglichen (Al-
styne et al., 2016). Um an der Plattformökonomie und seinen Chancen zu partizipieren, haben
klassische Industrieunternehmen zwei grundlegende Optionen (Engels et al., 2017): Sie können
eine Plattform aufbauen oder bestehenden Plattformen beitreten. Letzteres ist entsprechend
einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft deutlich etablierter (Lichtblau, 2019).
Es darf jedoch nicht darüber hinweggetäuscht werden, dass der Einstieg in die Plattformöko-
nomie mit vielfältigen Herausforderungen verbunden ist. So unterscheiden sich die Aus-
wirkungen digitaler Plattformen von Branche zu Branche (Parker et al., 2017). In Konsequenz
scheitern Plattformambitionen, weil entweder Branche oder Produkt für den Einstieg in die
Plattformökonomie ungeeignet sind. Eine Studie des BCG Henderson Institutes hat ergeben,
dass nur 15 % aller Plattformunternehmen langfristig erfolgreich sind (Pidun et al., 2020). Um
den Erfolg von Plattformbestrebungen abzusichern, müssen Zielbranche und Marktleistung hin-
sichtlich ihrer Plattformeignung analysiert werden. Darauf aufbauend kann entschieden werden,
ob und wie der Einstieg in die Plattformökonomie erfolgen kann. Neben den beiden Stoß-
richtungen Plattformaufbau und Plattformbeitritt, kann auch das Ausbleiben von Plattform-
aktivitäten ein legitimes Ergebnis der Analyse sein. Da die meisten digitalen Plattform scheitern,
ist es unumgänglich, dass bei der strategischen Planung von Plattformvorhaben auch die Gründe
für den Misserfolg von Plattformen betrachtet werden. Ferner ist das Vorhaben im Sinne einer
dynamischen strategischen Planung einem ständigen Controlling zu unterziehen.
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 149

Die Literatur liefert Unternehmen eine Vielzahl an Methoden für die Entwicklung von
Plattformgeschäftsmodellen, um selbst den Einstieg in die Plattformökonomie zu ge-
stalten. Eine marktseitige Analyse des Bedarfs für eine Plattform ist häufig sekundär. Be-
vor ein Unternehmen jedoch die Entscheidung trifft, wie es in der Plattformökonomie
partizipieren kann, ist zu prüfen, ob eine Partizipation ökonomisch sinnvoll ist. Die er-
forderliche marktseitige Analyse von Zielbranche und Marktleistung in der Plattformöko-
nomie erfordern neue Ansätze und Methoden, die Gegenstand von diesem Kapitel sind.

7.2 Das Disruptionspotenzial digitaler Plattformen

Der Aufstieg von digitalen Plattformen setzt traditionelle Unternehmen unter Druck und
verändert die Wettbewerbsarena (Alstyne et al., 2016). In dem folgenden Abschnitt wird
auf die Elemente eingegangen, die das Disruptionspotenzial von digitalen Plattformen be-
gründen. Im Anschluss an die begriffliche Abgrenzung werden die zwei wesentlichen Säu-
len des Erfolgs von digitalen Plattformen vorgestellt. Ferner werden technologische Befä-
higer und marktseitige Forderungen erläutert, die das Disruptionspotenzial von digitalen
Plattformen stützen. Der Abschnitt schließt mit einer Analyse der tatsächlichen öko-
nomischen Relevanz von digitalen Plattformen.

7.2.1 Digitale Plattform

Der Plattformbegriff wird in verschiedenen Zusammenhängen genutzt. In der Bauwirt-


schaft sind Plattformen erhöhte Flächen, zu denen zum Beispiel Aussichtsplattformen oder
Bohrplattformen zur Förderung von fossilen Brennstoffen zählen. Im Maschinen- und An-
lagenbau ist eine Plattform eine standardisierte konstruktive Basis, auf dessen Grundlage
verschiedene Produktvarianten aufgebaut werden. Der Einsatz solcher Plattformen für ver-
schiedene Produktvarianten ermöglicht produzierenden Unternehmen Variantenvielfalt und
Komplexität zu reduzieren (Reillier & Reillier, 2017; Siemens, 2016). Das für dieses Kapi-
tel relevante Verständnis von Plattformen geht auf die Ausführungen von Rochet und Tirole
zurück, die 2003 in dem Artikel „Platform Competition in Two-Sided Markets“ erstmalig
die Zusammenhänge von zweiseitigen Märkten beschrieben haben (Rochet & Tirole,
2003). Zweiseitige Märkte sind dadurch charakterisiert, dass sie direkte Interaktionen zwi-
schen zwei Seiten eines Marktes ermöglichen. Das Konzept des zweiseitigen Marktes lässt
sich erweitern, indem weitere Teilnehmer eingebunden werden. In einem solchen Fall wird
aus einem zweiseitigen ein mehrseitiger Markt. Unternehmen, die diese zwei- oder mehr-
seitigen Märkte orchestrieren, werden Plattformunternehmen genannt (Evans & Schmalen-
see, 2016). Sie sind dadurch charakterisiert, dass sich ihre Leistung auf die Organisation der
direkten Interaktionen zwischen zwei oder mehr Teilnehmerseiten eines Marktes be-
schränkt. Hierfür werden sie von den beteiligten Marktseiten bezahlt (Baums, 2015). Die
Besonderheit von zwei- oder mehrseitigen Märkten ist, dass der von einer Marktseite ge-
150 L. Özcan et al.

zahlte Preis die Möglichkeit eröffnet, andere Marktseiten zu subventionieren (Rochet &
Tirole, 2006). Für traditionelle Geschäftsmodelle ist eine Preisstrategie unterhalb der an-
fallenden Kosten nicht nachhaltig. Unternehmen, die in mehrseitigen Märkten operieren,
können hingegen durch die S ­ubventionierung einer Marktteilnehmerseite den öko-
nomischen Gesamtwert mehren (Reillier & Reillier, 2017). Evans und Schmalensee er-
gänzen, dass Unternehmen Plattformen sowohl physisch als auch digital betreiben können
(Evans & Schmalensee, 2016). Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung haben jedoch
insbesondere digitale Plattformen eine hohe Relevanz, auf die dieses Kapitel im Detail ein-
gehen wird. Für die nachstehenden Ausführungen wird die Definition von Parker et  al.
(2017) aufgegriffen. Eine digitale Plattform ermöglicht wertschöpfende Interaktionen zwi-
schen Produzenten und Kunden. Die Plattform stellt den Plattformteilnehmern hierzu eine
digitale Infrastruktur bereit und bestimmt, unter welchen Rahmenbedingungen und Regeln
die Interaktion stattfindet (Parker et al., 2017).
Um Plattformanbieter von traditionellen Unternehmen unterscheiden zu können, hat
sich ferner der Begriff Pipeline-Unternehmen für letztere etabliert. Um digitale Platt-
formen von traditionellen Unternehmensformen unterscheiden zu können, hat sich der
Begriff Pipeline-Unternehmen etabliert. Die Pipeline ist eine Assoziation mit der Wert-
schöpfungskette nach Porter, welche die klassische Form der Wertschöpfung beschreibt.
In dieser werden die Aktivitäten und Prozesse eines Unternehmens in eine lineare Abfolge
unterteilt. Pipeline-Unternehmen kaufen Rohstoffe ein und transformieren diese in inter-
nen Prozessen zu wertgesteigerten Gütern, welche dann an Kunden verkauft werden (Par-
ker et al., 2017; Porter, 1985).

7.2.2 Technologische Befähiger und ökonomische Treiber

Der Erfolg von digitalen Plattformen geht auf technologische Befähiger und ökonomische
Treiber zurück. Technologische Befähiger schaffen die Voraussetzungen für Plattformen
und die marktseitigen Forderungen Treiber führen zu einer immer schnelleren Verbreitung
dergleichen (Parker et al., 2017). Ähnlich wie beim Konzept des Technology Push und des
Market Pull, kann folglich zwischen markt- und technologieinduzierten Impulsen für di-
gitale Plattformen unterschieden werden (Bullinger, 1994). Der Technology Push be-
schreibt eine Idee, die ihren Ursprung in einer neuen Technologie hat (Specht & Möhrle,
2002). Beim Market Pull geht der Impuls für eine Idee von einem veränderten Konsu-
mentenbedürfnis in einem Markt aus (Gerpott, 2005). Market-Pull und Technology-Push
kommen in ihrer reinen Form in der Realität nie oder nur sehr selten vor und sind vielmehr
als Planungskonzepte zu verstehen (Herstatt & Lettl, 2000). Ein Zusammentreffen beider
Mechanismen führt häufig zu bahnbrechenden Erfolgen und ist entscheidend für den Er-
folg von Innovationen (Gausemeier et al., 2019; Spath & Warschat, 2008).
Der Megatrend Digitalisierung kann als Technology-Push aufgefasst werden und um-
fasst die durch digitale Technologien verursachten Veränderungen für produzierende
Unternehmen. Die Beherrschung dieser digitalen Technologien ist entscheidend für den
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 151

Einstieg in die Plattformökonomie (Evans & Schmalensee, 2016; Parker et al., 2017). In
der wissenschaftlichen Literatur haben sich insbesondere die folgenden drei Enabler als
entscheidend herauskristallisiert:

Vernetzung  Getrieben durch den Ausbau von Breitbandanschlüssen und Mobilfunk-


netzen nimmt die Vernetzung unserer Welt stetig zu (Kaeser, 2015). Die Anzahl der mit
dem Internet vernetzten Gegenstände und Industrieanlagen wird bis 2030 auf ca. 500 Mil-
liarden ansteigen (Kagermann et al., 2017). Das daraus resultierende Internet der Dinge
ermöglicht die Integration zahlreicher Akteure und Industrieanlagen in digitale Platt-
formen und bereitet so den Boden für die Plattformökonomie (Evans & Schmalen-
see, 2016).

Verfügbarkeit  Begünstigt durch sinkende Preise für Rechner-Komponenten (z. B. Pro-


zessoren) und die zunehmende Etablierung von Cloud Computing sind die Kosten für
Datenspeicherung und Verfügbarkeit in den letzten Jahren stetig gesunken (Matyssek,
2017). Cloud-Dienste ermöglichen einen geräteübergreifenden und ortsunabhängigen
Datenzugriff zu geringen Grenzkosten (Evans & Schmalensee, 2016).

Verarbeitung  Das Datenhandling spielt eine entscheidende Rolle für den Erfolg von di-
gitalen Plattformen (Winter, 2017). Durch die Verkleinerung von Transistoren hat sich die
Rechenleistung von Prozessoren von 1981 bis 2014 um den Faktor 300 erhöht und es
wurden entscheidende Fortschritte bei der Verarbeitung von Datenmengen durch intelli-
gente Algorithmen erzielt (Choudary, 2015; Evans & Schmalensee, 2016).

Die technologischen Befähiger beschreiben die rasante Entwicklung von Informations-


und Kommunikationstechnologien. Diese sind ausschlaggebend dafür, dass heute die nö-
tige Hard- und Software für den Betrieb digitaler Plattformen verfügbar ist. Darüber hi­
naus gibt es marktseitige Entwicklungen und Bedürfnisse von Kunden, die insbesondere
mit einer Plattform realisiert werden können. Im Einklang mit der Idee des Market Pull
wirken diese als weitere Treiber für die Verbreitung digitaler Plattformen (Jaekel, 2017).

Sharing-Ökonomie  Digitale Plattformen haben Veränderungen beim Nutzerverhalten


von Kunden ausgelöst. Kerngedanke der Sharing Ökonomie ist, dass mit einer ge-
meinsamen Nutzung von Ressourcen die Auslastung dieser Ressourcen erhöht werden
kann. Für alle beteiligten Parteien werden so Werte geschaffen, da Interaktionen ermög-
licht werden, die ohne eine digitale Plattform nicht zu Stande gekommen wären (Evans &
Schmalensee, 2016; Parker et al., 2017).

Ganzheitliche Lösungen  Kunden erhalten durch digitale Plattformen Zugang zu einem


breiten Angebot, wodurch sich die Möglichkeit bietet, Marktleistungen ganzheitlich und
gebündelt über eine zentrale Anlaufstelle zu beziehen (Tiwana, 2014).
152 L. Özcan et al.

Technologische Befähiger Ökonomische Treiber

Vernetzung Sharing-Ökonomie
Treiber der
Plattform-
Verfügbarkeit ökonomie Ganzheitliche Lösungen

Verarbeitung Serviceorientierung

Abb. 7.1  Treiber der Plattformökonomie. (Quelle: Eigene Darstellung)

Serviceorientierung  Etablierte Geschäftsmodelle werden zunehmend durch neue Ser-


vices ergänzt (Baines et  al., 2007). Etablierte Unternehmen können etwa neue Erlös-
quellen erschließen, indem sie physische Produkte durch Dienstleistungen ergänzen
(Sayar & Er, 2018). Hier rücken insbesondere digitale Services in den Fokus, für dessen
Erbringung vermehrt digitale Plattformen eingesetzt werden (Baums et al., 2015). Eine
zusammenfassende Darstellung der Plattformisierungstreiber ist in Abb. 7.1 dargestellt.

Unternehmen mit der Absicht in die Plattformökonomie einzusteigen, müssen Kennt-


nisse über moderne Informations- und Kommunikationstechnologien haben. Zudem müs-
sen sich etablierte Unternehmen der neuen Marktmechanismen, wie dem Bedürfnis zu
ganzheitlichen Lösungen oder dem Hang zur Sharing-Ökonomie bewusst werden. Diese
können in Abhängigkeit von Branche und Produkt variieren.

7.2.3 Säulen des Erfolgs

Das Disruptionspotenzial digitaler Plattformen beruht nach Parker et al. (2017) im Wesent-
lichen auf zwei ökonomischen Vorteilen: Grenzkosten und Netzwerkeffekte. Diese öko-
nomischen Vorteile ermöglichen es Plattformunternehmen, ihre Geschäftsaktivitäten mit
geringeren Investitionen im Vergleich zu Pipeline-Unternehmen auszubauen.
Grenzkosten beschreiben zusätzliche Kosten, die entstehen, wenn eine zusätzliche
Einheit eines bestimmten Produkts oder einer Dienstleistung produziert wird (O'Sullivan
& Sheffrin, 2003). Wenn die Hotelkette Hilton einen neuen Markt erschließen möchte,
muss in neue Gebäude und neues Personal investiert werden. Im Gegensatz zu den eta­
blierten Hotelketten expandiert die digitale Plattform Airbnb mit nahezu keinen Grenz-
kosten. Neue Unterkünfte werden von privaten Gastgebern zur Verfügung gestellt, die
nicht nur für die Auslastung, sondern auch für den Betrieb ihrer Unterkunft verantwortlich
sind. Für Airbnb fallen für die Erschließung neuer Unterkünfte keine gravierenden Kosten
an. Die geringen Grenzkosten ermöglichen es digitalen Plattformen, ihr Geschäft mit mi-
nimalen Kosten zu erweitern.
Der Netzwerkeffekt beschreibt, wie sich der Wert eines Produktes ändert, wenn sich
die Anzahl der Kunden des gleichen Produktes ändert. Auf Plattformmärkten können
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 153

d­ irekte und indirekte Netzwerkeffekte auftreten. Direkte Netzwerkeffekt treten auf, wenn
sich der Wert eines Produktes mit der Gesamtzahl der Konsumenten desselben Produktes
ändert (Katz & Shapiro, 1986). Ein in diesem Zusammenhang häufig angeführtes Beispiel
ist das Telefon. Indirekte Netzwerkeffekte treten auf, wenn sich der Wert eines Produktes
ändert, sobald sich die Anzahl der Kunden eines anderen Produktes ändert, ohne dass eine
direkte Beziehung zwischen diesen beiden Produkten besteht (Shapiro & Varian, 1998).
Der indirekte Netzwerkeffekt ist charakteristisch für zwei- oder mehrseitige Märkte.
Dabei führt eine erhöhte Anzahl von Teilnehmern auf der einen Seite des Marktes tenden-
ziell zu einer Erhöhung der Anzahl von Teilnehmern auf der anderen Seite des Marktes.
Positive direkte und indirekte Netzwerkeffekt sind die treibende Kraft hinter dem Erfolg
von digitalen Plattformen wie Airbnb. Mit steigender Anzahl von Nutzern einer Plattform
steigt die Attraktivität der Plattform für andere Nutzer.
Durch die Realisierung von positiven Netzwerkeffekten und geringen Grenzkosten
können Plattformunternehmen schnell expandieren und eine beträchtliche Marktrelevanz
erlangen.

7.2.4 Der ökonomische Erfolg digitaler Plattformen

Eine Analyse der historischen Entwicklung der wertvollsten Unternehmen weltweit ver-
anschaulicht das disruptive Potenzial digitaler Plattformen (vgl. Abb. 7.2). Während 1995
noch klassische Unternehmen das Ranking der zehn wertvollsten Unternehmen der Welt
dominierten, waren Ende 2020 sieben der zehn wertvollsten Unternehmen Plattformunter-
nehmen. Diese Entwicklung und die heute hohe Marktkapitalisierung von digitalen Platt-
formen veranschaulicht den rapiden Bedeutungszuwachs von digitalen Plattformen für die
Weltwirtschaft.
Auch wenn Europa bis dato nur bedingt von der Plattformökonomie profitieren konnte,
wächst das Bewusstsein um deren ökonomische Bedeutung. Um die europäischen Ver-
säumnisse in den vergangenen Jahren aufzuholen, wird viel Geld investiert, um an dem
Erfolg amerikanischer und asiatischer Plattformen anzuknüpfen. So hat das Bundes-
ministerium für Wirtschaft und Energie für die Erschließung des B2B-Plattformpotenzials
bis 2017 knapp 100 Mio. Euro für mehr als 30 Verbundprojekte bereitgestellt (von Engel-
hardt et al., 2017). Bis auf wenige Ausnahmen bleibt der Erfolg der angestoßen Plattform-
initiativen jedoch aus. So wurde beispielsweise die vom Maschinen- und Anlagenbauer
Trumpf aus Eigeninitiative angestoßene digitale Plattform Axoom zerschlagen und an
GFT verkauft. Das für etablierte Unternehmen der Einstieg in die Plattformökonomie ge-
lingt ist also keine Selbstverständlichkeit. Der Einstieg muss auf Grundlage einer fundier-
ten strategischen Entscheidung beruhen und die Dynamik der Plattformökonomie
­berücksichtigen.

Forschungsmethodik
Die Literatur liefert Unternehmen eine Vielzahl an Methoden für die Entwicklung von
Plattformgeschäftsmodellen, um selbst den Einstieg in die Plattformökonomie zu ge-
154 L. Özcan et al.

1995 2010 2020

Nippon
136 Exxon Mobil 350 Aramco 1648
Telegraph
General Electric 107 Petrochina 293 Microsoft 1359

Exxon Mobil 104 Apple 285 Apple 1285

Coca-Cola 90 ICBC 235 Amazon 1233

China Construc-
Toyota 87 224 Alphabet 919
tion Bank
Philip Morris 71 BHP Billiton 220 Facebook 583

Roche 70 Microsoft 216 Alibaba 545


Industrial
69 China Mobile 201 Tencent 509
Bank Japan
Berkshire
Merck 69 Petrobas 199 455
Hathaway
Berkshire Johnson &
Royal Dutch 68 197 395
Hathaway Johnson

Pipeline-Unternehmen Plattform-Unternehmen

Abb. 7.2  Die zehn wertvollsten Unternehmen der Welt von 1995 bis 2020. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

stalten. Eine marktseitige Analyse des Bedarfs für eine Plattform ist häufig sekundär.
Bevor ein Unternehmen jedoch die Entscheidung trifft, wie es in der Plattformöko-
nomie partizipieren kann, ist zu prüfen, ob eine Partizipation überhaupt ökonomisch
sinnvoll ist. Hierzu ist eine Weiterentwicklung bisheriger strategischer Planungs-
instrumente für die Plattformökonomie notwendig. Zudem legt die wissenschaftliche
Literatur den Fokus auf die Strategieentwicklung und vor- und nachgelagerte Phasen
der strategischen Planung werden nur rudimentär behandelt. Für die angestrebte
Weiterentwicklung sind Ansätze und Rahmenwerke der klassischen strategischen Pla-
nung und ebenso bestehende Ansätze zur strategischen Planung von Plattformaktivi-
täten zusammenzuführen. Um diese Lücke zur bestehenden Literatur zu schließen,
wird die Design Science Research-Methodik nach Hevner angewandt (Hevner et  al.,
2004). In diesem Zuge wurden mehrere Forschungsfragen aufgeworfen, die in diesem
Kapitel beantwortet werden.

Forschungsfragen
Welche Branchen tendieren zu digitalen Plattformen?

Welche Produkte sind für digitale Plattformen geeignet?


Welche Strategieoptionen gibt es für den Einstieg in die Plattformökonomie?
Im Relevanzzyklus wird die Umgebung des zu untersuchenden Problems ein-
schließlich relevanter Elemente definiert. Ferner erfolgt die Definition von An-
forderungen an die Forschungsergebnisse. Gegenstand des in diesem Kapitel be-
handelten Problems ist der Einstieg in die Plattformökonomie für etablierte
Industrieunternehmen. Dabei sind die Branche und die Produkte eines Unternehmens
mit in die Analyse einzubeziehen, die den Rahmen für den Problemraum festlegen. Im
anschließenden Rigorzyklus wird die für die Forschungsarbeiten relevante Wissens-
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 155

basis einbezogen, wozu Rahmenwerke der strategischen Planung oder auch die zur
Problemlösung relevanten Wissenselemente, wie die angeführten Bewertungskriterien
zählen. Im dritten und letzten Zyklus, dem Design-Zyklus, werden die Erkenntnisse
konsolidiert und neue Methoden erarbeitet. Diese müssen den Anforderungen des
Relevanzzyklus gerecht werden und auf der Wissensbasis des Rigorzyklus aufbauen.
Die im Design-Zyklus gewonnenen Erkenntnisse werden in der Wissensbasis (Rigor-
zyklus) ergänzt und im definierten Problemraum (Relevanzzyklus) validiert. Die ge-
wählte Forschungsmethodik ermöglicht es, Anforderungen aus der Umgebung abzu-
leiten und mit bestehendem Wissen aus der klassischen strategischen Planung sowie
den plattformspezifischen Planungsmethoden zu verknüpfen. Auf dieser Grundlage
können neue Ansätze zur strategischen Planung von Plattformaktivitäten erarbeitet
werden. Diese ermöglichen Industrieunternehmen eine fundierte strategische Planung
für den Einstieg in die Plattformökonomie.

7.3 Strategische Planung des Einstiegs


in die Plattformökonomie

Der Einstieg in die Plattformökonomie muss auf Grundlage einer fundierten strategi-
schen Planung erfolgen. In dem Prozess der strategischen Führung nach Gausemeier
und Plass werden vier Phasen unterschieden: Analyse, Ermittlung von Strategieop­
tionen, Strategieentwicklung und Strategieumsetzung (vgl. Abb.  7.3) (Gausemeier &
Plass, 2014).

Welchen Plan verfolgen wir warum?

Welche Möglichkeiten haben wir


Liegen wir auf Kurs und in der Zukunft?
gelten die Annahmen noch?

Wo stehen wir heute und welche


Wie gestalten wir den Prozess und Möglichkeiten haben wir heute?
wie halten wir ihn in Gang?

Abb. 7.3  Phasen der strategischen Führung nach Gausemeier und Plass (2014)
156 L. Özcan et al.

Analyse  In der Analysephase wird die Ausgangssituation des betrachteten Unternehmens


charakterisiert, welche den Ansatzpunkt der zu entwickelnden Strategie bildet. Im R
­ ahmen
unseres methodischen Vorgehens werden hierzu die Zielbranchen und die Produktfamilien
eines Unternehmens identifiziert.

Ermittlung von Strategieoptionen  In der zweiten Phase werden Möglichkeiten er-


mittelt, wie ein Unternehmen am Erfolg des Plattformmodells partizipieren kann. Hierzu
haben wir vier allgemeingültige Strategieoptionen identifiziert und bewertet.

Strategieentwicklung  Im Rahmen der Strategieentwicklung wird festgelegt, welchen


Plan ein Industrieunternehmen in der Plattformökonomie verfolgen soll. Hierzu werden
die Erkenntnisse aus den beiden vorangegangenen Phasen zusammengeführt und ein indi-
viduelles sowie Erfolg versprechendes Zielbild für die Plattformökonomie definiert.

Strategieumsetzung  Abschließend ist die zuvor ermittelte Strategie konsequent umzu-


setzen. Um den Erfolg der Strategie sicherzustellen, ist zudem der Erfolg der Maßnahmen
(Umsetzungs-Controlling) sowie die Gültigkeit der zur Strategieentwicklung getroffenen
Annahmen (Prämissen-Controlling) zu kontrollieren.

Übergreifend zu diesen vier Phasen existiert die Aufgabe, den Prozess der strategischen
Führung zu gestalten. Der Prozess der strategischen Führung soll im Unternehmen kon­
stituiert und kontinuierlich durchlaufen werden. Das Vorgehen wurde im Rahmen eines
Projekts mit einem Hersteller von elektrischer Verbindungs- und Automatisierungstechnik
validiert.

7.3.1 Analyse der Ausgangssituation

Im Rahmen der Analyse der Ausgangssituation erfolgt eine Marktanalyse und eine
Produktanalyse. In der Marktanalyse wird analysiert, inwiefern eine Branche zu digitalen
Plattformen tendiert. Bei der Analyse von Produkten wird untersucht, inwiefern das
Produktprogramm eines Unternehmens für das Plattformmodell geeignet ist.

7.3.1.1 Marktanalyse
Nicht jede Branche tendiert im gleichen Maße zu digitalen Plattformen. Die Chancen und
Risiken möglicher Plattformaktivitäten sind abzuwägen. Mit einer Analyse von Branchen
hinsichtlich ihrer Tendenz zu digitalen Plattformen erhalten klein- und mittelständisch ge-
prägte Unternehmen Orientierungswissen, um am Erfolg digitaler Plattformen zu partizi-
pieren. Bevor ein Unternehmen die Planung von eigenen Plattformaktivitäten aufnimmt,
ist zu prüfen, ob die eigene Branche überhaupt von der Plattformökonomie betroffen ist.
Hierzu wird die Plattformtendenz im Hinblick auf die von einem Unternehmen ­adressierten
Branchen analysiert. Eine Rahmenstruktur für die Unterteilung von Branchen liefert
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 157

die NACE-Klassifikation der Europäischen Kommission (2008). Die NACE-­Klassifikation


ist ein hierarchischer Ansatz, der 21 Abschnitte, 88 Abteilungen, 272 Gruppen und 615
Klassen unterscheidet. Da Unternehmen häufig keine exakte Unterscheidung ihrer Absatz-
märkte anhand einer offiziellen Branchenklassifizierung vornehmen, wird die offizielle
NACE-Klassifikation entsprechend der im Unternehmen etablierten Branchenunter-
scheidungen angepasst. In Abb.  7.4 ist ein Auszug der definierten Branchen aus einem
Industrieprojekt dargestellt, in dem insgesamt 40 Branchen unterschieden wurden. Im An-
schluss an die Definition der Branchen wird bewertet, ob das betrachtete Unternehmen in
den definierten Branchen Leistungen anbietet. Branchen, in denen das betrachte Unter-
nehmen Leistungen vertreibt, werden im Folgenden Zielbranchen genannt. Im Projekt
lagen 12 Zielbranchen vor.
Zur Bewertung der Plattformtendenz einer Branche werden die Merkmale Empfäng-
lichkeits- und Schutzeigenschaften nach Parker et  al. (2017) herangezogen. Die
Empfänglichkeitseigenschaften umfassen strukturelle Eigenschaften einer Branche, mit
denen die Tendenz einer Branche zur Plattformökonomie erfasst werden kann. Sie wird
mithilfe von vier Kriterien ermittelt: Informationsintensität, Nicht skalierbare Gatekeeper,
Fragmentierung der Branche und Informationsasymmetrie.

Nr. Branchen NACE-Code (MW) Zielbranche


B1 Landwirtschaft A.01
B2 Forstwirtschaft A.02
B3 Fischerei A.03
B4 Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden B.05-09
B5 Nahrungs-, Futter- und Genussmittel C.10-12 (11)
B6 Textilien C.13-15 (14)
B7 Holzwaren und Papier, Drucken und Vervielfältigen C.16-18 (17)
B8 Kokerei und Mineralölverarbeitung C.19
B9 Chemische und pharmazeutische Erzeugnisse C.20-21
B10 C.22
B11 Glas und Keramik C.23
B12 Metallerzeugung C.24
B13 Herstellung von Metallerzeugnissen C.25
B14 Elektronik und Elektro- und Haushaltsgeräten C.26-27
B15 Maschinenbau C.28
B16 Kraftwagen und Kraftwagenteile C.29
B17 Schiffbau C.30.1
B18 Schienenfahrzeuge C.30.2
B19 Luft- und Raumfahrt C.30.3
B20 Militärische Fahrzeuge C.30.4
B21 Sonstiger Fahrzeugbau C.30.5-30.9
B22 Möbel und sonstige Waren C.31-32 (31,5)

Abb. 7.4  Definierte Branchen für ein Anwendungsbeispiel in Anlehnung an die NACE-Systematik
der Europäischen Kommission (2008)
158 L. Özcan et al.

Informationsintensität  Das Merkmal beschreibt die Relevanz von Informationen in


einer Branche. Mit steigender Informationsintensität steigt die Empfänglichkeit der Bran-
che für digitale Plattformen. Es kann zwischen der Informationsintensität einer Markt-
leistung und der Wertschöpfung unterschieden werden, wofür Porter und Millar (1985)
mit der Informationsintensitätsmatrix eine geeignete Methode bereitstellen.

Nicht skalierbare Gatekeeper  Gatekeeper sind Personen oder Organisationen, die In-
formationen aufnehmen, filtern und gezielt weitergeben. Nicht skalierbare Gatekeeper
sind Akteure, deren Anzahl linear mit der Anzahl an produzierten Gütern steigt (z. B. Leh-
rer im Bildungssystem). Eine Bewertung hinsichtlich des Anteils nicht skalierbarer Gate-
keeper kann mit Experteninterviews erfolgen (Domsch et al., 1989).

Fragmentierung einer Branche  Mit der Fragmentierung einer Branche wird be-
schrieben, inwiefern die unterschiedlichen Akteure in einer Branche miteinander ver-
bunden sind. Branchen mit vielen und lose verbundenen Akteuren sind besonders
empfänglich für Plattformen. Mit dem stackelbergschen Marktformenschema können
neun Marktformen unterschieden werden, die eine Bewertung hinsichtlich der Fragmen-
tierung einer Branche zulassen (Schmidt, 1972; Stackelberg, 1951).

Informationsasymmetrien  Mit diesem Merkmal wird die ungleiche Verteilung von In-
formationen innerhalb einer Branche erfasst. Zum Beispiel hat im Gebrauchtwagenmarkt
der Händler mehr Informationen als der potenzielle Käufer. Liegen starke Informations-
asymmetrien vor, ist die Branche für Plattformen empfänglich. Zur Erfassung der
Informationsasymmetrie eignet sich die Unterscheidung von Gütertypen nach Evan-
schitzky (Neoklassische Güter, Such- oder Inspektionsgüter, Erfahrungsgüter sowie Glau-
bens- und Vertrauensgüter) (Evanschitzky, 2003).

Neben den Empfänglichkeitseigenschaften haben Parker et  al. (2017) Schutzeigen-


schaften identifiziert, die gegen eine Durchdringung einer Branche mit dem Plattform-
modell sprechen. Hierzu zählen der Regulationsgrad, die Fehlerkosten und die Ressourcen-
intensität.

Regulationsgrad  Mit dem Merkmal wird ermittelt, inwiefern eine Branche durch den
Staat reguliert wird. Starke Regulation schützt bestehende Marktakteure und wirkt der
Plattformtendenz einer Branche entgegen (z. B. Gesundheitswesen). Die Bewertung des
Regulationsgrads erfolgt mithilfe der vier Grundtypen der Innovationsregulierung nach
Hoffmann-Riem et al. (2010).

Fehlerkosten  Mit dem Merkmal wird der potenzielle Schaden beim Eintreten eines Feh-
lers ermittelt. Ein medizinischer Fehler ist im Regelfall mit höheren Fehlerkosten ver-
bunden als das Einstellen ungeeigneter Inhalte auf einer Medienplattform. Ist der poten-
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 159

• Informationsintensität
• Nicht skalierbare Gatekeeper
Empfänglichkeit • Fragmentierung der Branche
• Informationsasymmetrie

? + Legende
23 Zielbranche des
...
hoch

betrachteten Unternehmens
15
+ Hohe Tendenz
Eintritt vorbereiten

14
19 ? Mittlere Tendenz
Eintritt prüfen
z
17
en
Niedrige Tendenz
mittel

nd

− Eintritt verwerfen
te
rm
tfo
at
Pl

26
25 • Regulationsgrad
• Fehlerkosten
gering

• Ressourcenintensität
8

− Schutz
hoch mittel gering

Abb. 7.5  Plattformtendenz von Branchen nach Drewel (2021)

zielle Schaden eines Fehlers für Nutzer zu hoch, wird dieser auf eine Plattformteilnehme
verzichtet. Eine Bewertung kann mithilfe von Experteninterviews erfolgen.

Ressourcenintensität  Branchen mit einer hohen Ressourcenintensität (z.  B.  Erdöl-­


Branche) tendieren nicht zum Plattformmodell. Auf Grundlage des Total Material Requi-
rement (TMR) Index hat Acosta-Fernandéz (2007) eine Bewertung der Ressourcenintensi-
tät von Branchen vorgenommen, die hier herangezogen werden kann.

Die zuvor ermittelten Zielbranchen werden hinsichtlich ihrer Empfänglichkeits- und


Schutzeigenschaften bewertet und mithilfe einer Nutzwertanalyse in eine Portfolio-­
Darstellung überführt. Mit zunehmender Positionierung einer Branche oben rechts im
Portfolio steigt die Plattformtendenz (vgl. Abb. 7.5).

7.3.1.2 Analyse von Produkten


Neben der Branche wird auch das Produktprogramm eines Unternehmens hinsichtlich
seiner Eignung für das Plattformgeschäft analysiert. Hierzu wird zunächst das Produkt-
programm aufgenommen. Da Unternehmen häufig eine Vielzahl verschiedener Produkt-
und Dienstleistungsvarianten anbieten, werden die übergeordneten Produktfamilien eines
160 L. Özcan et al.

Unternehmens bei der Analyse herangezogen. Eine Produktfamilie umfasst alle Produkt-
varianten, die ähnliche Technologien, Funktionen, Produktionsverfahren oder An-
wendungsbereiche haben (Krause & Gebhardt, 2018). Sind die Produktfamilien auf-
genommen, sind im Anschluss diejenigen zu identifizieren, die für Geschäftsaktivitäten in
der Plattformökonomie gut geeignet sind. Die Eignung einer Produktfamilie für das Platt-
formgeschäft wird anhand der drei Kriterien Wehrhaftigkeit, Geschäftsmodelleignung
sowie Digitalisierungsgrad untersucht.

Wehrhaftigkeit  Eine wehrhafte Produktfamilie ist in Anlehnung an Zhu und Furr (2016)
dadurch gekennzeichnet, dass das Produkt nur schwer zu imitierende Eigenschaften auf-
weist und regelmäßig eine hohe Anzahl an Nutzern mit der Produktfamilie interagiert.

Geschäftsmodelleignung  Die Geschäftsmodelleignung setzt sich aus den beiden Teil-


kriterien Standardisierungsgrad und Transaktionsintensität zusammen. Beim Standar­
disierungsgrad kann zwischen standardisierten und kundenindividuellen Produktfa­
milien unterschieden werden. Ersteres eignet sich für das Plattformgeschäft. Mit der
Transaktionsintensität wird aufgenommen, wie häufig eine Produktfamilie Folgetrans-
aktionen auslöst. Eine umfassende Produktfamilie, die viele Folgetransaktionen auslöst,
ist besonders gut für das Plattformgeschäft geeignet (Linz et al., 2017).

Digitalisierungsgrad  Der Digitalisierungsgrad ist ein Maß für den digitalen Reifegrad
einer Produktfamilie. Er ist das Verhältnis der realisierten zu den möglichen Digitalisierungs-
optionen (Echterfeld, 2020). Mit zunehmenden Digitalisierungsgrad steigt die Plattform-
eignung (Lichtblau, 2019).

Die Bewertung der Produktfamilien erfolgt mithilfe eines Portfolios, welches durch
die  Achsen Wehrhaftigkeit und Geschäftsmodelleignung aufgespannt wird. Der Digi­
talisierungsgrad wird durch den Durchmesser der Kugeln, welche die Produktfamilien
repräsentieren, wiedergegeben (vgl. Abb. 7.6). Das Portfolio setzt sich aus vier charakte-
ristischen Bereichen zusammen: 1) Plattform Ready umfasst Produktfamilien, die wehr-
haft sind und ein für eine Plattform geeignetes Geschäftsmodell haben. Entsprechende
Produktfamilien können die Grundlage für den Aufbau einer eigenen Plattform bilden. 2)
Rohdiamanten beinhaltet Produktfamilien mit einer niedrigen Geschäftsmodelleignung
und einer hohen Wehrhaftigkeit. Hier eingeordnete Produktfamilien eignen sich eher
für Innovations- als für Transaktionsplattformen. 3) Plattform-Commodities umfasst
Produktfamilien mit einer niedrigen Wehrhaftigkeit und einer hohen Geschäftsmodell-
eignung. Produktfamilien in diesem Bereich sind gut für den Verkauf auf Transaktions-
plattformen geeignet. 4) Klassisches Geschäft sind solche Produktfamilien, die eine ge-
ringe ­ Geschäftsmodelleignung und eine geringe Transaktionsintensität haben. Diese
Produktfamilien sind für das Plattformmodell ungeeignet und sollten in Zukunft im klas-
sischen Geschäft verortet sein.
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 161

• Nicht-Imitierbarkeit
Wehrhaftigkeit • Verbreitung im Markt

Legende
1 Plattform-Ready
2
Industrial
Rohdiamanten
hoch

Switches
8 22 15 Plattform-Commodities

g
10 14 Klassisches Geschäft
un 9
gn
ei

Produktfamilien
m

Leiterplatten-
or

4
Digitalisierungsgrad
ttf

Sensor- 5 anschluss
a
Pl

boxen 20 12
3
gering

21 Steckverbinder
• Transaktionsintensität
• Standardisierungsgrad
11 7
13
6
Geschäftsmodelleignung
gering hoch

Abb. 7.6  Eignung von Produktfamilien für digitale Plattformen nach Drewel (2021)

7.3.2 Strategieoptionen für den Einstieg in die Plattformökonomie

Zur Sicherstellung der zukünftigen Wettbewerbsfähigkeit sind Pipeline-Unternehmen mit


der Herausforderung konfrontiert, eine Strategie für die Plattformökonomie zu entwickeln.
Es können insgesamt vier Strategieoptionen unterschieden werden, wie Pipeline-­
Unternehmen den Einstieg in die Plattformökonomie gestalten können (vgl. Abb.  7.7):
Kein Einstieg in die Plattformökonomie, ausschließlicher Plattformaufbau, ausschließ-
licher Plattformbeitritt und umfassender Einstieg in die Plattformökonomie.

Kein Einstieg in die Plattformökonomie  Sind Branche und Produkt nicht für das Platt-
formmodell geeignet, ist auch die Option zu berücksichtigen, keine Aktivitäten hinsicht-
lich des Plattformmodells aufzunehmen.

Ausschließlicher Plattformaufbau  Etablierte Unternehmen können eine eigene Platt-


form aufbauen. Der Aufbau kann allein, in Allianzen oder mithilfe von Akquisitionen
erfolgen.
162 L. Özcan et al.

Ausschließlicher Umfassender Einstieg in


Plattformaufbau Plattformökonomie
forcieren
Plattformaufbau

Kein Einstieg in die Ausschließlicher


Plattformökonomie Plattformbeitritt
verwerfen

STOP

verwerfen forcieren
Plattformbeitritt

Abb. 7.7  Strategieoptionen für den Einstieg in die Plattformökonomie nach Drewel (2021)

Ausschließlicher Plattformbeitritt  Etablierte Unternehmen können bereits existieren-


den Plattformen beitreten und als Nutzer agieren. Der Beitritt zu bestehenden Plattformen
ist risikoarm und ermöglicht dennoch eine Teilhabe an den Chancen der Plattform-
ökonomie.

Umfassender Einstieg in die Plattformökonomie  Baut ein klassisches Unternehmen


eine eigene Plattform auf und tritt zusätzlich weiteren Plattformen bei, handelt es sich um
einen umfassenden Einstieg in die Plattformökonomie.

7.3.3 Strategieentwicklung für den Einstieg


in die Plattformökonomie

Pipeline-Unternehmen haben vielfältige Möglichkeiten, am Erfolg digitaler Plattformen


zu partizipieren. Auf Grundlage der Erkenntnisse in der Analysephase (vgl. Abschn. 7.3.1)
ist nun eine Erfolg versprechende Strategieoptionen zu identifizieren und auszugestalten.
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 163

Hierzu werden die Erkenntnisse aus der Analysephase in Abschn.  7.3.1 mit den in
Abschn. 7.3.2 vorgestellten und allgemeingültigen Strategieoptionen synchronisiert. Auf
Grundlage der Synchronisation der Teilergebnisse ist eine Erfolg versprechende Strategie-
option auszuwählen und im Rahmen der Strategieentwicklung zu konkretisieren.
Die Analyse von Produktfamilien hinsichtlich ihrer Plattformeignung sowie die Ana-
lyse von Märkten hinsichtlich ihrer Plattformtendenz wird im Eignungs-Tendenz-­Portfolio
zusammengeführt (vgl. Abb.  7.8). Diese kombinierte Analyse ist einer einseitigen Be-
trachtung der Dimensionen Plattformtendenz und Plattformeignung überlegen. Da bei der
Marktanalyse Branchen und bei der Produktanalyse Produktfamilien analysiert werden,
sind Produktfamilien ihren Zielbranchen zuzuordnen. Ist die Zuordnung erfolgt, ist eine
Einordnung in das Eignungs-Tendenz-Portfolio möglich. Zur Ableitung von Erkennt-
nissen aus dem Portfolio ist dieses in vier Bereiche unterteilt, die jeweils Normstrategien
für Produktfamilien beinhalten. Die vier Bereiche greifen die generischen Strategie-
optionen auf Abschn.  7.3.2 auf. Diese Normstrategien bilden das Fundament der
­Strategieentwicklung, für deren weitere Ausarbeitung Gausemeier und Plass (2014) ein
Vorgehen liefern.

Aufbauen  Produktfamilien in diesem Portfolio-Bereich sind durch eine hohe Plattform-


eignung und eine hohe Plattformtendenz der Absatzmärkte gekennzeichnet. Entsprechende

• Wehrhaftigkeit
Plattformeignung • Geschäftsmodelleignung

Legende

Angreifen

Beobachten/Verteitigen
hoch

10 15 1
9
Beitreten
Leiterplatten- 2 14
anschluss in der Luft- 3 Abschöpfen
und Raumfahrt
4 Steckverbinder 12 Produktfamilie mit
im Maschinenbau Branchenzuteilung
22 20
8 Digitalisierungsgrad
gering

5
11
21 • Empfänglichkeit
7
• Schutz
6 13

Plattformtendenz
gering hoch

Abb. 7.8  Eignungs-Tendenz-Portfolio nach Drewel (2021)


164 L. Özcan et al.

Produktfamilien sind gut geeignet, den Kern einer Plattform zu bilden und den Aufbau
einer zugehörigen Plattform anzustoßen.

Beobachten/Verteidigen  Ist eine Produktfamilie für eine digitale Plattform geeignet, der
Markt hat jedoch nur eine geringe Plattformtendenz, gilt es die Situation zu beobachten.
Sollte sich die Tendenz zugunsten eines Plattformgeschäfts ändern, kann ein Unternehmen
seine Strategie anpassen und den Aufbau einer Plattform forcieren.

Beitreten  Produktfamilien, die eine hohe Plattformtendenz aber eine geringe Plattform-
eignung aufweisen, sind für den Beitritt zu existierenden Plattformen prädestiniert. Sollte
bereits eine Plattform existieren, können solche Produktfamilien das Angebot ergänzen.
Aufgrund der geringen Wehrhaftigkeit sollte jedoch nie eine solche Produktfamilie Aus-
gangpunkt für eine eigene digitale Plattform sein.

Fortführen  Hat eine Produktfamilie eine geringe Eignung und Tendenz für digitale Platt-
formen, ist das Plattformmodell nicht weiter zu verfolgen und eine Fortführung des klas-
sischen Geschäfts ist am besten geeignet.

7.3.4 Strategieumsetzung

Mit der Strategieumsetzung steht und fällt der Erfolg der strategischen Gestaltung einer
zuvor formulierten Strategie. Die Strategieumsetzung setzt sich aus der Operationalisie-
rung der Strategie sowie dem Umsetzung- und Prämissen Controlling zusammen (Gause-
meier & Plass, 2014).
Die Operationalisierung der Strategie umfasst die Umsetzungsplanung mit Program-
men und Maßnahmen, welche die Voraussetzung für die Strategieumsetzung sind und das
Bindeglied zur vorangegangenen Strategieentwicklung darstellen. Auf die Umsetzungs-
planung folgt die Ausführung der Programme und Maßnahmen im Rahmen der Trans-
formation. Begleitend dazu findet das Umsetzungs-Controlling und das Prämissen Con-
trolling statt. Bei dem Umsetzungs-Controlling werden regelmäßig Soll-Ist-Vergleiche
durchgeführt, um Abweichungen zu identifizieren und Gegenmaßnahmen einleiten zu
können. Eine domänenunabhängige Steuerungsmöglichkeit ist die von Kaplan und Norton
eingeführte Balance Scorecard (Kaplan & Norton, 1992). Die Gestaltung eines solchen
Kennzahlen-Systems zur strategischen Führung muss die Besonderheiten der Plattform-
ökonomie berücksichtigen.
Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für digitale Plattformen ist die Dynamik der Strategie-
entwicklung. Für den Erfolg muss eine digitale Plattform in verschiedenen Lebensphasen
den inhaltlichen Fokus dynamisch anpassen (vgl. Abb. 7.9). Der Fokus in der Einführungs-
phase liegt zunächst auf der Generierung von Werten für alle Plattformakteure. Während
der Skalierung werden Anzahl und Intensität der Interaktionen erhöht. In der folgenden
Reife-Phase liegt der Fokus auf der Erhöhung der Kundenloyalität. In der abschließenden
7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 165

Größe

Zeit

Einführung Skalierung Reife Evolution

Werte für alle Anzahl und Intensität


Strategischer Loyalität der Plattformangebot
Plattformakteure der Plattforminter-
Fokus Kunden erhöhen ausbauen
generieren aktion erhöhen

Abb. 7.9  Variation des strategischen Fokus einer digitalen Plattform in Abhängigkeit der Lebens-
phase. (Quelle: Eigene Darstellung)

Evolutionsphase wird das Angebot einer digitalen Plattform ausgebaut. Mit dem variieren-
den strategischen Fokus variieren auch die relevanten Kenngrößen für ein Umsetzungs-­
Controlling. Da die Kennzahlen für das Umsetzungs-Controlling nicht nur in Abhängig-
keit der Lebensphase, sondern auch in Abhängigkeit der ausgewählten Strategieoption
(vgl. Abschn. 7.3.2) variieren, wird das Umsetzung Controlling an dieser Stelle nicht wei-
ter vertieft.
Mit dem Prämissen-Controlling wird überprüft, ob die getroffenen Annahmen bei der
Entwicklung einer Plattform-Einstiegsstrategie noch ihre Gültigkeit haben. Prämissen
sind bei der Strategieentwicklung getroffene Annahmen. Dabei kann es sich um Randbe-
dingungen oder Voraussetzungen handeln, die häufig nicht oder nur mittelbar von einem
Unternehmen beeinflusst werden können. Diese Prämissen sind regelmäßig zu über-
wachen, da sie nicht nur eine Überarbeitung der Ziele und Maßnahmen als Konsequenz
haben können. Aus dem Prämissen-Controlling kann auch die Überarbeitung oder Neu-
ausrichtung der Strategie resultieren. So ist zum Beispiel der Regulationsgrad eine Be-
wertungsgröße für die Plattformtendenz einer Branche. Da insbesondere der plattform-
bezogene Regulationsdruck in der jüngeren Vergangenheit zunimmt, kann sich durch neue
regulatorische Maßnahmen die Plattformtendenz einer Branche grundlegend verändern.

Zusammenfassung

Digitale Plattformen bilden das Fundament der erfolgreichsten Unternehmen des 21. Jahr-
hunderts. Konkret haben Unternehmen wie Amazon, Google, Facebook und Uber erkannt,
dass in einer zunehmend vernetzten Welt erhebliches ökonomisches Potenzial darin liegt,
hochwertige Interaktionen zwischen Produzenten und Kunden zu realisieren. Diese Ent-
wicklung rückt immer häufiger in das Bewusstsein von vielen etablierten Unternehmen,
die nun bemüht sind, selbst Teil der Plattformökonomie zu werden. Die strategische Pla-
166 L. Özcan et al.

nung des Einstiegs in die Plattformökonomie adressiert diese Bemühungen und ist Gegen-
stand dieses Kapitels.
Mit der voranschreitenden Plattformökonomie werden Jahrzehnte geltende Dogmen
des unternehmerischen Handelns in Frage gestellt. So treten Plattformunternehmen nicht
mehr als produzierende Akteure auf und überlassen diese Tätigkeit unternehmensexternen
Dritten. Plattformunternehmen fungieren vielmehr als Bereitsteller einer Infrastruktur, auf
der externe Kunden und Produzenten Interaktionen durchführen können. Der Erfolg digi-
taler Plattformen beruht unter anderem auf positiven Netzwerkeffekten. Sie treten auf,
wenn das Plattformökosystem an Wert gewinnt, je mehr Menschen oder Unternehmen die
Plattform nutzen. Zum Beispiel profitiert ein Uber-Fahrer von einer steigenden Anzahl an
Uber-Kunden. Uber-Kunden profitieren wiederum von dem Effekt, dass mehr Fahrer
Kundenanfragen schneller abarbeiten können. Dieser Effekt, in Kombination mit den ge-
ringen Grenzkosten, ist ausschlaggebend für das Disruptionspotenzial digitaler Platt-
formen. Der vermehrt wahrgenommene Erfolg digitaler Plattformen führt dazu, dass
immer mehr traditionelle Unternehmen an der Plattformökonomie partizipieren wollen.
Die Partizipation allein ist aber kein Garant für den Erfolg.
Für Unternehmen bieten sich unterschiedliche strategische Handlungsoptionen: Sie
können die Plattformökonomie bewusst meiden, bereits existierenden Plattformen bei-
treten oder den Aufbau einer eigenen Plattform forcieren. Um eine geeignete Handlungs-
option zu identifizieren, wird hierzu die Ausgangssituation des betrachteten Unternehmens
analysiert. Dabei werden für ein Unternehmen die Zielbranchen hinsichtlich ihrer Platt-
formtendenz und die Produktfamilien hinsichtlich ihrer Plattformeignung analysiert. Die
daraus gewonnenen Erkenntnisse werden mit den allgemeingültigen Strategieoptionen
synchronisiert und bilden die Grundlage für die Strategieentwicklung. Bei der Strategie-
entwicklung können vier Normstrategien für die Produktfamilien eines Unternehmens
unterschieden werden. Komplementiert wird die strategische Planung durch die Strategie-
umsetzung. Sie setzt sich aus der Operationalisierung der Strategie sowie dem Umsetzung-
und Prämissen Controlling zusammen. Letzteres stellt den langfristigen Erfolg der Platt-
formaktivitäten sicher.

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7  Strategische Planung des Einstiegs in die Plattformökonomie 169

Leon Özcan, M.Sc.,  studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit dem


Schwerpunkt Maschinenbau an der Universität Paderborn. Seit 2019
ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heinz Nixdorf Institut
tätig. Dort leitet er das Team „Strategische Planung“ am Lehrstuhl
Advanced Systems Engineering von Professor Roman Dumitrescu.
Seine Forschungsschwerpunkte sind digitale Plattformen und intelli-
gentes Engineering. In diesen Bereichen arbeitet er an Forschungs-
und Industrieprojekten.

Marvin Drewel, M.Sc.,  studierte Wirtschaftsingenieurwesen an


der  Universität Paderborn und war bis 2020 als wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Heinz Nixdorf Institut tätig. Dort arbeitete er zu-
nächst in der Fachgruppe „Strategische Produktplanung und Systems
Engineering“ von Professor Jürgen Gausemeier und anschließend in
der Fachgruppe „Advanced Systems Engineering“ von Professor
Roman Dumitrescu. Er leitete das Team „Strategische Planung und
Innovationsmanagement“. Seit 2020 ist Marvin Drewel technischer
Assistent des Leiters der Business Unit Laundry bei der Miele & Cie.
KG.  Dort übernimmt er Verantwortung in operativen und strategi-
schen Projekten in der Produkt- und ­Marktentwicklung. 
Marvin Drewel (0000-0002-2566-6824) – ORCID | Connecting
Research and Researchers

Christian Koldewey, M.Sc.,  studierte Maschinenbau an der Uni-


versität Paderborn sowie an der Universität Bielefeld mit dem Fokus
Fertigungstechnik. Seit 2015 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Heinz Nixdorf Institut der Universität Paderborn. Dort leitet er den
Forschungsbereich „Business Engineering“ am Lehrstuhl für Advan-
ced Systems Engineering von Professor Roman  Dumitrescu. Seine
Forschungsaktivitäten fokussieren die Bereiche Innovationsma­
nagement und Strategieentwicklung für digitale Services sowie die
Geschäftsmodellentwicklung.

Prof. Dr-Ing. Roman Dumitrescu  ist Direktor am Fraunhofer-­Institut


für Entwurfstechnik Mechatronik IEM und Leiter des Fachgebiets „Ad-
vanced Systems Engineering“ an der Universität Paderborn. Sein
Forschungsschwerpunkt ist die Produktentstehung intelligenter techni-
scher Systeme. In Personalunion ist Prof. Dumitrescu Geschäftsführer
des Technologienetzwerks Intelligente Technische Systeme OstWestfa-
lenLippe (it’s OWL). Er ist unter anderem Mitglied im Expertenkreis des
Innovationsdialogs der Bundesregierung, im Forschungsbeirat der
Forschungsvereinigung 3-D MID e. V., im Lenkungskreis der Initiative
Wirtschaft & Arbeit 4.0 der NRW-Landesregierung sowie im Ver-
waltungsrat des RKW Kompetenzzentrums.
Fluch und Segen digitaler Disruption für
den deutschen Mittelstand 8
Eine Analyse der Herausforderungen, Risiken, Strategien und
Wettbewerbsfähigkeit deutscher mittelständischer
Unternehmen im Umgang mit dem Phänomen der digitalen
Disruption.

Matthias Gut

Zusammenfassung

Beispiele bekannter Firmen der jüngsten Vergangenheit zeigen das Bedrohungs-


potenzial neuer Marktteilnehmer für etablierte Unternehmen. Startups gelingt es immer
häufiger durch die Nutzung digitaler Technologien das Wertversprechen traditioneller
Produkte und Dienstleistungen zu untergraben und somit auf lange Sicht obsolet zu
machen. Das Phänomen wird als „Digitale disruptive Innovation“ bezeichnet. Wissen-
schaftler beschäftigen sich intensiv mit Reaktionsstrategien und Gegenmaßnahmen.
Der Hauptfokus ihrer Forschung beschränkt sich dabei auf amerikanische Unternehmen
und Großkonzerne. Bei detaillierter Recherche relevanter akademischer Literatur ist
eine Forschungslücke zum Thema Bedrohungen digitaler Disruption mit Fokus auf
deutsche mittelständische Unternehmen (KMU) ersichtlich.
Ziel dieser Arbeit ist es, die Wettbewerbssituation deutscher mittelständischer Unter-
nehmen im Hinblick auf Herausforderungen und Strategien im Umgang mit digitaler
disruptiver Innovation zu untersuchen. Hierzu wurde ein qualitativer Forschungsansatz
gewählt, der (1) relevante wissenschaftliche Literatur in den Bereichen Ambidextrie,
Digitale Innovation, Disruptionsstrategien und Eigenschaften deutscher mittel-
ständischer Unternehmen untersucht und zusammenfasst und (2) durch halbstrukturierte
Experteninterviews mit KMU Führungskräften und Unternehmensberatern die wich-
tigsten Herausforderungen, Strategien und Eigenschaften des deutschen Mittelstandes
identifiziert. Die Ergebnisse wurden analysiert um zu beurteilen:

M. Gut (*)
COFM Corp, Munich, Deutschland
E-Mail: m.gut@mghome.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 171


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_8
172 M. Gut

( 1) Was sind die größten Herausforderungen für KMU?


(2) Welche Strategien und Maßnahmen sind bekannt ?
(3) Stellen die spezifischen Eigenschaften von KMU einen Wettbewerbsvorteil oder -nach-
teil dar im Umgang mit digitaler disruptiver Innovation?

Die Ergebnisse der Arbeit zeigen, dass mittelständische Unternehmen in Deutschland


grundsätzlich gute Grundvoraussetzungen besitzen für einen erfolgreichen Umgang mit
digitaler disruptiver Innovation. Besonders (1) die Möglichkeit zur langfristigen Planung
und (2) die Fähigkeit schnell zu entscheiden stellen Stärken dar. KMU, im Gegensatz zu
ihren Pendants in USA und Großkonzernen, müssen jedoch überdurchschnittlich viel
Energie investieren in die Begleitung der Veränderung bei Mitarbeitern. Diesen wird von
Experten ein besonders hoher Grad an Risikoaversität, Konservativität und emotionale
Bindung an die physikalischen Produkte des etablierten Kerngeschäfts attestiert, was die
Fähigkeit der Unternehmen sich auf digitale disruptive Innovationen zu fokussieren ein-
schränkt.

Schlüsselwörter

Digitale Disruption · Herausforderungen · Strategien · Risiken · Wettbewerbsfähigkeit

8.1 Einführung

„Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern die-
jenige, die am besten auf Veränderungen reagiert.“ Charles Darwin, Downe, Groß-
britannien (1859)

Disruption, genauer beschrieben als Disruptive Innovation, existiert seit Beginn der
Menschheit und ist allgegenwärtig (Samit, 2015).
Der Eisenbahntransport hat die Pferdekutschenindustrie verdrängt. Kühlschränke
machten das Wertversprechen der industriellen Eisproduzenten obsolet. Heute beobachten
wir, dass neue Player wie z.  B.  Tesla etablierte deutsche Automobilhersteller bedrohen
(Kessler & Buck, 2016; Meckling & Nahm, 2017). Disruptive Innovationen werden er-
möglicht und getrieben durch technologische Weiterentwicklungen (Riemer & Johnston,
2016)  – in den genannten Beispielen durch Dampfmaschinen, Gaskompression1 oder
Speicherung von elektrischer Energie. In jedem Fall ermöglichte die Nutzung neuer
Technologien neuen Marktteilnehmern etablierte Strukturen in Märkten, Volkswirt-
schaften und Gesellschaften außer Kraft zu setzen und grundlegend zu verändern (Dow-
nes, 2009).
Die wichtigste technologische Entwicklung heutzutage ist das Internet. Es ermöglicht
einen Echtzeit-Informationsfluss für Jedermann zu einem niedrigen Preis (Manyika &

1
 Erfunden von Carl von Linde (1876) in München.
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 173

Roxburgh, 2011). Sinkende Kosten für Datenspeicherung und vernetzte Sensoren, eine
flächendeckende Verfügbarkeit von mobilen Geräten sowie die Nutzung von Schlüssel-
technologien wie z.  B. 4G-Funknetzwerke ermöglicht digitale Innovationen wie Social
Media, Data Analytics, 3D-Druck, Künstliche Intelligenz, Cloud Computing, Augmented
Reality, Virtual Reality, Blockchain und das Internet der Dinge (Vossen et al., 2017).
Das Verständnis des Potenzials digitaler Technologien ermöglicht es innovativen Unter-
nehmen neue Geschäftsmodelle zu schaffen, das Wertversprechen des bestehenden Pro-
dukt- und Dienstleistungsportfolios zu verbessern, Kundenbindung durch bessere (digi-
tale) Schnittstellen zu erhöhen und die Prozesseffizienz zu steigern (Anderl et al., 2017).
Innovationen, die durch digitale Technologien ermöglicht werden, oder eine Kombina-
tion derer sind, werden in der Forschung und Wissenschaft gemeinhin als digitale Innova-
tionen bezeichnet (Janke & Burkhardt, 2018).
Christensen (1997) unterscheidet zwei Arten von Innovationen, siehe Tab. 8.1.
Die Tatsache, dass digitale Technologien für jedermann sofort und zu geringen Kosten
zugänglich sind, macht deutlich, dass die Nutzung dieser durch Wettbewerber oder
Startups das Wertversprechen etablierter Unternehmen jeder Branche und jeder Größe be-
drohen kann (Keuper et al., 2013). Etablierte Unternehmen sind gezwungen, Strategien zu
entwickeln um potenzielle Bedrohungen durch digitale Disruption zu erkennen und – im
besten Fall  – selbst zu Disruptoren zu werden, um auch in Zukunft relevant und wett-
bewerbsfähig zu bleiben (Janke & Burkhardt, 2018).
Die folgenden Beispiele zeigen, welchen Einfluss digitale Technologien auf Branchen,
Volkswirtschaften und unsere Gesellschaft haben. Das bedrohliche disruptive Potenzial
wird deutlich, siehe Tab. 8.2.

8.1.1 Ziel des Forschungsprojekts

Die Ausführungen im vorhergehenden Kapitel zeigen auf, wie wichtig es ist für Unter-
nehmen sich schnell und dynamisch an Veränderungen im Kundenverhalten, bei Techno-
logien und rechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen (Christensen, 2001; John-
son, 2012).
Die akademische Forschung weist darauf hin, dass neue Marktteilnehmer („Startups“)
in diesem Zusammenhang aus einer besseren Wettbewerbsposition heraus agieren. Ihr

Tab. 8.1  Verschiedene Arten von Innovationen. (Quelle: Christensen, 1997)


I1 Nachhaltige Innovation: Streben nach Verbesserung der Leistung bestehender Produkte,
Dienstleistungen, Prozesse und Geschäftsmodelle.
Motivation: Erhalt und Ausbau des Kerngeschäfts
I2 Disruptive Innovation: Bestreben, zusätzliche Wertschöpfungsketten zu schaffen, um neue
Märkte und Kundengruppen zu erschließen.
Motivation: Erschließung von neuen Märkten und Geschäftsmöglichkeiten, die am Kernmarkt
angrenzen
174 M. Gut

Tab. 8.2  Beispiele digitaler disruptiver Innovation. (Quelle: Autor)


Fallbeispiel Industrie Technologien
1 AirBnB bedroht das globale Gastgewerbe, indem Tourismus, Internet-Plattformen,
es ein höheres Wertversprechen bei der Vermietung Hotelindustrie Mobile Apps,
von Zimmern zu einem besseren Preis bietet. Künstliche Intelligenz
(Edelman & Luca, 2014)
2 Thermondo bedroht die Heizungsbranche, indem Heizung und Vernetzte Sensoren,
es das Geschäftsmodell traditioneller Anbieter von Gebäude-­ Künstliche
Heizungskomponenten ergänzt durch digitale management Intelligenz, Cloud
Dienstleistungen. (Hallmann, 2017) Computing

Hauptunterscheidungsmerkmal im Vergleich zu etablierten Unternehmen ist eine agile


Innovationskultur, die auf Ausprobieren, einer ausgeprägten Fehlerkultur und kontinuier-
lichem Lernen aus neuen Erkenntnissen beruht. Dies ermöglicht es den Firmen, schnell und
gezielt auf Kundenanforderungen einzugehen (Johnson, 2012; Wyman, 2016). Die Firmen
müssen sich nicht mit bestehenden Prozessen, Strukturen und Kundenbeziehungen aus-
einandersetzen, was bedeutet, dass sie sich voll und ganz auf Innovation und Exploration
konzentrieren können (Christensen, 1997; Meyer & BusinessVillage GmbH, 2016).
Ziel dieser Forschungsarbeit ist es, die Wettbewerbsposition etablierter deutscher
mittelständischer Unternehmen zu analysieren und zu bewerten hinsichtlich ihrer Fähig-
keit, Chancen und Risiken im Umgang mit digitaler Disruption zu erkennen und darauf zu
reagieren.

8.1.2 Motivation und Forschungsfragen

Die wissenschaftliche Forschung konzentriert sich vor allem auf die Untersuchung der
Fähigkeiten und Herausforderungen von Unternehmen im Bereich der digitalen dis-
ruptiven Innovation im Wirtschaftsraum der Vereinigten Staaten von Amerika (Bower &
Christensen, 1995; Christensen, 1997; Karimi & Walter, 2015; McQuivey, 2011; O’Reilly
& Tushman, 2016). Insbesondere Startup-Unternehmen mit Sitz in Silicon Valley werden
als Champions in der Nutzung und Monetarisierung digitaler Technologien hervor-
gehoben. Diese zielen darauf ab, neue Marktsegmente zu erschließen und damit etablierte
Firmen zu disruptieren (Engel, 2015; Fairlie & Chatterji, 2013; Kenney, 2000). Abb. 8.1
veranschaulicht die Verteilung des gesamten weltweit investierten Risikokapitals im Jahr
2019 (Statista, 2019) und die am höchsten bewerteten Startup-Unternehmen im Jahr 2021
(Statista, 2021).
Die Abbildung zeigt, dass Keines der top bewerteten Startups in Deutschland ver-
wurzelt ist. Die meisten von ihnen spielen nicht einmal eine nennenswerte Rolle auf dem
deutschen Markt. Dies, und das Ungleichgewicht in der globalen Verteilung des Risiko-
kapitals, kann als Wettbewerbsnachteil für die deutsche Wirtschaft in Bezug auf digitale
Innovation im globalen Maßstab interpretiert werden.
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 175

Abb. 8.1  Top10 der höchst bewerteten Startups weltweit. (Quelle: Autor, adaptiert von Sta-
tista (2021))

Die wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die die Situation deutscher mittelständischer


Unternehmen und der deutschen Wirtschaft untersuchen, attestieren den Unternehmen
und ihren Führungskräften Attribute wie veränderungsscheu, steif, langsam und risiko-
scheu – Eigenschaften, die der Innovationsfähigkeit mehr schaden als sie zu fördern (Be-
cker et al., 2008; Saam et al., 2016; Ternès & Schieke, 2018). In den Artikeln wird dar-
gestellt, dass deutsche Unternehmen bekannt dafür sind, exzellente Leistungen in ihren
Kernbranchen zu erbringen, jedoch nicht im digitalen Bereich (BMWi, 2016; Parella,
2018). Mittelständischen Unternehmen in Deutschland wird attestiert, dass sie über alle
Fähigkeiten und Ressourcen verfügen, um erfolgreich zu innovieren und damit in neue
Märkte zu expandieren, bestehende Märkte zu verändern oder sich sogar selbst zu disrup-
tieren. Allerdings stellt die Umsetzung für viele der Unternehmen eine große Heraus-
forderung dar (Demary et al., 2016).
Das Bewusstsein für die Notwendigkeit, sich mit digitaler Innovation und Disruption
auseinanderzusetzen, scheint bei amerikanischen Führungskräften ausgeprägter zu sein
als bei deutschen Unternehmenslenkern. Die in Abb.  8.2 dargestellte Auswertung der
Online-­Suchaktivitäten nach den Begriffen „Digital Disruption“ zeigt die Omnipräsenz
dieses Themas in den USA etwa acht Jahre vor Deutschland und deutet darauf hin, dass
US-Praktiker sich schon länger mit Chancen, Bedrohungen und Risiken digitaler Disrup-
tion befassen.
Eine Forschungslücke im Bereich der digitalen Disruptionsfähigkeit mit Fokus auf den
deutschen Mittelstand ist erkennbar.
Christensen et al. (2016) untersuchten die Mechanismen digitaler Disruption in ihrem
Artikel „Disruptive Innovation: Intellectual History and Future Paths“. Die Wissen-
schaftler zeigen Auslöser digitaler Disruption auf und identifizieren eine Forschungslücke
im Bereich der Reaktionsstrategien auf disruptive Innovationen. Die Ergebnisse der
176 M. Gut

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Digital disruption (US) Digitale Disruption (DE)

Abb. 8.2  Relative Häufigkeit der Onlinesuchereignisse nach ‚Digital Disruption‘ in USA und
Deutschland. (Quelle: Autor, adaptiert von Google Trends, 2018)

­ tudie und Hinweise auf weitere Forschung bilden die wissenschaftliche Grundlage
S
und den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit.
Motiviert durch (1) Erkenntnisse aus bestehender wissenschaftlicher Literatur, (2) die
Ergebnisse der Studie von Christensen et al. (2016) und (3) eine identifizierte Lücke in der
akademischen Forschung mit Fokus auf den deutschen Mittelstand ist die primäre
Forschungsfrage (PRQ) dieses Forschungsprojekts wie folgt definiert: „Sind deutsche
mittelständische Unternehmen bereit für den Umgang mit digitaler disruptiver In-
novation?“
Die weitere Untersuchung des Themas führt zu den folgenden sekundären Forschungs-
fragen (SRQ), siehe Tab. 8.3.

8.2 Grundlagen

Ziel dieses Kapitels ist es, ein gemeinsames Verständnis der relevanten Begriffe, Definitio-
nen, Terminologien und Zusammenhänge zu schaffen. Die folgenden Grundlagen stellen
die Schlüsselelemente des Forschungsgebiets dieser Arbeit dar und müssen klar definiert
und abgegrenzt werden:

8.2.1 Ambidextrie

Das Prinzip der Ambidextrie beschreibt den Prozess der Sicherstellung eines angemessenen
Gleichgewichts zwischen dem Betrieb etablierter Kerngeschäftsprozesse (Exploit) und
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 177

Tab. 8.3  Primäre und sekundäre Forschungsfragen. (Quelle: Autor)


Forschungsfrage Zielsetzung/Erwartete Ergebnisse
In Bezug auf digitale disruptive Innovation:
SRQ1 Wie ausgeprägt ist das Verständnis Einschätzung des allgemeinen Verständnisses und
und Bewusstsein bei Führungskräften? des Bekanntheitsgrads unter Praktikern und
Entscheidungsträgern.
SRQ2 Mit welchen Herausforderungen und Identifizierung der spezifischen
Barrieren sind deutsche Herausforderungen und deren Kritikalität im
mittelständische Unternehmen deutschen Mittelstand.
konfrontiert?
SRQ3 Gibt es spezifische Identifizierung von Herausforderungen, die sich
Herausforderungen, die nur im aus den Gegebenheiten der deutschen
deutschen Wirtschaftsumfeld gelten? Gesetzgebung, des Marktes, der Politik, und der
Kultur ergeben.
SRQ4 Welche Strategien, Maßnahmen und (1) Bewertung des Vorhandensein einer
Initiativen verfolgt der deutsche übergreifenden Strategie.
Mittelstand? (2) Identifizierung verfolgter Maßnahmen und
Initiativen sowie deren Reifegrad und
Umsetzung.
SRQ5 Stellen die besonderen Eigenschaften (1) Identifizierung besonderer Merkmale des
des deutschen Mittelstandes einen deutschen Mittelstandes
Wettbewerbsvorteil dar? (2) Beurteilung der Implikation auf die disruptive
Innovationsfähigkeit der Unternehmen.

der gleichzeitigen Erschließung zukünftiger Geschäftsmöglichkeiten (Explore) (Raisch &


Birkinshaw, 2008). Der Begriff leitet sich vom lateinischen Begriff „ambos dexter“ ab,
welcher die Fähigkeit des Menschen beschreibt, beide Hände gleichzeitig mit dem glei-
chen Maß an Aufmerksamkeit zu benutzen (Birkinshaw & Gibson, 2008). Das Konzept
wurde von Duncan (1976) in der akademischen Wirtschaftsforschung eingeführt. Die
grundlegende Herausforderung besteht darin, dass die Anforderungen an Fähigkeiten,
Denkweisen und Methoden bei der Ausführung beider Ansätze sehr widersprüchlich sind:
Exploitation dient dem Betrieb des Kerngeschäfts und setzt den Fokus auf Prozess-­
Exzellenz, Fehlervermeidung, Risikominimierung und genaue Planung. Im Gegensatz
dazu zielt Exploration darauf ab, Potenziale für nachhaltiges Wachstum in der Zukunft zu
identifizieren, was kurzfristige Planung, agile Ansätze, Experimente, Wertschätzung von
Fehlern und eine viel höhere Risikobereitschaft impliziert (West, 2002). Die gleichzeitige
Umsetzung von Exploration und Exploitation führt automatisch zu Interessenskonflikten
und damit zu Ablehnung aufgrund von Widersprüchen bei Zielen, Aufgaben und Er-
wartungen (O’Reilly & Tushman, 2011). Andriopoulos und Lewis (2010) weisen darauf
hin, dass Organisationen aufgrund von Erfahrungen und etablierten Prozessen in ihrem
bekannten Kernmarkt und Kundenstamm dazu neigen, an etablierten Verhaltensmustern
festzuhalten. March (1991) betont das Risiko der organisatorischen Trägheit, die zu einer
unzureichenden Anpassungsfähigkeit an sich ständig ändernde Umstände in Märkten,
Technologie und Kundenerwartungen führt. Im Allgemeinen stimmen Wissenschaftler
178 M. Gut

darin überein, dass die Zuteilung von Ressourcen und die Schaffung von Freiräumen für
beide Modi Operandi in angemessener Weise einen wesentlichen Erfolgsfaktor für die zu-
künftige Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens darstellen (O’Reilly & Tushman,
2008, 2011; Raisch et al., 2009).

8.2.2 Digitale disruptive Innovation

Technologische Innovationen wie z. B. die Erfindung der Dampfmaschine, Light Emitting
Diodes (LEDs), der MP3-Codec oder 3D-Drucker ermöglichten es weitreichende revolu-
tionäre Marktveränderungen anzustoßen (Riemer & Johnston, 2016). Forscher bezeichnen
diese Technologien im Allgemeinen als „disruptive Technologien“, die sich durch zwei
wesentliche Eigenschaften auszeichnen (Bower & Christensen, 1995), siehe Tab. 8.4.
Die Untersuchung der Unterschiede zwischen evolutionären Technologien und dis-
ruptiven Technologien stellt einen wichtigen Schwerpunkt der Forschung dar. Christensen
(1997), um das prominenteste Beispiel zu nennen, entwickelte die These, dass disruptive
Technologien zu Beginn ein geringeres Wertversprechen als bestehende Angebote auf-
weisen. Sie erscheinen für den bestehenden Kundenstamm etablierter Unternehmen wenig
attraktiv, schaffen jedoch einen Mehrwert für neue Kunden- oder Marktsegmente. Durch
Wachstum in neuen Marktsegmenten und kontinuierliche Weiterentwicklung in Bezug auf
Leistung und Effizienz haben disruptive Technologien schließlich das Potenzial, das Wert-
versprechen etablierter Produkte zu übertreffen (Bower & Christensen, 1995; Tellis,
2006). Verstärkt wird die disruptive Kraft durch die Fähigkeit digitaler Technologien
schneller als je zuvor in der Geschichte zur Massenadaption zu skalieren. Dies ist vor
allem darin begründet, dass das Wertversprechen digitaler Produkte und Dienstleistungen
primär auf Softwarekomponenten basiert, die schnell und mit geringem Aufwand ent-
wickelt und ausgeliefert werden können (Means & Schwab, 2015). Abb. 8.3 veranschau-
licht die Geschwindigkeit der Massenskalierung.

cc Definition  Disruption, die auf digitalen Technologien basiert, wird in der Wissen-
schaft als „Digitale Disruption“ bezeichnet (Janke & Burkhardt, 2018).

Christensen (1997) untersuchte die Entwicklung von evolutionären Technologien,


die es etablierten Unternehmen ermöglichen, ihr bestehendes Produkt- und Dienst-
leistungsportfolio inkrementell zu verbessern. Seine zweite Hypothese besagt, dass In-
novationen, die aus evolutionären Technologien abgeleitet werden dazu neigen, die

Tab. 8.4  Merkmale von disruptiven Technologien. (Quelle: Bower & Christensen, 1995)

M1 Sie bieten ein anderes Paket an


Leistungsmerkmalen.
M2 Die Leistungsattribute verbessern sich in
rasantem Tempo.
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 179

Technische Innovationen skalieren schneller als je zuvor

40

35

30

25

20

15

10

0
Radio Television Ipod Internet Facebook Twitter WeChat

Dauer zur Skalierung zu 50 mio. Benutzern in [Jahren]

Abb. 8.3  Massenskalierung disruptiver Technologien. (Quelle: Autor, adaptiert von Supratim Ad-
hikari (2017))

­ undenanforderungen ab einem bestimmten Zeitpunkt zu übererfüllen. Die Leistung


K
eines Produkts oder einer Dienstleistung übersteigt demnach die Kundenanforderungen,
was dazu führt, dass Kunden das erweiterte Wertangebot nicht nutzen können oder wollen
(Christensen, 1997; Christensen et  al., 2016). Basierend auf ihren Erkenntnissen ent-
wickelten die Wissenschaftler das Disruptive Innovation Model, das die Relation zwi-
schen der Produktleistung im Zeitverlauf und der Fähigkeit des Kunden, das Produkt zu
nutzen, veranschaulicht.
Abb. 8.4 weist darauf hin, dass das Streben nach Steigerung der Produktleistung durch
nachhaltige Innovation für etablierte Unternehmen das Risiko birgt, die Kundenbedürf-
nisse zu übererfüllen. Dies wiederum schafft Raum für neue Akteure in den Markt einzu-
treten und das Wertversprechen etablierter Unternehmen zu untergraben, indem sie ent-
weder (1) ausgereifte Produkte im unteren Preissegment anbieten, die ein bestimmtes
Kundenbedürfnis adressieren („Low-End-Disruption“) oder (2) neue Produkte oder
Dienstleistungen schaffen, die ein Bedürfnis adressieren welches Kunden zuvor noch gar
nicht bekannt war („New Market Disruption“) (Christensen et al., 2016).

cc Definition  Innovation, die digitale Technologien nutzt oder ermöglicht, wird als „Di-
gitale Innovation“ bezeichnet (Danneels, 2004; Thomond et al., 2003).
180 M. Gut

Abb. 8.4  Das disruptive Innovationsmodell von Christensen (1997). (Quelle: Autor, adaptiert von
King & Baatartogtokh, 2015)

Abb. 8.5  Gegenstände von Innovation. (Quelle: Autor)

Gegenstand der Innovation kann ein physisches Produkt, eine Produkt/Dienstleistungs-­


Kombination, ein Geschäftsprozess oder das Geschäftsmodell etablierter Unternehmen
selbst sein (Thomond et al., 2003). Daher wird das Phänomen von Wissenschaftlern aus
verschiedenen Perspektiven betrachtet, siehe Abb. 8.5.
Bei der Suche nach einer Definition des Begriffs „Disruptive Innovation“ scheinen sich
Praktiker uneinig darüber zu sein, wie Innovation zu definieren ist und welche Arten von
Innovationen existieren. Garcia und Calantone (2002) beklagen zum Beispiel, dass „eine
Fülle von Definitionen für Innovationstypen zu einer Mehrdeutigkeit in der Art und Weise
geführt hat, wie die Begriffe ‚Innovation‘ und ‚Innovativität‘ operationalisiert und ver-
wendet werden[.]“ (S.  2). Die Autoren betonen die Notwendigkeit, Marketing- und
Technologieperspektiven auf Makro- sowie auf Mikroebene zu berücksichtigen, um Inno-
vationen im Einzelfall zu identifizieren. Somit muss der Unterschied zwischen nach-
haltiger und disruptiver Innovation noch genauer untersucht werden.
O’Reilly und Tushman (2016) weisen darauf hin, dass digitale disruptive Innovationen
in der Regel „eine billigere Alternative für ein kleines Segment des ursprünglichen
Kundenstamms darstellen und zunächst nicht als Bedrohung für die etablierten Unter-
nehmen angesehen werden, weil sie nur die Low-End-Nutzer ansprechen, bei denen die
Margen […] gering sind.“ (S. 14). McQuivey (2013) beschreibt das Phänomen der digita-
len disruptiven Innovation und die ihr zugrunde liegende Mechanik als „Mehrwert aus
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 181

Sicht des Kunden und zielgerichteter Lieferung. Digitale Disruptoren tun dies zu geringe-
ren Kosten, mit schnelleren Entwicklungszeiten und mit größerer Auswirkung auf das
Kundenerlebnis als alles, was vorher war.“ (S. 3). Er weist auf drei Aspekte hin, die digi-
tale Disruption vom traditionellen Verständnis von Disruption unterscheiden, siehe
Tab. 8.5.
Riemer et al. (2015) erweiterten die Theorie von McQuivey (2013), indem sie aus einer
makroökonomischen Perspektive fünf Bereiche spezifizierten, in welchen digitale Disrup-
tion wahrscheinlich ist, Tab. 8.6.
Gleichzeitig identifizierte Moore (2015) aus mikroökonomischer Sicht drei Bereiche, in
denen digitale Disruption auf etablierte Unternehmen trifft, siehe Tab. 8.7.

Tab. 8.5  Unterscheidungsmerkmale digitaler disruptiver Innovation. (Quelle: McQuivey, 2013)


Merkmal Beschreibung
DIF1 Niedrige Das Internet ist heutzutage allgegenwärtig und für jeden zugänglich.
Markteintritts-­ Werkzeuge, die für die Entwicklung von Apps oder den Bau digitaler
barrieren Prototypen benötigt werden, sind kostenlos oder zu sehr geringen
Kosten erhältlich. Potenzielle Kunden sind bereits mit allen Techniken
und Fähigkeiten ausgestattet, die für den Konsum des neuen Produkts
oder der neuen Dienstleistung erforderlich sind. Dies sind
insbesondere: Zugang zum Internet, ein Computer oder ein
Smartphone (McQuivey, 2013).
DIF2 Geschwindigkeit Die Kosten für die Bereitstellung digitaler Prototypen, Produkte oder
Dienstleistungen sinken aufgrund allgegenwärtiger und
standardisierter Internetplattformen und Bereitstellungs-Frontends wie
dem Apple AppStore, Amazon, GitHub, LinkedIn, HTML5, Angular
usw. auf nahezu Null. (McQuivey, 2013).
DIF3 Perfekter Aufgrund von (DIF1) und (DIF2) sind Innovatoren in der Lage, in
Kunden-Markt-Fit sehr kurzen Zyklen das Produkt oder die Dienstleistung an neue
Erkenntnisse bzgl. Kundenerwartungen anzupassen. Sehr
kundenorientierte Unternehmen liefern mehrere Releases pro Tag, was
eine hohe Übereinstimmung von Nachfrage und Angebot garantiert
(McQuivey, 2013).

Tab. 8.6  Ziele disruptiver Innovation aus makroökonomischer Sicht. (Quelle: Riemer et al., 2015 )
Domäne Beispiel
Persönlicher Alltag Mobile Konnektivität verändert etablierte Work-Life-Gewohnheiten.
Arbeitspraktiken Soziale Medien verändern die Art und Weise, wie wir interagieren und uns
organisieren.
Geschäftspraktiken Moderne Kollaborationsplattformen verändern die Art und Weise, wie wir
Informationen organisieren und teilen. Ein neuer Modus des
Informationsaustausches prägt die Unternehmenskulturen.
Industrie-­ Neue, digitale Akteure am Markt nutzen Informationsasymmetrien auf eine
strukturen Art und Weise, die traditionelle Wertschöpfungsketten disruptiert.
Gesellschaft Social-Media-Kampagnen beeinflussen die traditionellen Praktiken der
öffentlichen Meinungsbildung, des Journalismus und der Politik.
182 M. Gut

Tab. 8.7  Ziele disruptiver Innovation aus mikroökonomischer Sicht. (Quelle: Moore, 2015)
Domäne Bedrohungsszenario Beispiel
Infrastruktur-­ Disruptive Bedrohungen durch Einsatz von Drohnen zur
modell digitale Technologien, die Fassadenvermessung in der Bauindustrie
Konkurrenten möglicherweise
besser zu nutzen verstehen, um
Effizienz und Leistung zu steigern.
Betriebsmodell Disruptive Bedrohungen durch Smarte Mülltonnen, die ihren Füllstand
digitale Technologien, die an eine Cloud-Plattform übermitteln,
Arbeitsabläufe innerhalb einer ermöglichen es Müllwägen ihre Route
Branche verändern. durch die Städte bei Bedarf dynamisch
anzupassen und zu optimieren.
Geschäftsmodell Disruptive Bedrohungen durch Vernetzte Sensoren in Luftkompressoren
digitale Technologien, die verändern das Geschäftsmodell vom
bestehende Geschäftsmodelle Verkauf von Maschinen hin zur
obsolet machen. Lieferung von Druckluft als
Dienstleistung.

McQuivey (2013) betont das Risiko, dass digitale Disruption jede Branche bedroht –
Sei es ihr Produkt- und Dienstleistungsportfolio oder interne Prozesse: „Das Potential di-
gitaler Disruption ist genau deshalb um ein Vielfaches größer, weil es auch Industrien
bedroht, die noch nicht digitalisiert sind. Sie geschieht durch digitale Produkte, die dann
die Disruption physischer Dinge beschleunigen.“ (S.  9). Die Autoren analysieren die
Unterschiede zwischen traditioneller physischer Disruption und digitaler Disruption und
schließen, dass „Physikalische Disruption bedingt die sorgfältige Weiterentwicklung und
Optimierung von physischen Ressourcen. Diese Ressourcen sind oft teuer, ebenso wie die
Fabriken, in denen sie hergestellt werden. [Firmen] können nur profitabel werden, wenn
sie Skalierung erreichen, und Skalierung erfordert massive Anfangsinvestitionen, um zu
disruptiven Preisen erfolgreich zu sein[.]“ (S. 9).
Abgeleitet aus mehreren wissenschaftlichen Quellen (Afuah, 2016; Garcia & Calan-
tone, 2002; O’Reilly & Tushman, 2016) gilt für diese Arbeit die folgende Definition von
digitaler disruptiver Innovation:

cc Definition  Digitale disruptive Innovationen haben die Macht, etablierte Produkt- und
Dienstleistungsangebote zu untergraben, indem sie ein durch digitale Technologien er-
möglichtes Wertversprechen liefern.
Quelle: Autor

8.2.3 Deutsche mittelständische Unternehmen

Es ist wichtig, den Begriff „Deutscher Mittelstand“ genau zu bestimmen, um ein ge-
meinsames Verständnis für den primären Forschungsgegenstand dieser Arbeit zu gewin-
nen. Im Allgemeinen verwenden Wissenschaftler den Begriff „Mittelstand“ häufig als
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 183

Referenz für eine Vielzahl von Unternehmen, die (1) nicht börsennotiert sind, (2) sich in
Familienbesitz befinden oder von den Eigentümerfamilien formativ gesteuert werden, (3)
versteckte Marktführer innerhalb ihrer Branche sind und (4) nicht Teil eines großen Unter-
nehmenskonglomerats sind (Khadjavi et al., 2005; Schäfer, 2004). Dem deutschen Mittel-
stand werden gemeinhin die folgenden Eigenschaften zugeschrieben, siehe Tab. 8.8.
Die genannte Kategorie von Unternehmen stellt das Rückgrat der deutschen Wirtschaft
dar (BMWi, 2016) und liefert einen großen Teil des Bruttoinlandsprodukts (Haunschild &
Wolter, 2010; IfM Bonn, 2015). Ein Anteil von ca. 95 % aller deutschen Unternehmen in
Familienbesitz (Wolter & Günterberg, o. J.) unterstreicht die Relevanz des Mittelstandes
für die deutsche Wirtschaft. So werden diese Unternehmen von Politikern und Praktikern
oft als Synonym für Innovation, Wachstum und Beschäftigung gesehen und zitiert
(Goeke, 2008).
Wissenschaftler sind sich einig darüber, dass es keine allgemein akzeptierte Definition
für den deutschen Mittelstand gibt: „In Theorie und Praxis gibt es keine eindeutigen und
expliziten Kriterien für die Definition von kleinen und mittleren Unternehmen.“ (Khadjavi
et  al., 2005). Es gibt keine klare Abgrenzung zwischen den Begriffen „Mittelstand“,
„KMU“ und „Familienunternehmen“ (Becker et al., 2008; Khadjavi et al., 2005). Das IfM
Bonn (2015) bekräftigt diese These und erklärt, dass die Begriffe „mittelständische Unter-
nehmen“, „Familienunternehmen“, „eigentümergeführte Unternehmen“ und „familien-
geführte Unternehmen“ als Synonyme zu betrachten sind. Abgeleitet von diesen Definitio-
nen sollen im Rahmen dieser Arbeit die folgenden Parameter den deutschen Mittelstand
definieren, siehe Tab. 8.9.

Tab. 8.8 Merkmale deutscher mittelständischer Unternehmen. (Quelle: Adaptiert von Kay-


ser, 2006)
A1 Einheit von Eigentum, Risiko und Kontrolle A2 Einheitliche Leitung, Entscheidungen
und Verantwortung
A3 Flache Hierarchien, Konsens zwischen A4 Enger Bezug zu lokalen Märkten und
Top-Management-Team und Personal Kunden
A5 Persönliche Beziehungen zwischen den Firmen
und dem lokalen Umfeld

Tab. 8.9  Definition des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Autor)


Geschäftszahlen (1) Zwischen 500 und 4000 Mitarbeiter
(2) Umsatz zwischen 80 und 800 Mio. € pro Geschäftsjahr.
Wirtschaftliche und rechtliche (3) Kein Tochterunternehmen einer anderen juristischen Person
Autonomie
Eigentümerschaft, Kontrolle (4) Geschäftsführung besteht aus den Eigentümer ist oder von
und Führung den Eigentümern bestellt
(5) Eine menschliche Person oder eine Familie besitzt
mindestens 50 % der Anteile
Unternehmensführung (6) Die Entscheidungsgewalt liegt bei der/den
unternehmerischen Person(en) oder Familienmitgliedern
184 M. Gut

Die Firmen werden in den folgenden Kapiteln als „KMU“ (Kleine und Mittlere Unter-
nehmen) bezeichnet.

8.3 Literaturübersicht

Das folgende Kapitel analysiert die wissenschaftliche Literatur im Forschungskontext der


vorliegenden Arbeit. Das Ergebnis wird eingegrenzt auf deutsche mittelständische Unter-
nehmen und bildet den Ausgangspunkt, um die in Kap. 1 definierten Forschungsfragen zu
beantworten.

8.3.1 Herausforderungen digitaler Disruption

Beispiele etablierter Unternehmen,2 die bekannt sind für ihre außergewöhnliche


Innovationskraft, zeigen, wie schwer es dem Management fällt angemessen auf die Be-
drohung durch (digitale) disruptive Technologien zu reagieren (Rettig, 2017). Die Unter-
suchung, warum etablierte Unternehmen, die oft hochprofitabel und erfolgreich sind, dazu
neigen, im Umgang mit digitaler Disruption zu scheitern, findet in der akademischen For-
schung große Aufmerksamkeit. Der folgende Abschnitt fasst die Ergebnisse der relevanten
wissenschaftlichen Arbeiten zusammen.
Govindarajan und Srivastava (2016), die die Lebensdauer von Unternehmen in Rela-
tion zu ihrer Innovationskraft und dem Datum des Börsengangs untersuchten3 fanden he­
raus, dass junge Firmen, die nach 2000 gegründet wurden, im Vergleich zu Firmen, die
Mitte des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, wahrscheinlicher innerhalb von zehn Jahren
scheitern. O’Reilly und Tushman (2016) bestärken diese These, indem sie die finanziellen
Möglichkeiten des Unternehmens, die Markenbekanntheit, den Kundenstamm und die
geografische Präsenz weiter berücksichtigen. Das Ergebnis zeigt, dass die meisten der
etablierten Firmen es nicht geschafft haben, relevant zu bleiben oder nicht einmal einen
Zeitraum von 30–50 Jahren überlebt haben. Als Hauptgrund für das Scheitern nennen sie
die fehlende Fähigkeit, sich zu verändern. Insbesondere nennen sie das reine Streben nach
Wachstum des bestehenden Geschäfts unter Vernachlässigung neuer Geschäftsmöglich-
keiten als Hauptfaktor des Scheiterns: „Im Nachhinein können wir erkennen, dass [die
Unternehmen] sich darauf konzentrierten, ein Spiel zu gewinnen, das bald irrelevant sein
wird.“ (O’Reilly & Tushman, 2016, S.  5). Abb.  8.6 veranschaulicht, dass die durch-
schnittliche Lebensdauer von S&P-Firmen in den letzten fünfzig Jahren dramatisch ge-
sunken ist.
Gleichzeitig beobachteten die Wissenschaftler aufstrebende Unternehmen, die es ge-
schafft haben, etablierte Unternehmen digital zu disruptieren, indem sie ihre strategischen

2
 Beispiele: Yahoo, Nokia, Kodak, Compaq.
3
 Stichprobe von ca. 30.000 börsennotierten Unternehmen in den USA zwischen 1960 und 2009.
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 185

Durchschnittliche Lebensdauer von Unternehmen im S&P Index


70

60

50

40

30
-simuliert-
20

10

0
1955 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030

1955 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030

Abb. 8.6  Durchschnittliche Lebensdauer der S&P-Firmen zwischen 1965 und 2018. (Quelle:
Autor, adaptiert von Innosight.com (2015))

Schritte analysierten: „[Sie waren] bereit, ihr altes Geschäft zu kannibalisieren, um im


neuen [Markt] erfolgreich zu sein.“ (O’Reilly & Tushman, 2016, S. 6) Ihre Ergebnisse
zeigen, dass (1) die Fähigkeit, sich schnell auf Veränderungen im Markt und in der Gesell-
schaft einzustellen und gleichzeitig (2) technologische Innovationen zu identifizieren und
zu verfolgen entscheidende Voraussetzungen sind, um im Umgang mit digitaler D ­ isruption
erfolgreich zu sein. Dies erfordert schlanke Prozesse, schnelle Entscheidungen, keine Ver-
pflichtungen gegenüber einem bestehenden Kundenstamm und die Fähigkeit, den Mehr-
wert neuer Technologien zu erkennen (Macher & Richman, 2004).
Die Erforschung der Ursachen, warum etablierte Unternehmen scheitern im Umgang
mit digitaler Disruption, hat in der Wissenschaft große Aufmerksamkeit erregt und eine
konstruktive Diskussion unter Wissenschaftlern ausgelöst: Christensen (1997), bekannt
als Pioniere im Forschungsfeld der disruptiven Innovation (Danneels, 2002; Janke &
Burkhardt, 2018; Wadhwa, 2015), prägten den Begriff „Innovators Dilemma“ in der aka-
demischen Forschung. Ihr Ziel ist es die Herausforderungen für das Management zu kon-
zeptualisieren, die sich im Zielkonflikt zwischen bestehendem Geschäft und zukünftigen
Modellen der Umsatzgenerierung ergeben. Die Wissenschaftler zeigen auf, dass etablierte
Unternehmen innovativ sind, indem sie versuchen, die Leistung ihres bestehenden Pro-
dukt- und Dienstleistungsportfolios inkrementell zu verbessern. Sie tun sich jedoch
schwer, Möglichkeiten zu identifizieren, die das Potenzial haben, disruptiv zu sein: „Eta-
blierte Firmen sind Gefangene ihrer eigenen Kunden. Deshalb machen sie den Weg für
Neueinsteiger frei, um die etablierten Unternehmen effektiv anzugreifen.“ (Christen­­
186 M. Gut

sen, 1997, S.  38). Darüber hinaus zeigen ihre Untersuchungen, dass etablierte Unter-
nehmen gut darin sind, Innovationen zu liefern, die von Kunden gefordert und aktiv nach-
gefragt werden. Es stellt jedoch eine Herausforderung dar, Innovationen im Markt
einzuführen, die sich an Zielgruppen außerhalb des bestehenden Kundenstamms richten.
O’Reilly und Tushman (2016) bekräftigen diese These: „[Etablierte Firmen] bevorzugen
naturgemäß Optionen mit größerer Gewissheit des kurzfristigen Erfolgs. Exploration hin-
gegen ist von Natur aus ineffizient, riskant und vielleicht sogar beängstigend. […] Solche
Organisationen werden kurzfristig dominant, sie sind aber langfristig obsolet und schei-
tern.“ (S. 13). Denning (2016) beschreibt, wie Christensen seine Theorie des Innovators
Dilemma ergänzt durch Adaption an die neuesten technologischen Entwicklungen und die
damit verbundenen Veränderungen in Gesellschaft und Wirtschaft. Er betont insbesondere
(1) die verstärkte Dynamik bei der Aufrechterhaltung von Innovationen, (2) die dramati-
sche Zunahme der Innovationsgeschwindigkeit, die durch die allgegenwärtige Verfügbar-
keit digitaler Technologien ermöglicht wird, und (3) die zunehmenden Schwierigkeiten
bei der Reaktion auf digitale Disruption als Herausforderung.
Bower und Christensen (1995) untersuchten anhand von Fallstudien aus der Fest-
plattenindustrie die Vorgehensweise von Unternehmen bei der Identifizierung und Be-
wertung disruptiver Technologien: „Zweifellos haben Bürokratie, Arroganz, müdes
Managerblut, schlechte Planung und kurzfristige Investitionshorizonte eine Rolle gespielt.
Aber der Hauptgrund liegt im Herzen des Paradoxons: Führende Unternehmen erliegen
einem der beliebtesten und wertvollsten Management-Dogmen. Sie bleiben nah an ihren
Kunden.“ (S.  1). Das Ergebnis ihrer Arbeit fasst prominente Managementmuster zu-
sammen, die dazu führen, dass etablierte Unternehmen im Wettbewerb auf dem Gebiet der
digitalen Disruption scheitern, siehe Tab. 8.10.
Tellis (2006) betont einen Mangel an Vision als Hauptfaktor für das Scheitern von eta-
blierten Unternehmen im Umgang mit digitaler Disruption: „[T]he disruption of incum-
bents […] is due not to technological innovation per se but rather to incumbents‘ lack of
vision of the mass market and an unwillingness to cannibalize assets to serve that mar-
ket.“ (S. 1).
Henderson (2006) argumentiert, dass Christensen (1997) Fokus auf disruptive Innova-
tion „die kritische Rolle verdeckt, die tief eingebettete kunden- oder marktbezogene Kom-
petenzen bei der Gestaltung der Art und Weise spielen, wie Unternehmen auf disruptive
Innovationen reagieren.“ (S. 1). Damit unterstreicht sie die Bedeutung von „organisatori-
scher Kompetenz, im traditionellen Sinne der organisatorischen Routinen etablierter
Unternehmen“ als entscheidende Voraussetzung, um „Veränderungen [des Marktes] zu
spüren und darauf zu reagieren.“ (S. 6).
Lucas und Goh (2009) unterstützen die These von Henderson (2006). Sie merken an,
dass Mitarbeiter im mittleren Management etablierter Unternehmen sich nicht der Not-
wendigkeit bewusst sind, sich den Bedrohungen digitaler Disruption zu stellen: „Das
obere Management muss andere von der Notwendigkeit überzeugen, sich in eine neue
Richtung zu bewegen. […] [Wir] sind daran interessiert, wie das mittlere Management
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 187

Tab. 8.10  Prominente Management-Muster gescheiterter Firmen. (Quelle: Bower & Christen-
sen, 1995)
Referenz Erkenntnisse
1 „Die Ertrags- und Kostenstrukturen eines Unternehmens Bestehende Ertrags- und
spielen eine entscheidende Rolle bei der Bewertung von Kostenstrukturen behindern
vorgeschlagenen technologischen Innovationen. […] [M] eine angemessene Bewertung
anager kommen typischerweise zu dem Schluss, dass die von Technologien
Technologie keinen sinnvollen Beitrag zum
Unternehmenswachstum leisten kann und daher den
Managementaufwand für ihre Entwicklung nicht wert ist.“
(S. 47).
2 „[M]anager können vermeiden die nächste Welle [der Die Einführung disruptiver
disruptiven Technologie] zu verpassen, indem sie sorgfältig Technologien, die nicht auf
auf potenziell disruptive Technologien achten, die nicht den die Bedürfnisse bestehender
aktuellen Kundenbedürfnissen entsprechen.“ (S. 47) Kunden ausgerichtet sind,
scheint eine Herausforderung
zu sein.
3 „Das Management der Entwicklung neuer Technologien ist Etablierte
eng mit den Investitionsprozessen eines Unternehmens Investitionsprozesse
verbunden. […] Unternehmen […] verwenden analytische behindern die Finanzierung
Planungs- und Budgetierungssysteme, um unter den digitaler Vorhaben aufgrund
Kandidaten konkurrierender Initiativen zu entscheiden. ungenauer Planungs- und
Ansätze zur Gründung neuer Unternehmen in neuen Märkten Prognosefähigkeiten.
sind besonders schwierig zu bewerten, da sie von notorischen
Schätzungen der Marktgröße abhängen. […] Das Risiko wird
reduziert – und Karrieren werden gesichert – indem man
bekannten Kunden gibt, was sie wollen.“ (S. 47)
4 „Firmen haben etablierte Prozesse um Technologien zu Die Fähigkeit, zwischen
beobachten, die das Kerngeschäft stützen oder verbessern. unterstützenden und
Aber nur wenige haben systematische Prozesse, um potenziell disruptiven Technologien zu
disruptive Technologien zu identifizieren und zu verfolgen.“ unterscheiden, spielt eine
(S. 49) wichtige Rolle.

sich selbst verändert und auch den Wandel in der Organisation herbeiführt.“ (S. 47). Da­
rüber hinaus erweitern die Wissenschaftler Christensens Theorie des Innovator's Dilemma
um die Notwendigkeit, „die Kultur der Organisation mit einzubeziehen, womit wir die
Überzeugungen der Mitarbeiter, die Art und Weise, wie sich das Unternehmen organisiert,
und die Art der Interaktionen zwischen den Mitarbeitern meinen.“ (S. 47). Damit weisen
sie hin auf Kultur als kritischen Erfolgsfaktor.
O’Reilly und Tushman (2016) haben mehrere Fälle von Unternehmen untersucht, die
bei der Nutzung neuer Technologien erfolglos waren und deshalb von neuen Marktteil-
nehmern disputiert wurden. Sie weisen darauf hin, dass Erfolg oder Misserfolg „mit Füh-
rung zu tun hat – und damit, wie Führungskräfte angesichts des Wandels handeln.“ (S. 44).
Basierend auf dieser Hypothese haben die Wissenschaftler die folgenden Herausforderungen
als Barrieren im Umgang mit digitaler Innovation herausgearbeitet, siehe Tab. 8.11.
188 M. Gut

Thomond et al. (2003) führten einen dreitägigen Workshop mit leitenden Angestellten
einer heterogenen Gruppe von Akademikern und Praktikern durch, um die wichtigsten
Herausforderungen und Barrieren im Umgang mit digitaler Disruption zu untersuchen.
Die folgende Liste, sortiert nach Kritikalität, zeigt das Ergebnis des Workshops, siehe
Tab. 8.12.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeiten geben Hinweise darauf, warum digi-
tale Disruption eine Bedrohung für etablierte Unternehmen darstellt und warum sich
Führungskräfte ernsthaft mit dieser Herausforderung auseinandersetzen müssen.

Tab. 8.11  Herausforderungen im Umgang mit disruptiver Innovation. (Quelle: O’Reilly, C.A., &
Tushman, M. (2016))
Referenz Erkenntnisse
1 „Vor fünfzig […] Jahren hatten Manager den Geschwindigkeit ist entscheidend. Langsame
Luxus der Zeit. Wenn sie zu langsam auf Entscheidungsprozesse hindern etablierte
Veränderungen reagierten, konnten sie dies Firmen daran, schnell zu reagieren und zu
ausgleichen. Dies ist nicht mehr der Fall.“ liefern.
(S. 7)
2 „Das Experimentieren mit neuen Geschäften Digitale Innovationen erscheinen im Hinblick
und Geschäftsmodellen wird oft als auf die zu erwartende Rendite unattraktiv.
Ablenkung angesehen oder bietet nicht die Daher werden bevorzugt traditionelle,
Einnahmen und Margen, die das bestehende nachhaltige Innovationen unterstützt (Oke
Geschäft liefern kann.“ (S. 53) et al., 2007).
3 „[D]ie Tendenz geht dahin, zu viel in das
bestehende Geschäft und zu wenig in die
Erkundung zu investieren.“ (S. 53)
4 „Erfolg im bestehenden Geschäft kann Nachhaltiger Erfolg mit etablierten Prozessen,
Manager daran hindern Neues zu erkunden; Vorgehensweisen und Geschäftsmodellen
Wir nennen dies das Success Syndrome.“ erhöht die mentalen Barrieren für
(S. 20) Veränderungen.

Tab. 8.12  Kritikalität der Herausforderungen im Umgang mit digitaler disruptiver Innovation.
(Quelle: Thomond et al., 2003)
Kritikalität Herausforderung
1 Mangelndes strategisches Bewusstsein
2 Mangelnde Fähigkeit Chancen und Möglichkeiten zu erkennen
3 Mangelnde Fähigkeit, die Initiierung von potenziell disruptiven Ideen zu fördern
4 Unangemessenes Management von Ideen führt dazu, dass potenziell disruptive
Konzepte ignoriert oder zu wenig beachtet werden
5–10 Mangel an branchenrelevanter Beratung
5–10 Innovationskultur, die auf inkrementelle Verbesserung ausgerichtet ist
5–10 Etablierte Marketingprozesse mit Fokus auf Kerngeschäft
5–10 Etablierte Marktforschung mit Fokus auf Kerngeschäft
5–10 Mangelnde Fähigkeit, organisatorische Gegebenheiten in Frage zu stellen
5–10 Erwartung von Kunden, aktiv nach disruptiven Ansätzen zu fragen
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 189

Tab. 8.13  Zusammenfassung der Herausforderungen. (Quelle: Autor)


Herausforderung Quelle(n)
1 Fähigkeit und Bereitschaft der Führungskräfte zur Veränderung O’Reilly und Tushman
(2016)
2 Unfähigkeit der Entscheider, Innovationspotenziale mit Christensen (1997), Bower
disruptivem Potenzial im technischen oder im und Christensen (1995),
betriebswirtschaftlichen Kontext zu erkennen Thomond et al. (2003),
3 Firmen hören zu sehr auf ihre Kunden, anstatt mögliche O’Reilly, C.A., & Tushman,
zukünftige Innovationsszenarien zu erforschen. Etablierte M. (2016)
Unternehmen sind gut darin, Innovationen zu liefern, die von
Kunden gefordert und aktiv nachgefragt werden.
4 Etablierte Investitionsprozesse behindern die Förderung Thomond et al. (2003),
digitaler Initiativen aufgrund ungenauer Planungs- und O’Reilly, C.A., & Tushman,
Prognosemöglichkeiten. M. (2016)
5 Die Fähigkeit, zwischen nachhaltigen und disruptiven Danneels (2004), Lucas
Technologien zu unterscheiden. & Goh (2009), Rigby und
Corbett (2002)
6 Entscheidungen über neue, disruptive Initiativen auf Basis Bower und Christensen
bestehender Umsatz- und Kostenstrukturen (1995)
7 Unfähigkeit der etablierten Unternehmen, ihre Kunden zu Danneels (2002)
verstehen
8 Fehlender Weitblick der etablierten Unternehmen für den Tellis (2006), Thomond
Massenmarkt et al. (2003)
9 Fehlende Organisationskompetenz Henderson (2006)
10 Bewusstsein der Mitarbeiter im mittleren Management Lucas & Goh (2009)
11 Fehlende Fähigkeit Chancen und Möglichkeiten zu erkennen Thomond et al. (2003)
12 Unzureichende Kultur der Veränderung und Innovation Lucas und Goh (2009),
Thomond et al. (2003)

Die wichtigsten Herausforderungen lassen sich wie folgt zusammenfassen, siehe


Tab. 8.13.

8.3.2 Strategien

Neben der Erforschung der Herausforderungen digitaler Disruption konzentrieren sich


Wissenschaftler gleichermaßen auf Reaktionsstrategien und die Bewertung ihrer Auf-
wände und Machbarkeit. Dieser Abschnitt fasst relevante Literatur und Empfehlungen für
Führungskräfte zusammen, wie sie Bedrohungen durch digitale Disruption erkennen und
darauf reagieren können.
Thomond et  al. (2003) untersuchten, wie disruptive Innovation als Teil der Unter-
nehmensstrategie von Unternehmen gefördert werden kann. Bei der Darstellung des digi-
talen Innovationsprozesses von Vodafone zeigen die Autoren das Konzept des „Business-
plan light“ auf, welcher Mitarbeiter dabei unterstützt „ihre Ideen weiterzuentwickeln und
190 M. Gut

[…] zu präsentieren.“ (S. 13). Das Unternehmen ist bestrebt, innovatives Denken und Ini-
tiativen im Unternehmen zu fördern. Außerdem berichten sie über die Gründung einer
Innovationsakademie im Unternehmen um „Ergebnisse von […] Projekten […] und an-
dere interessante Themen rund um die tägliche Arbeit zu diskutieren.“ (S.  12). Die
­Akademie soll, ähnlich wie der Businessplan light, „Kanäle […] zur Beeinflussung der
Konzernstrategie in einer sich ständig verändernden, diskontinuierlichen Welt bieten.“
(Thomond et al., 2003, S. 12).
O’Reilly und Tushman (2004) und Tushman & O’Reilly (1996) untersuchten autonome
Einheiten innerhalb etablierter Organisationen um „neue Möglichkeiten zu erforschen,
während [Firmen] daran arbeiten, das Kerngeschäft weiter zu betreiben.“ (S. 2). Die Au-
toren schlagen vor „die […] neuen, explorativen Einheiten von den etablierten Einheiten
zu trennen, indem sie unterschiedliche Prozesse, Strukturen und Kulturen einführen;
gleichzeitig halten sie enge Verbindungen zwischen den Einheiten auf der Ebene der obe-
ren Führungskräfte aufrecht.“ (S. 2). Dies unterstreicht die Priorität für ambidextre Mana-
ger, die „Fähigkeit mitzubringen, die Bedürfnisse von sehr unterschiedlichen Arten von
Unternehmen zu verstehen und sensibel dafür zu sein“ (S. 3).
Etwa ein Jahrzehnt später untersuchte Christensen (2013) das Themenfeld der auto-
nomen Einheiten weiter. Diese werden oft als explorative Einheiten, Spin-offs oder Aus-
gründungen bezeichnet. Das Ergebnis der Arbeit kommt im Gegensatz zu Tushman &
O’Reilly (1996) zu dem Schluss, dass “focus[ing] on proposals that customers reject, that
offer lower profit, that underperform existing technologies […] is akin to flapping one’s
arms with wings strapped to them in an attempt to fly.” (S. 103). Die Autoren sehen keine
Möglichkeit, bestehende Prozesse und Ressourcen, die sich auf den Betrieb des Kern-
geschäfts konzentrieren, für umfassende digitale Disruptionsinitiativen zu nutzen. Hen-
derson (2006) bekräftigt diese These, indem er auf die Schwierigkeit hinweist „an-
gemessene Anreizstrukturen [für autonome Einheiten] zu schaffen.“ (S. 7).
Um Führungskräfte zu beraten, welchen Weg des Organisationsaufbaus sie einschlagen
sollen, entwickelten O’Reilly & Tushman (2008) ein Entscheidungsmodell, welches den
operativen Einfluss in Bezug zur strategischen Bedeutung als Schlüsselfaktoren der Ent-
scheidung berücksichtigt. Die Wissenschaftler argumentieren, dass der geeignete Aufbau
von Organisationen zum optimalen Umgang mit disruptiven Innovationen in hohem Maße
von der strategischen Bedeutung des (neuen) Produkt- und Dienstleistungsportfolios ab-
hängt. Sie betonen, dass die Organisationsstruktur als eine dynamische Fähigkeit gesehen
werden muss, die sich bei jeder (digitalen) Innovationsinitiative verändert und neu defi-
niert wird (O’Reilly & Tushman, 2008).
Markides und Charitou (2004) untersuchten die Möglichkeit für etablierte Unter-
nehmen, zwei verschiedene Geschäftsmodelle im selben Markt anzuwenden, um sowohl
die Chancen und Möglichkeiten disruptiver Ansätze als auch die Nutzung etablierter Er-
tragsströme zu nutzen. Sie sehen eine Chance für etablierte Unternehmen, „[…] eine
große Wachstumschance zu nutzen.“ (S. 2). Allerdings weisen die Autoren auf das Risiko
hin, „beides falsch zu managen und Werte zu zerstören.“ (S.  2). Die größte Heraus-
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 191

forderung besteht darin, „die neuen Geschäftsmodelle zu implementieren ohne […] be-
stehende Modelle zu verwässern und zu zerstören“ (S. 2).
Mit dem Ziel, eine Blaupause für den Aufbau eines disruptiven Innovationsmotors zu
definieren, identifizierten Rigby und Corbett (2002) die Disruptionssensitivität in etablier-
ten Kernindustrien als Haupterfolgsfaktor für den erfolgreichen Umgang mit digitaler
­Disruption. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die Abstimmung von Strategien
mit der individuellen Disruptionssensitivität entscheidend ist um Innovationsinitiativen in
die richtige Richtung zu lenken. Die Bedeutung der Sensibilität für disruptive Bedrohungen
wird von Farshad & Kampas (2002) bestätigt, indem sie die Notwendigkeit betonen in-
terne Prozesse zur Prüfung disruptiver Bedrohungen zu etablieren.
Bughin und Van Zeebroeck (2017) beschreiben den Red-Queen-Ansatz als ein Phäno-
men des Wettbewerbs unter etablierten Unternehmen. Basierend auf einem globalen quan-
titativen Forschungsansatz4 veranschaulichen die Autoren wie Unternehmen dazu neigen
digitale Innovationsinitiativen ihrer Konkurrenten zu imitieren, sobald diese öffentlich
sind,5 und betonen, dass „etablierte Unternehmen, die auf Disruption reagieren, einen in-
tensiveren Wettbewerb untereinander schaffen.“ (S. 2). Daraus folgern sie, dass „Organi-
sationen in die Offensive gehen sollten[.]“ (S. 2), was bedeutet, dass aktives Handeln lang-
fristig mehr Wert liefert als das Reagieren auf oder Imitieren von Initiativen des
Wettbewerbs. Dies ist nur möglich, indem entweder (1) neue Kundensegmente erschlossen
werden, (2) neue Geschäftsmodelle eingeführt werden oder (3) die bestehende Wert-
schöpfungskette neu definiert wird (Bughin & Van Zeebroeck, 2017).
Doz und De Roover (2017) erforschten strategische Allianzen als Reaktionsmaßnahme
auf digitale Disruption. Die Intention der Wissenschaftler ist es „einen Weg vorzuschlagen,
wie strategische Allianzen zwischen etablierten Wettbewerbern die Entwicklung erfolg-
reicher Antworten auf Disruption ermöglichen.“ (S.  1). Bei der Ausarbeitung der ver-
schiedenen Faktoren, die im Kontext einer Allianz berücksichtigt werden müssen, stellten
die Wissenschaftler fest, dass Governance-Mechanismen entscheidend sind und gleich-
zeitig die größte Herausforderung für Führungskräfte darstellen.
Zusammenfassend lassen sich drei Kategorien von Reaktionsstrategien ableiten, siehe
Tab. 8.14.

Bemerkung
Die Erhebung wissenschaftlicher Daten im Bereich digitaler Innovationsstrategien scheint
aufgrund der Vertraulichkeit und Sensibilität der Daten schwierig zu sein, da Innovations-
manager versuchen, die Offenlegung ihrer strategischen Ansätze und damit verbundene
Probleme zu vermeiden (Bughin & Van Zeebroeck, 2017). Daher ist die Menge an akade-
mischer Literatur zu diesem Thema im Gegensatz zu Arbeiten über digitale disruptive In-
novation im Allgemeinen begrenzt.

4
 Umfrage unter Führungskräften von 2000 Unternehmen in mehr als 60 Ländern.
5
 Beispiele: Online-Shops, Paket-Industrie, Banken-Industrie.
192 M. Gut

Tab. 8.14  Zusammenfassung der Reaktionsstrategien. (Quelle: Autor)


Strategie/Maßnahme Quelle
Dimension 1: Befähigung der Mitarbeiter
1.1 Businessplan light Thomond et al. (2003)
1.2 Innovations-Akademie Thomond et al. (2003)
1.3 Disruptionssensitivität aufbauen Rigby und Corbett (2002)
Rafii und Kampas (2002)
Dimension 2: Interner Fokus (Organisationsaufbau)
2.1 Ambidextriestrategie definieren Denning (2016)
2.2 Autonome Einheiten Tushman und O’Reilly (1996)
Christensen (2013)
Henderson (2006)
Bower und Christensen (1995)
2.3 Dynamische Anpassung des Organisationsaufbaus O’Reilly und Tushman (2008)
2.4 Zwei Geschäftsmodelle im selben Markt Markides und Charitou (2004)
Dimension 3: Externer Fokus (Markt und Wettbewerb)
3.1 Markenbekanntheit ausnutzen Denning (2016)
3.2 Partnerschaften/M&A Denning (2016)
3.3 Red-Queen-Ansatz Bughin und Van Zeebroeck (2017)
3.4 Strategische Allianzen Doz und De Roover (2017)

8.3.3 Merkmale des deutschen Mittelstands

Kap. 2 weist auf einen Mangel an akademischer Forschung über digitale disruptive Inno-
vation mit Fokus auf deutsche mittelständische Unternehmen hin. Dieser Abschnitt fasst
die bestehende relevante Literatur in diesem Forschungsfeld zusammen.

8.3.3.1 Merkmale und Besonderheiten


Die besonderen Eigenschaften von KMU sind Gegenstand zahlreicher Diskussionen und
wissenschaftlicher Untersuchungen im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit und die
Fähigkeit, mit digitalen Innovationen umzugehen (Nielen et al., 2017; Saam et al., 2016;
Schallmo, 2016a; Schlotmann, 2018). Der folgende Abschnitt fasst die relevanten wissen-
schaftlichen Arbeiten zusammen:
Williams et al. (2018) weisen auf die folgenden Eigenschaften von KMU als Haupt-
treiber für die Fähigkeit im Umgang mit digitaler Disruption hin, siehe Tab. 8.15.
Die Wissenschaftler argumentieren, dass die genannten Eigenschaften das Potenzial
haben, einen Wettbewerbsvorteil in Bezug auf die Herausforderungen digitaler Disruption
zu liefern, weil sie es ermöglichen, schnell entscheiden und reagieren zu können.
Mit dem Ziel, den Einfluss der Unternehmenskultur auf die Innovationsfähigkeit von
Familienunternehmen zu bewerten, identifizierten Craig et al. (2014) eine Reihe von im-
materiellen Merkmalen, die Vorteile bieten bei der Umsetzung von digitalen Innovations-
initiativen. Beispiele dafür sind die Organisationsstruktur, die sich positiv auf die Unter-
nehmenskultur auswirken kann, die langfristige Orientierung bei Zielen und Strategie, das
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 193

Tab. 8.15  Merkmale des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Williams et al., 2018)
1 Langfristiges Denken 2 Nicht-finanzielle Ziele vor finanziellen
Zielen
3 Einheitliche Eigentümerstruktur und Kontrolle 4 Unternehmen können kontrazyklisch
agieren
5 Visionsorientiert 6 Internes System relativ frei von politischen
Machtstrukturen
7 Interne Kultur mit hohem Zusammenhalt, die 8 Relativ unbeeindruckt von der
zu Herausforderungen ermutigt Machtstruktur und Orthodoxie der Branche

Management, die Flexibilität bei der Entscheidungsfindung und die Fähigkeit zur schnel-
len Anpassung an Veränderungen im externen Umfeld (Craig et al., 2014).
Schallmo (2016b) schlägt im Rahmen einer Forschungsreihe über Herausforderungen
bei der Transformation von Geschäftsmodellen vor, das Zürcher Modell der Führung
(Rühli, 1984) zu verwenden, um die einzigartigen Eigenschaften von KMU zu identi-
fizieren. Das Modell weist auf die spezifischen Merkmale und Eigenschaften eines Unter-
nehmens hin, indem es Kultur, Struktur und Strategie als Grundpfeiler definiert und be-
wertet. Becker et  al. (2008) wendeten das Modell auf deutsche mittelständische
Unternehmen an und stellten fest, dass alle Determinanten, im Gegensatz zu börsen-
notierten Unternehmen, sehr kleinen Unternehmen oder riesigen Konglomeraten, auf die
Interessen der Eigentümer als gemeinsame Richtung ausgerichtet sind. Dies deutet darauf
hin, dass die Besitzstruktur von KMU eine bedeutende Rolle bei Entscheidungen und
Machtstrukturen spielt. Als wesentliches Ergebnis ihrer Forschungsarbeit leiteten die Au-
toren die folgenden spezifischen Merkmale ab, siehe Tab. 8.16.
Die spezifischen Merkmale können für KMU eine Stärke oder eine Schwäche dar-
stellen, wenn es darum geht, digitale Disruptionsinitiativen zu verfolgen (Demary
et al., 2016).

8.3.3.2 Herausforderungen im Umgang mit digitaler Disruption


Eine Vielzahl wissenschaftlicher Arbeiten befasst sich mit den Herausforderungen der di-
gitalen Transformation als zentrale Aufgabe für den deutschen Mittelstand, z. B. Ludwig
et al. (2016), Kofler (2016), Schallmo (2016a), Schlotmann (2018), Demary et al. (2016),
Icks et  al. (2017), Hilbig (2018) und Weitere. Die Forschungen untersuchen, wie und
warum sich Unternehmen in Richtung einer digitalen Denkweise, Kultur und eines digita-
len Betriebsmodells transformieren können bzw. müssen. Im Vordergrund stehen dabei
Prozessexzellenz und Erhöhung der Wertschöpfung. Nur wenige Forscher fokussieren
dabei ihre Arbeit auf die Herausforderungen digitaler Disruption für KMU unter Berück-
sichtigung ihrer besonderen Merkmale und Eigenschaften.
Lubatkin et  al. (2006) untersuchten die Bedingungen von mittelständischen Unter-
nehmen im Umgang mit digitaler Disruption. Sie schließen, dass „[…] KMU6 nicht über

6
 kleine bis mittelständische Unternehmen von 20 bis 500 Mitarbeitern, keine Startups.
194 M. Gut

Tab. 8.16 Spezifische Merkmale des deutschen Mittelstandes (Auszug). (Quelle: Becker


et al., 2008)
Wertschöpfung Produkte/Kunden/Märkte
- Keine systematische Kontrolle der Ziele - Fokussiert auf Marktnischen
- Keine wertorientierte Führung - Regional verankert
- Rudimentäres Leistungsmanagement - Enge Beziehung zum Kunden
- Zunehmende internationale Geschäftsaktivitäten
Ressourcen Prozesse
- Flache Hierarchien, direkte Führung - Keine professionelle Projektleitung
- Relativ niedriges Gehaltsniveau - Operative Arbeit dominiert über strategische Arbeit
- Weniger Arbeitnehmermitbestimmung - Geringer Grad der Prozessautomatisierung
- Hoher Grad an Flexibilität

die Menge an freien Ressourcen und die Art von hierarchischen Verwaltungssystemen
verfügen, die größeren Unternehmen bei der Bewältigung ihrer widersprüchlichen
Wissensprozesse helfen […], was sie hindert an der Umsetzung von Ambidextrie.“
(S. 647). Ihre These besagt, dass – im Fall von kleinen und mittleren Unternehmen – der
Grad der Beteiligung des Top-Managements „einen direkten Einfluss darauf hat, wie Mit-
arbeiter mit den widersprüchlichen Wissensprozessen umgehen, die über Erfolg oder
Misserfolg einer ambidextren Orientierung entscheiden[.]“ (Lubatkin et al., 2006, S. 647).
Nagle und Golden (2009) zeigen auf, dass „das Innovators Dilemma nur auf große
Unternehmen angewandt wurde […].“ (S. 1). Das Ergebnis ihrer Untersuchung zur An-
wendbarkeit des Innovator’s Dilemma auf mittelständische Organisationen7 deutet darauf
hin, dass es entscheidend ist zwischen Firmen zu unterscheiden, die vor dem Web 2.0
(„pre-2002“) und danach („post-2002“) gegründet wurden. Die Studie zeigt, dass das In-
novator’s Dilemma auf beide Arten von Firmen zutrifft. Post-2002-Firmen schneiden bei
der Vermeidung negativer Auswirkungen digitaler Disruption besser ab, was auf ihre
Technologieaffinität und damit auf ihre Fähigkeit zurückzuführen ist, die Auswirkungen
der Technologie vorherzusehen: „[…] [P]re-2002-Firmen fehlte es an visionärer Fähigkeit
und sie waren auch durch ein niedriges Risikoprofil eingeschränkt.“ (S. 1).
Schlotmann (2018) weist darauf hin, dass „die Herangehensweise an digitale Disrup-
tion aus der Geschäftsmodellperspektive nicht zu den Stärken [von KMU] gehört, aber
durch die sich verändernden Märkte in der Digitalisierung entscheidend ist.“ (S.  8). Er
bemängelt die Fähigkeit der Führungskräfte, Erkenntnisse über technologische Ent-
wicklungen in Geschäftsmodelle zu übersetzen.
Werner et al. (2018) untersuchten, wie sich die spezifischen Merkmale von KMU (siehe
vorheriger Abschnitt) auf deren Innovationsfähigkeit und damit auf die Fähigkeit, mit di-
gitaler Disruption umzugehen, auswirken. Ihre Forschungsergebnisse zeigen, dass (1) eine
langfristige Planungsperspektive die Innovationsfähigkeit in kleinen und mittleren Unter-
nehmen positiv beeinflusst und (2) Familienunternehmen besser in der Lage sind, das

7
 Sechs Firmen von 10–150 Mitarbeitern, bestehend 2–20 Jahre mit Umsatz von 1–15 Millio-
nen Euro.
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 195

Wissen der Belegschaft durch eine geringere Fluktuationsrate zu erhalten, was ebenfalls
zu höherer Innovationsfähigkeit führt. Schließlich zeigen sie auf, dass (3) die Führungs-
kräfte von KMU im Jahr 2018 risikoaverser sind als die Gründergeneration: „Dies führt
dazu, dass die Innovationsfähigkeit von Generation zu Generation kontinuierlich ab-
nimmt.“ (Werner et al., 2018, S. 201).
Zusammenfassend lässt sich aus der vorhandenen Literatur eine Uneinigkeit unter
Wissenschaftlern ableiten bzgl. der Fähigkeit von KMU mit digitaler Disruption umzugehen.

8.3.4 Zusammenfassung

Die zentrale Herausforderung für etablierte Unternehmen ist es ambidextrische


Organisationsstrukturen und Prozesse zu erarbeiten und zu etablieren (O’Reilly & Tush-
man, 2011; Smith et al., 2010). Während für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit im be-
stehenden Kerngeschäft klare Ziele, Meilensteine und eine konsequente Strategie-
umsetzung entscheidend sind, erfordert die Welt der digitalen Disruption Flexibilität, Mut
zum Scheitern und die Fähigkeit, sich schnell an Veränderungen im Markt anzupassen
(O’Reilly & Tushman, 2016). Unternehmen müssen in der Lage sein, „bestehende Kom-
petenzen zu nutzen […] sowie neue Möglichkeiten mit gleicher Geschicklichkeit zu er-
forschen […].“ (Lubatkin et al., 2006, S. 647). Bei dem Bestreben, beide Ansätze gleich-
zeitig umzusetzen, entstehen automatisch Konflikte und Widersprüche (Andriopoulos &
Lewis, 2009; Humble & O’Reilly, 2014; Jansen et al., 2006; Raisch et al., 2009; Smith
et al., 2010). Raisch et al. (2009) betonen die vielfältigen Facetten der Ambidextrie und
merken an, dass „die meiste […] Literatur sich auf verschiedene Elemente der organisato-
rischen Ambidextrie konzentriert hat. […] [F]ür die Frage, wie Organisationen organisa-
torische Ambidextrie erreichen, wurde traditionell weniger Forschung betrieben.“ (S. 1).
Sie betonen, dass die Machbarkeit, der Erfolg und die Leistung von organisatorischer
Ambidextrie stark von Umweltfaktoren, organisatorischen Bedingungen und ver-
schiedenen anderen Faktoren beeinflusst wird.
Zusammengefasst sind Unternehmen auf der ganzen Welt mehr denn je davon bedroht,
von neuen Marktteilnehmern untergraben zu werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass digi-
tale Disruptoren aus unterschiedlichen, unvorhergesehenen Branchen auftauchen, ist hoch
(McQuivey, 2013). Die Wissenschaftler von Forrester Research (McQuivey, 2011) ­betonen
das Potenzial digitaler disruptiver Innovation durch Quantifizierung der wichtigsten
Hebel, siehe Tab. 8.17.

Tab. 8.17  Hebel digitaler Technologien zur Veränderung von Branchen. (Quelle: McQuivey, (2011))
10x mehr potenzielle Innovatoren und somit potenzielle Disruptoren*
1/10 der Kosten für die Entwicklung eines bedrohlichen Produkts/Services*
100x schnellere Verbreitung durch das Internet*
*
im Vergleich zu traditioneller, physikalischer Disruption
196 M. Gut

8.4 Methode

Die vorhergehenden Kapitel zeigen auf, dass sich wissenschaftliche Literatur zum Thema
„Herausforderungen im Umgang mit digitaler Disruption“ primär auf Großunternehmen
und Unternehmen in U.S.A. fokussiert. Es existiert nur eine geringe Menge an wissen-
schaftlicher Forschung, die die Situation deutscher mittelständischer Unternehmen ana-
lysiert. Diese Forschungslücke bildet die Grundlage der vorliegenden Arbeit. Neben der
Ermittlung der zentralen Barrieren und geeigneter Reaktionsstrategien für den Umgang
mit digitaler Disruption soll erarbeitet werden, ob die spezifischen Charakteristika von
KMU dabei einen Wettbewerbsvorteil oder -nachteil darstellen. Im Zuge der Auswertung
der Daten werden die Forschungsergebnisse verknüpft mit den Erkenntnissen der Literatur-
recherche um eine auf die Forschungsfrage bezogene Aussage zu treffen.
Dieses Kapitel stellt die methodische Herangehensweise an die Forschungsfrage dar.

8.4.1 Forschungsmethodik

Die Forschungsstrategie orientiert sich an den Prinzipien von Grounded Theory. Demnach
besteht der Hauptzweck in der Entdeckung und Erstellung von Theorien durch die metho-
dische Sammlung und Analyse von Daten unter Verwendung eines vergleichenden Ana-
lyseansatzes (Glaser & Strauss, 1999). Gesammelte Daten werden kontinuierlich und sys-
tematisch verglichen und auf konzeptionelle Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hin
untersucht.
Das Hauptziel dieser Arbeit besteht darin, die Theorie im Forschungsfeld über digitale
disruptive Innovation im deutschen Mittelstand induktiv voranzutreiben (siehe Kap.  2).
Aufgrund der Tatsachen, dass (1) immaterielle Faktoren von KMU wie Kultur, Innovations-
fähigkeit, Risikobereitschaft usw. schwer zu quantifizieren sind, (2) es keinen vorhandenen
aussagekräftigen Datensatz gibt, der analysiert werden könnte und (3) eine entscheidende
Teilmenge an immateriellen Informationen unentdeckt bleiben würde, wäre ein quantita-
tiver Ansatz im Kontext dieser Studie weder zweckmäßig noch angemessen. Daher wurde
ein qualitativer Forschungsansatz gegenüber einem quantitativen Ansatz bevorzugt (Ban-
sal & Corley, 2012a).
Den Empfehlungen von Rowley (2012) für qualitative Forschungsszenarien folgend
werden die Daten mittels standardisierter, halbstrukturierter Interviews erhoben, um eine
hohe Vergleichbarkeit der Antworten zu gewährleisten. Dazu werden den Befragten die
gleichen Fragen in identischer Reihenfolge gestellt, um eine konstante Ausrichtung des
Gesprächs auf den thematischen Fokus des Interviews zu gewährleisten und das s­ pezifische
Wissen der Befragten innerhalb der zugrunde liegenden Forschungsfelder zu nutzen
(Meuser & Nagel, 2009).
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 197

8.4.2 Forschungsansatz

Als wesentliche Voraussetzung für die Durchführung der Interviews wurde eine Stich-
probengruppe ausgewählt um Diversität zu gewährleisten und ein angemessenes Maß an
fachlicher Expertise und Erfahrung sicherzustellen. Die Stichprobengruppe erfüllte die
folgenden Kriterien, siehe Tab. 8.18.
Somit kann die Stichprobengruppe als eine repräsentative Teilmenge der Gesamtheit
der KMU betrachtet werden.
Mit dem Ziel, detaillierte Einblicke in spezifische Fallbeispiele zu gewinnen, gleich-
zeitig aber die gesamtwirtschaftliche Situation zu beleuchten, wurde die Stichproben-
gruppe aufgeteilt in (1) KMU-Entscheidungsträger im Bereich des digitalen Innovations-
managements und (2) Berater im Bereich digitale Innovationsstrategien. Beide Typen von
Interviewpartnern liefern Einblicke aus unterschiedlichen Perspektiven auf den
Forschungsgegenstand, siehe Tab. 8.19.
Aufgrund der Tatsachen, dass (1) alle Teilnehmer Experten in ihrem Berufsfeld sind
und (2) das Interview es erlaubt, relevante Themen durch iterative fokussierte Fragen im
Detail zu beleuchten, wird davon ausgegangen, dass eine Gesamtzahl von sieben individu-
ellen Interviewpartnern genügend relevante Informationen liefert um eine aussagekräftige
Teilmenge von Wissensträgern zu repräsentieren. Basierend auf den genannten Kriterien
wurde die folgende Testgruppe definiert, siehe Tab. 8.20.
Ziel war es, Führungskräfte auszuwählen, die am Punkt der Entscheidung über Strate-
gien und Maßnahmen bzgl. des Umgangs mit digitaler Disruption agieren oder Beratungs-
experten, die an solchen Entscheidungsprozessen maßgeblich beteiligt waren.
Abb. 8.7 veranschaulicht das Forschungsdesign.
Die Interviews wurden übersetzt, anonymisiert, transkribiert und schließlich kodiert
gemäß der Gioia Methode (Gioia et al., 2013, S. 15). Die Kodierungen ermöglichten dem
Forscher die Aussagen der Interviewpartner zu gruppieren und zu bewerten, um evidenz-
basierende Theorien zur Situation des deutschen Mittelstandes bei der Umsetzung von
digitalen Disruptions- und Innovationsinitiativen abzuleiten. Ein erster Eindruck von
Übereinstimmungen oder Widersprüchen unter den Interviewpartnern wurde deutlich. Die
Häufigkeit der genannten Schlüsselbegriffe gab Hinweise auf die Bekanntheit und
Kritikalität der genannten Herausforderungen und Maßnahmen.
Die Ergebnisse werden im nächsten Kapitel detailliert beschrieben.

Tab. 8.18  Definition der Interview-Stichprobengruppe. (Quelle: Autor)


CR1 Die untersuchten Unternehmen müssen der Definition des „deutschen Mittelstandes“ dieser
Arbeit entsprechen (siehe Kap. 2).
CR2 Die Befragten müssen Experten auf dem Gebiet des digitalen Innovationsmanagement sein
und eine Führungsrolle oder ein Beratungsmandat innehaben.
CR3 Die Gesamtheit der Befragten muss eine vielfältige Mischung aus Alter, Branchen und
Hintergründen repräsentieren.
198 M. Gut

Tab. 8.19  Zwei verschiedene Typen von Interviewpartnern. (Quelle: Autor)


Fokus von Beratern für digitale
Fokus von KMU Entscheidungsträgern: Innovationsstrategien:
Mikro-Perspektive: Einblicke in die Makro-Perspektive: Verflechtungen zwischen
Organisations- und Machtstrukturen eines KMU, Startups, Konzernen und Politik
Unternehmens  - Perspektive auf KMU aus verschiedenen
 - Einblicke aus der Praxis Branchen und Märkten
 - Praktische Erfahrung  - Überblick über Erfolg und Misserfolg einer
 - Aktuelle Projekte und Maßnahmen Vielzahl digitaler Innovationsstrategien
 - Enge Verbindung zum Kerngeschäft und -ansätze
 - Kenntnisse über Kultur, Politik und  - Beobachtung und Bewertung von Barrieren
Zusammenhänge in den Firmen als außenstehende Partei

Tab. 8.20  Liste der Interviewpartner (anonymisiert). (Quelle: Autor)


Dauer Erfahrung Funktion/Rolle Industrie
I0001 7 Jahre Leiter der Geschäftseinheit Automobilindustrie
45:10min
I0002 7 Jahre Beraterin Fokus: Deutsches mittelständische
22:35min „Digitale Kultur“ Fertigungsunternehmen
I0003 16 Jahre Manager Bauindustrie
33:18min Digitale Transformation
I0004 14 Jahre Mitglied von Bundesverband mittelständische
53:20min Vorstand Wirtschaft e.V.
I0005 5 Jahre Abteilungsleiter Industrielle Automatisierungstechnik
22:54min „Kundenzentrische Innovation“
I0006 24 Jahre Berater Fokus: Deutsche mittelständische
29:39min „Digitale Innovation“ Unternehmen
I0007 8 Jahre Berater Fokus: Beratung von KMU und
Xa „Digitale Transformation“ Konzernen
Interview wurde kurzfristig abgesagt durch den Interviewpartner
a

Abb. 8.7  Übersicht über das Forschungsdesign. (Quelle: Autor)


8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 199

8.5 Ergebnisse

Nach der Operationalisierung der Forschungsfragen sieht der Prozess der qualitativen
Datenanalyse vor, die empirischen Erkenntnisse auf die Forschungsfragen und schließlich
in den theoretischen Kontext zu übersetzen (Kaiser, 2014). Das folgende Kapitel fasst die
Erkenntnisse aus den Interviews zusammen und beschreibt die Ergebnisse für jede
Forschungskategorie.

8.5.1 Ergebnisse nach Forschungskategorien

Die aus dem Prozess der Datenanalyse abgeleiteten Codes wurden aggregiert mit den ge-
nannten Forschungskategorien. Während der Analyse stellte sich heraus, dass Startup-­
Partnering und Venturing ein wichtiges Themenfeld für Praktiker darstellt und wird daher
als eigene Forschungskategorie innerhalb dieses Abschnitts behandelt.

8.5.1.1 Verständnis und Bewusstsein


Die einleitende Interviewfrage „Was ist Ihr persönliches Verständnis von digitaler dis-
ruptiver Innovation?“ offenbart ein fehlendes gemeinsames Verständnis unter den Prakti-
kern. Alle Befragten erklärten ungefragt den Begriff „Digitale Innovation“ auf ähnliche
und gängige Weise. Allerdings antizipierten nur zwei von sechs Teilnehmern den Begriff
„disruptiv“ und erklärten die steigende Leistungsfähigkeit digitaler Technologien als zen-
tralen Auslöser der Disruption. I0006, ein Unternehmensberater, stellte fest, dass die meis-
ten seiner Kunden ihn in der ersten Kontaktphase nach seiner Definition von disruptiver
Innovation fragen, was für ihn auf ein generelles Unverständnis des Begriffs „Disruption“
hindeutet: „Ich stelle fest, dass mich Kunden fragen, was Digitalisierung bedeutet. Das
zeigt mir, dass es kein gemeinsames Verständnis gibt.“ (I0006).
Im Gespräch über das Bewusstsein, sich mit digitaler Disruption auseinandersetzen zu
müssen, gibt es einen gemeinsamen Konsens: „Wir werden morgen andere Kunden und
auch andere Wettbewerber haben.“ (I0001). Die meisten Befragten betonen die Not-
wendigkeit, die Kernkompetenzen der Unternehmen zu transformieren, z. B.: „Wir sind
uns bewusst, dass wir in Zukunft keine […] mehr bauen müssen. Diese werden Andere
bauen. Unser wichtigstes Asset wird Software sein, um die Daten zu aggregieren und da-
raus Know-how zu gewinnen.“ (I0005). Lediglich I0002 attestiert einigen ihrer Kunden
Unwissenheit über den digitalen Megatrend und dessen disruptive Kraft: „Ich stelle fest,
dass das Bewusstsein über einen totalen Richtungswechsel für alle Branchen nicht so ge-
geben ist, wie es sein sollte.“.

8.5.1.2 Herausforderungen und Hindernisse


Abb. 8.8 fasst Herausforderungen und Barrieren zusammen, die während der Interviews
identifiziert wurden, sortiert nach der Häufigkeit der Nennung.
200 M. Gut

Abb. 8.8  Interviewergebnisse: Übersicht Herausforderungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Prioritäten und Kritikalität der Themen werden deutlich: „Die Herausforderung
besteht darin, zu identifizieren und zu priorisieren: Was ist wichtig für das Unternehmen?“
(I0004), „Leider wird das Geschäft innerhalb verschiedener Einheiten und Silos betrieben,
die nicht genug koordiniert sind.“ (I0003).
Die zweite Frage über Herausforderungen und Barrieren konfrontierte die Interview-
partner mit Aussagen über die Zukunft: „Wie weit fortgeschritten ist Ihre Vision von zu-
künftigen Kunden und Geschäftsmodellen?“. Die Antworten sind größtenteils überein-
stimmend und besagen, dass eine klare und systematisch ausgearbeitete Zukunftsvision
nicht existiert: „Ich würde diese Frage gerne mit einem eindeutigen ‚Ja‘ beantworten.
Aber, um ehrlich zu sein, kann ich das nicht.“, „Einige Firmen haben eine grobe ­Vorstellung
über mögliche zukünftige Geschäfte. Die meisten Firmen haben jedoch noch keine Vor-
stellung.“ (I0001), „Oft gibt es keine Vorstellung davon, wie Geschäftsmodelle, tägliche
Arbeit und Kundenbeziehungen in Zukunft aussehen werden.“ (I0004).
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 201

8.5.1.3 Strategien und Maßnahmen


Die Interviewpartner wurden nach Strategien, (Gegen-)Maßnahmen und Initiativen be-
fragt, die sie oder ihre Kunden verfolgen, um den Herausforderungen digitaler disruptiver
Innovation zu begegnen. Abb.  8.9 fasst die verschiedenen Maßnahmen und Initiativen
zusammen, die von den Befragten genannt wurden und hebt diejenigen hervor, die derzeit
in mindestens einem der Unternehmen umgesetzt werden (blau) und diejenigen, die als
geplant, überfällig oder als dringend erforderlich genannt wurden (grün). Die Balken zei-
gen die Häufigkeit der Nennung.
Aus der Abbildung lässt sich die Priorität, Kritikalität und Schwierigkeit in der Aus-
führung der Maßnahmen und damit die Schwachstellen der Firmen ableiten. Die meisten
der genannten Maßnahmen werden nur in ein oder zwei Firmen durchgeführt. Trotz der
Vielzahl an unterschiedlichen Initiativen konnte keiner der Befragten eine übergreifende
Strategie aufzeigen und erläutern. Es wurden nur singuläre Maßnahmen und Initiativen
erwähnt.
Als die Interviewpartner nach den konkreten Zielen gefragt wurden, die sie mit den
genannten Maßnahmen adressieren, fielen die Antworten sehr breit und allgemein aus.

Abb. 8.9  Strategien zur Reaktion auf digitale Disruption. (Quelle: Autor)
202 M. Gut

Abb. 8.10  Ziele von digitalen disruptiven Innovationsinitiativen. (Quelle: Autor)

Das Ziel, die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, wurde, auf verschiedene Arten
und Weisen formuliert, von jedem Interviewpartner genannt: „In erster Linie machen wir
das, um die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten.“ (I0005). Abb. 8.10 zeigt
alle Ziele, inklusive der Häufigkeit der Nennung während der Interviews.
Die Antworten auf die Fragen im Themenfeld „Wie identifizieren Sie (Ihre Kunden)
Risiken und Chancen, die durch digitale Disruption entstehen?“ zeigen, dass alle Teil-
nehmer auf externe Beratungsunternehmen zurückgreifen, um Technologien und Be-
drohungsszenarien zu bewerten und Chancen zu identifizieren: „Die Unternehmen wen-
den sich an externe Beratungsunternehmen und besuchen Messen. Sie haben das Wissen
noch nicht im Haus, vor allem wegen der hohen Arbeitsbelastung in ihrem Kerngeschäft.“
(I0002). Nur I0005 erwähnte das Vorhandensein eines eigenen Technologie-Scouting-­
Teams in seinem Unternehmen: „Wir führen ein professionelles Technologie-Scouting
durch um zu identifizieren, was unsere derzeitigen [Produkte] in Zukunft möglicherweise
bedrohen könnte.“

8.5.1.4 Startup Partnering und Venturing


Der zweite Teil des Forschungsbereichs Strategien und Maßnahmen bezieht sich auf
Start­up Partnering und Venturing. Die Befragten wurden zu ihrer individuellen Strategie
und ihrem Scouting-Prozess befragt.
Ein gemeinsamer Konsens aller Interviewpartner zum Thema Startup-Partnering wird
deutlich. Nahezu alle Firmen gehen Partnerschaften mit mindestens einem Startup Unter-
nehmen ein, allerdings ohne systematisches Vorgehen: „Sie haben das Thema nicht wirk-
lich verstanden. Ja, sie gehen Partnerschaften mit Startups ein. […] Aber folgt dies einer
Gesamtstrategie? Ich bezweifle das.“ (I0003).
Eine noch kritischere Situation attestieren die Experten KMU im Bereich Scouting und
Venturing: „Nahezu keiner meiner Kunden besitzt eine Startup Scouting oder Venturing
Strategie.“ (I0004), „In der Tat spielt Digital Venturing für meine deutschen mittel-
ständischen Kunden keine große Rolle […].“ (I0002), „Das bedeutet, dass Digital Partner-
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 203

ing und Venturing aus meiner Sicht zu wenig Aufmerksamkeit bekommen. Die meisten
Firmen sind in einem beobachtenden und abwartenden Modus.“ (I0006). Einer von sechs
Befragten wies auf aktive Partnering Aktivitäten in seiner Firma hin: „Wir sind im Ge-
spräch mit vielen Startups. […] Wir binden sie aktiv in unser Tagesgeschäft ein und in-
vestieren manchmal in sie, um die Frage zu beantworten: Wie können wir durch Venturing
einen Mehrwert für unser Kerngeschäft schaffen?“ (I0001). I0004 hebt die Entscheidungs-
prozesse im Zusammenhang mit Digital Venturing als eine zentrale Herausforderung für
KMU hervor. Er bemängelt: „Es geht nur um Geschwindigkeit. Dies hat jedoch negative
Konsequenzen. Wenn man einer Firma sagt, dass sie schneller sein muss, wird der Druck
auf die Entscheidungsträger erhöht. Das impliziert aber, dass diese Leute mehr Fakten
wollen, um eine Entscheidung zu treffen. Daher verwenden sie traditionelle, auf Fakten
und Return-on-Investment basierende Entscheidungsmethoden um in einer volatilen und
sich schnell verändernden Welt zu entscheiden. Ganz einfach, weil sie keine modernen
Methoden haben.“ Darüber hinaus stellt I0004 fest, dass KMU „nicht die Fähigkeiten und
die Bereitschaft haben, mehrere 100.000 Euro zu zahlen“, um Startups zu screenen und in
sie zu investieren.

8.5.1.5 Eigenschaften deutscher mittelständischer Unternehmen


Die erste Frage in diesem Abschnitt des Interviews forderte die Interviewpartner auf,
spontan ein zentrales Merkmal des deutschen Mittelstandes aus ihrer persönlichen Sicht
zu beschreiben. Abb.  8.11 zeigt die Antworten und deren Häufigkeit der Nennung bei
sechs Interviews.
Widersprüche werden offensichtlich, da z.  B.  I0001 KMU als ‚risikofreudig‘ be-
schreibt, während I0002 denselben Firmen das Attribut ‚risikoscheu‘ zuschreibt. Das Glei-
che gilt für ‚Schnelle Anpassung an Veränderungen‘ (I0001, I0004, I0006) vs. ‚Langsam
im Wandel‘ (I0005). I0004 betont die Tatsache, dass KMU meist dazu neigen, die Struk-
turen und den Aufbau von Großunternehmen zu übernehmen: „Deutsche Mittelständler,
vor allem die größeren, haben bereits große Unternehmensstrukturen implementiert. Sie
haben bereits einen riesigen Overhead, viele Tochtergesellschaften, eine komplexe Ent-
scheidungsstruktur. Das hindert sie daran, agil zu bleiben.“. I0003 hebt darüber hinaus die
Herausforderung der täglichen Arbeitsbelastung als zentrales Hindernis bei der Um-
setzung von digitalen Innovationsinitiativen hervor: „Ich denke, die Fähigkeit, [neue Kon-
zepte] zu entwerfen, wird durch die hohe Arbeitsbelastung der Mitarbeiter im Tages-
geschäft stark eingeschränkt. Dies stellt ein zentrales Problem für den deutschen
Mittelstand dar“.
Abschließend wurden die Befragten nach ihrer Meinung zur Wettbewerbsfähigkeit des
deutschen Mittelstandes im digitalen Zeitalter gefragt. Zusammengefasst sind sich alle
Teilnehmer einig über positive Grundvoraussetzungen in Bezug auf digitale disruptive
Innovation: „Im Allgemeinen würde ich sagen, dass die Voraussetzungen gut sind.“
(I0004), „Sie sind in der Lage, Entscheidungen aus dem Bauch heraus zu treffen, nicht
immer auf Basis von Zahlen und Fakten.“ (I0001). Große Bedenken äußern die Befragten
jedoch hinsichtlich der Fähigkeit von KMU sich den Herausforderungen digitaler dis-
204 M. Gut

Abb. 8.11  Merkmale des deutschen Mittelstandes. (Quelle: Autor)

ruptiver Innovation zu stellen: „Ein großer Nachteil ist der fehlende Mut, das eigene
Unternehmen wirklich zu disruptieren.“, „Der starke Fokus auf Qualität behindert die
Fähigkeit, agil zu sein.“ (I0005). I0003 beklagt das Fehlen von wesentlichen Grundlagen,
Werkzeugen und Methoden, um digitale disruptive Innovationen zu realisieren: „Die
Fähigkeit, die digitale Zukunft zu entwerfen, fehlt aufgrund der Nichtverfügbarkeit von
Basis-Assets wie agilen Projekträumen, Methoden wie Design Thinking oder anderen mo-
dernen Workshop-Instrumenten. Unternehmen neigen dazu, alte Werkzeuge wie kon-
ventionelle Meetings etc. zu nutzen.“ (I0003). I0006 hebt vor allem die konservative Hal-
tung der meisten KMU als generelle Barriere beim Herangehen an Innovation hervor:
„Natürlich, wenn Firmen konservativ eingestellt sind, sind sie nicht offen für neue Dinge.
Und das wird dann zu einem Nachteil, weil sie zu spät an die Dinge herangehen. Wenn sie
es aber tun, dann tun sie es auf eine gute und professionelle Art und Weise. Leider ist es
oft so, dass der Zeitpunkt früher hätte sein müssen.“.
Generell ist das von den Interviewpartnern am häufigsten genannte Argument für eine
gute Wettbewerbssituation die langfristige Orientierung in Entscheidungsprozessen durch
die Unabhängigkeit von externen Gesellschaftern oder Investoren. Die meisten Interview-
partner heben diese positive Eigenschaft hervor, zum Beispiel: „Die langfristige
­Orientierung ist der entscheidende Vorteil für den deutschen Mittelstand. Die Fähigkeit,
das Geschäft nicht auf einen vierteljährlichen Finanzbericht auszurichten.“ (I0005).
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 205

8.6 Diskussion

Das folgende Kapitel fasst die Interpretation der Interviewergebnisse zusammen und be-
schreibt Implikationen für Theorie und Praxis. Dazu wurde die theoretische Basis des
Forschungsschwerpunktes mit den Ergebnissen der Experteninterviews verknüpft und er-
weitert. Ziel der Diskussion ist es nicht, verallgemeinernde Schlussfolgerungen zu ziehen,
sondern relevante und interessante Hinweise abzuleiten, um die primäre Forschungsfrage
zu beantworten. Die Interpretationen aggregieren alle Forschungskategorien des
Interviews.

8.6.1 Auswertung der Ergebnisse

Fokussierend auf SRQ1 kann man schließen, dass das Bewusstsein für die Notwendigkeit,
sich mit den Herausforderungen digitaler disruptiver Innovation zu befassen, im Manage-
ment Team von KMU gegeben ist. Die meisten der Befragten erwähnten, dass die Omni-
präsenz dieses Themas in den Medien es unmöglich macht, das Phänomen zu ignorieren.
Die hohe Anzahl an weit gefassten und unpräzisen Definitionen von „digitaler disruptiver
Innovation“ und die Schwierigkeit, die zugrundeliegende Mechanik disruptiver Innova-
tion zu erklären, deutet darauf hin, dass sich die meisten Praktiker schwer tun, das Phäno-
men zu erfassen. Dies schränkt die Möglichkeiten ein, Maßnahmen zu identifizieren und
zu priorisieren. Die Befragten weisen auf einen fehlenden Überblick über mögliche Be-
drohungen hin, die durch digitale Technologien entstehen. Dies wiederum impliziert, dass
sich Praktiker schwer tun, potenzielle Chancen und Risiken zu erkennen. Die Summe der
genannten Faktoren deutet darauf hin, dass es schwierig ist für Management von KMU die
Zukunftsvision eines digital Modus Operandi zu definieren aufgrund der Vielzahl un-
sicherer Faktoren.
Die Forschungsergebnisse zu Herausforderungen und Barrieren bei der Herangehens-
weise an digitale disruptive Innovationen, dem Ziel von SRQ2, zeigen, dass deutsche
mittelständische Unternehmen mit sehr viel mehr und anderen Herausforderungen kon-
frontiert sind als Großkonzerne und vergleichbare Unternehmen in den USA. Dies macht
deutlich, dass das Problem komplex und vielschichtig ist. Gemäß den Interviewergeb-
nissen und der wissenschaftlichen Literaturrecherche (siehe Kap. 3) teilen deutsche eta­
blierte Unternehmen die folgenden Top-Herausforderungen mit ihren US-amerikanischen
Pendants: (1) Die Schwierigkeit, ihre Kunden zu verstehen, (2) Entscheidungen basieren
auf bestehenden Bilanz- und Planungsstrukturen und (3) Eine mangelhafte Veränderungs-
und Innovationskultur. Darüber hinaus stellen besonders für deutsche KMU (1) Silo-
denken, (2) die Priorisierung von Maßnahmen und Initiativen und (3) eine konservative
Denkweise des mittleren Managements große Herausforderungen dar. Wie von allen Inter-
viewpartnern erwähnt, neigen Praktiker dazu, über digitale Vorhaben mit Hilfe traditionel-
ler Managementmethoden wie ROI, DCF, wertorientierter Budgetierung und fein-
206 M. Gut

granularer Meilensteinplanung zu entscheiden. Es wird deutlich, dass die kritischsten


Herausforderungen und Barrieren vor allem in konservativen Verhaltensmustern wurzeln,
was eine späte Adaption neuer Technologien impliziert und die Tendenz fördert, be-
stehende Strukturen und Abläufe zu bewahren. Dies scheint nach Aussage der Interview-
partner insbesondere für Führungskräfte des mittleren Managements zu gelten. Die An-
reizstrukturen des Top-Managements stellen nach Ansicht des Autors eine weitere
grundsätzliche Herausforderung im Umgang mit digitalen disruptiven Innovationen dar.
Die Anreizmodelle sollten auf einer angemessenen Balance von kurzfristigen Zielen wie
z. B. jährliche Finanzziele, aber auch langfristigen Zielen wie Zukunftsmärkte, neue digi-
tale Geschäftsmodelle etc. basieren. Dies gewährleistet eine langfristige Perspektive in der
Planung und ermöglicht, dass digitale disruptive Innovationsinitiativen die notwendige
Aufmerksamkeit erhalten. Die Tatsache, dass diese Herausforderung während der Inter-
views nicht erwähnt wurde, auch nicht nach Rückfrage durch den Interviewer, deutet da­
rauf hin, dass sich die Anpassung von Anreizsystemen noch nicht auf dem Radar der Ver-
antwortlichen für digitale Innovation befindet.
Die Analyse der Unternehmenscharakteristika zeigt einerseits eine ausgeprägte Fähig-
keit zur schnellen Anpassung an den Wandel, andererseits wird ein hohes Maß an
Konservativität attestiert. Beide Eigenschaften wurden ähnlich häufig genannt. Die Grund-
voraussetzungen von KMU für Veränderungen scheinen grundsätzlich gegeben zu sein:
Die Firmen können in der Regel (1) aufgrund des Familienbesitzes schnell entscheiden,
(2) sind unabhängig von externen Gesellschaftern und Investoren und (3) weisen eine
hohe Expertise in ihrem Kerngeschäft auf. Bei der Umsetzung jedoch betonen die Inter-
viewpartner mehrfach und einstimmig, dass die menschliche Seite des Kapitals, die Mit-
arbeiter, die größte Herausforderung für KMU darstellt, um sich an neue Gegebenheiten
anzupassen. Die Hauptgründe hierfür sind (1) eine allgemeine konservative Denkweise,
(2) Zukunftsängste der Mitarbeiter, (3) ein sehr starker Einfluss von Betriebsräten und (4)
Einschränkungen durch die Gesetzgebung. Eine wichtige Erkenntnis ist daher, dass das
Commitment der Mitarbeiter, gekennzeichnet durch eine außerordentlich hohe Risiko-
aversion, ein Haupthindernis bei Veränderungen im deutschen wirtschaftlichen und kultu-
rellen Umfeld darstellt.
In der Diskussion über Risikobereitschaft wird eine Uneinigkeit unter Experten deut-
lich. Führungskräfte aus Tech-Unternehmen bescheinigen ihren Firmen eine große Risiko-
bereitschaft, während Führungskräfte aus traditionellen Unternehmen das Gegenteil be-
haupten. Die befragten Unternehmensberater bestätigen diese These. Dies zeigt eine
Tendenz, dass technisch orientierte Mittelständler in Deutschland Risiken schneller ak-
zeptieren und antizipieren und somit eine bessere Ausgangsposition für digitale disruptive
Innovationen besitzen.
Barrieren wie (1) Einschränkungen durch die Gesetzgebung, (2) Schwierigkeiten bei
der Rekrutierung, (3) Risiko des Reputationsverlusts der Marke, (4) Preisgestaltung, (5)
Überbeanspruchung durch das Tagesgeschäft und (6) Eingeschränkter Handlungsspiel-
raum durch Betriebsräte wurden im Kontext der wissenschaftlichen Literaturrecherche
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 207

(siehe Kap. 3) nicht erwähnt. Somit scheinen diese Herausforderungen und Barrieren mit
den spezifischen deutschen makroökonomischen Gegebenheiten zusammenzuhängen.
Dies beantwortet SRQ3.
Die Gesamtheit der erkannten Herausforderungen in Verbindung mit den spezifischen
Charakteristika deutscher mittelständischer Unternehmen zeigt auf, warum sich die meis-
ten KMU schwer tun, ihre Vision von zukünftigen Kunden, Produkten und Geschäfts-
modellen zu definieren und daher bevorzugen in bestehende Produkte, Dienstleistungen,
Kunden und Märkte zu investieren als in potenzielle (disruptive) zukünftige.
Die Untersuchung von SRQ4, die darauf abzielt, Strategien und Maßnahmen zu identi-
fizieren und zu bewerten, zeigt, dass externe Beratung die erste und meist ausgeführte
Maßnahme für KMU ist. Dies deutet auf ein gewisses Maß an Hilflosigkeit im Top-­
Management hin. Sechzehn verschiedene Maßnahmen und Initiativen wurden während
der Interviews identifiziert, allerdings befinden sich fast alle davon im Lern- und
Experimentiermodus. Bei der Hälfte der befragten Unternehmen befanden sich diese
Maßnahmen noch im Zustand „Planned“ und wurden noch nicht initiiert (siehe Kap. 5).
Dies belegt, dass die Bewertung und Entscheidung, welche Maßnahmen angemessen sind,
eine große Herausforderung für die Führungskräfte darstellt.
Die Tatsache, dass keiner der befragten Manager eine allumfassende Strategie vor-
weisen konnte, stärkt die These, dass KMU sich schwer tun, ihre zukünftige digitale Vi-
sion und Position zu entwerfen. Unternehmensberater bestätigen, dass die wenigsten ihrer
Kunden derzeit dazu in der Lage sind. Dies wiederum erklärt die vagen und sehr allgemein
formulierten Definitionen von Zielen wie „Zukünftige Wettbewerbsfähigkeit“ oder „Be-
reit für die Zukunft sein“. Keiner der Interviewpartner hat ein messbares oder zeitlich
festgelegtes Ziel genannt.
Eine ähnliche Situation wird deutlich im Gespräch über Startup-Partnering und Venture-­
Strategien. Aus den Interviewergebnissen lässt sich ableiten, dass die meisten KMU
Startups beobachten und erste Kontakte initiieren. Allerdings folgt insbesondere der
Screening-­Prozess keiner systematischen Methodik oder Strategie, d. h. Startups werden
mehr oder weniger zufällig untersucht. Die Tatsache, dass nur ein einziges der in den
Interviews genannten Unternehmen aktiv mit einem Startup zusammenarbeitet und in
mindestens ein Startup investiert, lässt den Schluss zu, dass KMU noch am Anfang einer
professionellen Startup-Partnering- und Venturing-Strategie stehen. Die Interviewpartner
bestätigten übereinstimmend, dass es keinen definierten Prozess für das Scouting, die Be-
urteilung und die Bewertung von Startups gibt.
Bezugnehmend auf SRQ5 – die Frage nach Wettbewerbsfähigkeit von KMU im Be-
reich digitaler disruptiver Innovation – kann man zusammenfassen, dass die Wettbewerbs-
situation der Unternehmen korreliert mit dem Ausmaß ihrer KMU-spezifischen
­Eigenschaften (siehe Kap. 5). Wie bereits erwähnt, schränkt die Konservativität, von den
Befragten als die ausgeprägteste Eigenschaft wahrgenommen, die Unternehmen ein im
Umgang mit digitaler Disruption. Dies limitiert die Fähigkeit ein, das Kerngeschäft zu
transformieren, neue Methoden anzuwenden und schließlich eine Zukunftsvision zu ent-
208 M. Gut

werfen. Ein Nachteil hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit im Umgang mit digitaler Dis-
ruption wird deutlich. Innovativität und Qualitätsbewusstsein, die am zweithäufigsten be-
tonten Eigenschaften von KMU, wurden genannt in Bezug auf das Kerngeschäft der
Unternehmen. Die Stärken, die für das heutige Geschäft wertvoll und notwendig sind,
passen nicht zu den Anforderungen eines zukünftigen digitalen Modus Operandi. Sobald
Unternehmen beginnen, sich neben ihrem Kerngeschäft mit digitalen disruptiven Initiati-
ven zu beschäftigen, sinkt die Innovationskraft und Leistungsfähigkeit, da sich Mitarbeiter
emotional an ihre ursprünglichen Kernaufgaben und Verantwortlichkeiten gebunden füh-
len. In einem ersten Schritt verringert dies die Wettbewerbsfähigkeit, weil sich Mitarbeiter
verunsichert und beängstigt fühlen. Gelingt es den Unternehmen jedoch, den Ver-
änderungsprozess auf Mitarbeiterseite erfolgreich zu gestalten, werden diese in einem di-
gitalen Produkt- und Dienstleistungsportfolio das gleiche Qualitätsbewusstsein und damit
einen ähnlichen Grad an Innovationskraft erreichen können. Die positiven Eigenschaften,
und somit der Wettbewerbsvorteil, werden sich schließlich im neuen Betriebsmodell
wiederfinden. Die folgende Abbildung veranschaulicht das Verhalten der Unternehmen
während eines Transformationsprozesses unter Berücksichtigung der in den Experten-
interviews genannten Eigenschaften von KMU. Abb. 8.12 kann auf ein bestimmtes Team,
eine Geschäftseinheit oder das gesamte Unternehmen abzielen.
Aufgrund der genannten spezifischen Merkmale ist zu erwarten, dass KMU einen in-
tensiveren Veränderungszyklus durchlaufen, was bedeutet, dass die Firmen im Vergleich
zu ähnlichen US-Unternehmen und Großkonzernen mehr Ressourcen in die Begleitung
des Veränderungsprozesses ihrer Mitarbeiter investieren müssen (∆p). Dies bedingt einen
längeren Veränderungsprozess insgesamt (∆t) und kann als Wettbewerbsnachteil in Bezug
auf die Anpassungs- und Transformationsfähigkeit interpretiert werden.

Abb. 8.12  Performance von KMU während eines Änderungsprozesses. (Quelle: Autor, adaptiert
von Kübler-Ross et al., 1972)
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 209

8.6.2 Beitrag zu Theorie

Die Ergebnisse dieser Arbeit leisten einen Beitrag zur Erforschung der Situation deut-
scher mittelständischer Unternehmen im Umgang mit digitaler disruptiver Innovation.
Im Forschungsdesign werden die folgenden Teilbereiche unterschieden: (1) Verständ-
nis und Bewusstsein im Top-Management, (2) Herausforderungen und Hindernisse,
(3) Strategien und Maßnahmen und (4) Spezifische Eigenschaften deutscher mittel-
ständischer Unter­nehmen.

8.6.3 Praktische Implikationen

Basierend auf den Erkenntnissen dieser Arbeit können mehrere Implikationen für Prakti-
ker abgeleitet werden, um ihre individuelle Strategie für den Umgang mit digitaler dis-
ruptiver Innovation zu definieren.
In einem ersten Schritt empfiehlt sich eine Selbstreflexion, ob und in welchem Umfang
die genannten KMU-spezifischen Eigenschaften auf das eigene Unternehmen zutreffen.
Eine hohe Übereinstimmung deutet darauf hin, dass die in Kap. 4 beschriebenen Heraus-
forderungen und damit empfohlenen Maßnahmen und Strategien auf die individuelle
Situation zutreffen.
In jedem Fall ist es ratsam, die folgenden Grundvoraussetzungen zu schaffen:

(1) Stellen Sie sicher, dass alle Stakeholder ein gemeinsames Verständnis der Begriffe
„Digitale Innovation“ und „Digitale Disruption“ haben.
(2) Definieren und implementieren Sie einen Technologie-Scouting Prozess, um Chancen
und Bedrohungen, die von digitalen Technologien ausgehen, erkennen und inter-
pretieren zu können.
(3) Implementieren Sie einen Startup-Scouting Prozess, um potenzielle Partner, Konkur-
renten und Lieferanten von zukünftigen, für Sie relevanten Schlüsseltechnologien zu
identifizieren.
(4) Erarbeiten Sie eine Vision von zukünftigen digitalen Produkten, Dienstleistungen und
Geschäftsmodellen. Wer werden Ihre zukünftigen Kunden, Wettbewerber und Ge-
schäftspartner sein?
(5) Definieren Sie eine Strategie für Startup-Partnering, Transformation von Kern-

kompetenzen und Mitarbeiterbindung.

Es wichtig zu betonen, dass Konservativität von allen Befragten als das am stärksten aus-
geprägte Merkmal deutscher KMU identifiziert wurde. Dies impliziert, dass die ­Begleitung
der Veränderung bei Mitarbeitern im deutschen Mittelstand in überdurchschnittlich hohem
Maße Beachtung finden muss.
210 M. Gut

8.6.4 Limitierungen

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit tragen zu einem besseren Verständnis der Situa-
tion deutscher mittelständischer Unternehmen bei, die sich den Herausforderungen digita-
ler disruptiver Innovationen stellen müssen. Aufgrund von zeitlichen Restriktionen und
der Verfügbarkeit geeigneter Interviewpartner war die Stichprobe im Vergleich zu über-
greifenden Studien in angrenzenden Forschungsfeldern moderat. Um ein repräsentativeres
Ergebnis zu erzielen, muss die Definition des deutschen Mittelstandes genauer gestaltet
und die Stichprobe vergrößert werden. Darüber hinaus sollten, im Idealfall, Führungs-
kräfte und digitale Praktiker aus jedem Unternehmen befragt werden. Aufgrund des
Forschungsumfangs lassen sich nur Aussagen über mittelständische Unternehmen in
Deutschland ableiten. Weder kleine Unternehmen noch Großkonzerne wurden im Rahmen
der Studie berücksichtigt.

8.6.5 Indikationen für weitere Forschung

Basierend auf den Ergebnissen der Interviews wurde eine Analyse der besonderen Eigen-
schaften von KMU erstellt. Daraus ergibt sich ein wichtiges und sehr interessantes
Forschungsfeld mit folgenden Forschungsfragen:

1. Welche der spezifischen Eigenschaften des deutschen Mittelstandes fördern die Fähig-
keit im Umgang mit digitaler disruptiver Innovation, welche behindern diese?
2. Wie kann der Grad bestimmter Eigenschaften beurteilt und gemessen werden?

Darüber hinaus wäre eine Analyse der Wirksamkeit und Erfolgschancen von Maßnahmen
und Initiativen, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung identifiziert wurden, in
Korrelation mit dem Ausmaß der spezifischen Merkmale von KMU ein wertvolles
Forschungsergebnis für Praktiker und Wissenschaftler.
Nicht zuletzt wäre es von wissenschaftlichem Interesse, den Forschungsrahmen dieser
Studie auf (1) kleine Unternehmen in Deutschland, (2) große Unternehmen in Deutsch-
land und (3) mittelständische Unternehmen in Europa und USA auszuweiten, um die
Wettbewerbsfähigkeit von KMU in einem breiteren Kontext weiter zu spezifizieren.

8.7 Fazit

Zur abschließenden Beantwortung der primären Forschungsfrage dieser Arbeit: „Sind


deutsche mittelständische Unternehmen bereit für den Umgang mit digitaler dis-
ruptiver Innovation?“ lässt sich die folgende These ableiten:
8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 211

Führungskräfte in deutschen mittelständischen Unternehmen sind sich der Notwendig-


keit bewusst, sich mit den Implikationen durch digitale disruptive Innovation auseinander-
setzen zu müssen. Es fällt ihnen jedoch schwer, das Phänomen zu erfassen. Die Grund-
voraussetzungen des deutschen Mittelstandes werden von Unternehmensführern und
Beratern als Vorteil gegenüber vergleichbaren US-amerikanischen Unternehmen und
Großkonzernen beschrieben: Eine langfristige Orientierung in der Planung und schnelle
Entscheidungsfähigkeit aufgrund einer eigentümerzentrierten Machtstruktur stellen dabei
einen Wettbewerbsvorteil dar. Besondere Herausforderungen für Unternehmen im deut-
schen Mittelstand sind (1) die Definition eines digitalen Modus Operandi und des zu-
künftigen digitalen Produkt-/Dienstleistungsportfolios, (2) die Identifizierung und Priori-
sierung angemessener Reaktionsstrategien und Maßnahmen sowie (3) die Implementierung
von Prozessen zur Erkennung von Bedrohungen durch disruptive Technologien und
Marktteilnehmern. KMU zeichnen sich aus durch Risikoaversität und eine hohe emotio-
nale Bindung der Mitarbeiter zu physikalischen Produkten und Dienstleistungen im Kern-
geschäft. Beide Eigenschaften trugen in der Vergangenheit zum Erfolg der Unternehmen
bei, stellen aber in Veränderungsphasen einen Nachteil dar. Manager in KMU müssen sich
überdurchschnittlich stark konzentrieren auf die Transformation der menschlichen Res-
sourcen in ein digitales Betriebsmodell. Das Risiko bei KMU ist höher, Schlüsselpersonen
auf dem Weg der Transformation zu verlieren. Gelingt jedoch die Begleitung der Ver-
änderung, stellen die genannten KMU-spezifischen Eigenschaften auch in einer digitalen
Welt einen Wettbewerbsvorteil dar und somit gute Voraussetzungen, den Heraus-
forderungen und Chancen digitaler Disruption zu begegnen.

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8  Fluch und Segen digitaler Disruption für den deutschen Mittelstand 217

Matthias Gut  verantwortet als Head of Digital Innovation & De-


livery eines global agierenden deutschen Konzerns in der Chemie-
branche die Konzeption und Umsetzung digitaler Lösungen in den
Bereichen E-Business, Smart Factory und Supply Chain. Dies be-
inhaltet die Beratung der Fachbereiche bzgl. Digital Target Opera-
ting Model, die Ableitung einer Innovationsroadmap sowie die
Steuerung der Umsetzung dieser. Er ist Mitgründer des firmen-
internen Digital Future Labs und begleitet digitale Geschäfts-
modelle in der Entstehung, Inkubation und Skalierung. Sein En­
gagement gilt der Forschung zum Thema „Digitale Transformation
im deutschen Mittel­stand“.
Digital Marketing Leadership – Modell
und empirische Ergebnisse aus dem 9
B-to-B-Umfeld

Carsten Baumgarth und Lars Binckebanck

Zusammenfassung

Eine Vielzahl von Studien, die sich mit dem Status Quo sowie den Defiziten der Digi-
talisierung im Marketing vor, während und nach Corona beschäftigt haben, zeigen
Handlungsbedarf auf, insbesondere auch in B-to-B-Unternehmen. Das Marketing kann
die digitale Transformation von Unternehmen entscheidend voranbringen, wenn es
eine interne (Bedeutung des Marketings innerhalb des Unternehmens) sowie externe
(Exzellenz des Marketings im Vergleich zum Wettbewerb) Führungsrolle einnimmt.
„Digital Marketing Leadership“ (DML) beschreibt die Existenz und interne Ent-
wicklung materieller, immaterieller und menschlicher Ressourcen der Marketing-
organisation sowie die Umsetzung dieser organisationalen Fähigkeiten im Rahmen in-
terner und externer Verhaltensweisen in einer Art und Weise, die strategische
Wettbewerbsvorteile durch eine digitale Führungsrolle im externen Marktumfeld er-
möglicht.
Es lassen sich fünf Dimensionen von DML identifizieren, konkretisieren und auf
den B-to-B-Bereich anpassen. Aus Wirkungshypothesen lässt sich ein Modell ableiten,
das im Rahmen einer empirischen Studie erfolgreich getestet wurde und sich als Denk-
modell und Diagnose-Tool für die Management-Praxis eignet.

C. Baumgarth (*)
HWR Berlin, Berlin, Deutschland
E-Mail: carsten.baumgarth@hwr-berlin.de
L. Binckebanck
Institut für nachhaltigen Vertriebserfolg, Berlin, Deutschland
E-Mail: lars.binckebanck@lichtenberg.institute

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 219


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_9
220 C. Baumgarth und L. Binckebanck

Schlüsselwörter

Digitalisierung · B2B · Business to Business · Geschäftsmodell · Digital Marketing


Leadership

9.1 Hintergrund und praktische Bedeutung

Die digitale Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft hat durch die Corona-­
Pandemie nochmals in ungeahnter Weise an Beschleunigung gewonnen. In Marketing und
Vertrieb hat sich damit die Diskussion um Chancen und Risiken der Digitalisierung, wel-
che das Fachgebiet bereits in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts geprägt
hat (Lamberton & Stephen, 2016), nochmals intensiviert. Es gibt mittlerweile eine Viel-
zahl von zumeist beraterinduzierten Studien, die sich mit dem Status Quo wie auch den
Defiziten der Digitalisierung im Marketing vor, während und nach Corona beschäftigt
haben. Sie zeigen praktisch durchgängig Handlungsbedarf auf, insbesondere auch in B-to-
B-Unternehmen.
In ihrer Studie „Die digitale Zukunft des B2B-Vertriebs“ konstatierte die Unter-
nehmensberatung Roland Berger (2015) in Kooperation mit Google auf der Basis einer
Befragung unter 2745 Vertriebsverantwortlichen in B-to-B-Unternehmen, dass 57 % des
Einkaufsprozesses im B-to-B-Geschäft bereits gelaufen sind, wenn die Entscheider erst-
mals einen Vertriebsmitarbeiter kontaktieren. Das bedeutet, dass die Vorteile von produkt-
basierten Innovationen oft nicht ihren Weg zum Kunden finden, wenn sie nicht mit den
dazu passenden Marketing- und Vertriebsprozessen hinterlegt sind. So boten etwa 33 %
der Anbieterunternehmen in der Studie ihren Kunden noch nicht die Möglichkeit, online
etwas zu bestellen.
Eine Befragung des Zentralverbands Elektrotechnik- und Elektronikindustrie (ZVEI,
2016) unter 132 Mitgliedsunternehmen ergab, dass die volkswirtschaftlich für Deutsch-
land bedeutsame Elektroindustrie als Anbieter digitaler Produkte und Services noch am
Anfang der digitalen Transformation stand. Nach der Studie erwirtschaftete die Branche
zu dem Zeitpunkt erst etwas mehr als 20 % ihrer Umsätze mit digitalen oder digital ver-
edelten Produkten oder Dienstleistungen.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch die repräsentative Benchmark-Studie von techcon-
sult (2017) im Auftrag der Deutschen Telekom, für die rund 2000 Unternehmen des
Mittelstands befragt wurden. Lediglich 32  % der teilnehmenden B-to-B-Unternehmen
boten demnach Produkte und Services, die sie mithilfe von Datenauswertungen individua-
lisiert und auf den Kunden zugeschnitten haben. Weitere 24 % hatten erste Ansätze ent-
wickelt, um ihre Produkte ebenfalls auf der Grundlage von Datenanalysen zu personalisie-
ren. 28 % der B-to-B-Unternehmen hatten komplett neue digitale Produkte und Services
entwickelt und konnten so auch neue Kunden gewinnen. Bei lediglich 43 % der B-to-B-­
Unternehmen war die Digitalisierung fester Bestandteil der Geschäftsstrategie – allerdings
stieg das Bewusstsein für die Bedeutung der Digitalisierung im Vergleich zum Vorjahres-
wert (30 %) deutlich an.
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 221

Diese Sensibilisierung erschien bereits vor der Corona-Krise überfällig. Denn laut Ac-
centure Interactive (2018) war bereits damals absehbar, dass sich das Geschäftsvolumen
im Bereich B-to-B Digital Commerce zügig steigern und bereits in wenigen Jahren schon
mehr als die Hälfte aller B-to-B-Erlöse ausmachen würde. Eine Kooperationsstudie der
Ruhr-Universität Bochum (RUB, 2017) und The Boston Consulting Group, in der die
Rolle der Digitalisierung im B-to-B-Vertrieb in mehr als 700 Unternehmen in Deutschland
untersucht wurde, kam zu dem Ergebnis, dass Unternehmen mit einem breit digitalisierten
B-to-B-Vertrieb profitabler waren und schneller wuchsen als die weniger digitalisierte
Konkurrenz. Digital reife Unternehmen erzielten in den letzten drei Jahren vor der Studie
durchschnittlich eine um drei Prozentpunkte höhere Umsatzrendite als die Unternehmen
mit geringerer digitaler Reife. Ferner zeigte sich damals, dass von den B-to-B-­
Vertriebskunden etwa die Hälfte zu den digital-affinen Millennials gehörte. Der Be-
schaffungsprozess begann daher in 80  % der Fälle online und endete auch dort. Die
Schlussfolgerung: Die große Mehrheit der B-to-B-Kunden erwartete bereits vor Corona,
dass der digitale B-to-B-Beschaffungsprozess mindestens B-to-C-Standards erfüllt und
typische nutzerfreundliche B-to-C-Funktionalitäten gewährleistet sind. Dazu gehört
­beispielsweise eine nahtlose und kohärente Interaktion über alle Online- und Off-
line-Kanäle hinweg.
In einer internationalen Studie von Forrester Consulting (2018) unter 302 Experten
wurden die folgenden Kanäle als besonders wichtig für die Zielerreichung im B-to-B-­
Vertrieb identifiziert: Webseiten des Anbieters (54 %), physischer POS (42 %), Webshop
(40  %), persönlicher Verkauf (39  %) und Telefon (38  %). Laut Accenture Interactive
(2018) fordern 69 % der Kunden Multi- und Omnichannel-Angebote, wobei Multichannel-­
Kunden für das Anbieterunternehmen um 15 % profitabler sind als reine Digitalkunden
und sogar um 25 % profitabler als Kunden, die ausschließlich persönlich betreut werden.
Eine Studie von Salesforce Research (2017) unter weltweit 3500 Führungskräften im
Marketing hat die Kanäle mit dem stärksten Nutzungswachstum von 2017 im Vergleich
zu 2015 identifiziert. Im B-to-B-Geschäft waren das vor allem Video Advertising
(+204 %), SMS/Text Messaging (+197 %), Mobile Apps (+161 %), Native Advertising/
Sponsored Content (+147 %), Display/Banner Ads (+88 %) und Social Media Marketing
(+80 %).
Vor diesem Hintergrund ist ein zentraler Baustein des B-to-B-Marketing das Content
Marketing. Laut Contentive (2018) ist Content Marketing der B-to-B-Kommunikations-
kanal mit dem höchsten ROI. In einer Untersuchung des Content Marketing Institute und
MarketingProfs (2018) nutzten 91 % der 870 in Nordamerika Befragten Content Marke-
ting und gaben hierfür durchschnittlich 26 % des gesamten Marketingbudgets aus. Die
wichtigsten Content-Typen waren Social Media Posts ohne Videos (94 %), Fallstudien
(73 %), Videos (72 %) und Ebooks/White Papers (71 %). Zur Übermittlung des Contents
wurden vor allem Email (93 %), Social Media-Plattformen (92 %) und Blogs (79 %) ge-
nutzt – im Durchschnitt fünf Kanäle je B-to-B-Unternehmen. Die Relevanz von Content
Marketing für das B-to-B-Marketing in Deutschland wurde in Studien von suxeedo
(2017) und Content Marketing Forum (2018) bestätigt.
222 C. Baumgarth und L. Binckebanck

Doch auch die Adaption neuer Technologien wurde bereits vor Corona zum Erfolgs-
faktor im B-to-B-Marketing. Accenture Interactive (2018) hat in einer weltweiten Be-
fragung von über 1000 Führungskräften herausgefunden, dass 88  % der B-to-B-Unter-
nehmen Chatbots einsetzen oder das in naher Zukunft planten – für Augmented/Virtual
Reality waren das 83  % und für den Einsatz von Dronen 74  % der befragten B-to-B-­
Unternehmen. Nach einer internationalen Studie von Contentive (2018) unter 214
­B-to-B-­Marketingexperten waren die Top-Prioritäten Leadumwandlung (58 %), Erhöhung
des Traffics auf Webseiten (45 %) und Potenzialausschöpfung bei Bestandskunden (44 %).
57 % der Befragten sahen außerdem die Personalisierung von Angeboten und Kommuni-
kation als wichtigsten Aspekt aktueller Strategieinitiativen im B-to-B-Marketing.
Bei der Umsetzung gibt es eine Vielzahl von Hürden. In einer Studie unter 400 Unter-
nehmen in Deutschland und der Schweiz des Instituts für Sales und Marketing Automation
(IFSMA) gemeinsam mit der B-to-B-Agentur wob (2018) hatten nur 40 % der befragten
B-to-B-Unternehmen eine übergeordnete Strategie für digitales Marketing. 45  % sahen
bei mehr als der Hälfte ihrer Mitarbeiter erhebliche Wissensdefizite im Bereich Digitali-
sierung und für 68 % der B-to-B-Unternehmen war die Zusammenführung unterschied-
licher Datenbestände ein Problem für Automatisierungsinitiativen.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der Marketing Automation Report der ZHAW
School of Management and Law in Kooperation mit der Aioma AG (Zumstein et  al.,
2021). Befragt wurden über 400 Spezialisten aus Marketing und Vertrieb, von denen über
zwei Drittel im B-to-B-Umfeld arbeiteten. In der Studie wurde mangelndes internes
Know-how als Haupthindernis bei der Automatisierung im Marketing identifiziert (33 %
der Befragten). Mehr als ein Fünftel der Befragten gab darüber hinaus in der Studie an,
keine Strategie für Automatisierungsinitiativen im Marketing zu haben. Das ist problema-
tisch, denn nach derselben Studie nutzen erfolgreiche Unternehmen mit einer dreifach
höheren Wahrscheinlichkeit Instrumente der Marketingautomatisierung.
Mit Beginn des Jahres 2020 setzte die COVID-19-Pandemie ein. Eine der ersten Stu-
dien, die unmittelbar nach dem globalen Corona-Ausbruch entstanden (April-Juni), kam
von der Boston Consulting Group (2020). Im „Global Digital Transformation Survey“
wurden 825 Führungskräfte von großen Unternehmen weltweit befragt. 83 % von ihnen
gaben an, dass die digitale Transformation bei ihnen zwar bereits seit Jahren eine Top-­
Priorität gehabt hatte, nun aber die Aktivitäten nochmals beschleunigt werden würden.
Rund zwei Drittel der Befragten erwartete, dass die zur Verfügung stehenden Budgets
hierfür signifikant erhöht werden. Eine weltweite Studie von KPMG (2021) kommt zu
vergleichbaren Ergebnissen.
IBM (2021) befragte mitten in der Krise mehr als 3000 Top Manager aus 26 Branchen
und 50 Ländern. Die beteiligten Unternehmen wurden in zwei Gruppen geteilt, die „Out-
performers“ und die „Underperformers“. Man fand heraus, dass 85 % der „Outperformers“
das Thema Führung („Leadership“) als wichtigsten Erfolgstreiber ansehen. Darüber hi­
naus hatten die erfolgreichen Unternehmen klarere Prioritäten. Die Top 3-Prioritäten der
„Outperformers“ waren bessere Kundenerlebnisse (60 %), stärkere Kundenbeziehungen
(55 %) und Effizienzsteigerungen (51 %). Die verstärkte Kundenorientierung von Unter-
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 223

nehmen während der Corona-Pandemie belegt auch die in den USA durchgeführte Studie
„The CMO Survey“ (2021), wonach 72 % der befragten Marketingentscheider angaben,
dass die Rolle des Marketings in ihren Unternehmen während der Krise gestiegen sei.
Im Laufe der Pandemie beobachtete McKinsey (Bages-Amat et al., 2020) im B-to-B-­
Vertrieb, dass die Nutzung von digitalen Kommunikationskanälen sowohl in der Be-
treuung von Bestandskunden als auch in der Neukundengewinnung signifikant zunahm.
­Während der persönliche Verkauf als B-to-B-Vertriebsweg von 61  % Nutzung vor der
Krise auf 29 % zurückging, gaben knapp 80 % der B-to-B-Entscheider auf der Einkaufs-
seite an, dass sie digitale Interaktionen oder gleich digitalen Self Service bevorzugten.
Auch wenn die hier zitierten Studien nur begrenzt miteinander vergleichbar sind und
nicht immer wissenschaftlichen Standards der empirischen Forschung entsprechen, so er-
gibt sich doch ein klares Bild für das B-to-B-Umfeld:

• Das Informations- und Einkaufsverhalten von B-to-B-Kunden hat sich im Zuge der
Digitalisierung deutlich verändert.
• Viele B-to-B-Anbieterunternehmen hatten bereits vor dem Ausbruch der Pandemie im
Frühjahr 2020 große Schwierigkeiten, in Marketing und Vertrieb adäquat auf die ge-
änderten Kundenanforderungen zu reagieren (Day, 2011).
• Dieser Transformationsdruck für B-to-B-Anbieterunternehmen hat sich durch den
Digitalisierungsbeschleuniger Corona drastisch verschärft.
• Dem Bedeutungsverlust des persönlichen Verkaufs im B-to-B-Umfeld steht ein
B-to-B-Marketing gegenüber, für das die Krise eine große Chance darstellt, denn die-
jenigen Unternehmen, die schnell innovative, mehrwertige und differenzierende Wege
zum Kunden finden, werden Wettbewerbsvorteile generieren und Marktanteile
gewinnen.
• Digitalisierung im B-to-B-Marketing wird zum strategischen Erfolgsfaktor und be-
deutet deutlich mehr als die neuste Mobile App, VR-Anwendungen auf Messen oder
die Nutzung von E-Commerce-Plattformen im Rahmen eines Omni-Channel-Ansatzes.
• Vielmehr benötigen Marketingorganisationen im B-to-B-Umfeld eine neue Kultur und
neue Kompetenzen, um schnell und erfolgreich die digitale Transformation zu be-
wältigen  – das erfordert gerade auch von langjährigen Führungskräften und Mit-
arbeitenden neue und ungewohnte Arbeitstechniken (z. B. agile Methoden, Scrum, De-
sign Thinking).

Mit anderen Worten: Dem Marketing kommt eine zentrale Rolle bei der dringend ge-
botenen digitalen Transformation von Unternehmen im B-to-B-Geschäft zu, die es nur
ausfüllen kann, wenn es hierbei in die Offensive geht und eine interne (Bedeutung des
Marketings innerhalb des Unternehmens, Verhoef & Leeflang, 2009) sowie externe (Ex-
zellenz des Marketings im Vergleich zum Wettbewerb, Feng et al., 2015) Führungsrolle
nicht nur einfordert, sondern auch auszufüllen bereit und in der Lage ist. Das Marketing
muss also „Digital Leadership“ zeigen, so wird es allenthalben immer öfter gefordert.
Diese Forderung wird im nächsten Abschnitt aus wissenschaftlicher Sicht beleuchtet.
224 C. Baumgarth und L. Binckebanck

9.2 Konzeptionelle Grundlagen

Begriffe wie „Digitalisierung“ und „digitale Transformation“ werden in der Diskussion


häufig inflationär, unspezifisch und synonym verwendet. Vial (2019) hat gezeigt, dass es
diesbezüglich auch in der wissenschaftlichen Literatur noch keine Einigkeit über Defini-
tionen, Abgrenzungen und Bezugsobjekte gibt. Im vorliegenden Kontext erscheint die De-
finition von Wengler et al. (2021) ergiebig, wonach unter Digitalisierung „the modification
of processes, products, businessmodels as well as human behaviors by digital techno-
logies, which aims at designing the companies’ business activities more efficiently and
effectively“ (S. 600) verstanden werden kann.
Tendenziell werden unter der Überschrift „Digitalisierung“ eher Effizienzaspekte (ins-
besondere Kostenreduktionen) diskutiert, während der Begriff der „digitalen Trans-
formation“ zumeist auf die Effektivität der Unternehmenstätigkeit abzielt und dabei Ver-
änderungen in Geschäftsmodellen und Organisationsstrukturen umfasst (Parviainen
et al., 2017).
Um die digitale Exzellenz des gesamten Unternehmens in Bezug auf die Umsetzung
der digitalen Transformation zu beschreiben und zu messen, propagieren vor allem Unter-
nehmensberater seit einigen Jahren ein „Digital Leadership“ (z. B. Capgemini Consulting,
2015; Chaffey & Smith, 2017; Deloitte Digital & Heads! Executive Consultancy, 2015;
EY, 2014; Kane et al., 2016; Kreutzer et al., 2017; PwC, 2016; van Dick et al., 2016; ZIA
& EY, 2020). Allerdings reicht das Spektrum des Begriffsverständnisses in den Studien
von speziellen Kompetenzen der Führungskräfte über das digitale Know-how der Mit-
arbeiter bis hin zur Charakterisierung des gesamten Unternehmens, falls überhaupt eine
Definition oder eine Messvorschrift vorliegen.
Auch bei Diskussionen unter Praktikern erweist sich „Digital Leadership“ allzu häufig
als Wieselwort, also als Begriff mit unscharfer Bedeutung, den jeder mit eigenen, zumeist
vagen Vorstellungen füllen kann. Konkretisierende Fallstudien sind in der Literatur selten
(z. B. Chen et al., 2017; El Sawy et al., 2016; Jenewein, 2016; Moi & Cabiddu, 2020).
Frühe Leitfäden für Praktiker fokussierten zumeist recht vereinfacht auf die Kombination
von herkömmlicher Führungskompetenz mit der Fähigkeit zum optimierten Einsatz digi-
taler Technologien (z. B. Sandell, 2013).
In der wissenschaftlichen Literatur sieht es nur unwesentlich besser aus. Eberl und
Drews (2021) haben im Rahmen einer Metaanalyse 36 Fachpublikationen untersucht, in
denen sich Erläuterungen des Begriffs „Digital Leadership“ finden lassen. Dabei haben sie
festgestellt, dass es einerseits zumeist keine hinreichend klare Abgrenzung zu verwandten
Konstrukten, wie etwa E-Leadership (z. B. Avolio et al., 2001), gibt und anderseits viele
Definitionen zu abstrakt ausfallen (z. B. Meffert & Swaminathan, 2018). Typischerweise
umfasst die Diskussion von „Digital Leadership“ in der wissenschaftlichen Literatur die
Zielerreichung in digitalisierten Geschäftsmodellen (z. B. Oberer & Erkollar, 2018), Or-
ganisationen (z. B. Kane et al., 2019) und im Rahmen der Personalführung (z. B. Eggers
& Hollmann, 2018).
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 225

Eberl und Drews (2021) schlagen vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse folgende
Definition vor: „Digital leadership is a complex construct aiming for a customer-centered,
digitally enabled, leading-edge business model by (1) transforming the role, skills, and
style of the digital leader, (2) realizing a digital organization, including governance, vi-
sion, values, structure, culture, and decision processes, and (3) adjusting people manage-
ment, virtual teams, knowledge, and communication and collaboration on the individual
level“ (S. 4).
Demnach geht es bei „Digital Leadership“ darum, durch adäquate Methoden der Füh-
rung, Organisation und Zusammenarbeit Geschäftsmodelle von Unternehmen so (weiter)
zu entwickeln, dass der Kunde im Mittelpunkt steht (Rolle des Marketings) und Wett-
bewerbsvorteile generiert werden (Rolle der Strategie). Aus dieser Perspektive sind digi-
tale Technologien, die in der Praxis häufig im Mittelpunkt der Diskussion stehen, lediglich
ein Mittel zum Zweck. Dieser ist es, eine digitale Führungsrolle des Unternehmens im
Wettbewerbsumfeld zu erreichen, die Mehrwerte für Kunden schafft, wobei die Marketing-
organisation (inklusive Vertrieb) eine zentrale Rolle spielen kann (Binckebanck, 2017).
Zentraler Erfolgsfaktor bei der Umsetzung dieses Anspruchs ist die Fähigkeit zur Ver-
änderung organisationaler Strukturen, des kulturellen Mindsets und der zielgerichteten
Ressourcenausstattung (Gurbaxani & Dunkle, 2019; Schneider & Kokshagina, 2021;
Weill & Woerner, 2018; Westerman et al., 2019). Beispiele sind die Entwicklungen vom
herkömmlichen zum datengetriebenen Entscheidungsverhalten, von Silos zu interdiszipli-
närer Zusammenarbeit oder vom Primat der Risikovermeidung hin zu Agilität, Experi-
menten und Improvisation (Levallet & Chan, 2018; Martin & Golsby-Smith, 2017;
Shrestha et al., 2019).
Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn sich neuere Aufsätze zu „Digital
Leadership“ statt mit persönlichen Qualitäten von Führungskräften verstärkt mit organisa-
tionalen Fähigkeiten beschäftigen (Abbu et al., 2020; Mihardjo et al., 2019). Diese Per­
spektive folgt grundsätzlich dem Resource-Based View (RBV) im strategischen Manage-
ment, wonach langfristig kultivierte interne Ressourcen und organisationale Kompetenzen
sich zu unternehmensspezifischen Fähigkeiten verdichten, die wiederum zu überlegenem
Kundennutzen und damit zu strategischen Wettbewerbsvorteilen führen (Barney, 2010;
Barney, J. (1991); Wernerfelt, 1984).
Der RBV spielt bis heute eine prominente Rolle in der Marketingliteratur (Kozlenkova
et al., 2014). Strategisch relevante Marketingfähigkeiten sind u. a. Marktbeobachtung und
marktorientiertes Wissensmanagement, Beziehungsmanagement zu Kunden und Absatz-
partnern, Markenführung, Aufbau und Führung der Marketingorganisation sowie spezi-
fisches Know-how zum operativen Marketing-Mix (Moorman & Day, 2016). Dabei ist es
grundsätzlich sinnvoll, zwischen zur Verfügung stehenden internen und externen Ressour-
cen einerseits und andererseits der Fähigkeit eines Unternehmens, diese Ressourcen in
systematischer Art und Weise zur Zielerreichung zu nutzen, zu unterscheiden (Helfat &
Peteraf, 2003; Makadok, 2001; Wernerfelt, 1984).
Die erfolgskritische Rolle von Fähigkeiten und Ressourcen der Marketingorganisation
für den Markterfolg insbesondere bei dynamischen Umfeldveränderungen wird bereits
226 C. Baumgarth und L. Binckebanck

seit Jahren anerkannt (Barrales-Molina et al., 2014; Orlandi, 2016; Xu et al., 2018). Daher
ist der RBV-Ansatz um das Konzept der dynamischen Fähigkeiten ergänzt worden, wel-
ches die Anpassungsfähigkeit der Marketingorganisation an eine sich (nicht zuletzt
­aufgrund der Digitalisierung) immer schneller wandelnde Unternehmensumwelt als
wesentlichen Erfolgsfaktor ansieht (Day, 2011; Teece et  al., 1997). Dynamische
­Marketingfähigkeiten „reflect human capital, social capital, and the cognition of managers
involved in the creation, use, and integration of market knowledge and marketing re-
sources to match and create market and technological change“ (Bruni & Verona, 2009,
S. 7). Diese Forderung ist eng verwandt mit der nach einem „agilen“ Marketing (Homburg
et al., 2020; Lemon & Verhoef, 2016).
Diese Argumentation gilt auch für das B-to-B-Umfeld. Es findet sich in der wissen-
schaftlichen Literatur mittlerweile eine Fülle von Untersuchungen, die zeigen, dass die
digitale Transformation sowohl Einkaufs- als auch Vertriebsprozesse entlang der Wert-
schöpfungskette signifikant und dynamisch verändert (z. B. Cuevas, 2018; Jüttner et al.,
2007; Kache & Seuring, 2017; Mahlamäki et al., 2020; Schillewaert et al., 2005; Srai &
Lorentz, 2019; Wiersema, 2013) und wie B-to-B-Unternehmen digitale Technologien zur
Steigerung von Effektivität und Effizienz nutzen können (z. B. Cortez & Johnston, 2017;
Pagani & Pardo, 2017; Singh et al., 2019; Steward et al., 2019). So intensivieren B-to-B-­
Anbieter etwa ihr Content Marketing, verwenden immer öfter Plattformen zur Marketing-
automatisierung, experimentieren mit Chatbots in der Kundenbetreuung und verwenden
Social Media systematisch in der Neukundengewinnung (Guesalaga et  al., 2018; Her-
hausen et al., 2020; Salo, 2017).
Allerdings stellen Herhausen et al. (2020) fest, dass die wissenschaftliche Diskussion
auch im B-to-B-Umfeld die Rolle der Fähigkeiten einer Marketingorganisation als Voraus-
setzung für eine effektive und effiziente digitale Transformation der Marktbearbeitung
bislang vernachlässigt hat. Die Anwendung des RBV und die Interpretation der Marketing-
organisation als Bündel von Ressourcen und Fähigkeiten „helps to identify, build, and
sustain sources of competitive advantage in the new normal of our digital era“ (Herhausen
et al., 2020, S. 276).
Hierfür definieren Herhausen et al. (2020) „… a digital marketing resource as a digital-­
related marketing asset (tangible or intangible) that a B2B firm owns, controls, or has ac-
cess to on a semi-permanent basis. Moreover, a digital marketing capability is the ability
of a B2B firm to perform a coordinated set of digital-related tasks (operational or dyna-
mic), utilizing digital resources, for achieving a competitive advantage“ (S. 277).
Die bislang skizzierten konzeptionellen Grundlagen lassen sich wie folgt zusam­
menfassen:

• Digitale Transformation bedeutet den Einsatz von IT zur Erhöhung von Effektivität und
Effizienz unternehmerischer Aktivitäten und zum Erhalt sowie Auf- und Ausbau von
strategischen Wettbewerbsvorteilen.
• Digital Leadership soll den Erfolg dieses Veränderungsprozesses sicherstellen, indem
durch adäquate Methoden der Führung, Organisation und Zusammenarbeit Geschäfts-
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 227

modelle so (weiter) entwickelt werden, dass eine digitale Führungsrolle des Unter-
nehmens im Wettbewerbsumfeld eingenommen werden kann und differenzierender
Mehrwert für Kunden entsteht.
• Der Marketingorganisation kommt für ein erfolgreiches Digital Leadership eines
Unternehmens angesichts der notwendigen Kunden- und Marktorientierung bei einem
sich dynamisch verändernden Umfeld eine zentrale Rolle zu.
• Um Digital Leadership in und mit der Marketingorganisation umzusetzen, müssen re-
levante materielle, immaterielle und menschliche Ressourcen auf- und ausgebaut sowie
im Rahmen interner und externer Verhaltensweisen als organisationale Fähigkeiten dy-
namisch in strategische Wettbewerbsvorteile übersetzt werden.
• Diese Logik gilt auf für das B-to-B-Geschäft, wobei hier die Rolle von Ressourcen und
Fähigkeiten einer Marketingorganisation als Voraussetzung für eine effektive und effi-
ziente digitale Transformation der Marktbearbeitung noch vergleichsweise wenig er-
forscht ist.

Es geht bei Digital Leadership nicht schwerpunktmäßig um die neuesten digitalen Techno-
logien (Tabrizi et al., 2019), sondern insbesondere um ein verändertes Mindset, adäquate
Ressourcen und neue Formen der internen und externen Zusammenarbeit. Das bedeutet:
Digital Leadership setzt an der Kultur- und der Verhaltensebene an. Digital Leadership
gewichtet Mitarbeiter und Kunden mindestens genauso stark wie Technologie und Algo-
rithmen. Regelmäßig setzt Digital Leadership einen professionellen, umfangreichen und
gelegentlich auch schmerzhaften Change-Prozess in Unternehmen voraus.
Es wird deutlich: Der Zusammenhang zwischen der digitalen Transformation von
Marketingorganisationen einerseits und Digital Leadership andererseits ist ergiebig für die
Konzeption von Lösungen für die im Eingangskapitel geschilderten praktischen Heraus-
forderungen, auch und gerade im B-to-B-Umfeld. Ein solcher Ansatz, der hier integrativ
als „Digital Marketing Leadership“ bezeichnet werden soll, wird im nächsten Kapitel er-
arbeitet.

9.3 DML-Modell

Bislang wurde Digital Leadership noch nicht explizit mit Bezug auf Marketing-
organisationen von Unternehmen untersucht. An dieser Stelle setzt das Modell „Digital
Marketing Leadership“ an, welches den Bezugsrahmen dieses Beitrags liefert. Aufbauend
auf den skizzierten konzeptionellen Grundlagen lässt sich „Digital Marketing Leadership“
(DML) wie folgt definieren:

cc Definition  Digital Marketing Leadership beschreibt die Existenz und interne Ent-
wicklung materieller, immaterieller und menschlicher Ressourcen der Marketing-
organisation sowie die Umsetzung dieser organisationalen Fähigkeiten im Rahmen interner
und externer Verhaltensweisen in einer Art und Weise, die strategische Wettbewerbsvorteile
durch eine digitale Führungsrolle im externen Marktumfeld ermöglicht.
228 C. Baumgarth und L. Binckebanck

DML ist somit ein mehrdimensionaler Ansatz, der Ressourcen als Voraussetzung für
und deren Umsetzung in konkretes Verhalten umfasst (auch Baumgarth & Binckebanck,
2018, 2019). Weiterhin umfasst nach dieser Definition DML nicht die Fähigkeiten oder
Merkmale einer Person (z.  B.  Marketingleitung), sondern die gesamte Marketing-
organisation. Schließlich verfolgt diese Definition eine komparative Betrachtung, d. h. es
geht um die digitale Exzellenz der eigenen Marketingabteilung im Vergleich zu anderen
Marketingorganisationen derselben Branche – also nicht, wie sonst häufig üblich, in Rela-
tion zu digitalen Vorbildern wie Google oder Amazon. Nach dieser Definition entstehen
Leadership und damit auch die Erreichung von Wettbewerbsvorteilen durch die relative
Überlegenheit der eigenen Ressourcen und des eigenen Verhaltens im Vergleich zu direk-
ten Wettbewerbern.
Um das Gesamtkonstrukt DML mess- und analysierbar zu machen, wurden aufbauend
auf der Literatur und Best Practice-Beispielen fünf Dimensionen identifiziert und defi-
niert: (1) Mindset, (2) Tangible Ressourcen, (3) Personelle Ressourcen, (4) Internes Ver-
halten und (5) Externes Verhalten. Tab. 9.1 fasst die Definitionen der DML-Dimensionen
zusammen.
Um diese fünf DML-Dimensionen zu konkretisieren und auf den B-to-B-Bereich anzu-
passen wurden in einem ersten Schritt 16 telefonische Gespräche mit Experten aus der
Beratung und Unternehmenspraxis durchgeführt. Diesen wurden der Bezugsrahmen und
die Definitionen vorgestellt und sie wurden nach konkreten Ausprägungen und Beispielen
befragt. Die Antworten wurden ergebnisorientiert transkribiert und durch die beiden Ver-

Tab. 9.1 DML-Dimension
DML-­
Dimension Definition
(1) Mindset DML-Mindset umfasst alle schwer quantifizierbaren und immateriellen Werte der
Marketingorganisation, wie etwa Kultur und Philosophie, die digitales Handeln
fördern.
(2) Tangible Tangible DML-Ressourcen umfassen alle quantifizierbaren und im
Ressourcen Rechnungswesen abbildbaren finanziellen (z. B. Budget) und physischen
(z. B. IT-Ausstattung) Aktivposten einer Marketingorganisation, die digitales
Handeln fördern.
(3) Personelle Personelle DML-Ressourcen umfassen alle Potenziale, welche Mitarbeiter der
Ressourcen Marketingorganisation in Form von Fähigkeiten und Know-how zur Verfügung
stellen, die digitales Handeln fördern.
(4) Internes Internes DML-Verhalten beschreibt die Umsetzung der DML-Ressourcen in
Verhalten konkretes digitales Handeln innerhalb des Unternehmens, wobei sowohl
Aktivitäten innerhalb der Marketingorganisation als auch Interaktionen mit
anderen Unternehmensbereichen und Marketingdienstleistern zu berücksichtigen
sind.
(5) Externes Externes DML-Verhalten beschreibt die Umsetzung der DML-Ressourcen in
Verhalten konkretes digitales Handeln außerhalb des Unternehmens in Richtung Kunde,
wobei dieses sowohl das Informationsmanagement als auch den Marketing-Mix
umfasst.
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 229

fasser zu Items verdichtet. Insgesamt wurden 43 Items identifiziert. Um die Qualität der
Items zu prüfen und auch deren Anzahl zu reduzieren, wurde eine zweite Online-­
Expertenbefragung von Wissenschaftlern und Praktikern durchgeführt (n = 25). Nach An-
derson und Gerbing (1991) wurde für jedes Item mit dem sog. pSA und cSV zwei Kenn-
größen bestimmt, die angeben, wie gut das Item von den Experten den von den Forschern
vorgebenden Dimensionen zugeordnet werden. Es wurden nur Items verwendet, die einen
pSA > 0,35 und einen cSV < 0 aufweisen. Durch diesen Prozess wurden neun Items eli-
miniert. Die restlichen 34 Items wurden in der Hauptstudie verwendet (vgl. Tab. 9.3).
Neben der Spezifikation der Konstrukte wurden auch Wirkungshypothesen aufgestellt,
die grundsätzlich von der Logik ausgehen, dass Ressourcen einen positiven Einfluss auf
Verhalten haben. Daher lassen sich zunächst folgende Hypothesen ableiten:

H1a: Je höher das DML-Mindset ausfällt, desto stärker fällt das interne DML-­
Verhalten aus.
H1b: Je höher das DML-Mindset ausfällt, desto stärker fällt das externe DML-­
Verhalten aus.
H2a: Je höher die tangiblen DML-Ressourcen vorhanden sind, desto stärker fällt das
interne DML-Verhalten aus.
H2b: Je höher die tangiblen Ressourcen vorhanden sind, desto stärker fällt das externe
DML-Verhalten aus.
H3a: Je höher die personellen DML-Ressourcen vorhanden sind, desto stärker fällt
das interne DML-Verhalten aus.
H3b: Je höher die personellen DML-Ressourcen vorhanden sind, desto stärker fällt
das externe DML-Verhalten aus.

Ferner wird davon ausgegangen, dass ein stärker digitales, nach innen ausgerichtetes Ver-
halten der Marketingorganisation auch das externe DML-Verhalten fördert. Daher wird
folgende Hypothese formuliert:

H5a: Je stärker das interne DML-Verhalten ausfällt, desto stärker fällt das externe
DML-Verhalten aus.

Zusätzlich wird in das Modell der Einfluss von DML auf die Performance integriert.
Dabei werden mit der internen und der externen Performance zwei verschiedene Arten
differenziert. Die interne Performance umfasst die Stellung und (positive) Wahrnehmung
der Marketingabteilung aus Sicht der Top-Management-Ebene (C-Level). Wie einige Stu-
dien zeigten, ist die Wahrnehmung und damit auch die Machtposition der Marketingab-
teilung aus C-Level-Sicht vielfach schwach ausgeprägt (z. B. Homburg et al., 1999, 2015;
Verhoef & Leeflang, 2009). Daher wird untersucht, ob die Digitalisierung ein Hebel sein
kann, um diese geringe Machtbasis zu verbessern. Es wird angenommen, dass nicht die
Ressourcen direkt einen Einfluss auf die interne Performance haben, sondern nur die
­beiden DML-Verhaltensweisen. Schließlich wird angenommen, dass die externe Per-
230 C. Baumgarth und L. Binckebanck

Ressourcen Verhalten Performance

Mindset
H1a

H1b Internes H4b Interne


Verhalten Performance

H2a
Tangible H4a H5a
Ressourcen
H2b

Externes H5b Externe


Verhalten Performance
H3a

H3b
Personelle
Ressourcen

Abb. 9.1  Modell „Digital Marketing Leadership“. (Quelle: eigene Darstellung)

formance, die den Markterfolg widerspiegelt, nur von dem nach außen gerichteten, sprich
dem externen DML-Verhalten direkt beeinflusst wird. Diese Zusammenhänge lassen sich
formal zu den folgenden Hypothesen zusammenfassen:

H5b: Je stärker das interne DML-Verhalten ausfällt, desto positiver ist die interne Per-
formance.
H6a: Je stärker das externe DML-Verhalten ausfällt, desto positiver fällt die interne
Performance aus.
H6b: Je stärker das externe DML-Verhalten ausfällt, desto positiver fällt die externe
Performance aus.

Abb. 9.1 fasst das Modell und die Hypothesen grafisch zusammen

9.4 Empirische Studie

9.4.1 Design

Um das Modell empirisch zu prüfen, wurde zunächst bereits 2017, also vor der Corona-­
Pandemie, eine empirische Studie im B-to-B-Bereich (n = 130) in Kooperation mit dem
Bundesverband Industriekommunikation (bvik) durchgeführt. Um die Stabilität des
­Modells zu überprüfen und die Datenbasis zu erweitern, wurde 2020 eine Nachfolgestudie
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 231

in der Immobilienwirtschaft (B-to-B) in Kooperation mit dem Real Estate Brand Institute
und KPMG (n = 155) durchgeführt. Trotz Unterschieden zwischen dem allgemeinen B-to-­
B-Geschäft und der Immobilienwirtschaft wurden für beide Studien das identische Modell
und dieselben Items verwendet, die Daten in einem Datensatz integriert und die Daten
gemeinsam ausgewertet.
Beide Studien wurden als Onlinebefragungen mit der Software EFS Survey realisiert.
In beiden Fällen wurde der Link zu der Onlinebefragung sowohl an Adresslisten (z. B. Mit-
gliedsunternehmen des bvik) versandt als auch über die Webseiten und Social Media-­
Kanäle der beteiligten Partner gestreut. Anschließend wurden die Datensätze gesäubert
und nur solche Antworten berücksichtigt, die mindestens 90 % der interessierenden Va-
riablen beantwortet haben. Fehlende Werte wurden über das Inputationsverfahren „Mittel-
wert“ geschätzt. Die Auswertung der Daten erfolgte mit SPSS (Version 25) und ADANCO
(Version 2.2.1).

9.4.2 Modelltest

Die Beurteilung der Ergebnisse aus der PLS-Analyse orientiert sich an den Leitlinien und
Empfehlungen von Benitez et al. (2020) und Henseler (2021) und gestaltet sich in drei
Hauptschritten: (1) Gesamtmodell, (2) Messmodell und (3) Strukturmodell. Zur statisti-
schen Prüfung der Modelle wurde ein Bootstrapping mit 4999 Stichproben durchgeführt.

(1) Gesamtmodell

Um überhaupt sinnvolle Interpretationen vornehmen zu können, ist in einem ersten Schritt


das Gesamtmodell zu beurteilen. Die Größen SRMR, dULS und dG, welche die Distanz
zwischen dem Datensatz und den geschätzten Ergebnissen ausdrücken unter der An-
nahme, dass alle Konstrukte frei mit allen anderen Konstrukten korrelieren, wurden bei
der Beurteilung berücksichtigt. Die Ergebnisse in Tab. 9.2 zeigen, dass das Gesamtmodell
alle drei Kriterien erfüllt sind und damit eine Interpretation der Ergebnisse sinnvoll ist.

(2) Messmodelle

Im nächsten Schritt sind die Messmodelle zu prüfen, wobei sowohl formative (für die fünf
Bausteine von DML) als auch reflektive Messmodelle (Performancemessung) zum Einsatz
gekommen sind. Bei der Messung aller Konstrukte wurde jeweils ein Indikator als dominie-
render Indikator festgelegt. Weiterhin wurden zwei Items eliminiert, die negative Ladungen
aufwiesen. Zur Beurteilung der formativen Modelle wird auf den Variance-­Inflation-­Factor
(VIF) zur Überprüfung der Multikollinearität (VIF < 5) und auf die Signifikanz der Gewichte
und Ladungen zur Prüfung des Beitrags jedes Indikators zum Gesamtkonstrukt zurück-
gegriffen. Die reflektiven Messmodelle wurden durch Cronbach’s Alpha und Dijkstra-Hense-
ler pA in Bezug auf ihre Güte überprüft. Tab. 9.3 fasst die Ergebnisse zusammen.
232 C. Baumgarth und L. Binckebanck

Tab. 9.2  Beurteilung des Gesamtmodells


Gütekriterium Wert HI95 Ergebnis
SRMR 0,0426 0,0433 erfüllt
dULS 1,2784 1,3194 erfüllt
dG 0,5586 0,7048 erfüllt

Tab. 9.3  Gütebeurteilung der Messmodelle


Anzahl der Items Spanne Spanne Spanne Spanne pSA/
Konstrukt (Messansatz) α/pA VIF Gewicht Ladung CSVa
Mindset 5 (formativ) / 1,20– 0,09n.s.– 0,64***– 0,38–
2,06 0,37*** 0,79*** 0,86/0,13–
0,73
Tangible 6 (formativ) / 1,36– 0,05n.s.– 0,53***– 0,50–
Ressourcen 2,22 0,31*** 0,84*** 0,96/0,21–
0,91
Personelle 6 (formativ) / 1,48– 0,02n.s.– 0,64***– 0,64–
Ressourcen 2,22 0,41*** 0,88*** 1,00/0,32–
1,00
Internes 5 (formativ) / 1,01– 0,07n.s.– 0,13n.s.– 0,43–
Verhalten 2,16 0,44*** 0,88*** 0,91/0,10–
0,83
Externes 9 (formativ) / 1,51– 0,04n.s.– 0,60***– 0,48–
Verhalten 2,99 0,23*** 0,84*** 0,96/0,13–
0,92
Interne 3 (reflektiv) 0,83/0,83 /
Performance
Externe 3 (reflektiv) 0,76/0,76 /
Performance
a: Werte stammen aus der Expertenbefragung (n = 25) im Vorfeld der B-to-B-Studie und basieren
auf den Formeln von Anderson und Gerbing (1991)
***: p < 0,01: **: p < 0,05; *: p < 0,1. n.s.: nicht signifikant

Wie Tab. 9.3 zeigt, erfüllen fast alle Messmodelle die empfohlenen Grenzwerte. Die
beiden reflektiven Messmodelle erfüllen alle Gütekriterien. Bei den formativen Mess-
modellen erfüllen alle Indikatoren das Kriterium der geringen Multikollinearität. Weiter-
hin weisen fast alle Indikatoren signifikante Gewichte und Ladungen auf. Da die wenigen
Indikatoren, die keine signifikanten Gewichte und/oder Ladungen aufweisen, trotzdem
positive Beiträge liefern und auch im Pretest als relevante Items von den Experten beurteilt
wurden, verbleiben diese in den Messmodellen.

(3) Strukturmodell

Im dritten und letzten Schritt erfolgt die Prüfung des Strukturmodells und damit auch die
Überprüfung der Hypothesen. Tab. 9.4 fasst die Ergebnisse zusammen.
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 233

Tab. 9.4 Strukturmodell
Hypothesen Pfad Pfadkoeffizient Ergebnis
H1a Mindset → Internes Verhalten 0,187*** √
H1b Mindset → Externes Verhalten 0,187*** √
H2a Tangible Ressourcen → Internes Verhalten 0,401*** √
H2b Tangible Ressourcen → Externes Verhalten 0,178*** √
H3a Personelle Ressourcen → Internes 0,329*** √
Verhalten
H3b Personelle Ressourcen → Externes 0,213*** √
Verhalten
H4a Internes Verhalten → Interne Performance 0,228* (√)
H4b Internes Verhalten → Externes Verhalten 0,342*** √
H5a Externes Verhalten → Interne Performance 0,269** (√)
H5b Externes Verhalten → Externe Performance 0,476*** √
Erklärte Varianz R2
Internes Verhalten 0,634 hoch
Externes Verhalten 0,663 hoch
Interne Performance 0,215 moderat
Externe Performance 0,227 moderat
Gesamtmodell
SRMR 0,0496 (HI95 = 0,0444) nicht erfüllt
dULS 1,7309 (HI95 = 1,3876) nicht erfüllt
dG 0,5867 (HI 95 = 0,7119) erfüllt
Effektstärke f2
Mindset → Internes Verhalten 0,055 schwach
Mindset → Externes Verhalten 0,052 schwach
Tangible Ressourcen → Internes Verhalten 0,230 mittel
Tangible Ressourcen → Externes Verhalten 0,037 schwach
Personelle Ressourcen → Internes Verhalten 0,150 mittel
Personelle Ressourcen → Externes Verhalten 0,055 schwach
Internes Verhalten → Interne Performance 0,031 schwach
Internes Verhalten → Externes Verhalten 0,116 schwach
Externes Verhalten → Interne Performance 0,043 schwach
Externes Verhalten → Externe Performance 0,294 mittel

Zunächst einmal zeigt sich, dass das Gesamtmodell die Kenngrößen SRMR und dULS
nicht vollständig erfüllt. Da aber die Abweichungen relativ gering sind und gleichzeitig
der dG-Wert deutlich erreicht wird, wird das Gesamtmodell akzeptiert. Weiterhin belegen
die Ergebnisse, dass sowohl die interne Performance mit rund 22 % als auch die externe
Performance mit rund 23 % durch DML moderat erklärt werden kann. Diese Werte wer-
den als „gut“ interpretiert, da neben der digitalen Ausprägung der Marketingorganisation
eine Vielzahl weiterer Faktoren die interne und die externe Performance beeinflussen.
Bezüglich der aufgestellten Hypothesen zeigt sich, dass alle zumindest tendenziell be-
234 C. Baumgarth und L. Binckebanck

stätigt wurden. Die Analyse der totalen Effekte verdeutlicht, dass das interne Verhalten mit
0,321 die interne Performance und das externe Verhalten mit 0,476 die externe Per-
formance jeweils am stärksten beeinflussen. Die drei Ressourcen Mindset, tangible und
personelle Ressourcen weisen mit totalen Effekten zwischen 0,110 und 0,176 sowohl in
Bezug auf die interne als auch die externe Performance ähnliche Ausmaße aus und können
damit als gleichwichtig angesehen werden.

9.4.3 Deskriptive Ergebnisse

Um die Ergebnisse und das Modell für die Unternehmenspraxis anwendbar zu machen,
erfolgt abschließend noch eine deskriptive Auswertung. Dazu werden die fünf Konstrukte
von DML zu jeweils einem Index verdichtet, wobei die im PLS-Modell identifizierten Ge-
wichte als Gewichtungsfaktoren in die Indexkonstruktion eingehen. Weiterhin werden die
fünfstufigen Likert-Skalen in eine leichter verständliche Prozentlogik transformiert.
Abb. 9.2 zeigt die Ergebnisse für die fünf DML-Dimensionen.
Es zeigt sich, dass alle fünf Dimensionen mit Werten zwischen 44 % und 58 % noch
deutliche Lücken aufweisen. Am höchsten ist das digitale Mindset ausgeprägt.
Weiterhin wurde für die interne und externe Performance auch jeweils ein Index be-
rechnet, wobei durch die reflexive Operationalisierung jeweils alle Items mit dem gleichen

70%

57.6%
53.0% 51.7%
47.5%
44.1%

35%

0%
Mindset Tangible Personelle Internes Externes
Ressourcen Ressourcen Verhalten Verhalten

Abb. 9.2  Niveaus der DML-Dimensionen. (Quelle: eigene Darstellung)


9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 235

Tab. 9.5  DML-Niveaus differenziert nach dem internen und externen Erfolg
Interne Performance Externe Performance
Underperformer Outperformer Underperformer Outperformer
Mindset 49,9 % 64,2 %*** 49,6 % 68,2 %***
Tangible Ressourcen 34,8 % 51,6 %*** 36,4 % 55,0 %***
Personelle Ressourcen 37,7 % 54,6 %*** 42,0 % 56,7 %***
Internes Verhalten 40,0 % 62,3 %*** 44,3 % 64,7 %***
Externes Verhalten 39,8 % 59,6 %*** 42,2 % 64,5 %***
***: p < 0,01

Gewicht in den Index eingehen. Aufbauend auf den Performance-Indizes wurden für beide
Studien die Unternehmen in jeweils vier Gruppen eingeteilt. Tab. 9.5 vergleicht deskriptiv
und durch einen t-Test die Ausprägungen der DML-Dimensionen für die jeweiligen
Extremgruppen, sprich für sehr erfolgreichen („Outperformer“) und sehr erfolglosen
Unternehmen („Underperformer“).
Die Gruppenvergleiche zeigen sowohl für die interne als auch externe Performance
stark signifikante Unterschiede bei allen fünf DML-Dimensionen. Absolut gesehen be-
stehen die größten Unterschiede jeweils bei den beiden Verhaltensgrößen, sprich: DML
wird insbesondere dann ein Erfolgstreiber, wenn es auch in tatsächliches Verhalten um-
gesetzt wird.

9.4.4 Interpretation

Die Studienergebnisse bestätigen den Befund, dass Digitalisierung im B-to-B-Marketing


nicht bedeutet, den neuesten technologischen Trends aus dem B-to-C-Geschäft nachzu-
eifern und stets auf die nächste App, das neueste Portal und die gewagteste Vision zu set-
zen. Vielmehr muss eine digitale Transformation in der B-to-B-Marketingorganisation
stattfinden, die nicht nur tangible (z. B. Marketing Automation Tools, PIM- und DAM-Sys-
teme, steigende Digitalbudgets) und personelle (z.  B. digitale Affinität und Know-how,
analytische Fähigkeiten, Methodenwissen zu modernem Projektmanagement) Ressourcen
zur Verfügung umfasst, sondern auch am Mindset (z. B. Risikokultur, Fehlerkultur, Agili-
tät) ansetzt. Eine entsprechende Ressourcen-Konfiguration im B-to-B-Marketing ist die
Voraussetzung für ein adäquates internes Verhalten (z.  B.  Erarbeitung einer Digital-
strategie, Zusammenarbeit mit anderen Fachabteilungen, digitale interne Kommunika-
tionstools), das wiederum in ein externes Verhalten (z.  B.  Content Marketing, digitale
Self-Service-­Lösungen, Augmented/Virtual Reality) mündet, welches zu einer Führungs-
rolle des Marketing im Marktumfeld (Digital Marketing Leadership = DML) und damit
letztlich zu Wettbewerbsvorteilen führt.
Diese Wirkungskette wird in der Studie klar bestätigt. Es zeigt sich, dass DML-­
Ressourcen und DML-Verhalten stark voneinander abhängen. Ohne adäquate Ressour-
cen kann kein dem Wettbewerb überlegenes DML-Verhalten realisiert werden. Gelingt
236 C. Baumgarth und L. Binckebanck

dies jedoch, dann verbessert DML signifikant die interne Stellung der B-to-B-­Mar­
ketingabteilung und den Markterfolg des B-to-B-Anbieterunternehmens.
Ein solches Verständnis von DML ist gemäß den Ergebnissen unserer Studie im
B-to-B-Marketing noch nicht besonders ausgeprägt. Es besteht also Handlungsbedarf,
oder anders ausgedrückt: Es bestehen erhebliche Potenziale zur Positionierung und Diffe-
renzierung in einem dynamischen Wettbewerbsumfeld, wenn die digitale Transformation
gelingt. Besondere Schwach- bzw. Ansatzpunkte sind die tangiblen und personellen
Ressourcen.
Folgende Handlungsempfehlungen lassen sich aus der Studie für das Management der
B-to-B-Marketingorganisation ableiten:

• Mindset: Digital führende Marketingorganisationen weisen ein spezielles Mindset auf,


dass sich durch Merkmale wie agil, risiko- und experimentierfreudig, „digital first“
sowie datenorientiert charakterisieren lässt. Im Rahmen der digitalen Transformation
sollten insbesondere Daten- und Performance-Orientierung, Fehlerkultur und Schnellig-
keit verbessert werden.
• Tangible Ressourcen: Bei der „harten“ Ausstattung scheinen Marketingorganisationen
digital führend zu sein, bei denen Digitalbudgets nicht klassische Marketingbudgets
ersetzen, sondern diese dem B-to-B-Marketing als echte Zukunftsinvestition zusätzlich
zur Verfügung stehen. Entsprechend sollten Budgets für die digitale Transformation als
Investition und nicht als Kosten angesehen werden. Auch scheinen führende Marketing-
organisationen im B-to-B-Umfeld mehr und mehr auf externe und hochprofessionelle
IT-Lösungen mit einer starken Cloudausrichtung zu setzen. Die Hard- und Software-
ausstattung sollten deutlich ausgebaut werden und dem State-of-the-Art entsprechen.
• Personelle Ressourcen: Auf der Personalebene zeigen die Ergebnisse, dass insbesondere
zusätzliche Fähigkeiten und Kompetenzen, wie analytische Fähigkeiten, neue Projekt-
managementtechniken und IT-Verständnis, immer wichtiger werden. Die Entwicklung
geht deutlich in Richtung „Mark-Tec“ und erfordert adäquates Know-how. Durch
Weiterbildung, Zeit und Personalauswahl in den Feldern Datenkompetenz, IT und mo-
dernes Projektmanagement sollten die Mitarbeitenden fit für DML gemacht werden.
• Internes Verhalten: Bei den internen Verhaltensweisen sind laut Studie solche B-to-B-
Marketingorganisationen digital weit vorne, die sinnvoll digitale Lösungen für Kolla-
borationen und Projektmanagement einsetzen, mit dem Vertrieb funktionierende und
unterstützende Digitallösungen entwickeln und Weiterbildungen sowie feste Zeit-
fenster für die Mitarbeiter zur kontinuierlichen Aktualisierung des digitalen Know-­
hows einsetzen. Darüber hinaus sollte die Formulierung einer Digitalstrategie für jede
B-to-B-Marketingorganisation Pflicht sein. Und: Der Einsatz von „einfachen“ Soft-
warelösungen für eine stärke Kollaboration (z. B. Dropbox, Slack, Google Drive) sollte
ausgebaut werden.
• Externes Verhalten: In Richtung Kunde charakterisieren die Studienergebnisse solche
B-to-B-Marketingorganisationen als digital führend, die aufbauend auf Kundendaten
und einem tiefem Kundenverständnis den Kunden nur relevante Inhalte genau über die
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 237

von ihnen präferierten Kanäle zur Verfügung stellen. Auch müssen die angebotenen
digitalen Lösungen für die Kunden einfach und schnell sein. Die Usability und die User
Experience entlang digitaler Touchpoints sind zu optimieren, da professionelle Ein-
käufer und Entscheider aus ihrem privaten Umfeld entsprechende Standards ge-
wohnt sind.

9.5 Schlussbetrachtung

9.5.1 DML als Denkmodell und Tool

Das vorgestellte und empirisch validierte DML-Modell kann zunächst als Denkmodell für
die Unternehmenspraxis dienen, da es explizit den holistischen Charakter der Digitalisie-
rung betont. Im Kern bezeichnet Digitalisierung begrifflich den Wandel von analogen zu
digitalen Informationen und Instrumenten. Allerdings ist die Digitalisierung in Unter-
nehmen und Marketingabteilungen insbesondere eine Veränderung der Prozesse, der Or-
ganisation und der notwendigen Fähigkeiten und Kompetenzen der Führungs- und Fach-
kräfte. Diesen ganzheitlichen Charakter des notwendigen Changemanagements betonen
die fünf Dimensionen des DML-Modells.
Dabei sind nicht nur Modelle für die digitale Transformation des gesamten Unter-
nehmens oder der gesamten Branche bzw. der Wirtschaft sinnvoll, sondern, wie das DML-­
Modell zeigt, auch Bezugsrahmen mit einer Fokussierung auf einzelne Funktionsbereiche.
Diese Modelle mit einer geringeren Reichweite ermöglichen es, den Digitalisierungsgrad
konkreter und damit auch besser abzubilden. Dies erhöht auch die Verständlichkeit in der
Unternehmenspraxis sowie die Direktheit der Managementimplikationen.
Zusätzlich zeigen das Modell und die Ergebnisse auf, dass die Digitalisierung für das
Marketing auch eine große Chance zur besseren internen Legitimierung darstellt. In der
Vergangenheit haben speziell im B-to-B-Bereich Marketingabteilungen immer mehr
Macht verloren und Aufgabenfelder abgegeben. Im Kern ist das Marketing in vielen B-to-
B-Unternehmen primär kommunikationsorientiert mit wenigen strategischen Aufgaben.
Dieses enge und überwiegend taktische Aufgabenspektrum führt auch dazu, dass das An-
sehen der Marketingfunktion auf C-Level-Ebene häufig nicht besonders hoch ausfällt. Wie
die empirischen Ergebnisse aufzeigen, können Marketingabteilungen mit einem hohen
DML-Niveau die interne Performance, sprich das Ansehen auf Top-­Management-­Ebene,
verbessern. Dies ist aber nur erreichbar, wenn das Marketing sich proaktiv mit der Digita-
lisierung beschäftigt, entsprechende Kompetenzen intern aufbaut und auch digitale Lö-
sungen sowohl intern als auch extern erprobt, verbessert und implementiert. Ein „Out-
sourcen“ an externe Dienstleister oder an die IT-Abteilungen führen nicht zu einem hohen
DML-Niveau.
Schließlich kann das DML-Modell auch als praktisches Tool zur konkreten Beurteilung
des Status-quo der Digitalisierung der Marketingfunktion Verwendung finden. Dabei kön-
nen die Items zur Messung der fünf DML-Dimensionen als Basis für eine Checkliste
238 C. Baumgarth und L. Binckebanck

dienen. Aufbauend auf dem DML-Modell sind aber auch Entwicklungen von umfang-
reichen und stärker formalisierten Evaluationsansätzen, wie etwa ein DML-Audit (allg.
Kotler et al., 1977; Baumgarth et al., 2014), denkbar und sinnvoll.

9.5.2 Reflektion

Die vorgelegte Studie hat den Digitalisierungsgrad des Marketings im B-to-B-Umfeld zu


einem bestimmten Zeitpunkt gemessen. Dieser lag bei dem B-to-B-Sample vor und bei
der Immobilienstudie in der relativ frühen Phase der Corona-Pandemie. Dies führt dazu,
dass die durch Corona-Pandemie notgedrungen stark beschleunigte Digitalisierung noch
nicht abgebildet ist. Auch die schnelle (Weiter-)Entwicklung digitaler Lösungen, wie
KI-basierte Spracherkennung und -generierung, Roboter und Chat-Bots als Marken-
kontaktpunkte oder AR- bzw. VR-Lösungen, führen dazu, dass es sinnvoll und notwendig
ist, sowohl die Messmodelle immer wieder anzupassen als auch die Studie in regelmäßigen
zeitlichen Abständen zu aktualisieren.
Die vorgelegte Studie hat DML für den B-to-B- und Immobilienbereich analysiert.
Allerdings handelt es sich dabei nicht um ein homogenes Geschäftsmodell. Spezial-
maschinen- und Anlagenbauer planen zusammen mit sehr wenigen Kunden gegebenen-
falls über Jahre zusammen eine neue Maschine und/oder Anlage. Hersteller von Schrau-
ben und Werkzeugen für das Handwerk und die Industrie managen Tausende von
standardisierten Produkten und Millionen von Kunden. Ein Immobilienfinanzinstitut hat
überhaupt kein Produkt, sondern verwaltet große Geldbeträge mit wenigen oder vielen
Immobilienkunden. Diese drei Beispiele verdeutlichen, dass sich auch die digitalen Instru­
mente und Strategien, die sinnvollerweise von den B-to-B-Unternehmen eingesetzt wer-
den sollten, unterscheiden. Daher wäre es sinnvoll, in Zukunft aufbauend auf den DML-Be-
zugsrahmen branchenspezifische Studien durchzuführen.
Ähnlich wäre es sinnvoll, die Studie international zu replizieren, um den Stand des
deutschen B-to-B-Marketings im Vergleich zu anderen Ländern und Regionen zu ana-
lysieren.
Darüber hinaus evaluieren das Modell und die Studie den aktuellen Stand der Digitali-
sierung (Zeitpunktmodell). Speziell auch zur Ableitung von Empfehlungen zur Steigerung
von DML wäre es aber interessant, die Entwicklung von DML über den Zeitablauf zu
beobachten. Eine solche zeitraumbezogene Betrachtung könnte dabei helfen, die Barrie-
ren und Treiber der Digitalisierung, aber auch die „richtige“ Reihenfolge und Intensität
der Digitalisierungsschritte besser zu verstehen. Beispielsweise wäre es aufschlussreich,
ob es sinnvoll ist, erst die Ressourcen aufzubauen und dann entsprechende digitale Ver-
haltensweisen umzusetzen oder ob die Umsetzung einzelner digitaler Verhaltensweisen zu
einem Aufbau entsprechender DML-Ressourcen führt. Fruchtbar für eine solche Analyse
erscheint insbesondere eine Fallstudienanalyse von erfolgreichen und weniger erfolg-
reichen B-to-B-Marketingabteilungen zu sein.
9  Digital Marketing Leadership – Modell und empirische Ergebnisse aus dem … 239

Schließlich konnte die Studie zeigen, dass alle fünf DML-Bausteine relevant sind. In
einem nächsten Schritt wäre es daher aus wissenschaftlicher wie auch management-
orientierter Betrachtung interessant, Strategien und Instrumente zur Verbesserung des
Digitalniveaus der fünf Bausteine zu analysieren. Ansatzpunkte für eine solche eher in­
strumentelle Betrachtung könnte die Forschung zum Changemanagement, zur internen
Markenführung und zur Agilität liefern.

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Prof. Dr. Carsten Baumgarth  ist Professor für Markenführung an


der HWR Berlin und Adjunct-Prof. an der Ho-Chi-Minh-City Open
University (Vietnam). Er hat bislang mehr als 400 Publikationen u. a.
in den Zeitschriften Industrial Marketing Management, Journal of
Business Research, European Journal of Marketing, Journal of
­Product & Brand Management und International Journal of Arts
Management zu den Themen Markenführung, B2B-Marketing,
Nachhaltigkeitsmarketing, Kunst/Kultur & Marke und empirische
Methoden publiziert. Er gründete das Institut für Nachhaltigkeit
(2012) und den Expertenrats Technologiemarken (2015) mit. Seit
Juni 2020 betreibt er auf Instagram den Wissenschaftskanal
„Brückenbau Marke“.
244 C. Baumgarth und L. Binckebanck

Prof. Dr. Lars Binckebanck  leitet das Institut für nachhaltigen Ver-
triebserfolg der Lichtenberg-Forschungsgesellschaft. Er arbeitete in
leitender Funktion als Marktforscher, Unternehmensberater sowie
Vertriebstrainer, war als Geschäftsführer bei einem Münchener Bau-
träger für Verkauf und Marketing verantwortlich und zuletzt Vorstand
der Trägergesellschaft einer führenden privaten Hochschule. In bis-
lang über 120 Publikationen beschäftigte er sich mit aktuellen Frage-
stellungen aus Marketing und Vertrieb, so u. a. in den Herausgeber-
werken „Digitalisierung im Vertrieb“ (2016) und „Führung von
Vertriebsorganisationen“ (2. Aufl. 2020).
Digitalisierungs-induzierte Veränderungen
für die Geschäftsmodelle von 10
B2B-­Unternehmen
Ergebnisse einer Delphi-Studie

Alexander Brendel-Schauberger

Zusammenfassung

Die Digitalisierung bestimmt nicht nur zunehmend unseren privaten Alltag, sondern
führt auch zu weitreichenden Veränderungen für Unternehmen. Gerade Organisationen
aus dem Business-to-Business(B2B)-Bereich tun sich jedoch schwer, diese Ver-
änderungen proaktiv zu nützen und den Wert digitaler Technologien konsequent in
neue Geschäftsmodelle zu übersetzen. Ein Grund dafür liegt in der hohen Unsicherheit,
die B2B-Unternehmen mit Digitalisierungs-induzierten Veränderungen assoziieren.
Der vorliegende Beitrag zielt daher darauf ab, im Rahmen einer empirischen Del-
phi-Studie diese von der Digitalisierung ausgelösten Veränderungen für die Geschäfts-
modelle von B2B-Unternehmen umfassend zu identifizieren, zu systematisieren und zu
analysieren. Die Ergebnisse zeigen, dass die Digitalisierung vielfältige und weit-
reichende Veränderungen für die Geschäftsmodelle von B2B-Unternehmen auslösen
wird und sich diese daher ganzheitlich mit dem Thema auseinandersetzen müssen. Da-
rüber hinaus liefert der Beitrag Anknüpfungspunkte, mit denen B2B-Unternehmen ihre
spezifischen Geschäftsmodelle auf Basis der Digitalisierung weiterentwickeln oder
sogar innovieren können.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · B2B · Business to Business · Geschäftsmodell · Digitale


Transformation

A. Brendel-Schauberger (*)
University of Applied Sciences Upper Austria, School of Engineering, Wels, Austria
E-Mail: alexander.brendel-schauberger@fh-wels.at

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 245


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_10
246 A. Brendel-Schauberger

10.1 Einleitung

Digitale Technologien bestimmen in vielen Bereichen schon seit einigen Jahren unseren
Alltag. Der nahezu grenzenlose Einsatz von Computertechnik führt dazu, dass alle er-
denklichen Dinge und Systeme miteinander vernetzt sind und auch dementsprechend mit-
einander kommunizieren können (Hamidian & Kraijo, 2013, S. 9). Darüber hinaus haben
wir als Menschen dadurch permanenten und dezentralen Zugriff auf Informationen und
Services, was teilweise zu einer radikalen Veränderung vieler Lebensgewohnheiten führt
(Ternés et al., 2015, S. 10). Ein Ende dieses Trends ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht
absehbar – im Gegenteil: Experten rechnen damit, dass bis zum Jahr 2030 rund 75 Milliar-
den Geräte miteinander vernetzt sein werden (Mauchline et al., 2019), während neue digi-
tale Technologien und Trends wie künstliche Intelligenz, Quantencomputing oder Virtual
und Augmented Reality zu weiteren gravierenden Umbrüchen führen.
Diese Umwälzungen sind aber keineswegs rein auf den privaten Bereich beschränkt,
sondern betreffen auch Unternehmen und die Art und Weise, wie diese Wertschöpfung
betreiben. Dabei geht es aber nicht nur um den Einsatz von Technologie mit dem Ziel in-
krementeller Verbesserungen – vielmehr wird die Digitalisierung die fundamentalen Re-
geln verändern, wie das Zusammenspiel der Märkte samt ihren Playern funktioniert (Far-
rall et al., 2012, S. 6). Für die Unternehmen birgt die Digitalisierung damit einerseits ein
enorm großes Potenzial, gehen verschiedenste Schätzungen doch von einer deutlichen
Zunahme der globalen Wertschöpfung aus (z. B. Evans & Annunziata, 2012, S. 3; Bauer
et  al., 2014, S.  36). Auf der anderen Seite laufen die Unternehmen bei unzureichender
Auseinandersetzung mit dem Thema Gefahr, diese enormen Chancen zu verpassen. So
warnt beispielsweise Gartner (2013) davor, dass jedes vierte Unternehmen seine Markt-
position aufgrund digitaler Inkompetenz verlieren wird und Roland Berger (2015) weist
darauf hin, dass alleine die europäische Industrie rund 600 Milliarden Euro an Bruttowert-
schöpfung verlieren könnte, wenn sie die digitale Transformation verpasst.
Diese Prognose wiegt umso schwer, als dass gerade viele Business-to-Business
(B2B)-Unternehmen die Bedeutung der Digitalisierung lange Zeit unterschätzt haben.
Während viele Konsumgüterhersteller und Dienstleistungsbetriebe rasch auf den
Digitalisierungszug aufgesprungen sind, waren die meisten Unternehmen im B2B-Be-
reich lange zögerlich und haben sich nur wenig strukturiert mit dem Thema auseinander-
gesetzt (Industriemagazin, 2014; Staufen, 2015; VDMA, 2015). Dies äußert sich etwa
auch in einer verkürzten Sichtweise, da die überwiegende Mehrheit von B2B-Unter-
nehmen die Digitalisierung vornehmlich als Vehikel versteht, interne Prozessauto-
matisierung voranzutreiben und flexiblere Produktionstechniken einzuführen (Daugherty
et  al., 2014, S.  4), wenngleich die von der Digitalisierung ausgelösten Veränderungen
zweifelsohne weit über die Produktion hinausgehen (Roland Berger, 2015, S. 23). Gegen-
wärtig stattfindende Diskussionen rund um Themenkomplexe wie „Industrie 4.0“ und
„Smart Factory“ zeigen damit deutlich, dass die Beschäftigung mit der Digitalisierung
auch im B2B-Bereich dringend auf eine breitere Basis gestellt werden muss, um das volle
Potenzial ausschöpfen zu können (Werani et al., 2017, S. 260).
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 247

Denn wie namhafte Beispiele von höchst erfolgreichen Unternehmen wie Google,
Facebook, AirBnB oder Alibaba zeigen, liegt die große Chance der Digitalisierung weni-
ger in rein internen Optimierungen, als in einer radikalen Neudefinition wie Wert für den
Kunden geschaffen, an ihn vermittelt und vom Unternehmen kanalisiert werden kann. Mit
anderen Worten geht es im Kern also um die entscheidende Frage, wie die von der Digita-
lisierung ausgelösten Veränderungen proaktiv dazu nützen lassen, um das Geschäftsmodell
eines Unternehmens weiterzuentwickeln oder dies völlig neu zu gestalten (Caputo et al.,
2021, S. 490). Dazu ist es aber vorab notwendig, diese Veränderungen für die Geschäfts-
modelle von B2B-Unternehmen zu identifizieren, zu strukturieren und eingehend zu ana-
lysieren, was zugleich auch das Ziel des vorliegenden Beitrags ist.

10.2 Begrifflich-konzeptionelle Grundlagen

Um ein einheitliches Verständnis für die Themen Digitalisierung und Geschäftsmodell zu


gewährleisten, sollen deren Begriffe zunächst definiert und im Anschluss ihre für den Bei-
trag maßgeblichen Zusammenhänge beleuchtet werden.

10.2.1 Digitalisierung

Obwohl das Thema der Digitalisierung sowohl in der Wissenschaft, als auch in der Praxis
intensiv diskutiert wird, fehlt eine einheitliche Definition des Begriffs (Schallmo & Rus-
njak, 2017, S. 3; Caputo et al., 2021, S. 490). Aus einer rein technischen Perspektive kann
man darunter die Transformation kontinuierlicher Größen in abgestufte Werte als Binär-
code verstehen, vornehmlich mit dem Ziel, diese zu speichern oder elektronisch zu ver-
arbeiten (Hamidian & Kraijo, 2013, S.  5). Abgesehen von solchen sehr technisch ge-
prägten Abgrenzungen fehlt in der einschlägigen Literatur häufig überhaupt eine explizite
Definition, oft wird eine Begriffsbestimmung nur anhand konstituierender Charakteris-
tika wie der flächendeckenden Vernetzung von Geräten und Systemen, dem Einsatz
leistungsfähiger Informations- und Kommunikationstechnologie, der allgegenwärtigen
Informationsverfügbarkeit und -verarbeitung sowie der Verschmelzung der realen und
der digitalen Welt vorgenommen.
Hirsch-Kreinsen und ten Hompel (2017, S. 359 f.) gehen explizit einen Schritt weiter
und definieren die Digitalisierung als sozio-ökonomischen Prozess des Wandels ausgelöst
durch digitale Technologien und darauf aufbauender Anwendungssysteme. In mehreren
Wellen hat dieser Wandel bereits eine Vielzahl verschiedener Branchen erfasst und ist
gegenwärtig im Begriff, mit Bereichen wie Verkehr, Wohnen, Medizin und auch der indus-
triellen Produktion auf die Kernbereiche ökonomischer Aktivität überzugreifen, was hier
ebenfalls zu nicht abschätzbaren Umwälzungen führen wird.
Diese Umwälzungen mit entsprechenden Auswirkungen auf Unternehmen werden
häufig auch als digitale Transformation zusammengefasst. Darunter verstehen Warner und
248 A. Brendel-Schauberger

Wägner (2019, S. 329 f.) etwa die strategische Neuausrichtung einer Organisation durch
die Implementierung von Digitalisierungsprojekten mit dem Ziel, einen wesentlichen
Wettbewerbsvorteil zu erzielen. Damit einher geht für Unternehmen die dringende Not-
wendigkeit, sich neue digitale Fähigkeiten anzueignen, welche deutlich über die bis-
herigen Kompetenzen hinausgehen (Caputo et al., 2021, S. 490)

10.2.2 Geschäftsmodell

Ähnlich wie bei der Digitalisierung fehlt es auch beim Begriff Geschäftsmodell an einer
einheitlich akzeptieren Definition. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die wissen-
schaftliche Forschung zu dem Thema stark fragmentiert ist (Teece, 2010, S. 174) und sich
daher in den unterschiedlichsten Disziplinen verschiedene Standpunkte entwickelt haben,
was häufig zu Schwierigkeiten bei der Anwendung des Konzepts und seiner Abgrenzung
gegenüber verwandter Termini wie Strategie oder Unternehmensarchitektur führt (Morris
et al., 2005, S. 726; Coombes & Nicholson, 2013, S. 656).
Während sich die dominante Bedeutung des Begriffs im Lauf der Zeit stark verändert
hat (Ghaziani & Ventresca, 2005, S. 536), so begreift die neuere Managementliteratur das
Geschäftsmodell im Wesentlichen als die Grundlogik, nach der ein Unternehmen Wert
schafft, an seine Anspruchsgruppen vermittelt und einen Teil davon für sich selbst erfasst
(Chesbrough & Rosenblom, 2002; Teece, 2010; Bieger & Reinhold, 2011; Osterwalder &
Pigneur, 2011; Werani et al., 2016). Uneinigkeit herrscht jedoch hinsichtlich der zur Be-
schreibung eines Geschäftsmodells verwendeten Dimensionen (Werani et al., 2017) und
ganz allgemein unterscheiden sich die diesbezüglichen Ansätze auch markant in Bezug
auf ihren Detaillierungsgrad und ihre Komplexität (Bieger & Reinhold, 2011, S. 21).
Die Anzahl solcher Geschäftsmodell-Ansätze hat in den vergangenen Jahren enorm
zugenommen (Schallmo, 2012, S. 47), einer der in Wissenschaft und Praxis aber zweifels-
ohne bekannteste ist die sogenannte Business Model Canvas von Osterwalder und Pigneur
(2011). Sie definieren in ihrem Ansatz zur Beschreibung von Geschäftsmodellen neun
Dimensionen, welche sie zum Teil auch inhaltlich etwas ausführen und deren Beziehungen
untereinander erläutern. Werani et  al. (2016) greifen die Business Model Canvas von
Osterwalder und Pigneur (2011) nach einer Analyse mehrerer Konzepte auf, um daraus
einen eigenständigen Zugang basierend auf dem wertbasierten Marketingansatz von We-
rani (2012) zu entwickeln. Die daraus resultierende Revidierte Business Model Canvas
umfasst schließlich elf Dimensionen, die auch jeweils inhaltlich detailliert ausgeführt wer-
den (siehe Abb. 10.1).
Mithilfe dieser Revidierten Business Model Canvas von Werani et al. (2016) können
also Geschäftsmodell-Konfigurationen sowohl auf der strukturellen Ebene der Dimensio-
nen, als auch deren konkrete Inhalte beschrieben und analysiert werden. Die Beschreibung
bestehender Konfigurationen dient dazu, ein besseres Verständnis dafür zu erlangen und
Anknüpfungspunkte für die kontinuierliche Weiterentwicklung des Geschäftsmodells zu
identifizieren. Darüber hinaus können aber auch völlig neue, vom Unternehmen an-
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 249

Abb. 10.1  Revidierte Business Model Canvas. (Quelle: in Anlehnung an Osterwalder und Pigneur
(2011, S. 48))

gestrebte Konfigurationen im Sinne einer Geschäftsmodell-Innovation skizziert und des-


sen Umsetzung strukturiert-analytisch geplant werden.

10.2.3 Zusammenhänge

Wie bereits zuvor ausgeführt, sind offenkundig jene Unternehmen besonders erfolgreich,
welche die Digitalisierung als Enabler für neue Geschäftsmodelle begreifen. Denn Techno-
logien alleine besitzen für ein Unternehmen lediglich einen latenten Wert – erst die Über-
setzung in ein richtig konfiguriertes Geschäftsmodell erlaubt auch eine Abschöpfung dieses
Werts am Markt (Björkdahl, 2009, S. 1470; Teece, 2010, S. 172). Es ist also das Geschäfts-
modell, welches die Kanalisierung neuer Ideen auf Basis (digitaler) Technologien erlaubt.
Das Geschäftsmodell einer Organisation kann also sinngemäß als Mediator zwischen einer
(digitalen) Technologie und ihrem ökonomischen Wert – oder noch präziser als Schlüssel zum
Digitalisierungserfolg – verstanden werden. Doch genau darin liegt häufig die Schwierigkeit
für viele Unternehmen, da sie neue Technologien in der Regel üblicherweise sehr gut inte­
grieren, während sie die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle oft vernachlässigen (Björk-
dahl, 2009, S. 1476). Chesbrough (2010) weist explizit darauf hin, dass Unternehmen, die
nicht rechtzeitig mit der Übersetzung neuer Technologien in innovative Geschäftsmodelle
experimentieren, langfristig Gefahr laufen, später massive Probleme zu bekommen oder im
schlimmsten Fall überhaupt völlig vom Markt zu verschwinden. Prominente und oft zitierte
Beispiele wie Blockbuster, Nokia oder Kodak untermauern diese Warnung.
250 A. Brendel-Schauberger

Ein Grund für die unzureichende Beschäftigung von B2B-Unternehmen mit der Weiter-
entwicklung bzw. Innovation von Geschäftsmodellen im Kontext der Digitalisierung liegt
zweifelsohne in den von ihr ausgelösten weitreichenden Veränderungen und revolutionä-
ren Folgen (Hirsch-Kreinsen & ten Hompel, 2017, S. 359 f.). Sowohl die technologische
Unsicherheit, als auch die Marktunsicherheit spielt in dem Zusammenhang eine große
Rolle und führt dazu, dass ein Set an möglichen neuen Geschäftsmodellen im Kontext der
Digitalisierung für ein Unternehmen nicht ohne weiteres absehbar ist (Chesbrough &
Rosenblom, 2002, S. 530).
Dabei bietet die Digitalisierung ein kaum dagewesenes, transformatives Potenzial für
Unternehmen, völlig neue Geschäftsmodelle zu entwickeln (Caputo et al., 2021, S. 490).
Um dieses Potenzial entsprechend abschöpfen zu können, müssen B2B-Unternehmen
aber zunächst verstehen, welche konkreten Veränderungen die Digitalisierung für ihre Ge-
schäftsmodelle anstoßen wird, um darauf aufbauend proaktiv Innovationen voranzutreiben.

10.3 Empirische Untersuchung

Um nun beurteilen zu können, welche Veränderungen die Digitalisierung für die Ge-
schäftsmodelle von B2B-Unternehmen mit sich bringen wird, wurde eine empirische
Untersuchung durchgeführt. Im Folgenden wird zunächst auf das Outline dieser Erhebung
eingegangen, bevor ihre Ergebnisse eingehend diskutiert und analysiert werden.

10.3.1 Outline

Im Kern der empirischen Untersuchung steht die Frage, welche potenziellen Ver-
änderungen die Digitalisierung für die Geschäftsmodelle von B2B-Unternehmen auslösen
wird. Deshalb gilt es in einem ersten Schritt diese Veränderungen zunächst auf breiter
Basis zu identifizieren, bevor sie in einem zweiten Schritt anhand des Geschäfts-
modells-Ansatzes von Werani et al. (2016) strukturiert und systematisiert werden. Diese
beiden aufeinander aufbauenden Schritte in der Untersuchung sprechen für ein mehr-
stufiges Untersuchungsverfahren.
Dementsprechend fiel die Wahl auf eine Delphi-Studie, worunter man eine Befragung
von Experten in mehreren Stufen zu einem bestimmten Thema mit Rückkopplungs-
schleifen versteht (Vorgrimler & Wübben, 2003, S. 763), welches typischerweise bei un-
sicheren Phänomenen oder unvollständigem Wissen angewendet wird (Paetz et al., 2011,
S. 61). Delphi-Befragungen unterliegen einer hohen methodischen Freiheit (Häder, 2014,
S. 30) und können je nach Fragestellung und Zielsetzung vom Anwender angepasst wer-
den (Hesse et al., 2009, S. 5).
Typisch für Delphi-Befragungen sind jedenfalls die Verwendung formalisierter Er-
hebungsinstrumente über die einzelnen Erhebungsstufen (Häder, 2014, S. 118 ff.), die Be-
fragung von Personen mit Expertise in der Forschungsfrage (Vorgrimler & Wübben, 2003,
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 251

S. 765), die Aggregation der Einzelantworten zu einer Gruppenantwort (Hesse et al., 2009,
S.  6), das Feedback an die Teilnehmer betreffend dieser Gruppenantwort (Paetz et  al.,
2011, S. 65) sowie die (mehrfache) Wiederholung der Befragung nach der bestehenden
Vorgehensweise, bis die Forschungsfrage eingehend beantwortet ist (Hesse et  al.,
2009, S. 6).
Im vorliegenden Fall wurde eine zweistufige Delphi-Befragung mit elf Digitalisierungs-
experten aus der Wissenschaft und der unternehmerischen Praxis konzipiert. Für die erste
Delphi-Runde wurde in Anlehnung an Bortz und Döring (2006) qualitative Leitfadeninter-
views mit dem Ziel geführt, möglichst viele Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für
B2B-Geschäftsmodelle zu identifizieren. Die Interviews wurden transkribiert und in An-
lehnung an Mayring (2015) mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet, deren
Ergebnisse den Experten als Feedback rückgespiegelt wurden. Für die Strukturierung der
Veränderungen in der zweiten Delphi-Runde wurde schließlich ein quantitativer Frage-
bogen erstellt, bei dem die Experten über Rating-Skalen beurteilen sollten, in welchen
Geschäftsmodell-Dimensionen im Ansatz von Werani et  al. (2016) die in Runde eins
identifizierten Veränderungen eine besonders große Rolle spielen werden. Abschließend
wurden den Experten auch noch die vorläufigen Gesamtergebnisse der Delphi-Befragung
übermittelt und neuerdings um inhaltliches Feedback gebeten, welches wiederum in die
finalen Ergebnisse eingeflossen ist.

10.3.2 Ergebnisse der ersten Delphi-Runde

In der ersten Befragungsrunde konnten 25 durch die Digitalisierung ausgelöste Ver-


änderungen für B2B-Geschäftsmodelle identifiziert werden, die in Tab.  10.1 ersichtlich
sind. Die Häufigkeit bezeichnet dabei die Anzahl der Nennungen, die insgesamt auf eine
bestimmte Veränderung über alle Interviews entfiel. Dazu sei festgehalten, dass gewisse
Veränderungen häufig im Kontext unterschiedlicher Aspekte genannt wurden.1 Um eine
Verzerrung der Ergebnisse zu vermeiden, wurden Mehrfachnennungen der einzelnen Ver-
änderungen zu ein und demselben Aspekt aber immer nur einmal gezählt. Die Spalte %
Häufigkeit zeigt, wie groß der Anteil dieser Nennungen an den gesamten Nennungen über
alle Veränderungen und alle Interviews ist. Die kumulierte Häufigkeit beschreibt die
Summe der Veränderungen bis zur jeweils betrachteten Veränderung. Schließlich gibt die
Spalte % genannt von noch darüber Auskunft, welcher Anteil der elf Experten die jewei-
lige Veränderung in den Interviews genannt hat.
Neben der Identifikation dieser Digitalisierungs-induzierten Veränderungen und der
Analyse deren Häufigkeiten wurden diese auch noch inhaltlich in detaillierter Art und

1
 Zum Beispiel kann die „zunehmende Bedeutung von Big Data und Analytics“ einerseits die daten-
basierte Optimierung von internen Prozessen, andererseits aber auch die Rückführung von an-
wendungsbezogenen Daten von Produkten aus dem Feld im Rahmen des Produktentwicklungs-
prozesses bedeuten.
252 A. Brendel-Schauberger

Tab. 10.1  Ergebnisse der ersten Delphi-Runde


%
Digitalisierungs-induzierte % Kum. genannt
Nr. Veränderungen Häufigkeit Häufigkeit Häufigkeit von
1 Zunehmende Bedeutung von Big Data 47 19,8 % 19,8 % 100 %
und Analytics
2 Entstehen von 18 7,6 % 27,4 % 100 %
Wertschöpfungsnetzwerken und
Plattformen
3 Steigende Bedeutung von 16 6,8 % 34,2 % 100 %
Dienstleistungen und hybriden Produkten
4 Durchdringung der Produkte mit 14 5,9 % 40,1 % 100 %
Intelligenz
5 Stärkere Lösungs- und 13 5,5 % 45,6 % 64 %
Bedürfnisorientierung
6 Gesteigerte Offenheit und Transparenz 13 5,5 % 51,1 % 73 %
7 Neue Formen der Wertabschöpfung 12 5,1 % 56,1 % 73 %
8 Neue Formen der Betreuung von und 12 5,1 % 61,2 % 64 %
Kommunikation mit dem Kunden
9 Bessere Möglichkeiten der Vorausschau 10 4,2 % 65,4 % 55 %
(Predictive Analytics)
10 Notwendigkeit neuer Partnerschaften 10 4,2 % 69,6 % 64 %
11 Zunehmende Leistungs-­ 9 3,8 % 73,4 % 55 %
Individualisierung
12 Stärkere Integration von Kunden und 8 3,4 % 76,8 % 64 %
Partnern in die Wertschöpfung
13 Engere Beziehungen zu Kunden und 8 3,4 % 80,2 % 45 %
Lieferanten
14 Stärkere Automatisierung über die 7 3,0 % 83,1 % 45 %
gesamte Wertschöpfung
15 Zunehmende Flexibilisierung 7 3,0 % 86,1 % 45 %
16 Verstärkte Zusammenarbeit mit der 7 3,0 % 89,0 % 64 %
Konkurrenz (Coopetition)
17 Notwendigkeit eines höheren 5 2,1 % 91,1 % 36 %
Vertrauenslevels in Partnerschaften
18 Notwendigkeit zum Ausbau von 5 2,1 % 93,2 % 45 %
Datenschutz und Sicherheit
19 Kürzere Innovationszyklen und 4 1,7 % 94,9 % 36 %
Markteinführungszeiten
20 Zunahme von Vertriebskanälen 3 1,3 % 96,2 % 27 %
21 Zunehmende Komplexität und Dynamik 3 1,3 % 97,5 % 18 %
22 Möglichkeit neue Kundengruppen 2 0,8 % 98,3 % 18 %
anzusprechen
23 Steigender Wettbewerb 2 0,8 % 99,2 % 18 %
24 Stärkere Dezentralisierung 1 0,4 % 99,6 % 9 %
25 Wachsende Produkt-Vielfalt 1 0,4 % 100,0 % 9 %
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 253

Weise beschrieben. Dazu wurden die Inhalte der einzelnen Interviews zu den jeweiligen
Veränderungen gegenübergestellt, analysiert und die Informationen der Experten mit dem
folgenden Ergebnis aggregiert:

Zunehmende Bedeutung von Big Data und Analytics


Daten werden künftig eine der wichtigsten Schlüsselressourcen für Industriegüterunter-
nehmen im Kontext der Digitalisierung sein. Viel entscheidender ist aber die entsprechende
Analysekompetenz, um die Daten auch gewinnbringend einsetzen zu können. Dabei geht
es einerseits etwa um die Analyse von Kundendaten und Daten aus deren Produktver-
wendung zur Optimierung des Innovationsprozesses von Industriegüterunternehmen.
Über entsprechende Technologien können Industriegüterunternehmen auch nach der Aus-
lieferung eines Produkts an den Kunden damit in Verbindung bleiben, seinen Zustand
überwachen und bei drohenden Problemen bzw. Ausfällen präventiv eingreifen. Dies wird
auch unter den Schlagworten „Preventive Maintenance“ bzw. „Predictive Maintenance“
zusammengefasst.

Diese Sammlung und Nutzung von Daten aus der Produktverwendung wird häufig die
Basis für zusätzliche (digitale) Services bis hin zu neuen Geschäftsmodellen werden, etwa
vom Verkauf einer Anlage über Pay-Per-Use-Systeme bis hin zu Betreibermodellen. Ins-
gesamt geht es bei der Nutzung kundenseitiger Daten darum, die Bedürfnisse und Er-
wartungen von Kunden an die Produkte und Services von Industriegüterunternehmen bes-
ser evaluieren und im Idealfall sogar antizipieren zu können.
Neben der Sammlung und Auswertung von kundenseitigen Daten spielen im Industrie-
güterbereich selbstverständlich auch die Daten aus den Schlüsselaktivitäten (Einkauf, Pro-
duktion und Logistik) eines Unternehmens eine zentrale Rolle. Im Kern geht es hier im
Rahmen von Industrie 4.0 um die Etablierung einer Smart Factory, wo über durchgängig
digitalisierte Prozesse eine intelligente Fertigung etabliert wird, die ein Optimum an Kos-
ten, Qualität und Durchlaufzeit erreicht.
Um all dies erreichen zu können, ist ein durchgängiger Datenfluss über die gesamte
Wertschöpfung eines Industriegüterunternehmens und darüber hinaus mit Lieferanten,
Kunden und sonstigen Partnern sicherzustellen. Das wiederum erfordert ein hohes Maß an
Offenheit und Vertrauen, aber auch an Datenschutz und Sicherheit.

Entstehen von Wertschöpfungsnetzwerken und Plattformen


Industriegüterunternehmen werden künftig zunehmend in Wertschöpfungsnetzwerke mit
unterschiedlichen Partnern eingebunden sein, mit denen gemeinsam die optimalen Leis-
tungen für den Kunden realisiert werden sollen. Dabei werden auch im Industriegüter-
bereich zunehmend digitale Plattformen entstehen, die Käufer und Verkäufer im Sinne
eines zweiseitigen Marktes zusammenbringen (wie etwa die Plattformen Amazon oder
eBay im B2C-Bereich).

Entscheidend für den Erfolg in Zukunft wird sein, wer diese Plattformen initiiert und
beherrscht, da in Zukunft ein wesentlicher Anteil des Geschäfts darüber abgewickelt wer-
254 A. Brendel-Schauberger

den könnte. Industriegüterunternehmen sollten ihre diesbezüglichen Möglichkeiten dem-


nach ganz genau prüfen, damit sie nicht von branchenfremden Unternehmen und deren
Plattformen entweder verdrängt oder zum bloßen Zulieferer degradiert werden.

Steigende Bedeutung von Dienstleistungen und hybriden Produkten


Das Anbieten physischer Produkte alleine wird für Industriegüterunternehmen künftig
vielfach nicht mehr ausreichen. (Digitale) Dienstleistungen werden viel stärker in das
Zentrum des Leistungsangebots rücken und können unter Umständen sogar zur Haupt-
leistung werden, etwa in einem reinen Betreibermodell. Wesentlich dabei ist durch das
Zusammenspiel von Produkten und Dienstleistungen insgesamt den Nutzen für den Kun-
den in den Vordergrund zu stellen. Digitale Dienstleistungen bieten im Industriegüter-
bereich damit zunehmend eine Möglichkeit, sich vom Wettbewerb zu differenzieren. Wie
bereits weiter oben angesprochen, sind die Sammlung und Nutzung von kundenseitigen
Daten oftmals eine zentrale Voraussetzung, um zielgerichtete Dienstleistungen für den
Kunden anbieten zu können.

Durchdringung der Produkte mit Intelligenz


Physische Industriegüter werden zunehmend mit Sensorik und Aktorik ausgestattet, um
ihnen zusätzliche Funktionalitäten zu verleihen. Dadurch sind sie einerseits in der Lage,
umfassende Informationen über ihre Verwendung und ihren Zustand zu sammeln und jeder-
zeit sowohl an den Verwender, als auch an den Hersteller zu melden. Diese Sensorik und
die Vernetzung der Produkte mit dem Internet oder anderen Netzen ist also Voraussetzung
dafür, dass Produktverwendungsdaten wieder an den Hersteller rückgeführt werden können.

Darüber hinaus können die Produkte auf Basis von gesammelten Informationen und
über zuvor festgelegte Kriterien selbst tätig werden. Die Bandbreite reicht dabei davon,
dass das Produkt selbst in einer bestimmten Situation einen Alert setzt, indem etwa die
Notwendigkeit einer Wartung proaktiv angezeigt wird, bis hin zu selbständigen Aktionen
des Produkts (z. B. selbständige Initiierung einer Wartungssequenz ohne Zutun des Be-
dienpersonals).

Stärkere Lösungs- und Bedürfnisorientierung


Industriegüterhersteller sind zunehmend gefordert, ihre Leistungen noch stärker an den
individuellen Bedürfnissen ihrer Kunden auszurichten und damit Lösungen zu erzeugen.
Eine entscheidende Rolle wird dabei spielen, latente Bedürfnisse des Kunden bereits früh-
zeitig zu antizipieren, also noch bevor er ein spezifisches Bedürfnis explizit formuliert hat.

Genau in diesem Zusammenhang spielt die Rückführung von Daten aus der Produkt-
verwendung eine zentrale Rolle. Sobald das Industriegüterunternehmen von einer Flotte
an Produkten um deren Verwendung genau Bescheid weiß, können einerseits im Rahmen
des Innovationsprozesses die physischen Produkte noch weiter verbessert werden. Auf der
anderen Seite ergibt sich auf Basis dieser Daten aber auch die Entwicklung zielgenauer
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 255

Dienstleistungen für den Kunden. Insgesamt können durch diese maßgeschneiderten Lö-
sungen, deren wesentlicher die Digitalisierung ist, die Bedürfnisse der Kunden viel besser
befriedigt werden.

Gesteigerte Offenheit und Transparenz


Industriegüterunternehmen werden sich gegenüber ihren Partnern im Wertschöpfungs-
netzwerk tendenziell mehr öffnen müssen, vor allem in Punkto Austausch von Daten. Die
zunehmende Verzahnung der IT-Systeme führt ebenfalls dazu, dass eine gesteigerte Offen-
heit notwendig wird. Dabei ist es essenziell, dass beide Seiten, die sich miteinander ver-
netzen, einen Benefit sehen, der die potenziellen Risiken aufwiegt. Willigt ein Kunde bei-
spielsweise ein, die Daten aus der Verwendung der Produkte eines Herstellers (und
eventuell sogar weitere Prozessdaten) an diesen weiterzugeben, so muss er auch mit ver-
besserten Produkten und Leistungen und insgesamt mit einer zielgerichteten Bedürfnis-
befriedigung rechnen können. Der Hersteller wiederum kann seine Produkte weiter opti-
mieren und ohne Streuverluste an die richtigen Kunden mit den richtigen Angeboten
herantreten. Ohnehin nimmt die Transparenz am Markt aufgrund der digital verfügbaren
Informationen weiter zu und die Unternehmen sollten mit dieser Tatsache proaktiv um-
gehen. Kunden und Lieferanten eines Unternehmens sind etwa immer besser über dessen
Produkte, Prozesse oder Kosten informiert.

Zunehmende Leistungs-Individualisierung
Aufgrund der neuen technologischen Möglichkeiten können Produkte trotz Herstellung in
großen Stückzahlen stark auf individuelle Kundenbedürfnisse ausgerichtet werden. In der
Endausbaustufe entspricht das der Vision der sogenannten „Losgröße 1 zu Kosten der
Massenproduktion“, die in einer Smart Factory realisiert werden kann. Das Produkt ist
dabei vollständig individualisiert, verursacht in der Fertigung aber dieselben Kosten, als
würde es in großen Stückzahlen hergestellt werden.

Die zentrale Voraussetzung dafür ist einmal mehr, dass Industriegüterunternehmen ver-
stärkt und umfassend kundenseitige Daten sammeln und analysieren. Nur wenn Präferen-
zen und Nutzung hinsichtlich der Leistungen des Anbieters bekannt sind, können diese
auch in individuelle Angebote übersetzt werden.

Neue Formen der Wertabschöpfung


Industriegüterunternehmen werden in Zukunft auch in der Lage sein, Wert über neue
Mechanismen und Modelle abzuschöpfen. Eine wichtige Rolle werden dabei Modelle wie
Pay-Per-Use, Pay-Per-Result oder überhaupt Betreibermodelle spielen. Auch wenn viele
dieser Modelle in der Theorie bereits seit einiger Zeit bekannt sind, bietet die Digitalisie-
rung nun erstmals die notwendigen technologischen Möglichkeiten, diese auch sinnvoll
umzusetzen. Pay-Per-Use- oder Pay-Per-Result-Modelle setzen zwingend voraus, dass der
Anbieter in irgendeiner Weise objektiv nachvollziehen kann, wie häufig bzw. mit welchem
Ergebnis seine Produkte und Leistungen genutzt werden, da dies als Basis für die Ver-
256 A. Brendel-Schauberger

gütung dient. Entsprechende Sensorik oder anderweitige Technologie in den Produkten


ermöglicht es etwa zu tracken, wann ein Produkt genutzt wird oder welcher Output damit
produziert wurde. Preise können damit auch im Industriegüterbereich in Zukunft noch viel
kundenindividueller gebildet werden.

Es ist zudem denkbar, dass Daten in Zukunft als eine Art „Währung“ fungieren, mit der
bestimmte Leistungen abgegolten werden. Dabei bezahlt der Kunde zum Beispiel für eine
Anlage weniger Geld, liefert dem Hersteller aber all seine Produktionsdaten, die dieser
wiederum für seine Zwecke nutzen kann.

Bessere Möglichkeiten der Vorausschau (Predictive Analytics)


Big Data, Analytics und intelligente Algorithmen können Industriegüterunternehmen in
die Lage versetzen, einen Blick in zukünftige Entwicklungen zu werfen, um diesen pro-
aktiv begegnen zu können. Über den Einsatz entsprechender technologischer Möglich-
keiten können somit etwa Bedarfe von Kunden bereits frühzeitig prognostiziert und auf
dieser Basis passende Angebote geschnürt werden.

Ein großes Thema in diesem Zusammenhang ist die Zustandsüberwachung von im Feld
befindlichen, vernetzten Produkten in Echtzeit und das frühzeitige Erkennen und Ver-
hindern von Störungen (Predictive und Preventive Maintenance) sowie deren generelle,
permanente Optimierung.

Neue Formen der Betreuung von und Kommunikation mit dem Kunden
Es werden künftig verstärkt digitale Kanäle genutzt, um den Kunden zu betreuen (z. B. di-
gitale Kundenplattformen) und mit ihm zu kommunizieren. Die persönliche, individuelle
Betreuung, etwa über ein Key Account Management wird aber nach wie vor die zentrale
Rolle im Industriegüterbereich spielen und lässt sich in absehbarer Zeit nicht vollständig
durch digitale Kanäle ersetzen. Dennoch ermöglicht die große Vielfalt an verfügbaren di-
gitalen Informationen über den Kunden eine noch zielgerichtetere, individualisierte
Ansprache.

Auch der Einsatz von Social Media wird in Industriegüterunternehmen in Zukunft eine
noch stärkere Bedeutung bekommen. Darüber hinaus ist denkbar, dass es in Produkten
selbst integrierte Kommunikationsschnittstellen gibt. Als Beispiel sei hier eine Maschine
genannt, über deren Schnittstelle der Anwender unmittelbar mit dem Hersteller in Kontakt
treten und Bestellungen auslösen oder anderweitige Anfragen stellen kann.

Notwendigkeit neuer Partnerschaften


Industriegüterunternehmen werden neue Schlüsselpartner brauchen, um vor dem Hinter-
grund der Digitalisierung auch im Wettbewerb der Zukunft bestehen zu können. Eine zen-
trale Rolle wird dabei IT-, Big-Data- und Analytics-Unternehmen sowie Plattform-
betreibern und Technologielieferanten zukommen. Im Kern geht es darum, dass das
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 257

anbietende Unternehmen seine Partner in einer Art und Weise mit seiner eigenen Wert-
schöpfung ­verzahnt, damit für seine Kunden und sich selbst ein Maximum an Wert ge-
schaffen werden kann.

Stärkere Integration von Kunden und Partnern in die eigene Wertschöpfung


Digitale Technologien bieten zunehmend die Möglichkeit für Industriegüterunternehmen,
ihre Kunden und Partner noch stärker in die eigene Wertschöpfung zu integrieren. Das
kann auf der einen Seite mit digitalen Innovationsplattformen in der Phase der Produkt-
idee bzw. Produktentwicklung starten. Auf der anderen Seite können Kunden und Partner
aber auch erst später in den Wertschöpfungsprozess eingebunden werden, zum Beispiel
über digitale Baukastensysteme, über die sich der Kunde sein Produkt in der Fertigung
individuell zusammenstellen kann.

Stärkere Automatisierung über die gesamte Wertschöpfung


Die technologischen Möglichkeiten der Digitalisierung führen zu einer weiter fort-
schreitenden Automatisierung vor allem in den operativen Bereichen Produktion (Stichwort
„Smart Factory“) und Logistik (z. B. fahrerlose Transportsysteme). In dem Zusammenhang
spielen vor allem CPS, Embedded Software und Sensorik/Aktorik eine bedeutende Rolle.

Bisher manuell ausgeführte Tätigkeiten werden aber auch abseits von Produktion und
Logistik eine zunehmende Automatisierung erfahren. So kann etwa in vielen Bereichen
die Beschaffung über digitale Einkaufs- und Lieferantenplattformen oder Online Aus-
schreibungen und Auktionen vollständig automatisiert werden. Auf der anderen Seite gibt
es auch im Marketing vor allem im B2C-Bereich bereits Ansätze, viele Tätigkeiten zu
automatisieren. So können etwa auf Basis von vordefinierten Parametern (z.  B.  Kunde
installiert eine gekaufte Maschine und verbindet diese mit dem Internet) bestimmte
Marketing-­Aktionen gesetzt werden (z.  B.  Angebot für einen Servicevertrag), was sich
unter dem Begriff Automated Marketing zusammenfassen lässt.

Zunehmende Flexibilisierung
Vor allem in der Produktion müssen Industriegüterunternehmen künftig noch viel schnel-
ler und flexibler auf sich ändernde Bedingungen und Kundenbedürfnisse reagieren kön-
nen. Voraussetzung dafür sind wiederum die intelligente Vernetzung und Automatisierung
von Maschinen und Systemen

Engere Beziehung zu Kunden und Lieferanten


Die Beziehung zwischen Industriegüterunternehmen und seinen Kunden und Lieferanten
wird aufgrund der zunehmenden digitalen Vernetzung vielfach noch enger und partner-
schaftlicher werden. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Kunden über zahlreiche
digitale Kanäle zu jeder Zeit mit dem Anbieter verbunden sind und mit ihm Kontakt auf-
nehmen können. Industriegüterunternehmen sind dabei gefordert, die Schnittstellen zu
harmonisieren und diese Kanäle und digitalen Touchpoints bestmöglich zu gestalten.
258 A. Brendel-Schauberger

Notwendigkeit zu einem höheren Vertrauenslevel in Partnerschaften


Aufgrund der zunehmenden Vernetzung, engeren Beziehungen und des Austauschs von
teils sensiblen Daten muss auch das Vertrauenslevel in Partnerschaften ausgebaut werden.
Wie bereits weiter oben erwähnt, ist es wichtig, dass beide Seiten einen Benefit in der
gegenseitigen Vernetzung sehen. Zum anderen können klar gestaltete Verträge ebenfalls
zu einem höheren Vertrauenslevel trotz Vernetzung und Austausch von heiklen Daten
beitragen.

Verstärkte Zusammenarbeit mit der Konkurrenz (Coopetition)


Industriegüterunternehmen werden künftig verstärkt mit ihren Konkurrenten zusammen-
arbeiten (müssen), um Vorhaben von gemeinsamem Interesse realisieren zu können. Ein
Beispiel hierfür könnte die gemeinsame Setzung von Standards oder die Weiterentwicklung
einer bestimmten Technologie sein. Industriegüterunternehmen aus derselben Branche
könnten unter Umständen aber auch einen Nutzen darin sehen, gemeinsam eine digitale
Plattform zu entwickeln und zu platzieren, um nicht von einem Unternehmen von außer-
halb der Branche überholt zu werden.

Notwendigkeit zum Ausbau von Datenschutz und Sicherheit


Trotz aller Notwendigkeit zur Öffnung, Vernetzung und Transparenz müssen Industrie-
güterunternehmen sicherstellen, dass ihre sensiblen Daten ausreichend geschützt sind. Es
empfiehlt sich in dem Zusammenhang die strategische Bewertung der Datenbestände und
Entscheidung darüber, welche mit Partnern geteilt werden können und welche unter allen
Umständen geschützt werden müssen.

Kürzere Innovationszyklen und Markteinführungszeiten


Der Prozess der Produkt- und Dienstleistungsentwicklung von der ersten Idee bis zur
Markteinführung wird wesentlich kürzer werden. Ein Grund dafür liegt am Beginn der
Wertschöpfungskette, indem Ideen für Leistungen etwa über digitale Innovationsplatt-
formen und Communities einfacher identifiziert und ins Unternehmen getragen und über
digitale Entwicklungstools (z. B. Rapid Prototyping) umgesetzt werden können. Der Ein-
satz von digitalen Technologien in den Schlüsselaktivitäten des Unternehmens sorgt
schließlich dafür, dass Produkte schneller am Markt platziert werden.

Möglichkeit neue Kundengruppen anzusprechen


Industriegüterunternehmen haben künftig auch die Möglichkeit, mit neuen (digitalen)
Leistungen neue Kunden und Bedürfnisgruppen anzusprechen, wodurch sich die Kunden-
struktur und der Fokus unter Umständen dramatisch verändern können. So spricht ein
Turbinenhersteller, der seine Turbinen künftig „as a Service“ anbietet, etwa plötzlich die
Airline mit seiner Dienstleistung und nicht mehr den Flugzeughersteller mit seinem reinen
Produkt an. Das hat natürlich weitreichende Konsequenzen auf viele Bereiche eines Unter-
nehmens, vor allem in Marketing und Vertrieb.
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 259

Steigender Wettbewerb
Was bereits auf B2C-Märkten seit längerer Zeit passiert, findet nun auch allmählich auf
Industriegütermärkten statt. Durch die Digitalisierung dringen zunehmend neue Wett-
bewerber in Branchen, in denen sie zunächst völlig fremd sind. Dabei müssen diese Unter-
nehmen gar nicht notwendigerweise selbst produzieren, sondern können als Vermittler von
Leistungen agieren (z. B. als Plattformbetreiber).

Zunahme von Vertriebskanälen


Mit der Digitalisierung sind gerade im B2C-Bereich eine ganze Reihe von neuen Ver-
triebs- und Absatzkanälen entstanden. Vor allem E- und M-Commerce werden künftig
auch im Industriegüterbereich als Vertriebskanäle eine gesteigerte Rolle spielen

Zunehmende Komplexität und Dynamik


Insgesamt führen die Digitalisierung und vor allem die von ihr ausgelöste schiere Flut an
Daten und neuen Technologien zu wesentlich mehr Komplexität und Dynamik in allen
Bereichen. Auf der anderen Seite können genau diese Technologien aber auch dazu ein-
gesetzt werden, diese Komplexität zu reduzieren und zu beherrschen. So können über
entsprechende Algorithmen und Big Data Anwendungen riesige Datenmengen erfasst und
konkrete Schlüsse daraus gezogen werden.

Stärkere Dezentralisierung
Prozesse unterliegen künftig vor allem in den Schlüsselaktivitäten (Einkauf, Produktion,
Logistik) zunehmend einer dezentralen Selbstorganisation. Das bedeutet, es werden von
einer zentralen Stelle lediglich Rahmenbedingungen vorgegeben, innerhalb derer Men-
schen, Objekte und Systeme dezentral und flexibel Entscheidungen treffen können.

Wachsende Produkt-Vielfalt
Neben der zunehmenden Individualisierung von Produkten wird auch die Vielfalt an Mo-
dellen und Varianten weiter zunehmen. Dies hängt wiederum mit der Möglichkeit zu-
sammen, über den Einsatz digitaler Technologien auf die Bedürfnisse von einzelnen Kun-
den einzugehen.

10.3.3 Ergebnisse der zweiten Delphi-Runde

Die in Abschn. 10.3.2 vorgestellten Digitalisierungs-induzierten Veränderungen sollten in


der zweiten Delphi-Runde nun entsprechend systematisiert und strukturiert werden. Des-
halb wurden diese Veränderungen von den Experten danach beurteilt, welche Rolle sie
innerhalb der elf Geschäftsmodell-Dimensionen von Werani et al. (2016) spielen werden.
Dazu wurde ein entsprechender Fragebogen erstellt, in dessen Rahmen die Experten die
Rolle der jeweiligen Veränderungen für die einzelnen Geschäftsmodell-Dimensionen auf
einer Skala von 1 für „sehr geringe Rolle“ bis 5 für „sehr große Rolle“ beurteilten.
260 A. Brendel-Schauberger

Die Ergebnisse der zweiten Delphi-Runde werden nun der Reihe nach für die einzelnen
Geschäftsmodell-Dimensionen präsentiert. Zunächst verdeutlicht jeweils eine Abbildung,
welche Veränderungen in der betreffenden Dimension eine besonders große Rolle zu-
kommen wird, indem ihr Mittelwert über dem Median aller Mittelwerte in der jeweiligen
Dimension liegt. Zusätzlich wurden noch einmal die inhaltlichen Beschreibungen der
einzelnen Veränderungen aus den qualitativen Interviews betrachtet und analysiert, welche
von den Experten genannten Aspekte einzelnen Geschäftsmodell-Dimensionen zuorden-
bar sind. Damit konnten die einzelnen Veränderungen noch einmal im Kontext der ver-
schiedenen Geschäftsmodell-Dimensionen beschrieben werden, für die sie eine besonders
große Rolle spielen. Insgesamt entsteht somit ein sehr detailliertes Bild davon, wie sich
die Digitalisierung in den einzelnen Dimensionen und damit in Summe auf B2B-­
Geschäftsmodelle auswirkt und welche Aspekte dabei jeweils eine besonders große Rolle
spielen werden.

Management von Kundennutzen


Big Data und Analytics werden künftig eine wichtige Voraussetzung sein, um Kunden-­
Bedürfnisse besser zu verstehen bzw. idealerweise gleich zu antizipieren. Die Rück-
führung von Produktverwendungsdaten aus dem Feld direkt vom Kunden optimiert dabei
den Innovationsprozess im anbietenden Unternehmen und dient auch als Basis für digitale
Services. Der Kernnutzen für den Kunden wird in vielen Bereichen künftig nicht mehr im
Produkt selbst, sondern in zunehmend digitalen Dienstleistungen liegen. In dem Zu-
sammenhang sind Unternehmen gefordert, ihre Leistungen insgesamt noch stärker an den
individuellen Bedürfnissen der Kunden auszurichten und damit Lösungen für sie zu er-
zeugen. Die Ausstattung von Industriegütern mit Sensorik und Aktorik führt darüber hi­
naus dazu, dass diese in der Lage sind, auf Basis von gesammelten Informationen und
über zuvor festgelegte Kriterien Alerts zu setzen (z. B. die Notwendigkeit einer Wartung
anzuzeigen) oder selbständig zu agieren (z. B. Wartung selbst zu initiieren), was dem Kun-
den wiederum Nutzen stiftet.

Kunden werden zukünftig Produkte und Dienstleistungen häufiger über digitale Platt-
formen beziehen. Darüber hinaus werden Unternehmen noch enger mit anderen Playern
und ihren Kunden in fluide Wertschöpfungsnetzwerke eingebunden sein. Aufgrund der
neuen technologischen Möglichkeiten können Produkte trotz Herstellung in großen Stück-
zahlen stark auf individuelle Kundenbedürfnisse ausgerichtet werden (Vision von „Los-
größe 1 zu Kosten der Massenproduktion“). Auch Dienstleistungen müssen künftig noch
genauer auf die individuellen Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten sein.
Neue Möglichkeiten zur Betreuung von und Kommunikation mit dem Kunden (z. B. über
Social Media oder digitale Kundenplattformen) können dazu eingesetzt werden, zusätz-
lichen Nutzen zu stiften (z. B. durch Remote Services). Die digitale Vernetzung führt auch
dazu, dass die Beziehung zwischen dem anbietenden Unternehmen und seinen Kunden
noch einmal enger wird. Langfristige Beziehungen, die in einem zunehmend dynamischen
und unsicheren Umfeld Vertrauen schaffen, stiften beiderseitigen Nutzen. Digitale Techno-
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 261

logien bieten zunehmend die Möglichkeit für Industriegüterunternehmen, ihre Kunden


von der Produktidee über das Produktdesign und -engineering bis hin zur Fertigung viel
stärker in die eigene Wertschöpfung zu integrieren und somit zielgerichtet Nutzen zu
stiften.
Dabei wird es im Rahmen der Digitalisierung vor allem über das zusätzliche Angebot
digitaler Leistunden zu einer wachsenden Produkt-Vielfalt kommen. Diese neuen Pro-
dukte und Dienstleistungen können dazu eingesetzt werden, neuartige Nutzenangebote zu
schnüren und damit auch neue Kundengruppen anzusprechen (siehe Abb. 10.2).

Management von Kundenbeziehungen


Die Beziehungen zwischen Industriegüterunternehmen und seinen Kunden werden auf-
grund der zunehmenden digitalen Vernetzung vielfach noch enger und partnerschaftlicher,
die Zielsetzung dabei sollte eine Ausrichtung auf Langfristigkeit sein. Um die Beziehungen
zu den Kunden zu festigen bzw. zu vertiefen, werden vielfach neue Möglichkeiten der
Kommunikation eingesetzt (z.  B. digitale Kundenservicecenter und Plattformen). Auch
die intensivere Einbindung der Kunden in die eigene Wertschöpfung mithilfe digitaler
Technologien (z. B. über Digital Co-Creation) führt zu engeren Beziehungen.

Daten vom und über den Kunden helfen dem Unternehmen dabei, seine Anforderungen
und Bedürfnisse zu verstehen und frühzeitig zu erkennen. Die Orientierung der eigenen
Leistungen an diesen Bedürfnissen des Kunden und das Erzeugen von maßgeschneiderten
Lösungen für ihn ist ebenfalls Basis für funktionierende Kundenbeziehungen. Da sich Be-
dürfnisse des Kunden immer häufiger und dynamischer ändern, sind Unternehmen dazu
angehalten, flexibel und rasch auf diese zu reagieren.
Die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen und hybriden Produkten im Sinne
der Lösungsorientierung für den Kunden führt ebenfalls dazu, dass Beziehungen künftig
noch enger und partnerschaftlicher werden. Industriegüterunternehmen haben zukünftig
die Möglichkeit, mit neuen (digitalen) Leistungen neue Kunden und Bedürfnisgruppen
anzusprechen: Ein Turbinenhersteller, der seine Turbinen nicht mehr verkauft, sondern „as
a (digitally enriched) Service“ anbietet, spricht plötzlich die Airline und nicht mehr den
Flugzeughersteller als Kunden an. Auch die bereits angesprochene Einbindung von Unter-
nehmen in Wertschöpfungsnetzwerke und Plattformen gemeinsam mit ihren Kunden
stärkt die Verflechtung beidseitig.
Aufgrund der noch enger werdenden Beziehungen und der zunehmenden digitalen Ver-
netzung von Kunden und Lieferanten braucht es einen höheren Vertrauenslevel in diesen
Partnerschaften. Die Digitalisierung führt außerdem dazu, dass zusätzliche Vertriebs-
kanäle entstehen, über die Kundenbeziehungen aufgebaut und gepflegt werden können
(siehe Abb. 10.3).

Segmentierung von Märkten und Kunden


Daten über Kunden und vor allem über deren Nutzung der Produkte und Dienstleistungen
eines Unternehmens befähigen ein Unternehmen dazu, künftig neue Markt- und Kunden-
262 A. Brendel-Schauberger

Abb. 10.2 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Management von


Kundennutzen. (Quelle: Eigene Darstellung)

segmente abzubilden, die sie wiederum mit maßgeschneiderten Lösungen ansprechen


können. Weiß ein Maschinenbauer aus Felddaten etwa, dass ein Teil seiner Kunden eine
Maschine nur ganz sporadisch zu bestimmten Spitzenzeiten einsetzt, dann kann er diesen
„Gelegenheitsnutzern“ unter Umständen ein Mietmodell anbieten, von dem sowohl der
Maschinenbauer, als auch der Kunde profitieren.
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 263

Abb. 10.3 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Management von


Kundenbeziehungen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wie bereits angesprochen, führen neue digitale Produkte und Leistungen dazu, dass
neue Kundengruppen angesprochen werden können. Im Rahmen der Segmentierung von
Märkten und Kunden muss demnach genau geprüft werden, welchen Kunden welche
Leistungen angeboten werden sollen. Eng damit verbunden sind die zunehmende
Leistungs-­Individualisierung sowie die zunehmende Lösungs- und Bedürfnisorientierung
264 A. Brendel-Schauberger

und die steigende Bedeutung von Dienstleistungen und hybriden Produkten, die dazu füh-
ren, dass mit einzelnen Leistungen immer kleinere Kundensegmente angesprochen wer-
den können. Unternehmen müssen sich daher genau überlegen, wie rentabel diese Seg-
mente sind und ob sich eine Bearbeitung langfristig auszahlen kann.
Darüber hinaus müssen sich Unternehmen im Rahmen der Digitalisierung präzise Ge-
danken darüber machen, bei welchen Kundengruppen sie auf welche Art und Weise neue
Formen der Wertabschöpfung etablieren können. Der Grund dafür liegt darin, dass neue
Preismodelle wie Pay-Per-Use oder Pay-Per-Result unter Umständen nicht für alle
Kundengruppen gleichermaßen attraktiv und relevant sind. Außerdem werden Industrie-
güterunternehmen vor die Herausforderung gestellt, sich ganz genau anzusehen, mit wel-
chen Kunden und Partnern sie in digitale Wertschöpfungsnetzwerke und Plattformen ein-
gebunden sein wollen (siehe Abb. 10.4).

Abb. 10.4  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für die Segmentierung von


Märkten und Kunden. (Quelle: Eigene Darstellung)
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 265

Distributionsmanagement
Durch die Digitalisierung wird für Industriegüterunternehmen künftig eine Reihe von zu-
sätzlichen Vertriebskanälen entstehen. E- und M-Commerce sind in vielen Bereichen
schon angekommen, denkbar sind aber auch automatisierte Beschaffungssysteme oder
alle Formen von Online Auktionen, an denen sich das verkaufende Unternehmen be-
teiligen kann. Auch digitale Plattformen werden eine Rolle für die Distribution von
Industriegüterunternehmen spielen. Denkbar ist, dass große Player ihre Beschaffung auf
eigenen Plattformen realisieren, über welche deren Lieferanten ihre Leistungen anbieten
können. Darüber hinaus besteht aber auch die Möglichkeit, Distributionsleistungen künf-
tig im Rahmen neuer Partnerschaften verstärkt auszulagern.

Mittels neuer Technologien wird es auch zur stärkeren Flexibilisierung und De-
zentralisierung in der Distribution kommen. Produkte müssen noch genauer zur ge-
wünschten Zeit an den gewünschten Ort des Kunden geliefert werden. Digitale Dis-
tributionskanäle eröffnen zudem auch Möglichkeiten, neue Kundengruppen anzusprechen
und noch engere Beziehungen zu den Kunden zu knüpfen.
Digitale Technologien bieten zudem die Chance, die Kunden auch noch stärker und
besser in die Distribution zu integrieren, z. B. über bereits bekannte Just-in-Time- oder
Kanban-Systeme bis hin zu völlig automatisierten, intelligenten Bestellsystemen (z. B. in-
telligente Warenboxen, die bei Erreichen eines kritischen Füllstandes selbständig ihren
Inhalt nachbestellt). Solche Distributionsleistungen haben für den Kunden einen großen
Nutzen, weswegen sie als eigenständige Dienstleistung oder im Rahmen von hybriden
Produkten angeboten werden können (siehe Abb. 10.5).

Verkaufsmanagement
Neue Formen der Kommunikation mit dem Kunden werden künftig auch verstärkt im Ver-
kaufsprozess von Unternehmen eingesetzt. Hier sind beispielsweise Virtual Selling Teams
und Computer Aided Selling denkbar. Trotzdem werden digitale Kanäle den d­ irekten
Kundenkontakt, etwa über ein Key Account Management nicht ersetzen können, um eine
enge Beziehung zu gewährleisten. Grundlage dafür sind bei einer steigenden Vernetzung
mit aktuellen und potenziellen Kunden ein hohes Maß an Vertrauen sowie eine gesteigerte
Offenheit und Transparenz.

Die Individualisierung von Leistungen spielt bereits während des Verkaufsprozesses


eine zentrale Rolle und kann durch digitale Technologien unterstützt werden, z. B. über
individuelle Value-In-Use-Analysen. Auch die Lösungs- und Bedürfnisorientierung spielt
bereits im Verkaufsprozess eine wichtige Rolle. Verkäufer müssen die Probleme ihrer
Kunden verstehen und mit maßgeschneiderten Lösungen, die zunehmend digitale Kompo-
nenten beinhalten, überzeugen. Auf Basis von Daten vom und über den Kunden, vor allem
aus seiner Produktverwendung, können wertvolle Informationen für Verkaufsaktivitäten
und -prozesse extrahiert werden.
266 A. Brendel-Schauberger

Abb. 10.5  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Distributionsma­


nagement. (Quelle: Eigene Darstellung)

Neue Wege der Kommunikation mit dem Kunden sowie neue Vertriebskanäle eröffnen
darüber hinaus auch zusätzliche Möglichkeiten, neue Kundengruppen anzusprechen. In
Zusammenschau mit der zunehmenden Individualisierung und der stärkeren Lösungs- und
Bedürfnisorientierung, spielen Dienstleistungen und hybride Produkte auch für den Ver-
kauf eine immer zentralere Rolle. Der Verkäufer muss dem Kunden für seine Jobs ein
Gesamtpaket mit einer maßgeschneiderten Lösung liefern. Eine zunehmend große Rolle
werden in Zukunft auch die bereits angesprochenen neuen Formen der Wertabschöpfung
und Preismodelle spielen, da der kundenseitige Wunsch etwa nach leistungsabhängiger
Vergütung zunimmt (siehe Abb. 10.6).
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 267

Abb. 10.6  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Verkaufsmanagement.


(Quelle: Eigene Darstellung)

Kommunikationsmanagement
Die richtige Anwendung und Nutzung digitaler Kommunikation forciert die Beziehung
eines Unternehmens zu seinen Kunden über engere Kontakte und gesteigerte ­Erreichbarkeit.
Dabei ergeben sich durch die Digitalisierung völlig neue Möglichkeiten. Bereits in vielen
Bereichen etabliert sind etwa Social Media Angebote oder vom anbietenden Unternehmen
gehostete Kundenplattformen. Die Durchdringung der Produkte mit Intelligenz führt im
268 A. Brendel-Schauberger

Kontext des Kommunikationsmanagements dazu, dass aber auch in physische Produkte


selbst Kommunikationsschnittstellen direkt zum Hersteller eingebaut werden können.

Credo der (digitalen) Kommunikation ist dabei stets Offenheit und Transparenz in allen
Themen. Daten vom und über den Kunden, z. B. auch aus seiner Kaufhistorie oder aus
seiner Produktverwendung können dazu genutzt werden, ihm zielgerichtet und personali-
sierte Angebote zu machen (z. B. 1:1-Marketing oder Kaufempfehlungen ähnlich wie bei
großen Plattformen aus dem B2C-Bereich).
Nachdem Unternehmen mit ihren Kunden und Partnern immer häufiger in Wert-
schöpfungsnetzwerke eingebunden sind, helfen digitale Kommunikationssysteme erheb-
lich bei der Koordination von Aufgaben und Projekten. Die Orientierung eines Unter-
nehmens an den Bedürfnissen seiner Kunden und die Intention, dessen Probleme zu lösen,
muss sich letztlich auch in den Kommunikationsaktivtäten des Unternehmens nieder-
schlagen. Darüber hinaus sind Industriegüterunternehmen künftig gefordert, ihre neu ent-
wickelten digitalen Dienstleistungen und hybriden Produkte noch stärker zu kommunizie-
ren, um sie entsprechend in der Wahrnehmung der Kunden zu verankern (siehe Abb. 10.7).

Preismanagement
Die Integration von Kunden und Partnern in die eigene Wertschöpfung hat insofern Aus-
wirkungen auf das Pricing, als dass durch eine gezielte Ausrichtung der Produkte und
Leistungen auf die individuellen Kundenbedürfnisse auch die Preise immer individueller
gebildet werden und sich am gestifteten Kundennutzen zu orientieren haben. Die zu-
nehmende Leistungs-Individualisierung führt weiters dazu, dass auch Preise für den Kun-
den immer individueller gestaltet werden. Idealerweise orientieren sich die Preise für
Leistungen des Unternehmens wie im Punkt zuvor dargelegt am gestifteten Kundennutzen.
Neue Formen der Wertabschöpfung in Form neuer Preismodelle bieten den Unternehmen
eine Möglichkeit, den Preis am gestifteten Nutzen des Kunden festzumachen. Transparent
gebildete Preise und Abrechnungen tragen wiederum zu einer gesteigerten Offenheit und
Transparenz bei.

Daten vom und über den Kunden, vor allem aus seiner Produktverwendung, liefern zu-
dem wertvolle Informationen für das Pricing und ermöglichen häufig erst neue Preis-
modelle. Kann ein Unternehmen z. B. die Art, Dauer und Häufigkeit der Nutzung oder die
Ausbringungsfähigkeit seiner Produkte tracken, so kann es dem Kunden dadurch innova-
tive Möglichkeiten wie Pay-Per-Use oder Pay-Per-Result als Vergütungsmodelle anbieten.
Die steigende Bedeutung von Dienstleistungen und hybriden Produkten wird ebenfalls
große Auswirkungen für das Pricing von Leistungen haben. Optimalerweise bietet das
Unternehmen seinen Kunden eine maßgeschneiderte Lösung, bestehend aus einer nutzen-
stiftenden Kombination aus physischen Produkten und (digitalen) Dienstleistungen. Damit
hat ein Unternehmen auch die Chance, sich aus der Vergleichbarkeit im z­ unehmenden
Wettbewerb und einem reinen Konkurrieren über den Preis zu entziehen. Dasselbe trifft
auch für die Lösungs- und Bedürfnisorientierung zu (siehe Abb. 10.8).
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 269

Abb. 10.7 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Kommunikations-


management. (Quelle: Eigene Darstellung)

Management von Schlüsselaktivitäten


Die Sammlung und Auswertung von Echtzeit-Daten aus den Schlüsselaktivitäten eines
Industriegüterunternehmens (Einkauf, Produktion, Logistik) ermöglichen sowohl eine
Optimierung, als auch eine Forecast-Planung und Flexibilisierung dieser Prozesse. In der
Endausbaustufe steuern sich über diese Daten und intelligente Algorithmen Maschinen,
Produktionseinheiten und sogar ganze Fabriken völlig autonom (Vision der Smart Fac-
tory). Dies ist zugleich auch der Kerngedanke des Industrie 4.0-Konzepts.

Im Rahmen der Digitalisierung entstehen außerdem neue Möglichkeiten, den Kunden


und Partner noch stärker in die Schlüsselaktivitäten und -prozesse eines Unternehmens
einzubinden, wobei die extremste Form ein Wertschöpfungsnetzwerk darstellt (siehe
Abb. 10.9).
270 A. Brendel-Schauberger

Management von Schlüsselressourcen

Abb. 10.8 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Preismanagement.


(Quelle: Eigene Darstellung)

Wie bereits aus den zahlreichen Nennungen von Daten und Big Data in den anderen Di-
mensionen hervorgeht, werden Daten eine Schlüsselressource für Industriegüterunter-
nehmen im Kontext der Digitalisierung. Die Analyse und gewinnbringende Nutzung von
­Daten wird eine Schlüsselkompetenz. Darüber hinaus müssen Unternehmen in allen As-
pekten ihres Geschäftsmodells flexibler werden, sei es bei der Befriedigung sich dyna-
misch ändernder Kundenbedürfnisse, in der Distribution oder in der Produktion. Damit
einher geht auch der Umgang mit und die Beherrschung von zunehmender Komplexität
und Dynamik in sehr vielen Bereichen.
Eine Schlüsselkompetenz der Zukunft ist außerdem die stärkere Automatisierung über
die gesamte Wertschöpfung, also auch abseits von Produktion und Logistik, z. B. durch
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 271

Abb. 10.9 Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Management von


Schlüsselaktivitäten. (Quelle: Eigene Darstellung)

eine automatisierte Beschaffung über Einkaufsplattformen und Online Auktionen oder


Automated Marketing-Ansätze. Weiters wird zukünftig erfolgsentscheidend sein, wer die
Macht und Kompetenz über digitale Plattformen für sich beanspruchen kann. Hier wird
entscheidend sein, ob Industriegüterunternehmen solche Plattformen selbst betreiben,
oder ob branchenfremde Unternehmen die Macht über die Plattformen übernehmen wer-
den (siehe Abb. 10.10).

Management von Schlüsselpartnern


Aufgrund der zunehmenden digitalen Vernetzung mit den Schlüsselpartnern bedarf es
eines höheren Vertrauenslevels in diesen Partnerschaften sowie einer gesteigerten Offen-
heit und Transparenz. Vor allem, wenn sensible Daten zwischen den Partnern ausgetauscht
werden, ist dies essenziell, weswegen Unternehmen trotz aller Öffnung und Vertrauen
auch Datenschutz und -sicherheit weiter ausbauen müssen. Analog zu den immer enger
werdenden Beziehungen zu den Kunden eines Unternehmens werden künftig auch die
Beziehungen zu anderen Schlüsselpartnern aufgrund der digitalen Vernetzung noch ein-
mal enger.
272 A. Brendel-Schauberger

Abb. 10.10  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Management von


Schlüsselressourcen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wie bereits angesprochen, ist auch die stärkere Integration von Schlüsselpartnern (vor
allem im Bereich IKT) in die eigenen Wertschöpfungsprozesse, unterstützt durch digitale
Technologien, ein großes Thema für Industriegüterunternehmen. Dabei werden diese
Unternehmen zunehmend neue Schlüsselpartner brauchen, um in der Digitalisierung
­bestehen zu können. Eine zentrale Rolle werden dabei IT-, Big Data- und Analytics-­
Unternehmen, sowie Plattformbetreiber und Technologielieferanten spielen, die
Digitalisierungs-­Kompetenz zur Verfügung stellen. Im Rahmen der Digitalisierung wer-
den Industriegüterunternehmen häufig verstärkt mit der Konkurrenz zusammenarbeiten
müssen, etwa um gemeinsame Standards zu definieren oder Industrieplattformen zu
etablieren.
Auch die bereits angesprochene Einbindung von Unternehmen mit ihren Schlüssel-
partnern in zunehmend digitale Wertschöpfungsnetzwerke und Plattformen, auch ge-
meinsam mit ihren Kunden, stärkt die Verflechtung beidseitig (siehe Abb. 10.11).
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 273

Abb. 10.11  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Management von


Schlüsselpartnern. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kostenmanagement
Der Einsatz von Big Data und Analytics spielt in Zukunft selbstverständlich auch eine
große Rolle hinsichtlich der Steuerung und Optimierung der anfallenden Kosten. Vor
allem Daten aus internen Prozessen wie Produktion, Einkauf und Logistik werden hier
von Bedeutung sein. Zentrale Voraussetzung dafür ist, dass die verwendeten Produkte und
Anlagen mit Intelligenz ausgestattet sind, um Verbräuche, Ausbringung usw. und damit
die Kosten jederzeit messen zu können. Das wiederum wird unweigerlich zu einer höheren
Komplexität und Dynamik im Bereich des Kostenmanagements führen.

Ein weiterer Punkt, der bereits angesprochen wurde, betrifft die stärkere Auto-
matisierung bisher manuell durchgeführter Tätigkeiten mittels digitaler Technologien über
die gesamte Wertschöpfung. Nicht nur in Unternehmensbereichen, wo die Automatisierung
bereits jetzt eine große Rolle spielt (vor allem Produktion und Logistik), sondern auch in
274 A. Brendel-Schauberger

Abb. 10.12  Bedeutung Digitalisierungs-induzierter Veränderungen für das Kostenmanagement.


(Quelle: Eigene Darstellung)

anderen Bereichen wie Marketing, Vertrieb oder Einkauf wird es zu einer zunehmenden
Automatisierung kommen, was im Idealfall zu einer Reduktion der dort anfallenden Kos-
ten führt.
Die zunehmende Notwendigkeit einer gesteigerten Flexibilisierung in allen Unter-
nehmensbereichen erfordert in Zukunft in gleicher Art und Weise ein funktionierendes
und an diese Rahmenbedingungen angepasstes Kostenmanagement, damit die Kosten
(z. B. für Losgröße 1 bei gleichzeitiger Massenfertigung) in einer gesunden Relation zum
Ertrag stehen. Das Vorhersehen von Ereignissen (z.  B.  Maschinenstörungen oder not-
wendige Wartungen) über intelligente Algorithmen und die Auswertung von Daten hilft
Unternehmen in Zukunft ebenfalls, Kosten zu sparen (siehe Abb. 10.12).

10.4 Zusammenfassung und Implikationen

Die Ergebnisse der vorliegenden Delphi-Studie zeigen deutlich, dass die Digitalisierungs-­
induzierten Veränderungen für die Geschäftsmodelle von B2B-Unternehmen sehr um-
fassend und weitreichend sein werden und wesentlich über rein operative Aspekte wie
Produktionsprozessoptimierungen hinausgehen. Darüber hinaus wird klar, dass sich die
Digitalisierung in allen Dimensionen von B2B-Geschäftsmodellen niederschlägt. Dieser
10  Digitalisierungs-induzierte Veränderungen für die Geschäftsmodelle von … 275

Befund bekräftigt damit auch die Kritik von Werani et al. (2017, S. 260), dass sich Unter-
nehmen aus dem B2B-Bereich in ihren Digitalisierungs-Bestrebungen primär auf die
Geschäftsmodell-­Dimension Management von Schlüsselaktivitäten konzentrieren, wäh-
rend auch die anderen Bereiche wesentliche Anknüpfungspunkte zur Weiterentwicklung
bzw. Innovation eines Geschäftsmodells bieten.
Weiters zeigt die Delphi-Studie, dass sich einzelne identifizierte Veränderungen völlig
unterschiedlich in den verschiedenen Dimensionen eines Geschäftsmodells nieder-
schlagen können. So führt die zunehmende Bedeutung von Big Data und Analytics in der
Dimension Management von Schlüsselaktivitäten etwa dazu, dass interne Prozesse in Pro-
duktion oder Logistik optimiert und automatisiert werden können, was zu einer ge-
steigerten Effizienz und Kosteneinsparungen führt. Auf der anderen Seite können Big
Data und Analytics im Management von Kundennutzen aber auch zur automatisierten
Sammlung und Auswertung von Produktverwendungsdaten des Kunden genutzt werden,
um latente Bedürfnisse zu identifizieren, die wiederum in den Innovationsprozess ein-
fließen können. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich wiederum Implikationen für die
betriebliche Praxis sowie für die Wissenschaft.

10.4.1 Implikationen für die betriebliche Praxis

Eine zentrale Konsequenz aus der vorliegenden empirischen Studie für B2B-­Unternehmen
ist die Tatsache, dass sich diese ganzheitlich mit der Thematik der Digitalisierung be-
schäftigen und die dadurch ausgelösten Veränderungen umfassend betrachten müssen.
Dabei muss die Auseinandersetzung mit den Digitalisierungs-induzierten Veränderungen
sehr differenziert und immer vor dem Hintergrund der betrachteten Geschäftsmodell-­
Dimension erfolgen, um die ganze Tragweite digitaler Technologien erkennen und ihr
volles Potenzial ausschöpfen zu können. Mit der umfangreichen Liste der identifizierten
Veränderungen aus der Delphi-Studie können die Unternehmen hier einen Anfang ma-
chen, sich proaktiv mit allen Aspekten der Digitalisierung auseinanderzusetzen.
Die Strukturierung der identifizierten Veränderungen anhand der Revidierten Business
Model Canvas hilft B2B-Unternehmen in dem Zusammenhang, das Thema ­Digitalisierung
systematisch und analytisch zu betrachten und Anknüpfungspunkte für die Weiter-
entwicklung einzelner Dimensionen in ihrem spezifischen Geschäftsmodell zu identi-
fizieren bzw. auch völlig neue Konfigurationen im Sinne einer Geschäftsmodell-Innovation
zu entwickeln.

10.4.2 Implikationen für die Wissenschaft

Ein aus wissenschaftlicher Sicht wesentlicher Beitrag der vorliegenden Studie liegt darin,
dass häufig diskutierte Digitalisierungs-induzierte Veränderungen empirisch valide identi-
fiziert und auch einer logisch sinnvollen Systematisierung anhand der Dimensionen des
276 A. Brendel-Schauberger

Geschäftsmodells eines B2B-Unternehmens zugeführt werden. Damit geht die Studie


über viele thematisch ähnlich gelagerte Beiträge hinaus, die lediglich auf einzelne Teil-
bereiche fokussieren oder eine Systematisierung der Erkenntnisse vermissen lassen. Somit
trägt die Studie auch dazu bei, ein breites Verständnis für den Begriff Digitalisierung zu
erlangen, welches B2B-Unternehmen in ihrer Gesamtheit betrifft und somit vor dem
Hintergrund des Geschäftsmodells betrachtet werden muss.
Darüber hinaus liefert die umfangreiche Sammlung Digitalisierungs-induzierter Ver-
änderungen Anknüpfungspunkte für weitere Forschungsvorhaben. So wäre etwa eine
­interessante Fragestellung, wie einzelne identifizierte Veränderungen konkret als Aus-
gangsbasis für die Entwicklung von innovativen B2B-Geschäftsmodellen herangezogen
werden können.

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Prof. Dr. Alexander Brendel-Schauberger  ist Professor für Pro-


duct Management und Industrial Marketing an der Fachhochschule
Oberösterreich, Campus Wels sowie Lektor und Trainer an der
LIMAK Austrian Business School und der Johannes Kepler Uni-
versität Linz. Er forscht schwerpunktmäßig zu den Themen Digitali-
sierung von B2B-­ Geschäftsmodellen, digitale Wertangebote und
agile Transformation und arbeitet an unterschiedlichsten Transfer-
projekten mit der Industrie. Davor war er unter anderem in der
Managementberatung, als Marketing Manager bei einem Startup und
zuletzt als Leiter des globalen Innovationsmanagements bei einem
Industriegüterhersteller tätig.
Teil III
Digitale Transformation
Die Evolution der Digitalen Transformation
11
Cheng Gong , Xavier Parisot und Detlef Reis

Zusammenfassung

Die Entwicklung der digitalen Transformation (DT) stellt Unternehmen weltweit vor
eine große Herausforderung und stellt sowohl disruptive Schwierigkeiten als auch
enorme Möglichkeiten für die Erneuerung von Wertangeboten, Geschäftsmodellen und
Organisationspraktiken dar. Um DT als Impuls für positive Veränderungen zu nutzen,
ist es jedoch entscheidend, dass Wissenschaftler und Praktiker ein klares, einheitliches
Verständnis des Konzepts haben.
Wir strukturieren unsere Diskussion wie folgt: In Abschn. 11.1 dieses Kapitels wird
die begriffliche Verwirrung um das Konzept „digital transformation“ und die damit
verbundenen Konzepte (digitization, digitalization) erörtert. Der zweite Abschn stellt
die Etymologie dieser drei Konzepte vor und führt zu einer Diskussion der wichtigsten
etymologischen Gründe für diese Konfusion. Im dritten Abschn untersuchen wir die
historische Verwendung dieser Konzepte in der einschlägigen Literatur; wir zeigen, wie
Wissenschaftler die Konzepte inkonsistent interpretiert und mit einer Vielzahl unter-
schiedlicher Realitäten/Phänomene in Verbindung gebracht haben. Abschn 11.4 führt
eine Methode zur Konzeptbildung und Bewertung ein, um die theoretische Grundlage
dafür zu legen, wie Konzepte wissenschaftlich analysiert und bewertet werden können.
Abschn. 11.5 bietet eine Sammlung vorhandener Definitionen der Konzepte digitiza-
tion, digitalization und digital transformation, die wir ausgewählt haben, um ihre defi-
nierenden Attribute zu analysieren. Wir präsentieren ein detailliertes Beispiel dafür,

C. Gong (*) · X. Parisot · D. Reis


Institute for Knowledge and Innovation Southeast Asia, Bangkok University,
Bangkok, Thailand
E-Mail: cheng.gong@bumail.net; xavier.p@bu.ac.th; detlef.r@bu.ac.th

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 281


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_11
282 C. Gong et al.

wie wir die historischen Definitionsattribute der digitization systematisch analysiert


und bewertet haben. Anschließend berichten wir über die Ergebnisse derselben Analyse
für digitalization und digital transformation, um das mit diesen Konzepten verbundene
Problem der „Unschärfe“ zu lösen. Abschn. 11.6 diskutiert und fasst unsere Ergebnisse
zusammen, von denen wir hoffen, dass sie Akademiker und Praktiker dazu inspirieren,
diese Begriffe sorgfältig und konsequent zu verwenden.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Digitale Transformation · Wertangebote · Geschäftsmodelle ·


Organisationspraktiken

11.1 Einleitung

Das World Economic Forum (2017) erkannte die digitale Transformation (DT) als
eine der dringendsten Herausforderungen der Welt für die meisten Unternehmen an.
DT stellt Unternehmen vor neue Herausforderung, wie sie am besten auf sich dyna-
misch verändernde Kundenerwartungen und ein sich änderndes Lebens- und Arbeits-
umfeld reagieren können und ihre Produkte und Dienstleistungspalette entsprechend
anpassen können. Die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien auf dem Markt
veranlasst Unternehmen unweigerlich dazu, ihre Wertschöpfungskette zu überdenken
und eine Roadmap zu erstellen, um sich erfolgreich auf die „Going Digital“-Reise zu
begeben. Zwar besteht allgemeine Übereinstimmung über die wachsende Bedeutung
von DT für den Erfolg eines Unternehmens, doch zugleich sorgt die inkonsistente Ver-
wendung des Begriffs „digitale Transformation“ in Wissenschaft und Geschäftspraxis
für Verwirrung.
Im akademischen Bereich behindert die inkonsistente definitorische Verwendung des
Konzeptes „Digital Transformation“ eine sinnvolle Abgrenzung zu damit verbundenen
Begriffen (wie z. B. „Digitization“ und „Digitalization“), was einer Verbesserung der For-
schung auf mehreren Analyseebenen im Wege steht. Das Nebeneinander zahlreicher
widersprüchlicher Definitionen hat diese Begriffe bedeutungslos gemacht. Dies führt zu
Schwierigkeiten bei der Entwicklung eines konsistenten Forschungsstroms, der auf den
bisherigen Erkenntnissen aufbaut, und zugleich erschwert es, Beziehungen für die Er-
stellung der Theorie der digitalen Transformation zu definieren und zu testen (Gong &
Ribiere, 2021). Die Unbestimmtheit in der Literatur zeigt das Fehlen eines umfassenden,
einheitlichen Verständnisses des Konzeptes der digitalen Transformation (Goerzig & Bau-
ernhansl, 2018; Haffke et al., 2016; Matt et al., 2015; Morakanyane et al., 2017; Van Veld-
hoven & Vanthienen, 2019). Dieses Fehlen einer homogenen Interpretation des Konzepts
wirkt sich nachteilig auf die Forschungssynergie aus und führt zu widersprüchlichen und
inkompatiblen Forschungsergebnissen, die nicht als Leitfaden für die Geschäftspraxis ge-
eignet sind.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 283

In der Praxis scheint die digitale Transformation eine der obersten Prioritäten auf
der Tagesordnung von Führungskräften zu sein (Sundblad, 2020). Eine Studie von
McKinsey (2018) ergab jedoch, dass die Erfolgsquote bei der Implementierung von DT
in Organisationen weniger als 30 % beträgt. Darüber hinaus verbesserten nur 23 % der
Organisationen, die über eine erfolgreiche Implementierung berichteten, ihre organisa-
torische Leistung; zudem wurden in 7 % der Fälle diese Verbesserungen als nachhaltig
angesehen. Die Erfolgsraten liegen in traditionelleren Branchen (z.  B. Öl und Gas,
Automobilindustrie, Infrastruktur und Pharmazie) zwischen 4 % und 11 %, und selbst
in digital versierten Branchen (z. B. Hightech, Medien und Telekommunikation) nur
bei 26 % (De la Boutetière et al., 2018). IBM behauptet, dass eine erfolgreiche digitale
Transformation etwa vier Jahre gedauert hat und dass 85 % der Initiativen fehlschlagen
sind (Gibson, 2018). Darüber hinaus prognostizierte Gartner (2019), dass von traditio-
nellen Großunternehmen für bis 2021 vorgenommene DT-Projekte im Durchschnitt
doppelt so lange dauern und doppelt so viel kosten würden wie ursprünglich an-
genommen.
Führungskräfte riskieren zudem, die unterschiedliche Richtung organisatorischer stra-
tegischer Schritte zu verwischen (z. B. das Streben nach inkrementellen oder radikalen
Änderungen), indem sie den Begriff DT inkonsistent verwenden, um verschiedene Strate-
gie- und Organisationsaktivitäten zu beschreiben (Warner & Wäger, 2019). Darüber hi­
naus erschwert eine unklare DT-Vision es Führungskräften der C-Suite, eigene DT-­Autorität
zu beanspruchen und die Verantwortlichkeiten für digitale Projekte auf organisatorischer
Ebene klar zu definieren. Last but not least machen unterschiedliche Interpretationen des
DT-Konzeptes es schwieriger für ein Unternehmen, die eigene DT-Leistung mit der ande-
rer Organisationen und Branchen anhand von relevanten Metriken und Best Practice-­
Industriestudien zu vergleichen

11.2 Etymologie der Konzepte

Die Ergründung der Etymologie eines Begriffs ist für die Konzeptbildung von ent-
scheidender Bedeutung, da sie alle historischen Konnotationen eines bestimmten Begriffs
aufdeckt und „ein völlig neues Verständnis der wahren Realität“ eröffnet (Eriksson, 2010,
S.  5). In der Tat erklären der Ursprung, die Ableitung und die historische Entwicklung
eines Begriffs die Multivalenz seiner Bedeutungen, d. h. die Vielzahl seiner Definitionen
(Gerring, 1999). Diese definitorische Pluralität erzeugt eine Reihe von Bedeutungen, die
sich darauf auswirken können, wie normale Menschen, Manager und Wissenschaftler ein
Konzept „auf den ersten Blick“ verstehen. Daher ist es für Studien zur Konzeptbildung
informativ, einen Vergleich zwischen den vorhandenen Bedeutungen eines Begriffes und
den für die konzeptionelle Definition beibehaltenen Bedeutungen durchzuführen (Eriks-
son, 2010). Diese Vorgehensweise ermöglicht eine Unterscheidung zwischen den a) histo-
284 C. Gong et al.

rischen Bedeutungen eines Begriffes, b) den tatsächlichen Bedeutungen, die in ge-


meinsamen Sprachen geteilt werden, und c) der von Wissenschaftlern gewählten
Bedeutung.
Darüber hinaus hilft die Vielfalt der akzeptierten Bedeutungen in der gemeinsamen
Sprache, die Größe und den Umfang des „Halo-Effektes“ (Dumez, 2011) des Begriffes zu
verstehen, der zur Bezeichnung des Konzepts ausgewählt wurde. Die Bedeutung der Be-
griffe, die in den grundlegenden Definitionen ausgewählt wurden, bestimmt auch, auf wel-
che Arten von empirischen Fällen das Konzept angewendet wird, wie weit diese An-
wendung gehen sollte und wo sie aufhören sollte. Mit anderen Worten, die Bedeutung des
Konzepts bestimmt seinen empirischen Gültigkeitsbereich.
Die englischen Wörter digital und digitalize haben eine gemeinsame lateinische Wur-
zel: „digit“. Dieser Begriff tauchte im alten Latein (1. Jahrhundert v. Chr.) auf. Digitus
bedeutet ursprünglich „Finger oder Zehen“ und entwickelte sich zu modernem Latein (seit
etwa 1500). Digitalis bedeutet „Finger“. Die moderne Verwendung des Begriffs „digital“
als Adjektiv, was „of signals, information, or data: represented by series of discrete values
(commonly the numbers 0 and 1), typically for electronic storage or processing“, begann
ab 1940 (OED, 2010). George Stibitz verwendete den Begriff erstmals 1942 im Ausdruck
„digital computer“ als Gegenstück zum Konzept des Analogen (Aspray, 2000). „Digital“
bedeutet auch „of a computer or calculator: that operates on data in digital form; (of a
storage medium) that stores digital data“ (seit 1945); „of technologies, media, etc.: invol-
ving digital data; making use of digital computers or devices“ (seit 1948; OED, 2010).
Diese historischen Bedeutungen des Wortes „digital“ legten den Grundstein für die mo-
derne Verwendung des englischen Verbs „digitize“, das sich auf „converting into a se-
quence of digits in computer programming, moving from analog number to electronic di-
gits“ bezieht (seit 1953; Online Etymology Dictionary, o. J.).
Etymologisch wurzelt das englische Wort „digitization“ im Verb „digitize“, während
das Wort „digitalization“ von derselben lateinischen Wurzel „digital“ stammt, die als eine
Komponente des Konzepts „digital transformation“ dient. Diese etymologische Wort-
gemeinschaft führt zwangsläufig zu einer Verwechslung der Bedeutungen dieser Begriffe,
was zu einer austauschbaren Verwendung der verschiedenen Begriffe sowohl in der
Wissenschaft als auch in der Praxis führt. Alle oben diskutierten englischsprachigen Kon-
zepte verwenden gemeinsame Sprachbegriffe für ihre Konzeptbildung. Die multivalenten
Bedeutungen dieser Begriffe verwischen auch die Besonderheiten jedes Konzepts. Daher
ist die Unterscheidung zwischen digitization, digitalization und digital transformation aus
einer gemeinsamen Sprachperspektive schwieriger zu erreichen. Diese gemeinsame
Nennwertstrategie verbessert zwar die Vertrautheit dieser Begriffe, verringert jedoch die
Fähigkeit, die Konzepte zu unterscheiden. Die folgende Untersuchung der Intensität (in-
tension) und Erweiterung (extension) jedes dieser Konzepte könnte diese Angelegen-
heit lösen.
In Abb. 11.1 fassen wir die Etymologie der englischsprachigen Begriffe digitization,
digitalization und digital transformation zusammen. Eine detailliertere etymologische
Analyse dieser Begriffe finden Sie in Abschn. A, Anhang 1.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 285

Abb. 11.1  Etymology der digitization, digitalization und digital transformation. (Quelle: Eigene
Darstellung)

11.3 Die historische Verwendung der Konzepte

Das Verständnis der Entstehungsgeschichte eines Konzepts ist entscheidend, um die Ent-
wicklung seines Umfangs und seiner Anwendungsgrenzen zu erkennen. Diese Geschichte
beginnt mit der (den) grundlegenden Definition (en) des Konzepts und setzt sich mit der
Entwicklung dieser Definition fort, wenn sie mit mehreren empirischen Realitäten kon-
frontiert wird. In Bezug auf die englischsprachigen Begriffe digitization, digitalization
und digital transformation ist diese historische Analyse entscheidend für die Erklärung
des Ursprungs der konzeptionellen Verwirrung, die auf die gemeinsamen etymologischen
Wurzeln zurückgeführt werden kann. Es zeigt die definitorische Überlappung und
­Unterscheidung zwischen diesen drei Begriffen und ermöglicht es, die chronologische
Entstehung ihrer zugehörigen Kernattribute und Hilfshypothesen nachzuvollziehen (Laka-
tos, 1978).

11.3.1 Digitization

Das Oxford English Dictionary (OED) zeichnet die erste moderne Verwendung des Be-
griffs „digitization“ gemeinsam mit Computern bis Mitte der 1950er-Jahre nach (OED,
2014). Digitalisierung bezieht sich laut OED auf „the action or process of digitizing; the
conversion of analog data (especially in later use images, video, and text) into digital
form.“ Einige Wissenschaftler verweisen auf den technischen Prozess der Konvertierung
analoger Daten in ein digitales Format: eine Reihe von Nullen und Einsen, die so ge-
286 C. Gong et al.

speichert sind, dass sie von Computern gelesen werden können. Mit der technologischen
Entwicklung werden die Erstellung, Speicherung, Kommunikation und der Verbrauch von
Informationen und nicht digitalen Produkten schrittweise digitalisiert (Press, 2015). Die
Entwicklung digitaler Technologien und ihre Auswirkungen auf verschiedene Bereiche
haben Wissenschaftler und Praktiker dazu gezwungen, das Potenzial digitaler Techno-
logien zu untersuchen, das sich vom technischen Prozess bis zu ihren Auswirkungen auf
verschiedene Einheiten (d. H. Organisationen, Unternehmen, Branchen, Gesellschaften)
erstreckt.
Eine Google Trend-Suche von Seibt et al. (2019) weist darauf hin, dass der Begriff di-
gitization im englischsprachigen Raum früher häufiger verwendet wurde, während der
Begriff digitalization in Kontinentaleuropa häufiger gesucht wurde. Die meisten
­Wörterbücher wie das Oxford-Wörterbuch, das für beide Begriffe dieselbe Definition bie-
tet, machen keine Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen. Die Encyclopedia Bri-
tannica (Encyclopedia Britannica, o. J.) und soziologische Wörterbücher (Bruce & Year-
ley, 2006; Scott & Marshall, 2009; Swedberg & Agevall, 2016; Turner, 2006) definieren
die Begriffe digitization und digitalization nicht. Beide Begriffe werden jedoch im Ge-
schäftsleben, in den Medien und in öffentliche Debatten mit korrelierten Bedeutungen
verwendet, was viel Verwirrung stiftet (Seibt et al., 2019).
In der akademischen Literatur kann für jedes dieser Konzepte keine einzige weg-
weisende wissenschaftliche Definition gefunden werden, auf die sich alle Autoren einigen.
Darüber hinaus wurzeln alle Definitionen des Begriffes digitization in der Alltagssprache
und nicht in einer systematischen wissenschaftlichen Konzeptualisierung. Die Begriffe di-
gitization und digitalization werden häufig verwendet, um dieselben Objekte/ Phänomene
zu kennzeichnen. Die gleiche Überschneidung besteht zwischen der Verwendung des Be-
griffs digitization und dem Begriff digital transformation. Einige Autoren verwenden
unterschiedliche Begriffe, die bewusst oder unbewusst austauschbar sind; andere können
ein Konzept unterscheiden, während sie die beiden anderen Begriffe implizit oder explizit
als Äquivalente verwenden. Eine solche Verwirrung oder das Fehlen einer gemeinsamen
konzeptionellen Grundlage macht es unmöglich, eine kumulative und nachhaltige Schaf-
fung von Wissen sicherzustellen (Sparrowe & Mayer, 2011). Folglich führt dieser Mangel
an Klarheit dazu, dass einige Autoren diese drei Begriffe und ihre zugehörigen Definitionen
in ihren Artikeln unterscheiden, um einem bestimmten Objekt/Phänomen einen bestimmten
Begriff zuzuordnen (z. B. Mergel et al., 2019; Verhoef et al., 2019).

11.3.2 Digitalization

Die erste zeitgenössische Verwendung des Begriffs „digitalization“ zusammen mit dem
Begriff der computerization erschien in einem Aufsatz von Wachal (1971), in dem die
sozialen Auswirkungen der Digitalisierung der Gesellschaft in der computergestützten
geisteswissenschaftlichen Forschung erörtert werden (Brennen & Kreiss, 2016). Im All-
gemeinen bezieht sich digitalization auf den „use of digital technologies“ (Srai & Lorentz,
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 287

2019, S. 79). Das Konzept „loses its more technical aspects to digitization while maintai-
ning the vague ideas of restructuring social life or business, and all the normative conno-
tations they entail“ (Seibt et al., 2019, S. 10). Dijk van Jan (2006) stellte fest, dass digita-
lization „allows a considerable increase in the production, dispersion, and consumption of
information and the signals of communication“ (S. 193) und „produces a culture of speed
because creative production is assisted by the power of accelerated processing and dis-
tribution in computers and networks“ (S. 209).
Digitalization wird häufig als Synonym für digital transformation verwendet, wenn
Veränderungen beschrieben werden, die durch die Einführung digitaler Technologien in
Gesellschaft und Organisation hervorgerufen werden. Außerdem argumentierten Seibt
et al. (2019), dass die Diskussion rund um die Digitalisierung der Industrie (unter dem
Schlagwort „Industrie 4.0“) einen der wichtigsten industriellen Anwendungsbereiche von
digitization, digitalization, und automation darstellt (Schumacher et  al., 2016). Bloom-
berg (2018) stellte in diesem Zusammenhang fest, dass „automation is a major part of the
digitalization story, whether it be shifting work roles or transforming business processes
generally“ (S. 4).
Die Implementierung von IT-Tools/Softwaretypen wie MRP (Material Requirements
Planning oder Materialbedarfsplanung), MRP II (Manufacturing Resource Planning oder
Fertigungsressourcenplanung), ERP (Enterprise Resource Planning) und BPR (Business
Prozess Reengineering) führte zur ersten Generation von Digitalisierungsprozessen. Im
Gleichschritt mit der fortschreitenden Entwicklung von Computerhardware und -software
in den 1970er- und 1980er-Jahren kam es im Unternehmensbereich zu einer verbreiteten
Implementierung von MRP- und MRP II-Systemen, die eine stärkere Datenintegration
zwischen funktionalen Unternehmenssilos, Lieferanten und Kunden ermöglichten. Ab den
1990er-Jahren kamen ERP- und BPR-Unternehmensführungsinitiativen hinzu; diese ziel-
ten einerseits auf die Einführung von Standardsoftwarepaketen ab, und andererseits waren
von der IT unterstützte, höhere Prozesseffizienz anstrebende Umstrukturierungsprojekte).
ERP ist ein „framework for organizing, defining, and standardizing the business processes
necessary to effectively plan and control an organization so the organization can use its
internal knowledge to seek external advantage“ (Blackstone & Cox, 2005, S. 38). Diese
Wörterbuchdefinition stimmt offensichtlich mit den Ergebnissen überein, die man sich von
digitalization verspricht. Das gemeinsame Ziel besteht darin, die bestehenden Geschäfts-
prozesse von Organisationen durch eine effizientere Koordination der Routinen zu opti-
mieren (Pagani & Pardo, 2017). Unternehmen können eine Reihe von Digitalisierungs-
projekten durchführen, um Prozesse zu automatisieren und die Prozesseffizienz zu steigern
(Bloomberg, 2018).
Für Unternehmenspraktiker umfasst der Begriff digitalization „the use of digital
technologies and data (digitized and natively digital) to create revenue, improve business,
replace business processes (not simply digitizing them) and create an environment for di-
gital business“ (i-scoop, 2016) sowie „using digital technologies to automate processes for
better outcomes and to optimize value“ (NCMM, 2020). Für Wissenschaftler verbinden
mit dem Begriff Digitalization dagegen eher „the adoption of Internet-connected digital
288 C. Gong et al.

technologies and applications by companies“ (Pagani & Pardo, 2017, S.  185) und „a
means to fulfill customers’ needs more effectively, adapt to changes in the sector and in-
crease their competitive advantage“ (Rachinger et al., 2019, S. 1150).
In der digitalization ermöglichen digitale Technologien Unternehmen, ihre bestehenden
Geschäftsprozesse zu ändern (Verhoef et al., 2019), einschließlich Kommunikation (Ra-
maswamy & Ozcan, 2016; Van Doorn et al., 2010) und Vertrieb (Leviäkangas, 2016). Um
solche Ziele zu erreichen, können Unternehmen ERP oder andere digitale Technologien
verwenden, um den Digitalisierungsprozess zu unterstützen. Die von ERP eingeführten
Änderungen beschränken sich hauptsächlich auf Geschäftsprozesse innerhalb organisato-
rischer Grenzen zur Effizienzsteigerung, Kostenreduzierung und Optimierung von Ge-
schäftsprozessen (Ash & Burn, 2003; Kauffman & Walden, 2001), wobei die ­Bereitstellung
interner Managementinformationssysteme im Vordergrund steht (Boersma & Kingma,
2005). ERP und BPR bemühen sich, IT-Softwarepakete zur Verbesserung der Organisations-
prozesse zu nutzen, wobei der Schwerpunkt intern auf der Effektivität und Effizienz der
Produktion liegt. Digitalization betont den Veränderungsprozess in seiner Gesamtheit, um
durch ERP oder BPR und andere digitale Technologien wirtschaftlich motivierte Ergeb-
nisse zu erzielen.

11.3.3 Digital Transformation

Es gibt keinen gemeinsamen Konsens über die wegweisende wissenschaftliche Definition


des Begriffes digital transformation in der Literatur. Historisch gesehen lassen sich die
Konzepte digitale Produkte, Dienstleistungen und Medien bis in die 1990er- und 2000er-­
Jahre zurückverfolgen (Auriga, 2016; Schallmo et al., 2017). Morton (1991) stellte fest,
dass Unternehmen grundlegende Veränderungen für eine effektive IT-Implementierung
erfahren. Diese Idee brachte einen Forschungsstrom hervor, der sich mit IT-fähiger orga-
nisatorischer Transformation befasste und der als eine der wissenschaftlichen Wurzeln der
DT-Forschung angesehen werden kann (Nadkarni & Prügl, 2021). Diese Richtung initi-
ierte die Diskussion von DT mit einem starken IT-Fokus als Katalysator der Informations-
revolution (Gates et al., 1995) im Kontext des Zeitalters der Informationsgesellschaft und
des globalen Wettbewerbs. Daher wurde in der frühen Phase ein starker Schwerpunkt auf
den „digitalen“ Teil gelegt – den Einsatz digitaler Technologien, der ein begrenztes Ver-
ständnis des „Transformationsteils“ einer Einheit vermittelt. Daher wurde das Konzept der
DT häufig synonym mit dem der digitization (technischer Prozess) und digitalization
(Installationsprozess) verwendet oder sogar „missbraucht.“
Mit der beschleunigten Entwicklung digitaler Technologien seit den 1940er-Jahren
konnten weitreichende gesamtwirtschaftliche Veränderungen und gesellschaftliche Ent-
wicklungen (speziell in den letzten Jahrzehnten) beobachtet werden, wodurch dem trans-
formierenden Aspekt von DT eine größere Bedeutung beigemessen wurde. Einige Auto-
ren begannen daraufhin, DT mit den Veränderungen in Verbindung zu bringen, die digitale
Technologien in allen Aspekten des menschlichen Lebens verursachen oder beeinflussen
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 289

(Stolterman & Fors, 2004). Der zwischenzeitlich unterbewertete „Transformationsteil“


von DT wurde nach und nach wieder bekannt. Als sich verschiedene Forschungsströme
abzeichneten, erkannten einige Wissenschaftler nach und nach, dass DT mehr als nur ein
technologischer Wandel ist (Henriette et al., 2015). Neben der Technologie sind „Akteure“
(Nadkarni & Prügl, 2021) und die Ausrichtung von Strategie und anderen Faktoren wie
Kultur, Denkweise, Talententwicklung und Führung erforderlich (Goran et al., 2017).
In den letzten Jahren haben sich einige Forscher darauf konzentriert, die Dimensionen
und Treiber von DT zu identifizieren (Liere-Netheler et al. 2018b; Verhoef et al., 2019),
die wir im Folgenden auszugsweise zusammenfassen:

• Externe DT-Treiber: (1) innovation push & market pull, die durch die Einführung und
Entwicklung digitaler Technologien erzeugt werden (Nambisan et al., 2017; Samba-
murthy et al., 2003); (2) zunehmendes Datenvolumen (Kouroubali & Katehakis, 2019;
Pappas et al., 2018; Zaki, 2019); (3) Beschleunigung von Änderungen des Kundenver-
haltens (Rogers, 2016; von Leipzig et al., 2017; Westerman et al., 2014); und (4) Ge-
setze/Anpassungen der Regierungspolitik (Gong et al., 2020; Nambisan et al., 2019).
• Interne DT-Treiber: (1) strategische Notwendigkeiten wie Prozess- und Arbeitsplatz-
verbesserung (Henriette et  al., 2016); (2) vertikale und horizontale Integration
(Camarinha-­Matos et al., 2019; Gölzer & Fritzsche, 2017; Borangiu et al., 2019; Liere-­
Netheler et al. 2018a); (3) Managementunterstützung (Matt et al., 2015; Vukšić et al.,
2018); und (4) Kostenreduzierung (Liere-Netheler et al., 2018a). Einige andere Wissen-
schaftler konzentrieren sich auf die positiven und negativen Auswirkungen von DT.
• Positive Konsequenzen von DT: (1) Verbesserung der Entscheidungsfindung (Heilig
et al., 2017; Roedder et al., 2016); (2) Schaffung von Wettbewerbsvorteilen (Korhonen
& Halen, 2017; Schwertner, 2017); (3) Wertschöpfung, wie z.  B.  Optimierung des
Kundenerlebnisses (Rogers, 2016).
• Negative Folgen von DT: (1) Cybersicherheit (Möller, 2020) und (2) Datenschutz
(Mendhurwar & Mishra, 2019).

Über diese neuen Forschungsrichtungen hinaus gibt es andauernde Debatten über die
wahre Natur von DT. Die Kontroverse kann auf der Tatsache beruhen, dass die Bandbreite
der DT-Definitionen stark variiert – von einer geringfügigen technologiebasierten Ände-
rung wie der Implementierung eines neuen ERP-Systems (Chanias, 2017) bis zu einem
radikaleren und evolutionäreren Prozess, der im Laufe der Zeit stattfindet (Janowski,
2015; Loebbecke & Picot, 2015; Wang et  al., 2018) oder die wirtschaftlichen und ge-
sellschaftlichen Auswirkungen von Digitalisierung und Digitalisierung umfasst (OECD,
2018). Während einige Forscher DT mit Geschäftsmodellen (Berman, 2012; Bharadwaj
et al., 2013; Gassmann et al., 2014; Schallmo et al., 2017) und Strategie (Bharadwaj et al.,
2013; Henriette et al., 2015; Matt et al., 2015; Rogers, 2016; Westerman, 2018) assoziie-
ren, betrachten andere Autoren DT als Paradigma oder als Prozess (Berman, 2012; Janow-
ski, 2015; Wang et al., 2018). Infolgedessen erschwert die wachsende Vielfalt der mit dem
DT-Konzept verbundenen Forschungsfelder die Begriffsklärung.
290 C. Gong et al.

11.3.4 Synthese

Historisch gesehen sind die drei englischsprachigen Begriffe digitization, digitalization


und digital transformation miteinander verbunden und beschreiben verschiedene Objekte
oder Phänomene. Dank seiner längeren Nutzungsgeschichte in der Literatur (im Vergleich
zu digital transformation) umfasst der Begriff digitalization unweigerlich die frühe Dis-
kussion der sozialen Auswirkungen der digitization und die spätere Diskussion der Ergeb-
nisse von digital transformation. Das Fehlen allgemeiner akademischer Definitionen für
diese drei Konzepte beruht auf ihrer Ontogenese, die multivalent und parallel war. Die
Vielzahl der Verbindungen zwischen diesen und anderen Konzepten führt dann zu einer
großen Vielfalt paralleler Theorien. Diese Situation bereichert zwar das Spektrum der di-
gital transformation-Forschungsprogramme (Lakatos, 1978), klärt jedoch nicht die
Konzepte.
Multiple Theorien, die auf mehreren konzeptuellen Definitionen basieren, behindern
die Fähigkeit der wissenschaftlichen Gemeinschaft, alle an der digitalen Transformation
beteiligten Objekte besser zu definieren und zu verbinden, d. H. ihre Forschungsstrategie
zu standardisieren und zu verallgemeinern. Daher ist die Möglichkeit, unterschiedliche
Ergebnisse aus verschiedenen Studien zu vergleichen, in der aktuellen Situation sehr be-
grenzt. Dies impliziert, dass Autoren von wissenschaftlichen Arbeiten zunächst die Zu-
sammenhänge zwischen den gewählten Begriffen, den Definitionen und den untersuchten
Objekten oder Phänomenen berücksichtigen sollten.
Abgesehen von der wirklich beabsichtigten Bedeutung wurde digitalization in einigen
Fällen auch zur Beschreibung der digitization und in anderen Fällen zur digital trans-
formation verwendet. Einige Autoren wie Verhoef et al. (2019) betrachten die Begriffe in
sequenzieller Reihenfolge (digitization -> digitalization -> digital transformation), wobei
digitalization die beiden anderen Begriffe überbrückt und verbindet; andere Wissen-
schaftler sind mit dieser Ansicht nicht einverstanden. Die Situation wird weiter dadurch
verkompliziert, dass in einigen Sprachen (wie z. B. im Deutschen) zwei oder sogar alle
drei Begriffe sprachlich als ein Wort übersetzt werden.
Der Begriff digitalization wird verwendet, um einen Zustand der Digitalisierung und
den Prozess darzustellen, bei dem die Entitäten von der Aktion „going digital“ betroffen
sind. Der heutige Konsens scheint, dass digital transformation mehr ist als digitization
(Haffke et  al., 2016; Iansiti & Lakhani, 2014; Yoo et  al., 2012). Nach einem Scoping-­
Review von Verhoef et al. (2019) beschreibt der größte Teil der Literatur, dass digitization
und digitalization inkrementellere Phasen implizieren, um die allumfassendste Phase der
digital transformation zu erreichen (Loebbecke & Picot, 2015; Parviainen et al., 2017).
Die inkonsistente Verwendung der Begriffe digitalization und digital transformation be-
steht jedoch immer noch in einem breiten Spektrum der akademischen und praktischen
Literatur, und dieser Mangel an begrifflicher Unterscheidung stellt eine beunruhigende
Einschränkung der vorhandenen Literatur dar.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 291

11.4 Methodik zur Bildung und Bewertung von Konzepten

Basierend auf dem semantischen Dreieck von Ogden und Richards (1923) (d. h. Sym-
bol, Gedanke/Referenz, Referent) und auf Sartoris (1984) Arbeit (d.  h. Begriff/Wort,
Bedeutung, Referent/Objekt) schlug Gerring (1999) acht Tiefenkriterien der kon-
zeptuellen Güte vor: Vertrautheit, Resonanz, Sparsamkeit, Kohärenz, Differenzierung,
Tiefe, theoretischer Nutzen und Feldnutzen. Gerring (1999) unterstützt die Ansicht von
Ogden und Richards (1923), dass Konzepte dann gut sind, wenn sie eine korrekte Aus-
richtung zwischen den drei Dimensionen Intensität, Ausdehnung und Term erreichen
(S. 357–358):

• Der Begriff (term) bezieht sich auf die Wörter, die einem Konzept als Bezeichnung für
die Intensität und die Erweiterung zugeordnet sind. Dies wirkt sich auf den Bekannt-
heitsgrad, die Resonanz und den Feldnutzen des Konzepts aus.
• Die Intensität (intension), d. H. Konnotation, Bedeutung, definiens oder Definition,
bezieht sich auf die Eigenschaften oder Attribute, die ein Konzept definieren. Die Attri-
bute, die speziell für die Definition des Konzepts ausgewählt wurden, legen den Grad
an Sparsamkeit und interner Kohärenz fest. Die Erweiterung, d. H. Bezeichnung, Refe-
rent, Objekt, Definiendum, bezieht sich auf das zu definierende Objekt, Ereignis oder
Phänomen und den Referenten oder die Referenten, für die ein Konzept gilt. Es be-
stimmt die Art der empirischen Fälle, auf die ein Konzept angewendet wird, und be­
einflusst die theoretische Nützlichkeit und Tiefe des Konzepts. Es bestimmt den
Differenzierungsgrad eines Konzepts.
• Die Erweiterung (extension), d. h. Bezeichnung, Referent, Objekt, Definiendum, be-
zieht sich auf das zu definierende Objekt, Ereignis oder Phänomen und den oder die
Referenten, für die ein Konzept gilt. Es bestimmt die Art der empirischen Fälle, auf die
ein Konzept angewendet wird, und beeinflusst die theoretische Nützlichkeit und Tiefe
des Konzepts. Es bestimmt den Differenzierungsgrad eines Konzepts.

Die Untersuchung der Entwicklung von Definitionen zeigt: (1) die Vielzahl der in der Li-
teratur vorgeschlagenen Definitionen; (2) inwieweit sich ihre definierenden Attribute zwi-
schen den drei Konzepten digitization, digitalization und digital transformation über-
schneiden; (3) die Vielzahl konzeptioneller Grenzen und damit der untersuchten Realitäten.
Es ermöglicht die Angabe der Kern- und Peripherie-Definitionsattribute, die zur Definition
der drei Konzepte verwendet werden. Die definierenden Attribute können dann gruppiert
werden, um ihre logische Ausrichtung (interne Kohärenz) sowie ihre externe Differenzie-
rung zu analysieren. Ein solcher Analyseprozess erleichtert daher eine qualitative Be-
wertung der Verbindungen zwischen den drei Dimensionen des semantischen Dreiecks
und bewertet die konzeptionelle Güte der Zielkonzepte anhand einer Bewertungsskala, die
an Gerrings (1999) Rahmen angepasst ist (siehe Abb. 11.2).
292 C. Gong et al.

Abb. 11.2  Bewertungsskala für die Bewertung der Konzeptgüte. (Quelle: Eigene Darstellung).
Anmerkungen. Die acht Kriterien der Konzeptgüte sind von Gerring (1999) übernommen

11.5 Die Analyse historischer Definitionsattribute und Ihre


konzeptionelle Bewertung

11.5.1 Digitization

Definitionen der Digitalisierung wurden solange gesammelt, bis eine Sättigung/Wieder-


holung der definierenden Attribute beobachtet wurde. Dieser Prozess stellt sicher, dass die
meisten angewendeten Definitionsattribute identifiziert werden. Die Sättigung wurde mit
11 Definitionen erreicht. Diese Schlüsseldefinitionen der Digitalisierung haben sich in den
letzten zwei Jahrzehnten entwickelt, seit die erste Definition 1995 vorgeschlagen wurde
(und sind in Abschn. A, Anhang 2 dargestellt).
Wir fassen die 27 definierenden Attribute der Digitalisierung und ihre Häufigkeit in
Tab. 11.1 zusammen. Basierend auf der akkumulierten Häufigkeit dieser Attribute sind die
ersten fünf definierenden Attribute die Kerndefinitionsattribute (am häufigsten verwendet);
die folgenden drei definierenden Attribute sind die peripheren definierenden Attribute
(durchschnittliche Häufigkeit); und der Rest sind die Außenseiter (niedrige Verwendung).
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 293

Tab. 11.1  Definierende Attribute und Häufigkeit der digitization. (Quelle: Eigene Darstellung)

Hinweis. Die Häufigkeit von Attributen entspricht der Anzahl der wiederholten Attribute geteilt
durch die Gesamtzahl der identifizierten definierenden Attribute (27)

Die Analyse zeigt, dass digitization sich auf einen technischen Prozess zur Um-
wandlung analoger Daten/Informationen1 in digitale Formen bezieht. Es ist ein Prozess,
der sowohl symbolische (d.  h. Konvertieren von analogen Daten in als 0s und 1s dar-
gestellte Bits) als auch materielle (d. h. Artefakte, die zum Speichern und Kommunizieren
digitalisierter Informationen verwendet werden) Dimensionen aufweist. Daher werden
Daten durch digitization dekonstruiert und als Zeichenfolgen von Nullen und Einsen

 Beachten Sie, dass die Begriffe Daten und Informationen in diesen Definitionen als Synonyme ver-
1

wendet werden.
294 C. Gong et al.

Abb. 11.3  Das Konzept der digitization. (Quelle: Eigene Darstellung)

c­ odiert, die als Information „can then be expressed in many different ways, on many diffe-
rent types of materials, and in many different systems“ (Brennen & Kreiss, 2016, S. 2).
Die ultimative Eigenschaft, Fehler, Wiederholungen und statische Aufladungen zu ver-
meiden, ermöglicht das einfache Speichern, Übertragen, Bearbeiten und Anzeigen digita-
lisierter Daten und Informationen, wodurch Papierkram reduziert und die Effizienz ver-
bessert wird. Durch digitization können physische Produkte programmierbar, adressierbar,
sinnvoll, kommunizierbar, einprägsam, nachvollziehbar und assoziierbar werden (Yoo,
2010). Wenn digitale Technologien in traditionelle physische Produkte, eingebettet sind,
wie z. B. Kameras (Tripsas, 2009), Telefone (Ghazawneh & Henfridsson, 2013), Maga-
zine (Nylén et al., 2014) und Automobile (Svahn et al., 2017), dann können diese einen
viel breiteren Funktionsumfang anbieten im Vergleich zu nicht digitalen Produkten (Holm-
ström, 2018). Die Essenz/wesentliche Bedeutung der digitization ist in Abb.  11.3 dar-
gestellt.
Basierend auf der Bewertungsskala für die Bewertung der Konzeptgüte diskutieren wir
die Konzeptgüte der Digitalisierung wie folgt:

Vertrautheit (Familiarity)  Digitization wurzelt in der modernen Verwendung des Verbs


„digitize“ und bezieht sich auf „the action or process of digitizing, i.e., the conversion of
analog to digital forms.“ Waehrend „digitization“ im englischsprachigen Raum als ganzes
Wort normalen Menschen nicht immer sehr vertraut ist, so sind doch separat die Wurzel
„digit“ und das Suffix „-ization“ wohlbekannt. Ein solches Maß an Vertrautheit reicht hier
aus, um die „Bekehrung“ des Begriffs leicht zu erfassen. Im Englischen erzeugt das Kon­
struieren eines Substantivs aus einem Verb durch Hinzufügen des Suffixes „-ization“ je-
doch eine doppelte Bedeutung (Taylor, 2000). Der neue Begriff bezeichnet entweder den
durch das ursprüngliche Verb beschriebenen Prozess oder den Endzustand, der sich aus
dem Höhepunkt eines solchen Prozesses ergibt (Buller & Gamble, 2002). Daher können
gewöhnliche Menschen die Kombination „digit“ und „-ization“ auf drei verschiedene
Arten interpretieren: Prozess, Ergebnis oder beides. Die Vielzahl möglicher Inter-
pretationen verringert die Genauigkeit der Beschreibung des Phänomens.

Resonanz (Resonance)  Digitization zeigt Resonanz mit den Begriffen „digit,“ „digital,“
und „digitize.“ Zudem klicken die Begriffe „digitization“ und „digital“ ebenfalls kognitiv
miteinander, was die Eingängigkeit des Labels/Begriffs erhöht. Der Zusammenhang zwi-
schen dem Etikett /Begriff und seiner formalen Bedeutung ist jedoch nicht so offensicht-
lich. Allerdings enthält das Etikett/der Begriff eindeutig ein Reimschema, was ebenso
dessen Eingängigkeit erhöht.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 295

Abb. 11.4  Die visuelle Darstellung der internen Kohärenz der rekonzeptualisierten digitization.
(Quelle: Eigene Darstellung). Hinweis: Die unter dem Begriff „Action of Technical Encoding“ zu-
sammengefassten drei definierenden Attribute sind peripher

Sparsamkeit (Parsimony)  Fünf Kern- und drei Peripherieattribute werden wiederholt


angewendet, um digitization zu definieren. Die Anzahl der Attribute im Kern erfüllt die
von Gerring (1999) ausgedrückten Sparsamkeitskriterien: „[no more than] a half-dozen
attributes“ (S. 371).

Kohärenz (Coherence)  Digitization weist ein hohes Maß an interner Kohärenz auf. Die
fünf Kerndefinitionsattribute (z. B. analoge, digitale Form/Bits, Prozess, Daten/Informa-
tion, Umwandlung) vermitteln die wesentliche Bedeutung eines Umwandlungsprozesses
von analogen Daten/Informationen zu digitaler Form/Bits. Unter Berücksichtigung des
Peripheriegeräts (z. B. Codierung, Technik, Aktion) wird die wesentliche Bedeutung der
Aktion „digitize“ weiter gestärkt. Sie zeigen einen technischen Prozess des „encoding
[analog] into zeroes and ones so that computers can store, process, and transmit such in-
formation“ (Bloomberg, 2018). Die zur Definition dieses Konzepts verwendeten Instan-
zen und Attribute sind intern konsistent und logisch miteinander verbunden (siehe
Abb. 11.4). Um eine genauere Ausarbeitung zu erreichen, unterscheiden wir Daten und
Informationen aus einer Sicht des Knowledge Management. Daten beziehen sich auf die
Fakten und Statistiken, die zusammen als Referenz oder Analyse gesammelt wurden, wäh-
rend Informationen als „any non-random pattern or set of patterns“ (Bennet et al., 2015)
übermittelt oder dargestellt werden.

Differenzierung (Differentiation)  Die Hauptherausforderung bei der Definition der Di-


gitalisierung besteht darin, klare Grenzen innerhalb eines Feldes ähnlicher Begriffe fest-
zulegen (z. B. digitalization, digital transformation). Basierend auf der Analyse der defi-
nierenden Attribute sind die Definitionsgrenzen des Konzepts digitization jedoch im
technischen Sinne relativ einfach, wie sich in der Kohärenz zeigt, und ermöglichen so eine
gute Operationalisierbarkeit.

Tiefe (Depth)  Die klaren Grenzen von digitization im technischen Sinne verringern
andererseits die Tiefe, um die Anzahl der Eigenschaften abzudecken, die dieses Objekt/
Phänomen in seiner Erweiterung hat. Mit anderen Worten, das Konzept hat eine schlechte
Fähigkeit, Eigenschaften zu bündeln. Gemäß den Definitionen in Abschn. A, Anhang 2 ist
die Digitalisierung jedoch kein Restkonzept (welches ein Konzept definiert durch das, was
es nicht ist).
296 C. Gong et al.

Theoretischer Nutzen (Theoretical utility)  Digitization wurde zunächst gemeinsam


mit Computern eingesetzt und dann von einem rein technischen Prozess auf die Aus-
wirkungen auf digitale Technologien und deren Auswirkungen ausgeweitet. Digitization
ist nicht theoretisch ausgerichtet, da das ursprüngliche Konzept aus einer technologischen
Implikationsperspektive stammt, die den theoretischen Nutzen dieses Konzepts aufgrund
seiner Position innerhalb einer engeren Reihe von Begriffen einschränkte. Insbesondere in
der Informatik wird digitization verwendet, um den technischen Prozess der Umwandlung
numerischer oder anderer Informationen in einer Form zu beschreiben, die für die Ver-
arbeitung durch Computer geeignet ist. Mit den unklaren konzeptuellen Definitionen (Ver-
mischung von Prozess und Ergebnis) in den ersten Jahren wurde dieses Konzept jedoch
verwendet, um die Bedeutungen der verwandten Begriffe zu mobilisieren, da sie dieselben
Wurzeln haben. Die einfache, austauschbare Verwendung der Bedeutungen des Konzepts
kann zwar dessen theoretischen Nutzen erhöhen, aber andere Kriterien (z. B. Kohärenz,
Differenzierung) sowie die Formulierung von Theorien zerstören.

Semantischer Feldnutzen (Semantic field utility)  Der Begriff Digitization hat einen
relativ hohen semantischen Feldnutzen, da er die zur Definition verwendeten Wörter nicht
zerstört. Das digitizing der analogen Daten ändert nichts am Verständnis der Konvertierung
oder Codierung in Ziffern (0s und 1s). Keiner der benachbarten Begriffe wird bei der Kon-
zeption verletzt. Im Gegensatz dazu stellt es eine sehr gute Beziehung zu den benach-
barten Begriffen her und erhöht ihre Nützlichkeit im semantischen Bereich.

Aus der vorangegangenen Bewertung ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen: Das


Konzept der Digitalisierung funktioniert recht gut bei den Parametern des Begriffs (d. h.
Vertrautheit, Resonanz, Feldnutzen) und Intensität (d. h. Sparsamkeit, Kohärenz) und mo-
derat bei den Parametern der Erweiterung (d. h. Tiefe, Differenzierung, theoretischer Nut-
zen) aufgrund einer niedrigeren Punktzahl für den theoretischen Nutzen. Die Digitalisie-
rung erfüllt die Kriterien Tiefe und Differenzierung im technischen Sinne gut. Abb. 11.5
zeigt das Gesamtergebnis unserer Bewertung des Begriffs Digitization anhand der acht
Kriterien mithilfe des Gerring-Frameworks (siehe Abb. 11.2).

11.5.2 Digitalization und Digital Transformation

Während digitization ein eigenständiges Konzept zu sein scheint, das sich auf den techni-
schen Prozess der Konvertierung analoger Daten in digitale Formate bezieht, über-
schneiden sich die Attribute der Konzepte digitalization und digital transformation. Eine
systematische Analyse der Konzeptbildung und Konzeptualisierungsentwicklung der digi-
tal transformation ist daher eine Voraussetzung für die weitere Theoretisierung und Mo-
dellierung. Um eine bessere Lesbarkeit zu erreichen, beschlossen die Autoren, diese
­beiden Konzepte gemeinsam vorzustellen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede
­aufzuzeigen.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 297

Abb. 11.5  Das Ergebnis der Konzeptbewertung der „digitization“. (Quelle: Eigene Darstellung)

Gong & Ribiere (2021) überprüften 134 Definitionen von digital transformation, um
Einblicke in sechs zentrale Grundelemente dieses Konzepts zu erhalten. Sie stellten fest,
dass die Herausforderung und Notwendigkeit, eine nachhaltige Nomenklatur digitaler Be-
griffe und Konzepte zu entwickeln, ein dringendes und wichtiges Problem darstellt, ins-
besondere um die Unterschiede zwischen digitalization und digital transformation heraus-
zuarbeiten.
In diesem Abschnitt werden diese beiden unterschiedlichen, jedoch miteinander ver-
bundenen Konzepte durch eine diachrone Analyse ihrer Definitionsattribute auf der
Grundlage empirischer Belege weiter erörtert. Daher wurde in der EBSCO-Datenbank
eine Suchabfrage nach empirischen Studien durchgeführt, die sich mit digitalization und
digital transformation befassen; die entsprechend identifizierten Volltextpapiere wurden
heruntergeladen und auf ihre Eignung überprüft. Sechsunddreißig Definitionen wurden
basierend auf empirischen Daten extrahiert, darunter 24 Definitionen des Konzepts digital
transformation und 12 Definitionen des Konzepts digitalization. Abschn.  A, Anhang  3
führt die definierenden Attribute und ihre relative Häufigkeit für jedes der beiden Kon-
zepte auf, um so begriffliche Ähnlichkeiten und Unterschiede deutlich zu machen.
Insgesamt gibt es 41 definierende Attribute für digital transformation und 30 für die
digitalization, was auf ein hohes Maß an Diskrepanz zwischen den verfügbaren Definitio-
nen und das Problem der konzeptionellen Ausdehnung in diesen Definitionen hinweist. In
Bezug auf die in den Abschn. 11.2 und 11.3 diskutierten etymologischen und historischen
298 C. Gong et al.

Fragen ist es nicht verwunderlich, dass sich rund 36 % (15 von 41) der definierenden At-
tribute der Begriffe digital transformation und digitalization überschneiden. Bei näherer
Betrachtung dieser Attribute sind die interne Kohärenz und die externe Differenzierung
umstritten. Die Tatsache, dass es keine einzelne Definition gibt, die alle oder die meisten
Kern- und Peripherie-Definitionsattribute umfasst, unterstützt diese Ansicht ebenfalls.
Eine solche Vielfalt von Attributen zeigt entweder die Vielzahl von Bedeutungen an, die
mit einem Konzept verbunden sind, oder schlägt vor, dass es zwei oder mehr Konzepte
geben sollte, um die Bedeutungen basierend auf logischer interner Kohärenz und externer
Differenzierung besser zu unterscheiden. Die hier getroffene Wahl wird sich auf lange
Sicht auch auf die mit diesen Begriffen verbundene Theoriebildung auswirken.
Eine klare Grenze für jedes Konzept bestimmt, welche Realität effektiv mit einem be-
stimmten Konzept verbunden ist, und kommt der empirischen Forschung zugute, um kon-
sistente und vergleichbare Ergebnisse zu erzielen. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine
gründliche Analyse all dieser bestimmenden Attribute (der Konzepte digitalization und
digital transformation) im Kontext der Forschungsarbeiten erforderlich, aus denen die
Definitionen extrahiert wurden. Dieselbe Methode zur Analyse des Konzepts digitization
wurde erneut angewendet, um die Kern- und Peripherieattribute für die Bewertung der
Konzepte digitalization und digital transformation auf der Grundlage des Gerring-­
Frameworks (1999) zu analysieren. Wir haben uns jedoch entschlossen, unsere Analyse
hier nicht in allen Details zu präsentieren, um Wiederholungen von Inhalten zu vermeiden
und den Umfang dieses Kapitels nicht zu überdehnen.

Digitalization
Bei Betrachtung aller bestimmenden Attribute des Begriffes digitalization lassen sich fol-
gende Schlüsse ziehen:

• Erstens bezieht sich digitalization auf den Veränderungsprozess der Übernahme und
Nutzung digitaler Technologien, unabhängig davon, ob diese Veränderungen in der
Verbindung und im Verhalten von Individuen auftreten (Gimpel & Röglinger, 2015)
oder sich auf die vielfältigen sozio-technischen Veränderungen in breiteren individuel-
len, organisatorischen und gesellschaftlichen Kontexten beziehen (Legner et al., 2017).
Diese Vielzahl von Veränderungen im Kontext von digitalization weist auf eine mög-
liche kontextbezogene Hierarchie in diesen Definitionen hin.
• Zweitens konzentriert sich das Ergebnis der digitalization eher auf die Beschreibung
der Konsequenzen, die die Implementierung digitaler Technologien für value offerings
(d. h. Produkte und Dienstleistungen) haben kann, und auf die Qualität der Beziehungen
des Unternehmens zu anderen stakeholders (z. B. erhöhte Einfachheit, Effizienz, Ge-
schwindigkeit und Wettbewerbsfähigkeit). Es konzentriert sich auf die Veränderung
bestehender sozio-technischer Strukturen, die zuvor durch nicht digitale Artefakte ver-
mittelt wurden (Thorseng & Grisot, 2017), und auf mögliche Veränderungen in den
Prozessen, die über die bloße digitizing bestehender Prozesse, Formen und
­Arbeitsprodukte hinausgehen (Parviainen et  al., 2017). Das heißt, es geht über den
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 299

technischen Prozess der digitization hinaus. Im Gegensatz dazu ist digitalization ein
wesentlicher Antriebsfaktor, der sich insbesondere auf das Geschäftsumfeld und die
interfunktionale Koordination auswirkt (Ruiz-Alba et al., 2019), um die funktionalen
Silos zu integrieren. Es ist ein Mittel, um die Bedürfnisse der Kunden effektiver zu er-
füllen (Rachinger et al., 2019) und Unternehmen dazu zu bringen, in kurzer Zeit schnell
zu handeln (Sehlin et al., 2019). Es hat den Übergang von produktbasierten zu dienst-
leistungsbasierten Unternehmen beschleunigt und beeinflusst grundlegend, wie Unter-
nehmen um Kunden konkurrieren und mit ihnen Geschäftsrransaktionen durchführen
(Hänninen et al., 2018). Es ändert die Beziehungen in solche, die durch digitalisierte
Artefakte und Beziehungen zu neu eingebetteten digitalen Funktionen vermittelt wer-
den (Thorseng & Grisot, 2017).
• Drittens kann digitalization eine Quelle für den Wettbewerbsvorteil eines Unter-
nehmens sein, indem es dessen Effizienz steigert. Es verbessert die Effektivität der
Organisation und beeinflusst ihre internen Strukturen, indem es die interdisziplinäre
Zusammenarbeit verstärkt (Rachinger et al., 2019).

Abb. 11.6 zeigt die identifizierten definierenden Attribute der digitalization. Es zeigt sich,
dass dieses Konzept mehrere Dimensionen enthält, von denen sich einige mit der digitalen

Abb. 11.6  Die Kern- und Peripherie-Attribute der digitalization. (Quelle: Eigene Darstellung).
Hinweis: Die Kerndefinitionsattribute werden im inneren Ring und die peripheren Attribute im äu-
ßeren Ring dargestellt. Die definierenden Attribute in den kleinen Kreisen sind Außenseiter (nied-
rige Häufigkeit)
300 C. Gong et al.

Transformation überschneiden. Diese Überlappung beruht auf der in Abschn.  11.2


und 11.3 diskutierten etymologischen Verwirrung, die zu einer unklaren Grenze zur digital
transformation führt. Eine weitere Erklärung zur Neuausrichtung dieser Dimensionen ist
erforderlich, um die interne Kohärenz und externe Differenzierung zu erhöhen und dieses
Konzept besser zu verstehen.
Das Konzept digitalization ist umstritten. Bei der Auswahl eines Phänomens unter an-
deren Phänomenen erzeugt dieses Konzept Verwirrung, indem es seine benachbarten Kon-
zepte mit ihren überlappenden Attributen in Bezug auf verschiedene Objekte/Phänomene
verknüpft. Das heißt, eine nicht differenzierbare konzeptionelle Definition kann zur Ver-
trautheit, Resonanz und Tiefe der digitalization beitragen. es verringert jedoch weitgehend
dessen Differenzierungsgrad und verwischt seine Grenzen zu anderen benachbarten Kon-
zepten. Ohne eine klare Grenze, die die Natur der Digitalisierung spezifiziert, wird eine
solche Verwirrung den Nutzen des semantischen Feldes kontinuierlich schädigen und Phä-
nomene verbinden, deren gemeinsame Eigenschaften in keiner Weise miteinander zu-
sammenhängen. Daher ist eine Rekonzeptualisierung mit einem hohen Maß an Kohärenz
und Differenzierung erforderlich, damit dieses Konzept in Bezug auf Ausdehnung und
Intensität eine bessere Leistung erbringt.

Digital Transformation
Betrachtet man die bestimmenden Attribute der digital transformation (DT), so unter-
scheiden sich ihr Umfang und erwartetes Ergebnis von denen des Konzepts digitalization:

• Erstens bezieht sich DT auf einen Transformationsprozess (d. h. einen grundlegenden


Veränderungsprozess) unter Verwendung digitaler Technologien und nicht auf einen
inkrementalen Veränderungsprozess. Liu et al. (2011) definierten DT als „an organiza-
tional transformation that integrates digital technologies and business processes in a
digital economy“ (S.  1730), basierend auf ihrer qualitativen Fallstudie des globalen
E-Banking-Projekts der CBC Bank. Digitale Technologien werden verwendet, um cus-
tomer value propositions zu transformieren und operations neu zu organisieren, um
neue Geschäftsmodelle zu schaffen (Berman, 2012). DT verändert ein Geschäftsmodell
darin, wie das Unternehmen Wert für seine Kunden schafft (d. H. customer value pro-
position) und wie es diesen Wert erfasst (wie es Geld verdient) (Iansiti & Lakhani,
2014). Kane et al. (2015) bestätigten DT als organisatorische Transformation, bei der
digitale Technologien die Geschäftsmodelle und -prozesse transformieren, basierend
auf ihrer Befragung von mehr als 4800 Geschäftsführern, Managern und Analysten in
129 Ländern und 27 Branchen sowie Interviews mit Geschäftsführern und Techno-
logieanbieter. Eine solche Transformation von Geschäftsaktivitäten, Prozessen, Model-
len, Kompetenzen, Betriebsabläufen und organisatorischen Fähigkeiten, um die durch
digitale Technologien hervorgerufenen Veränderungen und Chancen voll auszu-
schöpfen, ist von tiefgreifender und grundlegender Natur (Demirkan et al., 2016; Li
et al., 2018). Es umfasst die Vernetzung von Akteuren wie Unternehmen und Kunden
über alle Wertschöpfungskettensegmente hinweg durch die Anwendung digitaler
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 301

Technologien (Schallmo et al., 2017). Daher stimmen diese oben genannten Attribute
mit dem aufkommenden Begriff der business model innnovation überein, der in jüngs-
ter Zeit massives praktisches (Pohle & Chapman, 2006) und theoretisches (Schneider
& Spieth, 2013, 2014; Zott et al., 2011) Interesse erhalten hat. Die weit gefasste Defi-
nition von Geschaeftsmodellinnovation als „the implementation of a business model
that is new to the firm“ (Björkdahl & Holmén, 2013, S.  214) und seine Haupt-
dimensionen value creation, value proposition, und value capture (Baden-Fuller & Ha-
efliger, 2013; Clauss, 2017; Johnson et al., 2008; Massa & Tucci, 2014; Morris et al.,
2005; Zott & Amit, 2013) passen auf strategischer Ebene zu den für DT erwarteten
Endergebnissen.
• Zweitens, aus einer change management-Perspektive heraus beleuchtet stellt das End-
ergebnis der DT eher eine signifikante Transformation dar (d. h. eine Neudefinition von
Mission und Zweck, die eine neue strategische Stoßrichtung reflektiert) und nicht nur
eine einfache Neuausrichtung (d. h., eine Änderung der Art und Weise, Dinge zu tun, die
keine fundamentale Neubewertung der zentralen Annahmen und Überzeugungen inner-
halb der Organisation beinhalten; Balogun et  al., 2015). DT führt zu radikalen Ver-
besserungen gemäß Westerman et al, (2011). Es ist eine ganzheitliche Anstrengung, die
unternehmerischen Kernprozesse und -dienstleistungen zu überarbeiten, was zu einer
vollständigen Überarbeitung der bestehenden und zur Schaffung neuer digitaler Produkte
und Dienstleistungen führt (Mergel et al., 2019). Zudem geht DT über den reinen techno-
logischen Wandel hinaus (Kane et al., 2015). Es beinhaltet den Prozess der strategischen
Erneuerung und der Entwicklung dynamischer Fähigkeiten einer Organisation (Warner &
Wäger, 2019), wobei es auch die Chancen und Risiken berücksichtigt, die sich aus digi-
talen Technologien ergeben (Singh & Hess, 2017). Es wirkt sich auf die operativen
Arbeitsabläufe der Mitarbeiter (Chen et al., 2014) sowie auf die Managementprozesse
(Iansiti & Lakhani, 2014) und die menschlichen Beziehungen (Mićić, 2017) auf Führungs-
ebene aus. Die Neudefinition der value propositions eines Unternehmens kann durch
Kundeninteraktion und -zusammenarbeit (Berman, 2012) und Kundenbindung (Schuch-
mann & Seufert, 2015) geprägt sein. DT kann auch die Unternehmenskultur und -fähig-
keiten beeinflussen (Li et al., 2018; Tan et al., 2015) und „lead to highly dynamic markets,
pressuring employees to continuously adapt to new situations and increasing the need for
agility and lifelong learning“ (Schwarzmüller et al., 2018, S. 126). Während Top-Führungs-
kräfte die digitale Agenda festlegen und vorantreiben sollten, ist es entscheidend, dass sie
sich auch auf das Engagement von Mitarbeitern und Talenten konzentrieren, um digital
maturity zu erreichen (Kane et al., 2015).
• Drittens, während 11 Definitionen aus 24 Studien Organisationen ausdrücklich als eine
von DT betroffene Analyseeinheit anerkennen, werden die Industrie und Gesellschaft
nur von wenigen Studien auch als für DT relevante Einheiten angesehen. DT ist die
Integration digitaler Technologien in das Geschäft, was zu grundlegenden Ver-
änderungen in der Art und Weise führt, wie die Welt Geschäfte macht und kommuni-
ziert (Mićić, 2017). Digitale Technologien verändern rasch die grundlegende Natur
eines breiten Spektrums von Organisationen und revitalisieren ihre digitalen Geschäfts-
302 C. Gong et al.

modelle branchenübergreifend (Demirkan et al., 2016). Eine solche ganzheitliche Form


der Geschäftstransformation geht mit grundlegenden wirtschaftlichen und techno-
logischen Veränderungen auf Organisations- und Branchenebene einher (Chanias et al.,
2019) und entfaltet ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft auf strategische und priori-
sierte Weise (Demirkan et al., 2016)). Diese Studien weisen darauf hin, dass DT eine
Vielfalt von Analyseeinheiten betrifft.
• Schließlich wirft die Verwendung von „digital economy“ and „digital maturity“  zur
Definition der DT das Problem der konzeptionellen Dehnung auf, die sich auf die Ver-
zerrung bezieht, die auftritt, wenn ein Konzept nicht zu den neuen Fällen passt (Collier
& Mahon Jr, 1993; Sartori, 1970). Diese beiden Begriffe selbst bleiben in der Literatur
nicht spezifiziert. Wenn sie aber dazu verwendet werden, um die Konnotationen der DT
zu erweitern, so kann dies das DT-Konzept so überdehnen, so dass es „cover instances
that lie quite a bit outside their normal range of use“ (Gerring, 1999, S. 360).

Abb. 11.7 zeigt die identifizierten definierenden Attribute der digital transformation


Aus dieser Bewertung ergeben sich mehrere Schlussfolgerungen. Es ist bemerkens-
wert, dass das DT-Konzept in mehreren Kriterien recht gut funktioniert: Es ist vertraut und
resonant und scheint ausreichend sparsam und theoretisch sehr nützlich zu sein. Wie oben
erwähnt, ist es daher kein Wunder, dass das Konzept schnell an Popularität gewann, was

Abb. 11.7  Die Kern- und Peripherie-Attribute der digital transformation. (Quelle: Eigene Dar-
stellung). Hinweis: Die Kerndefinitionsattribute werden im inneren Ring und die peripheren Attri-
bute im äußeren Ring dargestellt. Die definierenden Attribute in den kleinen Kreisen sind Außen-
seiter (niedrige Häufigkeit)
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 303

allerdings auch eine Gefahr in sich birgt, dass es zu einem buzzword wird. Mit einer Re-
konzeptualisierung, die das Wesentliche der Definition von Attributen besser miteinander
verbindet, verbessern sich jedoch die Ergebnisse der Gesamtkonzeptbewertung. Das Kon-
zept DT ist in Bezug auf den Begriff, Erweiterung und Intensität recht gut: hohe Resonanz
und theoretischer Nutzen; gute Tiefe, Vertrautheit, Kohärenz und Differenzierung; mäßige
Sparsamkeit und zu einem gewissen Grad auch Feldnutzen.

11.5.3 Synthese

Nach all den Diskussionen in diesem Teil stellen wir einige Überschneidungen der Kon-
zepte digitalization und digital transformation fest: Beide Begriffe erkennen den durch
digitale Technologien ermöglichten Veränderungsprozess an. Sie betonen jedoch den
unterschiedlichen Umfang und die unterschiedlichen Ergebnisse dieses Veränderungs-
prozesses. In der Tat zeigen sowohl digitalization mit dem Suffix „-ization“ als auch die
digital transformation unter Verwendung des Begriffs „Transformation“, dass die Tiefe
dieser Konzepte ein Prozess ist, insbesondere ein Veränderungsprozess. Im Allgemeinen
reicht die vorhandene Literatur jedoch nicht aus, um digitalization und digital trans-
formation voneinander hinreichend zu unterscheiden.
Nur unter Berücksichtigung der Kerndefinitionsattribute ist das entscheidende Attribut
zur Unterscheidung dieser beiden Konzepte „Veränderung“ (digitalization) gegenüber
„Transformation“ (digital transformation). Ein solcher Unterschied in Bezug auf den Um-
fang der Änderung zur weiteren Unterscheidung dieser beiden Konzepte ist im Bereich
change management offensichtlich, in der Alltagssprache jedoch möglicherweise nicht
eindeutig. Aus Sicht des change management zeigt dieses zentrale definierende Attribut
für jedes Konzept bereits die unterschiedliche Art des Wandlungsprozesse, der durch digi-
tale Technologien ermöglicht wird, und das erwartete Endergebnis, das sie möglicher-
weise erzielen. In Bezug auf den Umfang der Änderungen handelt es sich bei der digitali-
zation um eine schrittweise oder kontinuierliche Änderung, bei der digitale Technologien
installiert werden, die erforderlich sind, um ein Unternehmen auf seinem gewählten Weg
mit verbesserter Effizienz zu halten. Diese Änderung muss nicht notwendigerweise gering
sein, und kann selbst eine Aufwendung erheblicher Ressourcen (Zeit, Personen, Geld)
umfassen. Es hat jedoch seinen wesentlichen Kern (d.  h. die zentralen Annahmen und
Überzeugungen der Organisation) wie Strukturen, Missionen, Visionen und Kulturen
nicht grundlegend verändert.
Im Gegensatz dazu umfasst die digital transformation eine grundlegende Änderung des
Geschäftsmodells des Unternehmens, die alle strukturellen, kulturellen und prozeduralen
Aspekte berührt. Es ist eine umfassende Metamorphose (Transformation) einer Entität
(Organisation). Diese von einer solchen grundlegenden Änderung betroffene Einheit ist in
den Kerndefinitionsattributen der digital transformation enthalten, wird jedoch im
­Definitionskern der digitalization nicht erwähnt. Ausgehend von den peripheren Attribu-
ten der digitalization gibt es eine kontextbezogene Hierarchie der von dieser Änderung
304 C. Gong et al.

betroffenen Einheiten (d. h. individuell, organisatorisch und gesellschaftlich). Eine ähn-


liche Hierarchie findet sich in den definierenden Attributen der digital transformation
(d.  h. organisatorisch, industriell, gesellschaftlich). Hätten wir die DT-Definitionen so-
wohl aus konzeptionellen als auch aus empirischen Forschungsarbeiten extrahiert, würden
die von DT betroffenen Einheiten sogar eine Organisation, ein Unternehmensnetzwerk,
eine Branche oder eine Gesellschaft umfassen (Gong & Ribiere, 2021). Daher sehen wir
diese hierarchische Perspektive als eine Dimension an, die weiterer Forschung bedarf.
Wenn wir Organisationen nur als Untersuchungseinheit betrachten, schlagen wir vor,
dass sich digital transformation darauf konzentriert, die Geschäftsabläufe der Organisa-
tionen zu transformieren, um neue Geschäftsmodelle zu schaffen. Im Gegensatz dazu kon-
zentriert sich digitalization auf die Installation digitaler Technologien, damit diese zur
Erzielung wirtschaftlicher Ergebnisse verwendet werden können (z. B. Verbesserung der
Effizienz und Produktivität oder Fehlerbeseitigung). Es ist ein Mittel, um der Organisation
zu helfen, ihr bestehendes Wertversprechen effizient und effektiv zu stärken, d.  h. eine
Änderung der Vorgehensweise beim Einsatz digitaler Technologien. Es geht bei digitali-
zation nicht um eine grundlegende Neubewertung der zentralen Annahmen der Organisa-
tion oder einen Paradigmenwechsel ihrer Organisationsidentität oder ihres Geschäfts­
modells.
Basierend auf unserer umfassenden Analyse kommen wir daher zu dem Schluss, dass
die digital transformation NICHT mit der digitalization gleichzusetzen ist, und empfeh-
len, die beiden Konzepte auf konzeptioneller Ebene voneinander zu trennen.

11.6 Diskussion

Die zunehmende Verbreitung digitaler Technologien auf dem Markt und die damit ver-
bundenen Veränderungen veranlassen Unternehmen unweigerlich dazu, ihre strategischen
und operativen Handlungsoptionen zur digitalen Transformation zu überdenken.
Um die Evolution der digital transformation besser zu verstehen, wurde in diesem
Kapitel die Verwirrung um das DT-Konzept und die damit verbundenen Konzepte
(d. H. digitization, digitalization) nach einem systematischen methodischen Ansatz er-
örtert. Zunächst stellten wir die Etymologie der drei Konzepte vor, was zu einer Dis-
kussion der wichtigsten etymologischen Gründe für die Verwirrung führte. Zweitens
haben wir die historische Entwicklung dieser Konzepte diskutiert und dabei ihre in-
konsistente Verwendung in der vorhandenen Literatur aufgedeckt. Hier haben wir auch
eine Synthese angeboten, mit welchen Realitäten/Phänomenen diese Begriffe verbunden
sind. Drittens haben wir die Konzeptbildungs- und Bewertungsmethode von Gerring
(1999) eingeführt, um die theoretische Grundlage dafür zu legen, wie Konzepte ana-
lysiert und bewertet werden können. Schließlich haben wir vorhandene Definitionen
von digitization, digitalization und digital transformation gesammelt und diese dann
basierend auf einer Analyse d­ efinierender Attribute systematisiert. Als nächstes führten
wir im Detail aus, wie die historischen Definitionsattribute des Begriffs digitization an-
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 305

hand der acht Kriterien von Gerring analysiert und bewertet werden können. Ab-
schließend stellten wir die Ergebnisse derselben Analyse für die beiden Konzepte digi-
talization und digital transformation vor.
Nach unserem besten Verständnis sind diese drei Konzepte zwar miteinander ver-
bunden, sollten jedoch auf konzeptioneller Ebene getrennt gehalten werden, um ver-
schiedene Strategie- und Organisationsaktivitäten in der Praxis und unterschiedliche Aus-
wirkungen auf mehrere Analyseebenen in der Forschung zu beschreiben. Basierend auf
unserer umfassenden Analyse schlagen wir vor, die drei Konzepte wie folgt zu unter-
scheiden:

• Digitization is the technical process of converting analog into digital formats.


• Digitalization is the change process of installing digital technologies to reinforce the
organization’s existing value proposition.
• Digital transformation is a fundamental change process of an organization enabled by
exploring the use of digital technologies to redefine its business models.

Im akademischen Bereich macht dieses Kapitel einen Vorschlag zur Lösung der definito-
rischen und theoretischen Inkonsistenz in der vorhandenen Literatur zur digital trans-
formation und den damit verbundenen Begriffen. Es trägt möglicherweise zur Entwicklung
eines konsistenten Forschungsstroms mit differenzierbaren Konzepten zur Theoriebildung
und kompatiblen Forschungsergebnissen bei, die die Geschäftspraktiken leiten.
Dieses Kapitel enthüllt auch die Realität/das Phänomen dieser Konzepte auf prakti-
scher Ebene und bietet eine genauere Richtlinie für Praktiker, um differenzierbare strate-
gische Pläne für Organisationen zu entwickeln, um „digital zu werden“. Führungskräfte,
Manager und Mitarbeiter können diese Konzepte konsistent anwenden und sich dabei auf
bestimmte Strategie- und Organisationsaktivitäten für verschiedene Einheiten (Einzel-
personen, Teams, Organisationen, Branchen, Ökonomien und Gesellschaften) beziehen.
Ein klareres Verständnis der Essenz dieser Phänomene hilft dabei, Autorität und Ver-
antwortung für digitale Projekte auf organisatorischer Ebene zu übernehmen, und er-
leichtert es, die eigene DT-Leistung im Vergleich zu anderen Organisationen und Bran-
chen anhand von Metriken und Best Practices für die digitale Transformation auf
industrieller Ebene zu vergleichen.
Zusammenfassend bietet die Evolution der digitalen Transformation vielen Unter-
nehmen weltweit die Möglichkeit zur Erneuerung. Nachdem wir die etymologischen und
historischen Gründe für die Verwirrung um die digitale Transformation dargelegt und die
vorhandene Literatur analysiert hatten, haben wir in diesem Beitrag eine Lösung vor-
geschlagen, um die Konzepte digitization, digitalization und digital transformation zum
Wohle sowohl der Forschungsgemeinschaft als auch der Unternehmenspraxis klar zu dif-
ferenzieren. Wir hoffen, dass unsere Arbeit einen Beitrag dazu liefert, das mit diesen Kon-
zepten verbundene Problem der begrifflichen „Unschärfe“ zu lösen, und zugleich Akade-
miker und Praktiker dazu inspirieren wird, diese Begriffe zukünftig sorgfältiger,
diskriminierender und konsistenter zu verwenden.
306 C. Gong et al.

Anhang

Anhang 1 Die Etymologien der Begriffe digitization, digitalization,


transformation und digital transformation
Terms Etymologies
Digitization The origin of “digitization” is rooted in the modern use of the verb “digitize”
(digit + -ize), which is used in reference to computer programming, meaning
“the process of converting something into the form of especially binary digits”
from 1954 (Merriam-Webster, o. J.).
Digitalization The origin of “digitalization” is rooted in the adjective “digital” from ancient
Latin digitus and modern Latin digitalis. It has been used in reference to “using
numerical digits” from 1938, especially “of computers which run on data in the
form of digits (opposed to analog)” after c. 1945; and “recording or
broadcasting” from 1960 (Online Etymology Dictionary, o. J.).
Transformation The origin of “transformation” is rooted in Old French transformation (14c.)
and directly from the Latin Church transformation (nominative transformation)
“change of shape” (transitive), noun of action from past participle stem of
transformare “change in shape, metamorphose,” from trans “across, beyond” +
formare “to form.” Intransitive sense “undergo a change of form” is from the
1590s (Online Etymology Dictionary, o. J.).
Digital This concept consists of two terms, “digital” and “transformation.” The
transformation denomination strategy of compounding two words together combines the halo
effect of these two words’ meaning in the common language and creates a new
meaning in the scientific language (Dumez, 2011). Since no single seminal
definition specifies the original scientific meaning of digital transformation, the
confusion existing between scholar’s divergent definitions is added to the one
connected to the combination of halo effects in the common language. That is,
while the meaning of “transformation” and its established usage within
practitioners’ everyday language and academic’ specialized language are clear
in the common language, the meaning of the shared root “digital” is generating
confusion for the concept digital transformation. A screening by Mertens et al.
(2017) produced a list of over 2,500 different terms associated with “digital” in
recent scientific literature and financial press. This list includes almost all facets
of modern social and economic life. Such finding of diversified common
meanings of “digital” also supports the view that “digital” is the troublemaker
that causes the combined term “digital transformation” unclear.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 307

Anhang 2 Die Definitionen des Konzepts digitization


Authors Definitions of Digitization
Negroponte (1995) “The conversion of analog to digital information and processes in a technical
sense” (S. 15).
Yoo, Henfridsson, “The encoding of analog information into digital format” (S. 725).
and Lyytinen
(2010)
Katz and “Digitization, per se is the process of converting analog information to a
Koutroumpis digital format. Digitization, as a social process, refers to the transformation
(2013) of the techno-economic environment and socio-institutional operations
through digital communications and applications” (S. 314).
OED (2014) “The action or process of digitizing; the conversion of analog data (esp. in
later use images, video, and text) into digital form.”
Brennen and “The material process of converting analog streams of information into
Kreiss (2016) digital bits” (S. 1).
Legner et al. “The technical process of converting analog signals into a digital form, and
(2017) ultimately into binary digits” (S. 301).
Gölzer and “The encoding of data in digital formats” (S. 1334).
Fritzsche (2017)
Schallmo and “Digitally enabling analog or physical artifacts for the purpose of
Williams (2018) implementing into said artifacts into business processes with the ultimate
aim of acquiring newly formed knowledge and creating new value for the
stakeholders” (S. 5).
Bloomberg (2018) “Taking analog information and encoding it into zeroes and ones so that
computers can store, process, and transmit such information.”
Verhoef et al. “The action to convert analog information into digital information” (S. 891).
(2019)
Gartner’s IT “The process of changing from analog to digital form. It takes an analog
Glossary (o. J.) process and changes it to a digital form without any different-in-kind
changes to the process itself.”
Anhang 3 Definierende Attribute und Häufigkeiten der Konzepte digital transformation und digitalization
308
C. Gong et al.
11  Die Evolution der Digitalen Transformation 309

Hinweis  „Qual.“ und „Quan“. bedeutet qualitative bzw. quantitative Forschung. Die Ab-
kürzung „QQ“ bedeutet „qualitative + quantitative Forschung“, was darauf hinweist, dass
in dem entsprechenden Artikel ein mixed-method Forschungsansatz angewendet wurde.
Die definierenden Attribute wurden basierend auf ihrer akkumulierten Häufigkeit grup-
piert. Die Kerndefinitionsattribute werden in der ersten Gruppe gezeigt (d. h. die Top 7 für
die digitale Transformation und die Top 4 für die Digitalisierung); die peripheren Attribute
sind in der zweiten Gruppe dargestellt; die restlichen Attribute sind Außenseiter.

Literatur

Ash, C. G., & Burn, J. M. (2003). Assessing the benefits from e-business transformation through
effective enterprise management. European Journal of Information Systems, 12(4), 297–308.
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Cheng Gong  ist ein Ph.D. Kandidat am Institute für Wissen- und


Innovationsmanagement Südostasien an der Universität Bangkok in
Thailand. Sie wurde für ihre Arbeit an der ITU Kaleidoscope 2020
mit dem Zertifikat für junge Autoren anerkannt und wegen ihrer aka-
demische Spitzenleistungen in die BGS (Beta Gamma Sigma)
­aufgenommen. Ihr Bildungshintergrund und ihre Arbeitspraxis in
Südkorea und Russland haben ihr eine Basis gegeben, von der aus sie
sich vielen Themen annehmen kann. Ihr Forschungsinteresse gilt der
digitalen Transformation, dem Wissensmanagement, dem Inno­
vationsmanagement und dem Änderungsmanagement.
316 C. Gong et al.

Dr. Xavier Parisot  ist Programmdirektor des Master in Business


Innovation (MBI) und außerordentlicher Professor am Institut für
Wissen und Innovation in Südostasien der Universität Bangkok. Er
unterrichtet Innovationsmanagement, Unternehmertum und Strate-
gie, Ontologie, Erkenntnistheorie und Forschungsdesign. Seine
Forschungsaktivitäten konzentrieren sich auf dynamische Fähig-
keiten und offene Innovationsimplikationen bei der Entstehung der
Geschäftsökosysteme der Bioindustrie.

Dr. Detlef Reis  ist ein Innovationsexperte am The Institute for


Knowledge & Innovation, South-East Asia, Bangkok University.
Er ist außerdem ein Adjunct Associate Professor an der School of
Business der Hong Kong Baptist University. Dr. Reis ist außer-
dem Gründer und Chief Ideator des Innovation-Know-how-­
Unternehmens Thinkergy (www.thinkergy.com). Er ist der Er-
finder von vier proprietären Innovationsmethoden, die von
Thinkergy vermarktet werden: Die Innovationsprozessmethode
und Toolbox X-IDEA; die Innovation-People-Profiling-Methode
TIPS; die Innovationskultur-Transformationsmethode CooL –
Creativity UnLimited; und die kreative Unternehmensführer-­
Entwicklungsmethode Genius Journey.
Digitale Transformation und Technologien,
Strategien und Geschäftsmodelle – 12
Ergebnisse einer systematischen
Literaturanalyse

Patrick Ulrich, Wolfgang Becker und Alexandra Fibitz

Zusammenfassung

Der Beitrag schildert im Rahmen einer systematischen Literaturanalyse die gesamte


wissenschaftliche als auch praxisorientierte Literaturlandschaft zum Thema Digitali-
sierung und digitale Transformation und deren Auswirkung auf nahezu alle unter-
nehmerischen Geschäftsmodellelemente. Dabei wird darauf eingegangen, wie die digi-
tale Transformation im Rahmen digitaler Geschäftsmodelle praktiziert werden kann.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Digitale Transformation · Systematische Literaturanalyse ·


Geschäftsmodell · Innovation

12.1 Einleitung

In einer zunehmend digitalen Welt, in der sich das Marktgeschehen durch die Digitalisie-
rung rasant verändert, sind auch Unternehmen gezwungen, das bisher bestehende Ge-
schäftsmodell zu überdenken (Porter & Heppelmann, 2014, S. 64 ff.) und an die neuen
Gegebenheiten – geprägt von einem hohen Grad an Disruption (Reinhardt, 2014, S. 3),

P. Ulrich (*)
Hochschule Aalen, Aalen, Baden-Württemberg, Deutschland
E-Mail: patrick.ulrich@hs-aalen.de
W. Becker · A. Fibitz
Universität Bamberg, Bamberg, Bayern, Deutschland
E-Mail: wolfgang.becker@uni-bamberg.de; alexandra.fibitz@uni-bamberg.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 317


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_12
318 P. Ulrich et al.

starker Dynamik (Zott & Amit, 2017, S. 23; Amit & Han, 2017) und einem hohen Grad an
Innovation – anzupassen (Pflaum & Schulz, 2018). Durch die stetige Disruption im Markt,
die aus den Veränderungen der digitalen Transformation herrühren, stehen viele Unter-
nehmen Herausforderungen aus der Digitalisierung gegenüber, welche die Ausarbeitung
einer dedizierten Strategie und die Veränderung des Geschäftsmodells als Antwort be-
dingen (Sebastian et  al., 2017; Hess et  al., 2016). Trotz der zunehmenden Anzahl an
wissenschaftlicher Literatur und praktischen Beiträgen zu dem Thema, scheinen viele
Unternehmen den Trend zur Digitalisierung zwar entdeckt zu haben, jedoch bleiben
Unternehmen in der Transformation des Geschäftsmodells erfolglos (Bughin & van Zee-
broeck, 2017, S. 81).
Während der ursprüngliche Begriff „Digitization“ den Prozess der Umwandlung von
analogen in digitale Gegenstände beschreibt und  dabei der Fokus mehr auf der techni-
schen Umsetzung als auf dem Übersetzungsprozess selbst liegt (Tilson et  al., 2010,
S.  1  ff.), verkörpert die Digitalisierung den Wandel der Unternehmen, die durch die
massenhafte Verbreitung von digitalen Technologien entstanden ist (Katz & Koutroumpis,
2013, S. 314). Die Digitalisierungsbemühungen werden genutzt, um Wertangebote für den
Kunden zu verbessern, indem physische Produkte und Dienstleistungen um neue digitale
Funktionen erweitert werden (Schallmo et al., 2017a). Das Konzept der Digitalisierung
geht somit über den bloßen technischen Umwandlungsprozess hinaus, da der Begriff da­
rüber hinaus auch soziotechnologische Aspekte umfasst und bewusst die Wertarchitektur
von digital getriebenen Unternehmen beschleunigt (Nambisan et al., 2017, S. 224; Tilson
et al., 2010, S. 1 ff.). Die Digitalisierung und der fortschreitende technologische Wandel
lösen neue Geschäftsprozesse und Strukturen aus, die oft zur Veralterung traditioneller
Geschäftspraktiken und zur Anpassung von Geschäftsmodellen führen (Khanagha et al.,
2014, S. 322 ff.). Dabei wird eine strategische Priorisierung der Aktivitäten gefordert, die
notwendig sind, um im Wettbewerb zu bestehen und dem zunehmenden Druck der Digita-
lisierung standhalten zu können (Kaltum et al., 2016).
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die Digitalisierung Unternehmen und
ihre Geschäftsmodelle beeinflusst. Jedoch lässt die Literatur einen gesamthaften Über-
blick über den Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und den Veränderungen bei
Unternehmen, die aus dem digitalen Einfluss resultieren. Der vorliegende Beitrag widmet
sich daher der Untersuchung dieser Forschungslücke, indem anhand einer Systematischen
Literaturanalyse (SLA) und einer Analyse von Beratungsstudien der aktuelle Status quo
zum Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Geschäftsmodellen eruiert wird.
Um diesen Zusammenhang zu analysieren, hat der vorliegende Beitrag folgenden Auf-
bau. Nach diesem einleitenden Kapitel, in welchem die Problemstellung, Zielsetzung und
der Aufbau des Beitrags dargestellt wird, folgt die Definition begrifflicher Grundlagen.
Insbesondere werden hier die für die Arbeit relevanten Begriffe des „Geschäftsmodells“
und der „Digitalisierung“ thematisiert und bestimmt und es wird für beide eine Arbeits-
definition abgeleitet. Im Anschluss daran erfolgt die Literaturanalyse zu den Wechsel-
wirkungen zwischen der Digitalisierung und Geschäftsmodellen von Unternehmen. Ins-
besondere wird hier in einem ersten Abschnitt eine Systematische Literaturanalyse (SLA)
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 319

nach dem Vorgehen von Tranfield et al. durchgeführt (Tranfield et al., 2003). Da das vor-
liegende Thema einen starken Praxisbezug aufweist, wird zudem eine Analyse aktueller
Beraterliteratur durchgeführt. Die Ergebnisse beider Analysen werden im Anschluss daran
präsentiert. Folgende Ergebniskategorien wurden hierfür identifiziert: (1) Digitale Techno-
logien als Enabler der digitalen Transformation im Unternehmen; (2) Digitale Strategien
im Rahmen der digitalen Transformation; (3) Streben nach digitalen Geschäftsmodellen
im Rahmen der digitalen Transformation und (4) Digitale Geschäftsmodelle am Beispiel
digitaler Plattformen. Abschließend erfolgt die Zusammenfassung des Beitrags in Form
eines Fazits.

12.2 Begriffliche Grundlagen

Im Folgenden Abschnitt werden zunächst die wesentlichen begrifflichen Grundlagen des


Beitrags vorgestellt. Hierzu wird zunächst der Begriff des „Geschäftsmodells“ themati-
siert, ehe auf den Begriff der „Digitalisierung“ eingegangen wird.

12.2.1 Geschäftsmodell

Der Begriff des „Geschäftsmodells“ stammt ursprünglich aus der Wirtschaftsinformatik


und stellt ein Konstrukt dar, welches als strategisch orientiertes Modell zur Analyse
der Gestaltung von Unternehmen herangezogen wird (Becker, 2019a, S. 19). Aus Sicht der
Betriebswirtschaftslehre kann dabei grundsätzlich zwischen Ansätzen unterschieden wer-
den, die das Geschäftsmodell eines Unternehmens entweder partiell – im Sinne von Teil-
aspekten oder aus Sicht einer Branche – oder universal – also das gesamte Unternehmen
oder über dessen Grenzen hinweg (Becker, 2019b) – beschreiben können (Wirtz, 2013).
Der Begriff des „Geschäftsmodells“ als solcher hat sich in den letzten Jahren mehrfach
gewandelt. Folgende Definitionen sollen auszugsweise zeigen, wie der Begriff in der Lite-
ratur aufgefasst wurde und sich im Zeitablauf verändert hat.

• „An architecture for product, service and information flows, including a description of
the various business actors and their roles; and a description for the potential benefits
for the various business actors; and a description of the sources of revenues.“ (Tim-
mers, 1998, S. 2)
• The business model is „the heuristic logic that connects technical potential with the
realization of economic value.“ (Chesbrough & Rosenbloom, 2002, S. 529)
• „Model integrates firm-internal aspects that transform factors to resources, through ac-
tivities, in a structure, to products and offerings, to market.“ (Hedman & Kalling, 2003,
S. 49 ff.)
• „We describe the business model’s (…) in the firm as the blueprint of how a company
does business. It is the translation of strategic issues, such as strategic positioning and
320 P. Ulrich et al.

strategic goals into a conceptual model that explicitly states how the business functions.
The business model serves as a building plan that allows designing and realizing the
business structure and systems that constitute the company’s operational and physical
form.“ (Osterwalder et al., 2005, S. 4)
• „we define the business model of a firm as a system manifest-ed in the components and
related material and cognitive aspects. Key components of the business model include
the company’s network of relationships, operations and embodied in the company’s
business processes and resource base, and the finance and accounting concepts of the
company.“ (Tikkanen et al., 2005, S. 789)
• „A business model describes the rationale of how an organization creates, delivers, and
captures value.“ (Osterwalder & Pigneur, 2010, S. 14)
• „Ein Geschäftsmodell ist die (vereinfachte, strukturähnliche oder strukturgebende) Ab-
bildung von ausgewählten Aspekten der Ressourcentransformation des Unternehmens,
sowie seiner Austauschbeziehungen mit anderen Marktteilnehmern.“ (Becker & Ul-
rich, 2013, S. 38)
• „A system of interconnected and interdependent activities that determines the way the
company ‚does business‘ with its customers, partners and vendors.“ (Amit & Zott,
2012, S. 42)

Bei genauerer Betrachtung dieser Definitionen zeigt sich, dass erste Definitionsansätze,
welche vor 2000 geschaffen wurden, insbesondere den monetären Aspekt in den Fokus
rücken und ein Geschäftsmodell als Architektur verstanden wird, welches die Art und
Weise der Umsatzgenerierung und Gewinnerzielung eines Unternehmens beschreibt.
Außerdem wird deutlich, dass – verglichen mit später veröffentlichten Definitionen – auf
die Nennung konkreter Elemente eines Geschäftsmodells weitestgehend verzichtet wird.
Definitionsansätze, die zwischen den Jahren 2000 und 2010 veröffentlicht wurden, dif-
ferenzieren sich von diesen ursprünglichen Definitionen, da der Fokus hier auf spezielle
Geschäftsmodellelemente verwiesen wird. Insbesondere rückt der Wert-Begriff vermehrt
in den Fokus, indem das Geschäftsmodell als Konzept zur Beschreibung der unter-
nehmerischen Wertschöpfung verstanden wird. Durch diese Fokussierung wird die Logik
der Unternehmenstätigkeit beschrieben und das Leistungsangebot für Kunden spezifiziert.
Daneben werden erstmals Verweise auf Stakeholder von Unternehmen gegeben, wobei
dem Stakeholder „Kunde“ die höchste Bedeutung zugesprochen wird und auf diesen das
Geschäftsmodell ausgerichtet werden soll. Außerdem ist auffällig, dass die Definitionen in
diesem Zeitraum oftmals eher auf Basis von Erfahrungen aus der Unternehmenspraxis
geschaffen sind.
Definitionen, die nach 2010 geschaffen und publiziert wurden, demonstrieren wieder-
rum ein verändertes Verständnis im Vergleich zu früheren Definitionen. Nun steht vor
allem der Aspekt der Wertschöpfung im Vordergrund. Beispielsweise versteht Teece unter
einem Geschäftsmodell „the design or architecture of value creation, delivery, and capture
mechanism“ (Teece, 2010, S. 172). Becker/Ulrich gehen in ihrer Definition noch einen
Schritt weiter und betonen die Abbildung von ausgewählten Aspekten der Ressourcen-
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 321

transformation eines Unternehmens. Entsprechend wird für den Begriff des Geschäfts-
modells auf dieses Verständnis zurückgegriffen und das Geschäftsmodell für den vor-
liegenden Beitrag, wie folgt, definiert:

cc Ein Geschäftsmodell ist „die (vereinfachende, strukturähnliche oder strukturgebende)


Abbildung von ausgewählten Aspekten der Ressourcentransformation eines Unter-
nehmens, sowie seiner Austauschbeziehungen mit anderen Marktteilnehmern“ (Becker &
Ulrich, 2013, S. 38; Schoegel, 2001, S. 8).

Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Unternehmenspraxis wird zur Beschreibung
des Geschäftsmodells oftmals auf verschiedene Konzepte zurückgegriffen. Das wohl be-
kannteste Konzept ist dabei das von Osterwalder/Pigneur geschaffene Business Model
Canvas (Osterwalder & Pigneur, 2010). Dieses wird zwar oftmals aufgrund seiner ein-
fachen Anwendbarkeit und seines intuitiven Verständnisses zur Beschreibung von Ge-
schäftsmodellen herangezogen, wird jedoch in der Literatur aufgrund fehlender Ganzheit-
lichkeit kritisiert. Zur Beschreibung der Kritikpunkte (vgl. Becker, 2019a, S.  20  ff.).
Becker hat aufgrund der Kritikpunkte der anderen Konzepte die sogenannte Balanced
Value Map als generalisierendes Geschäftsmodellkonzept geschaffen, siehe Abb. 12.1.
Nach dieser Auffassung ist ein Unternehmen in die Gesellschaft und die umgebenden
Märkte  – oftmals zählen hierzu Beschaffungs- und Arbeits-, Absatz- sowie Kapital-
märkte – eingebettet. Das Handeln von Unternehmen im Sinne der Erzielung von Wert-

Abb. 12.1  Balanced Value Map in Anlehnung an Becker, 2019a, S. 22


322 P. Ulrich et al.

schöpfung erfolgt innerhalb dieses Spannungsfeldes zwischen Unternehmen und den


Märkten, da das Unternehmen in einer Austauschbeziehung mit diesen Märkten respektive
den darin agierenden Unternehmen und Stakeholdern steht. Durch diese Beziehung kann
das Unternehmen seine Wertschöpfungsaktivität in Abhängigkeit der jeweiligen Situation
umsetzen. Dieser eigentliche Zweck im Sinne der Wertschöpfung steht dem Verständnis
nach im Zentrum der Balanced Value Map und ist somit in das unternehmerische Leistungs-
programm eingebettet. Es bedient sich dabei der Führungsgrößen Erfolgspotenzial, Erfolg
und Liquidität.

12.2.2 Digitalisierung

Die Digitalisierung, die „als Megatrend des 21. Jahrhunderts“ (Grünert & Sejdić, 2017,
S. 30) gilt, betrifft nicht nur einzelne Unternehmen und ihre Geschäftsmodelle (Becker
et  al., 2018), sondern führt zu einer Transformation der Gesellschaft (Wittmann et  al.,
2015) und Wirtschaft (Weber, 2017, S.  372  ff.) sowie der Arbeitswelt (Funken &
Schulz-Schaeffer, 2008; Wolff & Göbel, 2017). Aber auch unterschiedliche Branchen, wie
beispielsweise Medien (Heesen, 2016), Produktion/Industrie (Lerch et  al., 2017;
Hirsch-Kreinsen et al., 2018, S. 175 ff.), Versicherungen (Albrecht, 2017, S. 157 ff.), Im-
mobilien (Moring et  al., 2018) oder Gesundheitswesen (Gigerenzer et  al., 2016) sind
davon betroffen.
Aus diesem Grund gilt die Digitalisierung als ein omnipräsenter Begriff, der sowohl in
der Literatur als auch Unternehmenspraxis vielseitig verwendet wird und aufgrund eines
fehlenden einheitlichen Begriffsverständnisses kontrovers diskutiert wird (Becker, 2019b,
S. V und 24). Die nachfolgenden Beispiele demonstrieren die Vielfalt an möglichen Be-
griffsdefinitionen.

• „the transformation from conducting business activities in a traditional manner to con-


ducting them in a digital form. (…) is associated with the development of new capabi-
lities that lead to a variety of benefits.“ (BarNir et al., 2003, S. 792 f.)
• „Digitalisierung kann definiert werden als die Umwandlung von analogen Signalen in
digitale Daten.“ (Löebbecke, 2006, S. 360)
• „[Digitalization is] the use of technology to radically improve performance or reach of
enterprises.“ (Westerman et al., 2011, S. 5)
• „[Digitalization is] the use of new digital technologies (social media, mobile, analytics
or embedded device) to enable major business improvements (such as enhancing cus-
tomer experience, streamlining operations or creating new business models).“ (Fitzge-
rald et al., 2013, S. 2)
• „Digitalisierung bedeutet heute im Wesentlichen für viele Menschen grenzenlose Kom-
munikation, ständig und überall verfügbares Wissen und die unerschöpfliche Verfüg-
barkeit von Waren und Gütern, selbst in den entlegensten Winkeln dieser Welt.“ (Kali-
nowski & Verwaayen, 2013, S. 489)
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 323

• Digitalisierung beschreibt den „grundlegenden Wandel der gesamten Unternehmens-


welt durch die Etablierung neuer Technologien auf Basis des Internets mit fundamen-
talen Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.“ (PwC, 2013, S. 9)
• „Unter dem Begriff der ‚Digitalisierung‘ werden im Allgemeinen die Auswirkungen
der Nutzung digitaler Technologien verstanden.“ (Eckert, 2014, S. 263)
• „Digital transformation is the deliberate and ongoing digital evolution of a company,
business model, idea process, or methodology, both strategically and tactically.“ (Maz-
zone, 2014, S. 8)
• „[Digitalization] can be understood as the change that the digital technology causes or
influences in all aspects of human life.“ (Stolterman & Fors, 2004, S. 689)
• Unter Digitalisierung wird die „Transformation von Geschäftsmodellen mit Hilfe von
Informations- und Kommunikationstechnologien zur Reduktion von Schnittstellen, zur
funktionsübergreifenden Vernetzung und zur Erhöhung der Effektivität und Effizienz“
verstanden.
• „Digitale Transformation verstehen wir als durchgängige Vernetzung aller Wirtschafts-
bereiche und als Anpassung der Akteure an die neuen Gegebenheiten der digitalen
Ökonomie. Entscheidungen in vernetzten Systemen umfassen Datenschutz und -ana-
lyse, Berechnung und Bewertung von Optionen sowie Initiierung von Handlungen und
Einleitung von Konsequenzen.“ (Bouée & Schaible, 2015, S. 6)
• „[Digital Business Transformation is a] process of reinventing a business to digitize
operations and formulate extended supply chain relationship.“ (Bowersox et al., 2005,
S. 22 f.)
• „Die Digitalisierung steht für die umfassende Vernetzung aller Bereiche von Wirtschaft
und Gesellschaft sowie die Fähigkeit, relevante Informationen zu sammeln, zu ana-
lysieren und in Handlungen umzusetzen. Die Veränderungen bringen Vorteile und
Chancen, aber sie schaffen auch ganz neue Herausforderungen.“ (Bundesministerium
für Wirtschaft und Energie (BMWi) 2015, S. 3)
• „Digitalisierung wird als begriffliche Klammer für eine Vielzahl von Trends verstanden,
die zu Veränderungen der Unternehmensumwelt führen werden.“ (Burmester &
Gschwendtner, 2016, S. 2)
• „Digitalization means not only the change of individual processes rather the fundamen-
tal transformation of entire business areas or the entire business model.“ (Becker et al.,
2018, S. 4534)
• „Wir sprechen von Digitalisierung, wenn analoge Leistungserbringung durch Leistungs-
erbringung in einem digitalen, computerhandhabbaren Modell ganz oder teilweise er-
setzt wird.“ (Wolf & Strohschen, 2018, S. 58)
• „Digitalisierung ist die strategisch orientierte Transformation von Prozessen, Produk-
ten, Dienstleistungen bis hin zur Transformation von kompletten Geschäftsmodellen
unter Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) mit
dem Ziel, nachhaltige Wertschöpfung effektiv und effizient zu gewährleisten.“ (Becker
& Pflaum, 2019, S. 9)
324 P. Ulrich et al.

Die dargestellten Begriffsdefinitionen demonstrieren, dass sowohl aus Sicht der Wissen-
schaft als auch der Unternehmenspraxis eine eindeutige Definition nach wie vor nicht
vorliegt. Eine zweckbezogene Bestimmung des Begriffs eine notwendige Grundvoraus-
setzung ist, um den Untersuchungsgegenstand eindeutig beschreiben zu können (Wolf,
2013, S. 8). Aus diesem Grund wird für den Begriff der Digitalisierung folgende Defini-
tion zugrunde gelegt:

cc „Digitalisierung ist die strategisch orientierte Transformation von Prozessen, Produk-


ten, Dienstleistungen bis hin zur Transformation von kompletten Geschäftsmodellen
unter Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechnologien (IuK) mit dem
Ziel, nachhaltige Wertschöpfung effektiv und effizient zu gewährleisten.“ (Becker &
Pflaum, 2019, S. 9)

Diese Definition erscheint vor dem Hintergrund des vorliegenden Beitrags als zweck-
dienlich, da die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, dass der eigentliche Zweck von
Unternehmen die Wertschöpfung – im Sinne von Bedarfsdeckung, Entgelterzielung und
Bedürfnisbefriedigung  – ist und Unternehmen sämtliches Handeln auf diese ausrichten
sollten. Des Weiteren wird aufgrund der aktuellen Diskussion zum Digitalisierungsbegriff
deutlich, dass das Verständnis der Digitalisierung weiter aufgefasst werden muss, als es in
eher technischen Definitionen im Sinne der Umwandlung analoger in digitale Daten der
Fall ist. Gleichzeitig verweist diese Definition auf den prozessualen Akt der Trans-
formation und stellt diesen in den Mittelpunkt, da die Transformation von Prozessen, Pro-
dukten, Dienstleistungen bis hin zu kompletten Geschäftsmodellen den Kern der Defini-
tion bildet. Dieses Verständnis orientiert sich auch an dem Verständnis zu Geschäftsmodellen,
welches in diesem Beitrag thematisiert wird.

12.3 Literaturanalyse zu den Wechselwirkungen zwischen der


Digitalisierung und Geschäftsmodellen

Nachfolgend wird das Vorgehen, der Ablauf als auch die Ergebnisse der durchgeführten
systematischen Literaturanalyse (SLA) zum Zusammenhang von Geschäftsmodellen und
der Digitalisierung thematisiert. Neben der systematischen Literaturanalyse, die im
Wesentlichen die wissenschaftliche Literatur sichtet und zusammenfasst, wurde ebenfalls
eine Analyse von Beraterstudien vorgenommen, um entsprechend auch die praxis-
orientierte Sichtweise nicht außer Acht zu lassen. Die nachfolgenden Abschnitte dienen
der Vorstellung der Vorgehensweise als auch der Ergebnisdarstellung.

12.3.1 Systematische Literaturanalyse

Um den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Literatur aufzeigen zu können, wurde eine
systematische Literaturanalyse durchgeführt, die sich dem Thema der Digitalisierung und
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 325

deren Auswirkung auf unternehmerische Geschäftsmodelle nähert und jedwede Wechsel-


wirkungen aufzeigt.
Die nachfolgende SLA folgt dem vorgegebenen Ablauf von Tranfield et al. und folgt
den drei primären Hauptschritten, der 1) Planung und 2) Durchführung der SLA sowie der
3) Ergebnisdarstellung- und Illustrierung (Tranfield et al., 2003, S. 207 ff.). Grundlegend
ist die Durchführung einer SLA sinnvoll, wenn kausale Zusammenhänge und Wechsel-
wirkungen identifiziert werden sollen, Widersprüche auftreten oder um in bestehenden
Forschungsarbeiten neue Dimensionen/Stränge zu identifizieren (Cooper, 2003, S. 3 ff.).
Zunächst wird als Status Quo angenommen, dass die Digitalisierung als wesentlicher
Bestandteil der digitalen Transformation maßgeblich zur Veränderung von Geschäfts-
modellen beiträgt, neue Arten von Geschäftsmodellen fördert und die Architektur von
Geschäftsmodellen maßgeblich beeinflusst (Mason & Spring, 2011, S. 1032 ff.; Bleicher
& Stanley, 2016, S. 62 ff.).
Diesem Grundgedanken folgend, wurden im Zuge der ersten Planungsphase vier
wissenschaftliche Datenbanken (EconBiz, EBSCO (Business Source Ultimate), Emerald
Insight und Web of Science) durchsucht. Dafür wurden vorab dedizierte Schlüsselbegriffe
(Keywords) identifiziert, die den Sachverhalt nachvollziehbar beschreiben. Hierfür wurde
zunächst ein Keyword-Count durchgeführt, der den Inhalt bereits bestehenden Literatur
sichtet und entsprechend Muster in der Nutzung bestimmter Stichwörter aufzeigt und mit
der Häufigkeit von Begriffen kombiniert (vgl. hierzu im Detail Pennebaker et al., 2001).
In dem vorliegenden Fall standen als führende und maßgebende Begriffe die Digitalisie-
rung und der Begriff des Geschäftsmodells sowie deren Innovation im Vordergrund. Ent-
sprechend wurden Synonyme für diese Begriffe gesucht, die sich sowohl aus der deut-
schen sowie angloamerikanischen Literatur zusammensetzen, identifiziert, um dadurch
ein möglichst breites Repertoire an Begriffen in die Analyse aufzunehmen und ein breites
Suchfeld zu eröffnen. Dieses Vorgehen wurde bewusst gewählt, da beide Schlüsselbegriffe
sehr breit definiert sind und dadurch eine Vielzahl an Aspekten beinhalten. Dies zeigte sich
auch in der diversen Verwendung im Rahmen der Literatur, in der keine einheitliche Defi-
nition vorliegt (u. a. Casadesus-Masanell & Ricart, 2010, S. 197). Demnach wurden fol-
gende Keywords sowie Kombinationen an Keywords in der SLA verwendet: Digit*, Busi-
ness model*, Geschäftsmodell*, Digital Business Model*, Value*, Business Model
Innovation*, Geschäftsmodellinnovation*, Business*, Innov*, Digital Business Model
Innovation*, Digitale Geschäftsmodellinnovation*.
Die Begriffe wurden in der Kategorie „Titel“ in den Datenbanken eingegeben und mit-
hilfe des UND-Operators kombiniert. Die initiale Suche führte zu einer Titelanzahl von
2089 Ergebnissen zum Stichtag 15.10.2020. Da solch eine Anzahl an Treffern als nicht
handhabbar und nicht zielgerichtet zu verstehen ist, wurden nachfolgend wesentliche Kri-
terien festgelegt, die die Ergebnissuche vereinfachen soll. Zunächst wurde der Titel auf
Kohärenz zum Thema überprüft und themenferne Titel entfernt, was bereits zu einer Ex-
lusion von 1641 Titel geführt hat. Des Weiteren wurde die Summe an Titel um Duplikate
(34) bereinigt, welche auf Schnittmengen im Rahmen der vier unterschiedlichen Daten-
banken hindeuten. Zudem wurden für die vorliegende Analyse nur Treffer aus Fachzeit-
326 P. Ulrich et al.

schriften zugelassen, die ein entsprechendes „Peer-reviewed“ Ranking aufweisen


(VHB-JOURQUAL3 (VHB, 2020), um eine hohe Qualität der SLA Ergebnisse sicherzu-
stellen (Easterby-Smith et  al., 2012, S.  108; Maschke & Knyphausen-Aufseß, 2012,
S. 111. Dies hat zur weiteren Entfernung von 140 Treffern aus der Gesamtstichprobe ge-
führt. Der letzte, stark qualitativ geprägte Schritt, widmete sich einer inhaltlichen Prüfung
auf Relevanz und Passgenauigkeit der Treffer zum jeweiligen, übergreifenden Thema.
Dadurch konnten weitere 40 Publikationen entfernt werden, was letztlich zu einer finalen
Anzahl an 34 passenden Titeln führt.
Abb. 12.2 zeigt die finalen Ergebnisse, die in die SLA eingeflossen sind und welche
nach dem Erscheinungszeitpunkt sortiert sind.

12.3.2 Beraterstudienanalyse

Innerhalb der Literatur wird darauf hingewiesen, dass der vorliegende Zusammenhang
zwischen der Digitalisierung und Geschäftsmodellen sowie deren Innovation hohen

Abb. 12.2  Ergebnisse der systematischen Literaturanalyse


12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 327

Abb. 12.3  Ergebnisse der Beraterstudienanalyse

Praxisbezug aufweist und es somit notwendig ist, Publikationen aus Sicht der Unter-
nehmenspraxis, welche vorrangig durch Beratungshäuser erstellt wurden, innerhalb der
Literaturanalyse zu berücksichtigen (Aagaard, 2019, S. 5).
Zur Vervollständigung des Status Quo wird deshalb neben der systematischen Literatur-
analyse auch auf die vorliegende Beraterstudienanalyse zurückgegriffen, um Erkenntnisse
aus der Unternehmenspraxis in die Literaturanalyse einfließen lassen zu können. An dieser
Stelle muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass im Gegensatz zur systematischen
Literaturanalyse eine Beraterstudienanalyse keiner spezifischen Vorgehensweise oder
Systematik unterliegt. Um jedoch Transparenz und Nachahmbarkeit gewährleisten zu
können, wird zunächst auf die öffentlich zugängliche Liste der Lünendonk-Datenbank
zurückgegriffen, in welcher relevante Beratungshäuser gelistet sind (Lünendonk, 2019b).
Zur Identifizierung relevanter und themenspezifischer Beiträge wurde dafür der Name
des jeweiligen Beratungshauses mit den Keywords „digit*“ und „business model“ (bzw.
Synonym „Geschäftsmodell“) kombiniert. Durch dieses Vorgehen konnten insgesamt 42
Beiträge identifiziert werden (Stichtag: 15.10.2020). Nach titelbezogener und inhaltlicher
Prüfung des jeweiligen Beitrags, konnten 29 Beiträge exkludiert werden, die keinen oder
nur geringen Bezug zum vorliegenden Thema hatten. Final wurden somit 13 Beiträge
durch Beratungshäuser identifiziert, die als relevant eingestuft wurden und für eine inhalt-
liche Analyse geeignet erscheinen. Abb. 12.3 zeigt die identifizierten Beraterstudien der
jeweiligen Beratungshäuser:

12.4 Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Digitalisierung


und Geschäftsmodellen

Das folgende Kapitel widmet sich den weitreichenden Veränderungen von unter-
nehmerischen Geschäftsmodellen durch den Fortschritt der digitalen Transformation. Im
Fokus stehen hier neben den Treibern für Geschäftsmodellinnovationen, wie z. B. der Nut-
zung von digitalen Technologien auch die Implementierung digitaler Strategien sowie der
Entstehung komplett neuer digitaler Geschäftsmodelle, im Vordergrund. Nicht zuletzt gilt
328 P. Ulrich et al.

es, den Begriff der digitalen Geschäftsmodelle zu entmystifizieren und zu verstehen, wel-
che Charakteristika diesen Geschäftsmodelltypen unterliegen. Digitale Geschäftsmodelle
stellen das Ergebnis des digitalen Transformationsprozesses dar, die das holistische Ge-
schäftsmodell betreffen.

12.4.1 Digitale Technologien als Enabler der digitalen Transformation


im Unternehmen

Die Ergebnisse der systematischen Literaturanalyse haben gezeigt, dass digitale Techno-
logien im Rahmen von digitalen Bestrebungen einen wesentlichen Faktor darstellen und
eng mit der Transformation des Geschäftsmodells verbunden sind (Newell & Marabelli,
2015; Laudien & Pesch, 2019). Insbesondere die Wechselwirkung zwischen digitalen
Technologien und den Veränderungen von Geschäftsmodellen konnte identifiziert werden
und wird im Folgenden näher beleuchtet (Kohtamäki et al., 2019).
Der Begriff der „digitalen Technologie“ wird inzwischen omnipräsent verwendet (Mi-
hardjo et al., 2019). Die EU-Kommission klassifiziert digitale Technologien grundsätzlich
in die vier Hauptkategorien (Bican & Brem, 2020):

• Mobile,
• Soziale Medien,
• Cloud und
• Data Analytics.

In einigen Studien werden diese um die Kategorie „Internet der Dinge“ erweitert, womit
es sich um die wesentlichen SMACIT-Technologien handelt (Sebastian et  al., 2017,
S. 197). Eine weitere Expansion der Kategorien und Einteilung in ABCD-Technologien
(Darunter zählen Artificial Intelligence, Blockchain, Cloud und Data Analytics. Vgl. Mar-
tin, 2017) zeigt den Grad der digitalen Veränderung und wird in der Literatur oftmals in
Verbindung mit einem hohen Transformationsgrad, automatisierten Prozessen, dem Fit
zwischen Angebot und Nachfrage und Echtzeit Entscheidungsunterstützung gebracht
(Akter et al., 2020).
Die Literaturergebnisse haben weiterhin ergeben, dass viele Unternehmen vielfach eine
Fokussierung vornehmen und sich auf zwei bis drei Basistechnologien beschränken, um
das Technologieportfolio des Unternehmens nicht zu stark zu streuen (Pflaum & Schulz,
2018). Grundlegend werden unter dem Technologieportfolio eines Unternehmens alle
zum Einsatz kommenden digitalen Technologien subsumiert, die innerhalb des Unter-
nehmens Verwendung finden und damit auch vielfach mit den zugrundeliegenden Kern-
prozessen gekoppelt sind (Bitkom, 2020). Allerdings wird auch deutlich, dass der Einsatz
der Technologien stark situationsabhängig bzw. unternehmensspezifisch vorgenommen
wird und damit zwangsläufig auf die jeweilige Ausrichtung des Geschäftsmodells ge-
knüpft ist (Rüßmann et al., 2015; Bouée & Schaible, 2015; Paiola & Gebauer, 2020).
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 329

Wesentlich ist, digitale Technologien nicht nur per se zu nutzen, sondern im Rahmen
der Geschäftsmodelltransformation an die veränderten Kundenanforderungen anzupassen
und einen Wertbeitrag zu generieren (Deloitte, 2019b). Dabei ist es entscheidend, die stra-
tegische Ausrichtung auch im Bereich der digitalen Technologien im Unternehmen im
Sinn zu behalten, um die Technologien dediziert zur Schaffung von Wertschöpfung im
Rahmen der unternehmerischen Tätigkeit zu verstehen (McGrath & McManus, 2020). Zu
den wesentlichen Erfolgsfaktoren der Nutzung von digitalen Technologien im Unter-
nehmen zählen:

• Nutzung von Optimierungsmöglichkeiten (Bican & Brem, 2020);


• Umsetzung von Prozessverbesserungen/-effizienzen (Schallmo et al., 2017; Paiola &
Gebauer, 2020; Cenamor et al., 2017);
• Erhöhung der Automatisierung (Schallmo et al., 2017; Kohtamäki et al., 2019; Akter
et al., 2020);
• Nutzung von Netzwerkeffekten und Erhöhung der Vernetzung (Berman, 2012;
Schallmo et al., 2017; Bican & Brem, 2020);
• Erzielung von neuen Geschäftsopportunitäten durch datengetriebene Entscheidungen
(Akter et al., 2020);
• Verbesserter Kundenzugang sowie Kundenbindung (Jahn & Pfeiffer, 2014; McGrath &
McManus, 2020) und
• Individuelle Angebotserstellung und Nachfragedeckung (Jahn & Pfeiffer, 2014).

Bouncken et al. (2019) betonen in diesem Kontext, dass die Nutzung digitaler Techno-
logien die Transformation von Produkten, Prozessen und Geschäftsmodellen beeinflusst
(Bouncken et al., 2019). Dies bedeutet, dass digitale Möglichkeiten unternehmensüber-
greifend genutzt werden sollten, um datengetriebene Geschäftsmodelle entlang der
Wertschöpfungskette im Rahmen eines Technologiemanagements aufzubauen (Delo-
itte, 2019b).
Die Technologiecluster gelten derweil als wesentliche, externe Treiber zur digitalen
Transformation im Unternehmen (Pflaum & Schulz, 2018). Diese und andere digitale
Technologien haben unternehmerische Geschäftsmodelle bereits wesentlich verändert und
werden dies auch zukünftig weiter tun (Akter et  al., 2020). Beispielhaft kann hier auf-
gezeigt werden, dass künstliche Intelligenz die Wertschöpfungskette stark automatisieren
und bis zum Jahr 2025 einen Marktwert von 191 Mrd. USD erreichen wird (Akter et al.,
2020). Blockchain gilt ebenfalls als bedeutsame digitale Technologie und soll bis zum Jahr
2030 einen Wert von ca. 3 Billiarden USD erreichen (Akter et al., 2020). Gleiches gilt im
Bereich von Cloudtechnologien, die inzwischen Wachstumsraten von jährlich knapp 23
Prozent verzeichnen.
Dies sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, wie stark digitale Technologien die in-
dustriellen Wertschöpfungsketten beherrschen werden und beeinflussen werden (Accen-
ture, 2019). Dieser technische Fortschritt zeigt jedoch zunehmend die Wichtigkeit von
neuen Geschäftsmodellen auf, die diese Neuerungen auch auf der unternehmerischen
330 P. Ulrich et al.

Seite widerspiegeln (Al-Debei et  al., 2008). Ein technologiebasiertes Geschäftsmodell


kann dazu dienen, Märkte und auch dem zunehmenden Wettbewerb mit einem neuen und
optimierten Weg zu begegnen (Johnson et al., 2017; Guo et al., 2020). Demnach kann zu-
sammengefasst werden, dass digitale Technologien als Basis für neue digitalere Geschäfts-
modelle gelten und somit zu Geschäftsmodellinnovationen führen können.

12.4.2 Digitale Strategien im Rahmen der digitalen Transformation

Sowohl aus Sicht der Wissenschaft als auch der Praxis ist erkennbar, dass sich die Digita-
lisierung nicht nur auf Geschäftsmodelle von Unternehmen, sondern auch auf die strategi-
sche Ausrichtung des Unternehmens auswirkt. Die Basis für diese Formulierung und Im-
plementierung (McGrath & McManus, 2020) der Unternehmensstrategie stellt die
Nutzung neuer, digitaler Technologien dar (Jahn & Pfeiffer, 2014). Diese gelten als
wesentlicher Treiber des digitalen Transformationsprozesses, wobei aktuelle empirische
Untersuchungen zeigen, dass meist in Unternehmen digitale Technologien als Silo-­
Lösungen gelten und diese nicht zweckorientiert aus Sicht der Unternehmensstrategie
eingesetzt werden (Accenture, 2017). Jedoch ermöglicht die Nutzung von digitalen
Technologien die Digitalisierung über Funktionen, Geschäftsbereiche, Regionen und
Marktgrenzen hinweg, sodass die Transformation im Unternehmen zu einem Unter-
nehmen mit datengetriebenen Geschäftsmodell(en) führt (Accenture, 2017).
Digitale Strategien gelten dabei als wesentliche unternehmerische Treiber und helfen
bei der Einordnung der Veränderung im Rahmen der digitalen Transformation beim unter-
nehmerischen Wandel (Standing & Mattsson, 2016). Dabei wird davon ausgegangen, dass
eine digitale Strategie in Zukunft kaum mehr noch getrennt von der übergreifenden Unter-
nehmensstrategie betrachtet werden kann (Remane et al., 2017). Eine digitale Strategie hat
primär die Funktion, eine Richtung für den Wandel im digitalen Zeitalter vorzugeben und
damit auch wesentliche Ziele zu definieren, die zukünftig mit der richtigen Ausgestaltung
und mithilfe digitaler Technologien und der Umgestaltung des Geschäftsmodells um-
gesetzt werden können (Jahn & Pfeiffer, 2014).
Zur digitalen Strategie gehört auch die Formulierung einer zielgerichteten, ambitio-
nierten Vision, die die Strategie im Unternehmen für alle greifbar und verständlich
macht (Roland Berger, 2018). Demnach wird eine Transformations-Roadmap benötigt,
die die wesentlichen Meilensteine hin zu einem digitaleren Geschäftsmodell schriftlich
festhält und im Unternehmen sichtbar macht (Roland Berger, 2018). Demnach gilt,
dass die Geschäftsmodelltransformation stark mit dem vorhanden sein einer digitalen
Strategie verzahnt ist und damit die zu verändernden Geschäftsmodellelemente in der
digitalen Strategie bereits genannt und konkret formuliert werden sollten (Koch
et al., 2019).
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 331

12.4.3 Das Streben nach digitalen Geschäftsmodellen im Rahmen der


digitalen Transformation

Wie bereits für den Begriff der digitalen Technologien beschrieben, werden auch digitale
Geschäftsmodelle omnipräsent verwendet und stellen grundsätzlich Geschäftsmodelle
dar, die durch den Einsatz von digitalen Technologien jegliche Wertdimensionen im Unter-
nehmen verändern und wesentlich beeinflussen (Veit et al., 2014; Bouncken et al., 2019).
Durch die stetigen Neuerungen durch die Digitalisierung im Rahmen der digitalen Trans-
formation hat sich inzwischen der Begriff der digitalen Geschäftsmodelle sowohl in der
Praxis als auch in der Wissenschaft weitestgehend etabliert, jedoch ohne Vorliegen einer
allgemeingültigen, generischen Definition (Amit & Zott, 2001).
Die Analyse der Literatur hat einige Charakteristika eröffnet, die digitale Geschäfts-
modelle auszeichnen:

• Ressourcenoptimierung, primär hervorgerufen durch den Einsatz und die Nutzung di-
gitaler Technologien (Bican & Brem, 2020);
• wesentliche Veränderung der Wertelemente von Geschäftsmodellen, ebenfalls ge-
trieben von digitalen Technologien (Remane et al., 2017);
• Reproduktion von digitalen Produkten/Services zu marginal höheren Kosten (Remane
et al., 2017);
• Veränderung der Wertschöpfung (klassisch entstand Wertschöpfung bei der Herstellung
und dem anschließenden Verkauf von Produkten, wobei bei digitalen Geschäfts-
modellen der Wert vielmehr durch die Nutzung und sogenannte Netzwerkeffekte be-
stimmt wird, oft auch ohne Eigentumbesitz der Leistung. Vgl. Vargo & Lusch, 2008);
• oftmals Nutzung von digitalen Plattformen zur Erzielung von Netzwerk- und Skalen-
effekten (Iansiti & Levien, 2004) und
• geringere Opportunitätskosten (verglichen mit klassischen, physischen Produktver-
käufen) (Weill & Woerner, 2013).

Oftmals wird propagiert, dass in der Unternehmenspraxis lediglich einzelne Prozesse di-
gitalisiert werden. Vor dem Hintergrund des eigentlichen Verständnisses der Digitalisie-
rung im Sinne der Transformation des Geschäftsmodells, sollten Unternehmen daher
grundlegend das Ziel verfolgen, ein digitaleres Geschäftsmodell und somit nicht nur digi-
talere Prozesse durch die digitale Transformation zu erreichen (Weill & Woerner, 2013).
Jedoch gilt die Digitalisierung des Geschäftsmodells aufgrund seiner Facetten als kom-
plex (Übelhör, 2019). Unternehmen sollten aber trotz der Komplexität in der Unter-
nehmensumwelt verstehen, welche Kompetenzen und Fähigkeiten relevant und bedeutsam
sind, um die digitale Transformation des Geschäftsmodells umsetzen zu können (Schnei-
der & Spieth, 2013; Saebi et al., 2017; Witschel et al., 2019).
Viele existierende Konzepte für Geschäftsmodelle lassen sich mit nur wenig Aufwand
auch auf den Bereich der digitalen Geschäftsmodelle anwenden (Schallmo et al., 2017;
332 P. Ulrich et al.

Koch et  al., 2019). Exemplarisch werden im vorliegenden Beitrag zwei Konzepte kurz
näher vorgestellt, nämlich das „VISOR“-Konzept von El Sawy/Pereira, welches explizit
die Kundenschnittstelle, das bedeutet der Kontaktpunkt zwischen Unternehmen und dem
Kunden, hervorhebt. Als weitere wesentliche Komponenten gelten die Nutzung einer digi-
talen Plattform sowie die Existenz eines Ökosystems (El Sawy & Pereira, 2013). Dem-
nach gehören die nachfolgenden Elemente zu einem digitalen Geschäftsmodell (hier und
im Folgenden El Sawy & Pereira ,2013):

• Value Proposition: Leistungsangebot an den Kunden;


• Kundenschnittstelle: Schnittpunkt, an dem der Kunde auf die unternehmerische Ser-
vice Plattform trifft und das Leistungsangebot sieht;
• Service Plattform: Plattform zur Kommunikation des Leistungsangebots an
den Kunden;
• Organisationsdesign: Architektur und strukturelle Verknüpfung des Ökosystems und
• Erlösmodell: enthält sämtliche Erlöse und Kosten, die im Rahmen des Ökosystems
existieren.

Ein weiteres, stark praxisnahes Konzept für digitale Geschäftsmodelle stammt von
Schallmo et  al., der die nachfolgenden vier Begriffe definiert (hier und im Folgenden
Schallmo et al., 2017):

• Digital Reality: Beschreibung und Analyse des aktuellen Geschäftsmodells


• Digital Ambition: Potenzialsuche entlang der Dimensionen Ort, Zeit, Finanzen und
Qualität innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette im Rahmen der digitalen Trans-
formation. Zielsetzung entlang der Geschäftsmodellelemente und entsprechende Prio-
risierung.
• Digital Potenzial: Best Practices nutzen und Treiber für die digitale Transformation
identifizieren. Dies ist der Ankerpunkt zur Strukturierung der Architektur des neuen,
digitalen Geschäftsmodells und dem Aufzeigen alle Alternativen und Optionen.
• Digital Fit: Bewertung der Alternativen und Optionen aus der vorhergehenden Phase
und Abgleich mit dem aktuellen Geschäftsmodell. Berücksichtigung der Kunden-
bedürfnisse und wesentliche Priorisierung.
• Digital Implementation: Implementierung und Finalisierung des digitalen Geschäfts-
modells. Abschluss der Designphase und Visualisierung des digitalen Wertschöpfungs-
netzwerkes inkl. aller Ressourcen, Fähigkeiten und Partnerstrukturen.

Des Weiteren spiegelt der nachfolgende aufgezeichnete Prozess einen möglichen


Implementierungsprozess zur Umsetzung der digitalen Geschäftsmodelltransformation
dar, siehe Abb. 12.4.
Grundsätzlich gilt jedoch, dass die digitale Transformation stark davon abhängt, in-
wieweit Unternehmen ihr Geschäftsmodell verändern (möchten und müssen) und wie
hoch der Veränderungsgrad ist (Castorena et al., 2014; Dim & Ezeabasili, 2015; Mihardjo
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 333

Geschäfts- Neue Geschäfts-


Implementierung
Aktuelle Leistungsangebot modellelemente modellkon-
und Prüfung auf
identifizieren abgrenzen und figurationen
,,Digital Fit“
analysieren prüfen

Abb. 12.4  Prozess zur Implementierung digitaler Geschäftsmodelle in Anlehnung an Remane


et al., 2017

et al., 2019). Dabei spielen Geschäftsmodellinnovationen speziell im Rahmen der digita-


len Transformation eine wesentliche Rolle (Johnson et al., 2017).

12.4.4 Digitale Geschäftsmodelle am Beispiel von digitalen


Plattformen

Die Literatursichtung hat neben den bisherigen Erkenntnissen auch gezeigt, dass durch die
Digitalisierung gänzlich neue digitale Geschäftsmodelltypen entstehen. Aus Sicht der
Wissenschaft und der Praxis werden dabei insbesondere digitalen Plattformen eine wesent-
liche Bedeutung zugeschrieben.
Damit Unternehmen digitale Geschäftsmodelle für sich schaffen, bedarf es den Aufbau
und die Nutzung digitaler Plattformen (Yoo et al., 2012; Weill & Woerner, 2013; Cenamor
et  al., 2017). Dabei umfassen digitale Plattformen sowohl Produkte als auch Dienst-
leistungen und/oder Technologien. Diese werden innerhalb eines Wertschöpfungsnetz-
werks oder eines Ökosystems entwickelt oder bereitgestellt (Gawer & Cusumano, 2014,
S.  417), wodurch verschiedene Akteure (z.  B.  Lieferant, Unternehmen, Kunde, Wett-
bewerber, etc.) über diese Plattform verbunden werden (Kohtamäki et al., 2019). Die Nut-
zung einer digitalen Plattform bedeutet für Unternehmen zudem die Möglichkeit, Prozesse
und Transaktionskosten zu reduzieren (Kohtamäki et  al., 2019), da durch die Plattform
Angebot und Nachfrage virtuell gegenübergestellt werden können und somit eine erhöhte
Geschwindigkeit und Effizienz erzielt wird (Simmons et al., 2013; Roland Berger, 2018).
Pflaum & Schulz (2018) betonen, dass sich durch die Digitalisierung die Wertschöpfung
verändert hat und diese nun überwiegend auf digitalen Plattformen stattfindet (Pflaum &
Schulz, 2018). Aus diesem Grund stellen digitale Plattformen für Parker et al. (2016) auch
einen neuen Geschäftsmodelltyp dar (Parker et al., 2016). Plattformen schaffen im Gegen-
satz zur traditionell erzielten Wertschöpfung  – im Sinne von der Herstellung und dem
Verkauf von physischen Produkten und Dienstleistungen  – einen differenzierten Wert
­sowohl für Unternehmen als auch deren Kunden (Cenamor et al., 2017; Roland Berger,
2018; Pflaum & Schulz, 2018), denn hier steht insbesondere die „Community“ bzw. das
Netzwerk und die Wertschöpfung innerhalb des gesamten Netzwerks im Fokus (Evans &
Gawer, 2016; van Alstyne et al., 2016; Engels et al., 2017). An dieser Stelle wird in der
Literatur betont, dass Differenzierungsmöglichkeiten grundlegend auf zwei unterschied-
liche Weisen vorliegen können (Gawer, 2014; Standing & Mattsson, 2016; Lassnig et al.,
2018; Ghezzi & Cavallo, 2020):
334 P. Ulrich et al.

• Differenziertes/vielfältiges Angebot durch verschiedene Akteure oder


• Größe der Plattform, welche sich durch die Anzahl der aktiven Plattformnutzer wider-
spiegelt.

Außerdem wird oftmals in der Literatur auch der Begriff der „multidimensionalen Platt-
form“ (Parker & Van Alstyne, 2005; Eisenmann et al., 2006; Pagani, 2013) angeführt (Pa-
gani, 2013). Diese differenzieren sich durch die Anzahl der Marktseiten, die sie tangieren.
Pagani (2013) zeigt in seinem Beitrag, dass diese sowohl zwei oder drei als auch vier oder
eine Vielzahl an Marktseiten beinhalten (Pagani, 2013). Jedoch wird darauf hingewiesen,
dass je mehr Marktseiten in einer multidimensionalen Plattform berücksichtigt werden,
desto komplizierter ist die Handhabung und die (strategische) Steuerung und Regelung der
Plattform, da die Interessen unterschiedlicher Stakeholder in Einklang gebracht werden
müssen (Pagani, 2013).
Weiterhin muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass in der Literatur der
Begriff des „Ökosystems“ oftmals in Verbindung mit dem Plattform-Begriff genannt wird.
Ökosysteme gelten als „reale oder virtuelle Unternehmensnetzwerke“ (Deloitte, 2019a)
und fußen oftmals auf einer Plattform (Deloitte, 2019a). Das grundlegende Ziel eines Öko-
systems ist es, dass Unternehmen ein stabiles Ökosystem aufbauen, welches sämtliche
Stakeholder berücksichtigt. Dadurch wird es möglich, Optimierungspotenziale und Skalen-
effekte innerhalb des gesamten Wertschöpfungsnetzwerks zu realisieren (Accenture, 2019).
Unternehmen können in einem solchen Ökosystem unterschiedliche Rollen einnehmen.
Gemäß van Altane et al. liegen hier vier Rollen (sog. Archetypen) vor (van Alstyne et al.,
2016; Pflaum & Schulz, 2018):

• Plattformbesitzer;
• Plattformanbieter;
• Produzent und
• Konsument.

Diese Archetypen lassen sich jedoch im Ökosystem-Kontext (beliebig) ergänzen (Delo-


itte, 2019a). Oftmals wird hier noch der „Integrator“ genannt, welcher die wesentliche
Steuerung des Ökosystems übernimmt und somit innerhalb von Ökosystemen bestimmte
Aufgaben. Außerdem fällt oftmals der Archetyp des „Orchestrator“. Dieser gibt die
­strategische Direktive vor und wählt die zur Wertschöpfung beitragenden Aktivitäten aus
und stellt sicher, dass die erforderlichen Kompetenzen und Fähigkeiten im Ökosystem
vorhanden sind. Weiterhin gilt der Archetyp des „Layer Player“ als Experte, welcher die
dedizierten Aufgaben über sämtliche Wertschöpfungsprozesse hinweg ausführt. Zudem ist
es die Aufgabe des „Market Maker“, neue Möglichkeiten auf (multidimensionalen) Märk-
ten zu identifizieren und dafür zu sorgen, diese zu realisieren (Deloitte, 2019a).
Gleichwohl soll noch auf den Begriff der „Co-Creation“ hingewiesen werden, welcher
auch im Rahmen der Literatur oftmals im Zusammenhang mit Plattformen bzw. Öko-
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 335

system genannt wird. Co-Creation beschreibt dabei die Wertschöpfung in der digitalisier-
ten Welt unter Vervielfältigung durch die Koordination mit unterschiedlichen Partnern
(Pagani, 2013; Standing & Mattsson, 2016). Innerhalb einer Plattform bzw. eines Öko-
systems lassen sich Ressourcen (optimal) nutzen (Simmons et al., 2013; Übelhör, 2019).
Weiterhin ermöglicht die Zusammenarbeit über Plattformen und Ökosysteme für Unter-
nehmen, eigene Kernkompetenzen weiter auszubauen und Experten (mit fachspezifischem
Wissen) auszubilden und diese den anderen Teilnehmern zur Verfügung zu stellen, sodass
jeder Teilnehmer diese nutzen kann (Übelhör, 2019). Letztlich entsteht Co-Creation inner-
halb eines Netzwerks durch sog. Netzwerkeffekte. Dies bedeutet, dass je mehr Nutzer auf
einer Plattform miteinander interagieren, desto höher ist der daraus gewonnene Nutzen
(Lünendonk, 2019a).

12.5 Fazit

Der vorliegende Beitrag hatte zum Ziel, den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und
Geschäftsmodellen von Unternehmen zu analysieren. Insbesondere wurde durch eine
Analyse aktueller wissenschaftlicher und praxisorientierter Literatur der aktuelle Status
Quo und somit aktuelle, wesentlichen Erkenntnisse diesem Zusammenhang eruiert. Nach
einem einleitenden Kapitel, dass eben diese Problemstellung erläutert hat, wurden die not-
wendigen begrifflichen Grundlagen zu den Begriffen „Geschäftsmodell“ und „Digitalisie-
rung“ gelegt, indem für den vorliegenden Beitrag Arbeitsdefinitionen abgeleitet wurden.
Danach wurden entsprechend diesem Verständnis sowohl eine systematische Literatur-
analyse also auch eine Beraterstudienanalyse durchgeführt, um den aktuellen Status Quo
darzustellen und die wesentlichen Erkenntnisse im Hinblick auf die vorliegende Thematik
gewinnen zu können. Insgesamt wurden 47 Beiträge (34 wissenschaftliche Journalartikel
und 13 Beraterstudien) analysiert.
Die wesentlichen Ergebnisse der Literaturanalyse konnten zeigen, dass digitale Techno-
logien als Enabler für die digitale Transformation von Unternehmen gelten und durch
Unternehmen genutzt werden sollen. Je nachdem, welche digitale Technologie von Unter-
nehmen verwendet wird, wird letztlich auch ein anderer Zweck verfolgt. Außerdem konnte
durch die Literaturanalyse demonstriert werden, dass Unternehmen strategisch ihr Unter-
nehmen digital aufstellen sollen. Insbesondere die Ableitung einer digitalen Strategie kann
hierbei helfen. Jedoch muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass nicht nur die
strategische Ausrichtung aufgrund der Digitalisierung überdacht und angepasst werden
muss, da die Digitalisierung auch eine Veränderung und Anpassung der Unternehmens-
struktur und -kultur bedingt. Insbesondere gilt es hier, das unternehmerische Leistungs-
programm mit seinen Prozessen zu hinterfragen und anzupassen. Aber auch Mitarbeiter
und Führungskräfte müssen auf die Veränderungen, die mit der Digitalisierung einher-
gehen, vorbereitet und entsprechend geschult werden. Dies führt dann letztlich dazu, dass
Unternehmen danach streben sollten, ihr Geschäftsmodell komplett oder zumindest teil-
336 P. Ulrich et al.

weise zu digitalisieren, um ein (oder mehrere) digitales Geschäftsmodell zu erhalten.


Als  Beispiel eines rein digitalen Geschäftsmodells wird in der Literatur ein Platt-
form-zentriertes Geschäftsmodell genannt. Diesem „neuen“ Typus wird dabei hohe Be-
deutung zu Teil, da sich durch die Digitalisierung die Wertschöpfung verändert hat und
diese nun überwiegend auf digitalen Plattformen stattfindet.
Außerdem soll abschließend noch kurz auf den Mehrwert des vorliegenden Beitrags für
die Wissenschaft und die Praxis hingewiesen werden. Zunächst gilt als Beitrag für die
Wissenschaft das Aufzeigen der bisherigen Literaturlandschaft mit aktuell, relevanter Li-
teratur als auch die Eröffnung neuer Forschungsfelder im Rahmen der Digitalisierung und
Geschäftsmodellthematik. Zudem lassen sich Zusammenhänge zwischen den Geschäfts-
modellelementen feststellen und Charakteristika von digitalen Elementen nennen.
Für die Praxis lassen sich wertvolle Erkenntnisse generieren, wie zum Beispiel die
Nutzung neuer digitaler Technologien oder gar einer Plattform zur Unterstützung der digi-
talen Transformation des Geschäftsmodells.

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Prof. Dr. habil. Patrick Ulrich  lehrt als W3-Professor Unterneh­


mensführung und -kontrolle an der Hochschule Aalen. Zudem leitet
er das dortige Aalener Institut für Unternehmensführung (AAUF).
Er  ist Privatdozent an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und
Lehrbeauftragter an mehreren anderen Universitäten und Hochschulen.
Als freiberuflicher Coach, Dozent, Unternehmensberater und Trainer
unterstützt er Unternehmen in Fragen der Unternehmensstrategie,
Organisation und Digitalisierung. Er ist Autor von mehr als 400 Ver-
öffentlichungen und Mit-­Herausgeber von vier Buchreihen. Zudem
ist er Mitglied des Editorial Boards der Zeitschriften Corporate
­Governance & Sustainability Review (Virtus Interpress) und Risk,
Fraud & Compliance (ESV). Seit 2019 ist er Mitglied im Baden-­
Württemberg Center of Applied Research (BW-CAR).

Univ.-Professor Dr. Dr. habil. Wolfgang Becker  ist Ordinarius


für Betriebswirtschaftslehre und Emeritus des Lehrstuhls für BWL,
insbes. Unternehmensführung und Controlling an der Otto-Fried-
rich-Universität Bamberg. Er vertritt das Fach Controlling zudem in
Executive MBA-Programm an der Johannes-­Gutenberg-­Universität
Mainz und im MBA-Studiengang Business Management an der
Friedrich-­
Alexander-­ Universität Erlangen Nürnberg. Er ist Autor
von  mehr als 400 Veröffentlichungen. Professor Becker ist zudem
Gründer und Beiratsvorsitzender der Scio GmbH, Erlangen. Er ist
Mitglied des Beirats des Aalener Instituts für Unternehmensführung
(AAUF) an der Hochschule Aalen und Mitglied des Herausgeberbeirats
der Zeitschrift Risk, Fraud & Compliance (ZRFC) im Erich Schmidt
Verlag, Berlin.
12  Digitale Transformation und Technologien, Strategien und Geschäftsmodelle … 343

Alexandra Fibitz, M.Sc.,  ist als Technologie- und IT-­Managerin in


einem globalen Konzern tätig. Nach einem Studium der BWL an den
Universitäten Erlangen-Nürnberg und Bamberg war sie als wissen-
schaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Aalaner Institut für
Unternehmensführung (AAUF) tätig. In ihrem Promotionsvorhaben
an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg beschäftigt sie sich mit
dem Spannungsfeld aus Digitalisierung, Technologien und Ge-
schäftsmodellinnovationen
Digitale Transformation: etablierte
Unternehmen im Spannungsfeld zwischen 13
Kerngeschäft und digitalen Innovationen

Micha Bosler

Zusammenfassung

Die Erweiterung ehemals rein physischer Produkte um digitale Technologien führt zu


digitalen Innovationen. Aus der Perspektive etablierter Unternehmen können digitale
Innovationen deren Wettbewerbsfähigkeit erhalten und die Differenzierung am Markt
ermöglichen. Das geht allerdings mit vielseitigen Herausforderungen einher. Der vor-
liegende Beitrag widmet sich der digitalen Transformation etablierter Unternehmen
und trägt zu einem tieferen Verständnis der Wertschöpfung mit digitalen Innovationen
bei. Die präsentierten Ergebnisse basieren auf einer multiplen Fallstudienanalyse von
Automobilherstellern. Als Untersuchungsgegenstand dienen digitale Services für ver-
netzte Fahrzeuge. Hierbei wird besonders das Spannungsfeld zwischen Kerngeschäft
und digitalem Geschäft deutlich, in dem die Organisationen agieren. Beide Geschäfts-
felder unterscheiden sich erheblich, daher funktionieren eigentlich bewährte Vor-
gehens- und Denkweisen im digitalen Bereich nicht mehr.

Schlüsselwörter

Digitale Transformation · Digitale Innovationen · Digitale Services · Connected-Car-


Services; etablierte Unternehmen

M. Bosler (*)
Lehrstuhl für Innovations- und Dienstleistungsmanagement, Universität Stuttgart,
Stuttgart, Deutschland
E-Mail: micha.bosler@bwi.uni-stuttgart.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 345


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_13
346 M. Bosler

13.1 Einleitung

Als zentraler Innovationstreiber des 21. Jahrhunderts hat die Digitalisierung disruptive
Auswirkungen für etablierte Firmen (Echterfeld & Gausmeier, 2018; Teece, 2018; Ab-
rell et  al., 2016). Auf der Basis digitaler Technologien entstehen neue Produkte, Ser-
vices, Prozesse und Geschäftsmodelle (Wiesböck & Hess, 2020; Echterfeld & Gaus-
meier, 2018). Dabei sind digitale Innovationen zugleich Chance und Herausforderung.
Etablierte Unternehmen erweitern im Zuge ihrer digitalen Transformation bestehende
physische Marktangebote um digitale Funktionalitäten (Yoo, 2010; Lyytinen et  al.,
2016). Ein digitalisiertes Produkt kann mit seiner Umwelt interagieren, autonome Tätig-
keiten ausführen, auch nach der Auslieferung Updates empfangen oder um digitale Ser-
vices ergänzt werden (Yoo, 2010; Yoo et  al., 2010; Echterfeld & Gausmeier, 2018).
Damit sollen digitale Innovationen zur Differenzierung am Markt beitragen (Echterfeld
& Gausmeier, 2018).
Den Potenzialen digitalisierter Produkte stehen jedoch tiefgreifende, herausfordernde
Veränderungen bei der Wertschöpfung gegenüber (Bosler et al., 2021; Teece, 2018; Svahn
et al., 2017). Zumal die digitale Transformation nicht immer eine strategische Wahlmög-
lichkeit darstellt, sondern mitunter für den Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit zwingend er-
forderlich sein kann (Abrell et al., 2016; Echterfeld & Gausmeier, 2018). Durch die Aus-
dehnung in digitale Geschäftsfelder wandeln sich für etablierte Unternehmen die internen
und externen Rahmenbedingungen grundlegend. Im digitalen Bereich braucht es andere
Ressourcen, Kompetenzen, Organisationsstrukturen, Denkweisen, Partner und Erlös-
modelle (Vial, 2019; Porter & Heppelmann, 2014; Bosler et al., 2021; Svahn et al., 2017).
Gleichzeitig müssen bestehende Strukturen im (bewährten) Kerngeschäft erhalten blei-
ben. Nicht zuletzt, weil dessen Erlöse (mindestens zu Beginn) die digitale Transformation
finanzieren (Bosler et al., 2021).
Trotz der hohen Relevanz aus Sicht der Praxis ist das Forschungsgebiet der digitalen
Innovationen bis dato nicht wirklich ausgereift (Holmström, 2018). Vielmehr handelt es
sich um ein Feld heterogener und lose verknüpfter Ansätze, die eher konzeptioneller als
empirischer Natur sind (Wiesböck & Hess, 2020; Holmström, 2018; Bosler et al., 2021).
So besteht unter anderem weiterer Forschungsbedarf hinsichtlich der Veränderungen und
Faktoren, die Organisationen zu digitalen Innovationen befähigen (Wiesbock & Hess,
2020). Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag das Ziel, zu einem tiefe-
ren Verständnis der digitalen Transformation etablierter Unternehmen beizutragen. Hier-
für werden generalisierte Erkenntnisse aus einer Fallstudienuntersuchung von vier Auto-
mobilherstellern präsentiert und in bestehende Forschungsperspektiven eingeordnet. Als
konkreter Untersuchungsgegenstand dienen digitale Services für vernetzte Fahrzeuge. Die
komplementären Dienste versprechen Mehrwerte in den Bereichen Navigation, Sicher-
heit, Kommunikation, Fahrerassistenz und Wartung (Lasmar Jr. et al., 2019; Morris et al.,
2018; Coppola & Morisio, 2016). Hierbei wird das Spannungsfeld zwischen dem Kern-
geschäft und dem digitalen Bereich besonders deutlich. Große Vorlaufzeiten in der Ent-
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 347

wicklung, mehrjährige Produktionszeiten einer Baureihe und lange Lebenszyklen der


Fahrzeuge sind völlig konträr zur Schnelllebigkeit des digitalen Geschäfts (Bosler et al.,
2021; Svahn et al., 2017; Huang et al., 2017).
Dieser Beitrag ist wie folgt strukturiert. Abschn. 13.2 behandelt zunächst die für das
Verständnis notwendigen Grundlagen der Digitalisierung und der Wertschöpfung mit di-
gitalen Technologien. Anschließend widmet sich Abschn. 13.3 explizit digitalen Innova-
tionen in etablierten Unternehmen, zeigt den bestehenden Forschungsbedarf auf und
­erläutert das Untersuchungsdesign. Die Ergebnisse der multiplen Fallstudienanalyse wer-
den in Abschn. 13.4 präsentiert.

13.2 Grundlagen

Mit der Intention eines einheitlichen Verständnisses werden zunächst die Begrifflichkeiten
der Digitalisierung, digitalen Transformation und digitalen Innovationen definiert be-
ziehungsweise abgegrenzt. Anschließend werden die grundlegenden Zusammenhänge der
Wertschöpfung mit digitalen Technologien erläutert.

13.2.1 Digitale Transformation: Wie die Digitalisierung zu digitalen


Innovationen führt

Digitale Technologien sind mittlerweile allgegenwärtig und durchdringen sämtliche ge-


sellschaftlichen wie wirtschaftlichen Bereiche (Lyytinen et  al., 2016; Yoo et  al., 2012).
Infolgedessen unternehmen Firmen aus den unterschiedlichsten Industriezweigen An-
strengungen, um die sich bietenden Möglichkeiten digitaler Technologien zu verwerten
(Matt et al., 2015). Zu den digitalen Technologien gehören – um konkrete Beispiele zu
nennen  – Prozessoren, Speichertechnologien, Sensoren, Kommunikationstechnologien,
Cloudlösungen oder auch künstliche Intelligenz (Abrell et al., 2016; Lyytinen et al., 2016;
Teece, 2018). Die treibenden Technologien werden unter dem Akronym SMACIT (Social,
Mobile, Analytics, Cloud, Internet of Things) zusammengefasst (Sebastian et al., 2017).
Gegenüber analogen Technologien basieren digitale Artefakte auf einer binären Rechen-
sprache (Holmström, 2018). Das ermöglicht nicht nur eine homogene Datenbasis, sondern
macht digitale Technologien auch veränderbar (Yoo et al., 2010).
Charakteristisch für die pervasiven digitalen Technologien ist die Integration digitaler
Eigenschaften in zuvor rein physische Objekte (Yoo et al., 2012). Das führt zum Begriff
der Digitalisierung. Darunter wird im Kontext des vorliegenden Beitrags (weitgefasst) die
Erweiterung physischer Produkte um digitale Technologien verstanden (Holmström,
2018). Die digitale Materialität ermöglicht neue Produkteigenschaften. Digitalisierte Pro-
dukte können programmierbar, veränderbar (durch Updates), intelligent sowie vernetzt
sein. Dazu erfassen sie über Sensoren ihre Umgebung und lösen gegebenenfalls autonom
348 M. Bosler

Aufgaben (Yoo, 2010; Echterfeld & Gausmeier, 2018). Dadurch wird, verglichen mit
nicht-digitalisierten Produkten, ein weitaus größeres Spektrum an Funktionen realisiert
(Holmström, 2018). Das zeigt sich etwa in komplementären digitalen Diensten, die das
originäre Kernprodukt ergänzen (Echterfeld & Gausmeier, 2018; Teece, 2018). Exempla-
risch sei auf eine Sprachsteuerung für elektronische Geräte verwiesen (Wiesböck & Hess,
2020). Solche digitalen Funktionen verändern die Entwicklung, die Herstellung, den Ver-
trieb und die Nutzung von Produkten (Yoo et al., 2010).
Die Digitalisierung wirkt sich auf die unterschiedlichsten Produkte des industriellen
Zeitalters aus. Das macht sie zu einem der wichtigsten Innovationstreiber (Echterfeld &
Gausmeier, 2018; Lyytinen et  al., 2016). Infolgedessen wird die Fähigkeit etablierter
Unternehmen, digitale Technologien zielgerichtet einzusetzen, zu einem kritischen Fak-
tor im Wettbewerb. Digitale Funktionalitäten tragen zur Differenzierung und dem Erhalt
der Wettbewerbsfähigkeit bei (Abrell et al., 2016; Echterfeld & Gausmeier, 2018). Die
(erfolgreiche) Wertschöpfung mit digitalen Technologien setzt allerdings voraus, dass
sich Organisationen hinsichtlich ihrer Ressourcen, Kompetenzen, Strukturen, Prozesse
und Kultur transformieren (Bosler et al., 2021; Vial, 2019). Dieser Veränderungs- und
Anpassungsprozess wird mit der digitalen Transformation von Unternehmen be-
schrieben (Hinings et al., 2018). Vial (2019) definiert die digitale Transformation als „a
process that aims to improve an entity by triggering significant changes to its properties
through combinations of information, computing, communication, and connectivity
technologies“ (Vial, 2019, S. 118). Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen,
dass sich die digitale Transformation nicht auf Unternehmen beschränkt, sondern auf
einem höheren Level ganze Industrien und gleichermaßen die Gesellschaft betrifft (Hin-
ings et al., 2018; Vial, 2019).
Ein wesentliches Element der digitalen Transformation einer Organisation sind digi-
tale Innovationen (Wiesböck & Hess, 2020). Im Allgemeinen werden Innovationen meist
als Durchsetzung neuer Kombinationen aufgefasst (Hauschildt et al., 2016; Schumpeter,
1912). Digitale Innovationen im Speziellen sind eine neue Ausprägung der Innovationen,
die auf die (innovative) Kombination von digitalen und gegebenenfalls physischen Res-
sourcen zurückgeht (Wiesböck & Hess, 2020; Bosler et al., 2021; Yoo et al., 2010). Deren
Spektrum reicht von Marktangeboten und Geschäftsprozessen bis hin zu ganzen Ge-
schäftsmodellen, die auf digitalen Technologien basieren (Nambisan et al., 2017). Hin-
sichtlich der neuartigen Marktangebote definieren Lyytinen et  al. digitale Produkt-
innovationen „as significantly new (from the perspective of a particular community or
market) products or services that are either embodied in information and communication
technologies or enabled by them“ (Lyytinen et al., 2016, S. 49). Charakteristisch ist deren
Unvollständigkeit. Da digitale Technologien veränderbar sind, bleiben neue Markt-
angebote auch nach ihrer Einführung unvollendet und können hinsichtlich Umfang, Funk-
tionen oder ihrem Wert weiterentwickelt werden (Nambisan, 2017). Digitale Innovationen
werden einerseits durch die Möglichkeiten und Fortschritte der digitalen Technologien
getrieben, sind aber auch eine Reaktion auf die Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppen
(Wiesböck & Hess, 2020). Dabei bedingen die digitalen Ressourcen – im Vergleich zu rein
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 349

physischen Produkten  – Unterschiede im Management, der Schützbarkeit und dem


wirtschaftlichen Charakter (Kosten, Reproduzierbarkeit) der digitalen Innovationen (Bos-
ler et al., 2021).

13.2.2 Wertschöpfung mit digitalen Technologien

Digitale Innovationen verändern die Geschäftsmodelle der Unternehmen. Das Geschäfts-


modell beschreibt, wie ein Unternehmen für seine Kunden Wert erzeugt beziehungsweise
bereitstellt – und wie diese Wertschöpfung zu Einnahmen führt (Teece, 2010). Nach Ches-
brough et al. (2018) lässt sich die Wertschöpfung wie folgt verstehen: „[…] An actor is
engaging in a resource-deployment process and the perceived benefits of that process
outweigh the perceived sacrifices“ (Chesbrough et al., 2018, S. 933). Dieser gezielte Ein-
satz von Ressourcen durch vorab definierte Prozesse soll einen höheren Nutzen für die
angestrebte Zielgruppe realisieren  – deren Zahlungsbereitschaft wiederum vom wahr-
genommenen Wert abhängt (Chesbrough et al., 2018; Lepak et al., 2007).
Digitale Innovationen bauen auf einer Infrastruktur digitaler Technologien auf (Con­
stantinides et  al., 2018). Die Wertschöpfung mit digitalen Technologien lässt sich über
eine Mehrebenen-Architektur (von digitalen und digitalisierten Produkten) erklären
(Henfridsson et al., 2018; Yoo et al., 2010). Diese setzt sich aus der Geräte-, Netzwerk-,
Dienst- und Inhaltsebene zusammen (Yoo et al., 2010):

• Inhaltsebene: Enthält alle relevanten Daten und Inhalte, die als Grundlage für be-
stimmte digitale Funktionalitäten dienen.
• Dienstebene: Umfasst sämtliche digitalen Services, die unter Nutzung der Inhalts-,
Netzwerk- und Geräteebene angeboten werden.
• Netzwerkebene: Repräsentiert die Konnektivität im Sinne der Netzwerkstandards und
Übertragungsprotokolle plus der notwendigen technischen Hardware (und ist oftmals
Voraussetzung für die Bereitstellung einer digitalen Innovation).
• Geräteebene: Alle digitalen Technologien eines Endgerätes (Hardware und Software).

Um die Abgrenzung der Ebenen zu verdeutlichen, wird auf das Beispiel von Video-­
Streaming-­Angeboten zurückgegriffen (Amazon Video, Netflix, Mediatheken von ARD/
ZDF etc.). Streams und gegebenenfalls Downloads von Filmen, Serien oder Dokumenta-
tionen sind das zentrale Wertangebot auf der Dienstebene. Diese Angebote lassen sich auf
verschiedenen Endgeräten (Smartphones, Tablets, PCs, Smart-TVs, Receiver) nutzen. Das
setzt jeweils eine Internetverbindung (Netzwerkebene) des Geräts voraus, um die erforder-
lichen Video-Dateien (Inhaltsebene) zu empfangen. Folglich besteht jede Ebene aus einem
Bündel an digitalen (und physischen) Ressourcen. Alle Ebenen sind als potenzielle An-
satzpunkte für die Wertschöpfung zu verstehen. Dabei sind digitale Ressourcen die Bau-
steine für digitale Innovationen (Henfridsson et  al., 2018). Anders formuliert: Digitale
Angebote entstehen, indem Ressourcen innerhalb und/oder zwischen den verschiedenen
350 M. Bosler

Ebenen miteinander verknüpft werden (Henfridsson et  al., 2018). Exemplarisch sei auf
drei konkrete Digitalisierungsinitiativen der Deutschen Post und DHL verwiesen.

• Packstationen ermöglichen den Empfang von Paketen (via Smartphone-Applikation).


Das erfordert ein Zusammenspiel aus vernetzten Geräten (physische Packstation,
Smartphone), der Dienstebene (Applikation) sowie Sendungsdaten auf der Inhalts-
ebene.
• Das Live-Tracking der Paketzustellung (digitaler Dienst) benötigt eine entsprechende
technische Ausrüstung am Fahrzeug (Geräteebene), um über die Netzwerkebene
Echtzeit-­Daten (Inhaltsebene) in der Sendungsverfolgung (verfügbar via App oder
Browser; Geräteebene) anzuzeigen.
• Die digitale Benachrichtigung (Dienst) informiert den Kunden sofort über abholbereite
Sendungen in einer Filiale  – und ersetzt gleichzeitig den bisherigen Abholzettel im
Briefkasten. Diese digitale Innovation ordnet sich primär auf der Serviceebene ein,
wird jedoch ebenfalls über eine Applikation auf dem Smartphone genutzt, nachdem die
entsprechenden Kommunikationsprozesse (Netzwerkebene) stattgefunden haben.

Die Wertschöpfung im digitalen Bereich beschränkt sich nicht zwangsläufig nur auf die
Schaffung neuer Angebote. Ein weiterer Fokus kann darauf liegen, bereits bestehende di-
gitale Produkte und Services anderer Akteure (sinnvoll) in das eigene Angebot zu integrie-
ren. Henfridsson et al. (2018) verwenden dafür den Begriff Channeling. Als Beispiel nen-
nen sie den Echo-Lautsprecher von Amazon, der (über die sogenannten Skills) auch Geräte
und Services von Drittanbietern unterstützt. Ein weiteres Beispiel ist der Sky Q Receiver.
Der vernetzte Receiver verfügt über diverse Streaming-Apps wie DAZN, Amazon Video
oder Netflix. Dabei handelt es sich eigentlich um Konkurrenzprodukte (Bosler et  al.,
2021). Das Ziel des Channelings besteht darin, den Wert des eigenen Angebots (be-
ziehungsweise der eigenen Plattform) zu steigern, indem dort möglichst viele An-
wendungen gebündelt werden (Netzwerkeffekte).
Das zeigt, wie sich die Wertschöpfung mit digitalen Innovationen oftmals über ein
Netzwerk aus unterschiedlichen Akteuren verteilt (Lyytinen et al., 2016). In diesem Zu-
sammenhang gilt es, das generative und derivative Potenzial digitaler Innovationen
hervorzuheben (Yoo et  al., 2012). Die Nutzung digitaler Technologien durch den An-
wender hinterlässt digitale (Daten-)Spuren (Yoo et al., 2012). Daten sind eine neue, wert-
volle Form geistigen Kapitals, das Wertschöpfungs- und Monetarisierungspotenziale bie-
tet (Teece, 2018). Zum Beispiel, indem die entstehenden Datenmengen veräußert oder
analysiert und in Form derivativer (abgeleiteter) Innovationen verwertet werden (Teece,
2018; Yoo et al., 2012). Ohnehin führt die Veränderbarkeit digitaler Technologien zu weit-
reichenden Möglichkeiten der Rekombination (Yoo, 2013). Diese Weiterverwendung geht
jedoch nicht zwingend vom ursprünglichen Besitzer aus. Stattdessen können Weiter-
entwicklungen auch durch Dritte vorangetrieben werden können  – ohne Einfluss und
Steuerung durch den Anbieter der Ursprungsinnovation. Solche unkoordinierten, endo-
genen Entwicklungen sind mit der generativen Eigenschaft digitaler Innovationen gemeint
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 351

(Lyytinen et al., 2016). Das generative Potenzial zeigt sich etwa bei Google Maps. Durch
Programmierschnittstellen (APIs) hat sich Google Maps zum Standard für digitale Karten
entwickelt und wird in den unterschiedlichsten Anwendungsszenarien von Dritten genutzt
(Yoo, 2013; Henfridsson et  al., 2018). Gleichzeitig hat auch Google von sich aus den
­Kartendienst vorangetrieben. Die Einführung von Echtzeit-Verkehrsinformationen bei der
Routenplanung mit Google Maps wäre ein Beispiel für eine derivative Innovation. Hierbei
analysiert Google die Standortdaten der Nutzer und identifiziert auf Basis der Bewegungs-
profile die aktuelle Verkehrslage.

13.3 Digitale Innovationen von etablierten Unternehmen

Eine wichtige Unterscheidung bei digitalen Innovationen besteht darin, ob es sich um


gänzlich neue digitale Produkte und Services (wie zum Beispiel Smartphones) handelt –
oder ob bereits bestehende Angebote um digitale Komponenten erweitert werden (Wies-
böck & Hess, 2020). Bei den Organisationen, die digitale Innovationen hervorbringen,
lassen sich wiederum digital geborene und prä-digitale Akteure unterscheiden (Chanias
et al., 2019; Ross et al., 2016). Zu den digital geborenen Unternehmen zählen unter ande-
rem Alphabet, Amazon oder Tencent; deren Wertschöpfung von Beginn an auf digitalen
Technologien basierte (Chanias et al., 2019). Dagegen waren prä-digitale Organisationen
schon zuvor in traditionellen Industrien aktiv, bevor sie sich digitalen Angeboten widme-
ten (Chanias et al., 2019; Sebastian et al., 2017; Ross et al., 2016). Diese etablierten Unter-
nehmen sind durch die Entwicklungen im digitalen Bereich mit substanziellen Ver-
änderungen konfrontiert (Ross et al., 2016).
Der Fokus des vorliegenden Artikels liegt auf etablierten (prä-digitalen) Unternehmen.
Diese nehmen im Kontext der digitalen Innovationen eine besondere Rolle ein. Im Zuge
der Digitalisierung sind etablierte Firmen mit tiefgreifenden Veränderungen und Heraus-
forderungen konfrontiert. Die Fähigkeit, digitale Innovationen hervorzubringen, setzt eine
Anpassung der Ressourcenbasis und der Wertschöpfungsstrukturen voraus (Bosler et al.,
2021). Zusätzlich transformiert sich das wettbewerbliche Umfeld. Neue digital-geborene
Unternehmen verändern ganze Branchen. Sehr bekannte Beispiele sind Amazon, Airbnb,
Uber oder Netflix (Echterfeld & Gausmeier, 2018). Neben disruptiven Wettbewerbern aus
der eigenen Branche führt die homogene Datenbasis digitaler Technologien zur Auflösung
ehemals klarer Produkt- und Industriegrenzen: Infolge der digitalen Konvergenz drängen
branchenfremde, digital-geborene Unternehmen in die Märkte der prä-digitalen Organisa-
tionen (Lyytinen et  al., 2016; Yoo et  al., 2010). Somit konkurrieren im digitalen Um­
feld Akteure aus unterschiedlichen Industriezweigen (Yoo et  al., 2012). Während der
Coronavirus-­Pandemie haben beispielsweise Videokonferenzen stark an Bedeutung ge-
wonnen. Entsprechende Software-Anbieter wie Skype, Microsoft (Teams), Zoom oder
Webex sind durchaus als Konkurrenz zu etablierten Telekommunikationsdienstleistern
zu sehen.
352 M. Bosler

13.3.1 Stand der Forschung: Erkenntnisse zum


Transformationsprozess

Angesichts der generellen Bedeutung digitaler Innovationen sowie den Besonderheiten


für etablierte Unternehmen handelt es sich um ein interessantes Forschungsgebiet. In der
bestehenden Literatur zeigt sich Einigkeit dahingehend, dass die Wertschöpfung mit digi-
talen Technologien mit tiefgreifenden Veränderungen und daher großen Herausforderungen
einhergeht (Bosler et al., 2021). Das erfordert einen Transformationsprozess der etablier-
ten Organisationen. Von Bedeutung ist dabei die Tatsache, ob ein Unternehmen digitale
Innovationen für seine bestehenden Produkte anbietet – oder losgelöst vom eigentlichen
Kerngeschäft. Im zweiten Fall gibt es keine Abhängigkeiten, wodurch die Verantwortlich-
keiten beispielsweise in einer eigenständigen Geschäftseinheit gebündelt werden können
(Wiesböck & Hess, 2020). Anders gestaltet sich die Situation, wenn das digitale Angebot
eines Unternehmens auf dessen eigenen digitalisierten Produkten aufbaut. In diesem Fall
verantwortet der prä-digitale Akteur sowohl die Geräte- als auch die Dienstebene. Das er-
höht die Komplexität und sorgt für Abhängigkeiten (Bosler et  al., 2021; Svahn et  al.,
2017). Damit grenzt sich beispielsweise ein Automobilhersteller von rein digitalen Unter-
nehmen wie Airbnb, Uber oder Netflix ab. Die genannten digital-geborenen Akteuren ver-
öffentlichen und betreiben lediglich die digitalen Applikationen für ihre Services, nicht
aber die Endgeräte (Bosler et al., 2021).
Für etablierte Unternehmen mit gebündelten Digitalisierungsinitiativen (digitale
Dienste für die eigenen, digitalisierten Produkte) ergibt sich ein herausforderndes
Spannungsfeld – zwischen dem traditionellen und dem digitalen Geschäftsmodell (Covar-
rubias, 2018). Oftmals unterscheiden sich die beiden Bereiche deutlich in ihren Rahmen-
bedingungen. Das äußert sich etwa in den verschiedenen Entwicklungs- und Lebenszyklen
von digitalen und physischen Technologien (Huang et  al., 2017). Mehrjährige Vorlauf-
zeiten widersprechen der Schnelllebigkeit des digitalen Geschäfts (Bosler et  al., 2021;
Svahn et al., 2017). Dazu verändern digitale Technologien das Produktverständnis. Anders
als rein physische Produkte ist ein digitalisiertes Produkt mit seiner Produktion nicht voll-
endet. Stattdessen wird es nach der Auslieferung veränderbar und erweiterbar. Das er-
öffnet neue wirtschaftliche Möglichkeiten, verleiht aber auch der Produktverantwortung
über den gesamten Lebenszyklus ganz andere Dimensionen (Svahn et al., 2017). Die be-
stehende Literatur liefert verschiedene Perspektiven auf den Transformationsprozess eta-
blierter Unternehmen, der letztendlich zum Angebot digitaler Innovationen befähigt.

Ressourcenperspektive: Ausbildung digitaler Innovationsfähigkeiten


Um digitale Innovationen entwickeln und veröffentlichen zu können, bedarf es der Ent-
wicklung neuer organisationaler (IT-)Fähigkeiten (Wiesböck & Hess, 2020; Svahn et al.,
2017). Die Ausbildung digitaler Innovationsfähigkeiten impliziert eine Erneuerung der
Ressourcenausstattung etablierter Unternehmen (Bosler et al., 2021). Hierbei kann zwi-
schen personellen und infrastrukturellen Ressourcen differenziert werden (Bharadwaj,
2000). Auf personeller Ebene setzen Entwicklung und Kommerzialisierung digitaler An-
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 353

gebote unter anderem entsprechende Kenntnisse hinsichtlich Softwareentwicklung, (mo-


derner) digitaler Technologien, digitaler Plattformen, digitaler Geschäftsmodelle und digi-
taler Märkte voraus (Bosler et  al., 2021; Svahn et  al., 2017). Dazu wird bestehendes
Personal geschult, neues Personal eingestellt oder es werden geeignete Unternehmen auf-
gekauft (Wiesböck & Hess, 2020). Die infrastrukturellen Ressourcen sind die technische
Voraussetzung, um digitale Innovationen zu veröffentlichen und zu betreiben. Hierbei ist
vor allem der Aufbau digitaler Plattformen als Basis der Wertschöpfung zu nennen (Bosler
et al., 2021; Teece, 2018).

Bei der Ausbildung digitaler Innovationsfähigkeiten zeigt sich deutlich das Spannungs-
feld zwischen dem Kerngeschäft und dem digitalen Bereich. Die bestehende Ressourcen-
und Kompetenzausstattung ist nicht auf digitale Innovationen ausgelegt. Gleichzeitig
müssen jedoch die existierenden, weiterhin benötigten Innovationsfähigkeiten des tradi-
tionellen Geschäftsmodells erhalten bleiben (Svahn et  al., 2017). Zumal die damit er-
zielten Erlöse die digitale Transformation finanzieren (Bosler et  al., 2021). Es drohen
Spannungen zwischen denjenigen Parteien, die Veränderungen anstreben und jenen, die an
etablierten Fähigkeiten und Kernkompetenzen festhalten. Letzteres birgt ohnehin die Ge-
fahr von Kompetenzfallen – die der organisationalen Anpassung und der Exploration digi-
taler Möglichkeiten entgegenwirken (Svahn et al., 2017). Der Widerstand der Mitarbeiter
gegenüber der Einführung und Nutzung digitaler Technologien gilt als wesentliche Bar-
riere für die digitale Transformation (Vial, 2019).

Struktur- und Prozessperspektive


Die durch digitale Innovationen ausgelösten Veränderungen etablierter Unternehmen
schlagen sich ebenfalls in den Organisationsstrukturen nieder (Covarrubias, 2018). Die
angesprochenen Ressourcen und Fähigkeiten müssen in geeignete organisationale Struk-
turen und Prozesse eingebettet werden (Wiesböck & Hess, 2020; Svahn et al., 2017). Das
bezieht sich auf die Verortung der Innovationsverantwortlichkeiten innerhalb der Organi-
sation sowie die Definition von Entwicklungsprozessen (Wiesböck & Hess, 2020; Bosler
et al., 2021; Svahn et al., 2017). Dabei droht ein weiteres Spannungsfeld: Gegebenenfalls
müssen alte Strukturen abgebaut werden, um finanzielle Mittel für die neuen Strukturen
und deren Geschäftsmodelle freizusetzen (Covarrubias, 2018). Hinsichtlich der strukturel-
len Integration gibt es unterschiedliche Ansatzpunkte. Beispielhaft seien cross-funktionale
Teams oder separate, unabhängige Einheiten genannt (Vial, 2019). Generell sollten sich
etablierte Unternehmen nicht nur auf die von ihnen angebotenen digitalen Produkte fokus-
sieren, sondern dürfen auch die grundlegenden Prozesse – zur Innovationsentstehung und
Nutzung digitaler Technologien – nicht aus den Augen verlieren (Svahn et al., 2017). Als
ein wichtiges Instrument gelten in dieser Hinsicht beispielsweise agile Entwicklungs-
ansätze (Bosler et al., 2021; Vial, 2019).

Netzwerkperspektive: Unternehmensübergreifende Wertschöpfung


Durch das generative und derivative Potenzial digitaler Innovation verlagert sich die
Wertschöpfung in Netzwerke und Ökosysteme, bestehend aus heterogenen Akteuren
354 M. Bosler

(Vial, 2019; Teece, 2018; Lyytinen et  al., 2016). Hierbei kann es eine hierarchische
Struktur mit einem fokalen Unternehmen an der Spitze geben, dies muss aber nicht
zwangsläufig der Fall sein (Lyytinen et al., 2016). Aus Netzwerkperspektive ist wichtig,
dass Unternehmen in der Lage sind, digitale Technologien von unterschiedlichen Akteu-
ren zu integrieren (Vial, 2019). Die Bedeutung unternehmensübergreifender Wert-
schöpfungsstrukturen äußert sich zum Beispiel in der intensiven Integration unterschied-
licher Partner. Nicht zuletzt in (anfänglicher) Ermangelung eigener Kompetenzen greifen
etablierte Unternehmen auf externe Softwareentwickler, Cloud-Dienstleister oder UI/
UX-Agenturen zurück (Bosler et al., 2021). Das führt zur Herausforderung, einerseits die
erforderlichen internen Fähigkeiten zu entwickeln und andererseits gleichzeitig die not-
wendigen Partner und deren Ressourcen einzubeziehen (Svahn et al., 2017). Konzentriert
sich die Managementebene zu stark auf die unternehmensinternen Abläufe, könnten
Potenziale der unternehmensübergreifenden Wertschöpfung übersehen werden (Svahn
et  al., 2017). Verlagert sich die Wertschöpfung zu sehr auf externe Akteure, entstehen
Abhängigkeiten (Bosler et al., 2021).

Mindset-Perspektive: Unternehmenskultur und Innovationssteuerung


Darüber hinaus braucht es eine Anpassung auf kultureller Ebene (Wiesböck & Hess,
2020). Eine erfolgreiche digitale Transformation erfordert einen synchronisierten Wandel
der Fähigkeiten und des organisationalen Mindsets (Töytäri et  al., 2018). Das umfasst
sämtliche Werte, Vorstellungen, Normen und Regeln des Unternehmens (Töytäri et  al.,
2018). Die organisationale Kultur hat wesentliche Einflüsse auf die digitale Trans-
formation. Zunächst einmal wirkt sich die Unternehmenskultur darauf aus, wie die Mit-
arbeiter die notwendigen Veränderungen annehmen (oder ablehnen). Die Organisations-
kultur kann daher eine starke Barriere bei der Entwicklung ergänzender digitaler Angebote
darstellen (Vial, 2019; Töytäri et al., 2018). Außerdem ist diese für die Haltung gegenüber
digitalen Technologien ausschlaggebend. Das schließt auch den Umgang mit beziehungs-
weise die Risikoeinstellung gegenüber sich ergebenden Wertschöpfungspotenzialen ein
(Wiesböck & Hess, 2020; Vial, 2019). Dementsprechend beeinflusst die Unternehmens-
kultur maßgeblich die Bewertung und Umsetzung innovativer Ideen durch die verantwort-
lichen Personen (Wiesböck & Hess, 2020). Die Unternehmenskultur hängt zudem mit der
Steuerung der Innovationen zusammen. Hier braucht es ein angemessenes Maß aus Kon­
trolle und Flexibilität, um die Exploration digitaler Möglichkeiten zu gewährleisten (Svahn
et al., 2017). Etablierte Firmen müssen bewusst Praktiken entwickeln, die Kreativität för-
dern und damit zur Differenzierung beitragen. Das kann zulasten vorhandener Strukturen
und Denkweisen gehen (Svahn et al., 2017).

13.3.2 Forschungsbedarf und Untersuchungsdesign

Digitale Innovationen sind zwar in den letzten Jahren stark in den wissenschaftlichen
Fokus gerückt, trotzdem handelt es sich noch immer um ein wachsendes Feld aus hetero-
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 355

genen und konzeptionellen Ansätzen (Holmström, 2018). Dadurch mangelt es derzeit an


tieferem Wissen über die Auswirkungen digitaler Technologien auf das Innovations-
geschehen (Nambisan, 2018). Folgerichtig stellen die skizzierten Veränderungen eta­
blierter Unternehmen  – die digitale Innovationen erst ermöglichen  – ebenfalls ein
­vergleichsweise junges Untersuchungsgebiet dar (Wiesböck & Hess, 2020). Dement-
sprechend spiegeln die obigen Ausführungen ein relativ frühes Forschungsstadium
wider, weshalb es weiterer Untersuchungen bedarf (Wiesböck & Hess, 2020). In diesem
Zusammenhang ist auch wichtig zu betonen, dass die digitale Transformation mit einem
kontinuierlichen Wandel einhergeht (Vial, 2019). Es handelt sich um kein kurzfristiges
Projekt, sondern um ein langfristiges Vorhaben. In dessen Verlauf müssen sich Unter-
nehmen ständig anpassen und bereits getroffene Entscheidungen hinterfragen (Bosler
et al., 2021; Vial, 2019). Daher würden sowohl Wissenschaft als auch Praxis von tief-
ergehenden Erkenntnissen zu den neuen Fähigkeiten, Strukturen und übergeordneten
kulturellen Aspekte im Kontext digitaler Innovationen profitieren (Wiesböck & Hess,
2020). Daran setzt der vorliegende Artikel an, indem der bestehende Stand der For-
schung aufgegriffen und fortgeführt wird.
Als Untersuchungsgegenstand dienen digitale Dienste für vernetzte Fahrzeuge, die eine
konkrete Ausprägung digitaler Innovationen darstellen (Svahn et al., 2017). Dazu gehören
beispielsweise Services wie der Fernzugriff auf das Auto per Smartphone-Applikation,
Echtzeit-Verkehrswarnungen auf Basis intelligent aggregierter Fahrzeugdaten oder Pro­
gnosen zu freien Parkplätzen am Straßenrand (Bosler et al., 2019). Die Automobilindustrie
folgt eigentlich etablierten Geschäftsmodellen mit bewährten Wertschöpfungsprinzipien,
trotzdem sind digitale Innovationen eine Herausforderung (Henfridsson et al., 2018). Das
liegt daran, dass bei der Fahrzeugvernetzung die Innovationen und somit die Wettbewerbs-
fähigkeit durch Schlüsseltechnologien getrieben werden, die außerhalb der (historischen)
Kernkompetenzen der Automobilhersteller liegen (Morris et  al., 2018). Gleichzeitig
nimmt deren Bedeutung kontinuierlich zu. Zwischenzeitlich lässt sich über die Hälfte aller
Fahrzeuginnovationen der Kategorie der Connected Cars zuordnen (Center of Automotive
Management, 2019) – und das Konnektivitätsniveau wird künftig weiter ansteigen (Ber-
toncello et al., 2021).
Infolgedessen werden die vernetzten Fahrzeuge auch in der wissenschaftlichen Litera-
tur zu digitalen Innovationen häufig thematisiert (etwa Lyytinen et al., 2016; Yoo et al.,
2012; Yoo et al., 2010). Zudem waren Connected-Car-Services bereits Gegenstand vor-
heriger empirischer Untersuchungen mit Fokus auf die Besonderheiten etablierter Unter-
nehmen. Vor allem die Studie von Svahn et  al. (2017) bestätigt, dass die skizzierten
Spannungsfelder auf prä-digitale Automobilhersteller in besonderem Maße zutreffen. Al-
lerdings konzentriert sich deren Single-Case-Study auf die anfänglichen Maßnahmen
eines Unternehmens bei dessen Connected-Car-Initiative. Anschließende Maßnahmen
bleiben somit außen vor. Bereits wenige Jahre sind im Kontext der Digitalisierung jedoch
ein langer Zeitraum mit zahlreichen Veränderungen (Winkelhake, 2021). Hinzu kommt,
dass die Automobilhersteller durchaus mit Schwierigkeiten nach der Veröffentlichung
ihrer ersten digitalen Services konfrontiert waren. Das äußerte sich beispielsweise in
356 M. Bosler

schlechten Kundenbewertungen (Bertoncello et al., 2021; Bosler et al., 2019). Ohnehin


impliziert der langfristige Charakter der digitalen Transformation einen kontinuierlichen
Anpassungs- und Lernbedarf. Dadurch ergibt sich weiterer Forschungsbedarf.
Angesichts des eher jungen Forschungsgebiets liegt eine qualitative Vorgehensweise
nahe (wie z. B. auch bei Echterfeld & Gausmeier, 2018; Svahn et al., 2017; Abrell et al.,
2016). Die im nächsten Kapitel präsentierten Ergebnisse basieren auf einer explorativen
multiplen Fallstudienanalyse (Yin, 2018). Es wurden vier verschiedene etablierte Auto-
mobilhersteller untersucht (nachfolgend als OEM 1–4 bezeichnet). Alle Unternehmen ver-
fügen über mehrjährige Erfahrungen auf dem Gebiet der Connected-Car-Services. Da den
Firmen Anonymität zugesagt wurde, sind an dieser Stelle keine näheren Angaben mög-
lich. Ein wesentlicher Faktor bei der Auswahl der Fälle war die Bereitschaft zur Teilnahme
an Experteninterviews. Insgesamt wurden Interviews mit 25 Personen geführt, die in
ihrem Unternehmen am Angebot und der Vermarktung von Connected-Car-Services be-
teiligt sind. Aufgrund des explorativen Charakters der Studie wurde darauf geachtet, mög-
lichst unterschiedliche Profile und Positionen zu berücksichtigen. Es wurden sowohl
Führungskräfte als auch Experten aus relevanten Bereichen wie Entwicklung, Einkauf,
Vertrieb, Produktmanagement oder IT befragt. Die Interviews folgten einem teil-­
standardisierten Leitfaden.
Es handelte sich um eine breiter angelegte Studie; der vorliegende Artikel beschränkt
sich auf ausgewählte Teilaspekte. Die hierfür relevanten Interviewfragen adressierten
insbesondere die Wertschöpfungsaktivitäten (einschließlich der beteiligten Akteure),
die dafür erforderlichen Ressourcen und Fähigkeiten sowie die definierten Strukturen
und Prozesse. Neben den initialen Maßnahmen, die digitale Innovationsfähigkeiten er-
möglichen, wurden vor allem auch die damit einhergehenden Herausforderungen und
wichtige Veränderungen respektive Umstrukturierungen im Zeitverlauf thematisiert.
Darüber hinaus wurden grundlegende Fragen zur Innovationsumgebung gestellt; bei-
spielsweise zum Stellenwert der digitalen Services und möglichen Wettbewerbs-
vorteilen.
Die Interviews (über 1240 Minuten Datenmaterial) wurden transkribiert und systema-
tisch ausgewertet. Dabei orientierte sich das anfängliche Kodierschema am Leitfaden (de-
duktiv). Anschließend wurde  – in Übereinstimmung mit dem explorativen Forschungs-
ziel  – die Kodierung während der Analyse kontinuierlich (induktiv) angepasst (Abrell
et al., 2016; Gläser & Laudel, 2010; Miles & Huberman, 1994). Sowohl die Kodierung als
auch die anschließende Zusammenfassung der kodierten Passagen zur Reduktion der
Datenmenge (Gläser & Laudel, 2010) erfolgten mittels der Software MaxQDA. Mit dem
Zweck der Triangulation (Yin, 2018) wurden die Daten um Informationen aus verfügbaren
Quellen wie Pressemitteilungen oder Geschäftsberichte erweitert. Auf dieser Grundlage
wurden Berichte über jede einzelne Fallstudie erstellt. Darauf folgte die Generalisierung
der Erkenntnisse zu fallübergreifenden Aussagen (Yin, 2018), die im nachfolgenden Ka-
pitel präsentiert werden.
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 357

13.4 Fallstudienanalyse von Automobilherstellern

Die Intention des vorliegenden Artikels besteht darin, zu einem tieferen Wissen über die
Wertschöpfung etablierter Unternehmen mit digitalen Innovationen und den dafür er-
forderlichen Transformationsprozessen beizutragen. Diesbezüglich ordnet Abschn. 13.4.2
die fallübergreifenden Ergebnisse in die jeweiligen Forschungsperspektiven (vgl.
Abschn. 13.3.1) ein. Zum besseren Verständnis liefert vorab Abschn. 13.4.1 generelle In-
formationen zum Untersuchungsgegenstand der Connected-Car-Services.

13.4.1 Untersuchungsgegenstand Connected-Car-Services

Neben Elektromobilität und autonomem Fahren gehört die Konnektivität zu den aktuellen
Innovationsfeldern der Automobilindustrie (Covarrubias, 2018). Im Zuge der zuneh­
menden Vernetzung wandeln sich moderne Fahrzeuge zu digitalen Plattformen, die per-
manent mit ihrer Umwelt kommunizieren (Buck & Reith, 2020; Morris et al., 2018). Die
Integration von Kommunikationstechnologie ermöglicht den Datenfluss zum und vom
Auto (Bosler et  al., 2019; Coppola & Morisio, 2016). Infolgedessen wandeln sich die
Automobilhersteller zu Service-Providern (Morris et  al., 2018). Die digitalen Techno-
logien im vernetzten Fahrzeug ermöglichen das Angebot komplementärer Dienste
(Connected-­Car-­Services). Mit diesen digitalen Services streben die OEMs (Original
Equipment Manufacturers, alternative Bezeichnung für Automobilhersteller) Mehrwerte
für Fahrer und Halter hinsichtlich Navigation, Sicherheit, Fahrassistenz, Entertainment,
Kommunikation und Information an (Bosler et al., 2019; Morris et al., 2018). Während der
Fahrt werden die Connected-Car-Services über das Infotainmentsystem genutzt (In-Car-
Services). Typische Beispiele sind Echtzeit-Informationen zu Staus oder freien Park-
plätzen, Music Streaming und Gefahrenwarnungen. Vor und nach der Reise stehen weitere
Dienste über eine Smartphone-Applikation oder ein Web-Portal zur Verfügung. Dazu ge-
hören der Remote-­Zugriff auf ausgewählte Funktionen (etwa Türverriegelung, Stand-
heizung) und Daten (Tankfüllung, Reifendruck, Standort) des Fahrzeugs (Bosler
et al., 2019).
Übertragen auf die Mehrebenen-Architektur digitalisierter Produkte ordnen sich die
Connected-Car-Services auf der Dienstebene ein (s. Abb. 13.1). Die digitalisierten Fahr-
zeuge wiederum repräsentieren die Geräteebene. Durch die Remote-Services erstreckt
sich die Wertschöpfung auch auf weitere Endgeräte, die nicht von den Automobil-
herstellern angeboten werden. Die In-Car- und Remote-Services setzen bestimmte Daten
voraus (Inhaltsebene). So erfordert etwa die Nutzung der Remote-Services fahrzeugspezi-
fische Daten. Andere Services basieren auf aggregierten Fahrzeugdaten (z.  B. werden
Sensordaten zu freien Parklücken am Straßenrand aggregiert, um im Navigationssystem
Parkplatzprognosen anzuzeigen). Vernetzte Automobile erzeugen und übermitteln große
Datenmengen, die enormes Potenzial besitzen (Buck & Reith, 2020). Darüber hinaus wer-
358 M. Bosler

Fahrzeugspezifische Daten
Inhaltsebene Aggregierte Fahrzeugdaten
Daten von Content-Providern

In-Car-Services (via
Infotainment)
Dienstebene
Remote-Services (via App oder
Web-Portal)

Kommunikationsmodul (SIM)
Netzwerkebene Mobilfunknetz
Plattform-Infrastruktur

Digitale Technologien im
Fahrzeug (u.a.
Geräteebene
Infotainmentsystem)
Endgerät für Remote-Services

Abb. 13.1  Mehrebenen-Architektur Connected Cars. (Quelle: Eigene Darstellung)

den auch Daten von Drittanbietern geliefert (Content-Provider). Hierzu zählen beispiels-
weise Provider für Parkhausbelegungen (wie Parkopedia) oder Verkehrsinformationen
(TomTom). Durch ein integriertes Kommunikationsmodul bezieht das Fahrzeug die für
die Nutzung der Services erforderlichen Inhalte (via Mobilfunk). Spätestens seit der ver-
pflichtenden Einführung des automatischen Notrufsystems (eCall) in der Europäischen
Union (2018) verfügen Neufahrzeuge über eine fest verbaute SIM-Karte. Die abgesicherten
Kommunikationsprozesse vom und zum Fahrzeug werden über eine Plattform-­Infrastruktur
abgewickelt. Alle Ebenen bieten Wertschöpfungs- und Innovationspotenziale. Zum Bei-
spiel hat Mercedes im April 2021 in der Smartphone-Applikation einen Service (Dienst-
ebene) eingeführt, der mittels künstlicher Intelligenz die Auslastung und Stoßzeiten für
Ladestationen prognostiziert (Inhaltsebene). Auf der Netzwerkebene stellt die bevor-
stehende Einführung des 5G-Standards eine wichtige Neuerung dar. Das wiederum impli-
ziert, dass die Fahrzeuge den schnelleren Mobilfunkstandard überhaupt unterstützen.
Folglich setzen manche digitalen Innovationen entsprechende Enabler in der Fahrzeug-
architektur voraus (Geräteebene).
Die Nachfrage der Kunden nach Connected-Car-Services nimmt stetig zu. Dadurch
rücken die digitalen Dienste immer näher an das eigentliche Kerngeschäft der OEMs.
Charakteristisch ist, dass die Services auf dem Fahrzeug aufbauen  – und (zumindest
größtenteils) nicht ohne das Fahrzeug funktionieren. Deren Bedeutung wird künftig durch
die Elektromobilität und das autonome Fahren weiter ansteigen. Halter von elektrisch an-
getriebenen Automobilen dürften ein größeres Bedürfnis nach komplementären Diensten
haben. Echtzeit-Informationen zu freien Ladesäulen, Push-Benachrichtigungen in der App
über Abbrüche beim Ladevorgang oder das Vorheizen des Fahrzeugs an der Steckdose (bei
kalten Temperaturen, um die Reichweite zu erhöhen) sind Use Cases, die für den Ver-
brennungsmotor nicht relevant sind. Bei autonomen Fahrzeugen entfällt hingegen die
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 359

­Ablenkungsgefahr. Das eröffnet ganz neue Möglichkeiten für Services auf dem Infotain-
mentsystem (Video-Konferenzen, Online-Shopping, Video Streaming etc.).
Deswegen sind Connected-Car-Services sind nicht nur als technische Innovationen
zu verstehen, sondern auch als neues Geschäftsmodell (Covarrubias, 2018). Zum einen
sollen die digitalen Dienste den Fahrzeugabsatz erhöhen (Lasmar Jr. et al., 2019). Zum
anderen streben die OEMs weitere Einnahmen über den Lebenszyklus an (Svahn et al.,
2017). Zwar sind mittlerweile viele der Dienste beim Fahrzeugkauf inkludiert, aller-
dings lediglich für einen beschränkten Zeitraum. Im Anschluss muss der Kunde kosten-
pflichtig verlängern (Bosler et  al., 2019). Durch die Services ergeben sich neuartige
Berührungspunkte mit dem Kunden nach dem Fahrzeugverkauf. Mit der digitalen An-
sprache richten sich die OEMs bewusst auch an jüngere Kundengruppen. Daneben
bringt das Geschäftsmodell weitere Änderungen mit sich. Infolge der digitalen Trans-
formation wandelt sich das unternehmerische Selbstverständnis: Die Fahrzeugfirmen
werden immer mehr zu Softwareanbietern. Gleichzeitig weitet sich das Feld der Kon-
kurrenten auf IT-Firmen aus, die großes Interesse an der Automobilbranche zeigen.
Schließlich handelt es sich bei weltweit bis zu 80 Millionen Neuzulassungen pro Jahr
um einen Markt mit großem Potenzial (Winkelhake, 2021). Zum Beispiel bietet Google
mit Android Automotive ein eigenes Betriebssystem für Infotainmentsysteme; ein-
schließlich fertig entwickelter Services. Bei den Wettbewerbern müssen außerdem
junge, relativ neu gegründete Hersteller von Elektrofahrzeugen (wie Tesla oder Byton)
genannt werden. Diese Akteure haben keine Fahrzeugarchitekturen, die bereits über
Jahrzehnte weiterentwickelt und erst nachträglich digitalisiert wurden. Dieser Unter-
schied zeigt sich etwa darin, dass Fahrzeuge etablierter Hersteller mehr als 60 unter-
schiedliche Steuergeräte enthalten, während beispielsweise Tesla mit einigen wenigen
Steuergeräten auskommt (Kume, 2020; Morris et al., 2018; Koscher et al., 2010). Da
sich Tesla von Beginn an auf die Konnektivität konzentrieren konnte, gilt das Unter-
nehmen als Vorreiter auf dem Gebiet der digitalen Services.

13.4.2 Ergebnisse

Die meisten OEMs folgen in ihrem Kerngeschäft durchaus ähnlichen organisationalen


Ansätzen (Covarrubias, 2018). Als etablierte Automobilhersteller haben die untersuchten
Fälle vergleichbare Voraussetzungen für ihre Connected-Car-Initiativen. Dadurch zeigt
die fallübergreifende Analyse auch deutliche Parallelen in der Herangehensweise bei digi-
talen Innovationen auf.

13.4.2.1 Ressourcen- und Kompetenzperspektive


Die Herausforderung digitaler Innovationen für Automobilhersteller liegt darin, dass es
sich nicht bloß um eine Weiterentwicklung bestehender Kompetenzpfade handelt. Im
Gegenteil: Verglichen mit dem klassischen Ressourcen- und Kompetenzprofils eines Auto-
mobilherstellers kristallisiert sich ein erhebliches Defizit heraus.
360 M. Bosler

Digitale Services sind nicht nur ein neues Steuergerät, das in das Fahrzeug kommt. Also nicht
nur eine Weiterführung des Mindsets, das es bisher schon gab. Sondern es ist eigentlich eine
neue Welt, die sich aufgetan hat – die jedoch nicht isoliert vom Fahrzeug existieren kann.
(Produktmanagement Connected-Car-Plattform, OEM 2)

In den Fallstudien hat sich die Bedeutung personeller und infrastruktureller Ressourcen
bestätigt. Letzteres bezieht sich vor allem auf die Plattform-Infrastruktur für den Betrieb
der Dienste. Ein Automobilhersteller hat aufgrund seiner Historie keine Erfahrungen mit
digitalen Plattformen. Gerade am Anfang traten Schwierigkeiten auf, die sich etwa in in-
stabilen Diensten äußerten (wie fehlerhafte Anzeige oder Nicht-Verfügbarkeit). Ein Grund
stellen die komplexen und stark abgesicherten Prozessketten dar. Beispielsweise läuft der
Remote-Befehl aus der Smartphone-Applikation zum Öffnen der Türen über verschiedene
Systeme bis zum Auto. Das führt zu einer hohen Störungsanfälligkeit  – und impliziert
großen Lernbedarf. Ein wichtiger Meilenstein bei allen OEMs ist die Migration in
Cloud-Lösungen (von Dienstleistern), die skalierbare Architekturen bei besserer Verfüg-
barkeit und niedrigeren Kosten bieten. Im Hinblick auf die Infrastruktur lässt sich fest-
halten: Die ständige Verfeinerung der digitalen Innovationsfähigkeiten ist an die Offenheit
für neue Technologien geknüpft. Das setzt die Bereitschaft zur Restrukturierung be-
stehender Systeme und dem Lösen von Altlasten voraus; auch wenn finanziell eine evolu-
torische Weiterentwicklung (anstelle der Neuausrichtung) kurzfristig lukrativer erscheint.

Sehr viele Funktionen und Micro-Services, die Cloud-Lösungen bieten, haben wir selber über
hunderte Systeme verstreut – mit wahnsinnig viel Aufwand in eigenen Plattform-Backends.
[…] Wir haben zwar in der Vergangenheit sehr gut damit gearbeitet, aber wir müssen auch mit
der Zeit gehen. Da muss man sich wirklich überlegen, wann […] man sagt, das sind „sunk
costs“. […] Diesen Zeitpunkt zu finden und die Transformation zu gehen, das ist eine der
größten Herausforderungen gerade. (Strategie digitale Services, OEM 1)

Auf personeller Ebene muss sich – als essenzielle Voraussetzung der Transformation – der
gestiegene Stellenwert von Softwareentwicklung und digitalen Plattformen widerspiegeln.
Gleichzeitig braucht es das notwendige Wissen über digitale Geschäftsmodelle, um mit
der Transformation Einnahmen zu erwirtschaften. Die analysierten OEMs haben sowohl
neues Personal eingestellt als auch bestehende Mitarbeiter geschult. Das gilt gleicher-
maßen für die Führungsebene. Die Maßnahmen sind unverändert aktuell, was den lang-
fristigen Charakter der digitalen Transformation verdeutlicht. Das liegt auch daran, dass
der State of the Art in der digitalen Industrie ständig voranschreitet. Dementsprechend
ergibt sich ein kontinuierlicher Anpassungs- und Lernbedarf, um wettbewerbsfähig zu
bleiben. Im Übrigen muss auch ein adäquater Wissenstransfer (hinsichtlich der digitalen
Dienste) zu den Kunden, Werkstätten und Händlern gewährleistet werden. Für die Nutzer
der Services müssen geeignete Dokumentationen erstellt und Support-Kanäle eingerichtet
werden. Die Händler sind dafür verantwortlich, gegenüber den Käufern das Dienstangebot
zu vermarkten und gegebenenfalls die Aktivierung der Services ­vorzunehmen. Die Werk-
stätten lesen Software-Fehlercodes aus oder verantworten Updates, die nicht drahtlos in­
stalliert werden können.
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 361

Auffällig ist, dass alle vier Automobilhersteller von Anfang an kaum digitale Innovatio-
nen intern entwickelt haben (wird auch nochmals in Abschn. 13.4.2.3 aufgegriffen). Statt-
dessen wurden (und werden) die eigentlichen Entwicklungsaufgaben hauptsächlich an
Zulieferer vergeben. Das hat zwei Gründe. Zum einen zeichnet sich die Automobil-
industrie generell durch eine niedrige Wertschöpfungstiefe aus. Die Entscheidungsträger
haben sich am dominierenden Prinzip der Fremdvergabe aus dem Kerngeschäft orientiert.
Zum anderen fehlten vor allem anfangs die notwendigen Kompetenzen und Kapazitäten
für interne Entwicklungen. Das Outsourcing von Entwicklungsaktivitäten war somit
schlichtweg eine Maßnahme, um das initiale Ressourcen- und Kompetenzdefizit kurz-
fristig zu überbrücken (Bosler et  al., 2021). Die eingestellten IT-Experten übernahmen
deshalb keine Entwicklungsaufgaben, sondern waren in Steuerungsrollen (Vergabe von
Aufträgen, Koordination der Zulieferungen) aktiv. Wichtig ist, dass trotz des Ausbaus di-
gitaler Fähigkeiten das technische Know-how für die Integration der Dienste ins Fahrzeug
bei den verantwortlichen Teams nicht verloren geht.
Diesbezüglich wurde in der durchgeführten Studie ein Spannungsfeld besonders deut-
lich. Die intensive Fremdvergabe stellt ein probates Mittel dar, um trotz Ressourcen- und
Kompetenzdefizite möglichst früh digitale Innovationen hervorbringen zu können. Der
schnelle Zugang zu (externen) Ressourcen führt jedoch zu einem Abhängigkeitsverhältnis
von den Lieferanten und deren Auftragslage. Das wirkt dem eigenen Kompetenzaufbau
entgegen. Letzteres wurde anfangs in Kauf genommen, da die Connected-Car-Initiativen
der OEMs überwiegend mit einer Art Migrationsphase begannen. Gerade bei den In-Car-­
Services ging es primär darum, zunächst einmal bekannte digitale Angebote sinnvoll in
das Fahrzeug zu einzubinden. Für Szenarien wie Music Streaming oder Live Traffic Navi-
gation könnte der Nutzer schließlich auch einfach eine Smartphone-Applikation ver-
wenden. Aufgrund der steigenden Bedeutung von Connected-Car-Services streben die
untersuchten Firmen jetzt vermehrt wettbewerbsdifferenzierende Entwicklungen an. Dem
wirkt die Abhängigkeit von externen Partnern entgegen – zumal diese oftmals auch für
direkte Konkurrenten arbeiten. Deswegen beabsichtigen drei der vier OEMs explizit, den
Kompetenzaufbau in der Softwareentwicklung zu intensivieren, um künftig verstärkt in-
tern zu entwickeln.

Das ist der größte Wandel. Wir sind zwar Automobilhersteller, aber wir werden auch Soft-
wareentwickler. […] Wir bauen unsere Autos, also wollen wir auch unsere Software ent-
wickeln. Vermutlich wird man nie zu 100 Prozent alle Ressourcen intern haben. Das ist auch
gar nicht der Ansatz. Aber man will zumindest nicht mehr so abhängig sein, wie man es ist.
Man will autarker handeln können. […] Dass man sich selbst anschaut, wie der Quellcode
ist  – sodass man da auch selbst eingreifen kann. (Produktmanagement Connected-Car-­
Services, OEM 2)

Der angestrebte Wandel führt zur nächsten Herausforderung. Die Automobilhersteller


konkurrieren zwangsläufig mit kleinen wie großen Tech-Firmen um Softwareentwickler
und andere IT-Experten (War of Talents). Auf diesem Teil des Arbeitsmarkts übersteigt die
Nachfrage das Angebot. Die Bewerber achten dabei nicht nur auf das Gehalt, sondern
362 M. Bosler

legen auch Wert auf Freiheitsgrade, Mitbestimmung und Gestaltungsmöglichkeiten ihres


Arbeitsalltags. Das erfordert eine Anpassungsfähigkeit der OEMs an die Bewerber.

13.4.2.2 Struktur- und Prozessperspektive


Die aufgebauten Ressourcen und Fähigkeiten reichen nicht aus, wenn die passenden Pro-
zesse und Strukturen für digitale Innovationen fehlen. In allen Fallstudien kam es rück-
blickend zu zahlreichen organisatorischen Umstrukturierungen. Das verdeutlicht, wie
wichtig, aber auch herausfordernd die Struktur- und Prozessperspektive ist.

Am Ende verdient ein OEM immer noch mit dem Verkauf von Fahrzeugen das Geld. […] Das
Kerngeschäft muss laufen und das kann man auch nicht gefährden. Und gerade wenn man die
Organisationsstrukturen betrachtet, kann man die Menschen nicht von heute auf morgen in
ein ganz anderes Arbeitsmodell stecken. (Steuerung und Strategie Connected-­Car-­Ser­
vices, OEM 3)

Ein kritischer Faktor besteht darin, die Service- und Fahrzeugentwicklung sinnvoll zu ver-
einen, um letztendlich Lösungen aus einer Hand anzubieten. Die Verantwortlichen beider
Bereiche müssen verstehen, dass es ohne die jeweils anderen Experten nicht funktioniert.
Hinsichtlich der Organisationsstrukturen haben die untersuchten Automobilhersteller
unterschiedliche Ansätze ausprobiert. Es wurden eigenständige Bereiche gegründet (OEM
1), die digitalen Dienste komplett der Fahrzeugentwicklung unterstellt (OEM 1), be-
stehende Ressorts wie Entwicklung, IT und Vertrieb um Teams für Connected-Car-Servi-
ces erweitert (OEM 2, 3, 4) oder cross-funktionale Organisationen implementiert (OEM
4). Ausschlaggebend ist der richtige Mittelweg zwischen Flexibilität und Hardware-­
Abhängigkeiten. Weder eine zu enge noch eine zu lose Verbindung von Fahrzeug- und
Serviceentwicklung sind zielführend. Wenn die Entwicklung der Connected-Car-Services
komplett losgelöst stattfindet, liegen zwar große Freiheiten vor – aber fahrzeugspezifische
Voraussetzungen und Abhängigkeiten für den Betrieb der Dienste werden aus den Augen
verloren. Umgekehrt hat es sich ebenfalls als nicht zielführend erwiesen, wenn die Ent-
wicklungsprozesse für neue digitale Services starr den Abläufen des Kerngeschäfts folgen.
Diese Erfahrung haben alle Unternehmen gemacht. Vor allem am Anfang der Connected-­
Car-­Initiativen wurden neue Dienste oftmals in Verbindung mit neuen Baureihen ein-
geführt. In der herkömmlichen Fahrzeugentwicklung stehen die Umfänge kommender
Modelle jedoch teils mehrere Jahre vor Produktionsbeginn fest. Das ist im schnelllebigen
digitalen Geschäft kontraproduktiv. Es droht, dass die Services bereits bei ihrer Ein-
führung schon nicht mehr zeitgemäß sind.

Wenn heute jemand Snapchat im Auto haben will, kann man das nicht mit x Jahren Vorlauf-
zeit planen. Wir wissen jetzt nicht, was es in fünf Jahren für ein soziales Netzwerk geben
wird – also können wir jetzt nicht damit planen, es zu integrieren […]. Wir wissen genau so
wenig, ob es in zwei Jahren noch cool sein wird, Instagram zu nutzen. Diese Dynamik und
Flexibilität muss man im IT-Umfeld möglich machen können. (Produktmanagement
Connected-­Car-Plattform, OEM 2)
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 363

Der dynamische Charakter des digitalen Geschäfts führt zu einer hohen Innovations-
intensität. Wettbewerbsvorteile sind meist kurzlebig, neue Services werden vergleichs-
weise schnell zur Basisausstattung. Rein Software-basierte digitale Angebote werden
innerhalb eines Jahres imitiert. Bei Fahrzeuginnovationen hat es deutlich länger gedauert,
bis die Konkurrenz Rückstände aufholen konnte. Das führt zum Druck, kontinuierlich
wertschöpfende Dienste hervorzubringen  – möglichst schneller als die Wettbewerber.
Deswegen wurden bei allen analysierten OEMs die Vorgehensmodelle der Entwicklungs-
prozesse umgestellt. Als wichtiger Enabler für kürzere Zyklen wurden agile Methoden
identifiziert und eingeführt. Die Agilität sollte sich aber nicht nur in den reinen Ent-
wicklungszyklen widerspiegeln, sondern im gesamten Prozess bis hin zur Auslieferung
der Services.

Je näher man ans Fahrzeug kommst, desto eher ist man im Standard-Wasserfall-Modell oder
im V-Modell. […] Wenn jemand alle zwei Wochen Sprints macht, aber nur einmal im halben
Jahr integrieren kann in das Fahrzeug, dann ist das nicht agil. Das ist ein Trugschluss. (Quali-
tätsmanagement Conected-Car-Services, OEM 1)

Die Komplexität, die sich aufgrund der Fahrzeug-Abhängigkeit ergibt, ist ambivalent:
Einerseits eine große Herausforderung, andererseits eine mögliche Quelle für Wett-
bewerbsvorteile. Services mit einem innovativen Zusammenspiel von Fahrzeugdaten
und -funktionen setzen zwangsläufig eine tiefe Integration in die (einzigartige) Fahrzeug-
architektur voraus. Wenn Konkurrenten solche komplexen Mehrebenen-Angebote über-
nehmen wollen, müssen sie zunächst die technischen Voraussetzungen in deren Fahrzeug-
architekturen integrieren – und sind somit ihrerseits an die langen Vorlaufzeiten gebunden.
Dementsprechend kann gerade die Komplexität auch zu Differenzierung führen.
Das führt wiederum zum Fokus des Innovationsprozesses. Angetrieben durch den
wahrgenommenen Innovationsdruck haben die Hersteller zu Beginn versucht, möglichst
viele digitale Funktionen umzusetzen. Ein Experte von OEM 4 sprach von einer „Featu-
re-itis“ in der Automobilindustrie. Dadurch sind die wirklich mehrwertstiftenden Dienste
und auch grundlegende Enabler in der Fahrzeugarchitektur etwas aus dem Blickwinkel
geraten.

Man schaut sich natürlich die Wettbewerber  – oder über Marktbeobachtungen was Wett-
bewerber in Zukunft machen könnten – ganz genau an. Aber man versucht momentan so ein
bisschen mehr von dieser Schiene weg zu gehen, dass man nur Features definiert und Features
abhakt. (Entwicklung Connected-Car-Services, OEM 4)

Darüber hinaus darf sich der Innovationsprozess nicht nur auf Services für neue Fahrzeuge
konzentrieren. Die Kunden erwarten, dass bereits ausgelieferte Automobile gleicher-
maßen aktuell gehalten werden. Diese Produktverantwortung ist neu für die OEMs.

Es ist natürlich eine Herausforderung, in einer Organisation, die eigentlich immer nur auf den
nächsten Fahrzeug-SOP [Start of Production] hinarbeitet, wirklich Leute freizuspielen, die
364 M. Bosler

sich „alte“ Produkte anschauen, um die frisch zu halten – und dafür dann auch einen Business
Case zu finden. (Entwicklung Connected-Car-Services, OEM 4)

Dies hat Implikationen für die Fahrzeugentwicklung. Da traditionell ein Automobil mit
seiner Produktion fertiggestellt war, werden typischerweise dessen Kapazitäten voll aus-
gelastet. Das wurde beim Infotainmentsystem zum Problem: Die Systeme waren ab Werk
bereits an ihren Leistungsgrenzen, was – später geplante – Updates erschwerte oder aus-
schloss. Das lässt sich verhindern, indem explizit Reserven eingeplant werden. Außerdem
entlastet auch der angesprochene Umstieg auf Cloud-Technologien, wenn ausgewählte
Services (zumindest in Teilen) in der Cloud betrieben werden (und nicht mehr lokal im
Fahrzeug). Cloud-Services sorgen somit für eine weitere Entkopplung von Fahrzeug-­
Abhängigkeiten und ermöglichen damit mehr Agilität.

13.4.2.3 Netzwerkperspektive
Der verteilte Charakter digitaler Innovationen bestätigt sich im gewählten Untersuchungs-
gegenstand. Im Allgemeinen nehmen Partner einen hohen Stellenwert ein. An den Wert-
schöpfungsprozessen sind externe Entwickler (für Services und Plattform-Infrastruktur),
IT-Dienstleister (z.  B.  Cloud-Provider), Mobilfunkbetreiber, Content-Provider oder De-
signer (UI/UX) beteiligt. Außerdem zielen die Connected-Car-Initiativen neben der Ver-
öffentlichung eigener Innovationen auch auf die Migration bestehender Angebote ab
(Channeling). Das erweitert den Kreis um Akteure wie Microsoft (z. B. Office-Lösung im
Auto), Amazon (Alexa-Integration), Google und Apple (etwa Einbindung von Smart-
phone-Apps) oder Spotify (Music Streaming).
Sofern die OEMs eigene digitale Innovationen initiieren, beginnt der Wertschöpfungs-
prozess zwar intern mit der Ideengenerierung, die anschließende Entwicklung findet aber
überwiegend extern statt – noch wird verhältnismäßig wenig selbst entwickelt. Es wurde
bereits erwähnt (Abschn. 13.4.2.1), dass das nicht nur am verteilten Charakter digitaler
Innovationen liegt, sondern auch am generell hohen Fremdvergabe-Anteil in der Branche.
Die OEMs fungieren im Netzwerk als Auftraggeber in einer gestalterischen Steuerungs-
rolle: Sie planen das Endprodukt, vergeben Entwicklungsaufträge mit sehr detaillierten
Spezifikationen und koordinieren deren Integration. Wie im Kerngeschäft üblich, basiert
die Fremdvergabe (zum Zeitpunkt der Datenerhebung) in der Regel auf Ausschreibungen
und Lastenheften. Die Entwicklungspartner sind jedoch meistens agile Entwicklungen
gewohnt, bei denen das herzustellende Produkt sukzessive entsteht – ohne Definition aller
Umfänge vor Projektbeginn. Diese unterschiedlichen Ansätze führten zu fehlerhaften Lie-
ferungen. Dementsprechend braucht es Anpassungsfähigkeiten an die Partner aus dem
digitalen Geschäft. Das betrifft neben agilen Aufträgen in iterativen Zyklen auch die not-
wendige Flexibilität, um alternative Abrechnungsmodelle und neue Vertragsdesigns zu
implementieren. Anstelle einmaliger Zahlungen von Festpreisen sind im digitalen Bereich
etwa Abrechnungen auf Basis der tatsächlichen Nutzung oder geteilte Erlöse denkbar.
Mitunter enthalten Verträge gar keine monetäre Bezahlung mehr. Letzteres trifft ins-
besondere auf die Zusammenarbeit mit großen Tech-Firmen zu. Bei der Migration von
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 365

deren Lösungen fallen teilweise keine Gebühren an. Es müssen Alternativen für die obso-
leten Service Level Agreements gefunden werden, auf die sich die OEMs normalerweise
bei Problemen berufen können. Amazon, Google oder Apple sehen sich ohnehin nicht als
Lieferant eines Automobilherstellers, sondern als Lösungspartner. Deswegen verändert
sich die hier die Wertschöpfung auch in Richtung kollaborativer Zusammenarbeit, indem
gemeinschaftliche Entwicklungsprojekte angestrebt werden.

Allgemein lässt sich sagen, dass sich natürlich die Anzahl an Kontakten mit digitalen Playern
massiv erhöht hat. […] Mittlerweile bekommen wir durchaus auch mehr Anerkennung von
diesen Companies. Wir sind da keine absoluten digitalen Anfänger mehr. Ich glaube, dass –
im Bewusstsein der entsprechenden Stärken der jeweiligen Player – sich das in den nächsten
Jahren noch viel stärker in Richtung Symbiose entwickeln wird. (Digitales Ökosystem, OEM 2)

Die Intention, verstärkt kollaborative Entwicklungen anzustoßen, wurde in allen vier Fall-
studien deutlich. Die Unternehmen erhoffen sich, dass die enge Zusammenarbeit zu inno-
vativeren Diensten führt, die sie allein nicht realisieren könnten. Das zeigt, wie sich die
Wertschöpfungsnetzwerke über die Zeit wandeln. Ein weiterer wichtiger Veränderungs-
prozess der Netzwerkstrukturen wurde mit dem angestrebten Aufbau interner Ent-
wicklungskompetenzen schon thematisiert (s. Abschn.  13.4.2.1). Wenn die Automobil-
hersteller mehr selbst entwickeln und damit unabhängiger werden, findet ein Insourcing
der Wertschöpfungsaktivitäten statt. Die identifizierten Veränderungen beeinflussen sich
gegenseitig. Kollaborative Projekte bieten die Möglichkeit, direkt von führenden digitalen
Unternehmen zu lernen. Davon profitiert die Ausbildung eigener digitaler Kompetenzen.
Gleichzeitig steigt das Interesse an einer Zusammenarbeit seitens der Tech-Unternehmen
mit fortschreitendem Kompetenzaufbau der Automobilhersteller an. Das erweitert künftig
die Handlungsoptionen. Anstelle der reinen Fremdvergabe können die OEMs entscheiden,
ob sie alternativ eine kollaborative Zusammenarbeit anstreben oder  – im Hinblick auf
Wettbewerbsvorteile  – die interne Entwicklung am vielversprechendsten ist. In diesen
strategischen Entscheidungen spielt auch die Abgrenzung gegenüber den Tech-Firmen
eine Rolle. Zwar handelt es sich um interessante Lösungspartner, aber trotzdem um poten-
zielle Konkurrenten. Diese Akteure zeigen beispielsweise ein großes Interesse an Fahr-
zeugdaten. Das macht den exklusiven Besitzer solcher Daten zu einem Differenzierungs-
merkmal der OEMs.

13.4.2.4 Mindset-Perspektive
Besonders deutlich wurde in den Fallstudien, wie sich erst durch das richtige Mindset die
vorgenommenen Anpassungen auf der Ressourcen-, Struktur-, Prozess- und Netzwerk-
ebene wirklich auszahlen. An dieser Stelle sei nochmals betont, dass es einen synchroni-
sierten Wandel braucht. Die digitale Transformation impliziert für die Belegschaft eine
schwierige Umstellung. Mitarbeiter haben über Jahre oder Jahrzehnte im mechanisch
­geprägten Automotive-Umfeld nach bewährten Prinzipien gearbeitet. Viele der etablierten
Denk- und Herangehensweisen passen jedoch nicht zum digitalen Geschäft. Es braucht
Zeit, dafür das notwendige Verständnis zu schaffen.
366 M. Bosler

Das Wichtigste ist vor allem die Kultur und das Mindset für digitale Geschäftsmodelle oder
Digitalisierung im Allgemeinen. Das ist die Basis, die da sein muss. Auf dieser Basis kann
man dann bessere Technologieentscheidungen treffen oder neue Arbeitsmodelle finden.
(Produktmanagement Connected-Car-Plattform, OEM 2)

Die Untersuchung identifizierte mehrere Kriterien des (digitalen) Mindsets, das etablierte
Unternehmen erarbeiten und implementieren müssen. Ein Punkt ist die ständige Offenheit
für neue Technologien und kontinuierliche Verbesserungen  – einschließlich der Bereit-
schaft, die erforderlichen Investitionen zu tätigen (s. Abschn. 13.4.2.1). Die thematisierten
agilen Entwicklungen gehen mit dem Wunsch nach mehr Schnelligkeit einher, die zu den
wichtigsten Erfolgsfaktoren des digitalen Geschäfts gehört. Dem wirkt jedoch nicht nur
die Fahrzeugabhängigkeit entgegen, sondern auch das traditionell eher risikoscheue Ver-
halten von Automobilherstellern. Die OEMs sind es gewohnt, Entscheidungen und In-
vestitionen sorgfältig abzuwägen, um Risiken zu minimieren. Diese Herangehensweise
hat im Kerngeschäft ihre Berechtigung. Lange Vorlaufzeiten und sorgfältige Ent-
scheidungsprozesse tragen beispielsweise maßgeblich zum hohen Qualitätsniveau der
Fahrzeuge beim Produktionsstart bei. Im digitalen Geschäft bedarf es jedoch mehr Risiko-
bereitschaft.

Dieses extrem schnelllebige digitale Geschäft lebt davon, dass wir ausprobieren, irgendetwas
schiefgeht und wir etwas Neues machen. Das können wir noch nicht. Sondern wir versuchen
immer sehr stark zunächst komplett zu verstehen, ob etwas Sinn macht oder nicht. Und erst
dann zu investieren. (Management Connected-Car-Services, OEM 4)

In diesem Zusammenhang wurde in den Interviews auf Vorreiter aus dem digitalen Ge-
schäft verwiesen, die Ideen schnell am Markt testen  – und bei ausbleibendem Erfolg
genauso zügig einstellen. Das setzt jedoch eine andere Fehlerkultur voraus, welche die
befragten Experten derzeit in ihren Unternehmen noch vermissen. Ohnehin muss ein digi-
taler Service (im Unterschied zu einem physischen Fahrzeug) bei seiner Produktion noch
keine Perfektion aufweisen. Das hängt mit dem veränderten Produktverständnis zu-
sammen, welches die OEMs zunächst verinnerlichen mussten. Schließlich sind durch spä-
tere Updates kontinuierliche Anpassungen möglich. Im Übrigen fällt es den Automobil-
herstellern auch schwer, wenig genutzte Dienste schnell wieder vom Markt zu nehmen.
Dabei müssen natürlich vertraglich zugesagte Mindestlaufzeiten berücksichtigt werden,
die sich aus den verkauften Laufzeiten der Dienste ergeben.
Neben der Risikobereitschaft zählt die notwendige Weitsicht zu einem digitalen Mind-
set. Diese Weitsicht hat den Automobilherstellern anfangs gefehlt. So wurde die im Fahr-
zeug verbaute Hardware zum Hemmnis für geplante Updates (s. Abschn. 13.4.2.2). Die
Updatefähigkeit lässt sich beispielsweise über Leistungsreserven erreichen; was erneut
eine entsprechende Investitionsbereitschaft voraussetzt. Auch Fahrzeugarchitekturen mit
weniger Altlasten durch eine reduzierte Anzahl an Steuergeräten tragen dazu bei, wie das
Beispiel Tesla zeigt.
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 367

Erstaunlich finde ich Tesla, das es immer noch schafft, in sechs oder sieben Jahre alte Autos
komplett neue Softwareupdates reinzubringen – und wirklich neue Funktionen in alten Autos
darstellen kann. Ich muss sagen, dass das in Bezug auf Plattform und Plattformstrategie be-
ziehungsweise gute Updatefähigkeit schon vor sechs, sieben Jahren sehr weit, revolutionär
gedacht war. (Entwicklung Connected-Car-Services, OEM 4)

Im branchenübergreifenden Vergleich gehören Automobilfirmen nicht zu den Vorreitern


des digitalen Bereichs. Diese Tatsache sollte sich im Innovationsverständnis wider-
spiegeln. Das fällt aber gerade jenen OEMs schwer, die eine Innovationsführerschaft für
sich beanspruchen. Deren Forschungs- und Entwicklungsabteilung ist es gewohnt, techno-
logiegetriebene Innovationen auf den Markt zu bringen und damit wesentlich die Kunden-
wünsche zu beeinflussen. Diese Herangehensweise funktioniert im digitalen Bereich nur
bedingt. Der Grund dafür liegt in der Konvergenz der Branchen. Alle untersuchten Firmen
haben erkannt, dass die Nutzer bereits eine klare Vorstellung davon haben, wie ein digita-
ler Service auszusehen und zu funktionieren hat. Das lässt auf ein dominantes digitales
Servicedesign hinsichtlich Umsetzung, Bedienung, Stabilität und ständige Weiter-
entwicklung (digitaler) Angebote schließen (Bosler & Burr, 2021). Die Konsequenz: Di-
gitale Services etablierter Unternehmen müssen dieser bestehenden Erwartungshaltung
gerecht werden. Andernfalls können selbst innovative Lösungen scheitern (Bosler &
Burr, 2021).
Infolgedessen rückt der Kunde in den Mittelpunkt der Innovationsvorhaben (Customer
Centricity). Beispielsweise setzen die analysierten Unternehmen auf regelmäßige Kunden-
studien, um relevante Bedürfnisse zu identifizieren. Anschließend müssen die generierten
Ideen möglichst schnell – unter Berücksichtigung der Kundenerwartungen an digitale An-
gebote – in marktfähige Produkte umgesetzt werden. Die verstärkte Kundenzentrierung
hat zudem offenbart, wie stark die Bedürfnisse in Abhängigkeit von der geografischen
Lage variieren können. Zu Beginn ihrer Connected-Car-Initiativen haben die meisten
OEMs ein weitestgehend einheitliches Service-Portfolio sukzessive weltweit ausgerollt.
Vor allem Europa, Asien (insb. China) und die USA als wichtige Märkte weisen allerdings
teils deutliche Unterschiede in den Kundenbedürfnissen auf. Hinzu kommen unterschied-
liche gesetzliche Bestimmungen. Daher wird mittlerweile das Portfolio bewusst diversi-
fiziert. Eine mögliche strategische Maßnahme sind dedizierte Teams vor Ort, die sich ex-
plizit mit den lokalen Besonderheiten auseinandersetzen.

13.4.3 Zusammenfassung

Die multiple Fallstudienanalyse verdeutlicht die Vielseitigkeit der digitalen Transfor­


mation etablierter Unternehmen und der damit einhergehenden Herausforderungen. Im
übergeordneten Spannungsfeld zwischen dem Kerngeschäft und dem (notwendigen) An-
gebot digitaler Innovationen konnte die Untersuchung weitere Konfliktbereiche identi-
368 M. Bosler

fizieren. Diese werden – basierend auf den vorangegangenen Ausführungen – zusammen-


gefasst in Tab. 13.1 aufgelistet.
Auf allen Ebenen wird die Anpassungsfähigkeit an das digitale Geschäft zum
kritischen Erfolgsfaktor. Dabei ist die Schnelligkeit einer ganzheitlichen digitalen
­Transformation im Hinblick auf Wettbewerbsvorteile und Differenzierung entscheidend.
Auffällig ist, dass die Connected-Car-Initiativen der OEMs stark von etablierten Prinzi-

Tab. 13.1  Spannungsfelder zwischen Kerngeschäft und digitalen Innovationen


Perspektive Ausprägung Spannungsfeld
Ressourcen- und Infrastruktur: Offenheit Kurzfristige Weiterentwicklungen vs.
Kompetenzperspektive für neue Technologien langfristige Neuausrichtung
Fokus des personellen Interne Fähigkeiten (inkl. War of Talents)
Ressourcenaufbaus vs. Wissenstransfer zu beteiligten externen
Akteuren
Fremdvergabe (schnelles Überbrücken
von Defiziten) vs. Aufbau eigener
Entwicklungskompetenzen
Prozess- und Zusammenspiel Sinnvolle Entkopplung von Kerngeschäft
Strukturperspektive und digitalen Innovationen vs.
funktionierende Lösungen aus einer Hand
Agilität im digitalen Geschäft vs.
Hardware-Abhängigkeiten
Innovationsfokus Schnelle Features vs. differenzierende
komplexe Angebote
Neues Produktverständnis Technische und digitale Innovationen für
künftige Baureihen vs. Aktualisierung
bereits ausgelieferter Fahrzeuge
Netzwerkperspektive Beauftragung von Fremdvergabe mit Lastenheften vs. agile
Entwicklungspartnern Beauftragung und neue Vertragsdesigns
Rolle des etablierten Orchestrator vs. Wertschöpfer
Unternehmens
Rolle der Partner Lieferant vs. Lösungspartner
Lösungspartner vs. Konkurrent
Umsetzung digitaler Fremdvergabe vs. kollaborative
Innovationen Entwicklungen vs. interne Entwicklungen
Mindset Herangehensweise Digitales vs. mechanisches Mindset
Fehlerkultur Risikoscheue Entscheidungsprozesse vs.
Fehlerkultur (schnelles Ausprobieren am
Markt)
Entwicklungssicht Hardware-getriebene Planung vs.
Weitsicht
Technologie-getriebene Innovationen vs.
Customer Centricity
Einheitliches digitales Angebot vs.
Differenzierung nach lokalen
Besonderheiten
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 369

pien der mechanischen Automobilentwicklung geprägt waren. Bewährte Vorstellungen


und Ansätze des Kerngeschäfts erweisen sich jedoch im digitalen Geschäft als ungeeignet.
Es braucht Zeit, bis sich diese Erkenntnis im ganzen Unternehmen durchsetzt – und zur
Identifikation sowie Implementierung besser geeigneter Ansätze führt. Angestrebte Ver-
änderungsprozessen müssen zudem von den Mitarbeitern erst akzeptiert und verinnerlicht
werden. Dieser langfristige Charakter macht die digitale Transformation so heraus-
fordernd. Zumal die Automobilunternehmen ihr Kerngeschäft nicht nur erhalten, sondern
dort ebenfalls (unverändert) innovativ bleiben müssen. Das zeigt sich zum Beispiel in den
notwendigen Fortschritten auf dem Gebiet der alternativen Antriebe; etwa bei den Batterie-
technologien für Elektrofahrzeuge.
Als multiple Fallstudie mit vier Automobilherstellern ist die empirische Untersuchung
so konzipiert, dass sie vergleichsweise robuste Ergebnisse für den gewählten Unter-
suchungsgegenstand liefern kann. Das stellt jedoch gleichzeitig einen limitierenden Fak-
tor bezüglich der Übertragbarkeit dar. Es bleibt noch offen, inwiefern etablierte Unter-
nehmen aus anderen Branchen mit ähnlichen oder anderen Herausforderungen konfrontiert
sind. Falls sich die Erkenntnisse transferieren lassen, so dürfte das am ehesten auf Firmen
mit vergleichbaren Ausgangsvoraussetzungen zutreffen: Organisationen, deren digitale
Innovationen auf einem vernetzten physischen Produkt mit hohem Komplexitätsgrad auf-
bauen. Aus den generalisierten Erkenntnissen können zumindest Implikationen für die
digitale Transformation etablierter Unternehmen abgeleitet werden:

• Identifizieren und Lösen von ungeeigneten Denkweisen der mechanischen Welt


• Implementierung von Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen, welche die Schnell-
lebigkeit des digitalen Geschäfts abbilden (insb. agile Methoden)
• Interne Wertschöpfung bei differenzierenden digitalen Innovationen (anstelle der aus-
schließlichen Fremdvergabe)
• Im Wertschöpfungsnetzwerk: Wandel vom reinen Auftragnehmer-Auftraggeber-­
Verhältnis zu gemeinschaftlichen Entwicklungen
• Anpassungsfähigkeit an gesuchte Bewerber und an Partner des digitalen Geschäfts
• Konsequente Customer Centricity (einschließlich der Implikationen für die Ent-
wicklungsweise)
• Ständige Offenheit für neue Technologien, Weitsicht und Bereitschaft zur Neuaus-
richtung der aufgebauten Architekturlandschaften
• Investitions- und Risikobereitschaft, schnelles Testen von neuen Ideen am Markt
• Wertstiftender Umgang mit Komplexität (Herausforderung vs. Ansatzpunkt zur Dif­
ferenzierung)

13.5 Schlussbetrachtung

Mit der durchgeführten Fallstudie will dieser Artikel zu einem tieferen Verständnis digita-
ler Innovationen in etablierten Unternehmen beitragen. Innerhalb der vorab identifizierten
Forschungsperspektiven konnten neue Erkenntnisse abgeleitet werden. Abschließend
370 M. Bosler

bleibt nochmals festzuhalten, dass Akteure, die ihre physischen Produkte nachträglich um
digitale Angebote erweitern, in einem herausfordernden Spannungsfeld agieren: Kern-
geschäft und digitales Geschäft unterscheiden sich erheblich. Wie für den Untersuchungs-
gegenstand der vernetzten Fahrzeuge ausführlich gezeigt wurde, funktionieren lange be-
währte Prinzipien und Denkweisen bei der Wertschöpfung mit digitalen Technologien
nicht mehr. Die schnelllebige Natur des digitalen Geschäfts setzt Anpassungsfähigkeiten
auf der Ressourcen-, Struktur-, Netzwerk- und Unternehmenskultur-Ebene voraus. Hinzu
kommt, dass ein digitalisiertes Produkt über den gesamten Lebenszyklus erweiterbar ist.
Es gibt eine Verantwortung nach dem Verkauf gegenüber dem Kunden (zugesagte Lauf-
zeit, ggf. Updates), bedarf aber auch keiner Perfektion mehr zum Zeitpunkt der Veröffent-
lichung. Das erlaubt es, digitale Innovationen schnell am Markt einzuführen, zu über-
arbeiten und bei Misserfolg wieder zu beenden. Dieses veränderte Produktverständnis und
die konträren Voraussetzungen des digitalen Geschäfts müssen sich jedoch zwingend im
unternehmerischen Mindset widerspiegeln. Neben der konsequenten Kundenorientierung,
der Offenheit für neue Technologien und der Weitsicht bei den Entscheidungen braucht es
Risiko- und Investitionsbereitschaft. Gerade im Hinblick auf eine offene Fehlerkultur ist
der Wandlungsprozess der untersuchten Firmen noch nicht abgeschlossen. Deswegen be-
sitzt die digitale Transformation einen langfristigen und disruptiven Charakter, welcher
weit über den Aufbau neuer Ressourcen und Fähigkeiten hinausgeht.
Der Fokus dieses Beitrags liegt primär auf den Voraussetzungen für die Wertschöpfung
mit digitalen Innovationen. Diese sollen letztendlich – aus Geschäftsmodellperspektive –
zu Erlösen führen. Die Connected-Car-Initiativen der analysierten OEMs sind eindeutig
strategisch motiviert gestartet. Angesichts der Bedeutung digitaler Services im Wett-
bewerbsvergleich waren die getätigten Investitionen schlichtweg notwendig. Mittlerweile
rückt allerdings bei allen untersuchten Fällen die Wirtschaftlichkeit der digitalen Angebote
mehr in den Fokus. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, wie digitale Geschäftsmodelle
bei etablierten Unternehmen zu weiteren Einnahmen führen können. In Ergänzung zur
kostenpflichtigen Verlängerung der Services suchen, erproben und implementieren die
Automobilhersteller derzeit weitere Erlöskonzepte. Das führt gleichermaßen zu Heraus-
forderungen; schließlich müssen die notwendigen Fähigkeiten im eCommerce-Bereich
erst ausgebildet werden. Damit ergibt sich unmittelbarer Forschungsbedarf für künftige
Untersuchungen.
Exemplarisch sei auf zwei konkrete Konzepte verwiesen. Eine potenzielle Einnahme-
quelle stellt die Monetarisierung von Fahrzeugdaten dar (etwa als Dienstleistungsangebot
für Dritte). Das setzt wiederum Fähigkeiten in der Datenanalyse und entsprechendes
Wissen auf dem Gebiet datengetriebener Geschäftsmodelle voraus. Vernetzte Fahrzeuge
­ermöglichen außerdem das Angebot von Sonderausstattung „on demand“. Physische und/
oder digitale Sonderausstattung wird ab Werk verbaut, jedoch zunächst per Software de-
aktiviert. Der Halter kann das Upgrade nachträglich kostenpflichtig freischalten (über
einen Remote-Befehl). Dieses On-demand-Angebot basiert wieder auf dem engen Zu-
sammenspiel zwischen Software, Vernetzung und Fahrzeug-Technik. Der Vorteil: Bei
klassischer Sonderausstattung lassen sich in der Regel höhere Preise als bei digitalen Ser-
13  Digitale Transformation: etablierte Unternehmen im Spannungsfeld zwischen … 371

vices durchsetzen. Das verdeutlicht, dass komplexe Angebote über mehrere Architektur-­
Ebenen, die explizit Hardware-Abhängigkeit ausnutzen, auch bei der Erlösgenerierung
von Bedeutung sind.

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Dr. Micha Bosler  war von 2015 bis 2022 akademischer Mitarbeiter
bei Prof. Dr. Wolfgang Burr am Lehrstuhl für ABWL, insb. Innovati-
ons- und Dienstleistungsmanagement des Betriebswirtschaftlichen
Instituts der Universität Stuttgart. Im Jahr 2017 schloss er sein Stu-
dium der technisch orientierten Betriebswirtschaftslehre an der Uni-
versität Stuttgart mit Auszeichnung ab und verfasste anschließend
seine Dissertation auf dem Gebiet der digitalen Innovationen. Seit
2022 ist Micha Bosler bei der Daimler Truck AG als Market Intelli-
gence Manager für digitale Services tätig.
Soziotechnisches Risikomanagement als
Erfolgsfaktor für die Digitale 14
Transformation

Jörn Steffen Menzefricke, Stefan Gabriel, Thomas Gundlach,


Daniela Hobscheidt, Christian Kürpick, Felix Schnasse,
Michel Scholtysik, Heiko Seif, Christian Koldewey
und Roman Dumitrescu

Zusammenfassung

Im folgenden Kapitel wird gezeigt, wie das Risikomanagement die Einführung von
digitalen Technologien vor soziotechnischem Hintergrund unterstützen kann. Dazu
werden zunächst Potenziale der Digitalen Transformation für Unternehmen und deren

J. S. Menzefricke (*) · M. Scholtysik · C. Koldewey


Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut, Paderborn, Deutschland
E-Mail: menzefricke@hni.upb.de; michel.scholtysik@hni.uni-paderborn.de;
christian.koldewey@hni.uni-paderborn.de
S. Gabriel · D. Hobscheidt · C. Kürpick
Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn, Deutschland
E-Mail: stefan.gabriel@iem.fraunhofer.de; daniela.hobscheidt@iem.fraunhofer.de;
christian.kuerpick@iem.fraunhofer.de
T. Gundlach
Unity AG, Büren, Deutschland
E-Mail: Thomas.Gundlach@unity.de
F. Schnasse
Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, Dortmund, Deutschland
E-Mail: felix.schnasse@iml.fraunhofer.de
H. Seif
Unity AG, Munich Business School, München, Deutschland
E-Mail: heiko.seif@munich-business-school.de
R. Dumitrescu
Universität Paderborn, Institut für Informatik, Heinz Nixdorf Institut, Paderborn, Deutschland
Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik, Paderborn, Deutschland
E-Mail: roman.dumitrescu@iem.fraunhofer.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 375


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_14
376 J. S. Menzefricke et al.

Geschäftsmodelle, Marktleistungen und Leistungserstellungsprozesse aufgezeigt.


­Anschließend werden soziotechnische Herausforderungen beschrieben, die mit der Di-
gitalen Transformation einhergehen. Diesen Herausforderungen werden existierende
Risikomanagement-­Ansätze gegenübergestellt und ein Strukturierungsrahmen für das
Risikomanagement von soziotechnischen Risiken vorgestellt. Kern des Beitrags bildet
ein Vorgehensmodell für das Management soziotechnischer Risiken. Dies beschreibt,
wie soziotechnische Risiken bei der Einführung digitaler Lösungen identifiziert, cha-
rakterisiert, bewertet und mit Handlungsoptionen adressiert werden können. Die Identi-
fikation erfolgt anhand einer Canvas, die es ermöglicht, notwendige Veränderungen für
die Einführung einer digitalen Lösung vor soziotechnischen Hintergrund zu identi-
fizieren und Risiken abzuleiten. Charakterisiert werden die Risiken anschließend an-
hand von Ursachen und Auswirkungen. Die Bewertung berücksichtigt den digitalen
Reifegrad eines Unternehmens sowie die Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadens-
höhe eines Risikos. Daraus lassen sich kritische Komponenten des soziotechnischen
Systems identifizieren, die es im letzten Schritt gilt, mit Handlungsoptionen zu adres­
sieren.

Schlüsselwörter

Digitale Transformation · Soziotechnisches Risikomanagement · Erfolgsfaktoren ·


Ansatz · Vergleich

14.1 Einleitung

Durch die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien re-


sultieren enorme Nutzenpotenziale für produzierende Unternehmen. Diese können sich
auf die angebotene Marktleistung, die dafür notwendigen Leistungserstellungsprozesse
und auch auf das zugehörige Geschäftsmodell auswirken. So können physische Markt-
leistungen um datenbasierte Dienstleistungen ergänzt werden, um zusätzliches Wert-
schöpfungspotenzial zu heben (Kobi, 2012). Unternehmensinterne wie auch -externe
Leistungserstellungsprozesse können durch neue Formen der Kommunikation und die
Bereitstellung von Daten effizienter gestaltet werden (Gausemeier & Dumitrescu, 2018).
Digitale Geschäftsmodelle ermöglichen die Erfolg versprechende Konsolidierung von di-
gitalisierten Leistungserstellungsprozessen und Marktleistungen, um den Nutzen für Kun-
den, Lieferanten und andere Wertschöpfungspartner zu maximieren. Die zielgerichtete,
ganzheitliche Digitalisierung eines Unternehmens mit dessen Marktleistungen, Leistungs-
erstellungsprozessen und Geschäftsmodellen wird als digitale Transformation bezeichnet
(Appelfeller & Feldmann, 2018).
Trotz der enormen Potenziale scheuen viele Unternehmen, den Schritt zur digitalen
Transformation zu wagen. Dies liegt unter anderem an den damit einhergehenden großen
Investitionen. Hinzu kommt die Ungewissheit bezüglich notwendiger Veränderungen und
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 377

Risiken, die mit der Implementierung neuer Technologien einhergehen. Diese sind nicht
ausschließlich technischer Natur, sondern betreffen den Menschen und die Organisation
gleichermaßen (Hirsch-Kreinsen & Weyer, 2014; Ulich, 2013). Denn selbst wenn die Ein-
führung einer technischen Lösung gelingt, ist der nutzenstiftende Betrieb darüber hinaus
abhängig von dazu passenden Prozessen, organisationalen Strukturen sowie der Kompe-
tenz und der Akzeptanz der Mitarbeiter, diese zu nutzen. Die integrative Betrachtung der
Dimensionen Mensch, Technologie und Organisation charakterisiert das sogenannte
soziotechnisches Systemverständnis (Ulich, 2013). Durch die Interdependenzen der Di-
mensionen entstehen Risiken, die einer erfolgreichen Implementierung und Nutzung einer
digitalen Lösung entgegenstehen können. Die Planung der digitalen Transformation er-
fordert folglich die frühzeitige Identifikation und Bewertung soziotechnischer Risiken, um
deren Kritikalität bewerten und geeignete Maßnahmen einleiten zu können.
Das klassische Risikomanagement liefert eine Vielzahl von Werkzeugen und Rahmen-
werken, die disziplinspezifisch bereits etabliert sind. Durch die bei der digitalen Trans-
formation vorherrschenden soziotechnischen Wechselwirkungen bedarf es jedoch einer
disziplinübergreifenden Denkweise innerhalb des Risikomanagements. Im folgenden Bei-
trag wird daher auf die soziotechnischen Herausforderungen der digitalen Transformation
eingegangen und gezeigt, welche Implikationen sich daraus für das Risikomanagement
ergeben. Weiterhin wird ein Vorgehensmodell vorgestellt, anhand dessen gezeigt wird, wie
soziotechnische Risiken identifiziert, bewertet und mit Handlungsoptionen adressiert wer-
den können. Das Vorgehen wurde im Forschungsprojekt SORISMA1 – Soziotechnisches
Risikomanagement bei der Einführung von Industrie 4.0 – erarbeitet und validiert.

14.2 Potenziale der digitalen Transformation

Die eingangs dargestellte Problematik verdeutlicht, dass zur Weiterentwicklung des


Risikomanagements vor soziotechnischem Hintergrund unterschiedliche Aspekte der in-
volvierten Disziplinen berücksichtigt werden müssen. Es existieren Grundsätze und theo-
retische Zusammenhänge aus dem Bereich des soziotechnischen Systemverständnisses,
deren Implikationen den bestehenden Ansätzen und Rahmenwerke des klassischen Risiko-
managements gegenübergestellt werden müssen. Um diesen Herausforderungen zu be-
gegnen, bedarf es eines Rahmenwerks, das sozio-technische Zusammenhänge und
Risikomanagement-­Methoden umfasst. Eine geeignete Forschungsmethodik ist die im
Ingenieurwesen etablierte Design Science Research-Methodik nach (Hevner et al., 2004).
Diese umfasst die drei Betrachtungsbereiche Umgebung, Design und Wissensbasis sowie
den Relevanz-, Design- und Rigor-Zyklus. Das Vorgehen startet mit dem Relevanzzyklus.
Darin wird die Umgebung des zu untersuchenden Problems festgelegt und relevante Be-

 Das Verbundprojekt aus neun Partnern wird aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Ent-
1

wicklung NRW (EFRE.NRW) mit einem Fördervolumen von rund 2,7 Millionen Euro unterstützt.
Betreut wird das Projekt mit einer Laufzeit von drei Jahren durch die LeitmarktAgentur.NRW.
378 J. S. Menzefricke et al.

griffe definiert. Dies können beispielsweise Menschen, Technologien und Organisationen


bzw. Unternehmen sein. Weiterhin werden in diesem Zyklus Anforderungen an die
Forschungsergebnisse definiert. Innerhalb des Rigorzyklus findet eine Verknüpfung zur
relevanten Wissensbasis statt, auf der die Forschungsarbeiten aufsetzen. Diese besteht aus
Daten sowie wissenschaftlichen Theorien und Ansätzen. Innerhalb des Designzyklus wer-
den neue Erkenntnisse und Methoden erarbeitet, die zum einen den Anforderungen des
Relevanzzyklus gerecht werden und zum anderen auf der Wissensbasis des Rigorzyklus
aufbauen. Zusätzlich findet eine stetige Evaluierung statt. Im Folgenden werden die
wesentlichen Bausteine der Zyklen beschrieben (siehe Abb. 14.1).
Die Umgebung beschreibt den Problemraum. Dieser wird charakterisiert durch Men-
schen, Organisationen und Technologien. Im Fall des vorliegenden Beitrags wird in die-
sem Bereich die Einführung einer neuen Technologie als Problem charakterisiert. Dabei
spielen bspw. Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen, Mitarbeiter mit verschiedenen
Fähigkeiten, Organisationen mit bestehenden Strukturen und Prozessen sowie Techno-
logien mit Einsatzbedingungen und Nutzenpotenzialen eine wichtige Rolle. Gleicher-
maßen wird hier bereits das soziotechnische Systemverständnis aufgegriffen und bildet so
einen strukturgebenden Rahmen für das Problem.
Die Wissensbasis umfasst unter anderem Theorien, Zusammenhänge, Methoden und
Ansätze, die für den Untersuchungsgegenstand von Bedeutung sind. Beispielsweise ist
hier die Risikomanagement-Norm 31000 und dessen Rahmenwerk und Zusammen-
hänge zuzuordnen. Darüber hinaus umfasst die Wissensbasis alle zugrundeliegenden
Wissenselemente, die zur Problemlösung notwendig sind, z. B. Risikofelder und Risi-
ko-Typen.
Der Design-Bereich stellt den Gestaltungsbereich zur Problemlösung dar. Hier werden
die Anforderungen und strukturellen Rahmenbedingungen des Problemraums und die
existierende Wissensbasis genutzt, um Theorien, Methoden und neue Wissenselemente zu
erarbeiten. Dabei werden gewonnene Erkenntnisse in Form von Wissenselementen stetig
in die Wissensbasis zurückgespielt (Rigor-Zyklus). Die stetige Validierung erfolgt durch
Anwendung erarbeiteter Methoden unter den festgelegten Rahmenbedingungen in der

Abb. 14.1  Design Science Research nach Hevner et al., (2004). (Quelle: Eigene Darstellung)
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 379

zuvor definierten Umgebung (Relevanz-Zyklus). Im vorliegenden Beitrag werden zur Va-


lidierung vier Pilotprojekte genutzt. Diese umfassen die Einführung eines fahrerlosen
Transportsystems, eines digitalen Lagerverwaltungssystems, eines Smart Services sowie
die Einführung eines Manufacturing-Execution-Systems (MES).
Die gewählte Forschungsmethodik bietet ein Erfolg versprechendes Vorgehen, um sys-
tematisch Anforderungen aus der Umgebung (u. a. durch den soziotechnischen System-
ansatz) mit bestehendem Wissen aus dem Risikomanagement zu verknüpfen und auf Basis
dessen neue Ansätze und Methoden im Kontext des soziotechnischen Risikomanagements
zur erarbeiten.

14.2.1 Die Digitale Transformation als soziotechnische


Herausforderung

Im folgenden Abschnitt wird auf die wesentlichen Potenziale der digitalen Trans-
formation eingegangen und im Zuge der Forschungsmethodik die Umgebung charakteri-
siert. Dabei wird gezeigt, in welchen Bereichen der Wertschöpfung Potenziale entstehen
und in welcher Form diese genutzt werden können. Weiterhin wird gezeigt, welchen
soziotechnischen Herausforderungen sich Unternehmen bei der Hebung dieser Poten-
ziale konfrontiert sehen.

14.2.2 Potenziale der digitalen Transformation

Die digitale Transformation wird unter anderem durch eine stets wachsende Produkt-
varianz, den Markteintritt branchenfremder Konkurrenten sowie den Bedarf neuer Wert-
schöpfungspartner charakterisiert. Innovative digitale Technologien ermöglichen in die-
sem Zusammenhang eine flexible Produktion und effiziente Zusammenarbeit innerhalb
dynamischer Wertschöpfungsnetzwerke.

Bedeutung der digitalen Transformation


Die digitale Transformation eröffnet produzierenden Unternehmen signifikante Poten-
ziale zur Steigerung ihrer Produktivität und damit auch ihrer Wettbewerbsstärke. Dabei
wird entscheidend sein, wie die deutsche Wirtschaft das Potenzial digitaler Technologien
nutzen kann. Künstliche Intelligenz und Data Analytics wird das durch menschliches
Handeln geprägte Unternehmertum nicht ablösen können und nicht jedes mittelständische
Produktionsunternehmen wird in gleicher Art wie große Automobilkonzerne von der Di-
gitalisierung profitieren (Brödner, 2018). Denn existierende Vorerfahrungen mit Digitali-
sierungs- und Automatisierungstechnologien sind von Unternehmen zu Unternehmen
sehr unterschiedlich. Gerade kleine und mittelständische Unternehmen, die häufig mit
begrenzten Ressourcen haushalten müssen, sind gefordert, Einzelmaßnahmen aus dem
möglichen Digitalisierungsportfolio auszuwählen. Dadurch können sie fokussiert ihre
380 J. S. Menzefricke et al.

Wettbewerbsfähigkeit verbessern, Missstände in ihren Wertschöpfungs- und Ent-


wicklungsaktivitäten beheben sowie neue Geschäftsfelder erschließen (Wildemann,
2018a). Die notwendigen Rahmenbedingungen dazu stellen Unternehmen vor schwie-
rige Investitionsentscheidungen. Die Ermittlung von geeigneten Wertschöpfungs-
bereichen und die Identifikation von realisierbaren Potenzialen sind dabei eine große
Herausforderung. Um konkrete Digitalisierungsmaßnahmen zielgerichtet einleiten zu
können, wird häufig der technologische Reifegrad eines Unternehmens ermittelt, um die
relevanten Handlungsfelder für die Digitalisierung zu identifizieren (Schuh et al., 2020;
Knospe et al., 2017).

Digitalisierung von Geschäftsmodellen


Die Digitalisierung eröffnet traditionellen Fertigungsunternehmen eine grundlegende Ab-
lösung und Weiterentwicklung von erfolgreichen Geschäftsmodellen – bspw. vollziehen
viele Unternehmen den Wandel von Investitionsgüterherstellern hin zu produzierenden
Dienstleistern oder Plattformbetreibern für professionelle Services (Drewel et al., 2020;
Gausemeier et  al., 2017). Zusätzlich ist die intelligente Analyse von Daten ein Ent-
wicklungspfad, der neuartige Geschäftsmodelle ermöglichen wird. Solche Trends werden
weiterhin an Bedeutung gewinnen. Rationalisierungsinitiativen mit dem Ziel, die
Produktivität zu steigern, stellen aussichtsreiche Wachstumsperspektiven dar. Neuartige
Geschäftsmodelle und Effizienzsteigerungen haben das Potenzial, den deutschen Wirt-
schaftsstandort langfristig international an der Spitze zu halten.

Digitalisierung von Marktleistungen


Die konsolidierte Betrachtung der Digitalisierungspotenziale innerhalb von Geschäfts-
modellen zeigt: Ansätze zur Verbesserung von Effizienzen durch die digitale Trans-
formation setzen in verschiedenen Unternehmensbereichen an und ermöglichen die Digi-
talisierung von Marktleistungen als auch der Leistungserstellungsprozesse. Durch
Digitalisierung und Vernetzung von Produkten und Dienstleistungen können auf Seiten
der Marktleistungen sowohl umsatz- als auch kostenseitig Potenziale gehoben werden.
Fallstudien zeigen, dass die Marktpotenziale für viele Unternehmen um fünfzehn bis acht-
zehn Prozent gesteigert werden können (Hirsch-Kreinsen, 2020). Dies wird häufig durch
die frühzeitige Einbindung von Kunden in den Produktentstehungsprozess erreicht. Die
kundenorientierte Gestaltung der Produktausstattung durch Online-Konfiguration beim
Autokauf sowie von individuellen Verpackungs- oder Werkzeugmaschinen sind an dieser
Stelle als Beispiele genannt. Weitere Potenziale ergeben sich durch die Durchsetzung
einer Mehrpreisfähigkeit von bis zu fünf Prozent. Die Einführung von auslastungs-
orientierten oder zeitabhängigen Preispunkten ist für Anbieter eine schwierige, aber loh-
nende Aufgabenstellung. Neben kundenindividuellen Produkten ist hier ein Hebel für eine
weitere Absatzsteigerung zu sehen. Die Digitalisierung und die „Shared Economy“ er-
möglichen beispielsweise, dass engpassorientierte Preispunkte auf digitalen Service-Platt-
formen realisiert werden (Wildemann, 2020). Darüber hinaus lassen sich in der Logistik
Sicherheitsbestände reduzieren. Ermöglicht wird dies durch die Erfassung und systemati-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 381

sche Auswertung von Transport- und Lagerdaten in Echtzeit. Wird beispielsweise eine
LKW-Flotte erfasst, können Gesamtoptima der Routen und Transportmengen für spezi-
fische Güter bestimmt werden (Wildemann, 2018b).

Digitalisierung von Leistungserstellungsprozessen


Die Lösungen der Digitalisierung entfalten ihre produktivitätssteigernde Wirkung vor
allem in der Fertigung und in Leistungserstellungsprozessen. Durch die Erfassung und
Auswertung von Maschinendaten kann die manuelle Suche nach Ursache-Wirkungs-­
Mechanismen durch eine systematische Ermittlung statistischer Zusammenhänge und
Muster ersetzt werden. Der Einsatz cyber-physischer Systeme wie z. B. kooperierender
Roboter in der Fertigung führt zu einer erhöhten Autonomie von Produktionssystemen.
Produktionsanlagen werden sowohl untereinander als auch mit Produkten sowie mit
Transporttechnologien vernetzt. Ein Netzwerk aus „Smart Objects“ entsteht, in wel-
chem deren Nutzung, der Ablauf von Bearbeitungsprozessen und entsprechende logisti-
sche Funktionen autonom organisiert und gesteuert werden. Hierdurch entstehen neue
Fähigkeiten, die von der unternehmensinternen und -externen Abstimmung in Echtzeit bis
hin zu sich selbst steuernden Produktionssystemen reichen. Zusammen mit Maßnahmen,
wie der verbesserten Ergonomie am Arbeitsplatz und dem Einsatz von produktions-
unterstützenden Robotern, ergeben sich durch die Digitalisierung für einzelne Unter-
nehmen Produktivitätspotenziale von bis zu 25 Prozent (Wildemann, 2018a).

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Potenziale der digitalen Transformation in
allen Bereichen der Wertschöpfung nutzbar sind, um die Effizienz und Flexibilität von
Unternehmen zu steigern. Damit Unternehmen diese Potenziale heben können, müssen
jedoch notwendige Rahmenbedingungen geschaffen werden. Bei diesen Rahmen-
bedingungen gilt es nicht lediglich bestehende technische Schnittstellen zu berück-
sichtigen und ggf. anzupassen, sondern vielmehr alle von der Einführung neuer Techno-
logie beteiligten Aspekte in gleichem Maße zu berücksichtigen. Als strukturgebender
Rahmen für diese Aspekte hat sich das soziotechnische Systemverständnis etabliert. Damit
einhergehende Herausforderungen werden im folgenden Abschnitt beschrieben.

14.2.3 Soziotechnische Herausforderungen

Viele Unternehmen zögern bei der Umsetzung digitaler Lösungen. Dabei sind es oftmals
nicht die technischen Herausforderungen, die Unternehmen zögern lassen, sondern viel-
mehr schwer abschätzbare Auswirkungen in Bezug auf die Faktoren Organisation und
Mensch. Denn auch wenn neue Technologien reibungslos implementiert werden, hängt
deren effiziente Nutzung davon ab, ob z. B. betroffene Prozesse angepasst, Kompetenzen
der Mitarbeitenden erweitert sowie die Akzeptanz der Belegschaft gewonnen werden. Ein
Unternehmen stellt somit ein sogenanntes soziotechnisches System dar. Das Konzept der
soziotechnischen Systemtheorie stellt dabei technologische, organisatorische und mensch-
382 J. S. Menzefricke et al.

liche Elemente in einen übergeordneten Zusammenhang. (Hirsch-Kreinsen & Weyer,


2014) definieren ein soziotechnisches System unter der Berücksichtigung von Rice
­folgendermaßen:

Ein soziotechnisches System kann als eine Produktionseinheit verstanden werden, die aus
interdependenten technologischen, organisatorischen und personellen Teilsystemen besteht.
Zwar begrenzt das technologische Teilsystem die Gestaltungsmöglichkeiten der beiden ande-
ren Teilsysteme, jedoch weisen diese eigenständige, soziale und arbeitspsychologische Eigen-
schaften auf, die wiederum auf die Funktionsweise des technologischen Teilsystems zurück-
wirken. Zudem steht das Gesamtsystem stets in enger Wechselwirkung mit seinen
Umweltbedingungen. (Hirsch-Kreinsen & Weyer, 2014, S. 11; Rice, 1963, S. 181)

Bei der Gestaltung soziotechnischer Systeme hat sich der MTO-Ansatz (Mensch, Technik,
Organisation) nach (Ulich, 2013) etabliert. Den Mittelpunkt des Ansatzes bildet eine
Arbeitsaufgabe. Bei der Lösung einer solchen Aufgabe wird eine gemeinsame Optimie-
rung von Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen (Dimension Mensch), dem Technikeinsatz (Di-
mension Technik) und der Organisationsgestaltung (Dimension Organisation) im Ein-
klang mit der Umwelt angestrebt (Ulich, 2013).
In der Literatur existieren unterschiedliche Verständnisse über die zu berücksichtigenden
Bestandteile der drei Dimensionen Mensch, Organisation und Technik. Für die Digitale
Transformation wird in dem folgenden Beitrag der soziotechnische Strukturierungs-
rahmen nach (Hobscheidt et al., 2020) herangezogen (siehe Abb. 14.2). Dieser stellt auf
Basis einer Literaturanalyse ein allgemeingültiges Referenzwerk für die relevanten Kom-
ponenten der drei soziotechnischen Dimensionen bereit. Dabei liegt der Fokus auf den
einzelnen Dimensionen Mensch, Organisation und Technologie selbst, weniger auf deren
Wechselwirkungen.
Die Dimension Technologie setzt sich aus den Komponenten Automatisierung,
IT-Systeme und Datenmanagement zusammen. Die Automatisierung kann dabei durch
Merkmale wie die Höhe des Automatisierungsgrads oder den Einsatz von Informations-
und Kommunikationstechnologie zur Prozessautomatisierung charakterisiert werden. Die
Komponente IT-Systeme bezieht sich u. a. auf die IT-Infrastruktur eines Unternehmens.
Hierbei sind Merkmale wie die Softwareunterstützung, durchgängige Schnittstellen-
gestaltung oder Technologien für die IT-Sicherheit von Relevanz. Im Rahmen der Kompo-
nente Datenmanagement wird der Grad sowie die zweckmäßige Nutzung von Daten adres­
siert (Hobscheidt et al., 2020).
Die Dimension Mensch wird in dem Strukturierungsrahmen durch die Komponen-
ten Qualifizierung, Arbeitsaufgaben, Zusammenarbeit sowie Arbeitsstrukturen ge-
formt. Die Komponente Qualifizierung zielt dabei auf die Aus- und Weiterbildung der
Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen und fokussiert Kompetenzen und Fähigkeiten der Arbeit-
nehmenden sowie Lern- und Qualifikationsprozesse. Charakteristisch für die Kompo-
nente Arbeitsaufgaben sind bspw. die Merkmale Eigenverantwortung, Arbeitsinhalte
sowie Arbeitsanforderungen. Unter der Komponente Zusammenarbeit wird die Inter-
aktion zwischen den Mitarbeitern/Mitarbeiterinnen selbst sowie den Maschinen ver-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 383

Abb. 14.2  Soziotechnischer Strukturierungsrahmen nach Hobscheidt et al. (2020)

standen. Hierbei werden insbesondere der Grad der Interdisziplinarität sowie die in-
tuitive Mensch-Maschine Interaktion betrachtet. Im Rahmen der Komponente
Arbeitsstrukturen werden die Bedingungen am Arbeitsplatz berücksichtigt, indem
bspw. ergonomische Anforderungen oder Aspekte der Arbeitssicherheit einbezogen
werden (Hobscheidt et al., 2020).
Die Spezifizierung der Dimension Organisation erfolgt durch die Komponenten Kul-
tur, Prozesse und Organisation sowie Wissen. Die Komponente Kultur bezieht sich dabei
auf die Unternehmenskultur der Organisation und adressiert die Mitarbeiterpartizipation,
eine Sensibilisierung für Veränderungen sowie die Fehlerkultur. Fokus der Komponente
Prozesse & Organisation stellt die Ablauforganisation des Unternehmens dar. Merkmale
wie Prozesstransparenz, Integration neuer Geschäftsprozesse oder die Prozessvernetzung
werden in dieser Komponente untersucht. Der Umgang mit Wissen im Unternehmen wird
384 J. S. Menzefricke et al.

durch die Komponente Wissen in der Dimension Organisation abgebildet. Aspekte wie die
Existenz fachübergreifenden Wissens im Unternehmen sowie die Wissensgenerierung und
der Wissenstransfer werden dabei zur Gestaltung der Komponente berücksichtigt (Hob-
scheidt et al., 2020).
Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Komponenten innerhalb des soziotechnischen
Systems zeigt, dass die Einführung digitaler Lösungen kein einfaches Unterfangen ist und
mit weitreichenden Veränderungen einhergeht. Damit aus notwendigen Veränderungen
nicht den Erfolg gefährdende Risiken entstehen, müssen sich Unternehmen dieser früh-
zeitig bewusst werden und adäquate Gegenmaßnahmen erarbeiten.

14.3 Risikomanagement im Zeitalter der Digitalisierung

Ziel des folgenden Abschnitts ist die Charakterisierung des Betrachtungsbereichs Wissens-
basis der zugrundeliegenden Forschungsmethodik. In diesem Zuge werden die Grund-
lagen des Risikomanagements sowie deren theoretischen Zusammenhänge erläutert. An-
schließend werden die Herausforderungen im Kontext der Digitalen Transformation
abgeleitet.

14.3.1 Grundlagen des Risikomanagements

Die Digitale Transformation stellt Unternehmen vor die Herausforderung, einerseits das
aktuelle Tagesgeschäft möglichst erfolgreich abzuwickeln und sich andererseits gleich-
zeitig gut für die Zukunft aufzustellen. Hierbei bringen Investitionen in digitale Lösungen
hohe Risiken mit sich, denn der aktuelle Gewinn verringert sich und es besteht Unsicher-
heit, ob die Lösung in Zukunft tatsächlich den erhofften Mehrwert erbringt (Oehmen,
2019). Neben bekannten Risiken („known unknowns“) existieren auch zunächst noch un-
bekannte Risiken („unknown unknowns“). Methoden und Werkzeuge des Risiko-
managements können Unternehmen dabei unterstützen, diese Risiken zu identifizieren, zu
bewerten und zu steuern (Romeike, 2018).

Grundlagen der Risikomanagement-Norm ISO 31000


Unter dem Begriff Risikomanagement werden „koordinierte Aktivitäten zur Lenkung und
Steuerung einer Organisation in Bezug auf Risiken“ zusammengefasst (DIN Deutsches
Institut für Normung e.V., 2018). In der Risikomanagementnorm (DIN Deutsches Institut
für Normung e.V., 2018) werden Leitlinien für den Umgang mit Risiken festgelegt. Ein
Risiko wird in der Norm als „Auswirkung von Unsicherheit auf Ziele“ definiert. Dabei
wird eine Auswirkung als „Abweichung vom Erwarteten“ verstanden, die zunächst einmal
sowohl positiv als auch negativ sein kann. Risiken entstehen durch Risikoursachen, die
allein oder gemeinsam mit weiteren Faktoren wirken können. Ob Risiken entstehen, hängt
jeweils von bestimmten Ereignissen und Zuständen ab, die eintreten bzw. bestehen kön-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 385

nen. Das Ergebnis eines Ereignisses wird als Auswirkung bezeichnet (DIN Deutsches In-
stitut für Normung e.V., 2018).

In der Norm werden ein Risikomanagement-Rahmenwerk, Risikomanagement-­


Grundsätze sowie ein Risikomanagement-Referenzprozess festgelegt. Für einen
­effizienten, wirksamen und konsistenten Umgang mit Risiken ist die Implementierung
oder Anpassung dieser drei Komponenten in der Organisation erforderlich. Die in der
Norm beschriebenen Grundsätze sollen einer Organisation als Anleitung für ein wirk-
sames Risikomanagement dienen. Im Zentrum steht die Schaffung und der Schutz von
Werten, was u. a. durch eine Integration des Risikomanagements in alle Aktivitäten einer
Organisation erreicht werden soll. Als Unterstützung hierfür dient ein Risiko-
management-Rahmenwerk mit den Komponenten Führung, Integration, Gestaltung, Im-
plementierung, Bewertung und Verbesserung (DIN Deutsches Institut für Normung
e.V., 2018).
Die eigentliche Anwendung des Risikomanagements wird anhand des in Abb. 14.3 dar-
gestellten Referenzprozesses beschrieben. Dieser Prozess ist in der Praxis nicht wie dar-
gestellt sequenziell, sondern iterativ durchzuführen. Erster Schritt des Referenzprozesses
ist die Festlegung des zu betrachtenden Anwendungskontexts und Umfelds. Hierzu gehört
auch die Festlegung von Risikokriterien, die in Bezug auf die zu erreichenden Ziele fest-
zusetzen sind. Mit den Kriterien werden die Art und der Umfang des für die Organisation
akzeptablen Risikos festlegt. Der zweite Schritt ist die Risiko-Beurteilung, welche die
Identifikation, Analyse und Bewertung umfasst. Durch die Identifikation sollen Risiken
erkannt werden. In der Analyse sollen Risiken beispielsweise anhand der Ursachen und
Auswirkungen beschrieben und so die Risiko-Relevanz abgeleitet werden. Innerhalb der
Bewertung findet basierend auf der Analyse ein Vergleich mit den vorher festgelegten

Abb. 14.3  Referenzprozess des Risikomanagements (ISO 31000:2018)


386 J. S. Menzefricke et al.

Risikokriterien statt, um über zusätzliche Aktionen, wie Optionen zur Risiko-Behandlung


oder weitere Analysen, zu entscheiden. Im dritten Schritt folgt die Risiko-Behandlung.
Diese umfasst die Auswahl von Maßnahmen, um Einfluss auf Wahrscheinlichkeiten sowie
Auswirkungen von Risikoursachen zu nehmen (DIN Deutsches Institut für Normung
e.V., 2018).
Ergänzend zu diesen drei Schritten erfolgen begleitende Aktivitäten, mit dem Ziel, den
Erfolg des Risikomanagements sicherzustellen. So wird durch die regelmäßige Kommuni-
kation und Konsultation die Möglichkeiten gegeben, relevante Stakeholder einzubeziehen
und dadurch ausreichend Informationen, Ansichten und Fachkenntnisse in jedem Schritt
des Risikomanagements zu erfassen. Überwachen und Überprüfen stellen die Qualität und
Wirksamkeit des Risikomanagementprozesses sicher, Aufzeichnen und Berichten zielen
auf die Kommunikation der Ergebnisse des Risikomanagementprozesses über die gesamte
Organisation hinweg ab. Hierdurch sollen Informationen zur Entscheidungsfindung bereit-
gestellt und gleichzeitig die Aktivitäten des Risikomanagements verbessert werden (DIN
Deutsches Institut für Normung e.V., 2018).

Weiterführende Ansätze des Risikomanagements


Aufbauend und ergänzend zu den Leitlinien dieser Risikomanagementnorm existieren
zahlreiche weitere Arbeiten, die häufig einen spezifischen Fokus des Risikomanagements
adressieren. (Ebert, 2018) legt den Fokus auf die Risikoanalyse in Produktionsprozessen,
um insbesondere technische Risiken wie Qualitätsmängel und Fehlfunktionen zu identi-
fizieren. (Kobi, 2012) beschreibt mit Engpassrisiken, Austrittsrisiken, Anpassungsrisiken
und Motivationsrisiken verschiedene Aspekte des Personalrisikomanagements. (Birkel
et al., 2019) verdeutlicht die Notwendigkeit, die Einführung digitaler Technologien vor
allem aufgrund der zunehmenden Wechselwirkungen von Risiken verschiedener Diszipli-
nen mit einem ganzheitlichen Risikomanagement-Ansatz zu betrachten. Zur Unter-
mauerung dieser These wurde eine Interview-Studie mit Mitarbeitern, die sich mit der
Digitalisierung in Unternehmen befassen, durchgeführt. Diese ergab, dass sich Risiken bei
der Einführung von digitalen Technologien in sechs Cluster (wirtschaftliche, soziale, tech-
nische, ökologische und politisch bzw. rechtliche Risiken) einteilen lassen, deren Wechsel-
wirkungen zu berücksichtigen sind. (Oehmen, 2016) stellt in Anlehnung an die Norm
(DIN Deutsches Institut für Normung e.V., 2018) einen Referenzprozess für die Produkt-
entwicklung vor und identifiziert typische Risiken innerhalb der Produktentwicklung
(bspw. Reputationsrisiko des Unternehmens, Entwicklungskostenrisiken, Produktkosten-
risiken, Produkt-Time-To-Market-Risiken, etc.).

Besonders relevant für den vorliegenden Beitrag ist der Ansatz nach (Hopfener & Bier,
2018). Die Autoren betrachten das Risikomanagement vor dem Hintergrund der Digitali-
sierung und sehen das Risikomanagement durch die Digitalisierung zukünftig in eine neue
Rolle gerückt. Eine zunehmende Bedeutung der beratenden Funktion des Risiko-
managements sowie einer mit der Unternehmensstrategie abgestimmten Steuerungs-
funktion wird erwartet. Um die Unternehmensziele risiko-orientiert zu steuern, ist eine aus
der Unternehmensstrategie abgeleitete Risikostrategie erforderlich. Die aus dem Risiko-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 387

management gewonnenen Erkenntnisse können wiederum zur kontinuierlichen Über-


prüfung und Anpassung der Unternehmensstrategie genutzt werden. Neben dieser neuen
Rolle wird auch eine Veränderung der Methoden des Risikomanagements erwartet. Es
wird ein zunehmender Einsatz standardisierter Prozesse sowie quantitativer mathemati-
scher Modelle (z. B. Big Data Analysen) im Risikomanagement prognostiziert. Das er-
laubt sowohl eine zuverlässigere Analyse von Risiken als auch eine transparentere Bereit-
stellung von Informationen. Zudem ermöglicht es dem Risikomanagement, stärker in
strategische Fragestellungen eingebunden zu werden und zur Wertschöpfung beizutragen
(Hopfener & Bier, 2018).
Für Unternehmen ist es somit lohnenswert, sich mit dem Risikomanagement im Zeit-
alter der Digitalisierung verstärkt auseinanderzusetzen. Einerseits erleichtert die Digitali-
sierung das Risikomanagement und wertet das Risikomanagement hin zu einer beratenden
sowie steuernden Funktion auf. Andererseits können mögliche Stolpersteine im Kontext
der Digitalen Transformation mit geeigneten Methoden und Werkzeugen des Risiko-
managements überwunden werden.

14.3.2 Aktuelle Herausforderungen des Risikomanagements

Die digitale Transformation stellt das Risikomanagement insbesondere vor dem Hinter-
grund des soziotechnischen Ansatzes vor neue Herausforderungen. Durch die Einführung
von Digitalisierungsinitiativen treten Veränderungen in den Dimensionen Mensch, Techno-
logie und Organisation auf, welche die Ursachen für die Entstehung von Risiken darstellen.
So kann z.  B. die Einführung eines fahrerlosen Transportsystems eine Veränderung der
Arbeitsaufgaben mit sich führen. Hierdurch ergeben sich neue Kompetenzanforderungen
für die Mitarbeiter. Gleichzeitig verändern sich auch die Abläufe innerhalb der Logistik,
wodurch sich die Struktur der Organisation ändern kann, indem Abteilungsgrenzen auf-
gelöst werden. Beide Veränderungen können sich bspw. negativ auf die Akzeptanz der Mit-
arbeiter auswirken. Auf technologischer Ebene entstehen ebenfalls Risiken, wie z. B. der
Ausfall eines FTS durch einen Produktionsfehler, wodurch die negativen Auswirkungen
auf die Akzeptanz noch verstärkt werden. Das Beispiel zeigt die starke Vernetzung der
Risikoursachen zwischen den einzelnen soziotechnischen Dimensionen, wodurch die Be-
drohungslage für das Scheitern der Digitalisierungsinitiative an Dynamik gewinnt. Die Ver-
netzung stellt aber nur einen von vielen Gründen dar, warum Unternehmen Schwierigkeiten
bei der digitalen Transformation haben (Boehm & Smith, 2021; Staufen, 2019). So be-
stätigt eine Studie von McKinsey & Company, dass das Risikomanagement mit der digita-
len Transformation bisher nicht Schritt halten konnte (Boehm & Smith, 2021). Vor diesem
Hintergrund sind geeignete Managementansätze zur Risikobeurteilung, -behandlung
sowie Überwachung und Überprüfung der auftretenden Risiken zu entwickeln. Risiko-
beurteilung: Das größte Hindernis besteht für die Unternehmen insbesondere darin, dass
bei der Einführung von Digitalisierungsinitiativen auftretende Risiken bisher verbogen
bleiben. So können Unternehmen zwar häufig einzelne Risiken benennen, es bestehen aber
Schwierigkeiten, diese in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Dabei verlieren sie sich
388 J. S. Menzefricke et al.

häufig im Detail (Boehm & Smith, 2021; Staufen, 2019). Die Identifikation von Wechsel-
wirkungen zwischen Ursache, Risiko und Wirkung erfordert jedoch eine übergeordnete
Perspektive und die Fähigkeit, dies in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu setzen.
Daher muss die Vergleichbarkeit der einzelnen Risiken hergestellt werden, um die gegen-
seitigen Einflüsse analysieren zu können. Vor diesem Hintergrund besteht der Bedarf an
einer Sammlung von generischen soziotechnischen Risiken (sogenannter Risikotypen),
welche die Stolpersteine in den Dimensionen Mensch, Technologie und Organisation auf-
decken und leicht auf weitere Digitalisierungsmaßnahmen zu übertragen sind (Schnasse
et al., 2021). Dabei stellt die Informationsbeschaffung die schwierigste Phase im gesamten
Risikomanagementprozess dar, die aber gleichzeitig eine Schlüsselfunktion für die nach-
folgenden Phasen innehat. Daher besteht ein hoher Anspruch an Vollständigkeit, welcher
nur durch die Erfassung der Veränderungen bei der Einführung von Digitalisierungs-
initiativen erreicht werden kann (Ellebracht et al., 2011; Romeike, 2018). Denn die Ver-
änderungen stellen die Auslöser für die Entstehung von Risiken dar (Romeike, 2018). Da­
rüber hinaus ist es wichtig, die Risiken nicht isoliert voneinander zu betrachten, da sie
durch komplexe Ursache-Wirkungs-Ketten und nichtdeterministische Abhängigkeiten mit-
einander verknüpft sind. Denn jedes Risiko basiert auf einer oder mehreren Ursachen und
führt zu verschiedenen Auswirkungen, die in ihrer Gesamtheit eine Kette bilden (Klein &
Gleißner, 2017; Romeike, 2018). Dies gilt auch für die Abhängigkeiten zwischen den Di-
mensionen aus dem oben erläuterten soziotechnischen System (Anderson & Felici, 2012;
Baxter & Sommerville, 2011; Ulich, 2013). Die ermittelten Abhängigkeiten der Risiken
können zudem in der Risikobewertung genutzt werden, um ein besseres Verständnis für die
Eintrittswahrscheinlichkeit der Risiken zu erhalten. Zudem können weitere Forschungs-
aktivitäten aufzeigen, ob das Schadensausmaß eines soziotechnischen Risikos zum Teil
auch auf dessen Wechselwirkungen zurückzuführen ist (Schnasse et al., 2021). Vor diesem
Hintergrund ist die ganzheitliche Identifikation der auftretenden soziotechnischen Risiken
unter Berücksichtigung ihrer Zusammenhänge von hoher Bedeutung, um eine nachhaltige
digitale Transformation zu gewährleisten. Risikobehandlung: Da viele Unternehmen un-
sicher in Bezug auf den Umgang mit den auftretenden Risiken sind, sind auf Basis der
Wechselwirkungen zwischen den Risiken konkrete Risikostrategien und Maßnahmen zur
Vermeidung oder Reduzierung der Risiken herzuleiten (Boehm & Smith, 2021). Dabei gilt
es, sowohl die Eintrittswahrscheinlich als auch die möglichen Auswirkungen bei Eintritt
eines Risikos bei der Wahl einer geeigneten Handlungsoption zu berücksichtigen. Es lassen
sich insbesondere zwei Prinzipien der Risikobehandlung identifizieren. Das Prinzip der
Risikobegrenzung zielt darauf ab, die Auswirkungen eines Risikos möglichst gering zu
halten. Die Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit wird durch das Prinzip der Risiko-
vermeidung adressiert. Neben diesen Prinzipien gibt es im Allgemeinen noch die Risiko-
akzeptanz, -vorsorge und -überwälzung (Klein, 2011). Dabei wird bei der Risikoakzeptanz
auf die Durchführung von Maßnahmen verzichtet. Im Fall der Risikovorsorge werden Re-
serven (bspw. finanzielle Mittel) für den Eintrittsfall eines Risikos gebildet. Die Über-
wälzung umfasst den Transfer von Auswirkungen auf Dritte, bspw. das Abschließen einer
Versicherung gegen einen möglichen Schadensfall oder Haftungsklauseln bei der Zu-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 389

sammenarbeit mit Partnern (Gausemeier et  al., 2017; Klein, 2011). Überwachen und
Überprüfen: Risikomanagement ist ein dynamischer Prozess, da sich die Eintrittswahr-
scheinlichkeiten und Schadenshöhen einzelner Risiken stetig verändern können (Romeike,
2018; Wolke, 2007). Aus diesem Grund bedarf es einer kontinuierlichen Risiko-Über-
wachung und -Überprüfung. Ihre wesentliche Aufgabe ist es, risikofördernde Ent-
wicklungen im besten Fall bereits vor dem Risikoeintritt aufzudecken und die Wirkung von
ergriffenen Maßnahmen zu überprüfen (DIN Deutsches Institut für Normung e.V., 2014).
Grundlegend hierfür ist vor dem Hintergrund der digitalen Transformation die Entwicklung
von soziotechnischen Risikoindikatoren, durch die eine solche Überwachung und Über-
prüfung erst ermöglicht wird. Diese Indikatoren können sowohl qualitativer (schwache Si-
gnale) als auch quantitativer (Kennzahlen) Natur sein und dienen konkret dem Monitoring
von Risikofaktoren, welche wiederum zum Eintritt eines oder mehrerer Risiken führen
können (Romeike & Hager, 2020). Durch Kombination verschiedener Risikoindikatoren
lassen sich letztendlich Muster identifizieren und Risikoklassen festlegen.
Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Etablierung neuer
oder die Anpassung bereits bestehender Risikomanagement-Prozesse (Boehm & Smith,
2021). Erst hierdurch kann ein Rahmenwerk zum soziotechnischen Risikomanagement
entstehen, welches die Kausalbeziehungen der soziotechnischen Dimensionen berück-
sichtigt.

14.3.3 Zusammenhänge des Risikomanagements im Kontext


der Digitalisierung

Die digitale Transformation umfasst eine Vielzahl von technologischen Lösungen, die in
ihrer Gesamtheit die Digitalisierung von Unternehmen beschreibt. Diese Lösungen rei-
chen von der Nutzung von Augmented Reality-Anwendungen in der Montage über fahrer-
lose Transportsysteme bis hin zur ganzheitlichen Digitalisierung der Wertschöpfungs-
prozesse eines Unternehmens. Die Granularität dieser technischen Lösungen, die durch
das Risikomanagement zu begleiten sind, variiert daher enorm. Darüber hinaus haben die
technologischen Lösungen in der Regel Auswirkungen auf den Menschen und die Organi-
sation. Diese Eigenschaft überträgt sich daher auch auf daraus resultierende Risiken. Den
Begriff Risiko als ausschließlichen Begriff zur Strukturierung der Zusammenhänge des
Risikomanagements zu nutzen, erscheint nicht zielführend. Insbesondere, da Risiken sich
aufgrund unterschiedlicher Granularität nicht grundsätzlich vergleichen lassen, gilt es re-
levante Begriffe zu definieren, die eine Betrachtung über verschiedene inhaltliche Ebenen
ermöglichen. Daher wurde im Zuge der Erarbeitung dieses Beitrags ein Strukturierungs-
rahmen entwickelt, der die relevanten Begriffe und ihre Zusammenhänge transparent
darstellt und als Bezugsobjekt des später folgenden Vorgehensmodells dient. Der
­
Risikomanagement-­Strukturierungsrahmen ordnet die einzelnen Begriffe des Risiko-
managements unter Einbezug der vier Transformationsperspektiven (soziotechnisches
System, Modell der Wertschöpfungskette, Managementebenen und strategischen Stoß-
390 J. S. Menzefricke et al.

richtungen). Ausgangsbasis und zentrales Element zur Ordnung der Risikomanagement-­


Begriffe ist die einzuführende Technologie in Form eines Use Cases. Der Use Case er-
möglicht die Spezifizierung der generischen Risikofelder, indem die für den Use Case
zutreffenden Ursachen, Risiken und Auswirkungen beschrieben werden. Entsprechend
der Risikokette bedingen die Ursachen ein Risiko, welches wiederum eine Auswirkung
nach sich zieht. Die aufgenommenen Risikofelder und insb. deren Risiken werden darauf-
hin einer soziotechnischen Bewertung unterzogen. Die Bewertung setzt sich zusammen
aus dem digitalen Unternehmensreifegrad (wie digital ist das Unternehmen bereits?), den
Wechselwirkungen der Risikotypen untereinander (welchen Einfluss hat das Eintreten
eines Risikos auf ein anderes Risiko?) sowie eigens identifizierter soziotechnischer Be-
wertungskriterien (z. B. wie wirkt sich der Risikotyp auf die Mitarbeiterakzeptanz aus?).
Die Bewertung dient als Filter, um relevante Risiken von weniger relevanten zu trennen.
Ergebnis der Bewertung sind priorisierte Risiken und kritische Komponenten des sozio-
technischen Systems (vgl. Abschn. 14.2.3), die mithilfe passender Handlungsoptionen
adressiert werden können. Dazu werden sowohl präventive als auch reaktive Maßnahmen
herangezogen, um eine risikoarme Einführung des Use Cases sicherzustellen. Die Be-
griffe und Abhängigkeiten des Risikomanagement-Strukturierungsrahmens sind in der
Abb. 14.4 einsehbar.
In der zuvor beschriebenen Risikokette, abgebildet durch die Begriffe Ursachen, Risiko
und Auswirkungen, spielen die soziotechnischen Wechselwirkungen eine wesentliche
Rolle. Denn Ursachen für ein technisches Risiko können sowohl in der Dimension Mensch
als auch in der Dimension Organisation entstehen. Weiterhin stellen Risikoauswirkungen
gleichzeitig neue Ursachen für andere Risiken dar. Diese Zusammenhänge sind in
Abb. 14.5 anhand eines konkreten Risikos veranschaulicht. Im Fall der Einführung eines
Betriebsdatenmanagements in der Produktion kann durch eine unzureichende Quali-
fikation seitens der Mitarbeiter bspw. die notwendige Datenpflege nicht ausreichend

Abb. 14.4  Risikomanagement-Strukturierungsrahmen. (Quelle: Eigene Darstellung)


14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 391

Abb. 14.5  Beispielhafte Darstellung einer Risikokette. (Quelle: Eigene Darstellung)

durchgeführt werden. Als Folge liegen Datensätze mit einer mangelhaften Qualität vor.
Wird dieser Datensatz anschließend verwendet, um auf Basis daraus ermittelter Informa-
tionen organisatorische Handlungsempfehlungen zu treffen, können diese falsch sein. Der
daraus resultierende Schaden führt wiederum zu einer steigenden Skepsis gegenüber der
technologischen Leistungsfähigkeit von verwendeten Systemen. Dieses Beispiel ver-
anschaulicht die komplexen Wechselwirkungen, die es beim Risikomanagement im Kon-
text der Digitalen Transformation zu berücksichtigen gilt.

14.4 Soziotechnisches Risikomanagement als Wegbereiter der


Digitalen Transformation

Im folgenden Kapitel wird ein Vorgehensmodell vorgestellt, mit Hilfe dessen die Ein-
führung eines Use Cases Risiko-gerecht durchgeführt werden kann. Dies orientiert sich
grundsätzlich an den Phasen des Risikomanagementprozesses. In der ersten Phase werden
zunächst Use Case-bedingte Veränderungen identifiziert und in Ursachen, Risiken und
Auswirkungen überführt. Anschließend findet in der zweiten Phase die Risikobewertung
statt. Dabei werden die identifizierten Risiken anhand der Schadenshöhe und Eintritts-
wahrscheinlichkeit bewertet. Zusätzlich wird dabei der digitale Reifegrad eines Unter-
nehmens erhoben, um kritische Komponenten des soziotechnischen Systems zu identi-
fizieren. Auf Basis dieser kritischen Komponenten werden in der dritten Phase
Handlungsoptionen ermittelt. Diese dienen zur Gestaltung der Komponenten, um die Ein-
trittswahrscheinlichkeit bzw. die Schadenshöhe eines Risikos zu mindern.
392 J. S. Menzefricke et al.

Abb. 14.6  Vereinfachte Darstellung des Use Case Radars. (Quelle: Eigene Darstellung)

14.4.1 Charakterisierung der Ausgangssituation

Untersuchungsgegenstand des Risikomanagements im Kontext der digitalen Trans-


formation und Ausgangspunkt des im Folgenden vorgestellten Vorgehens sind einzu-
führende Use Cases. Diese bieten Unternehmen verschiedene Nutzenpotenziale entlang
der gesamten Wertschöpfungskette. In Zusammenarbeit mit vier Unternehmen wurde zu-
nächst eine Use Case Sammlung erstellt. Die darin enthaltenen Use Cases wurden hin-
sichtlich ihres Anwendungsgebiets im Unternehmen und der technologischen Reife cha-
rakterisiert. Das folgende Use Case Radar zeigt einen Ausschnitt von ermittelten Use
Cases (siehe Abb. 14.6).

14.4.2 Vorgehensmodell zum Management soziotechnischer Risiken

Das Vorgehensmodell wurde in Anlehnung an die Kernphasen des Risikomanagements


Identifikation und Charakterisierung, Bewertung und Steuerung erarbeitet (vgl.
Abschn. 14.3.1). Das Vorgehensmodell ist in Form eines Phasen-Meilenstein-Diagramms
in Abb. 14.7 dargestellt. Ziel der ersten Phase ist es, relevante soziotechnische Risiken zu
identifizieren und zu charakterisieren. Ausgangspunkt dafür ist ein einzuführender Use
Case (vgl. Abschn.  14.4.1). Mittels einer Risiko-Canvas und unter Zuhilfenahme von
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 393

Abb. 14.7  Vorgehensmodell für das soziotechnische Risikomanagement. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

g­ enerischen Risikotypen werden spezifische Risiken ermittelt und anschließend in Form


einer Bow-Tie-Analyse charakterisiert. In der zweiten Phase findet die Bewertung der
zuvor ermittelten Risiken statt. Zunächst wird dazu der digitale Reifegrad des betrachteten
Unternehmens vor dem Hintergrund des einzuführenden Use Cases ermittelt. Anschließend
werden die Risiken hinsichtlich ihrer Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit inner-
halb der soziotechnischen Dimensionen und derer Komponenten bewertet und zu einem
Bedrohungsprofil transferiert. Eine Gegenüberstellung des digitalen Reifegrads mit dem
Bedrohungsprofil eines Risikos liefert kritische Komponenten des soziotechnischen Sys-
tems. In der dritten Phase müssen die kritischen Komponenten mit spezifischen Hand-
lungsoptionen Risiko-gerecht ausgestaltet werden. Eine Konsolidierung der Handlungs-
optionen in einer Roadmap ermöglicht eine zeitliche Einordnung von geplanten Aktivitäten
zur Risikobehandlung.

14.4.2.1 Risikoidentifikation und Charakterisierung


soziotechnischer Risiken
Im Rahmen der Risikoidentifikation werden alle mit dem jeweils ausgesuchten Use Case
verbundenen Risiken abgeleitet, dokumentiert und spezifiziert. Zum Ableiten der sozio-
technischen Risken wird dabei eine eigens entwickelte Risiko-Canvas genutzt. Die
Risikodokumentation und -spezifikation findet hingegen in Form der im Risikomanagement
bewährten Bow-Tie-Analyse statt, die vor dem Hintergrund der soziotechnischen Be-
trachtungsweise angepasst wurde. Im ersten Schritt der Risikoidentifikation wird die
394 J. S. Menzefricke et al.

e­ ntwickelte Risiko-Canvas herangezogen. Die Risiko-Canvas stellt ein Hilfsmittel dar,


um die mit dem jeweils betrachteten Use Case verbundenen Risiken zu identifizieren.
Dazu ist die Risiko-Canvas in drei wesentliche Bereiche untergliedert. Zum einen ermög-
licht die Canvas im ersten Bereich die Aufnahme der allgemeinen Rahmenbedingungen
des Use Cases. Hierbei werden sowohl der Titel des Use Cases als auch dessen An-
wendungsrahmen festgehalten. Im zweiten und Hauptbereich der Canvas werden die Risi-
ken entlang der jeweiligen Komponenten der soziotechnischen Dimensionen abgeleitet.
Dazu werden zunächst die wesentlichen Veränderungen aufgenommen, die durch die
Einführung des Use Cases in den jeweiligen Komponenten entstehen. Eine beispielhafte
Veränderung im Zuge der Einführung des Use Cases ist der größere Gestaltungs- und Ent-
scheidungsspielraum für die Mitarbeiter, die durch die technische Unterstützung hervor-
geht. Die Veränderungen bilden daraufhin die Grundlage für die zielgerichtete Ableitung
von soziotechnischen Risiken, wie die Fehlinterpretation von Prozessdaten. Im dritten
Bereich der Canvas findet daraufhin die Zusammenfassung und Priorisierung der ab-
geleiteten Risiken statt. Einige abgeleitete Risiken aus unterschiedlichen soziotechnischen
Komponenten können bspw. inhaltliche Ähnlichkeiten aufweisen, sodass eine Zusammen-
fassung von einzelnen Risiken für eine einfachere Weiterbetrachtung sinnvoll erscheint.
Hierbei muss sichergestellt werden, dass bei der Risikozusammenfassung keine Inhalte
verloren gehen. Nach der Zusammenfassung können die Risiken entsprechend ihrer Be-
trachtungsrelevanz priorisiert werden. Im Rahmen der Priorisierung wird keine dedizierte
Risikobewertung vorgenommen. Vielmehr dient der Schritt dazu, eine erste Einschätzung
der Risikobedeutung hinsichtlich des betrachteten Use Cases zu erlangen. Nach Ausfüllen
der gesamten Risiko-­Canvas liegen als Ergebnis priorisierte Risiken aus den jeweils be-
trachteten soziotechnischen Komponenten vor (Schnasse et al., 2020). Eine beispielhaft
ausgefüllte Risiko-­Canvas ist in der Abb. 14.8 einsehbar.
Zur Dokumentation und Spezifikation der abgeleiteten Risiken aus der Risiko-Canvas
wird auf die im Rahmen des Risikomanagements bewährte Methode der Bow-Tie-­Analyse
zurückgegriffen (je betrachtetes Risiko ist eine eigene Bow-Tie-Analyse notwendig). Die
Bow-Tie-Analyse ist ein grafisches Modell, welches die logischen Beziehungen zwischen
Ursachen, dem Risiko selbst und den Auswirkungen visualisiert (Gabriel et al., 2021).
Im Kontext der soziotechnischen Betrachtungsweise ist dieses Modell um zwei wesent-
liche Aspekte ergänzt worden. Zum einen werden neben den Risikoursachen auch die
Veränderungen, die sich im Zuge der Use Case Einführung ergeben, im Modell mitauf-
genommen. Somit bildet die Bow-Tie-Analyse die gesamte Risikokette (vgl.
Abschn.  14.3.3) ab. Zum anderen werden die soziotechnische Zugehörigkeit der Ver-
änderungen, der Risikoursachen, des Risikos und der Risikoauswirkungen durch farbliche
Markierung hervorgehoben. Die Bow-Tie-Analyse zeigt transparent die soziotechnische
Verflechtung der Risikoursachen und -auswirkungen auf. Somit trägt die Bow-Tie-Ana-
lyse sowohl zur Dokumentation in Form einer Visualisierung als auch zur Spezifikation
des betrachteten soziotechnischen Risikos über die Veränderungen, Ursachen und Aus-
wirkungen bei. Eine beispielhafte Bow-Tie-Analyse ist in Abb. 14.9 am Risiko „Mangel-
hafte Datenintegrität“ verdeutlicht.
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 395

Abb. 14.8  Beispielhaft ausgefüllte Risiko-Canvas in der Dimension Mensch. (Quelle: Eigene Dar-
stellung in Anlehnung an Schnasse et al. (2020))

Abb. 14.9  Beispielhafte Bow-Tie-Analyse für das Risiko Fehlende Kompetenzen im Bereich
Datenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)
396 J. S. Menzefricke et al.

14.4.2.2 Bewertung des digitalen Reifegrads und der


soziotechnischen Risiken
Im Anschluss an die Risikoidentifikation steht die Bewertung der Risiken im Fokus. Diese
orientiert sich an drei Phasen. Zunächst wird in der ersten Phase der digitale Reifegrad
eines Unternehmens bestimmt. Die zweite Phase befasst sich mit der konkreten Bewertung
der Risiken, bei der die Schadenshöhe sowie Eintrittswahrscheinlichkeit ermittelt werden.
In der letzten Phase werden kritische Komponenten des soziotechnischen Systems identi-
fiziert, auf denen die anschließende Risikosteuerung aufbaut.

Ermittlung des unternehmensspezifischen digitalen Reifegrads


Zur Ermittlung des Reifegrades wurde der Quick Check Industrie 4.0 des Forschungs-
projekts INLUMIA als Basis genommen (Knospe et  al., 2017). Dieser dient dazu, die
Leistung eines Unternehmens im Kontext von Industrie 4.0 zu bewerten. Die 59 Kriterien
wurden an die Rahmenbedingungen des soziotechnischen Risikomanagements angepasst.
Eine Konsolidierung mit den im Stand der Technik identifizierten Modellen wurde eben-
falls durchgeführt. Daraus resultierte ein Reifegradtest mit 96 Fragen, der die einzelnen
Dimensionen Mensch, Technologie und Organisation sowie dessen Komponenten ab-
deckt. So wurde beispielsweise innerhalb der Dimension Technologie das Kriterium Intra-
logistik mit der Frage „Inwieweit laufen die internen Transportprozesse automatisiert oder
autonom ab?“ bewertet. Die möglichen Antworten wurden in vier Stufen definiert und
lieferten Informationen über den digitalen Reifegrad. Im Falle dieser Frage waren die
Ebenen: manuell, teilautomatisiert, automatisiert und autonom. Zunächst prüft das Unter-
nehmen, ob das jeweilige Kriterium für den betrachteten Use Case relevant ist. Bei be-
stehender Relevanz beantworten die Unternehmensvertreter die Frage und bewerten so
den Grad der digitalen Reife für die Komponente. Schließlich kann hierbei ein Netzdia-
gramm erstellt werden, das den Reifegrad des Unternehmens in den verschiedenen Kom-
ponenten visualisiert und das Ergebnis der ersten Phase widerspiegelt (siehe Abb. 14.10).

Bewertung der Use Case-spezifischen Risiken


Resultierend aus einer Recherche zu den Merkmalen der Risikobewertung und Kenn-
zahlenerhebung haben sich die Schadenshöhe sowie die Eintrittswahrscheinlichkeit als
etablierte Bewertungsdimensionen herausgestellt.

Für die Bewertung der Schadenshöhe wurden Kriterien für die jeweiligen Komponen-
ten der Dimensionen ermittelt und in Form eines Bewertungsbogens konsolidiert. So wird
die Auswirkung eines Risikos in der Komponente „IT-Systeme“ u. a. durch die Kriterien
Verschlechterung der Systemstabilität, Auftreten von unbefugten Systemzugriffen sowie
steigende Anzahl von Datenverlusten/-fehlern ermittelt. Die Bewertung folgt beispiels-
weise der Frage „Wie wirkt sich das Risiko auf die Systemstabilität aus, wenn es auftritt?“
Die Bewertungsskala umfasst vier Stufen. Sie trifft Aussagen über den Schaden, den das
Unternehmen erleiden würde, sofern das Risiko innerhalb einer Komponente auftritt. Auf
der ersten Stufe sind nur einzelne Prozessschritte betroffen, die in ihrer Effizienz ein-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 397

Abb. 14.10  Ermittlung des digitalen Reifegrads im Kontext eines Use Cases. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)
398 J. S. Menzefricke et al.

geschränkt werden. Das Prozessergebnis ist in diesem Fall nicht betroffen. Die zweite
Stufe umfasst entstehende Schäden, die vollständige Prozesse beeinflussen und ein Ein-
greifen erfordern. Die dritte Stufe adressiert Auswirkungen, die gleichermaßen ver-
schiedene Prozesse betreffen und darüber hinaus zu einer erheblichen Beeinträchtigung
der P­ roduktionsaktivitäten führen. Stufe vier charakterisiert den größten Schaden. In die-
sem Falle werden durch das Risiko ganze Geschäftsaktivitäten stillgelegt und es erfordert
viel Aufwand, um diesen Schaden zu beheben.
Die Eintrittswahrscheinlichkeit setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen. Zum
einen aus einer individuellen Bewertung von Unternehmensvertretern bzgl. der Eintritts-
wahrscheinlichkeit und zum anderen aus der Passivsumme der Wechselwirkungen der zu-
gehörigen Risikotypen. Im Folgenden wird auf diese beiden Bestandteile eingegangen.
Die Unternehmensvertreter schätzen die Eintrittswahrscheinlichkeit der Risiken individu-
ell mithilfe von vier Aussagen ein, die durch eine Likert Skala bewertet werden. So kann
die Aussage „Es gibt bereits erste Anzeichen/Risikoursachen für das Eintreten des Risi-
kos“ mit stimme nicht zu, stimme eher nicht zu, stimme eher zu oder stimme zu be-
antwortet werden. Weiterhin wurden im Rahmen der Ermittlung der Eintrittswahrschein-
lichkeit 27 Risikotypen anhand einer Literaturrecherche ermittelt. Diesen Risikotypen
können die spezifisch identifizierten Risiken zugeordnet werden. So umfasst bspw. der
Risikotyp „Kompetenzmangel“ eine Vielzahl an identifizierten, spezifischen Risiken, wie
mangelnde IT-Fähigkeiten, mangelnde soziale Kompetenzen etc. Die Betrachtung all-
gemeingültiger Risikotypen erlaubt eine Analyse deren Wechselwirkungen. Im Speziellen
fließt die Passivsumme der Wechselwirkungen in die Ermittlung der Eintrittswahrschein-
lichkeit ein. Die Passivsumme beschreibt, wie stark ein Risikotyp, und somit das be-
trachtete Risiko, von den anderen Risikotypen beeinflusst wird. Wird ein Risikotyp stark
beeinflusst, wird von einer höheren Eintrittswahrscheinlichkeit ausgegangen (Schnasse
et al., 2021). Zur Ermittlung der Passivsumme wurde eine Einflussanalyse der Risikotypen
durchgeführt und bewertet, wie stark ein Risikotyp die anderen beeinflusst. Die dazu ver-
wendete Bewertungsskala umfasst 0 (kein Einfluss), 1 (bedingter Einfluss) und 2 (starker
Einfluss).
Das Ergebnis der zusammenfassenden Bewertung wird in Form eines Portfolios mit der
Eintrittswahrscheinlichkeit auf der x-Achse und der Schadenshöhe auf der y-Achse dar-
gestellt. Darüber hinaus können aus dieser Darstellung verschiedene Bedrohungslevel
innerhalb der soziotechnischen Komponenten (vgl. Abschn.  14.2.3) je Risiko ab-
gelesen werden.

Ermittlung von kritischen Komponenten für soziotechnische Risiken


Anschließend werden die bewerteten Risiken mit dem ermittelten Grad der digitalen Reife
des Unternehmens verglichen (siehe Abb. 14.11). Zu diesem Zweck wird die Bedrohungs-
stufe des Risikos pro Komponente auf das Netzdiagramm des Reifegrades übertragen,
sodass ein Risikoprofil entsteht. Durch einen Abgleich mit dem Reifegradprofil können
Unternehmen besonders kritische Komponenten identifizieren. In diesen Komponenten
weist das Risiko starke Auswirkungen im Sinne einer hohen Schadenshöhe bzw. eine hohe
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 399

Abb. 14.11  Transfer der Risikobewertung in das Netzdiagramm am Beispiel des Risikos Fehlende
Kompetenzen im Bereich Datenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)
400 J. S. Menzefricke et al.

Eintrittswahrscheinlichkeit auf. Zugleich besteht in diesen kritischen Komponenten ein


eher geringerer Digitaler Reifegrad. Die dadurch identifizierten kritischen Komponenten
dienen in der folgenden Phase als Bezugsobjekt für die Ermittlung von H
­ andlungsoptionen.

14.4.2.3 Ermittlung von Handlungsoptionen


Gegenstand der Risikosteuerung sind geeignete Handlungsoptionen zur Minderung und
Begrenzung spezifischer Risiken in konkreten Komponenten des soziotechnischen Sys-
tems. Die Ausgestaltung der Risikosteuerung erfolgt in drei Schritten: (1) Identifikation
kritischer Komponenten des soziotechnischen Systems (2) Ermittlung von Handlungs-
optionen und (3) Konsolidierung der Handlungsoptionen in Strategien. Nachfolgend wer-
den diese drei Schritte beschrieben.

Charakterisierung kritischer Komponenten des soziotechnischen Systems


Zunächst gilt es, die in den vorherigen Phasen gewonnenen Erkenntnisse je Risiko zu do-
kumentieren. Hierfür wird jedes Risiko in einem Risikosteckbrief zusammengefasst. Ein
exemplarischer Steckbrief für das Risiko Fehlende Kompetenzen im Bereich Daten-
management ist in Abb. 14.12 dargestellt.

Insgesamt enthält der Steckbrief fünf wesentliche Informationen. Jedes Risiko wird im
betrachteten Kontext beschrieben (1). Außerdem werden zuvor identifizierte Risiko-
ursachen (z.  B.  Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten) und -auswirkungen (z.  B.  Man-
gelndes Lernen aus Fehlern) dem betrachteten Risiko zugeordnet. Zentraler Aspekt des
Steckbriefs ist das Netzdiagramm sowie die Risikobewertung (vgl. Abschn. 14.4.2.2). Das
in der Risikobewertung entstehende Netzdiagramm beinhaltet den Digitalen Reifegrad
sowie das ermittelte Risikoprofil. Die dargestellte Bewertung der Schadenshöhe und Ein-

Abb. 14.12  Exemplarischer Risikosteckbrief des Risikos Fehlende Kompetenzen im Bereich


Datenmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 401

trittswahrscheinlichkeit zeigt eine Tendenz, ob innerhalb der Komponenten eher die Ein-
trittswahrscheinlichkeit oder die Schadenshöhe die ausschlaggebende Dimension für
einen hohen Bedrohungsgrad darstellt. Auf Basis der kritischen Komponenten, Ursachen
und Auswirkungen sowie der Tendenz der Risikobewertung können im nächsten Schritt
Handlungsoptionen ermittelt werden.

Erarbeitung von Handlungsoptionen


Zur Erarbeitung von Handlungsoptionen wird auf das Verfahren VITOSTRA (Verfahren
zur Entwicklung von intelligenter technologieorientierter Geschäftsstrategien), in an-
gepasster Form, zurückgegriffen (Bätzel & Gausemeier, 2004). Im Fokus des adaptierten
Verfahrens stehen die Identifikation von geeigneten Merkmalen und Ausprägungen, die
zur Risiko-gerechten Gestaltung von Komponenten des soziotechnischen Systems dienen.
Die Merkmale und Ausprägungen werden so gewählt, dass eine möglichst vollumfäng-
liche Beschreibung der betrachteten Komponente ermöglicht wird. Die im Beispiel als
kritisch identifizierte Komponente Qualifizierung in der Dimension Mensch wird unter
anderem mit dem Merkmal Durchführung der Qualifizierung beschrieben. Hier werden
die drei Ausprägungen „On the job“, „Along the job“ und „Off the job“ unterschieden.
Sobald eine Komponente vollumfänglich beschrieben wurde, werden mit Hilfe einer
Konsistenzanalyse Kombinationen von Ausprägungen gebildet, die in Summe eine Hand-
lungsoption darstellen (Gausemeier & Plass, 2014). Im Kontext der Risikosteuerung wer-
den die Handlungsoptionen nach den Prinzipien Risikovermeidung (reaktiv) und Risiko-
begrenzung (präventiv) unterschieden. Die konkrete Zuordnung, ob eine ­Handlungsoption
präventiv oder reaktiv vollzogen wird, wird durch die Risikobewertung des Risikos be-
stimmt. Besteht eine große Schadenshöhe bei gleichzeitig geringer Eintrittswahrschein-
lichkeit für das betrachtete Risiko, empfiehlt sich die reaktive Ausgestaltung von Hand-
lungsoptionen. Im Gegensatz dazu eignen sich präventiv ausgestaltete Handlungsoptionen
bei Risiken mit hoher Eintritts-wahrscheinlichkeit und gleichzeitig geringer Schadens-
höhe. Wie im Beispiel des Risikos „Fehlende Kompetenzen“ angedeutet, empfiehlt sich
für den Fall einer hohen Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe, ein integratives
Vorgehen mit reaktiv und präventiv ausgestalteten Handlungsoptionen. Das Ergebnis der
zweiten Phase sind geeignete Handlungsoptionen für die kritischen Komponenten der
soziotechnischen Dimensionen. Eine Handlungsoption umfasst konsistente Merkmale
und Ausprägungen. Sie beschreiben, wie eine Komponente des soziotechnischen Systems
ausgestaltet werden kann, um Risiken zu vermeiden bzw. zu begrenzen.

Konsolidierung der Handlungsoptionen


Die letzte Phase der Risikosteuerung umfasst die Konsolidierung der Handlungsoptionen
eines Risikos in Form einer Roadmap. Hierfür werden zunächst die notwendigen Hand-
lungsoptionen hinsichtlich ihrer Konsistenz geprüft. Anschließend werden sie bezüglich
der Charaktereigenschaft präventiv oder reaktiv kategorisiert und zeitlich verortet. Präven-
tive Maßnahmen sind langfristig zur Minderung der Eintrittswahrscheinlichkeit ausgelegt
und behandeln daher vorrangig Risikoursachen. Reaktive Handlungsoptionen werden hin-
gegen kurzfristig nach Eintritt des Risikos umgesetzt und dahingehend zur Behandlung
402 J. S. Menzefricke et al.

Abb. 14.13  Roadmap der Handlungsoptionen zur Risikobehandlung. (Quelle: Eigene Darstellung)

von Auswirkungen im Vorfeld geplant. Auf Basis dieser Roadmap können konkrete Maß-
nahmen erarbeitet werden, die die Ausgestaltung der Handlungsoptionen ermöglichen.
Abb. 14.13 zeigt einen Ausschnitt der Roadmap für das Risiko Fehlende Kompetenzen.
Dabei werden die Handlungsoptionen je soziotechnischer Dimension aufgeführt und an-
hand des zugehörigen Zeitstrahls hinsichtlich präventiver oder reaktiver Eigenschaft cha-
rakterisiert. Demnach sollte die Führungsseitige Initiierung der Weiterentwicklung
der Mitarbeiter kontinuierlich erfolgen, unabhängig davon, ob das Risiko eintritt. Agile
Projektteams für konkrete Arbeitsaufgaben können hingegen eher reaktiv als Maßnahme
dienen, um spontan auftretende Kompetenzlücken kurzfristig zu füllen. Zusätzlich kann
die Integration neuer IT-Systeme in eine homogene, bestehende Systemlandschaft dazu
dienen, die benötigten Kompetenzen zur Bedienung gering zu halten. Das Ergebnis der
Risikosteuerung sind zeitlich strukturierte Handlungsoptionen für die jeweiligen kriti-
schen Komponenten eines betrachteten Risikos.

Zusammenfassung

Die Digitale Transformation bietet vielfältige Nutzenpotenziale für die unternehmerische


Wertschöpfung. Das Heben dieser Potenziale erfordert jedoch weitreichende Verän­
derungen auf Seiten der Mitarbeiter, innerhalb der Organisation und den eingesetzten
Technologien von Unternehmen. Daraus resultierende Risiken müssen von Unternehmen
frühzeitig identifiziert, bewertet und angemessen behandelt werden. Die durch die sozio-
technischen Dimensionen bedingten Wechselwirkungen erschweren es Unternehmen, in
diesem Kontext klassische Risikomanagement-Ansätze anzuwenden. Aus diesem Grund
wurde zunächst ein Strukturierungsrahmen vorgestellt, der die relevanten Begriffe des
Risikomanagements und deren Zusammenhänge im soziotechnischen Kontext darstellt.
Auf Basis dessen wurden methodische Schritte erarbeitet, die die Identifikation, Be-
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 403

wertung und Ermittlung von Handlungsoptionen ermöglichen. Dabei fokussiert die Identi-
fikation das strukturierte Ermitteln von Veränderungen und das Ableiten von Ursachen,
Risiken und Auswirkungen. Die Bewertung berücksichtigt den digitalen Reifegrad eines
­Unternehmens, um in Kombination mit der Schadenshöhe und Eintrittswahrscheinlichkeit
gefährdete Komponenten des soziotechnischen Systems zu identifizieren. Für die Er-
mittlung der Handlungsoptionen zur Gestaltung der gefährdeten Komponenten wurde ein
Set von strategischen Variablen und Ausprägungen erarbeitet. Durch eine Konsistenz-
bewertung wurden schließlich Handlungsoptionen ermittelt, die zur Minimierung bzw.
Begrenzung von Risiken eingesetzt werden können.
Es wurde gezeigt, dass bestehende Ansätze des Risikomanagements den sozio-
technischen Charakter der digitalen Transformation und dessen Zusammenhänge nicht
ausreichend berücksichtigen. Der vorliegende Beitrag strukturiert daher Risiken, die im
Zuge der Einführung digitaler Lösungen auftreten können, mit Hilfe des soziotechnischen
Systemansatzes und liefert ein geeignetes Rahmenwerk zur Identifikation, Bewertung und
Steuerung von soziotechnischen Risiken. Dabei werden insbesondere die vorherrschenden
Wechselwirkungen und digitale Reifegrad eines Unternehmens mit ins Kalkül gezogen,
um die Risikoanfälligkeit innerhalb soziotechnischer Systemkomponenten zu identi-
fizieren. Das Vorgehen ermöglicht es Unternehmen, die Komplexität des Risiko-
management vor soziotechnischem Hintergrund zu verringern und zielgerichtet Maß-
nahmen für die Behandlung soziotechnischer Risiken zu ermitteln. Nichtsdestotrotz gilt
es, die Übertragbarkeit der Methode insbesondere vor dem Hintergrund der Digitalisie-
rung von Marktleistungen zu prüfen und gegebenenfalls anzupassen. Dazu sollte das Vor-
gehen anhand von weiteren Marktleistungs-bezogenen Use Cases evaluiert werden. Zu-
sätzlich gilt es, die Risikoüberwachung als detaillierte Phase in das Vorgehen zu integrieren.
Zukünftige Forschungsaktivitäten können aufzeigen, wie geeignete Überwachungs-
mechanismen aussehen können und welche Risikoindikatoren geeignete Messgrößen
darstellen.

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Jörn Steffen Menzefricke, M.Sc.,  studierte Wirtschaftsingenieur-


wesen mit dem Schwerpunkt Maschinenbau an der Universität
Paderborn. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Fach-
gruppe Advanced Systems Engineering im Team Strategische Pla-
nung des Heinz Nixdorf Instituts in Paderborn. Seine Forschungs-
schwerpunkte liegen in der Planung der digitalen Transformation von
Geschäftsmodellen, Marktleistungen und Leistungserstellungs-
prozessen. Zusätzlich ist er Teil des NRW-Forschungskollegs: Ge-
staltung von flexiblen Arbeitswelten – Menschenzentrierte Nutzung
von Cyber-Physical Systems in Industrie 4.0.

Stefan Gabriel, M.Sc.,  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der


Gruppe „Unternehmensgestaltung“ am Fraunhofer-Institut für Ent-
wurfstechnik Mechatronik (IEM) und leitet Indus­ trie- und
Forschungsprojekte im Themenfeld Arbeit 4.0. Hier befasst er sich
mit der systematischen Gestaltung der Arbeitswelt in produzierenden
Unternehmen im Kontext der Digitalen Transformation unter Be-
rücksichtigung der soziotechnischen Dimensionen Mensch, Organi-
sation und Technik. Ein Schwerpunkt stellt die soziotechnische Ein-
führung und Gestaltung von auf Künstlicher Intelligenz (KI)-basierten
Anwendungen in produzierenden Unternehmen dar.
406 J. S. Menzefricke et al.

Thomas Gundlach, Dipl.-Wjur. (FH),  ist gelernter Bankkaufmann


und studierte Wirtschaftsrecht mit der Fachrichtung Internationales
Privatrecht in Handel und Industrie an der Fachhochschule Bielefeld.
Im Konzernverbund der Bertelsmann AG arbeitete er als Project-
manager im Contract Management bei arvato Services Solutions und
verantwortete nach seiner dortigen Tätigkeit das Contract Manage-
ment bei Prinovis. Als Mitarbeiter der UNITY AG ist er verantwort-
lich für das Ressort Rechts- und Vorstandsangelegenheiten. Hier
arbeitete er zunächst als Assistent des Vorstands bei Dipl.-Wirt.-Ing.
Tomas Pfänder in verschiedenen Beratungsprojekten im Bereich der
strategischen Geschäftsmodell­entwicklung und war Teilprojektleiter
in verschiedenen Forschungsprojekten, die in Zusammenarbeit mit
dem Heinz-Nixdorf-Institut erfolgreich durchgeführt wurden.

Daniela Hobscheidt, M.Sc.,  studierte Wirtschaftsingenieurwesen


mit dem Schwerpunkt Maschinenbau an der Universität Paderborn.
Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Bereich
Produktentstehung am Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik
Mechatronik IEM. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt dabei in der stra-
tegischen Unternehmensgestaltung. Dort leitet und unterstützt sie
Forschungs- und ­Industrieprojekte.

Christian Kürpick, M.Sc.,  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Fraunhofer-Institut für Entwurfstechnik Mechatronik (IEM) in
Paderborn. In der Abteilung der strategischen Produkt- und Unter-
nehmensgestaltung bearbeitet er Forschungs- und Industrieprojekte
zur Digitalen Transformation im Mittelstand. Sein besonderer
Forschungsschwerpunkt liegt dabei auf den Themen Digitalisierungs-
strategie und Transformationsprozess. Er studierte Wirtschafts-
ingenieurwesen mit der Fachrichtung Maschinenbau an der Uni-
versität Paderborn.
14  Soziotechnisches Risikomanagement als Erfolgsfaktor für die Digitale Transformation 407

Felix Schnasse, M.Sc.,  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraun-


hofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML in der Abteilung
Supply Chain Development and Strategy. Seine fachlichen Schwer-
punkte liegen im Bereich der digitalen Transformation produzieren-
der Unternehmen sowie der Einführung von Industrie 4.0-Lösungen
und dem Supply Chain Management. Aktuelle Forschungsaktivitäten
umfassen das soziotechnische Risikomanagement bei der Einführung
von Industrie 4.0-­Lösungen sowie die Entwicklung eines Dienstes
zur Identifizierung von Ladungsträgern über dessen natürliche Merk-
male mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz.

Michél Scholtysik, M.Sc.,  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am


Heinz Nixdorf Institut der Universität Paderborn in der Fachgruppe
Advanced Systems Engineering im Team Strategische Planung.
Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Planung von nach-
haltigen Geschäftsmodellen und Wertschöpfungssystemen in der
Kreislaufwirtschaft.

Prof. Dr. Heiko Seif  studierte Ingenieurwesen am Karlsruher Insti-


tut für Technologie und promovierte über die Internationalisierung
osteuropäischer Unternehmen. Parallel zu seiner Promotion arbeitete
er als Berater bei Con Moto, bevor er als Manager zur BMW Group
wechselte und dort später die Technologieberatung CNX Consulting
ausgründete. Während dieser Zeit verantwortete er an der Ludwig-­
Maximilians-­Universität das TOP-BWL-Partner Programm der Jahr-
gangsbesten. Bei der UNITY AG arbeitete er als Senior Manager im
Kompetenzzentrum für Digitalisierung und Transformation in Indus-
trie- und Forschungsprojekten in enger Zusammenarbeit mit dem
Henz-­Nixdorf-­Institut. Heiko Seif ist Professor an der Munich Busi-
ness School und Leiter des AlphaBuild Institutes für Company
Building.

Christian Koldewey, Dr.-Ing.,  studierte Maschinenbau an der Uni-


versität Paderborn sowie an der Universität Bielefeld mit dem Fokus
Fertigungstechnik. Seit 2015 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Heinz Nixdorf Institut der Universität Paderborn. Dort leitet er den
Forschungsbereich Strategische Planung am Lehrstuhl für Advanced
Systems Engineering von Professor Dumitrescu. Seine Forschungs-
aktivitäten fokussieren die Bereiche Innovationsmanagement und
Strategieentwicklung für digitale Services sowie die Geschäfts-
modellentwicklung.
408 J. S. Menzefricke et al.

Prof. Dr.-Ing. Roman Dumitrescu  ist Direktor am Fraunhofer-­


Institut für Entwurfstechnik Mechatronik IEM und Leiter des Fach-
gebiets „Advanced Systems Engineering“ an der Universität Pader-
born. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Produktentstehung
intelligenter technischer Systeme. In Personalunion ist Prof. Dumit-
rescu Geschäftsführer des Technologienetzwerks Intelligente Techni-
sche Systeme OstWestfalenLippe (it’s OWL). Er ist unter anderem
Mitglied im Expertenkreis des Innovationsdialogs der Bundes-
regierung, im Forschungsbeirat der Forschungsvereinigung 3-D MID
e.  V., im Lenkungskreis der Initiative Wirtschaft & Arbeit 4.0 der
NRW-­ Landesregierung sowie im Verwaltungsrat des RKW
­Kompetenzzentrums.
Human Resources – Treiber und Enabler der
digitalen Transformation 15
Ralf T. Kreutzer

Zusammenfassung

Die Relevanz der Human Resources für das digitale Zeitalter kann nicht überschätzt
werden. Denn was sind die zentralen unternehmerischen Erfolgstreiber? Meist
stellt sich der Erfolg in dieser folgenden Reihenfolge ein: People, Process, Product,
Profit! Auch im digitalen Zeitalter sind es vor allem die Menschen, die erforderliche
Transformationsprozesse voranbringen  – oder auch boykottieren. Es sind nicht die
Technologien, die zu Wettbewerbsvorteilen führen, sondern die Menschen, die durch
einen intelligenten Einsatz aus Technologien eine Überlegenheit im Markt entwickeln.
Hier zeichnet sich eine bedeutende Erkenntnis ab: Das Management der Human Re-
sources stellt einen zentralen Erfolgsfaktor der digitalen Transformation dar.

Schlüsselwörter

Digitale Transformation · HR · Personalwesen · Treiber · Enabler

15.1 Relevanz der Human Resources für das digitale Zeitalter

Welches sind die zentralen unternehmerischen Erfolgstreiber? Meist stellt sich der Er-
folg in dieser folgenden Reihenfolge ein:

R. T. Kreutzer (*)
HWR, Berlin, Deutschland

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 409


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_15
410 R. T. Kreutzer

cc People, Process, Product, Profit!

Auch im digitalen Zeitalter sind es vor allem die Menschen, die erforderliche Trans-
formationsprozesse voranbringen  – oder auch boykottieren. Es sind nicht die Techno-
logien, die zu Wettbewerbsvorteilen führen, sondern die Menschen, die durch einen intel-
ligenten Einsatz aus Technologien eine Überlegenheit im Markt entwickeln. Hier zeichnet
sich eine bedeutende Erkenntnis ab: Das Management der Human Resources stellt
einen zentralen Erfolgsfaktor der digitalen Transformation dar.
Diese herausragende Position des HR-Managements wird unterstrichen durch eine Stu-
die, die die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirt-
schaft und Organisation IAO unter Beteiligung der Otto Group erstellt hat. Das Ziel der
Studie bestand darin, die wichtigsten Erfolgsfaktoren der digitalen Transformation
herauszuarbeiten (vgl. Bertelsmann Stiftung, 2020, S. 83). Im Rahmen dieser Studie wur-
den Führungskräfte aus 15 Unternehmen unterschiedlicher Größe und Branche befragt.
Die Bandbreite reichte von IT- und Software-Unternehmen über Banken und Ver-
sicherungen bis zu Baufirmen und Produzenten von Druckfarben. Die Erhebung erfolgte
durch ein Methodenmix aus qualitativen Face-to-Face-Interviews und einem quantitati-
ven, online-­basierten Assessment Center. Im Mittelpunkt stand die Frage: Was beeinflusst
den Erfolg der digitalen Transformation?
Ein wichtiges Ergebnis war, dass vor allem die folgenden menschlichen Faktoren
Voraussetzungen für eine erfolgreiche digitale Transformation sind (vgl. Bertelsmann
Stiftung, 2020, S. 8 f.):

• Hohe Probierfreudigkeit
• Eine umfassende Innovationskultur
• Eine offene Kommunikation
• Eine große Veränderungsbereitschaft auf der Führungsebene

Diese Erkenntnisse gelten unabhängig von der Größe eines Unternehmens, seiner Branchen-
zugehörigkeit sowie den jeweils betreuten Geschäftsfeldern. Bei der Untersuchung wurde
auch deutlich, dass eine technische Umstellung auf digitale Anwendungen und Arbeits-
mittel nur den Anfang eines Veränderungsprozesses markieren kann.
Da eine digitale Transformation das Unternehmen als Ganzes erfasst und durchdringt,
ist es nach Einschätzung der Befragten entscheidend, dass Vertreter des Top-­
Managements die Veränderungen annehmen, vorleben und transparent kommunizieren.
Dem Middle-Management kommt hierbei eine besonders wichtige Vermittler-Rolle zu,
um die vom Top-Management definierte Richtung im Führungsalltag voranzubringen. In
Summe gilt es jedoch, das Know-how und die Flexibilität aller Mitarbeiter zu mobili-
sieren, um gemeinsam innovative Lösungen zu entwickeln. Durch eine Öffnung nach
außen, bspw. durch Kooperationen mit Start-ups oder wissenschaftlichen Einrichtungen,
können wertvolle Impulse aus dem externen Umfeld gewonnen werden (vgl. Bertelsmann
Stiftung, 2020, S. 8 f.).
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 411

Wird im Rahmen des Transformationsprozesses – wie häufig der Fall – eine größere
Eigenverantwortung der Mitarbeiter gefordert, bedingt dies auch vielfach ein neues
Führungsverständnis sowie eine ausgeprägte Fehlerkultur. Beim Einsatz flexibler
Organisationsformen, die klassische Hierarchien ablösen, wird die Führungskraft als
Moderator und Enabler gefordert. Ein solcher Prozess muss durch eine umfassendes
­Qualifizierungsoffensive unterstützt werden. Viele diese Faktoren werden nachfolgend
vertiefend analysiert und Handlungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Hier wird eines sehr deutlich: Im Zentrum des Wettbewerbs zwischen etablierten
Unternehmen und neuen Wettbewerbern (vielfach Start-ups) steht oft nicht (allein) die
bessere Idee oder die leistungsstärken Prozesse und Methoden. Es kommt vielmehr auf
gut ausgebildete, engagierte und kreative Mitarbeiter und Führungskräfte an! Und
das ist die Kernaufgabe des HR-Managements.

15.2 Besondere Herausforderungen für das HR-Management

In Abb. 15.1 sind die zentralen Herausforderungen für das HR-Management zusammen-


geführt, die durch die vielfältigen, bereits beschriebenen Veränderungen notwendig werden
(vgl. Jäger, 2020, S.  25). Hier stehen vor allem solche Maßnahmen im Mittelpunkt, die
durch eine Weiterentwicklung der Organisations- und IT-Architektur hervorgerufen wer-
den. Die dort eingeleiteten bzw. absehbaren Schritte sind durch die Personalentwicklung
zu unterstützten. Hier wird einmal mehr deutlich, wie intensiv die einzelnen Fachbereiche
zur Bewältigung der digitalen Transformation zusammenarbeiten müssen.

Bereich Arbeitsplatz der Vergangenheit Arbeitsplatz der Zukunft

• Hierarchisch Optimiert für • Vernetzt Optimiert


• Klare Kommuni- Steuerung, • Projektorientiert für
Organisation kations- Kontrolle und Projekt- Projekt- Projekt- Innova-
strukturen Koordination team team team tionen

• Plan- Optimiert • Geschwindigkeits- Optimiert für


orientiert für orientiert Kreativität
Teams • Homogen Qualität • Agil und
• Langfristig • Heterogen Geschwindigkeit

• Karriere- Eher • Hedonistisch/ Eher


orientiert extrinsisch ungeduldig intrinsisch
Individuen • Loyal motiviert • Individualistisch motiviert
• Geduldig • Wechselfreudig

• Back-end- • (Zusätzlich)
Optimiert für Optimiert
dominiert Front-end-
optimale für
Anwendungen • Ein Endgerät
Prozess-
orientiert
Akzeptanz/
• Integrations- • Modular/wählbar
unterstützung • Einfach „Enabling“
orientiert
• Passend zu Optimiert • Jedwede Optimiert
den Anwen- für Effizienz Endgeräte für Flexibilität,
Infrastruktur dungen und • Plattform- Ubiquität und
• Standardisiert Sicherheit orientiert Agilität
Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer • Vereinfacht • Varianten-Vielfalt Seite 2

Abb. 15.1  Flankierung der Veränderungen von Organisations- und IT-Architektur durch die
Personalentwicklung. (Quelle: Eigene Darstellung)
412 R. T. Kreutzer

Purpose/Vision

„Walk the Talk!“


Incentierungs-
Systeme

Führungskräfte-
Flywheel der Entwicklung
Überwindung Arbeitskultur (digitale Trainings-
eigener
Agenda)
Komfortzonen

Performance und Mitarbeiter-


Innovation Engine Qualifizierung
IT-Systeme (digitale Trainings-
und Prozesse Agenda)

Abb. 15.2  Flywheel der Arbeitskultur. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Unternehmen sind aufgerufen, die nachfolgend beschriebenen Maßnahmen inte­


griert umzusetzen, um ein Flywheel der Arbeitskultur zu erstellen. Die in Abb. 15.2 zu
sehenden Maßnahmen können diesem Schwungrad immer wieder neue Energie zuführen
und andere zum Mitmachen motivieren. Idealerweise ergibt sich hier im Unternehmen
gleichsam ein Perpetuum mobile.
Warum muss es gelingen, möglichst viele Parteien an der Weiterentwicklung der
Arbeitskultur zu beteiligen? Peter Drucker hat es treffend formuliert:
Culture eats strategy for breakfast!
Wenn die Unternehmenskultur weiterentwickelt werden soll, sind möglichst viele in
diesen Prozess einzubeziehen – idealerweise als Promotoren und nicht als Bremser. Das
Top-Management allein kann diese Kulturwandel nicht erfolgreich meistern. Deshalb sind
möglichst viele Einheiten in diesen Prozess zu integrieren. Eine Auswahl der der Abb. 15.2
gezeigten Aktionsbereiche wird nachfolgend diskutiert (vgl. weiterführend Kreut-
zer, 2021).

15.3 Orientierungsrahmen des HR-Managements

Wie in Abb. 15.1gezeigt, bringt der Prozess der Digitalisierung eines Unternehmens be-
deutsame Anforderungen an das Human-Resource-Management mit sich. Es gilt zu er-
mitteln, wie Individuum, Gruppe und Organisation auf die zu bewältigenden Aufgaben-
stellungen hin auszurichten sind (vgl. Abb  15.4; vertiefend Rosenstiel & Nerdinger,
2011, S. 14)
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 413

Zwischen Aufgabe, Individuum, Gruppe und Organisation kommt es klassisch zu


Spannungsverhältnissen, die von den Führungskräften und Mitarbeitern zu gestalten und
zu moderieren sind. Die vier Themenbereiche Aufgabe, Individuum, Gruppe und Organi-
sation können hierbei nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Durch Trainings-
maßnahmen der Leistungsträger, durch die Aufbau- und Ablauforganisation sowie
vor allem durch Führung und Kommunikation ist dafür Sorge zu tragen, dass Indivi-
duen, Gruppen und die gesamte Organisation möglichst friktionsarm und zielorientiert
zusammenarbeiten, um die definierten Aufgaben zu meistern (vgl. Rosenstiel & Nerdinger
2011, S. 12–16; weiterführend Nerdinger et al., 2014, S. 30–45).
Die durch die Digitalisierung der Unternehmensumwelt verursachten Veränderungs-
prozesse führen zu neuen Aufgaben und haben Auswirkungen auf alle in Abb. 15.3 ge-
zeigten Bereiche. Diese gehen mit Veränderungen auf der Ebene der Individuen (hier
konkret der Mitarbeiter und Führungskräfte), der Gruppe (etwa in Projektteams, Ab-
teilungen) sowie der Organisation (hier der Unternehmen) einher. Besonders wichtige
Handlungsfelder werden im Folgenden thematisiert.
Eine Kernaufgabe der Personalentwicklung ist es heute, das eigene Personal in sei-
ner beruflichen Weiterentwicklung kontinuierlich zu unterstützen. Nur dann sind diese den
Herausforderungen der VUCA-Welt gewachsen. Der Begriff VUCA steht für:

• Volatility,
• Uncertainty,
• Complexity und
• Ambiguity.

Person

Relevante Organisation
Schnittmenge

Aufgabe

Gruppe

Abb. 15.3  Verschmelzen von Aufgabe, Individuum, Gruppe und Organisation. (Quelle: Eigene
Darstellung)
414 R. T. Kreutzer

Mit diesen Begriffen lassen sich die Herausforderungen der Zukunft treffend beschreibt
(vgl. Kreutzer, 2021, S.  25–32). Diese Entwicklungen verändern auch die unter-
nehmerischen Kompetenzziele und damit auch die erforderlichen Kompetenzprofile von
Mitarbeitern und Führungskräften laufend.
Allerdings ist im digitalen Zeitalter festzustellen, dass angesichts dieser Heraus-
forderungen eine sehr langfristig angelegte Personalentwicklung und -planung wie in der
Vergangenheit immer weniger trägt. Deshalb bedarf es auch einer agileren Personalent-
wicklung, damit sich ein Unternehmen kontinuierlich auf die sich neu stellenden Auf-
gaben ausrichten kann.
Trotz der geforderten Agilität bleibt es eine wichtige Aufgabe der HR-Abteilung bzw.
des CHRO (Chief Human Resources Officer), bei der Kompetenzentwicklung im Unter-
nehmen für eine Struktur der Qualifizierung zu sorgen, damit die notwendige
Kompetenzentwicklung koordiniert geschieht und einzelne Maßnahmen aufeinander auf-
bauen. Hierfür kann es auch zielführend sein, sich unternehmensweit bspw. einen be-
stimmten Methoden-Baukasten anzulegen, der bereichsübergreifend eingesetzt wird.
In vielen Unternehmen ist der Veränderungsdruck und folglich auch der Lernbedarf so
groß und zeitkritisch, dass ein zentrales Management der Personalentwicklung den
Anforderungen nicht immer gerecht werden kann. Folglich kann es vor allem bei größeren
Unternehmen notwendig werden, dass PE-Verantwortliche in den verschiedenen Unter-
nehmensbereichen installiert werden. Ihnen kommt als Lern-Coach und Lern-Berater
die Aufgabe zu, Mitarbeiter und Führungskräfte ganz nah und kontinuierliche bei ihren
Qualifizierungsmaßnahmen zu unterstützen. Dies kann auf Bereichs-, Abteilungs- oder
auf Teamebene erfolgen. Diese Lern-Coachs und Lern-Berater können vor allem auch
individuelle Qualifizierungsmaßnahmen entwickeln.
Die Personalentwicklung wird zu einem Dienstleister für Kompetenzentwicklung –
für Führungskräfte und Mitarbeiter gleichermaßen (vgl. Kudernatsch, 2019). Parallel
hierzu kommt auch den Führungskräften eine wichtige Aufgabe zu. Es ist und bleibt –
allerdings noch stärker als bisher – ihre nicht-delegierbare Verantwortung, die ihnen an-
vertrauten Mitarbeiter systematisch beim Entwickeln und beim Ausbau der jeweiligen
Kompetenz zu fördern und zu begleiten.
Welche Dynamik der Kompetenzentwicklung in den nächsten Jahren zu bewältigen
ist, verdeutlichen die nachfolgend beschriebenen Entwicklungen:

• Hunderttausende von Mitarbeitern üben heute Funktionen aus, die es vor 20 Jahren
noch nicht gab: 3-D-Artists, App-Entwickler, Big Data Analyst, CDO (Chief Digital
Officer), Cloud-Architekt, Cloud-Service-Manager, Community-Manager, Content-­
Manager, Data-Scientist, Feelgood-Manager, KI-Programmierer, Mobile Developer,
Scrum-Master, SEO-Spezialist (SEO bedeutet Search Engine Optimization), Social-­
Media-­Manager, VEO-Spezialist (VEO bedeutet Voice Engine Optimization), UX-­
Designer (UX steht für User-Experience) etc.
• Entsprechend werden ca. 70 % der heutigen Schüler in Berufen arbeiten, die es zurzeit
noch gar nicht gibt.
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 415

• Mitarbeiter und Führungskräfte werden in zehn Jahren mit Technologien arbeiten, die
heute noch nicht operativ einsetzbar sind.
• Die Teams werden teilweise Probleme lösen müssen, die man bisher noch nicht kennt.

Eines wird an diesen Ausführungen deutlich: Die Halbwertzeit von Wissen wird
immer kürzer!
Schon heute versuchen viele Unternehmen händeringend, entsprechend qualifiziertes
Personal am Markt zu finden, weil die unternehmensinterne Entwicklung solcher Fähig-
keiten in der Vergangenheit nicht oder nicht ausreichend gefördert wurde. Deshalb ist es
eine Kernaufgabe der Personalentwicklung, die in Abb.  15.4 gezeigte strategische
Qualifizierungslücke in eigenen Unternehmen zu ermitteln – und zu schließen.
Durch die Erarbeitung einer (digitalen) Lehr- und Lern-Agenda gilt es, das Quali-
fying zur Schließung der strategischen Qualifizierungslücke systematisch und regelmäßig
durch ein Re-Qualifying zu ergänzen. Hierfür sind Angebote für ein Re-Skilling (vor-
handene Fähigkeiten auffrischen) und ein Up-Skilling (weiterführende Fähigkeiten er-
werben) zu entwickeln.
Parallel hierzu besteht die Herausforderung für alle Mitarbeiter und Führungs-
kräfte darin, sich gleichsam selbst für die weitere Qualifizierung zu empowern. „Lifelong
Learning“ galt schon lange als Leitidee, aber noch nie war sie so wichtig wie heute! Bil-
dung und Ausbildung in den Industrienationen und in jedem Unternehmen bedarf einer
strategischen Neuausrichtung und Weiterentwicklung, um den Anforderungen gerecht zu
werden, die mit dem digitalen Wandel verbunden sind.
Unverzichtbar ist, dass jeder einzelne im Unternehmen die Verantwortung für die
Weiterqualifizierung nicht an die Personalabteilung delegiert. Es ist und bleibt auch eine

Re-Qualifying
Qualifying (Re-Skilling/Up-Skilling)

Berufliche Master-
Kinder- Studium/
Aus-
garten/
Vor-
Schule bildung/
Bachelor-
Meister-
Ab-
Berufstätigkeit
schule schluss
Studium

Lebensalter:
Bis 6–7 Jahre Bis 16–18 Jahre Bis ca. 20–22 Jahre Bis ca. 24 Jahre Bis 67 Jahre oder länger

Strategische Qualifizierungslücke

Abb. 15.4  Strategische Qualifizierungslücke. (Quelle: Eigene Darstellung)


416 R. T. Kreutzer

Kernaufgabe jedes einzelnen Mitarbeiters und jeder Führungskraft, seine Arbeits-


kraft durch ein lebenslanges Lernen immer wieder aufzufrischen. Die große Heraus-
forderung für jeden Einzelnen lautet Employability. Hierfür ist es wichtig, dass niemand
nur darauf wartet, dass das Unternehmen etwas für ihn tut!
Deshalb ist heute die Eigeninitiative jedes einzelnen Mitarbeiters und jeder
Führungskraft zur Schließung der strategischen Qualifizierungslücke gefordert,
wenn der eigene Arbeitgeber die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat oder nicht angemessen
handelt.

15.4 Handlungsfelder des HR-Management

15.4.1 Erarbeitung einer digitalen Lernagenda

Um das geforderte Lifelong Learning zu unterstützen, ist es eine kontinuierliche Aufgabe


der HR-Abteilung, die Notwendigkeit hierzu immer wieder zu thematisieren und auch
entsprechende Vorschläge zur inhaltlichen Ausgestaltung zu machen. Dazu ist eine (digi-
tale) Lernagenda für das Gesamtunternehmen, die einzelnen Funktionsbereiche sowie
für Führungskräfte und Mitarbeiter zu entwickeln. Für die Teilnahme an Qualifizierungs-­
Maßnahmen ist zumindest auch teilweise die erforderliche Zeit einzuräumen. Zusätzlich
können Anreize gegeben werden, wenn sich Personen (ggf. auch in ihrer Freizeit) für ihre
berufsrelevante Weiterbildung engagieren.
Wie sieht es mit der Bereitschaft zum lebenslangen Lernen in Deutschland im inter-
nationalen Vergleich aus? Spannende Ergebnisse hierfür liefert die internationale Arbeits-
marktstudie Decoding Global Trends in Upskilling and Reskilling. Diese wurde ge-
meinsam von der Online-Jobplattform StepStone, der Boston Consulting Group (BCG)
und dem globalen Jobbörsen-Netzwerk The Network durchgeführt. Insgesamt wurden
366.000 Menschen aus 197 Nationen befragt, davon mehr als 17.000 aus Deutschland
(vgl. BCG, 2019, S. 2).
Nach dieser Studie gehen weltweit 61  % der Befragten davon aus, dass die Mega-
trends ihren Beruf nachhaltig beeinflussen werden. In Deutschland sehen das allerdings
nur 55  % beim technologischen Wandel (Automation, Künstliche Intelligenz, Roboter)
und 50 % bei der Globalisierung so. Die Studie gruppierte die Länder in Abhängigkeit von
den wahrgenommenen Auswirkungen der Megatrends und dem Zeitaufwand für die
eigene weitere Qualifikation. Durch diese Ländersegmentierung wurden vier Cluster
gebildet (vgl. BCG, 2019, S. 3–5; vgl. Abb. 15.5).
Bei den in Abb. 15.5 ausgewiesenen Ländern handelt es sich um die 30 größten Länder
der Studie – gemessen entweder an der Bevölkerungszahl oder am Bruttoinlandsprodukt.
Zusätzlich wurden die fünf oberen und unteren Ausreißer in die Darstellung einbezogen.
Die eingezeichneten Gitternetzlinien zeigen den globalen Durchschnitt an. Ein „signi-
fikanter Zeitaufwand für das Lernen“ wird definiert als „einige wenige Wochen im Jahr
und mehr“. Die Skala selbst reicht von „keiner Zeit“ bis „einige Monate im Jahr“. Die
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 417

Abb. 15.5  Klassifizierung von Ländern nach „Auswirkungen der Megatrends“ und „Zeitaufwand
für die eigene Qualifikation“. (Quelle: Eigene Darstellung)

„wahrgenommene Auswirkung“ zeigt den Anteil an den Befragten, die der Meinung
sind, dass technologische Veränderungen und/oder die Globalisierung einen starken Ein-
fluss auf ihre berufliche Situation haben (vgl. BCG, 2019, S. 5).

• Intrinsisch Lernende
Die intrinsisch Lernenden engagieren sich selbständig in der Weiterbildung, obwohl sie
nur geringe Effekte der beschriebenen Trends erwarten. Diese Einstellung findet sich
bspw. in China und Russland.
• Proaktive Veränderer
Die proaktiven Veränderer investieren viel Zeit in Weiterbildung, weil sie auch große
Auswirkungen der Trends auf ihr eigenes Berufsleben erwarten. Zu diesen Gruppen
gehören Länder wie Brasilien, Japan und die Türkei.
• Zuschauer
Die Zuschauer investieren momentan wenig in Weiterbildung, weil sie nur geringe
Ausstrahlungen auf ihr Arbeitsumfeld erwarten. In Belgien, Frankreich und Öster-
reich verbringen weniger als 43 % der Menschen jedes Jahr signifikante Zeit mit Ler-
nen. Andere Länder im „Zuschauer-Status“ sind die Schweiz, Großbritannien,
Schweden, Kanada und die USA.
• Zögernde
Die Zögernden erwarten große Effekte von Globalisierung und Automatisierung, be-
reiten sich darauf aber kaum vor. Viele der hier anzutreffenden Länder stammen aus
Westeuropa. Eine besonders alarmierende Position nimmt Deutschland ein. In Deutsch-
land werden größere Auswirkungen erwartet. Gleichzeitig wird aber nur sehr wenig
418 R. T. Kreutzer

Zeit in die weitere Qualifikation investiert. Deutschland ist der Gruppe der 30 größten
Ländern mit einem Wert von 38 % das Land mit dem geringsten Anteil an Personen, die
pro Jahr einige Wochen oder mehr für ihre Ausbildung aufwenden.

Eine relativ große Einigkeit findet sich bei der Frage, welche Kompetenzen bei einer zu-
nehmenden Globalisierung und der Nutzung neuer Technologien verlangt werden. Hierzu
zählt bei Fachkräften vor allem eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit. Nach Ein-
schätzung der Deutschen sind ergänzend auch Problemlösungsfähigkeiten, Führungs-
kompetenz und analytische Fähigkeiten für den zukünftigen Berufserfolg entscheidend
sein (vgl. BCG, 2019, S. 7 f.).
Eines wird durch die Studie sichtbar: Die Bereitschaft zum Re- und Up-Skilling
muss – gerade in Deutschland – von Unternehmen und Politik massiv gefördert wer-
den. Allerdings ist m. E. auch von jedem Mitarbeiter und jeder Führungskraft eine hö-
here Bereitschaft zu erwarten, sich auf die Reise zu weiteren Qualifikationen
zu machen.
Zur Absicherung der Qualifizierungs-Offensive sollte jedes Unternehmen eine (digi-
tale) Trainings-Agenda entwickeln. Eine solche Agenda ist abteilungs-, vor allem aber
mitarbeiterbezogen zu entwickeln. Um das „richtige“ Weiterbildungs-Portfolio zu er-
stellen, hilft eine Abfrage der Interessens-Schwerpunkte von Führungskräften und Mit-
arbeitern. Um bei Vorlage einer Liste mit möglichen Qualifizierungsmaßnahmen eine
Lotto-­Mentalität zu vermeiden, bei der nach Zufall alles Mögliche angekreuzt wird, hat
sich folgendes Vorgehen bewährt.
Bei der Abfrage der Schwerpunkte für die Qualifizierung sind gleichzeitig auch die
jeweiligen Prioritäten A, B und C zu erheben. So werden die Befragten motiviert, rele-
vante Schwerpunkte zu setzen. Ggf. kann auch ein individueller Budgetrahmen vor-
geben werden, der bestmöglich auszuschöpfen ist. Bisher erstellen nur wenige Un­
ternehmen einen persönlichen Qualifizierungspass. Hierbei erhält jeder im
Unternehmen  – ggf. abhängig vom Verantwortungsbereich und der Hierarchie-Ebene  –
eine bestimmte Anzahl von Qualifizierungspunkten, die pro Jahr für Weiterbildung in-
vestiert werden kann – und soll. Ein Beispiel für einen solchen Qualifizierungspass zeigt
Abb. 15.6. In diesen Qualifizierungspass können perspektivisch auch die zu erreichenden
Qualifikations-Levels aufgenommen werden.
Im Zeitablauf kann anhand des persönlichen Qualifizierungspasses feststellt werden,
welche Führungskräfte und Mitarbeiter bereit sind, kontinuierlich in die eigene Weiter-
bildung zu investieren. Diese Erkenntnisse können auch in die Lohn- und Gehalts-
gespräche sowie in Überlegungen zur Promotion von Teammitgliedern einfließen.
Die Anforderungen an die Personalentwicklung werden sich immer weiter verändern.
Deshalb sind die HR-Verantwortlichen aufgerufen, informatorisch an der vordersten
Front der Entwicklungen aktiv zu sein. Nur so wird es gelingen, frühzeitig die not-
wendigen Ableitungen für den unternehmenseigenen Kompetenzaufbau vor-
zunehmen.
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 419

Persönlicher Qualifizierungspass
Maxi Mustermann (Punktebudget für 2021: 100 Punkte)

Führungskräfte-Training (50 Punkte)


Konzepte und Methoden des Change-Managements (30 Punkte)
Digitale Geschäftsmodelle (20 Punkte)
Agiles Management (25 Punkte)
Digitales Controlling (20 Punkte)
Resilienz-Training (20 Punkte)
Online-Marketing-Essentials (15 Punkte)
Social-Media-Marketing-Essentials (15 Punkte)
Medien-Kompetenz (15 Punkte)

Abb. 15.6  Persönlicher Qualifizierungspass. (Quelle: Eigene Darstellung)

15.4.2 Analyse der Qualifikationsprofile der Mitarbeiter


und Führungskräfte

Für jede Führungskraft und insb. für den HR-Bereich stellt sich die Frage, welche Quali-
fikationsprofile durch neue Mitarbeiter für das Unternehmen gewonnen werden sollen.
Zusätzlich ist bei jeder Beförderung und auch bei der Zusammensetzung von Teams zu
prüfen, welche Verhaltensmuster die verfügbaren Kandidaten aufweisen sollten, um die
gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Hierbei spielt natürlich zunächst die fachliche Kom-
petenz eine wichtige Rolle – aber nicht allein! Zusätzlich sollten die Teams – aufgaben-
abhängig  – auch eine gewisse Diversität hinsichtlich persönlicher Kompetenzen auf-
weisen. Um zu erkennen, über welche Ausprägungen die jeweiligen Kandidaten verfügen,
können verschiedene Konzepte eingesetzt werden.
Eine Methode ist die Verhaltens-Präferenz-Analyse (VPA, Behavioural Preference
Analysis). Sie basiert auf vielfältigen Erkenntnissen der Verhaltensforschung. Die der
VPA zugrundeliegenden drei Basistypen (Rot, Grün, Blau) können in unterschiedlicher
Ausprägung auftreten (vgl. vertiefend MCG, 2021). Die Orientierung an diesen Farb-
sektoren liefert ein Ordnungssystem. In diesem werden die typischen Verhaltensweisen
eines Menschen, seine individuellen Eigenarten und wichtige Aspekte seiner Persönlich-
keit unter einer Farbe zusammenführt (vgl. auch Kreutzer, 2021, S. 378–392).

• Der Rote
Der Rote ist in der reinen Ausprägung der ungeduldige und spontane Macher. Er will
in hohem Maße die Richtung bestimmen, entscheidet spontan und will schnell Ergeb-
420 R. T. Kreutzer

nisse sehen. Dafür ist er auch in höherem Maße als andere bereit, Risiken zu einzu-
gehen. In der negativen Ausprägung ist er der Dampfplauderer, der immer – auch ar-
gumentativ  – voranmarschiert und andere dominieren kann. Hierbei wird der Rote
darauf achten, spannend, mit intensiver Gestik und überzeugender Dramaturgie zu
kommunizieren, um sich selbst immer wieder ins Rampenlicht zu stellen. Er kippt aber
auch gerne Entscheidungen, wenn andere Informationen vorliegen, die jetzt relevant
sind. Ein tiefes Aktenstudium ist seine Sache nicht! Lieber ist er schon auf der Suche
nach der nächsten Herausforderung, dem nächsten Kick!
Durch diese Verhaltensmuster wird der Rote oft zum Spielmacher. Mit seinem Stre-
ben nach Dominanz, Macht und Einfluss geht er gerne voran und zeigt hierdurch
Führungsstärke, Entscheidungsfreude und Risikobereitschaft. Hierbei sind ihm
Aufgaben und Ergebnisse oft wichtiger als die Menschen und Beziehungen, mit denen
er sich umgibt. Rote reden nicht gerne um den „heißen Brei“ herum, sondern packen
auch heiße Eisen direkt an – um schnell eine Lösung zu erreichen. Ihr Verhalten ist
vielfach sehr konsequent und direkt. Sie leben im „Jetzt und Gleich“.
• Der Grüne
Der Grüne lebt im Gegensatz zum Roten stärker in der Vergangenheit. Er legt sehr viel
mehr Wert auf gute persönliche Beziehungen. Er ist sehr hilfsbereit und nimmt gerne
Rat und Empfehlungen von anderen an. Der Grüne sorgt sich um seine Zuhörer und
deren Wohlergehen – gerne auch im persönlichen Kontakt. Da ihm gute Beziehung
sehr wichtig sind, investiert er viel Zeit in persönliche Gespräche und erwartet von
seinen Partnern eine entsprechende Bereitschaft dazu. Ein wertschätzender Umfang ist
ihm sehr wichtig.
Diese Charakteristika machen den Grünen zum Integrator – gleichsam zur Mutter
der Kompanie. Dazu trägt seine Kontaktfreue, seine menschliche Flexibilität, die
Integrations- und Kooperationsfähigkeit sowie seine Teamorientierung bei. Der
Grüne liebt auch die Beständigkeit und die Routine mit ihren festgelegten Abläufen.
Er orientiert sich stark an der Vergangenheit, den dort gewonnenen Erfahrungen sowie
den bisher aufgebauten Beziehungen. Er zeichnet sich durch ein sicheres Gespür für
Menschen und Situationen aus. Es fällt ihm sehr leicht, mit anderen Menschen in Kon-
takt zu kommen. Zu Veränderungen lässt er sich dann motivieren, wenn sie auf der
Grundlage tragfähiger persönlicher Beziehungen erfolgen.
• Der Blaue
Der Blaue ist der sehr vorsichtige, bedachte und tief analysierende Denker. Er
wünschte sich im Vorfeld von Entscheidungen möglichst viele Informationen, die er
auch in der Tiefe auswertet, vergleicht und hinterfragt. Er kann oft nicht genug Daten
erhalten, prüft sorgfältig alle verfügbaren Fakten und Argumente, um zu einer fundier-
ten Entscheidung zu gelangen. In Meetings schweigt er oft länger; allerdings nicht,
weil er nichts zu sagen hätten, sondern weil er nach der bestmöglichen Antwort sucht.
Der Blaue ist eher ruhig, erscheint manchmal langweilig, dafür allerdings viel tief-
gründiger ausgerichtet und besser informiert als die beiden anderen Farbtypen.
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 421

Der Blaue ist der Fachmann, ohne den kaum ein Projekt erfolgreich laufen wird. Er
sorgt im Team für Ordnung, Analyse und Systematik. Er ist im Denken und Tun sehr
zukunftsorientiert. Dies gelingt durch die gute Abstraktionsfähigkeit und die Be-
gabung, auch ein hohes Maß an Komplexität bewältigen zu können. Gegenüber Frem-
den besteht eine gewisse Zurückhaltung. Persönliche Beziehungen werden nicht so
leicht eingegangen. Der Blaue bleibt häufig lieber auf Distanz. Jeder Teamleiter ist gut
­beraten, seine „Blauen“ zu kennen, um diese immer wieder mit offenen Fragen zur Be-
teiligung zu motivieren. Vielfach weisen die Leistungsbeiträge eines Blauen einen gro-
ßen Wert auf – auch wenn man häufig länger auf diese warten muss. Allerdings lohnt es
sich meist sehr!

Die aufgezeigten Ausprägungen können den Mitarbeitern und Führungskräften in ver-


schiedenen Kombinationen vorkommen. Entweder sind bei einer Person die einzelnen
Farbtypen annähernd gleich verteilt. Dann liegt eine ausgeglichene Persönlichkeits-
struktur zugrunde. Diese Menschen sind sehr anpassungsfähig und können ihre Stärken
situativ einbringen. Es kann allerdings auch ein Farbtyp dominant sein, wodurch die
Persönlichkeitsstruktur einseitiger festgelegt ist. Je größer die Dominanz einer Farbe ist,
um so ausgeprägter sind die damit verbundenen persönlichen Eigenarten – im Positiven
wie im Negativen. Bei solchen Personen dominieren wenige Verhaltensmuster. Ihre
Flexibilität ist eher begrenzt.
Durch einen Fragebogen können jeder für sich und für seine Teammitglieder den ggf.
dominierenden Farbtyp leicht erkennen. Das bietet die Möglichkeit, quasi durch ein
Fremdbild den Blick auf die Stärken und Schwächen sowie auf die dominierenden Ver-
haltensmuster zu werfen – bei sich selbst und bei anderen. Außerdem wird für jeden er-
kennbar, warum die eigenen Anforderungen an eine Zusammenarbeit nicht mit denen der
anderen Teammitglieder übereinstimmen müssen.
Für eine grobe Klassifizierung von Personen zu den Farbtypen hilft das folgende
Raster, das natürlich etwas holzschnittartig ausfallen muss:

• Farbtyp „Rot“
Personen dieses Typs zeigen häufig ein stärker extrovertiertes Verhalten. Sie teilen
gerne, häufig und auch ungefragt ihre Einschätzung mit und wollen diese bei Ent-
scheidungen auch durchsetzen. Die Körpersprache ist oft sehr intensiv. Man kann sie
kaum übersehen und überhören.

cc Ihr natürliches Revier ist das Podium!

• Farbtyp „Grün“
Diese Personen sind häufig sehr aufgeschlossen, sympathisch und stellen die perfekten
Brückenbauer dar. Sie lieben die Kommunikation mit anderen und sind auch immer
sehr hilfsbereit.
422 R. T. Kreutzer

+ Spielmacher: Einfluss, Macht, Dominanz (rot)


Begeisterungsfähigkeit, Entscheidungsfreude

Negativer Einfluss
auf die Beziehung:
Kumpanei,
- Fachmann: Ergebnis- und
„Nase überall
hineinstecken“, + Zielorientierung (blau)
Fakten, Ordnung, Analyse,
übertriebene Systematik
Diplomatie

+
Integrator: Positiver Einfluss,
Mangel an - Integration (grün)
Beziehungspflege, Kontaktfreude
Ergebnisorientierung:
Entscheidungsträgheit, Zögern menschliche Flexibilität,
durch Perfektionismus, Pedanterie, Teamorientierung, Kooperation
Besserwisserei, Detail-Fetischist

- Dominanz: autoritär, andere „überfahren“,


voreilig, andere sind/fühlen sich nicht eingebunden

Abb. 15.7  MCG-Rollenmodell des Arbeits- und Teamverhaltens – basierend auf der Verhaltens-­
Präferenz-­Analyse. (Quelle: Eigene Darstellung)

cc Ihr natürliches Revier ist die Kaffeeküche!

• Farbtyp „Blau“
Diese Personen wirken zunächst sehr distanziert und zeigen wenig Ausdruck in Körper-
sprache, Mimik und Stimme. Sie interessieren sich sehr für Fakten und fragen gezielt
nach. Sie sind oft auch die einzigen, die Gebrauchsanweisungen, Manuals und Bei-
packzettel intensiv studieren  – und auch die Unterlagen im Vorfeld von Meetings
durcharbeiten. Wenn sie eine Aussage treffen, dann ist diese wohl überlegt und gut
durchdacht. Deshalb tragen sie ihre Einschätzungen auch später als alle anderen vor.

cc Ihr natürliches Revier ist das Studierzimmer!

Mit diesen Informationen vor Augen können erfolgreichere Teams zusammengestellt wer-
den. In Abb. 15.7 ist zu sehen, welche Charakteristika die verschiedenen Farbtypen in ein
Team einbringen können (vgl. MCG, 2021). Diese gilt es bei der Zusammenstellung von
Teams zu berücksichtigen.
Alternativ bzw. flankierend hierzu können weitere Methoden eingesetzt werden (vgl.
Kreutzer, 2021, S. 378–412).

15.4.3 Überwinden der Komfortzonen

Für eine erfolgreiche digitale Transformation muss jedes Unternehmen seine Komfort-
zone verlassen. Hierbei gilt: Die Komfortzone eines Unternehmens ist oft sogar mehr als
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 423

Wachstumszone
Gesteigerte Sinnfindung; Erreichung neuer Ziele;
Steigerung der Selbstsicherheit; Ausbau von
Stärken und Kompetenzen; höhere Arbeits-/
Lebenszufriedenheit; eigene Mission entwickeln und leben
Lernzone
Überwindung der Grenzen der eigenen
Komfortzone; erste Erfolge außerhalb der
Komfortzone erleben; Erwerb von neuen
Fähigkeiten und neuen Erfahrungen;
Aufbau von höherem Selbstvertrauen

Angstzone
Unsicherheit, negativer Stress,
Ablehnung, Ausreden, Abbruch,
Scheitern

Komfortzone
Komfort- Kontrolle, Gewohnheit,
Routine, Rituale, Sicherheit
zone („Wohlfühloase“)

Abb. 15.8  Phasen zur Ausweitung der individuellen Komfortzone. (Quelle: Eigene Darstellung)

die Summe der Komfortzonen seiner Mitarbeiter. Deshalb sind die auf allen Hierarchie-
ebenen anzutreffenden Komfortzonen konsequent zu weiten.
Mit Komfortzone wird der durch eingespielte Gewohnheiten bestimmte Bereich be-
schrieben, in dem es sich ein Mensch bequem eingerichtet hat und sich wohlfühlt (vgl.
Bardwick, 1995). In einer solchen Komfortzone kennen wir uns aus und wissen genau,
was von uns erwartet wird. Wir wissen auch genau, dass wir den hier zu bewältigenden
Aufgaben und Herausforderungen gewachsen sind. Dazu tragen unsere erlernten Gewohn-
heiten und Rituale bei. Unsere eigene Komfortzone endet folglich dort, wo der vertraute
Bereich aufhört und Überwindung oder Anstrengung notwendig sind, um neue Heraus-
forderungen zu meistern. Das Gefühl von Angst (etwa bei der Übernahme einer neuen
Aufgabe) ist ein guter Indikator dafür, dass wir gerade die eigene Komfortzone verlassen
(vgl. Abb. 15.8).
Jeder von uns verfügt über eine individuelle Komfortzone. Während der eine schon
Schweißausbrüche bekommt, wenn er in einem Team-Meeting mit drei Kollegen sein
Konzept vorstellen soll, sagt ein anderer „Tschakka, ich kann vor 1000 Leute und vor fünf
Kameras für die Schweizer Post in Bern einen Vortrag halten!“
Das Verlassen der eigenen Komfortzone und das Eintreten in die Angstzone sind nicht
bequem und geht mit sogenannten Wachstumsschmerzen einher. Denn natürlich kann
man in der terra incognita – im unbekannten Terrain – auch Fehler machen, weil man
nicht genau weiß, was auf einen zukommt. Unsicherheit, negativer Stress, die Ablehnung
solcher herausfordernden Situationen, mehr oder weniger kreative Ausreden zu ihrer Ver-
meidung sowie ein Abbruch bzw. Scheitern können die Folge sein (vgl. Abb. 15.8).
424 R. T. Kreutzer

Deshalb sollte sich jeder Mensch, der an seinem persönlichen Wachstum interessiert
ist, um die Ausweitung der eigenen Komfortzone bemühen. Das ist der Kern der
Persönlichkeitsentwicklung (vgl. weiterführend Hoffmann, 2018, S. 55–60). Durch das
Durchschreiten der Angstzone wird die Komfortzone überwunden und man tritt in die
Lernzone ein (vgl. Abb. 15.8). Hier werden neue Fähigkeiten und Erfahrungen gewonnen.
Bei einer positiven Bewertung der neuen Erfahrungen kann das Selbstvertrauen – basie-
rend auf der erlebten Selbstwirksamkeit – steigen.
Die Lernzone weist einen fließenden Übergang zu Wachstumszone auf. Hier können
für das Leben neue Sinnfelder geschlossen werden, weil bisher unerreichbar erscheinende
Ziele verwirklicht werden. Dies trägt zur Steigerung der Selbstsicherheit bei. Diese kann
die Fähigkeit, die Bereitschaft und den Willen zum weiteren Ausbau (neuer) Stärken und
Kompetenzen fördern. Hiermit können eine höhere Arbeits- und ggf. auch Lebens-
zufriedenheit einhergehen. Schließlich besteht jetzt die Chance, tatsächlich seine eigene
Mission zu entwickeln und leben.
Um die mit diesem Prozess zwangsläufig verbundenen Wachstumsschmerzen zu ak-
zeptieren und in die Wachstumszone vorzustoßen, sind Frustrationstoleranz und Resilienz
erforderlich. Frustrationstoleranz beschreibt die individuelle Fähigkeit von Menschen,
auch über längere Zeit Enttäuschungen oder Frustrationen auszuhalten und konstruktiv
mit diesen umzugehen, ohne die Situation selbst zu beschönigen. Menschen mit geringer
Frustrationstoleranz brechen beim Versuch einer Ausweitung ihrer Komfortzone sehr
schnell ab, wenn dies mühsamer ist oder weniger schnell geht, als sie es erwartet oder er-
wünscht haben. Solche Menschen geraten leicht aus der Fassung. Häufig werden sie auch
ärgerlich oder reagieren entmutigt oder deprimiert. Sie fühlen sich häufig benachteiligt
(wichtig: nicht „werden benachteiligt“!), da sie mit Niederlagen schlecht umgehen kön-
nen. Nach jeder „Niederlage“ sinkt die Motivation, neue Herausforderungen anzugehen.
Personen mit niedriger Frustrationstoleranz neigen deshalb dazu, erhöhte Anstrengungen
möglichst zu vermeiden.
Menschen mit hoher Frustrationstoleranz dagegen akzeptieren auch kritische Situ-
ationen. Sie gehen ihren Weg geduldig weiter, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Schon kleine
Fortschritte werden als Erfolg angesehen – und Rückschläge als „Teil vom Spiel“ akzep-
tiert. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Menschen, die gut lernen können, eine
deutlich größere Frustrationstoleranz zeigen. Sie können sich länger und dauerhafter mit
einem Lerngegenstand auseinandersetzen und auch ausgeprägtere Interessen aufweisen.
Obgleich die Frustrationstoleranz eine relativ stabile Persönlichkeitseigenschaft ist, kann
jeder für sich an der Überwindung einer zu geringen Frustrationstoleranz arbeiten. Hierzu
leisten Coaching-Programme einen wichtigen Beitrag.

15.4.4 Steigerung des Employee Engagement

Zusätzlich müssen wir  – auch im digitalen Zeitalter  – einen weiteren wichtigen Punkt
adressieren: das Employee Engagement! Dieses Kriterium entscheidet  – wie Gallup-­
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 425

Studien immer wieder zeigen  – entscheidend über Erfolg und Misserfolg von Unter-
nehmen. Gallup (2020a) definiert engagierte Mitarbeiter als diejenigen, die sich in ihre
Arbeit umfassend einbringen, sich an ihren Arbeitsplatz intensiv engagieren und sich für
ihre Arbeit begeistern können. Die Erfassung des Employee Engagements hilft zu er-
kennen, ob sich Mitarbeiter aktiv an der Unternehmensentwicklung beteiligen oder ob sie
einfach nur ihre Zeit „absitzen“. Deshalb sollte das Augenmerk regelmäßig auch auf den
unverzichtbaren Key Performance Indicator „Employee Engagement“ gelenkt werden.
Denn was nützt die innovativsten Technologien und die bereitgestellten Budgets, wenn
diese von den Mitarbeitern und Führungskräften nicht genutzt werden?
Mitarbeiter und Führungskräfte treffen täglich Entscheidungen und ergreifen Maß-
nahmen, die sich nicht nur auf die gesamte Belegschaft, sondern auch auf die Geschäfts-
entwicklung des Unternehmens insgesamt auswirken – im Positiven wie im Negativen!
Die Forschungsergebnisse zum Employee Engagement zeigen seit Jahren, dass
Unternehmen mit einem hohen Maß an engagierten Mitarbeitern signifikant bessere Ge-
schäftsergebnisse erzielen als Unternehmen, deren Mitarbeiter sich in weniger hohem
Maße mit dem Unternehmen, seinen Zielen und Aufgaben identifizieren. Gleichartige Re-
sultate finden sich in allen Branchen, bei unterschiedlichen Unternehmensgrößen und
Nationalitäten sowie – durchaus überraschend – auch in guten und schlechten wirtschaft-
lichen Zeiten (vgl. Gallup, 2020a).
Mitarbeiter und Führungskräfte fordern heute – durchaus neben einem guten Gehalts-
scheck – in zunehmendem Maße auch einen nachvollziehbaren Sinn und Zweck ihrer
Arbeit (vertiefend zum Thema Purpose Kreutzer, 2021, S. 84–91). Sie wollen ebenso in
ihrer Einzigartigkeit gesehen und wertgeschätzt werden. Und sie erwarten tragfähige
Beziehungen – vor allem zu ihren Führungskräften. Sie wollen wahrgenommen werden
für das, was sie einzigartig macht. Diese Faktoren treiben die in hohem Maße das Engage-
ment der Mitarbeiter an. Gallup (2020a) hat herausgearbeitet, dass Manager bzw. Team-
leiter allein für 70 % der Varianz im Engagement der jeweils betreuten Teams verantwort-
lich sind!
Führungskräfte haben mit ihrem Verhalten den größten Einfluss auf das Employee
Engagement – und damit auch auf das Unternehmensergebnis! Vor diesem Hintergrund
liegt eine der größten Herausforderungen im HR-Bereich darin, den in Abb.  15.9 ge-
zeigten Paradigmenwechsel in der Personalführung zu berücksichtigen (vgl. Gal-
lup, 2020a).
Studien über Jahrzehnte hinweg zeigen erstaunlicherweise nach wie vor, dass sich
nahezu 85  % der Beschäftigten weltweit trotz vielfältiger Anstrengungen der Unter-
nehmen immer noch nicht oder nicht aktiv genug für ihre Arbeit engagieren. Ein hohes
Maß an Employee Engagement ist lediglich nur bei 15 % der Beschäftigten vorhanden
(vgl. Gallup, 2020a). Folglich bleibt einer der wichtigsten Ansatzpunkte zur Steigerung
der unternehmerischen Performance nach wie vor in hohem Maße ungenutzt. Gerade
diese Potenziale sind zu erschließen, um eine erfolgreiche digitale Transformation zu
meistern.
426 R. T. Kreutzer

In der Vergangenheit In der Gegenwart

Mein Gehaltsscheck Mein Sinngehalt der Arbeit

Meine Zufriedenheit Meine Entwicklung

Mein Boss Mein Coach

Mein jährliches Mitarbeitergespräch Mein regelmäßigen Besprechungen

Meine Schwächen Meine Stärken

Mein Job Mein Leben

Abb. 15.9  Paradigmenwechsel in der Personalführung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Eigentlich ist es ganz einfach: Ein Blick auf die Statements zur Ermittlung des Em-
ployee Engagements durch Gallup (2019, S. 3) zeigt, was – und oft auch wie wenig –
eigentlich zu tun wäre, um die Motivation der Mitarbeiter signifikant zu steigern:

1. Ich weiß, was bei der Arbeit von mir erwartet wird.
2. Ich habe die Materialien und die Arbeitsmittel, um meine Arbeit richtig zu machen.
3. Ich habe bei der Arbeit jeden Tag die Gelegenheit, das zu tun, was ich am besten kann.
4. Ich habe in den letzten sieben Tagen für gute Arbeit Anerkennung oder Lob bekommen.
5. Mein Vorgesetzter oder eine andere Person bei der Arbeit interessiert sich für mich
als Mensch.
6. Bei der Arbeit gibt es jemanden, der mich in meiner Entwicklung fördert.
7. Bei der Arbeit scheinen meine Meinungen zu zählen.
8. Die Ziele und die Unternehmensphilosophie meiner Firma geben mir das Gefühl, dass
meine Arbeit wichtig ist.
9. Meine Kollegen haben einen inneren Antrieb, Arbeit von hoher Qualität zu leisten.
10. Ich habe einen sehr guten Freund/eine sehr gute Freundin innerhalb der Firma.
11. In den letzten sechs Monaten hat jemand in der Firma mit mir über meine Fortschritte
gesprochen.
12. Während des letzten Jahres hatte ich bei der Arbeit die Gelegenheit, Neues zu lernen
und mich weiterzuentwickeln.

Auf welche Bedürfnisse die Inhalte der oben genannten Statements in eine Bedürfnis-
pyramide einzahlen, zeigt Abb.  15.10 (vgl. Gallup, 2019, S.  3). Hier wird zwischen
Grundbedürfnissen und den Bedürfnissen nach Unterstützung, Teamarbeit und
Wachstum unterschieden.
In einer Zusammenarbeit mit Gallup kann jedes Unternehmen die Einschätzung ihrer
Mitarbeiter zu diesen zwölf Statements abfragen und auswerten. So gelingt es – unter-
stützt durch Gallup, den Status-quo für jedes Unternehmen zu ermitteln. Ein Einsatz die
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 427

11. In den letzten sechs Monaten 12. Während des letzten Jahres hatte ich
hat jemand in der Firma mit mir über bei der Arbeit die Gelegenheit, Neues zu
meine Fortschritte gesprochen. lernen und mich weiterzuentwickeln.
Wachstum
7. Bei der Arbeit scheinen meine 8. Die Ziele und Unternehmensphiloso-
Meinungen zu zählen. phie meiner Firma geben mir das Gefühl,
dass meine Arbeit wichtig ist.
9. Meine Kollegen haben einen 10. Ich habe einen sehr guten Freund/
Teamarbeit inneren Antrieb, Arbeit von hoher eine sehr gute Freundin innerhalb der
Qualität zu leisten. Firma.
3. Ich habe bei der Arbeit jeden 4. Ich habe in den letzten sieben
Tag die Gelegenheit, das zu tun, Tagen für gute Arbeit Anerkennung
was ich am besten kann. oder Lob bekommen.
5. Mein Vorgesetzter oder eine 6. Bei der Arbeit gibt es jemanden,
Unterstützung andere Person interessiert sich für der mich in meiner Entwicklung
mich als Mensch. fördert.

1. Ich weiß, was bei der 2. Ich habe die Materialien und
Arbeit von mir erwartet die Arbeitsmittel, um meine
Grundbedürfnisse wird. Arbeit richtig zu machen.

Abb. 15.10  Einordnung der Gallup-Fragen in eine Bedürfnispyramide. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

oben genannten Fragen in eigenen Unternehmen setzt eine Freigabe durch Gallup voraus.
Erst die Befriedigung der hinter diesen Statements stehenden Bedürfnisse schafft in einem
Unternehmen ein Umfeld des Vertrauens und der Unterstützung.
Um den Stand des Employee Engagement in Deutschland zu erfassen, wurden 2019
von Gallup 1000 Arbeitnehmer befragt. Die nachfolgenden Ergebnisse sind repräsentativ
für die Arbeitnehmerschaft in Deutschland ab 18 Jahre. Die in Abb. 15.11 gezeigten Werte
können als Vergleichsgrößen für die Ergebnisse einer eigenen Befragung herangezogen
werden. Wie auch in den Jahren vorher zeigen nur 15 % der Mitarbeiter in Deutschland
eine hohe emotionale Bindung. Bei 69 % liegt eine geringe emotionale Bindung vor –
und 16 % weisen keine emotionale Bindung auf!
Welche weiteren negativen Auswirkungen mit niedrigen Engagement-Werten bei den
eigenen Mitarbeitern einhergehen, zeigt die 10. Meta-Analyse des Employee Engage-
ments von Gallup (2020b). Hierzu wurde eine Vielzahl von Gallup-Studien aus 54 Bran-
chen, in 96 Ländern, bei 276 Organisationen mit insgesamt 112.312 ­Geschäfts-/Arbeits-
einheiten und 2.708.538 Mitarbeitern ausgewertet. Beim Vergleich des Employee
Engagements im obersten Quartil („Top 25 %“) der Unternehmen mit dem Engagement
im untersten Quartil („Schlechteste 25  %“) stellte Gallup fest, dass Geschäftseinheiten
und Teams im Median die nachfolgenden Unterschiede bei zentralen KPIs aufwiesen. Im
Gegensatz zum Mittelwert ist der Median der Zentralwert, der genau „in der Mitte“ steht,
wenn man die Messwerte der Größe nach sortiert.

Reduktion negativer Ereignisse:


• 81 % weniger Fehlzeiten
• 18  % weniger Fluktuation bei Unternehmen mit einer Fluktuationsrate von mehr
als 40 %
428 R. T. Kreutzer

Hochgerechnet auf die


Hochgerechnet auf die Arbeitnehmerschaft:
Arbeitnehmerschaft: 5,562 Mio. Personen
5,933 Mio. Personen … 16 Personen … 15 Personen
keine eine hohe
emotionale emotionale
Bindung. Bindung.
Von je 100 Beschäftigten
in einem durchschnittlichen
Unternehmen haben …

… 69 Personen
eine geringe
emotionale
Hochgerechnet auf die Bindung.
Arbeitnehmerschaft:
25,585 Mio. Personen

Abb. 15.11  Ergebnisse zum Engagement Index in Deutschland. (Quelle: Eigene Darstellung)

• 43  % weniger Fluktuation bei Unternehmen mit einer Fluktuationsrate von 40  %
und weniger
• 28 % weniger Diebstahl/Schwund
• 64 % weniger Unfälle
• 41 % weniger Qualitätsmängel

Verbesserungen bei positiven Ereignissen:


• 10 % Steigerung bei Kundentreue bzw. beim Customer Engagement
• 14 % Zunahme der Produktivität in der Fertigung
• 18 % Zunahme der Produktivität im Verkauf

Steigerung des Unternehmenserfolges:


• 23 % höhere Profitabilität
• 66 % höheres Wohlbefinden der Mitarbeiter
• 13 % höheres Engagement in der Gesellschaft

In Summe kann festgestellt werden, dass sich in hoch engagierten Teams signifikant we-
niger negative Ereignisse zutragen und deutliche Verbesserungen in verschiedenen
Funktionsbereichen sowie auf Unternehmensebene insgesamt einstellen.
Im Zuge einer digitalen Transformation gilt es, die häufig sehr großen Wachstums-
potenziale zu heben, die mit einer Steigerung des Employee Engagement im eigenen
Unternehmen einhergehen. Dafür werden keine neuen Technologien und kein neues IT-­
System benötigt, dafür aber eine häufig umfassende Weiterentwicklung des Mindset der
Führungskräfte! Die ausgewiesenen Zahlen zeigen, dass sich die hier vorzunehmenden
Investitionen in hohem Maße rentieren können – für alle Seiten!
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 429

15.4.5 Führung auf Distanz

Homeoffice und mobiles Arbeiten wird uns auch in Zukunft viel umfassender erhalten
bleiben, als dies bisher vorstellbar war. Damit geht allerdings eine neue Herausforderung
einher: Führung auf Distanz. Hierfür sind Führungsqualitäten wichtiger denn je. Damit
eine Führung auf Distanz funktionieren kann, sind im Team zur Ausgestaltung dieser Füh-
rung auf Distanz die folgenden Fragen zu beantworten:

• Welche Erreichbarkeit wird an welchen Tagen und in welchen Zeitfenstern erwartet?


• Welche Form der Kommunikation soll schwerpunktmäßig genutzt werden?
• Welches sind die gewünschten Antwortzeiten auf E-Mails, WhatsApp-Nachrichten
und anderen Formen der unternehmensinternen Kommunikation, die das spontane Ge-
spräche im Büro ersetzen sollen?
• Wie fällt der Informationsbedarf der Führungskraft aus, um sicher zu wissen, dass
Projekte laufen und Mitarbeiter alle notwendigen Ressourcen haben, um die definierten
Projektziele zu erreichen?
• Wie sieht der Informations- und Unterstützungsbedarf der Mitarbeiter aus, um
entsprechende Maßnahmen als Hilfestellung und nicht als harte Kontrolle, Gängelung
oder Überwachung zu missverstehen?
• Wie erfolgt eine Dokumentation des individuellen Leistungsfortschritts?
• Welche Zeitsouveränität wird gewünscht und ermöglicht?
• Welche Raumsouveränität wird beim mobilen Arbeiten akzeptiert?

Die Erarbeitung von Leitlinien einer Führung auf Distanz sind eine unverzichtbare In-
vestition, um Gefühlen von Überwachung, Gängelung und Misstrauen und damit den Ein-
druck eines Helikopter-Chefs gar nicht erst aufkommen zu lassen. Für die Führung auf
Distanz sollte die HR-Abteilung bestimmte Empfehlungen erarbeiten. Eine Konkretisie-
rung kann anschließend durch die Führungskraft in einem intensiven Dialog mit dem je-
weiligen Team erfolgen.
Eines ist bei einer Führung auf Distanz unverzichtbar: Vertrauen zwischen der
Führungskraft und seinen Mitarbeitern, aber auch Vertrauen zwischen den Mit-
arbeitern selbst. Erst gemeinsam erarbeitete und verabschiedete Regeln schaffen
Vertrauen.
Wem es als Führungskraft bisher nicht gelungen ist, zu seinem Team ein vertrauens-
volles Verhältnis aufzubauen, wird jetzt den „Lohn“ des persönlichen Fehlverhaltens ern-
ten. Homeoffice stellt gleichsam einen Brandbeschleuniger für gestörte Führungskraft-­
Mitarbeiter-­Verhältnisse dar. Differenzen, fehlerhafte Prozesse, Kommunikationslücken
und vor allem ein Fehlen des Vertrauens werden jetzt wie unter einem Brennglas sichtbar,
obwohl sie vielleicht schon lange existierten.
Zusätzlich haben vor allem machtorientierte Führungskräfte Angst vor Kontrollver-
lust. Hier dominiert die Frage: Arbeiten meine Mitarbeiter auch dann noch, wenn ich sie
nicht regelmäßig sehen kann? Die Herausforderung besteht bei einer Führung auf Distanz
430 R. T. Kreutzer

folglich darin, ein Führen über körperliche Anwesenheit und eine Überwachung durch
die Kontrolle des Zeiteinsatzes durch ein Führen über Ergebnisse zu ersetzen. Hierfür
gilt es  – je nach Aufgabenstellung  – Tages-, Wochen- und/oder Monatsziele zu verein-
baren. Diese Ziele stellen gleichzeitig die Grundlage für regelmäßige Feedback-Ge-
spräche zum Leistungsfortschritt dar.
Um die notwendigen Leistungen auch im Homeoffice zu erbringen, müssen Führungs-
kräfte und Teammitglieder für das unverzichtbare Selbstmanagement ein hohes Maß an
Selbstdisziplin einbringen. Kennt die Führungskraft – oder noch besser: auch das Team-
mitglied selbst – die entsprechenden Stärken und Schwächen, können ganz gezielte Trai-
nings zum Zeit-Management eingesetzt werden. Verfügen Führungskräfte über diese
Skills, können sie ihre Mitarbeiter als Coach unterstützen. Zur Selbstdisziplin von
Führungskräften und Projekt-Managern gehört auch, bei Problemen nicht gleich alle
Arbeiten wieder an sich zu ziehen!
Eines ist – allerdings nicht nur bei Führung auf Distanz – wichtig: ein wertschätzender
Umgang miteinander. Deshalb kann die – ehrlich gemeinte – Frage beim Einstieg in eine
Zweier-Video-Konferenz die nach dem aktuellen Befinden im Homeoffice sein. Schließ-
lich müssen dort neben den Unternehmens-Angelegenheiten vielleicht auch noch Home-
schooling, Kinderbetreuung, Haustiere, die Wäsche, Einkäufe etc. gemanagt werden.

15.4.6 Etablierung von Netzwerk-Strukturen

Eine Weiterentwicklung im Führungsstil wird auch deshalb notwendig, weil die Digitali-
sierung viele Unternehmen dazu zwingt, ihre Leistungen stärker in einer bereichs- und
oft auch hierarchieübergreifenden Zusammenarbeit zu erbringen. Das bedeutet, dass
die bisher so wichtigen Bereichs- und Abteilungsgrenzen an Bedeutung verlieren und eine
übergreifende Netzwerk-Struktur wichtiger wird. Damit geht für die Führungskräfte
eine weitere Herausforderung einher: Nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die
Führungskräfte selbst müssen stärker in vernetzten Strukturen denken, planen und arbeiten.
Schließlich haben sich bspw. Kundenwünsche noch nie an Abteilungsgrenzen – etwa
zwischen Marketing, Vertrieb und Service – orientiert. Gleichzeitig gilt es, die in vielen
(Groß-)Unternehmen noch immer vorherrschenden Informations- und Prozess-Silos auf-
zubrechen, weil diese einer Arbeit in Netzwerken im Wege stehen. Dies setzt allerdings
auch ein hohes Maß an Änderungsbereitschaft der Führungskräfte selbst voraus. Hier-
bei ist die Denkhaltung „Wissen ist Macht!“ zugunsten der neuen Parole „Macht dem
Teilen von Wissen!“ zu überwinden.
Für ein Denken und Handeln in Netzwerk-Strukturen sind Mitarbeiter, Teams,
Führungskräfte und die gesamte Organisation anders auszurichten. Häufig stammen die
Aufbau- und Ablauforganisation der etablierten Unternehmen noch aus dem vordigitalen
Zeitalter. Damit sind sie oft nicht auf die zunehmend geforderte Schnelligkeit oder Agilität
ausgerichtet. Dann dominieren häufig noch die in Abb. 15.12 (links) zu sehenden strikt
hierarchisch aufgebauten Strukturen. In jedem Unternehmen ist zu prüfen, ob Netzwerk-­
Strukturen  – bspw. in der Gestalt von virtuellen Teams  – zur Beschleunigung unter-
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 431

Streng hierarchische Organisation Einsatz von Netzwerkstrukturen

Abb. 15.12  Hierarchische vs. netzwerkorientierte Strukturen der Aufbauorganisation. (Quelle:


Eigene Darstellung)

nehmensinterner Abläufe beitragen können (vgl. grundlegend Ebers & Maurer, 2014,
S. 386–406; Klimmer, 2016, S. 203–206; Laudon, 2017, S. 69 f.).
Die Netzwerk-Organisation stellt eine Form der unternehmerischen Aufbau-
organisation dar, um Kompetenzen, Verantwortlichkeiten und Aufgaben dynamischer zu
definieren. Die Kernidee besteht darin, relativ autonome Mitarbeiter nicht über eine feste
Organisation, sondern über gemeinsame Ziele und Aufgaben – bspw. in Projekten – mit-
einander zu verbinden (vgl. Abb. 15.12, rechts). Das Ziel solcher Netzwerke besteht darin,
produktive Arbeitsbeziehungen zwischen Mitarbeitern aufzubauen  – auch über ver-
schiedene hierarchische Ebenen hinweg.
Hier wird die Rollenflexibilität von Führungskräften eingefordert. Denn gerade Netz-
werke funktionieren weniger über klar definierte Berichtswege und andere formale Struk-
turen, sondern vielmehr über persönliche Kontakte, kollegiale Beziehungen und einer – auf
die Erreichung der gemeinsamen Ziele ausgerichteten  – partnerschaftlichen Zusammen-
arbeit und vor allem aufgrund einer werthaltigen und ehrlichen Kommunikation.
Der Kern einer solchen Netzwerk-Organisation ist ein Mehrliniensystem – verbunden
mit einem hohen Grad an Dezentralisierung. Das Mehrliniensystem entsteht dadurch, dass
die einzelnen Stellen und damit auch die betreffenden Mitarbeiter mehreren Instanzen
unterstellt sind. Zum einen sind die Mitarbeiter noch in die klassische Aufbauorganisation
mit den entsprechenden Berichtslinien eingebunden. Hier wird auch von der disziplinari-
schen Unterstellung gesprochen. Zum anderen gibt es in der parallelen Netzwerk-­
Organisation zusätzliche, häufig projektgebundene Berichtslinien. Deshalb kommt es hier
zu einer Mehrfachunterstellung von Personen.
Die Netzwerk-Strukturen sind neben der Aufgabenübernahme selbst mit den dafür
notwendigen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu versehen. Deshalb kommt
es zu der bereits angesprochenen Dezentralisierung. Eine wichtige Voraussetzung
dafür, dass Netzwerke funktionieren, stellt eine präzise Definition der zu erreichenden
Ziele dar. Diese sind sowohl im Unternehmen wie im Netzwerk selbst transparent zu
kommunizieren.
432 R. T. Kreutzer

Hervorzuheben ist, dass diese Netzwerke die bestehende Aufbauorganisation ergänzen


bzw. überlagern. Deshalb wird hier auch von einer (temporären) Sekundär-Organisation
gesprochen. Diese hat den entscheidenden Vorteil, dass nach Zielerreichung das Netzwerk
aufgelöst und die Mitarbeiter in ihre bisherigen Aufgaben zurückkehren oder in ander-
weitig zusammengesetzte Netzwerke mit neuen Aufgabenstellungen delegiert werden
können. Auf diese Weise kann viel schneller und ohne umfassende Reorganisationen auf
veränderte Rahmenbedingungen und damit verbundene Aufgaben reagiert werden.
Allerdings befinden sich die in einer Netzwerk-Organisation eingebundenen Mit-
arbeiter häufig in einer Sandwich-Position. Auf der einen Seite sollen sie ihre Ressourcen
in die Projektarbeit einbringen. Auf der anderen Seite bleibt ggf. das Tagesgeschäft lie-
gen und wird vom disziplinarischen Vorgesetzten beklagt und ggf. sogar sanktioniert. Sol-
che Zielkonflikte lassen sich nur vermeiden, wenn alle Beteiligten eine entsprechende
Netzwerk-­Organisation mittragen und sich diese auch in den Incentivierungs-­Mechanismen
für Führungskräfte und Mitarbeiter niederschlägt.
Beim Aufbau von solchen Netzwerk-Strukturen ist tendenziell mit einem höheren Ko-
ordinations- und Kommunikationsaufwand zu rechnen. Schließlich ist innerhalb des
Netzwerks ein abgestimmtes Handeln zwischen Mitarbeitern erforderlich, die aus ganz
verschiedenen Bereichen des Unternehmens kommen  – und damit u.  U. auch aus ver-
schiedenen Führungskulturen des gleichen Unternehmens. Misslingt diese Koordination,
können ungewollte Parallelarbeit oder eine Nichtbearbeitung erfolgskritischer Pro-
zesse auftreten. Einer zielorientierten, intensiven Kommunikation kommt deshalb gerade
in Netzwerk-Strukturen eine überragende Bedeutung zu. Diese Kommunikation stellt
auch eine notwendige Bedingung dar, um das unverzichtbare Vertrauen innerhalb der
Netzwerke aufzubauen.
Ergänzend kann es zum Einsatz von externen Netzwerken kommen (vgl. auch Dille-
rup & Stoi, 2016, S. 514–521). Hierzu werden die Netzwerk-Teilnehmer aus verschiedenen
rechtlich und wirtschaftlich unabhängigen Organisationen rekrutiert. Die zu bewältigenden
Aufgaben können bspw. auf die Entwicklung innovativer Produkte und Servicekonzepte,
die Verzahnung von Beschaffungs- und/oder Produktionsprozessen oder die gemeinsame
Digitalisierung von Vertriebsprozessen ausgerichtet sein. Der Kreativität sind zunächst
keine Grenzen gesetzt. Das dominante Ziel besteht auch hier in der Beschleunigung von
Prozessen. Zusätzlich kann auch die Ausschöpfung von Synergieeffekten durch eine
Zusammenführung komplementärer Ressourcen angestrebt werden.

15.5 Personalentwicklung 4.0

Nachfolgende werden weitere konkrete Maßnahmen der Personalentwicklung an-


gesprochen, die sich im digitalen Zeitalter bereits bewährt haben. Hier kann teilweise von
Personalentwicklung 4.0 gesprochen werden, weil viele Angebote nicht nur vernetzt,
sondern auf die individuellen Bedarfe ausgerichtet sind und unabhängig von Zeit und
Raum stattfinden können. In vielen dieser Angebote ist der Trainer kein „reiner Vor-
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 433

tragender“ mehr, sondern wird viel stärker zum Moderator und Gestalter von Selbst-
lernprozessen der Teilnehmer. Dies gilt vor allem für digitale Lernangebote, kann aber
teilweise auch in „analogen“ Veranstaltungen umgesetzt werden.
Zur Unterstützung von Lernprozessen können Gamification-Ansätze genutzt werden.
Bei diesen wird versucht, aus dem Spieleumfeld bekannte Anreize auch für Lernaufgaben
zu nutzen. Hierzu können bspw. Punkte für die erfolgreiche Bearbeitung von Aufgaben-
stellungen vergeben werden, die zu unterschiedlichen Spiele- bzw. hier Know-how-Leveln
führen. So soll die Motivation auch längerfristig aufrechterhalten werden (vgl. vertiefend
Schönbohm et al., 2017; Schönbohm, 2019).
Um die heute unverzichtbare kontinuierliche Qualifizierung der eigenen Mitarbeiter
zu unterstützen, können externe Qualifizierungsangebote genutzt werden. Diese werden
von vielen Universitäten, aber auch von klassischen Seminarveranstaltern und speziali-
sierten Unternehmen – teilweise auch inhouse – durchgeführt. Darüber hinaus haben sich
innovative Konzepte etabliert. Hierzu zählen die interne Qualifizierung und Reverse Men-
toring, Barcamps, Hackathons, MOOCs, Fuckup Nights und Escape Rooms (vgl. ver-
tiefend Kreutzer, 2021, S. 421–434).
Um in einem sehr heraufordernden Umfeld erfolgreich agieren zu können, bedarf es in
den Unternehmen eines agilen Managements. Um dieses erfolgreich zu etablieren, muss
sich in den Köpfen der Verantwortungsträger allerdings erst durchsetzen, dass für viele
Aufgabenstellungen heute eher die Intelligenz einer Gemeinschaft als die eines Indivi-
duums notwendig ist. Das bedeutet, dass vor allem die Führungskräfte in etablierten
Unternehmen ihre eigene Rolle umdefinieren müssen (vgl. vertiefend Hofert & Thonet,
2018; Laloux, 2017; Lasnia & Nowotny, 2018; Laudon, 2017).
Eine Führungskraft sollte heute nicht mehr „par ordre de Mufti“ führen, sondern sich
als Enabler seines Teams verstehen. Hierdurch dreht sich allerdings die R
­ ollenverteilung
um. Diese ist in Abb. 15.13 zu sehen. Die Führungskraft steht nicht mehr an der Spitze der
Pyramide – sondern fördert und unterstützt die unmittelbar zugeordneten Mitarbeiter und
deren Teams.

E
F n
ü a
h b
r l
e e
n n

Abb. 15.13  Aufgabe der Führungskraft – von „par ordre de Mufti“ zum Enabler – zum Enabler.
(Quelle: Eigene Darstellung)
434 R. T. Kreutzer

Bei einem solchen Führungsansatz managen sich die Teams in höherem Maße selbst.
Dafür ist es jedoch notwendig, dass die Team-Mitglieder auch über die notwendige
Methodenkompetenz sowie über ein entsprechendes Mindset verfügen – und die zusätz-
liche Verantwortung tatsächlich auch tragen möchten. Gerade Letzteres ist nicht selbst-
verständlich. Schließlich bedeutet Verantwortung auch das Einstehen über Entwicklungen,
die nicht die gewünschten Ergebnisse liefern.
Was ist die Kernidee der sogenannten Enabler-Kultur? Die wichtigste Voraus-
setzung ist, dass die Führungskräfte sich nicht (mehr) als Befehlsgeber verstehen, die für
ihre Mitarbeiter Ziele und Aufgaben definieren. Hier wird auch von „transaktionaler Füh-
rung“ gesprochen. In einer Enabler-Kultur agieren sie vielmehr als Förderer ihrer Mit-
arbeiter und unterstützen diese nachhaltig bei der Aufgabenerfüllung sowie bei deren eige-
ner Entwicklung. Diese Unterstützung sollte die Mitarbeiter und das Team dazu befähigen,
übertragene Aufgaben in hohem oder höherem Maße eigenverantwortlich zu bearbeiten
und Entscheidungen im Sinne des Unternehmens-Zwecks (Purpose) zu treffen. Eine sol-
che Veränderung in der Führungskultur muss in die entsprechende Weiterentwicklung
der Unternehmenskultur eingebunden sein. Gelingt dies, dann werden die Führungs-
kraft zu Netzwerkern, wie Abb. 15.14 zeigt.
Die für die Personalentwicklung verantwortlichen Leistungsträger sind aufgefordert,
unternehmens- und mitarbeiterspezifisch die relevanten Qualifizierungsbelange zu
­erkennen  – und vor allem zeitnah zu agieren. Die digitalen Herausforderungen warten
nicht auf langsame Unternehmen!

Abb. 15.14  Aufgabe der Führungskraft als Netzwerker – über den eigenen Verantwortungsbereich
hinaus. (Quelle: Eigene Darstellung)
15  Human Resources – Treiber und Enabler der digitalen Transformation 435

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436 R. T. Kreutzer

Prof. Dr. Ralf T. Kreutzer  ist seit 2005 Professor für Marketing an
der Hochschule für Wirtschaft und Recht/Berlin School of Econo-
mics and Law. Parallel ist er als Trainer, Coach sowie als Marketing
und Management Consultant tätig. Er war 15 Jahre in verschiedenen
Führungspositionen bei Bertelsmann (letzte Position Direktor des
Auslandsbereichs einer Tochtergesellschaft), Volkswagen (Ge-
schäftsführer einer Tochtergesellschaft) und der Deutschen Post (Ge-
schäftsführer einer Tochtergesellschaft) tätig, bevor er 2005 zum Pro-
fessor für Marketing berufen wurde.
Prof. Kreutzer hat durch regelmäßige Publikationen und Keyno-
te-Vorträge (u.  a. in Deutschland, Österreich, Schweiz, Frankreich,
Belgien, Singapur, Indien, Japan, Russland, USA) maßgebliche Im-
pulse zu verschiedenen Themen rund um Marketing, Dialog-­
Marketing, CRM/Kundenbindungssysteme, Database-Marketing,
Online-Marketing, Social-­Media-Marketing, Digitaler Darwinismus,
Digital Branding, Dematerialisierung, Change-­Management, Künst-
liche Intelligenz, Agiles Management, strategisches sowie inter-
nationales Marketing gesetzt und eine Vielzahl von Unternehmen im
In- und Ausland in diesen Themenfeldern beraten. Zusätzlich ist
Prof. Kreutzer als Trainer und Coach im Einsatz.
Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap
Ansatz für die digitale Transformation 16
Amaury-Alexandre Schaller und Ronald Vatananan-Thesenvitz

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird die Geschäftsmodellinnovations-Roadmap vorgestellt – ein neuer


Ansatz für den Innovationsprozess von Geschäftsmodellen, der auf dem Roadmapping-­
Konzept basiert. Die Geschäftsmodellinnovations-Roadmap dient Unternehmen als Un-
terstützung dafür, digitale Technologien in ihr Geschäftsmodell zu integrieren und dabei
die richtigen Ressourcen im Zeitablauf für die Umsetzung zuzuweisen. Als Methodik zur
Entwicklung des Ansatzes wurde eine Kombination aus einer Delphi-Befragung und ei-
ner Aktionsforschungs-Komponentenstrategie angewandt. Die Fallstudie zur Aktionsfor-
schung wurde in einem mittelständischen deutschen Unternehmen im Postdienstleis-
tungsbereich durchgeführt. Im vorliegenden Beitrag werden die spezifischen Merkmale
und Besonderheiten der Geschäftsmodellinnovations-­Roadmap aufgezeigt. Die Experten
sind sich einig, dass die vollständige Digitalisierung ausgewählter Geschäftsmodellkom-
ponenten zu empfehlen ist, was mit der Geschäftsmodellinnovations-­Roadmap darge-
stellt werden kann. Weiterhin geht aus den Ergebnissen hervor, dass die Integration von
digitalen Technologien in ein Geschäftsmodell von einem strukturierten und übersichtli-
chen Ansatz profitiert. Der im Beitrag dargestellte, praxiserprobte Ansatz zur Geschäfts-
modell-Innovation bietet Unterstützung bei der Entwicklung und der strategischen Ver-
ankerung von Digitalisierungspotenzialen im Geschäftsmodell.

A.-A. Schaller (*) · R. Vatananan-Thesenvitz


Bangkok University, Bangkok, Thailand
E-Mail: Amaury.schaller@thehackettgroup.com; ronald.t@bu.ac.th

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 437


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_16
438 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Schlüsselwörter

Geschäftsmodellinnovation · Roadmap · Roadmapping · BMI-R · Digitale


Transformation

16.1 Einführung

Die Globalisierung hat zu einer Öffnung der Märkte für den weltweiten Handel geführt,
aber diese gleichzeitig auch wettbewerbsintensiver gemacht. Um einen nachhaltigen Wett-
bewerbsvorteil zu gewährleisten, muss in Unternehmen eine Anpassung erfolgen und ein
Innovationsansatz für Geschäftsmodelle gefunden werden, um auf Marktanforderungen
und neue digitale Technologien reagieren zu können (Brillinger, 2018; Latilla et al., 2020;
Schallmo et al., 2017). In diesem Zusammenhang ist der Prozess der Geschäftsmodellin-
novation heute eine zentrale Herausforderung für ein Unternehmen. In einer aktuelle Stu-
die von Schaller und Vatananan-Thesenvitz (2019) wurde festgestellt, dass das Interesse
am Forschungsfeld der Geschäftsmodell-Innovation weiterhin steigt, was sich in verschie-
denen Prozessansätzen widerspiegelt (Bucherer, 2010; Johnson et al., 2008; Remane et al.,
2017; Schaller et al., 2018; Stampfl, 2016; Trapp et al., 2018). Praktiker vermissen jedoch
klare und strukturierte Vorgehensweisen, wie insbesondere im digitalen Kontext der Pro-
zess von der Ideenentwicklung zu implementierten Geschäftslösungen im Sinne von Ge-
schäftsmodellen zu verlaufen hat (Mohr et al., 2017). De Reuver, Bouwman und Haaker
(2013, S. 1) stellen diesbezüglich fest: Der Übergang zu einem neuen Geschäftsmodell
wirft verschiedene praktische und strategische Fragen auf, z. B. wie ein bestehendes Wert-
versprechen durch ein neues ersetzt werden kann, wann neue Ressourcen und Fähigkeiten
erworben werden sollten und wann neue Partnerschaften eingegangen werden können.
Die ständige Notwendigkeit für Veränderung ist für Unternehmen, die in einem sich
schnell wandelnden Umfeld verortet werden können, entscheidend  – insbesondere hin-
sichtlich des Wettbewerbsvorteils (Teece et al., 1997). Die Folgen sind, dass Unternehmen
zur ständigen Anpassung gedrängt werden, was bedeutet, in einem volatilen Umfeld flexi-
bel zu werden und zu bleiben (Schneider & Spieth, 2013).
Bisher wurde allerdings in nur wenigen Studien das Thema der Geschäftsmodellinno-
vation für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) beleuchtet (Gatautis et  al., 2019;
Heikkilä et al., 2018), sodass unklar bleibt, wie in KMU heutzutage das Geschäftsmodell
innoviert wird (Foss & Saebi, 2017). Kleine bis mittlere Unternehmen sind die Grundlage
für fast jede wirtschaftliche Aktivität und gelten als die dynamische Kraft hinter den meis-
ten Volkswirtschaften (Becker et al., 2008). Diese Arten von Unternehmen sind verant-
wortlich für Innovation, Wachstum und Beschäftigung (Bouwman et al., 2019). Laut As-
para, Hietanen und Tikkanen (2010) ist die Geschäftsmodellinnovation besonders
maßgebend für den Erfolg von KMU.
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 439

In diesem Beitrag wird ein strukturierter Ansatz für den Geschäftsmodellinnovations-­


Prozess vorgestellt. Zudem sollen die Führungen von Unternehmen (insbesondere KMU)
dazu ermutigt werden, ihre Geschäftstransformation im Rahmen der Digitalisierung pro-
aktiv zu gestalten. Beim vorgeschlagenen Ansatz wird der Geschäftsmodellinnovations-­
Prozess in das Roadmap-Konzept integriert, mit der Absicht das Geschäftsmodell auf die
organisatorischen Ziele auszurichten. Die Geschäftsmodellinnovations-Roadmap (BMI-R
für ‚Business-Model-Innovation-Roadmap‘) fungiert unterstützend bei der Verknüpfung
des Geschäftsmodells mit den notwendigen digitalen Technologien und durch ihre Ver-
wendung kann eine übersichtliche, synthetisierte und integrierte Sicht der Geschäftsmo-
dellinnovation in einem einfachen grafischen Format zusammengefasst werden. Außer-
dem wird mit der BMI-R einem Unternehmen ein Ansatz geboten, der bei der Visualisierung
zur Strukturierung von Aktivitäten, Ressourcen und Verantwortlichkeiten unterstützt, da-
bei die entsprechende Abfolge kommuniziert und somit einen Leitfaden zur Innovation
des Geschäftsmodells bereitstellt. Anhand der Ergebnisse kann unterstrichen werden, dass
ein koordinierter und systematisierter Ansatz sowohl die Effizienz als auch die Effektivität
von Geschäftsmodellinnovation in einer Organisation erhöht.

16.1.1 Ziel der Forschung

In der wissenschaftlichen Betrachtung ist ein steigendes Interesse am Forschungsfeld der


Geschäftsmodellinnovation zu beobachten (Schaller & Vatananan-Thesenvitz, 2019),
während in der Praxis allerdings nur begrenzte Fähigkeiten in Unternehmen gezeigt wer-
den, diese zu initiieren. Trotz der aus der Literatur wissenschaftlich zur Verfügung gestell-
ten Prozessdarstellungen stellt sich die Innovation von Geschäftsmodellen in der Praxis
nicht als Standardansatz heraus. Der unklare Prozess ist hauptsächlich auf das Fehlen von
Empfehlungen und Methoden aus der Literatur zurückzuführen, sodass Führungskräfte in
Unternehmen nicht wissen, wie sie den Geschäftsmodellinnovations-Prozess initiieren
sollen (Venkatraman & Henderson, 2008). Darüber hinaus ist in der Praxis der Innovati-
onsprozess eines Geschäftsmodells als Reaktion auf die Unternehmensumwelt (Casadesus-­
Masanell & Ricart, 2010; Doz & Kosonen, 2010) oft unklar. Für Unternehmen ist es
schwer einzuschätzen, wie genau sich ein neues Geschäftsmodell im Laufe der Zeit entwi-
ckelt und an das Ökosystem angepasst werden kann (Markides, 2008; Pohle & Chapman,
2006). Der Prozess kann als wenig strukturiert, zeitintensiv und oft ohne klare Ergebnisse
beobachtet werden (Halecker, 2016). Zwar sind einzelne Grundlagen in der Literatur be-
züglich der Möglichkeiten zum Vorgehen vorhanden, jedoch fehlt es an einem übergrei-
fenden, in sich schlüssigen Lösungsansatz. Aufbauend auf den vorangegangenen Ausfüh-
rungen ist das Ziel dieser Studie, einen Geschäftsmodellinnovations-Ansatz vorzuschlagen,
der in eine Roadmap integriert wird und dabei auf die Implementierung von digitalen
Technologien ausgelegt ist.
440 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Tab. 16.1  Forschungsfragen, -ziele und -methode


Forschungsfrage Forschungsziel Methode Kapitel
Wie kann die Entwicklung der Systematische Literaturrecherche Abschn. 16.2.3
Architektur der BMI-R Struktur des
aussehen, einschließlich BMI-R-Ansatzes
der Struktur der
einzelnen Ebenen?
Wie kann der Validierung des Delphi-Befragung Abschn. 16.3.1
entwickelte BMI-R-­ BMI-R-Ansatzes und 16.4.1
Ansatz empirisch durch Experten
verbessert und validiert
werden?
Wie kann der Prozess Testen des Aktionsforschungskomponenten-­ Abschn. 16.3.2
des BMI-R-Ansatzes in BMI-R-Ansatzes Projekt und 16.4.2
einem Unternehmen in einer realen
aussehen? Umgebung

16.1.2 Forschungsfragen

Nachhaltige Entwicklungen und Innovationen sind für ein Unternehmen in einem Umfeld
anhaltender Veränderungen notwendig. Jedoch erfordert ein dynamisches Umfeld eine zeit-
nahe Reaktion des Unternehmens, um nicht Nachteilen ausgesetzt zu sein. Daher erfordert
der Veränderungsprozess eine agile Anpassung des Geschäftsmodells, bei der einzelne Ge-
schäftsmodellkomponenten gezielt innoviert werden können. Alle Transformationsprojekte
erfordern eine Reflexion, wie in einem Unternehmen heute und in Zukunft Werte geschaf-
fen werden. Durch die potenziellen digitalen Disruptionsrisiken erfordert die Ausrichtung
aller Geschäftsmodellkomponenten, um das innovative Geschäftsmodell wettbewerbsfähig
zu machen, mehr als nur einen Aktionsplan von A nach B. Es wird ein integrierter Ansatz,
z.  B. eine Roadmap, benötigt, um ein Geschäftsmodell mit digitalen Technologien und
Ressourcen zu verknüpfen, in dem die Verbindungen zwischen den einzelnen Faktoren
übersichtlich und verständlich dargestellt wird. Daher ist es das übergeordnete Ziel dieser
Studie, einen solchen Ansatz zu finden. In Tab. 16.1 werden die Forschungsfragen mit den
Forschungszielen und der jeweiligen Forschungsmethode verknüpft.

16.2 Literaturübersicht

Diesem Beitrag liegt eine umfassende Literaturrecherche zu den Themen ‚Geschäftsmodellin-


novation‘ und ‚Technologie-Roadmap‘ zugrunde, wobei viele Argumente für die Integration
des Geschäftsmodellinnovations-Prozesses in eine (Technologie-)Roadmap gefunden wurden.
Die Literatur zu digitalen Technologien und Geschäftsmodellen wurde für die Struktur der
jeweiligen Ebenen der BMI-R berücksichtigt. Die ganzheitliche Konzeption Gesamtarchi-
tektur des Ansatzes folgt den generischen Roadmap-Prinzipien und Anforderungen.
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 441

16.2.1 Relevanz der Geschäftsmodellinnovation

Das Konzept eines Geschäftsmodells wurde ursprünglich von Drucker (1954) eingeführt
und wurde mit dem Aufkommen des Internets in den neunziger Jahren weit verbreitet
(Keen & Qureshi, 2006). Osterwalder und Pigneur (2010) stellten fest, dass ein solches
Modell das Design und die Architektur der Wertschöpfung, Wertlieferung und Werterfas-
sung für ein Unternehmen definiert. Ein Geschäftsmodell ermöglicht es, eine ganzheitli-
che, holistische Darstellung unternehmensrelevanter Aktivitäten in eine übersichtliche
Form zu überführen. Es handelt sich hierbei um ein System der internen oder der unter-
nehmensübergreifenden Leistungserbringung, das die Unternehmensstrategie als Aus-
gangspunkt hat und mit dessen Hilfe die relevanten Geschäftsfelder, die Wertschöpfung
und die Umsatzgenerierung auf höchster Aggregationsebene definiert werden. Unter ei-
nem ‚Geschäftsmodell‘ wird in diesem Beitrag gemäß der Definition von Schallmo (2013,
S. 22) Folgendes verstanden: „Ein Geschäftsmodell ist die Grundlogik eines Unterneh-
mens, die beschreibt, welcher Nutzen auf welche Weise für Kunden und Partner gestif-
tet wird.“
Schneider und Spieth (2013) merken an, dass das wachsende Interesse an der Ge-
schäftsmodellinnovation auf die Eignung des Geschäftsmodells zurückzuführen ist, eine
durch die verschiedenen Komponenten des Rahmens gegebene Analyseeinheit zu sein, die
es ermöglicht, alle wesentlichen internen und externen Variablen gleichzeitig zu betrach-
ten. Daher taucht das Geschäftsmodell als ein neuer Geltungsbereich für Innovation auf,
der zu den klassischen Prozess-, Produkt- und Dienstleistungsinnovationen hinzuzugefügt
wird (Chesbrough, 2010; Velamuri et  al., 2013). Aus einer genaueren Betrachtung der
verschiedenen Definitionen geht hervor, dass es sich im Kern um Änderungen der Archi-
tektur der Geschäftsaktivitäten handelt. Bei der Auswertung der Literatur wird deutlich,
dass es Unstimmigkeiten darüber gibt, wann eine Änderung der Geschäftsaktivität als Ge-
schäftsmodellinnovation eingestuft wird (Calvacante, 2014). Die Definitionen für Ge-
schäftsmodellinnovation reichen von der einfachen Änderung einer Geschäftsmodellkom-
ponente bis zur Neugestaltung des gesamten Branchengeschäftsmodells (Kraus et  al.,
2020). In mehreren Definitionen wird festgelegt, dass die Änderung von nur einer oder
zwei Komponenten eines Geschäftsmodells ausreichen, um als Innovation gelten zu kön-
nen (Lindgardt et al., 2009; Taran, 2011). Bei anderen Definitionen hingegen wird darauf
hingewiesen, dass nur eine grundlegende, neue Geschäftsaktivität als Geschäftsmodellin-
novation angesehen werden kann (Berglund & Sandström, 2013; Johnson et  al., 2008;
Markides, 2006; Skarzynski & Gibson, 2008). Unter diesen beiden Extremen verstehen
verschiedene Akademiker, dass Geschäftsmodellinnovation erreicht werden kann, wenn
„eine oder mehrere Komponenten“ (Frankenberger et al., 2013; Labbé & Mazet, 2005)
oder „mindestens vier von sechs Komponenten“ (Mitchel & Coles, 2004) sich grundle-
gend ändern. In diesem Beitrag wird die Definition von Frankenberger et al. (2013, S. 253)
für Geschäftsmodellinnovation verwendet: „At root, a business model innovation can be
defined as a novel way of how to create and capture value, which is achieved through a
change of one or multiple components on the business model.“ In dieser Definition werden
442 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

bestehende Definitionen der Geschäftsmodellinnovation aus der Literatur zusammenge-


fasst und die Geschäftsmodellinnovation für dieses Forschungsprojekt am verständlichs-
ten beschrieben. Anhand dieser Definition wird deutlich, dass eine solche Innovation er-
reicht wird, wenn sich mindestens eine Komponente signifikant ändert (Abdelkafi et al.,
2013; Demil & Lecocq, 2010).
Der Innovationsgrad eines Geschäftsmodells kann in ‚inkrementelle‘ und ‚radikale‘
Veränderungen unterteilt werden. Radikale Innovationen weisen einen disruptiven Verän-
derungsgrad auf, der eine hohe Zahl wirtschaftlicher Ressourcen bindet und grundsätzlich
mit einem gewissen Risiko behaftet ist. Bei inkrementelle Innovationen hingegen wird der
Veränderungsprozess kontinuierlich und in kleinen Schritten vorangetrieben. Demnach
können Fehlentwicklungen innerhalb des Innovationsprozesses schneller und einfacher
erkannt und behoben werden. Dies führt dazu, dass die sich daraus ergebenden Markt-
chancen im Vergleich zu Innovationen mit einem radikalen Charakter als geringer einzu-
stufen sind.

16.2.2 Technologie Roadmapping

‚Roadmapping‘ wird im Allgemeinen als Ansatz zur Unterstützung der Entwicklung, der
Kommunikation und der Umsetzung von Technologie- und Geschäftsstrategien verwendet
und gilt als zukunftsorientiertes Planungssystem (Vatananan & Gerdsri, 2012; Beeton
et al., 2008; Vinayavekhin & Phaal, 2019). Technologie-Roadmapping wird als ein Kon-
zept definiert, das bei der Erkundung und Kommunikation der dynamischen Verbindung
zwischen technologischen Ressourcen, organisatorischen Zielen und der sich verändern-
den Umgebung unterstützend fungiert (Geschka & Hahnenwald, 2013). Um die Definition
der Begriffe ‚Roadmap‘ und ‚Roadmapping‘ besser zu verstehen, ist der folgende Auszug
von Moehrle et al. (2013, S. 4) hilfreich: „Eine Roadmap ist nichts anderes als eine grafi-
sche Darstellung von Technologien, die oft Objekte wie Produkte oder Kompetenzen und
die Verbindungen, die sich im Laufe der Zeit zwischen ihnen entwickelt haben, in Bezie-
hung setzt. Die Aktivitäten, die zur Erstellung und Aktualisierung einer solchen Darstel-
lung erforderlich sind, werden als Technologie-Roadmapping bezeichnet.“
Neben der traditionellen Anwendung von Roadmaps gibt es neuartige Bereiche für das
Roadmapping, z. B. neue Produktentwicklungsprozesse (Petrick & Echols, 2004), Wis-
sensmanagement (Brown & O’Hare, 2001), virtuelle Innovation (Rinne, 2004), disruptive
Technologien (Kostoff et al., 2004; Walsh, 2004) und Geschäftsmodelle (De Reuver et al.,
2013; Schaller et  al., 2018), wodurch das flexible und anpassbare Potenzial des
Roadmapping-­Konzepts gezeigt werden kann. Obwohl Roadmaps für eine Vielzahl von
Zwecken mit unterschiedlichen Formen verwendet werden (Phaal et al., 2004), wird mit
diesen in der Regel das Ziel verfolgt, eine übergreifende, synthetisierte und integrierte
Sicht auf strategische Entscheidungen in einer einfachen bildlichen Darstellung zu erfas-
sen (Phaal et al. 2007).
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 443

Abb. 16.1  Generische Roadmap. (Quelle: Phaal et al., 2001)

Das am häufigsten verwendete Format einer Technologie-Roadmap besteht aus mehre-


ren Ebenen (mit verschiedenen Detailebenen wie Markt, Trends, Produkt, Technologie)
im Zeitablauf (kurz-, mittel- bis langfristig) (Lee & Park, 2005; Phaal et al., 2003; Phaal
& Muller, 2009), (Abb. 16.1). Dort werden die Einzelelemente der Roadmap eingesetzt
und mit Pfeilen zur Darstellung der Entwicklungsbeziehungen miteinander verbunden.
Dazu äußern sich Phaal et al. (2004, S. 14) wie folgt: „Die Roadmap ermöglicht es, die
Entwicklung innerhalb jeder Schicht zusammen mit den Abhängigkeiten zwischen den
Schichten zu erforschen, was die Integration der Technologie in Produkte, Dienste und
Geschäftssysteme erleichtert. Der Detaillierungsgrad bzw. die Granularität des Inhalts für
jede Ebene hängt von der Absicht des Roadmappings und der Zielgruppe ab.“

16.2.3 Entwicklung des Ansatzes anhand der Literatur

Der BMI-R-Ansatz basiert auf einer systematischen Literaturrecherche, die auf Empfeh-
lungen von Bryman und Bell (2015) sowie Easterby-Smith, Thorpe und Jackson (2015)
beruht und von einem Querverweis-Schneeballsystem der Literaturverzeichnisse kom-
plettiert wird (Saunders et al., 2016).
Der generische Roadmap-Ansatz wird als ‚dynamisches System-Framework‘ bezeich-
net, mit dem eine Architektur vorgeschlagen wird, innerhalb derer die Entwicklung eines
Systems abgebildet werden kann (Phaal et al., 2007). Somit eignet sich das Konzept für
den Innovationsprozess eines Geschäftsmodells, da es eine klare Struktur bietet. Als Vor-
teil dieser Visualisierungsform kann hervorgehoben werden, dass die Transformation der
einzelnen Geschäftsmodellkomponenten im Zeitablauf übersichtlich dargestellt werden
kann. Des Weiteren werden durch die Visualisierung der Querverbindungen zwischen den
einzelnen Ebenen gegenseitige Abhängigkeiten und Realisierungsvoraussetzungen im
444 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Zeitablauf abgebildet. Zusammenfassend unterstützen folgende Eigenschaften die An-


wendung von Roadmaps auf die Geschäftsmodellinnovation:

• Roadmapping bietet einen aufschlussreichen theorie- und praxisorientierten Ansatz für


strategische Innovationen (z. B. den Geschäftsmodellinnovations-Prozess) (Phaal et al.,
2004; Schaller et al., 2018).
• Mithilfe von Roadmapping können signifikante Marktveränderungen und wesentliche
Bedarfsschwerpunkte identifiziert werden, um die Notwendigkeit einer Innovation des
Geschäftsmodells zu verdeutlichen (Phaal et al., 2004).
• Der Ansatz bietet eine ganzheitliche, integrierte und interdisziplinäre Sicht (mit Fokus
auf Technologie und Innovation) und ist damit ein planungsorientiertes Konzept für das
Management komplexer Innovationsvorhaben wie der Geschäftsmodellinnovation
(Phaal et al., 2003, 2004).
• Durch die Nutzung von Roadmaps wird es Organisationen ermöglicht, einen Ansatz zu
geplanten Innovationen zu finden (Machate, 2006).

Beim BMI-R-Ansatz wird mit einer Situationsanalyse begonnen, die die Analyse des Ge-
schäftsumfelds, in dem das Unternehmen aktiv ist, beinhaltet. In der generischen Road-
map auf Basis von Phaal und Muller (2009) kann die Ausgangssituation mit der Vergan-
genheit und der aktuellen Situation verglichen werden – relevante Ereignisse und Fakten
aus der Vergangenheit werden hervorgehoben (z.  B. führende Wettbewerber, Marktein-
trittsstrategie, Kundenanalyse) und Verbesserungspotenziale für die zukünftige Ausrich-
tung abgeleitet. Die Analyse der Ausgangssituation hilft dem Unternehmen, die Branche,
den Markt, den Konkurrenten, die Lieferanten, die digitalen Technologien, den Kunden,
das allgemeine Umfeld (z. B. bezüglich der politischen Situation oder Gesundheitskrisen)
und die Gesamtwirtschaft zu bewerten und zu verstehen.
Die oberste Ebene einer Roadmap ist mit den Trends und Treibern verbunden, durch
die die mit der Roadmappingaktivität verbundenen Gesamtziele oder der Zweck bestimmt
werden (Phaal & Muller, 2009, S. 44). Daher stellt die erste Ebene der BMI-R-Struktur die
Ebene der digitalen Technologien dar, die aktuell existierende, aber auch aufstrebende
digitale Technologien umfasst. Für die oberste Ebene werden nur die digitalen Technolo-
gien als Trend berücksichtigt, da sie derzeit das größte disruptive Potenzial für Unterneh-
men und Industrien haben und somit zeitnah für die Entwicklung einer Branche an Rele-
vanz gewinnen können (Brynjolfsson & McAffee, 2014).
Die mittlere Ebene bezieht sich üblicherweise auf das greifbare System, das entwickelt
werden muss, um auf die Trends und Treiber der obersten Schicht zu reagieren (Phaal &
Muller, 2009, S. 44). Für den BMI-R-Ansatz bildet die mittlere Ebene die Komponenten
des Geschäftsmodells ab. Basierend auf einer Analyse und einem Vergleich verschiedener
Geschäftsmodelldarstellungen werden die folgenden vier Komponenten in die BMI-R in-
tegriert: Wertversprechen, Wertschöpfung, Wertlieferung und Werterfassung.
Die unterste Ebene der BMI-R stellt die Aktivitätenebene dar. De Reuver et al. (2013,
S. 8) zufolge kann die Übertragung auf die Aktivitätsebene durch folgende Frage geklärt
werden: Welche Aktivität muss ausgeführt werden, um die gewünschten Geschäftsmodell­
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 445

Fragen: Wo stehen wir jetzt? Wie können wir das erreichen? Wo wollen wir hin?
Analyse- Ver-
grad Ebene Komponente Zeit bindung
Analyse der Ausgangslage kurzfristig mittelfristig langfristig Vision Wann

- Gartners Hype-Zyklus 1 - Digitale Technologien, die den Zweck der Organisation beeinflussen oder neue schaffen können
Geschäfts- - PESTEL Analyse
Extern Digitale Technologien - Bezieht sich auf die digitalen Technologien, die die übergeordneten Ziele oder Zwecke im Zusammenhang mit Warum
umfeld - Branchenstrukturanalyse
- SWOT-Analyse
den Roadmapping-Aktivitäten bestimmen

- VRIO
2
Wertversprechen - Wertschöpfungskette
- Beinhaltet den Mechanismus (Geschäftsmodell), durch den der Zweck erreicht wird
Geschäfts- Wertschöpfung 3 - Portfolio Analysis
Intern - Bezieht sich auf das greifbare System (Geschäftsmodell), das entwickelt werden muss, um auf die digitalen Was
modell Wertlieferung - SWOT-Analyse
Technologien in der obersten Ebene zu reagieren
Werterfassung - Branchenstrukturanalyse
- Digitales Radar
Inhalt - Beinhaltet die Aktivitäten, die eingesetzt und integriert werden müssen, um das greifbare System
Design 4 (Geschäftsmodell) zu entwickeln
Aktivitäten Struktur Wie
Elemente - Bezieht sich auf die Aktivitäten, die zur Entwicklung der jeweiligen Geschäftsmodellkomponenten durchgeführt
Governance
werden müssen

Ziel: Ausgangslage beurteilen Welche Komponente muss transformiert Neues Geschäftsmodell


werden und welche Aktivitäten sollten
ausgeführt werden 5

Abb. 16.2  Darstellung der BMI-R. (Quelle: Eigene Darstellung)

änderungen zu ermöglichen? Unter ‚Aktivitäten‘ kann die Bildung von Geschäftspartner-


schaften, das Anlocken von Investitionen oder die Entwicklung von Technologien
­verstanden werden (De Reuver et al., 2013). Diese Aktivitäten können eine Geschäftsmo-
dellkomponente auf drei verschiedene Arten beeinflussen: (1) Inhalt, (2) Struktur und (3)
Governance (Zott & Amit, 2010).
Mit dem Roadmap-Ansatz ist es möglich, die Entwicklung, die Disruption, die Konver-
genz und die Transformation der Umwelt und des aktuellen Geschäftsmodells zu berück-
sichtigen und im Zeitablauf festzuhalten. Der aus der Literatur entwickelte BMI-R-Ansatz
ist in Abb. 16.2 dargestellt.
Der Prozess des BMI-R-Ansatzes umfasst fünf Kernschritte: (1) Bewertung des Um-
felds, (2) Analyse des aktuellen Geschäftsmodells, (3) Identifizierung des gewünschten
Innovationspotenzials, (4) Definition klarer Aktivitäten und (5) Überarbeitung der neu im-
plementierten Änderungen. Nach dem fünften Schritt wiederholt sich der Prozess erneut,
wodurch ein iteratives Vorgehen gewährleistet ist.

16.3 Forschungsmethodik

Die Forschungsmethodik besteht aus zwei Schritten: einer Delphi-Befragung zur Validie-
rung der entwickelten BMI-R aus der Literatur und einem Aktionsforschungs-­
Komponentenprojektes zur Erprobung des Ansatzes. In jedem Schritt wird ein bestimmtes
Forschungsziel verfolgt, das aus Tab. 16.1 entnommen werden kann.

16.3.1 Delphi Umfrage

Eine Delphi-Befragung ermöglicht es dem Forscher, die Meinung von Experten durch
eine strukturierte Gruppendiskussion zu sammeln, bei der die Teilnehmer nicht physisch
anwesend sein müssen (Mitchell & Larson, 1987). Diese Methode wird eingesetzt, um
446 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

über einen systematischen Prozess der Informationsbeschaffung Übereinstimmungen von


zukünftigen Trends zu finden. Der Prozess basiert auf einer Reihe von Fragebögen, die an
ein Expertengremium gesendet und nach jeder Runde überarbeitet werden, um Informati-
onen aus der vorherigen Runde einzubeziehen (Aichholzer, 2002; Häder, 2014; Häder &
Häder, 2000; Linstone & Turoff, 1975). Der Iterationsprozess ermöglicht es, die Genauig-
keit der Antworten innerhalb einer bestimmten Gruppendiskussion zu verbessern (Lin­
stone & Turoff, 1975; Skulmoski et al., 2007). Typischerweise endet eine Delphi-­Befragung,
wenn ein vordefiniertes Ziel erreicht ist oder ein Konsens unter den Experten zu einem
bestimmten Thema erzielt wurde (Häder, 2014; Häder & Häder, 2000).

16.3.1.1 Entwicklung des Fragebogens


Allgemeine Annahmen befolgend (Häder, 2014) wurden in der ersten Runde qualitative
Fragen gestellt, die in den nächsten Runden von quantitativen Fragen abgelöst wurden
(Häder, 2014; Skulmoski et al., 2007). Die breitere Operationalisierung der Fragen in der
ersten Runde verhindert ein mögliches Gefühl der Einschränkung bei den Teilnehmern
durch zu spezifische Vorgaben (Ammon, 2009). Die Fragen in der zweiten und dritten
Runde waren quantitativ formuliert und gaben den Teilnehmern somit einen genauen Rah-
men vor. Diese Fragen waren spezifischer und folgten einem typisch geschlossenen Fra­
gentyp. Der Gesamtfragebogen für jede Runde bestand aus einem Überblick über das
Forschungsziel, einer Einleitung mit einer kurzen Erklärung des BMI-R-Ansatzes (inklu-
sive Darstellung), dem Kontext der Studie, einer detaillierten Darstellung der BMI-R und
einer Erklärung zur Befüllung.

16.3.1.2 Datenerhebung durch Experten-Panel


Die Auswahl der potenziellen Experten für eine Delphi-Befragung ist von besonderer Be-
deutung, da das Wissen dieser Experten das Ergebnis der Studie beeinflusst (Häder, 2014;
Yousuf, 2007). Nach Adler und Ziglio (1996) sollten die Teilnehmer folgende Anforderun-
gen erfüllen: (1) Wissen und Erfahrung in Bezug auf das untersuchte Thema, (2) die Fä-
higkeit und die Bereitschaft zur Teilnahme, (3) ausreichend Zeit für die Teilnahme und (4)
praktische Kommunikationsfähigkeiten. Die teilnehmenden Experten bleiben während
der gesamten Delphi-Befragung anonym, d. h. ihre Identität wird den anderen Teilneh-
mern nicht offenbart. Die allgemeine Empfehlung für die teilnehmenden Experten ist,
verschiedene Perspektiven zu repräsentieren (Ammon, 2009; Bolger & Wright, 2011),
weshalb ein Delphi-Panel eine heterogene Gruppe aufweisen sollte. Daher besteht die
Gesamtstichprobe aus zwei Gruppen: Geschäftsmodell/Geschäftsmodellinnovation- und
Roadmap/Roadmapping-Experten (Tab. 16.2).
Obwohl es keine allgemeinen Regeln für die optimale Stichprobengröße einer Delphi-­
Befragung gibt, wird in der Literatur eine Reihe von Teilnehmerzahlen vorgeschlagen
(Häder, 2014). Insbesondere für qualitativ orientierte Delphi-Befragungen gilt jedoch
(Häder, 2014), dass sechs Experten als ausreichend anerkannt werden (Hasse, 1999). Oft
wird aus logistischen und praktischen Gründen eine kleinere Stichprobe empfohlen, da die
Koordination und Organisation einer Delphi-Befragung mit zunehmender Teilnehmerzahl
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 447

Tab. 16.2  Übersicht über den Stichprobenumfang der Untergruppen


Beabsichtigter endgültiger
Experte Stichprobenumfang Kontaktiert Runde 1 Runde 2 Runde 3
Geschäftsmodel/- 6 57 12 11 10
Innovation
Roadmap/ 6 31 9 8 8
roadmapping
Insgesamt 12 88 21 19 18

erschwert wird (Nworie, 2011). Bei der Betrachtung der Stichprobengröße muss auch die
Panel-Mortalität berücksichtigt werden. Daher sollte die anfängliche Stichprobengröße
groß genug sein, um in der letzten Runde, abzüglich der Ausfälle, noch eine ausreichende
Anzahl von Experten zu haben.

16.3.1.3 Datenanalyse
Für die erste Runde wurde eine qualitative Auswertungsmethode auf Basis der Inhaltsana-
lyse nach Mayring (1997) sowie der Grounded Theory nach Glaser et  al. (1968) ange-
wandt, da der Fragebogen auf offenen Fragen basierte und die Antworten der Teilnehmer
schriftliche, nicht-numerische Daten enthielten. Die Antworten wurden gesammelt, orga-
nisiert, beschriftet und Kategorien zugewiesen (kodiert). Für die Datenanalyse wurde
‚MAXQDA 12‘, ein Softwareprogramm zur Analyse von qualitativen Daten (Rädiker &
Kuckartz, 2019), verwendet, um ein A-priori-Klassifizierungssystem zu entwickeln. Das
Klassifizierungssystem wurde anhand der Interrater-Kennzahl, das ein Maß zur Bestim-
mung des Grades der Übereinstimmung zwischen zwei Bewertern darstellt, validiert (Bry-
man & Bell, 2015).
Nach der qualitativen Analyse in der ersten Runde wurden die Ergebnisse der zweiten
und dritten Runde, basierend auf dem oben erwähnten entwickelten Kategoriensystem,
mit ‚SPSS‘ (‚Statistical Package for the Social Sciences‘) statistisch ausgewertet. In die-
sen beiden Runden wurden die Ergebnisse hauptsächlich mit geschlossenen skalierten
Fragen ermittelt. Die Ergebnisse wurden anhand deskriptiver Methoden ausgewertet, wo-
durch eine differenziertere Übersicht über den Datensatz gewonnen werden konnte und
Erkenntnisse über das Antwortverhalten der Experten abgeleitet werden konnten. Die in
der zweiten und dritten Runde gesammelten Daten erlaubten außerdem, die Antworthäu-
figkeiten zu analysieren und auf Unterschiede in der Verteilung der Antworten zu testen.
Da die Delphi-Befragung Experten mit unterschiedlichem Hintergrund umfasste, konnte
der Unterschied zwischen den beiden Teilstichproben (Gruppen) untersucht werden.

16.3.2 Aktionsforschung

Aufgrund der Komplexität des Geschäftsmodellinnovations-Prozesses bietet sich eine Ak-


tionsforschungsstrategie an, da die Aktionsforschung eine Integration des Untersuchungs-
448 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

gegenstands erfordert (Ottosson, 2003). Die Innovierung von Geschäftsmodellen ist oft
komplex und dynamisch, was ein handlungsorientiertes Forschungsdesign mit temporären
Interaktions- und Nachjustierungsmöglichkeiten verlangt (Halecker, 2016, S.  22). Die
grundlegende Aktionsforschung, die von Kurt Lewin begründet wurde (Susman & Evered,
1978), ermöglicht es dem Forscher, Ansätze und Frameworks im untersuchten Szenario zu
entwickeln und zu testen. Es handelt sich um einen zyklischen Prozess, bei dem eine Ver-
änderung in einer bestimmten Situation eingeführt wird und diese dann beobachtet und
analysiert wird sowie weitere Aktivitäten geplant werden (Bryman & Bell, 2015; Saunders
et al., 2016). Die Aktionsforschung hat einen praktischen, problemlösenden Schwerpunkt
und beinhaltet eine systematische, kritische Reflexion mit dem Ziel, die praktischen Anlie-
gen von Menschen in einer unmittelbaren Problemsituation durch gemeinsame Zusammen-
arbeit innerhalb eines akzeptablen ethischen Rahmens zu lösen (Rapoport, 1970, S. 499).
Der Aktionsforschungszyklus beinhaltet die folgenden Schritte: den Schwerpunkt der For-
schung definieren, Aktivitäten planen und implementieren, daraus resultierende Ergebnisse
beobachten und reflektieren und bei Bedarf weitere Aktivitäten planen. In dieser Studie
wird der Aktionsforschungscharakter verfolgt, jedoch konnte die Beobachtung der weiteren
geplanten Aktivitäten aus Zeitgründen nicht umgesetzt werden. Daher wird in dieser Studie
statt ‚Aktionsforschung‘ der Begriff ‚Aktionsforschungskomponente‘ verwendet.

16.3.2.1 Forschungsobjekt
Das zugrundeliegende Untersuchungsobjekt dieser Studie ist ein mittelständisches Famili-
enunternehmen. Aufgrund der bedeutenden gesamtwirtschaftlichen Funktion, die KMU
erfüllen, sind sie häufig Gegenstand verschiedener wirtschaftspolitischer Aktivitäten (Be-
rens et  al., 2005). Jedoch ist nur jedes dritte KMU in Geschäftsmodellinnovations-­
Aktivitäten involviert und dies häufig auf unsystematische Weise (Bouwman et al., 2019).
Kleine und mittlere Unternehmen machen 99,5 % der Unternehmen in Deutschland aus,
während der Großteil der gesamtwirtschaftlichen Leistung von KMU erbracht wird (Botz-
kowski, 2018). Dennoch bestimmen kapitalmarktorientierte Unternehmen nach wie vor die
öffentliche Diskussion und bilden die Grundlage für Wirtschaftstheorien. Nichtsdestotrotz
wird der Mittelstand als Basis einer stabilen und leistungsfähigen Wettbewerbswirtschaft
anerkannt. Der deutsche Mittelstand ist ein zentrales Element der sozialen Marktwirtschaft
und ein entscheidender Erfolgsfaktor des deutschen Wirtschaftswunders (Botzkowski,
2018). Botzkowski (2018) unterstreicht daher die Bedeutung der teilweisen oder vollstän-
digen (digitalen) Transformation von Geschäftsmodellen für KMU. Insbesondere im Ver-
gleich zu größeren Unternehmen könnten KMU den Wettbewerb um Marktanteile verlieren
und letztlich einen Wettbewerbsnachteil erleiden. Aus diesen Gründen wird im vorliegen-
den Beitrag die Entwicklung des BMI-R-Ansatzes in einem KMU fokussiert.
Bei der Auswahl des Untersuchungsobjektes wurden die quantitativen Kriterien des
IfM Bonn (Günterberg, 2012) und die qualitativen Kriterien von Becker, Staffel und Ul-
rich (2008) berücksichtigt. Das untersuchte Unternehmen, das im Familienbesitz ist und
von der Gründungsfamilie noch geführt wird, ist im Postdienstleistungssektor im
­Business-­to-­Business-Bereich tätig. Die Dienstleistungen umfassen die Abholung und Zu-
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 449

stellung von Briefen und Paketen, die Beratung zu unternehmensinternen Poststellen und
die Optimierung von Lettershops. Dieses KMU wurde bewusst aufgrund der Relevanz für
die Forschungsfragen ausgewählt (Eisenhardt, 1989). Es bestand die Möglichkeit, in ei-
nem geringen Zeitraum auf alle notwendigen Informationen zuzugreifen. Außerdem war
die Bereitschaft zur Teilnahme an der Studie durch das Top-Management gegeben und
somit war auch der Zugang zu allen notwendigen Nachweisen und Daten gewährleistet,
was dabei half, das zu untersuchende Phänomen bestmöglich zu analysieren (Mayer, 2013).

16.3.2.2 Datenerhebung
Hinsichtlich der Aktionsforschung im Allgemeinen ähnelt die Datenerfassung dem Pro-
zess für andere Fallstudienforschungen (Halecker, 2016). Yin (2009) hat sechs primäre
Quellen für die Datensammlung vorgeschlagen: (1) Dokumente, (2) Archive, (3) Inter-
views, (4) direkte Beobachtung, (5) indirekte Beobachtung und (6) physische Artefakte.
Darüber hinaus bieten auch moderierte Workshops angemessene Möglichkeiten zur Daten­
erhebung (Eisenhardt, 1989; Pettigrew, 1990). Für dieses Projekt wurden alle sechs Quel-
len, die von Yin (2009) vorgeschlagen wurden, berücksichtigt. Darüber hinaus wurde ein
Workshop durchgeführt, der auf dem S-Plan-Entwicklungsprozess für eine generische
Roadmap basiert (Phaal et al., 2003).
Die Interviews wurden mit zwei Mitarbeitern in unterschiedlichen Funktionen geführt
(beide aus der obersten Führungsebene), um einen Single-Informant-Bias zu vermeiden
(Ernst & Teichert, 1998). Die Interviewfragen basierten auf einem offenen Fragenformat.
Dadurch wurde es den Befragten ermöglicht, ihr Verständnis des Phänomens in ihren ei-
genen Worten zu formulieren (Patton, 2002). Die Interviews folgten einem halbstruktu-
rierten Interviewleitfaden (qualitative Interviews) und dauerten jeweils etwa eine Stunde
(Yin, 2009).
Der Workshop diente dazu, mögliche Lösungen zu identifizieren und zu klassifizieren,
um die gewünschte Geschäftsmodellinnovation im Kontext der digitalen Transformation
zu erreichen. Der von Kerr, Phaal und Probert (2012) entwickelte Workshop-Ansatz für
generische Roadmaps wurde für die Erarbeitung der BMI-R für das Untersuchungsprojekt
angepasst angewandt. Der Workshop-Ansatz ist für die Roadmap-Entwicklung geeignet,
da die Teilnehmer durch den Workshop in eine Diskussion eingebunden werden, um einen
Konsens bezüglich der Architektur, den Ebenen und des Inhalts der Roadmap zu finden.
Ein Workshop ist ein sozialer Mechanismus sowie eine Form der Datenerhebung, bei der
ein Gleichgewicht zwischen der Interpretation von qualitativen Daten und Interventionen
gewährleistet wird und zudem das Ziel verfolgt wird, Lösungen für praktische Probleme
zu finden und neue Gruppenerkenntnisse für ein besseres Verständnis zu schaffen. Das
‚wahre‘ Leistungsvermögen des Roadmapping-Workshops liegt in der Gruppendynamik
und der gemeinsamen Anstrengung (Phaal et  al., 2007). Der Workshop wurde in zwei
Sitzungen unterteilt, die über zwei Tage mit drei Teilnehmern aus der oberen bis mittleren
Managementebene abgehalten wurden. Phaal et al. (2007) haben sechs Schritte für den
S-Plan-Roadmapping-Entwicklungsprozess definiert, die für den BMI-R-Workshop ange-
passt wurden (Abb. 16.3):
450 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Workshop
(b)
Planung (a) Strategische (c) Vorrangige (d) Weiteres Überprüfung
Innovationschancen
Landschaft Chancen erkunden Vorgehen
identifizieren
- Fokus, Umfang, Ziel - Gegenwärtige - Identifizieren und - Möglichkeiten in - Überprüfung der - Überprüfung des
- Roadmap-Architektur funktionale priorisieren von kleinen Gruppen Möglichkeiten und erlernten
- Prozess/Agenda Perspektive Dimension Chancen und definieren und Vereinbarung zum - Aktivitäten und
- Teilnehmer - Erfassung dieser und strategischen Richtung einschätzen weiteren Vorgehen Richtung
- Logistik andere Sichten auf Optionen - Feedback & - Überprüfen und überprüfen
- Vorbereitung Roadmap mit Chart Überprüfung vereinbaren, wie
- Identifizieren, - Wiederholen, wenn die Roadmap
überprüfen und es die Zeit erlaubt vorangetrieben wird
Priorisierung der
wichtigsten Themen

Abb. 16.3  S-Plan Workshop Ansatz. (Quelle: Phaal et al., 2007)

16.3.2.3 Datenanalyse
Nach der Übersetzung der Notizen aus den Interviews, der Gruppendiskussion, den direk-
ten und indirekten Beobachtungen und dem Workshop wurde die Analyse auf der Grund-
lage eines Standardkodierungsverfahrens erstellt (Bryman & Bell, 2015). Hierzu wurde
erneut die Software MAXQDA verwendet. Die vordefinierten Kodierregeln basierten auf
denen, die für die Delphi-Befragung definiert wurden. Allerdings wurden die Kodes an
das  Projekt der Aktionsforschungskomponente angepasst. Daher wurden einige, schon
bestehende Kodes verwendet, jedoch wurden auch neue aus den Daten abgeleitet. Der
Interrater-­
Agreement-­Ansatz wurde erneut angewandt, um die Interpretation der im
Aktionsforschungs-­Komponentenprojekt gewonnenen Daten zu validieren (Bryman &
Bell, 2015). Generell sollte die Komplexität des Kodierschemas reduziert werden, da ein-
fachere Codes im Vergleich zu komplexeren als zuverlässiger angesehen werden (Garrison
et al., 2006).

16.4 Ergebnisse

Der Ergebnisteil wird in zwei Unterabschnitte gegliedert: Zunächst wird auf die Ergeb-
nisse aus der Delphi-Befragung eingegangen, worauf in einem weiteren Schritt die Prä-
sentation der Aktionskomponentenforschung folgt. Am Ende dieses Abschnitts wird eine
Zusammenfassung der Gesamtergebnisse gegeben.

16.4.1 Ergebnisse der Delphi-Befragung

Es wurden insgesamt 88 potenzielle Teilnehmer für die Delphi-Befragung kontaktiert, um


eine geeignete Stichprobengröße zu erreichen und eine ausgewogene Verteilung zwischen
den beiden Expertengruppen (Geschäftsmodell/Geschäftsmodellinnovation und R ­ oadmap/
Roadmapping) zu gewährleisten. An der Delphi-Befragung nahmen in der ersten Runde
21, in der zweiten 19 und in der dritten Runde 18 Personen teil.
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 451

16.4.1.1 Ergebnisse erste Runde


Aus der qualitativen Analyse der Freitextantworten aus der ersten Runde gingen erste Er-
kenntnisse über die Erwartungen an die mögliche Architektur der Roadmap und den je-
weiligen Aufbau der Ebenen hervor. Die erste Frage zielte darauf ab, eine Aussage über
verschiedene Analysetools zur Bewertung des Unternehmensumfelds zu erhalten. Die in
der Umfrage vorgeschlagenen Tools waren die Branchenstrukturanalyse, eine PESTEL-­
Analyse, eine SWOT-Analyse und ein Freitextfeld, um den Teilnehmern die Möglichkeit
zu geben, andere Tools vorzuschlagen. Die meisten Teilnehmer betonten, dass die vorge-
schlagenen Tools nur dann für die Beurteilung des Umfelds geeignet sind, wenn diese
auch durch andere analytische Tools wie die Szenarioanalyse, die Marktanalyse, die Kon-
kurrenzanalyse und die Stakeholder-Analyse ergänzt werden. Mehrere Teilnehmer bekräf-
tigten, dass die verschiedenen Tools auch hilfreich sein könnten, um digitale Technologien
zu identifizieren. Der Forscher schlug in der zweiten Runde der Delphi-Befragung die
Implementierung eines ‚Toolkits‘ für die Analyse des externen Umfelds vor. Das Toolkit
kann für die Erstellung, Entwicklung und Verbesserung der BMI-R verwendet werden. Je
nach Unternehmen und Branche können unterschiedliche Tools oder Methoden eingesetzt
werden. Ein erneuter Literaturvergleich führte zu weiteren Erkenntnissen eines Roadmap-­
Toolkits (Karasev & Vishnevskiy, 2013; Kerr et  al., 2017). Das vorgeschlagene Toolkit
beinhaltet auch Ansätze und Methoden zur Analyse der internen Leistungsfähigkeit eines
Unternehmens und der im Unternehmensumfeld liegenden digitalen Technologien (oberste
Ebene). In diesem Zusammenhang kann der integrative Charakter einer Roadmap genutzt
werden, wie in der Literatur von Phaal et al. (2005) vorgeschlagen wird (Abb. 16.4).

Abb. 16.4  Der Roadmapping-Framework integriert mit anderen strategischen Planungstool.


(Quelle: Phaal et al., 2005)
452 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Die meisten Teilnehmer hielten die vier Komponenten (d. h. Wertversprechen, Wert-
schaffung, Wertlieferung und Werterfassung) für die Darstellung der mittleren Ebene, des
Geschäftsmodells, für angemessen. In den offenen Textfeldern schlug ein Experte auch
die Komponente ‚Wertnetzwerk‘ vor, die dann in der zweiten Runde des Fragebogens den
anderen Teilnehmern vorgeschlagen wurde.
Die vorgeschlagene Aktivitäten-Ebene (unterste Ebene) in der BMI-R war für die Ex-
perten irreführend. Die meisten Teilnehmer verstanden weder ihren Zweck noch ihre Be-
ziehung zu den anderen Ebenen. Die einzelnen Komponenten waren zwar verständlich,
jedoch blieb der Fluss der Aktivitäten recht abstrakt. Daher wurden in der zweiten Runde
des Fragebogens weitere Erklärungen für diese Ebene gegeben und nach erneutem Feed-
back gefragt.
Bei den Prozessschritten waren sich die Teilnehmer ebenfalls unsicher, wie viel Zeit
und Aufwand für einen Zyklus erforderlich sein würden. Daher wurde in der zweiten
Runde ein agiler Ansatz vorgeschlagen, bei dem zu Beginn so schnell wie möglich iteriert
und dann definiert wird, wo im Geschäftsmodell weitere Aufmerksamkeit erforderlich ist,
um die Aktivitäten neu auszurichten. Die agile Methode wird auch in der Literatur vorge-
schlagen, wobei Folgendes angemerkt wird: Die Geschäftsmodellinnovation ist und sollte
ein iterativer Prozess von Anpassungen im Streben nach besserer Leistung und Erfolg sein
(Heikkila & Heikkila, 2017).
Insgesamt beurteilten die Teilnehmer, dass drei Ebenen für die Darstellung der BMI-R
geeignet sind – vor allem, weil ein Outside-in-Ansatz geboten wird, um Aktivitäten für die
digitale Transformation des Geschäftsmodells zu planen.

16.4.1.2 Ergebnisse zweite Runde


Anhand der deskriptiven Auswertungen wird deutlich, dass ein strukturierter Ansatz von
hoher Relevanz ist und dass die digitale Transformation für Geschäftsmodelle heute un-
verzichtbar ist. In der Tat wurde der Zusammenhang zwischen der digitalen Transforma-
tion eines Geschäftsmodells und dem Erfolg eines Unternehmens als besonders ausge-
prägt bewertet, vor allem aufgrund der neuen Möglichkeiten, die die digitalen Technologien
mit sich bringen. Die Teilnehmer erkannten unterschiedliche Auswirkungen der digitalen
Technologien auf die jeweiligen Geschäftsmodellkomponenten. Der höchste Einfluss
wurde der Wertlieferung zugeschrieben, gefolgt von der Wertschöpfung, dem Wertver-
sprechen, dem Wertnetzwerk und schließlich der Werterfassung. Das Ergebnis lässt sich
möglicherweise damit erklären, dass für die Werterfassung aktuell schon unterschiedliche
digitale Lösungen von vielen Unternehmen genutzt werden (z. B. ERP-Syteme). Der über-
arbeitete BMI-R-Ansatz wurde in der zweiten Runde der Delphi-Befragung insgesamt als
‚gut‘ bewertet. Auch die Bedeutung des Ansatzes zur Unterstützung und Steuerung des
Geschäftsmodellinnovations-Prozesses wurde als ‚überdurchschnittlich gut‘ empfunden.
Die Bewertung des externen Umfelds eines Geschäftsmodells durch die Kombination
verschiedener Tools wurde ausdrücklich empfohlen – insbesondere um die Ausgangssitu-
ation des Unternehmens zu analysieren. Die Experten favorisierten die Integration der
Tools in ein Toolkit zur Bewertung der Ausgangssituation des Geschäftsmodells. Dieses
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 453

Toolkit enthält auch Tools zur Analyse der unternehmensinternen Prozesse sowie der digi-
talen Technologien.
Der Einfluss digitaler Technologien auf die jeweiligen Geschäftsmodellkomponenten
wurde deutlich überdurchschnittlich gut bewertet. Daher ist die alleinige Konzentration
auf digitale Technologien für die obere Ebene angemessen, da sie als wesentlicher Ein-
fluss auf Geschäftsmodelle und in diesem Zusammenhang auf deren Erfolg erkannt wer-
den. Folglich wird für die obere Ebene eine Kategorisierung digitaler Technologien vorge-
schlagen, um diese angemessen bewerten und abbilden zu können. Die Klassifizierung der
digitalen Technologien basiert auf Bouée und Schaible (2015) und ist in vier Kategorien
unterteilt: digitale Daten, Automatisierung, digitaler Kundenzugang und Vernetzung. Die
Einteilung der oberen Ebene nach Bouée und Schaible (2015) wurde von den Experten nur
mit wenigen negativen Nennungen bewertet. Des Weiteren geht aus den Ergebnissen her-
vor, dass die Teilnehmer die digitale Transformation ausgewählter Geschäftsmodellkom-
ponenten (79 %) entweder auf Basis einer vollständigen digitalen Transformation (47 %)
oder einer teilweisen digitalen Transformation (32 %) favorisieren. Mit der BMI-R können
ausgewählte Geschäftsmodellkomponenten für die digitale Transformation isoliert und
abgebildet werden.
Die mittlere Ebene der BMI-R betrifft die Darstellung des Geschäftsmodells und der
zugehörigen Komponenten. In Runde eins der Delphi-Befragung machten die Teilnehmer
Vorschläge zu Verbesserungsmöglichkeiten für diese Ebene. Basierend auf diesen Vor-
schlägen wurde eine fünfte Komponente, das ‚Wertnetzwerk‘, hinzugefügt, die von den
anderen Experten bestätigt wurde. Unter der Komponente ‚Wertnetzwerk‘ wird die Ver-
bindung zu Plattformen und deren Bedingungen für die digitale Zusammenarbeit verstan-
den, um strategische oder operative Ziele zu erreichen.
Auf der Grundlage des Feedbacks aus der ersten Runde wurde vorgeschlagen, dass
Aktivitäten in Kategorien gruppiert werden können, die für die Innovation eines Ge-
schäftsmodells in Frage kommen. Die Teilnehmer bestätigten die überarbeitete Aktivitäts-
ebene und sahen die vordefinierten Kategorien als nützlich an. Allerdings fand diese Ebene
die geringste Befürwortung und Zustimmung unter den Teilnehmern. Daher war eine prä-
zisere Konzeptualisierung dieser Ebene erforderlich, um diese praktikabler zu gestalten.
Dies war ein zentrales Ziel des Fragebogens in der dritten Runde der Delphi-Befragung.
Im letzten Teil des Fragebogens der zweiten Runde wurden die Prozessschritte des
BMI-R-Ansatzes fokussiert. Durch die erste Runde konnten viele neue Vorschläge zu den
Prozessschritten gesammelt und bewertet werden. Daher wurde der Prozess in eine Design­
phase und eine Realisierungsphase aufgeteilt (mit einem neuen Schritt ‚Implementierung‘
anstelle von ‚Überarbeiten‘). Die Teilnehmer empfahlen ein agiles und iteratives Vorgehen
und stimmten zu, einige ‚Kontrollpunkte‘ zwischen den jeweiligen Prozessschritten
einzufügen.

16.4.1.3 Ergebnisse dritte Runde


In der dritten Iterationsrunde der Delphi-Befragung wurde unter den Teilnehmern ein
Konsens über die Architektur und den Aufbau der jeweiligen Ebenen der BMI-R und der
454 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

entsprechenden Prozessschritte erzielt. Basierend auf den Antworten der zweiten Runde
wurde die unterste Ebene der BMI-R nochmals überarbeitet, da sie nicht bei allen Teilneh-
mern auf Zustimmung stieß. Daher wurde in der dritten Runde der Befragung diese Ebene
fokussiert – mit dem Ziel, eine Einigung zu erreichen, indem ein neues Design für diese
Ebene vorgeschlagen wird. Bei der Neuentwicklung dieser Ebene wurden die Kommen-
tare und Aussagen der Experten aus der zweiten Runde berücksichtigt. Die Darstellung
der untersten Ebene durch Aktivitäten erschien zu unübersichtlich. Darüber hinaus fehlte
dadurch die Ressourcenkomponente, die bei Transformationsprojekten wesentlich ist. Mit
der Integration der Ressourcenebene (anstelle der Aktivitäten) in den BMI-R-Ansatz kön-
nen nun Aktivitäten durch die Betrachtung des Gesamtansatzes abgeleitet werden. In der
Literatur zu Roadmaps bezieht sich die unterste Ebene oft auf die Ressourcen, die für die
Entwicklung der erforderlichen Produkte, Dienstleistungen und Systeme aufgebracht wer-
den müssen. Dies beinhaltet auch wissensbasierte Ressourcen wie technologische Fähig-
keiten und Kompetenzen sowie andere Ressourcen wie Finanzen, Partnerschaften, Pro-
duktionsanlagen und Interaktionen in der Lieferkette (Phaal & Muller, 2009, S. 44). Durch
die unterste Ebene werden die Fähigkeiten und organisatorischen Anforderungen unter-
strichen und die Ressourcen, die für die Ermöglichung von Innovationen vorhanden sein
müssen, gekennzeichnet.

16.4.2 Ergebnisse Aktionsforschungskomponente Projekt

Die Ergebnisse des Aktionsforschungskomponenten-Projektes basieren auf Interviews


und einem Workshop, ergänzt durch Unternehmensunterlagen, Beobachtungen und der
Auswertung eines Fragebogens. Zunächst werden die Resultate aus den Interviews vorge-
stellt, gefolgt von den Workshop- und Fragebogenergebnissen.

16.4.2.1 Interviews
Eine Woche vor dem Workshop wurden Interviews mit dem kaufmännischen Leiter und
dem stellvertretenden Geschäftsführer durchgeführt. Beide Interviewpartner hatten nur
wenig Erfahrung mit Innovationsaktivitäten. Während den Interviews war den Interview­
partnern nur wenig über das Zukunftspotenzial der Geschäftsmodelle des Unternehmens
bekannt. Beide Interviewpartner gaben jedoch an, dass sie neuen Möglichkeiten im
Zusammenhang mit der digitalen Transformation positiv gegenüberstehen. In einer
Postsektor-­
Studie durch Bogers, Sund und Vallarroel (2015, S.  277) gaben drei
­Interviewpartner an, sich auf digitale Transformationsprojekte zu konzentrieren – aller-
dings wurde dieses Vorhaben nicht durch den Einsatz einer Roadmap unterstützt.
Insgesamt ist eine Verschiebung der Branchenlogik durch die Integration digitaler
Technologien und die zunehmende Kommunikation über digitale Kanäle zu erkennen
(vgl. Bogers et al., 2015). Daher muss das Geschäftsmodell des Unternehmens erneuert
werden, um neue Wertversprechen, vorzugsweise auf digitaler Basis, für den Kunden zu
identifizieren (vgl. Apostolov & Coco, 2020).
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 455

Während der Interviews betonten beide Interviewpartner die begrenzten Ressourcen


und die Fähigkeit im Unternehmen, sich in einem Geschäftsmodellinnovations-­
Transformationsprojekt zu engagieren, da die richtige Ressourcenzuweisung nicht immer
transparent dargestellt werden kann. Mittelständische Unternehmen stellt dies vor große
Herausforderungen, da die zur Verfügung stehenden Ressourcen begrenzt sind, was nach-
vollziehbarerweise zu einem Spannungsfeld zwischen der radikalen Digitalisierung und
den damit einhergehenden Risiken führt. Die problematische Ressourcenverteilung wurde
auch von Bogers et al. (2015, S. 270) in deren Studie über die europäische Postindustrie
erkannt: Eine Reihe von dynamischen Spannungen zwischen dem Kerngeschäft und den
neuen innovativen Geschäftsmodellen, wie auch der Wettstreit um Ressourcen und Fähig-
keiten gehören zu den bedeutendsten Herausforderungen für Unternehmen in dieser Bran-
che. Beide Interviewpartner waren unsicher, wie sie den Geschäftsmodellinnovations-­
Prozess beginnen sollten und berichteten von Schwierigkeiten, den Überblick über alle
relevanten Prozessschritte zu behalten. Die Komplexität und die systemübergreifenden
Dimensionen der Geschäftsmodellinnovation sind für kleinere Unternehmen zu umfang-
reich und nur mit hohem Aufwand zu bewältigen – vor allem, wenn die Erfahrung in sol-
chen Prozessen fehlt.
Trotz der kreativen Ideen im Unternehmen konnte bisher keine Innovation realisiert
werden. Die kaufmännische Leitung wies darauf hin, dass die Entwicklung etwaiger Inno-
vationen durch den täglichen Geschäftsbetrieb beeinträchtigt wird. Als fehlende Elemente
zur Realisierung von Geschäftsmodellinnovation wurden personelle Ressourcen, finanzi-
elle Mittel und das erforderliche Know-how betont. Die Befragten gaben an, dass sie einen
Ansatz benötigen, durch den es ihnen ermöglicht wird, digitale Technologien zu analysie-
ren und die erforderlichen Ressourcen (intern und extern) für Innovationen sowie die
Transformation des Geschäftsmodells aufzuzeigen und entsprechend zu verteilen.

16.4.2.2 Workshop
Der Workshop fand an zwei Tagen statt und folgte den allgemeinen Regeln und Prinzipien
des S-Plan-Ansatzes für Roadmapping-Workshops von Phaal et  al. (2003). Nach dem
Workshop wurde eine Gruppendiskussion durchgeführt und die Teilnehmer wurden gebe-
ten, einen Fragebogen, der an Bucherer (2010) angelehnt ist, auszufüllen. Insgesamt sahen
die Teilnehmer den Ansatz für den Geschäftsmodellinnovations-Prozess als geeignet an.
Die verschiedenen Phasen des Workshops halfen, die BMI-R für das Unternehmen in
kleineren Schritten zu entwickeln und boten wesentliche Unterstützung beim Start des
Prozesses. Der gewählte Ansatz half maßgeblich dabei, vorhandene Ideen zu kanalisieren.
Es konnte somit ein Lagebild über potenzielle digitale Technologien, die sich auf die
Komponenten des Geschäftsmodells auswirken, sowie über die erforderlichen Ressourcen
und Fähigkeiten, um die angestrebte Innovation und die digitale Transformation des Un-
ternehmens zu erreichen, erstellt werden. Da Ressourcen einen Engpass in Transforma-
tions- oder Veränderungsprojekten darstellen (z. B. finanzielle Ressourcen oder personelle
Ressourcen), ist die Möglichkeit der Auswahl und Fokussierung auf eine Geschäftsmo-
dellkomponente in der BMI-R essenziell.
456 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

Im Allgemeinen wurde der BMI-R-Ansatz als gut strukturiert und umfassend für
Geschäftsmodellinnovations-­Projekte anerkannt. Außerdem bestätigten die Teilnehmer
die Anzahl der Ebenen, die bereits von den Experten im Zuge der Delphi-Befragung vali-
diert wurden. Ferner gaben die Teilnehmer an, dass die richtigen Komponenten in den je-
weiligen Ebenen enthalten sind. Alle Teilnehmer empfahlen die Anwendung des Ansatzes
in der Praxis. Vor allem für mittelständische Unternehmen lasse sich der Ansatz gut an-
wenden. Neben der klaren und umfassenden Struktur besitzt der Ansatz die geeignete
Granularität, um in der Praxis eingesetzt werden zu können. Durch den Einsatz der BMI-R
im Unternehmen konnten für die einzelnen Geschäftsmodellkomponenten zukünftige Po-
tenziale entdeckt und spezifische Ressourcen und Aktivitäten allokiert werden. Daher
wurde der Ansatz als treibende Kraft für den Geschäftsmodellinnovations-Prozess gese-
hen, durch den auch eine weitere Differenzierung vom Wettbewerb möglich war. In der
Gruppendiskussion empfahlen die Teilnehmer außerdem, den Ansatz über einen längeren
Zeitraum zu testen, um seine Praxistauglichkeit angemessen beurteilen zu können.
Die Entwicklung des Geschäftsmodells sollte im Einklang mit der gesamten (digitalen)
Strategie des Unternehmens stehen. Eine Verknüpfung mit der strategischen Ausrichtung
sollte also während des BMI-R-Entwicklungsprozesses vorgenommen werden. Die
BMI-R unterstützt bei der Planung, Steuerung und Kontrolle der Unternehmensentwick-
lung. Die Teilnehmer diskutierten folgende Vorteile, die durch die Anwendung des
BMI-R-Ansatzes geboten wird:

• Der Ansatz ermöglicht die organisatorische Verankerung und damit die Institutionali-
sierung der Geschäftsmodellinnovation.
• Der strukturierte BMI-R-Ansatz erlaubt es, die einzelnen Komponenten im Zeitablauf
miteinander zu verknüpfen und die Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwi-
schen den Ebenen zu erkennen – innerhalb sowie außerhalb der Organisation.
• Der Prozess des Workshops ermöglichte es den Teilnehmern, zeiteffizient eine große
Zahl von Ideen zu sammeln und so einen ersten Eindruck von der BMI-R des Unter-
nehmens zu erhalten.
• Die BMI-R-Visualisierung fungierte unterstützend bei der Verdichtung kritischer Infor-
mationen über die Zukunft des Geschäftsmodells.

Mit den fünf Komponenten konnte das Geschäftsmodell des Unternehmens adäquat dar-
gestellt werden. Obwohl das Geschäftsmodell ‚Canvas‘ von Osterwalder und Pigneur
(2010) auch während des Workshops vorgestellt wurde, empfanden die Teilnehmer die
Darstellung in fünf Komponenten als geeigneter. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit
der Validierung durch die Experten in der Delphi-Befragung. Die fünf vorgeschlagenen
Komponenten wurden gegenüber der Darstellung von Osterwalder und Pignuer (2010)
priorisiert.
Der Workshop diente der Entwicklung zukünftiger Geschäftsmodelle für die kurz-,
mittel- und langfristige Zukunft des Unternehmens. Durch den Einsatz der BMI-R sind die
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 457

Auswirkungen von Geschäftsmodellinnovationen auf die unternehmerische Wertschöp-


fung im Kontext der Digitalisierung operativ gut zu evaluieren und somit auch für die
strategische Ausrichtung relevant. Alle Teilnehmer waren sich einig, dass die aus der An-
wendung des BMI-R-Ansatzes resultierenden Geschäftsmodell-Ideen innovativ waren
und dass sich die zukünftig dargestellten Geschäftsmodelle für die verschiedenen Zeitho-
rizonte deutlich vom aktuellen Geschäftsmodell und denen der Konkurrenz unterscheiden.
Darüber hinaus sahen die Teilnehmer in den neuen Geschäftsmodellen nicht nur inkre-
mentelle Verbesserungen, sondern signifikante Veränderungen. Die Neuartigkeit des Ge-
schäftsmodells zeigt sich auch darin, dass die Ergebnisse nicht antizipiert wurden und die
gewonnenen Erkenntnisse innovativ waren. Die erarbeiteten Ideen in den Workshops wur-
den von den Teilnehmern als für das Unternehmen umsetzbar eingestuft. Dies zeigt, dass
der Ansatz in der Praxis anwendbar ist und dadurch die Entwicklung von wettbewerbsfä-
higen Geschäftsmodellen unterstützt.

16.4.3 Validierter und getesteter BMI-R Ansatz

Der vorgeschlagene BMI-R-Ansatz wurde von Experten durch eine Delphi-Befragung va-
lidiert und in einem Aktionsforschungs-Komponentenprojekt getestet. Während des ge-
samten Prozesses wurden Anpassungen und Modifikationen an dem zu entwickelnden
Ansatz vorgenommen. Die BMI-R soll nützliche Informationen, eine Struktur und den
Kontext für den Geschäftsmodellinnovations-Prozess liefern. Durch den Ansatz wird eine
Organisation dabei unterstützt, den Weg in die Zukunft zu skizzieren und spezifische Ak-
tivitäten für eine erfolgreiche Umsetzung frühzeitig zu planen. Die Roadmap-Architektur
bietet ein angemessen ausgearbeitetes Konstrukt für Unternehmen, um sich mit digitalen
Technologien auseinanderzusetzen und diese logisch zu erarbeiten, um sie zu antizipieren
und in Abstimmung mit der Unternehmensstrategie in die jeweiligen Geschäftsmodell-
komponenten zu integrieren. Durch die dargestellten Erfolgsfaktoren wird deutlich, dass
neben einer eindeutigen Zieldefinition für die Verwendung des Ansatzes zunächst der Er-
stellungsprozess von wesentlicher Bedeutung für die Qualität, aber auch für die Akzeptanz
der entwickelten Roadmap ist. Der endgültige BMI-R-Ansatz ist in Abb. 16.5 dargestellt
Nach der abschließenden Datenerhebung und -analyse ergibt sich folgende Definition
für den BMI-R-Ansatz:

cc Unter Berücksichtigung der externen Unternehmenswelt werden beim BMI-R-­


Ansatz digitale Technologien mit den einzelnen Geschäftsmodellkomponenten im
Zeitablauf ­
­ abgeglichen und die erforderlichen Ressourcen zur Unterstützung des
Geschäftsmodellinnovations-­Prozesses an den richtigen Stellen zugewiesen. Durch den
BMI-R Ansatz wird es ermöglicht, kritische Informationen über die Zukunft des Ge-
schäftsmodells visuell zu konsolidieren, mit dem Ziel, die digitale Transformation einer
Organisation voranzutreiben.
458 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

a
Ebene Komponente Vision kurzfistig mittelfristig langfristig Wann
Digitale Daten
Digitale Technologien, die den Zweck der Organisation
Toolkit 1 Digitale Automatisierung
beeinflussen oder neue schaffen können. Digitale Technologien Warum
Analyse-Tools für: Technologien Digitaler Kundenzugang
können in vier verschiedene Kategorien unterteilt werden.
Vernetzung
- Makro-Umfeld
3
- Mikro-Umfeld Initial Wertversprechen
Beinhaltet den Mechanismus (Geschäftsmodell), durch den der
- Digitale technologien Situation Wertschöpfung
Analysis Geschäfts- Zweck erreicht wird. Bezieht sich auf das greifbare System
Wertlieferung Was
- Unternehmensressourcen modell (Geschäftsmodell), das entwickelt werden muss, um auf die
Werterfassung
- Interne Aktivitäten digitalen Technologien in der obersten Ebene zu reagieren.
Wertnetzwerk
- Wirtschaftliche Machbarkeit Intern 4 Grundlegende Ressourcen (intern oder extern) zur Unterstützung
2 Ressourcen Wie
Extern der Innovation der Geschäftsmodellkomponenten.

b
DESIGN REALISIERUNG

EVALUIEREN ANALYSIEREN IDENTIFIZIEREN DEFINIEREN IMPLEMENTIEREN


11. Bewertung des 22. Analyse des 33. Identifizierung der 44. Definieren des 55. Implementierung
Umfelds sowie KP aktuellen Ge- KP Geschäfts- KP Ziels und der dafür KP der definierten KP
Evaluierung der schäftsmodells modellkomponente, erforderlichen Ressourcen und
Gefahr einer einschließlich die von digitalen Ressourcen Verlinkung zu den
Disruption der Bewertung des Technologien anderen Ebenen
Branchenlogik digitalen Reifegrads profitieren würde

= Iteration CP = Kontrollpunkt = Zyklus

Abb. 16.5  Finaler BMI-R Ansatz. (Quelle: Eigene Darstellung)

16.5 Diskussion

Die BMI-R ist ein neuer Ansatz für Geschäftsmodellinnovationen, der zu weiteren For-
schungen zur Verschmelzung von Geschäftsmodellen und Roadmaps zur Darstellung des
Geschäftsmodell-innovations-Prozesses anregen könnte. Roadmapping ist ein optimales
Instrument zur Überbrückung der Unstimmigkeiten zwischen technologieorientierter di-
gitaler Transformation und einem marktorientiertem Geschäftsmodell und eignet sich da-
her für Geschäftsmodellinnovations-Aktivitäten. Es stellt einen geeigneten Ansatz dar, der
der steigenden Dynamik und Komplexität der Umwelt sowie der rasch zunehmenden
Wettbewerbsintensität gerecht wird.

16.5.1 Implikationen

Die Implikation für das Forschungsfeld ‚Roadmap‘ ist die Weiterentwicklung der (Tech-
nologie-)Roadmap zum Planungs-, Steuerungs- und Kontrollinstrument für Geschäftsmo-
dellinnovation. Die Integration des Geschäftsmodellinnovations-Prozesses in eine Road-
map erweitert dieses Forschungsfeld um einen neuen Anwendungsbereich und trägt zum
traditionellen Ansatz bei. Auf diese Weise können betriebliche Verbesserungen erreicht
werden. Die Notwendigkeit, das Geschäftsmodell laufend zu optimieren, steht im Ein-
klang mit der Literatur, in der hervorgehoben wird, dass ein nachhaltiges Geschäftsmodell
selten sofort gefunden wird, sondern eine schrittweise Verfeinerung erfordert, um interne
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 459

Konsistenz zu schaffen und/oder sich an sein Umfeld anzupassen (Demil & Lecocq,
2010). Die Implikationen können in den folgenden allgemeinen Leitlinien für den
Geschäftsmodellinnovations-­Prozess zusammengefasst werden:

• Das sich schnell verändernde Geschäftsumfeld zwingt Unternehmen dazu, zeitnah auf
neue potenzielle disruptive, digitale Technologie zu reagieren. Daher muss in Unter-
nehmen die digitale Transformation von Geschäftsmodellen proaktiv vorangetrieben
werden, während diese sich in einer stabilen wirtschaftlichen Lage befinden. Ange-
sichts zunehmend verschwimmender Branchengrenzen ist ein Geschäftsmodell längst
nicht mehr stabil und somit ist eine frühzeitige und aktive Einbindung in die Geschäfts-
modellinnovation der Schlüssel zum Erfolg.
• In dieser Studie wird verdeutlicht, wie relevant ein strukturiertes Vorgehen für die Ge-
schäftsmodellinnovation ist. Eine Analyse der Ausgangssituation, einschließlich einer
Bewertung des externen Umfelds, ist dabei unerlässlich. Das Verständnis der Unterneh-
mensumwelt ist entscheidend, um wesentliche Einflüsse auf die Erneuerung des Ge-
schäftsmodells vorherzusehen und Marktchancen zu erkennen.
• Die Initiierung des Geschäftsmodellinnovations-Prozesses ist kostenintensiv sowie
kompliziert und unterliegt verschiedenen Unwägbarkeiten (z. B. Zielmarkt, Kundenbe-
dürfnisse, Vorschriften). Daher ist für die Geschäftsmodellinnovation ein iterativer An-
satz und kein klassischer Innovationsansatz, der bei Produkten oder Prozessen oft ein-
gesetzt wird, wesentlich.
• Der Ansatz hilft, mögliche Hindernisse in Bezug auf die Mitarbeiter zu überwinden:
Diese sind oft Veränderungen gegenüber abgeneigt und haben hohe Erwartungen an die
digitale Transformation des Geschäftsmodells. Die Visualisierung der Geschäftsmodell­
innovation durch die Einbettung in eine Roadmap-Architektur hilft zudem, den Pro-
zess im Zeitablauf gegenüber allen relevanten Stakeholdern besser zu kommunizieren
und Ressourcen und Fähigkeiten dort zuzuordnen, wo sie am besten eingesetzt werden
können. Diese Art von visueller Repräsentation für die Gestaltung von Geschäftsmo-
dellen bietet eine Struktur sowie eine gemeinsame Sprache an und stellt somit den
Prozess auf eine klare, verständliche Weise dar (Eppler et al., 2011).
• Die Entwicklung eines neuen Geschäftsmodells umfasst auch die Veränderung von
spezifischen organisatorischen Fähigkeiten und Beziehungen zu neuen Kunden,
­Lieferanten und anderen Geschäftspartnern. Daher müssen Unternehmen bei der Um-
setzung des BMI-R-Ansatzes im täglichen Geschäftsbetrieb veränderte Strukturen für
die Organisation und die jeweiligen Abteilungen berücksichtigen.

Mit dem Vorschlag eines strukturierten Leitfadens für den Geschäftsmodellinnovations-­


Prozess wird in diesem Beitrag eine bestehende Lücke in der betriebswirtschaftlichen For-
schung und Praxis bezüglich der Innovation eines Geschäftsmodells im Zeitablauf adressiert
und beleuchtet, wie solche Veränderungen visualisiert werden können. Durch die richtige
Anwendung der BMI-R werden Führungskräfte von Unternehmen ermutigt, ihre digitale
Transformation aktiv zu gestalten und damit ihr aktuelles Geschäftsmodell zu optimieren,
um einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil zu schaffen. Mithilfe der BMI-R wird die Ver-
460 A.-A. Schaller und R. Vatananan-Thesenvitz

knüpfung des Geschäftsmodells mit digitalen Technologien unterstützt und eine übergeord-
nete, synthetisierte und integrierte Sicht der Geschäftsmodellinnovation in einem einfachen
grafischen Format erfasst. Die Fallanwendung des BMI-R führte zu weiteren Erkenntnissen,
aus denen zusätzliche Leitlinien für die Anwendung des Ansatzes in der Praxis abgeleitet
wurden. Aus unternehmenspraktischer Sicht trägt diese Forschung dazu bei, den praktischen
Ansatz des Geschäftsmodellinnovations-Prozesses zu erleichtern und zu verbessern. Für die
Unternehmenspraxis kann die Empfehlung ausgesprochen werden, das Geschäftsmodell
und die digitale Transformation dessen als strategisches Thema zu verstehen und dies somit
auch auf der Agenda von Top-Managements wiederzufinden sein sollte.

16.5.2 Limitationen

Obwohl versucht wurde, bei der Untersuchung alle wissenschaftlichen Gütekriterien zu


berücksichtigen, gibt es, wie von Thorngate (1976) erwähnt, keine sozialwissenschaftliche
Studie, mit der es möglich ist, die Ziele der Verallgemeinerbarkeit, Genauigkeit und Ein-
fachheit gleichzeitig zu erreichen und daher gelten einige Restriktionen. Eine Einschrän-
kung ergibt sich aus der Datenanalyse der Antworten der Delphi-Befragung in der ersten
Runde sowie aus der Aktionsforschungsstrategie. Die Datenanalyse geschieht subjektiv,
da die Kodierkriterien nicht als völlig objektiv angesehen werden können und die Auswer-
tung der einzelnen Antworten immer Raum für verschiedene Interpretationen zulässt. Da
der Fragebogen der Delphi-Befragung auf einem ordinalen Skalenniveau basierte und die
Stichprobengröße nicht größer als n = 30 war, konnten zudem nur nicht-parametrische
Tests durchgeführt werden, die nicht detailreich waren und weniger genau als parametri-
sche statistische Tests sind.
Darüber hinaus hätten, bezogen auf die Datenvalidität, mehr Experten in die Delphi-­
Befragung einbezogen werden können. Diese zusätzlichen Experten hätten weitere Einbli-
cke und Gestaltungsmöglichkeiten anbieten können und somit bei der Entwicklung des
BMI-R-Ansatzes unterstützen können. Eine weitere wesentliche Einschränkung ergab sich
durch die Verwendung einer Aktionsforschungs-Komponentenstrategie. Die BMI-R wurde
nur in einer Fallstudie angewandt, wodurch kein vollständig umfassendes und repräsentati-
ves Bild erzeugt werden kann. Aufgrund der Stichprobengröße (eine Fallstudie) kann es
branchen- oder firmenspezifische Kontexte geben, die von den dargestellten Gegebenheiten
abweichen. Was die Nützlichkeit des Ansatzes in der Praxis angeht, so kann der Ansatz selbst
keine Garantie für eine erfolgreiche Geschäftsmodellinnovation sein. Innovation lässt sich
im Allgemeinen nicht erzwingen und hängt in der Regel auch von anderen Faktoren ab.

16.5.3 Zukünftige Forschung

Durch diesen Beitrag ergeben sich weitreichende zukünftige Forschungsmöglichkeiten.


Die Verknüpfung zwischen den Ebenen sollte vertieft untersucht und mit einer detaillier-
ten Beschreibung der Interaktion dieser weiterentwickelt werden. In diesem Beitrag be-
16  Der Geschäftsmodellinnovations-Roadmap Ansatz für die digitale Transformation 461

schränkt sich die oberste Ebene der BMI-R auf digitale Technologien, da diese einen we-
sentlichen Innovationstreiber darstellen. In zukünftigen Forschungen sollte diese oberste
Ebene jedoch auf andere Treiber ausgeweitet werden – entweder in Kombination mit digi-
talen Technologien oder als separate Roadmap-Ebene. Die Ergebnisse deuten darauf hin,
dass die Anwendung des BMI-R-Ansatzes in der Praxis die Effizienz und Effektivität in
Bezug auf die Ressourcenallokation erhöhen würde. Daher sollten die positiven Erkennt-
nisse über die Anwendung des Ansatzes in mehreren realen Fällen, möglicherweise in
verschiedenen Branchen, weiter getestet und angewendet werden.
Darüber hinaus sollte in zukünftiger Forschung die mögliche Implementierung der
BMI-R im täglichen Geschäftsbetrieb fokussiert werden. Einen ersten Versuch hat der
Autor in einem kürzlich erschienenen Konferenzbeitrag unternommen (Schaller et  al.,
2018). Allerdings basierte der Vorschlag nicht auf empirischen Erkenntnissen. Drittens
könnten in zukünftigen Forschungen die Dynamik und die Zusammenhänge der BMI-R
und der (digitalen) Strategie mit Hilfe einer Prozessmethodik untersucht werden. Einige
Forscher haben den Einfluss der Strategie auf den Geschäftsmodellwandel bereits aner-
kannt (Casadesus-Masanell & Ricart, 2010), was bedeutet, dass eine Änderung der Unter-
nehmensstrategie auch eine anschließende Transformation des jeweiligen Geschäftsmo-
dells impliziert.

16.5.4 Fazit

Die BMI-R unterstützt Führungskräfte dabei, gewünschte Transformationsergebnisse sicht-


barer zu kommunizieren – sei es aus finanzieller oder operativer Sicht. Der Vorteil dieser
Visualisierungsform besteht darin, dass die Weiterentwicklung der einzelnen Geschäftsmo-
dellkomponenten im Zeitablauf klar nachvollziehbar ist. Mit der BMI-R erhält eine Organi-
sation einen gemeinsamen visuellen Ansatz für die Strukturierung von Ressourcen, Fähig-
keiten und Verantwortlichkeiten. Es wird eine Roadmap für die K ­ ommunikation der
entsprechenden Abfolge von Aktivitäten und Leitprinzipien abgebildet, durch die die Ge-
schäftsmodellinnovation in der digitalen Transformationslandschaft geregelt wird.

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Amaury-Alexandre Schaller  ist Unternehmensberater im Opera-


tions Bereich von The Hackett Group mit speziellem Fokus auf die
Transformation von Betriebsmodellen im Einkauf. Darüber hinaus
unterstützt er Unternehmen bei der Konzeption und Umsetzung ope-
rativer und strategischer Einkaufsprozesse. Dabei liegt sein Schwer-
punkt auf die Integration von technologischen Lösungen. Dr. Amau-
ry-Alexandre Schaller hat seine Promotion im Jahr 2020 an der
Bangkok Universität und am Institute for Knowledge and Innovation
Management South-East Asia (IKI-SEA) abgeschlossen. Seine For-
schungsarbeit fokussierte sich auf die Geschäftsmodellinnovation
getrieben durch digitale Technologien.

Ronald Vatananan-Thesenvitz  ist seit September 2016 Senior In-


novationsspezialist für das Institute for Knowledge and Innovation
South-East Asia (IKI-SEA) an der Universität Bangkok in Thailand.
Im Rahmen seiner beruflichen Laufbahn verfügt Dr. Ronald über
langjährige Erfahrung in Management- und Unternehmensberatung
für europäische und thailändische Unternehmen. Als Akademiker
liegt sein wissenschaftliches Interesse in der strategischen Planung,
wobei der Schwerpunkt auf Roadmapping und der Analyse von Än-
derungen im Geschäftsumfeld und deren Auswirkungen auf die Ge-
schäftsstrategie liegt. Darüber hinaus ist er Dozent für die Entwick-
lung neuer Produkte, Marktforschung und die Früherkennung
aufkommender Trends und Technologien.
Teil IV
Digitale Implementierung
Digitalisierung der Produktion im
Mittelstand: Status quo und 17
Handlungsempfehlungen für eine
erfolgreiche Umsetzung

Marc Bayer und Fabian Bauer

Zusammenfassung

Technologien zur Digitalisierung der industriellen Produktion sind seit einigen Jahren
verfügbar. Während die Großindustrie sie bereits großflächig einsetzt, haben mittel-
ständische Unternehmen noch immer Nachholbedarf.
Zielsetzung unserer Studie war es daher, eine Bestandsaufnahme der Digitalisierung
in der mittelständischen Industrie vorzunehmen. Dazu haben wir Interviews mit Ver-
tretern von 35 Unternehmen durchgeführt. Im Mittelpunkt stand die Erhebung relevan-
ter Technologien und Use Cases (also konkreter Anwendungen digitaler Technologien
in der Praxis). Weitere Fragen hatten die Wirtschaftlichkeit und die zugrundeliegende
Strategie von Digitalisierungsvorhaben zum Gegenstand.
Aus den Ergebnissen der Studie und zahlreichen Best-Practice-Beispielen haben wir
ein Zielbild abgeleitet. Mit diesem Gestaltungsmodell bekommen mittelständische
Unternehmen ein Instrument an die Hand, das ihnen den Schritt von einem domänen-
spezifischen Ansatz zu einer ganzheitlichen Digitalisierung ihrer Fabriken im Sinne
einer echten „Next Gen“-Produktion erleichtern soll.

M. Bayer (*)
Roland Berger GmbH, Stuttgart, Deutschland
E-Mail: marc.bayer@rolandberger.com
F. Bauer
Roland Berger GmbH, München, Deutschland
E-Mail: fabian.bauer@rolandberger.com

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 469


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_17
470 M. Bayer und F. Bauer

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Produktion · Mittelstand · Status quo · Handlungsempfehlungen

17.1 Warum Digitalisierung so wichtig ist

Industrielle Revolutionen hatten schon immer tiefgreifende Folgen. Ob Dampfmaschine,


elektrische Energie, Massenproduktion oder Computer: Jeder dieser technologischen Um-
brüche stellte alles bisher Dagewesene in Frage und führte zu massiven Veränderungen
des Lebensalltags der Menschen.
Treiber der sogenannten vierten industriellen Revolution, die wir aktuell erleben, sind
Entwicklungen wie das Internet of Things und Automatisierungstechnologien. Im Rah-
men der Hannover Messe 2011 wurde dafür erstmals der Begriff „Industrie 4.0“ benutzt.
Die Bezeichnung löste einen regelrechten Hype aus und wurde zum Synonym für indus­
trielle Digitalisierung. Offizielle Weihen erhielt er spätestens mit der Veröffentlichung
eines Berichtes durch den Branchenverband Acatech zwei Jahre später (Acatech, 2013). In
der Folge wurden Unternehmensstrategien und Forschungsprojekte danach benannt und
Schlagwörter wie Digitale Fabrik, Künstliche Intelligenz (KI), Internet of Things und Col-
laborative Robots (Cobots) entwickelten sich.
Volkswirtschaftlich betrachtet ist Industrie 4.0 für Deutschland hoch relevant, denn im
Vergleich zu den meisten anderen Industrienationen ist der Anteil des produzierenden Ge-
werbes an der Wertschöpfung der Gesamtwirtschaft mit rund 23 Prozent (2020, ohne Bau-
gewerbe) überproportional hoch (Destatis, 2011, S. 11; Destatis, o. J.). Weil der Mittel-
stand in Deutschland, insbesondere als Zulieferer, aber auch als Produzent von
Endprodukten, das Rückgrat der Industrie bildet und zahlreiche Hidden Champions stellt,
spielt eine erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 hier eine besonders wichtige Rolle.
Aber auch, um seine Innovationsstärke, Effizienz, Schnelligkeit und Qualität der Prozesse
weiterhin als Wettbewerbsvorteil nutzen zu können, ist der Mittelstand auf den Einsatz
modernster digitaler Methoden angewiesen.1

In der Praxis weist der Weg zur digitalen Fabrik im Mittelstand noch weit
Wie der Blick auf den Unternehmensalltag zeigt, steht der Mittelstand dabei allerdings vor
zahlreichen Hindernissen:

• Im Gegensatz zu großen Unternehmen hat der Mittelstand häufig sowohl finanziell als
auch personell wenig Spielraum für Experimente. Der Einsatz neuer Technologien
muss sich kurzfristig bewähren oder idealerweise amortisieren.

1
 Eine breite Diskussion verschiedenster Aspekte von Industrie 4.0 im Mittelstand bieten (Matt
et al., 2020)
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 471

• Die für eine umfassende Digitalisierung erforderlichen Kompetenzen fehlen häufig.


• Digitalisierungsmaßnahmen binden Ressourcen, die im Mittelstand meistens besonders
knapp bemessen sind und an anderer Stelle fehlen.
• In mittelständischen Unternehmen muss oft zwischen verschiedenen ressourcen-
intensiven Themen wie SAP-Einführung, Modularisierung des Produktportfolios,
­Programmen zur Leistungssteigerung und Digitalisierung priorisiert werden. Die Ent-
scheidung fällt dabei häufig zulasten der Digitalisierung aus.

Aus den genannten Gründen scheint sich der Hype rund um das Thema Digitalisierung im
Mittelstand zwischenzeitlich gelegt zu haben  – allerdings ohne auf breiter Basis tief-
greifende Veränderungen hinterlassen zu haben. So sind laut einem aktuellen KfW-Bericht
derzeit bei jedem dritten Mittelständler keinerlei digitale Aktivitäten zu verzeichnen
(Zimmermann, 2021). Dabei gibt es kaum Zweifel, dass der digitale Wandel das Potenzial
hat, die Fertigung auch und gerade im Mittelstand zu revolutionieren.
So bilden digitale Technologien nicht nur die Grundlage für neue Geschäfts-
modelle, sowohl funktional in der Produktion als auch im Ökosystem mit anderen
Akteuren, sondern eröffnen ebenso neue Kostensenkungs- und Effizienzsteigerungs-
potenziale. Damit leisten sie einen wichtigen Beitrag, die Wettbewerbsfähigkeit
mittelständischer Unternehmen langfristig abzusichern. Darüber hinaus ist die eigene
praktische Auseinandersetzung mit digitalen Anwendungen die Voraussetzung, um bei
der Entstehung und Etablierung neuer Standards – sei es im Bereich der IT oder bei
branchenspezifischen Spezifikationen – „am Ball“ zu bleiben. Nicht zuletzt erleichtern
digitale Lösungen die Vernetzung mit Partnern (siehe dazu auch 5.). Das ist für Mittel-
ständler umso wichtiger, als sie nicht – wie Großunternehmen – das meiste im eigenen
Haus produzieren können.

Standortbestimmung und Handlungsempfehlungen


Ziel der vorliegenden Studie ist es vor diesem Hintergrund, den Status quo der Digitalisie-
rung in der mittelständischen Industrie abzubilden. Darüber hinaus soll gezeigt werden,
wie eine erfolgreiche Transformation und Implementierung der digitalen Produktion ge-
lingen kann.

Im Zentrum der Untersuchung stehen folgende Fragestellungen:

• Wo stehen mittelständische Unternehmen derzeit bei der Digitalisierung der Produk-


tion und welche Faktoren beeinflussen die weitere Entwicklung?
• Welche Veränderungen sind mittelfristig innerhalb der Unternehmen und im um-
gebenden Ökosystem zu erwarten?
• Wie lässt sich eine ganzheitliche und skalierbare Digitalisierung der Produktion erfolg-
reich umsetzen?
472 M. Bayer und F. Bauer

17.2 Externe und interne Rahmenbedingungen: Der Mittelstand


in stürmischen Zeiten

Mittelständische Unternehmen sind derzeit besonderen Belastungen ausgesetzt. Ihre Ge-


schäftsmodelle, teilweise sogar ihre wirtschaftliche Existenz, stehen gleich mehrfach
unter Druck. Wirtschaftliche Unsicherheit geht einher mit einer eher schleppenden Mo-
dernisierung der Betriebe. In der Folge befinden sich viele Firmen seit Monaten im Krisen-
modus. Es gilt, vielfältigen Anforderungen gerecht zu werden und gleichzeitig keinen
wichtigen Trend zu verpassen. Verschärft wird die Situation durch knappe finanzielle Mit-
tel und fehlende Fachkräfte, wie sie größeren Unternehmen zur Verfügung stehen.

17.2.1 Externe Herausforderungen: Unsicherheiten prägen


die Unternehmensumwelt

Schwierige Handelsbeziehungen  Nach wie vor ist unklar, wie sich die europäischen
Handelsbeziehungen mit wichtigen Partnern außerhalb der EU weiter entwickeln werden.
In Bezug auf die USA bestehen zwar berechtigte Hoffnungen, dass sich die trans-
atlantischen Beziehungen unter Präsident Biden verbessern, doch sind die unter Präsident
Trump verhängten Strafzölle, etwa auf Stahl und Aluminium, unverändert in Kraft und die
EU plant Gegenmaßnahmen. Auch das Verhältnis zu China und Russland bleibt, nicht zu-
letzt durch politische Konfliktherde wie Hongkong und die Ukraine, angespannt. Hinzu
kommt weltweit eine wachsende Tendenz zur Regionalisierung von Handel und Produk-
tion. Das sorgt unter den mittelständischen Unternehmen, die meistens direkt oder indirekt
als Zulieferer vom Export abhängen, für Unsicherheit. Viele stellen daher aktuell ihre
Produktionsstandorte und Lieferketten auf den Prüfstand (UNCTAD, 2020, S. 119–177).
Digitalisierung kann hier dienlich sein, indem sie beispielsweise valide Daten als Ent-
scheidungsgrundlage für die Unternehmensführung bereitstellt oder die Vernetzung mit
neuen Partnern ermöglicht.

Nachhaltigkeit  Umweltbelastungen, steigende Anforderungen an die Unternehmens-


führung und ein wachsendes Umweltbewusstsein in der Gesamtgesellschaft setzen Firmen
unter Druck, immer ambitioniertere Nachhaltigkeitsstandards zu erfüllen. Insbesondere
strengere CO2-Emissionsvorgaben haben bei vielen Mittelständlern enorme Auswirkungen
auf Geschäftsmodelle, Erlöse und betriebliche Prozesse; hinzu kommen international un-
einheitliche Regelungen und hohe Investitionen in klimaneutrale Technologien. Digitali-
sierung kann hier für mehr Transparenz sorgen, den Umgang mit der Volatilität erleichtern
und helfen, die eigenen Emissionen besser zu steuern (Beier et al., 2020).

Corona-Pandemie  Die meisten mittelständischen Unternehmen haben nach wie vor


stark mit den Auswirkungen der Pandemie zu kämpfen (Creditreform, 2021). Mit Blick
auf Virusmutationen und schleppend angelaufene Impf- und Testkampagnen bleibt die
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 473

Verunsicherung auf absehbare Zeit bestehen. Dies manifestiert sich unter anderem in einer
Unsicherheit bezüglich Personal- und Investitionsplanung, die häufig mit einer ver-
schlechterten Eigenkapitalausstattung mittelständischer Unternehmen einhergeht. Der
volkswirtschaftliche Schaden der Pandemie und ihre langfristigen Auswirkungen sind
heute noch schwer abschätzbar. All das schlägt sich am Ende auch in der Ertragslage der
­Unternehmen nieder – weshalb es auch an der für die Digitalisierung der Fabriken nötigen
Liquidität fehlt (Schwartz et al., 2020, S. 4).

17.2.2 Interne Herausforderungen: Digitalisierungshürden


in den Unternehmen

Komplexität  Die konkrete Umsetzung von Digitalisierungsprojekten kann äußerst kom-


plex sein: An welchen Stufen der Wertschöpfungskette soll angesetzt, welche Produktions-
prozesse sollen priorisiert werden? Weitere Fragen, die sich Unternehmen stellen, lauten
etwa: Welche der unzähligen Technologien und/oder Anwendungen im Markt ist in mei-
nem Fall die beste? Oder ist es vielleicht sinnvoller, eine eigene Lösung zu entwickeln?
Bislang sind viele Unternehmen noch im Experimentierstadium mit den neuen Techno-
logien. Ihren Entscheidungen über Kapital-, Ressourcen- und Personaleinsatz fehlt daher
oft die entscheidende Grundlage: eine übergreifende Strategie, mit deren Hilfe sich die
Komplexität des Gesamtvorhabens erfolgreich reduzieren lässt.2

Monetarisierung  Nach wie vor wird die Frage der Monetarisierung der Digitalisierung
in den meisten Projekten vernachlässigt. Präzise Berechnungen, etwa zur Investitions-
rendite oder zum Einspar- und Umsatzsteigerungspotenzial der Digitalisierung, sind eher
die Ausnahme als die Regel. Doch ohne entsprechende Business Cases dürfte es für viele
Firmen schwierig werden, ein ambitioniertes Digitalisierungsziel konsequent zu ver-
folgen. Es gilt somit herauszufinden, wie und wodurch genau sich Produktionskosten
durch Skalierung senken oder Umsätze steigern lassen, und dann die relevanten Kenn-
zahlen aus dem Projektmanagement in die reguläre Budgetplanung zu überführen.

Anpassung von Strukturen, Prozessen und Fähigkeiten  Fälschlicherweise wird das


Thema Digitalisierung häufig getrennt von der bestehenden Produktion betrachtet. Die
Folge: Weder sind Kernprozesse und Organisationsstrukturen auf Digitalisierung aus-
gelegt, noch ist diese wirklich in den Unternehmen verankert. Oft fehlt es auch an den
erforderlichen digitalen Fähigkeiten, so dass die Schwerpunktverlagerung ins Digitale in

2
 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Ergebnis des KfW-Mittelstandpanels 2020 (Zimmer-
mann, 2020, S. 3), demzufolge 71 Prozent der mittelständischen Unternehmen, die eine Digitalisie­
rungsstrategie verfolgen, digitale Plattformen nutzen, aber nur 31 Prozent der Unternehmen, die dies
nicht tun. Eine Digitalisierungsstrategie macht Unternehmen die Vorteilhaftigkeit eines so wichtigen
Instruments erst bewusst und versetzt sie in die Lage, es einzusetzen.
474 M. Bayer und F. Bauer

der Rekrutierung und Entwicklung von Fachkräften massive Umbrüche mit sich bringt.
Das ist insbesondere für den Mittelstand eine große Herausforderung, eröffnet aber auch
neue Chancen, da sich bei dieser Gelegenheit neue Karrierewege erschließen lassen.

Die aufgeführten externen und internen Faktoren bilden den Rahmen für unsere Studie,
deren Methodik im folgenden Abschnitt beschrieben wird.

17.3 Methodik: Ein ganzheitlicher Blick auf die Digitalisierung


der Produktion im Mittelstand

Im Rahmen unserer empirischen Umfrage haben wir 40 Fragebogen-gestützte Interviews


mit Vertretern 35 verschiedener Firmen durchgeführt. Dabei wurden fünf Branchen er-
fasst: technische Produkte für Endverbraucher, Maschinenbau, die Grundstoffindustrie,
Automobilzulieferer und die Automatisierungsbranche.
Die Teilnehmenden sind überwiegend bei mittelständischen Firmen sowie bei Unter-
nehmen mit einem Jahresumsatz von bis zu fünf Milliarden Euro Jahresumsatz beschäftigt.
Mit Unternehmensleitung und Top-Management, mittlerem Management, Projektma­
nagement sowie Fachkräften aus Technik, IT und Produktion waren alle wesentlichen
Funktionen und Führungsebenen vertreten.
Die Studie umfasste drei Blöcke mit qualitativen und quantitativen Fragen zu folgen-
den Themen:

• Status quo der Digitalisierung im Mittelstand:


Mit diesem Fragenkomplex haben wir Informationen zu Zielen, Technologien, Ein-
flussfaktoren auf Digitalisierungsentscheidungen, Use cases und erzielte Erfolge
erhoben.
• Zukünftiges Setup:
Dieser Teil bezog sich auf Digitalisierungsziele für die kommenden Jahre, das jewei-
lige Zielbild der digitalen Fabrik, gegebenenfalls vollzogene Anpassungen bei den Use
cases sowie auf aus Sicht der Unternehmen notwendige Voraussetzungen für die erfolg-
reiche Umsetzung der digitalen Fabrik. Darüber hinaus haben wir abgefragt, welche
Fortschritte bei der Umsetzung erzielt wurden, welche finanziellen Erwartungen (ROI)
die Unternehmen an die digitale Fabrik haben, wieviel investiert wurde und was die
größten Hindernisse bei der Umsetzung sind.
• Im abschließenden Teil der Fragen ging es um das ‚Ökosystem‘ der digitalen Fabrik.
Wir wollten herausfinden, welche Auswirkungen die digitale Fabrik auf Geschäfts-
modell, Wertschöpfungskette, Manufacturing Footprint (globales Produktionsnetz-
werk), Nachfrage, Wettbewerb und Supply Chain mittelständischer Unternehmen hat.
Weitere Fragen behandelten Aspekte wie neue Wettbewerber und Nachhaltigkeit.
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 475

Die telefonischen Interviews wurden in den Monaten August und September 2020 durch-
geführt und anschließend ausgewertet.

17.4 Ergebnisse: Der Weg zur digitalen Produktion ist noch weit

Der Digitalisierungsprozess in den Fabriken ist seit geraumer Zeit im Gange. Wie unsere
Befragung zeigt, sind in allen fünf betrachteten Branchen bereits verschiedene Techno-
logien im Einsatz.

Effizienzsteigerung und Kostensenkung bleiben die wichtigsten Ziele


Verfolgten Digitalisierungsprojekte in Fabriken in der Vergangenheit vor allem drei Ziele,
nämlich Effizienzsteigerungen, Kostensenkungen und Qualitätsverbesserungen, hat sich
daran unserer Umfrage zufolge wenig geändert.

So erklärten fast zwei Drittel der Befragten, es gehe ihnen hauptsächlich um Prozess-
verbesserungen; mehr als zwei Fünftel nannten Kostensenkungen, etwa ein Viertel Quali-
tätsverbesserungen als vorrangige Ziele (siehe Abb. 17.1).

Technologien zur Datenspeicherung dominieren


Technologien, die schon heute in digitalen Fabriken genutzt werden, reichen von Big Data
/Analytics über Predictive Maintenance bis hin zu intelligentem Energiemanagement.
Ganz vorne rangieren aktuell laut Befragung Technologien zur Erfassung, Speicherung
und Analyse von Daten. Am häufigsten werden Cloud-Technologien genutzt: Sie sind be-
reits bei 44 Prozent der Befragten im Einsatz (siehe Abb. 17.2).

Bessere Datennutzung und Automatisierung sind die wichtigsten Einsatzbereiche


Für die eingesetzten Technologien lassen sich zahlreiche Anwendungsfälle definieren und
auf andere Einsatzbereiche übertragen. Eine der betrachteten Maschinenbaufirmen etwa

Prozessverbesserungen 64 %

Kostensenkung 44 %

Qualität 24 %

Flexibilität und Agilität 16 %

Verbesserung der Supply Chain 12 %

Innovation 12 %

Abb. 17.1  Hauptziele der Digitalisierung in der Fabrik. (Quelle: Eigene Darstellung)
476 M. Bayer und F. Bauer

44 %
40 % 40 %
32 %
24 %
20 % 20 %
16 % 16 %

Cloud- Big Smart Integriertes Digitale Predictive Vernetzung von Künstliche Autonome
basierte Data Analytics MES Zwillinge Maintenance Maschinen/ Intelligenz Systeme
Daten- Anlagen/
speicherung Prozessen

Abb. 17.2  Überblick über die am häufigsten genutzten Technologien. (Quelle: Eigene Darstellung)

verwendet Augmented-Reality-Applikationen – Anwendungen also, die physische ­Objekte


mit computergenerierten Informationen verknüpfen – in der Kundenkommunikation, etwa
um Interessenten Maschinen vorzuführen oder um Maschinen zu warten. Ein Anbieter von
Automatisierungslösungen setzt im Lagerwesen fahrerlose Transportsysteme ein; Ver-
packung und Versand sind automatisiert. Wieder andere Firmen arbeiten in Produktion
oder Wartung mit „digitalen Zwillingen“. Dabei läuft parallel zum physischen System
eine digitale Version. Weitere Einsatzbeispiele für digitale Technologien in der Produktion
sind intelligente Manufacturing Execution Systeme (MES), also intelligente Berichts-
systeme, die bei Bedarf auch in die Abläufe eingreifen, sowie ein vollständig digitales
Qualitätsmanagement.

Der Befragung zufolge sind die aktuell am häufigsten genutzten digitalen Lösungen in den
Bereichen Big Data, KI/Analytics, Prozessoptimierung und Robotik angesiedelt. Sie zielen
vor allem auf einen verbesserten Umgang mit Daten, Prozessautomatisierung, ein effizien-
teres Berichtswesen sowie Qualitätssteigerungen. Im Detail unterscheiden sich die An-
wendungen allerdings stark von einem Sektor zum anderen, da sie meist passgenau auf die
Bedürfnisse einzelner Branchen oder sogar Unternehmen zugeschnitten sind. Oft handelt es
sich um bereichsspezifische Lösungen für ganz bestimmte Aufgaben (siehe Abb. 17.3).
Ohne Zweifel trägt die zunehmende Verbreitung der erwähnten digitalen Lösungen zur
schrittweisen Entwicklung einer „Industrie 4.0“ bei. Bislang aber – das zeigen die Um-
fragedaten deutlich – ist dieser Prozess bei weitem nicht so revolutionär verlaufen, wie
dies im Jahr 2011 noch erwartet wurde. Dafür sind die Entwicklungen und Umsetzungs-
ergebnisse noch nicht weitreichend genug. Was ebenfalls deutlich wird: Die meisten Fir-
men gehen die Digitalisierung von Prozessen und Technologien in Einzelprojekten an –
und lassen sich auch bei der Umsetzung von wechselnden Prioritäten leiten. Die Einbettung
in ein strategisches Gesamtkonzept fehlt dagegen.
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 477

3% Sonstige
8% Augmented Operator
> Digitale Anwendungen zur Verringerung von Mängeln und Ausschussteilen
8% Logistik und Materialwirtschaft
> Digitalisierung des Qualitätsmanagements
> Kommunikation zwischen ERP- und Qualitätssystem zur Steuerung des
15 % Qualitätsmanagement Beschwerdemanagements (z. B. Überwachung von Messinstrumenten und Störungen)
> Digitale Use Cases zur Verbesserung der Gesamteffektivität (Overall Equipment
18 % Reporting Effectiveness, OEE) durch Datenerfassung und -analyse im gesamten
Produktionsprozess
> Intelligentes Berichtswesen, dass aktiv Interventionen und Abläufe vorschlägt

Automatisierung > Automatisierte Steuerung von Verbrauchsmaterialien und Anlagennutzung


23 %
und Robotik > Verstärkter Fokus auf Einführung eines integrierten MES

> Digitale Use Cases verbessern Vorhersehbarkeit und Mobilität der Wartung
Big Data, KI, > Fokus auf Datenerfassung und -analyse, um Fertigungsprozess besser zu verstehen
25 %
Analytics und effektiver zu steuern
> Entwicklung von „digitalen Zwillingen“ in der Produktion und Wartung
Bereiche

Abb. 17.3  Anwendungsbeispiele in der digitalen Fabrik. (Quelle: Eigene Darstellung)

Idee Planung Budget Projekt Hardware Software Personal

40 % 25 % 5% 20 % 0% 10 % 0%
> Große > Projekte > Nur vereinzelt > Umsetzung > Digitalisierung
Diskrepanz werden Projekte in erster Module in Werksteilen
zwischen Ziel kleinteilig Budgetie- eines seit Jahren
und Status geplant und rungsphase Großprojektes umgesetzt
quo ausgeführt begonnen > Teile des
> Skepsis bzgl. > Derzeit > Übergreifende Gesamt-
Profitabilität werden Rahmen- konzepts
verhindert ent- Realisierungs- bedingungen implementiert
schlosseneres grundlagen für laufende und in Betrieb
Vorgehen (wie MES) Einzel-
geschaffen projekte in
Arbeit

Abb. 17.4  Der Weg zur Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Umfrageergebnisse bestätigen dies: So befinden sich nach Angaben der Befragten
fast zwei Drittel der Digitalisierungsprojekte erst in der Ideenfindungs- bzw. Planungs-
phase (siehe Abb. 17.4).
Mehr noch: Die meisten Befragten können sich eine Zukunft, die sich von der Gegen-
wart fundamental unterscheidet, derzeit kaum vorstellen. Das zeigt sich auch daran, dass
die Fragen nach den heutigen und künftigen Treibern und Einsatzgebieten der Digitalisie-
rung häufig ganz ähnlich beantwortet wurden (siehe Abb. 17.5)
Umso erstaunlicher ist, dass die Befragten in Bezug auf den geplanten Kapitaleinsatz
(sieben von zehn Befragten gehen davon aus, dass der Investitionsanteil steigen wird), den
Zeitrahmen (der Großteil der Investitionen wird in den nächsten zwei Jahren erwartet)
478 M. Bayer und F. Bauer

48 %
Prozessverbesserungen
64 %
40 %
Kostensenkung
44 %
32 %
Flexibilität und Agilität
16 %
24 %
Verbesserung der Supply Chain
12 %
16 %
Arbeitsplatzverbesserungen
8%
8%
Qualitätssteigerung
24 %
8%
Innovation
12 %
4%
Verringerung der Fehleranfälligkeit
8%
4%
Kundenanforderungen
8%
Künftig Aktuell

Abb. 17.5  Vergleich aktueller und künftiger Treiber der Digitalisierung in der Produktion (Mehr-
fachnennungen möglich). (Quelle: Eigene Darstellung)

20-30 % 2 Jahre

... aller Investitionen 70 % ... nannten die meisten 60 %


entfallen im Schnitt auf Befragten als
die Entwicklung der Zeitrahmen für ihre
digitalen Fabrik geplanten Investitionen
> Mehr Kapital erforderlich als für ... der Befragten gehen > Vorzeigeprojekte fehlen noch ... der Befragten nutzen
herkömmliche Programme davon aus, dass der – doch Investitionen in naher bei Investitionen
> Software-Investments machen Investitionsanteil Zukunft geplant ein Standardverfahren
oft größten Teil aus zunehmen wird > Einzige Option, um zur ROI-Ermittlung
> Neben Investitionen müssen Wettbewerbspositionzu
auch interne Ressourcen für > Neue Technologien werden halten > Standard-ROI-Ermittlung ist
die Digitalisierung der Fabrik teurer sein > Einige planen fortlaufende -
präferierte Bewertungs
eingesetzt werden > Verringerung der Investitionen Investitionen in methode – Potenzial jedoch
wegen COVID-19 werden Digitalisierung, aber keine oft schwer abzuschätzen
nicht erwartet großen Einzelprojekte > Alternativ werden projekt-
bezogene Berechnungen
genutzt
> In einigen Fällen gibt es keine
Renditeberechnungen

Abb. 17.6  Investitionen in die digitale Fabrik. (Quelle: Eigene Darstellung)

oder die Relevanz von Digitalisierungsmaßnahmen zur Sicherung der eigenen Wett-
bewerbsfähigkeit sehr klare Vorstellungen äußern (siehe Abb. 17.6).
Was allerdings ganz offensichtlich fehlt, ist eine Vision davon, wie digitale An-
wendungen das Produktions-Ökosystem der Zukunft verändern könnten  – und welches
übergreifende Gesamtbild sich daraus ergibt.
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 479

Auch Einzellösungen können Fortschritt bringen


Es scheint also, als ob die Digitalisierung von Maschinen und mittelständischen Fabriken
auch weiterhin vornehmlich über isolierte Anwendungen vorangetrieben wird. Erfolg-
reichen Unternehmen gelingt es dabei, die Digitalisierung in die bestehende Wert-
schöpfungskette einzubinden. Ist dies sichergestellt, können auch viele eher kleine, evolu-
tionäre Prozesse eine insgesamt revolutionäre Entwicklung hervorbringen, denn ihre
Umsetzung erfordert oft radikale Veränderungen  – und kann radikale Verbesserungen
bringen.

Ein gutes Beispiel dafür sind sogenannte Mixed-Reality-Anwendungen. Mit ihrer Hilfe
lässt sich die Einarbeitung und Unterstützung technischer Fachkräfte effizienter gestalten;
der Prozess selbst erfordert weniger Handgriffe. Am Ende profitieren die Beschäftigten
nicht nur von einer verbesserten Ergonomie. Standardisierte Wartungsabläufe erhöhen zu-
dem die Prozessqualität und -konsistenz und senken die Wartungskosten – und zwar ohne
an bewährten Abläufen und Verfahren zu rütteln.
Nun werden solche Neuerungen die heutigen Produktionssysteme und Wertschöpfungs-
ansätze nicht über Nacht verdrängen. Wichtig ist daher ein reibungsloser Übergang, bei
dem die Anforderungen von Mitarbeitenden, Maschinen und Management gleichermaßen
berücksichtigt werden. Dabei stellt sich die Frage: Wo genau lohnen sich Investitionen und
wie sollten mittelständische Unternehmen die Digitalisierung konkret angehen?

17.5 Handlungsempfehlungen: Ohne klare Strategie keine


erfolgreiche Umsetzung

Um die richtigen Fähigkeiten, Standards und Projekte anzusteuern – und letztlich die rich-
tigen Investitionsentscheidungen zu treffen –, brauchen mittelständische Unternehmen ein
klares digitales Zielbild. Basierend auf den Umfrageergebnissen haben wir ein solches
entwickelt. Es bietet mittelständischen Unternehmen über alle relevanten Themen hinweg
Orientierung und dient als Umsetzungshilfe (siehe Abb. 17.7).
Unser Zielbild für die digitale Produktion umfasst fünf Dimensionen, die die wichtigs-
ten Erfolgsfaktoren der digitalen Fabrik bündeln. Jeder Dimension sind die jeweiligen
Anforderungen an Technologie und Organisation zugeordnet. So liefert das Zielbild
Unternehmen alle Parameter, die sie brauchen, um ihren eigenen, ganz spezifischen
Digitalisierungsfahrplan entwickeln zu können.

Dimension 1: Das digitale Ökosystem


Die Netzwerke innerhalb und außerhalb des Unternehmens bilden das digitale Ökosystem.
Unternehmensintern beschreibt das Ökosystem die Vernetzung der Fertigung mit der
Lieferkette sowie mit Vertrieb und Service. Außerhalb des Unternehmens geht es um ge-
meinsame Netzwerke, Standards und Investitionen mit Partnern.
480 M. Bayer und F. Bauer

ZIELBILD
Digitales Ökosystem

Digitale Lieferkette, Geschäfts-


modell & Produktion, Netzwerk-
partner, Schutz des geistigen
Eigentums, Standortstruktur
der Produktion
Digitales Produktionssystem

Wertschöpfungstiefe, Fertigungs-
steuerungsmodell, Berichtswesen,
Qualitätsmanagement, Standards
Digitaler Shopfloor

Automatisierung & Robotik,


Logistik & Transport, Additive
Fertigung, Sensortechnologie,
Konnektivität, AR & VR,
Digitale Belegschaft “Digitale Zwillinge”

Personalbeschaffung und
Fortbildung, Wissens-
management, agile Methoden,
Verankerung des „digitalen
Digitale Technologien
Denkens“
Cloud- & Edge-Computing,
Big Data, Analytics, KI, ERP-
und MES-Systeme

Abb. 17.7  Das Zielbild der digitalen Produktion. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dazu ein Beispiel

Bei der Bestellung ihres Neuwagens bekommt die Kundin nicht nur das angenommene
Lieferdatum mitgeteilt; dank enger Vernetzung der Produktion mit der Kundenschnitt-
stelle kann sie den gesamten Herstellprozess sogar in Echtzeit mitverfolgen. Mehr
noch: Bis zu einem festgelegten Zeitpunkt sind außerdem Änderungen an der gewählten
Sonderausstattung möglich. ◄

Dimension 2: Das digitale Produktionssystem


Das digitale Produktionssystem definiert Wertschöpfungs- und technische Standards für
sämtliche Werke. Besonders wichtig ist dabei die nahtlose Integration dieser Standards in
das herkömmliche, analoge Produktionssystem.

Auch dazu ein Beispiel

Eine adaptive Planung der Bedarfe und die flexible Steuerung von Materialflüssen
und  -transport sind zentrale Anforderungen an ein Werk und sein Produktionsnetz.
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 481

Hier  können batteriebetriebene Sensoren wertvolle Dienste leisten: Sie überwachen


Container, Tanks, Silos etc. und geben regelmäßige Statusberichte zu Füllstand, Tem-
peratur und dem aktuellen Standort an das zentrale Steuerungssystem weiter. Dadurch
wird eine fortlaufende automatische Aktualisierung der Materialbedarfsplanung
möglich. ◄

Dimension 3: Der digitale Shopfloor


Viele Praxisanwendungen sind derzeit im Fertigungsbereich angesiedelt, also an dem Ort,
an dem die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung operativ umgesetzt werden: in der
Planung, der betrieblichen Wertschöpfung und den logistischen Funktionen, aber auch in
einem hochleistungsfähigen Datenübertragungsnetz.

Beispiel

Mithilfe digitaler Zwillinge kann eine gesamte digitale Produktion schon vor dem erst-
maligen Aufbau bis ins letzte Detail durchgeplant werden. Besonders wichtig ist dabei,
volle Flexibilität zu behalten. So muss der Betrieb in der Lage sein, das Layout der
Prozesse zu einem späteren Zeitpunkt noch an veränderte Rahmenbedingungen anzu-
passen. Automated Guided Vehicles, Autonomous Mobile Robots, Cobots, smarte
Technologien und ein Hochleistungs-Datennetz (z. B. 5G) sind dafür unerlässlich. ◄

Dimension 4: Die digitale Belegschaft


Wie unsere Befragung bestätigt hat, ist die umfassende Einbindung aller Beteiligten ein
zentraler Erfolgsfaktor aller Digitalisierungsprojekte. Einerseits müssen diese für Digita-
lisierung offen sein, andererseits gilt es, digitale Prozesse in Führungspraktiken und
Arbeitsabläufe zu integrieren. So simpel das klingt, so schwierig ist es oft in der Praxis:
Vor allem Themen wie die Rekrutierung qualifizierter Arbeitskräfte und die flexible
Weiterentwicklung der benötigten Fähigkeiten erweisen sich nicht selten als großes Um-
setzungshemmnis.

Beispiel

Bemühungen zum Aufbau einer digital arbeitenden Belegschaft sind derzeit vielerorts
im Gange. So stehen beispielsweise Autohersteller vor der Herausforderung, ihr Re-
cruiting und die Personalentwicklung auf den veränderten Arbeitskräftebedarf anzu-
passen: Der Fokus verschiebt sich von der Werkshalle zur IT und ins Büro. ◄

Dimension 5: Digitale Technologien


Rechenleistung, Datenspeicherkapazitäten und die zugehörigen Algorithmen sind in der
digitalen Landschaft eines Unternehmens zentrale Größen. Doch in der Praxis ist der
größte Problemdruck in vielen Unternehmen auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt:
So wiesen die genutzten ERP- oder MES-Systeme häufig noch erhebliche Lücken auf.
Entscheidend wird es daher sein, zunächst die Defizite der Altsysteme anzugehen und
482 M. Bayer und F. Bauer

dabei auch die Kompatibilität neuer Systeme sicherzustellen. Die Erwartungen sind all-
seits hoch: Im Markt wird sehr genau verfolgt, welches datengesteuerte Tool, welche Ap-
plikationen oder welche Kombination aus beidem sich längerfristig durchsetzen wird. Wer
hier auf das falsche Pferd setzt, kann viel Zeit und Geld verlieren.

Ein Beispiel

Neue Technologien bieten völlig neue Möglichkeiten zur Automatisierung, sowohl auf
Werksebene als auch in der Steuerung einzelner Maschinen. So lassen sich heute
Produktionsprogramme basierend auf vergangenen und aktuellen Produktionsdaten in
Echtzeit optimieren. Gleichzeitig ermöglicht maschinelles Lernen die Echtzeit-­
Optimierung von Steuerungsgrößen für Maschinen und Fertigungsstraßen. ◄

Empfehlungen für die Unternehmenspraxis


Aus den Umfrageergebnissen und dem Konzept des Zielbilds lassen sich vier Handlungs-
empfehlungen für die Planung und Realisierung einer digitalen Produktion ableiten. Sie
erleichtern auch die Orientierung im digitalen Alltag.

• Übergreifendes digitales Zielbild entwickeln. Um eine Fertigung der Zukunft aufzu-


bauen, müssen Unternehmen das Denken in Bereichs- und aufgabenspezifischen An-
wendungen hinter sich lassen. Entscheidend ist, die Digitalisierung ganzheitlich anzu-
gehen und alle Elemente der digitalen Fabrik mit zu bedenken. Voraussetzung dafür ist
ein klares, übergreifendes digitales Zielbild, das alle fünf beschriebenen Dimensionen
abdeckt. Weil es auf die jeweils spezifischen Merkmale und Anforderungen zu-
geschnitten sein muss, wird dieses Zielbild in jedem Unternehmen anders aussehen.
Neben der Orientierung für die organisatorische, prozessuale und technische Um-
setzung dient es auch als gemeinsamer Kompass für Management und Belegschaft.
Nach unserer Erfahrung fällt es Unternehmen auf der Grundlage eines ausformulierten
Ziels deutlich leichter, einen Digitalisierungsfahrplan aufzustellen, Ziele herunterzu-
brechen, die nötigen Investitionen zu ermitteln und getroffene Entscheidungen ge-
meinsam in die Tat umzusetzen.
• Zukunftsfähige Fähigkeiten, Strukturen und Kultur etablieren. Die herausragende
Bedeutung dieses Erfolgsfaktors hat sich in unserer Umfrage bestätigt: So sind quali-
fizierte Mitarbeiter*innen nach Ansicht der Befragten die wichtigste Voraussetzung (73
Prozent). Neben Kenntnissen in den Bereichen Datenmodellierung und System-
architektur sind der Wille und die Offenheit, digitale Initiativen zu gestalten, von
herausragender Bedeutung. Aber auch das Management-Team, das die Bedeutung der
Digitalisierung erkennt und sie engagiert vorantreibt (32 Prozent), und die Unter-
nehmenskultur spielen bei der Umsetzung eine wichtige Rolle.
In einer idealen Organisation arbeiten intrinsisch motivierte Beschäftigte mit den
erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, die mit langfristiger Perspektive angeworben
und ausgebildet werden. Das Management tritt als Förderer der Digitalisierung auf und
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 483

weiß die Beschäftigten von Sinn und Dringlichkeit notwendiger Veränderungen zu


überzeugen. Ebenso wichtig sind aber Systeme und Strukturen, die sicherstellen, dass
wertvolles Wissen (weiter-)entwickelt wird und im Unternehmen bleibt. Nicht zuletzt
braucht es eine für Veränderungen offene, agile Mentalität, um Ziel und Zweck des
digitalen Wandels glaubwürdig zu kommunizieren.
• Partnerschaften und Kooperationen eingehen. Mittelständische Unternehmen kön-
nen beim Aufbau der digitalen Fabrik von morgen enorm von Partnerschaften profitie-
ren – sei es mit Startups, Zulieferern und Kunden, Hardware- und Softwareherstellern,
Unternehmen anderer Branchen und sogar Wettbewerbern. Ein bewährter Ansatz hier-
bei ist das sogenannte „Startup Scouting“: Dabei verfolgen Unternehmen aktiv die
Neugründungen in ihrem Sektor mit Blick auf mögliche Partnerschaften oder Be-
teiligungen.
Für alle Kooperationen und Partnerschaften gilt: Sie sollten flexibel angelegt sein,
einen engen Bezug zum Geschäft haben und klaren Zielvorgaben folgen, etwa Kosten-
senkung, Schaffung gemeinsamer Standards, gemeinsames Lernen und Wissenstransfer
(beispielsweise von IT-Know-how, Zukunftsstrategien und dergleichen), schnellere
und agile Umsetzung sowie eine tiefere Durchdringung von Innovationen. Potenzielle
Partnerorganisationen finden sich sowohl horizontal als auch vertikal entlang der Wert-
schöpfungskette.
• Den CFO überzeugen. Wie unsere Befragung gezeigt hat, würden viele Unternehmen
am liebsten am bisherigen Budgetierungsverfahren festhalten  – einschließlich der
Budgetkontrolle durch einen Finanzchef. Das aber ist bei Digitalisierungsprojekten oft
nicht machbar, weil sich die Auswirkungen zum Zeitpunkt der Budgetierung oft noch
nicht konkret bemessen lassen. Stattdessen ist zu Beginn des Veränderungsprozesses
oft Mut zu unternehmerischen Entscheidungen gefragt, gepaart mit der Bereitschaft
zum „Learning by doing“ im Projekt. Längerfristig muss die Investitionsrechnung
(ROI etc.) formalisiert und in ein standardisiertes Vorgehen integriert werden. Auch die
geschickte Kombination von digitalen und konventionellen Investitionen wird eine
wichtige Fähigkeit sein. Die bisherigen Erfahrungen zeigen: Unternehmen, die diesem
Ansatz folgen und sich bei ihren Entscheidungen am Investitionsbedarf orientieren,
sind mit der digitalen Fabrik meist weiter.

17.6 Ausblick

Seit Aufkommen des Begriffs Industrie 4.0 vor inzwischen zehn Jahren ist in puncto
digitale Produktion im Mittelstand viel passiert. Zwar hat das vergangene Jahrzehnt
nicht die erhoffte Revolution gebracht, dennoch wurden viele neue Technologien ein-
geführt und nutzenstiftende Anwendungen realisiert. Dieser Prozess ist nach unserer
Überzeugung nicht mehr aufzuhalten und wird in den nächsten Jahren an Dynamik noch
zunehmen.
484 M. Bayer und F. Bauer

Zunächst werden die weiteren Entwicklungen allerdings wohl noch von ab-
gegrenzten Anwendungen bestimmt sein, die sich auf einzelne Werke oder sogar Ma-
schinen beschränken. Um die digitalisierte Fabrik aber längerfristig zum Erfolg zu füh-
ren, sollten Unternehmen auf der Grundlage bereits gesammelter Erfahrungen ein
digitales Zielbild formulieren und die heutigen Möglichkeiten der Datenerfassung
und -auswertung gezielt nutzen. Daraus ergibt sich weiterer Anpassungsbedarf bei den
eingesetzten Technologien, den erforderlichen Fähigkeiten, der Unternehmenskultur
und den Organisationsstrukturen. Belohnt wird der damit verbundene Aufwand durch
spürbare Fortschritte: reduzierten Zeit- und Kostenaufwand und Qualitätssteigerungen
in digitalen Produktionsprozessen.

Literatur

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Rückgang der Digitalisierungsaktivitäten vor Corona, ambivalente Entwicklung während der
Krise (KfW Research, KfW Bankengruppe (Hrsg.)), März 2021.
17  Digitalisierung der Produktion im Mittelstand: Status quo und … 485

Marc Bayer  ist Director bei Roland Berger GmbH. Er verfügt über
25 Jahre Erfahrung in Unternehmensberatung und Industrie. Sein
Fokus liegt im Bereich der industriellen Prozesse mit den Schwer-
punkten Produktion, Einkauf und Qualität. Zu seinen Kunden zählen
Konzerne und mittelständische Unternehmen aus der Automobil-
industrie sowie dem Maschinen- und Anlagenbau. Der Fokus der ak-
tuellen Projekte liegt in der industriellen Digitalisierung sowie in der
Begleitung der Transformation seiner Klienten in neue Strategien,
Strukturen und Prozesse.
Als Diplom-Wirtschaftsingenieur liegt sein besonderes Interesse
an der Schnittstelle zwischen Technologie und deren kommerzieller
Anwendung. Sein Studium absolvierte er an der Technischen Uni-
versität Darmstadt. Schwerpunkte bildeten Regelungstechnik und
Robotik sowie Logistik und Supply Chain Management.

Fabian Bauer  arbeitet seit 2018 als Unternehmensberater bei der


Roland Berger GmbH. Sein Tätigkeitsschwerpunkt liegt im Bereich
‚Industrials‘ mit dem Fokus auf Industrieautomatisierung, sowie den
Industrien Maschinen- und Anlagenbau, Grund- und Werkstoffe und
Automobilzulieferer.
Bereits mit seinem akademischen Hintergrund bewegte sich Fa-
bian Bauer an der Schnittstelle von Technologie, Innovation und
Strategieentwicklung. Sein Masterstudium absolvierte er an der Wirt-
schaftsuniversität Wien im Master of Science ‚Strategy, Innovation
and Management Control‘. An der Ludwig-­Maximilians-­Universität
München schloss er seinen Bachelor in Betriebswirtschaftslehre ab.
Komplementiert wurde seine akademische Laufbahn durch Aus-
landsaufenthalte an der Queensland University of Technology in
Brisbane, sowie der Universidad Rey Juan Carlos Madrid.
Künstliche Intelligenz für die industrielle
Produktion – Ein kontextorientierter 18
Bewertungsrahmen

Christoph Haag und Nicolas Pyschny

Zusammenfassung

Mit dem vorliegenden Buchbeitrag wird ein differenzierter Blick auf das Wertver-
sprechen der Digitalisierung für die industrielle Produktion geworfen. In Anlehnung an
die Wissenstreppe nach North wird zunächst ein Bewertungsrahmen in Form eines
Stufenmodells vorgestellt, mit dem sich der Nutzwert digitaler Technologien und des
Einsatzes künstlicher Intelligenz (KI) einordnen lassen. Das 6-stufige Modell unterteilt
sich in die Bereiche des Wissensaufbaus (Stufen 1 bis 3) und der Wissensnutzung (Stu-
fen 4 bis 6) und versetzt Unternehmen in die Lage, im Zuge der Einführung von KI-An-
sätzen deren Anwendungskontext und angestrebten Nutzwert systematisch zu be-
schreiben und zu bewerten. Anhand von Fallbeispielen wird weiterhin aufgezeigt, dass
der erzielbare Nutzwert von KI-Ansätzen maßgeblich von drei Determinanten abhängig
ist: der Unternehmensspezifität, dem konkreten Prozesskontext und dem Komplexitäts-
grad der Managementaufgabe, die durch den KI-Ansatz unterstützt werden soll.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Künstliche Intelligenz · KI · Industrielle Produktion · Künstliche


Intelligenz · Digitalisierung · Industrielle Produktion · Wertversprechen · Value
Proposition · Stufenmodell · Bewertungsmodell · Wissenstreppe

C. Haag (*) · N. Pyschny


TH Köln, Köln, Deutschland
E-Mail: christoph.haag@th-koeln.de; nicolas.pyschny@th-koeln.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 487


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_18
488 C. Haag und N. Pyschny

18.1 Einleitung

Im Zuge der digitalen Transformation stellen sich viele Unternehmen die Frage, welche
Schritte in Richtung einer zunehmenden Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse und der
Einführung von KI-Ansätzen für ihr spezifisches Geschäftsmodell sinnvoll sind. Dabei
sehen sie sich mit einer großen Auswahl an technologischen Alternativen und in der
Öffentlichkeit diskutierten Good-Practice-Beispielen anderer Unternehmen konfrontiert.
Was gerade den kleinen und mittelständischen Unternehmen mit begrenzten Entwi-
cklungs- und Investitionsbudgets fehlt, ist ein Bewertungsrahmen, der eine spezifische,
auf ihren konkreten Unternehmenskontext bezogene Bewertung von Handlungsalter-
nativen zulässt, um ihre Budgets auf sinnvolle Digitalisierungsinvestitionen zu allokieren.
Mit dem vorliegenden Buchbeitrag wird ein differenzierter Blick auf das Wertver-
sprechen der Digitalisierung für die industrielle Produktion geworfen. In Anlehnung an
die Wissenstreppe nach North (2016, S. 33 ff.) wird zunächst ein Bewertungsrahmen in
Form eines Stufenmodells vorgestellt, mit dem sich der Nutzwert digitaler Technologien
und des Einsatzes künstlicher Intelligenz (KI) einordnen lässt.
Anhand von Fallbeispielen wird weiterhin aufgezeigt, dass der erzielbare Nutzwert von
KI-Ansätzen maßgeblich von drei Determinanten abhängig ist: der Unternehmensspezifi-
tät, dem konkreten Prozesskontext und dem Komplexitätsgrad (vgl. Ulrich & Probst,
1991) der Entscheidungs- oder Planungsaufgabe, die durch den KI-Ansatz unterstützt
bzw. automatisiert werden soll.

18.2 Wie sich der Grad der Digitalisierung bestimmen lässt

„Von einem Zustand der ‚Volldigitalisierung‘ sind deutsche Unternehmen heutzutage


noch weit entfernt.“ Diese Einschätzung formulierte der Verein Deutscher Ingenieure in
seinem Statusreports 2016. (vgl. VDI, 2016)
Noch immer trifft diese Aussage freilich auf weitgehende Zustimmung. Wer sich die
Geschäftsmodelle und unternehmensinternen Abläufe, die Fabrikhallen und Produktsorti-
mente der Unternehmen anschaut, der stellt fest, dass sich gerade in der mittelständischen
Industrie nach wie vor vieles ‚im Analogen‘ abspielt. Papierlose Büroräume, vollauto-
matisierte Fertigungsabläufe oder Maschinen und Anlagen, die sich eigenständig und zu-
standsorientiert instand setzen, sind bislang jedenfalls nur an den wenigsten Produktions-
standorten deutscher Firmen anzutreffen. Gleichzeitig wird mit dem Eingangszitat
suggeriert, dass es das Ziel der Unternehmen sei, den Zustand einer ‚vollkommenen Digi-
talisierung‘ über kurz oder lang zu erreichen. Dieser Gedanke veranlasst uns zur Formu-
lierung der ersten Leitfragen, der im Folgenden nachgegangen werden soll:

Mit welchen Maßstäben lässt sich der Grad der Digitalisierung bestimmen?  Die Vor-
stellungen der Fachwelt, was das Phänomen Industrie 4.0 (oder mit anderen Worten: die
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 489

zunehmende Digitalisierung im industriellen Kontext) ausmacht, sind keineswegs ein-


deutig. Für die einen spielt die lückenlose Vernetzung aller Maschinen und Anlagen auf
dem Shop Floor und deren vertikale Anbindung an übergeordnete Geschäftsinformations-
systeme (MES/ERP) eine wichtige Rolle. Für die anderen geht es darum, die eigenen Ge-
schäftsinformationssysteme und Workflows als skalierbare Dienste in die Cloud auszu-
lagern. Auch die Weiterentwicklung der eigenen, vielleicht vormals mechatronischen,
Produkte zu so genannten ‚Cyber-physikalischen Systemen‘ mit entsprechender Internet-­
Konnektivität und dezentraler Intelligenz kann für manche Unternehmen eine ­entscheidende
Stoßrichtung sein. Wieder andere erachten vielleicht den Aufbau eines betriebseigenen
‚Internets der Dinge‘ (Industrial IoT), innerhalb dessen die Produktionsmitarbeiter ihre
Arbeitspläne mit mobilen Endgeräten anstelle von Papierdokumenten zur Verfügung ge-
stellt bekommen, als eine Schlüsselkomponente der Digitalisierung an. Und schließlich
mögen sich manche sogar auf den Standpunkt stellen, dass erst sämtliche Maschinen-
bediener und Gabelstaplerfahrer aus den Fabrikhallen verschwunden sein müssen, bevor
von einer wirklichen ‚Volldigitalisierung‘ gesprochen werden kann.

Offensichtlich können alle diese Aspekte eine Rolle spielen und gewissermaßen als
qualitative Indizien für eine sich abzeichnende Industrie 4.0 erscheinen. Jedoch lassen
keine pauschalen Aussagen darüber treffen, welche dieser Komponenten als unabdingbar
für die digitale Transformation von Unternehmen gelten. Zu verschiedenartig stellen sich
deren Geschäftsmodelle und wertschöpfenden Prozesse dar und zu unterschiedlich ist der
jeweilige technologische Ausgangspunkt. Es bedarf zunächst eines generischen und damit
allgemein gültigen Bezugsrahmens zur Zuordnung der zuvor genannten Aspekte. Der
Maßstab der ‚Vollkommenheit‘ soll diesem zugrunde liegen und muss zunächst her-
geleitet werden.
Wissenschaftliche Anwendung findet der Vollkommenheitsbegriff vor allem im volks-
wirtschaftlichen Sprachgebrauch. Vollkommene Kapitalmobilität, vollkommene Konkur-
renz und insbesondere das Konstrukt des ‚vollkommenen Marktes‘ sind in diesem Zu-
sammenhang bekannte Modellbeispiele. Ihnen allen ist gemein, dass sie in der
Realwirtschaft nicht vorzufinden sind.1 Vielmehr dienen sie dem Zweck einer ideal-
typischen Beschreibung marktbezogener Zusammenhänge – wie etwa dem Mechanismus
der Preisbildung – und blenden dazu ganz bewusst gewisse realwirtschaftliche Einfluss-
faktoren (Störgrößen) aus. Neben den Grundannahmen einer vollständigen Informations-
transparenz und dem rationalen Handeln aller Marktakteure liegen den Beschreibungs-
modellen die folgenden Bedingungen zugrunde:

1. Auf vollkommenen Märkten herrscht eine unendlich schnelle Reaktionsgeschwindig-


keit aller Akteure auf Veränderungen von Marktvariablen (d. h. der Faktor Zeit ist außer
Kraft gesetzt).

1
 Die Finanz- und Kapitalmärkte kommen dem Gedanken eines vollkommenen Marktes noch am
nächsten, erreichen ihn aber nicht.
490 C. Haag und N. Pyschny

2. Die Grenzkosten für den Austausch von Gütern und Dienstleistungen oder für die Be-
wegung von Kapital sind gleich null (d. h. die einzelne Transaktion verursacht keine
Kosten).
3. Es gibt keine räumliche Präferenz oder Restriktion in Bezug auf die Warenherkunft oder
hinsichtlich des Anlegens von Kapital (d. h. der Faktor Raum ist außer Kraft gesetzt).
4. Engpässe in der Produktion und Distribution, die für einen Anstieg der Preise sorgen
könnten, existieren nicht (d.  h. Kapazitäten sind grenzenlos verfügbar und flexibel
skalierbar).
5. Die gehandelten Güter innerhalb einer Warengruppe sind absolut homogen und

vergleichbar (d. h. es gibt keinerlei Interpretationsspielräume in Bezug auf die Art und
Qualität von Waren).

Mit diesen Idealpositionen beschreibt das Konstrukt gewissermaßen das, was als unüber-
trefflicher ‚äußerer Rand‘ der Vollkommenheit von Märkten angesehen werden kann. Im
Sinne einer Analogiebetrachtung stellt sich nun die Frage ob sich diese Determinanten
auch dafür eignen könnten, um das gedankliche Konstrukt einer ‚vollkommenen Digitali-
sierung‘ zu beschreiben.
Dazu sei zunächst festgestellt, dass, während es in der marktwirtschaftlichen Welt um
die Herstellung und den Austausch von Gütern und Dienstleistungen geht, um letztlich
Bedürfnisse zu befriedigen, in der digitalen Welt Daten erzeugt und verarbeitet werden,
um sie letztlich einem Anwendungszweck (z.  B. einer Entscheidungsfindung der einer
Planungs- bzw. Optimierungsaufgabe) zuzuführen. In welchen Stufen sich diese Daten-
verarbeitung vollzieht, und welcher Zweck letztlich adressiert werden kann, sei anhand
des in Abb. 18.1 dargestellten Stufenmodells erläutert, welches sich an die Wissenstreppe
nach North (2016) anlehnt.
Die erste Stufe umfasst die Datengenerierung, d. h. das Erfassen und Speichern von
Datensätzen anhand von Messungen oder Beobachtungen (z. B. von Ereignissen oder Zu-
ständen).
Die zweite Stufe beschreibt das Einordnen dieser Daten in einen Kontext, sodass da­
raus strukturierte und begreifliche Informationen werden (z. B. über die Abfolge von Ereig-
nissen oder die zu erwartende Entwicklung von Zuständen im Zeitverlauf).
Die dritte Stufe wird erreicht, wenn Informationen kognitiv analysiert und trans-
formiert, anhand von Erfahrung interpretiert oder mit weiteren Informationen vernetzt
werden, um schließlich Wissen aufzubauen (z. B. über die Ursächlichkeit von Zustands-
entwicklungen oder Ereignissen). Dieser Wissensaufbau erfolgt also durch den Einsatz
(natürlicher oder künstlicher) Intelligenz, und zielt ab auf die Erstellung deskriptiver Er-
klärungsmodelle für informatorisch vorliegende Sachverhalte.
Basierend auf diesem Wissensaufbau wird auf der vierten Stufe das Wissen in
Projektionsmodelle überführt, die eine Antizipation zukünftiger Sachverhalte zulassen
(z. B. eine Aussage über die Eintrittswahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse) und somit
Entscheidungsfindungsprozesse unterstützen können. Auf dieser Stufe kommen also prä-
diktive Formen der (natürlichen oder künstlichen) Intelligenz zum Einsatz.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 491

Abb. 18.1  Stufenmodell der Datenverarbeitung (i. A. a. North, 2016)

Die fünfte Stufe zeichnet sich dadurch aus, dass, auf Basis dieser Projektionsmodelle,
Regeln bzw. Algorithmen für Entscheidungsfindungen implementiert werden, um Hand-
lungen modellbasiert auszuführen (z. B. das Eingreifen in einen laufenden Prozess in Ab-
hängigkeit von Prozesszuständen, um zukünftige Ereignisse, wie etwa das Produzieren
von Ausschuss, zu verhindern).
Die sechste Stufe ist schließlich erreicht, wenn das Resultat der modellbasiert herbei-
geführten Handlung mit einem Referenzwert (z. B. einem Soll-Ereignis) verglichen wird,
um den daraus ermittelten Grad der Abweichung wiederum als Datensatz zu erfassen und
diesen zur Ursachenanalyse zu nutzen, um letztlich das Modell für die Antizipation und
Entscheidungsfindung (auf den Stufen 4 und 5) kontinuierlich zu verbessern.
Die sechs Stufen lassen sich grob unterteilen in die Stufen 1 bis 3 (Wissensaufbau) und
die Stufen 4 bis 6 (Wissensverwertung). Unabhängig davon, ob diese Operationen durch
den Menschen oder von technischen Systemen vollzogen werden, ist allen Stufen gemein,
dass die erfassten Ausgangsdaten mittels übertragender, speichernder, transformierender
oder mathematisch-analytischer Operationen verarbeitet werden (siehe DIN 44.300, o. J.).
Technische Systeme (EDV-Systeme) kommen zum Einsatz, um den Prozess der Daten-
verarbeitung (also bildlich gesprochen das Hinaufsteigen der Wissenstreppe) zu auto-
492 C. Haag und N. Pyschny

matisieren. Inwieweit bei dem Einsatz dieser Hardware- und/oder Software-basierten Sys-
teme von KI-Systemen gesprochen werden kann, hängt wesentlich von der Treppenstufe
ab, die mit der automatisierten Datenverarbeitung letztlich erreicht werden soll. Nach
Wittpahl (2019, S. 21) ist allen KI-Systemen gemein, dass sie auf die Automatisierung von
intelligentem Verhalten abzielen. Folgerichtig setzen KI-Systeme i.e.S. ab den Stufen 3
und 4 der Wissenstreppe an, auf denen kognitive Operationen zur Entwicklung von Erklä-
rungs- bzw. Vorhersagemodelle stattfinden. Die automatisierte (sensorbasierte) Erfassung
und Speicherung von Daten oder auch die automatisierte Strukturierung dieser Daten zu
begreiflichen Informationen auf den niederen Stufen fallen noch nicht in diesen engen
Definitionsbereich, stellen gleichwohl aber unabdingbare Vorstufen der KI dar.
Auf den Stufen 3 und folgende lassen sich in der Praxis sehr unterschiedliche Er-
scheinungsformen und Anwendungszwecke von KI-Systemen erkennen, die in ver-
schiedene Werkzeuggruppen (wie etwa Mustererkennung, Aktionsplanung und Optimie-
rung oder Text- und Spracherkennung) unterteilt werden können (Hatiboglu et al., 2019,
S. 10). Hierauf wird in Kap. 5 noch genauer eingegangen.
Weiterhin lässt sich festhalten, dass die Wissensverwertung i. d. R. mit einer Planungs-
oder Optimierungsaufgabe bzw. einer Entscheidungsfindung einhergeht und damit die
Festlegung von Aktivitäten (auf operativer, taktischer oder strategischer Ebene) verfolgt.
Dieser Punkt soll an späterer Stelle im nachfolgenden Kapitel aufgegriffen und ver-
tieft werden.
In Analogie zum wirtschaftswissenschaftlichen Begriffsverständnis über die Voll-
kommenheit von Märkten lässt sich die Hypothese formulieren, dass die Vollkommenheit
dieser Datenverarbeitung anhand der folgenden fünf Determinanten festzumachen ist:

1. Entlang des Stufenmodells herrscht eine unendlich schnelle Verarbeitungsgeschwindig-


keit, sobald neue Daten erfasst werden (d. h. der Faktor Zeit ist außer Kraft gesetzt).
2. Die Grenzkosten für das Übertragen, Speichern, Transformieren und mathematische
Analysieren von Daten sind gleich null (d. h. die einzelne Transaktion verursacht keine
Kosten).
3. Es gibt keine Präferenz oder Restriktion in Bezug auf die örtliche Herkunft und das
örtlich adressierte Ziel der Daten (d. h. der Faktor Raum ist außer Kraft gesetzt).
4. Engpässe hinsichtlich der zu verarbeitenden Menge an Daten existieren nicht (d.  h.
Kapazitäten sind grenzenlos verfügbar und flexibel skalierbar).
5. Die zu verarbeitenden Daten sind absolut uniform und begreiflich (d. h. es gibt keiner-
lei Interpretationsspielräume in Bezug auf deren Art, Beschaffenheit und Qualität).

Diese Hypothese sei im Folgenden anhand dreier Beispiele digitaler Lösungen, wie sie in
der Praxis vorzufinden sind und der so genannten Industrie 4.0 zugesprochen werden,
überprüft (vgl. BMWi, 2019).

Fallbeispiel 1: Einsatz mobiler Montageassistenzsysteme  Ein Industriegüterhersteller


produziert sicherheitstechnische Systeme mit einer hohen Variantenvielfalt. Die kunden-
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 493

individuelle Konfigurierbarkeit der Systeme macht sich in der Endmontage bemerkbar;


die Losgrößen sind klein und die Häufigkeit von repetitiven Montageabläufen ist ver-
gleichsweise gering. Der Hersteller hat sich deshalb dazu entschlossen, die Stücklisten
und Montageanweisungen aus dem ERP-System über mobile Tablet-PCs den Montage-
arbeitsplätzen dezentral und auf sehr intuitive Weise (per Zeichnungen und animierter
Videos) bereitzustellen. Diese Informationsübermittlung folgt einer RFID-basierten
Werkstückträgererkennung an den Arbeitsplätzen, unmittelbar bevor das Vormaterial den
jeweiligen Arbeitsplatz erreicht. Materialfluss, Belegungsplanung und Arbeitsplanung
sind somit in Echtzeit miteinander gekoppelt. Alle Informationsflüsse geschehen papier-
los. Spontane Änderungen, z. B. hinsichtlich der Belegungs- oder Reihenfolgenplanung
können sich ohne menschlichen Aufwand vollziehen. Es wird somit ein hohes Maß an
Flexibilität im Produktionssystem erreicht.

In Anbetracht des Stufenmodells (Abbildung 1) lässt sich zunächst festhalten, dass die
in diesem Fallbeispiel implementierte Digitalisierungslösung die zweite Modellstufe adres­
siert, also die Bereitstellung kontextbezogener Informationen. Der Zugewinn an Flexibili-
tät kommt dadurch zustande, dass die variantenspezifischen ERP-Stammdaten in Echtzeit
an jeden beliebigen Montagearbeitsplatz ortsunabhängig übermittelt werden können. Die
Bereitstellung der Informationen erzeugt keinen Aufwand, etwa für das Ausdrucken und
Zuordnen von Arbeitsplänen zu Produktionsaufträgen. Zudem sind die Informationen
stets eindeutig dem jeweiligen Variantenkontext zugeordnet, intuitiv dargelegt und somit
interpretationsfrei begreiflich. Es zeigt sich also, dass hier gleich mehrere der zuvor be-
schriebenen Vollkommenheitsdeterminanten adressiert werden.

Fallbeispiel 2: Echtzeit-Dashboards für das Visual Management  In einer nach dem


Fließfertigungsprinzip angeordneten Produktionslinie implementiert ein Automobilzu-
lieferer ein auf Maschinensensorik und RFID-Technologie basierendes Visual-Manage-
ment-System zur besseren Steuerung seiner Produktionsabläufe. Planungs- und optimie­
rungsrelevante Kennzahlen wie Zyklus- und Durchlaufzeiten, Maschinenstillstände und
Anlagenverfügbarkeiten, Zwischenbestände und Liegezeiten werden dadurch in Echtzeit
und ohne manuellen Aufwand aktualisiert. Auch erste Ursachenanalysen – etwa hinsicht-
lich des Zustandekommens einer niedrigen Gesamtanlageneffektivität – führt das System
eigenständig durch und bereitet entsprechende Diagramme vor. Dieses Wissen wird einer-
seits an den Produktionslinien vor Ort per Großbildschirm zur Verfügung gestellt und
andererseits per App auf die mobilen Endgeräte der verantwortlichen Mitarbeiter weiter-
geleitet. Es verfügt zudem über eine Eskalationsfunktion, die im Falle kritischer Pro­
duktionszustände eine Push-Nachricht an die Entscheidungsträger versendet.

Im vorliegenden Fallbeispiel wird die dritte (bzw. ansatzweise auch die vierte) Modell-
stufe der Datenverarbeitung erreicht. Und auch hier lässt sich der Mehrwert der implemen-
tierten Lösung sehr konkret an den genannten Vollkommenheitsdeterminanten festmachen.
Erfolgte in der Vergangenheit die Aktualisierung der Kennzahlen womöglich im wöchent-
494 C. Haag und N. Pyschny

lichen Rhythmus, so besteht diese Zeitabhängigkeit der Informationen mit dem neuen
System nicht mehr. Hing das Dashboard zur Darstellung der Kennzahlen vormals vermut-
lich an einem zentralen Ort in der Nähe der Produktionslinie, so können die Informationen
heutzutage auch global verteilt werden. War die Aktualisierung der Kennzahlen früher mit
einer manuellen Datenaufbereitung und dem Ausdrucken von Papier ­verbunden, so läuft
diese nun aufwandsfrei und ohne menschliches Zutun ab. Durch die standardisierte, immer
gleiche Art der Auswertung werden den Entscheidungsträgern die Informationen weit-
gehend frei von Interpretationsspielräumen dargelegt.

Fallbeispiel 3: Closed-Loop-Regelung in der Zerspanungstechnik  Bei der Fertigung


medizintechnischer Implantate wird ein Höchstmaß an reproduzierbarer Maßgenauigkeit
und Prozessstabilität verlangt. Ein Hersteller hat sich deshalb dazu entschlossen, seine
Drehprozesse mit einem geschlossenen Regelkreis zu versehen. Im Sinne des Prinzips der
Qualitätsregelkarte werden hundert Prozent der produzierten Implantate nach dem Ab-
drehen auf Maßgenauigkeit geprüft. Minimale Abweichungen vom Soll-Wert werden der
Maschine als Datenfeedback zurückgespielt und führen zu einer automatischen Nach-
stellung der Position des Drehmeißels. Dadurch wird nicht nur die Prozessfähigkeit sicher-
gestellt, sondern auch der Werkzeugverschleiß minimiert.

In Bezug auf das Stufenmodell der Datenverarbeitung wird mit der vorliegenden Auto-
matisierungslösung die fünfte Modellstufe adressiert, indem sich die Maschine ohne
menschliches Zutun selbst regelt, also eine Handlung herbeigeführt wird. Diese Selbst-
regelung führt zu einer Senkung der Kosten und Reaktionszeiten. Das Datenfeedback wird
von der Maschine eindeutig verstanden und in eine Handlung, die Nachstellung des Dreh-
meißels, überführt. Die Interpretation der Daten durch einen Experten entfällt, sodass
auch das Risiko der Fehlinterpretation bzw. der nicht folgerichtigen Nachstellung des
Drehmeißels abgewendet wird.
Die drei Fallbeispiele bekräftigen die zuvor formulierte Annahme, dass die Digitalisie-
rung (d. h. der Einsatz technischer Systeme, die auf einer digitalen Form der Datenver-
arbeitung basieren) im Kern auf bestimmte Stufen bzw. Anwendungszwecke des Wissens-
aufbaus und der Wissensverwertung abzielt und dabei die o. g. Determinanten in Richtung
einer zunehmenden Vollkommenheit der Datenverarbeitung verschieben. Folgerichtig
sind wir mit diesen beiden Blickrichtungen imstande, den Grad der Digitalisierung in
Bezug auf eine konkrete digitale Anwendung bzw. KI-Lösung nutzenorientiert zu be-
schreiben.
Anhand der Frage, welche Stufe der Datenverarbeitung dabei adressiert wird, lässt sich
eine zweckorientierte Beschreibung der betrachteten Anwendung vornehmen. Diese Per­
spektive sei im Folgenden als ‚vertikaler Grad der Digitalisierung‘ bezeichnet.
Inwieweit die betrachtete Lösung die zuvor genannten fünf Kriterien für eine voll-
kommene Datenverarbeitung erfüllt, bestimmt deren Automatisierungseffizienz. Diese sei
als ‚horizontaler Grad der Digitalisierung‘ verstanden.
Abb. 18.2 stellt den sich daraus ergebende Bezugsrahmen der Digitalisierung dar.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 495

Abb. 18.2  Bezugsrahmen zur Bestimmung des Digitalisierungsgrades. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

Die Determinante „Geschwindigkeit“ beschreibt die Kürze der Latenz, innerhalb


derer – ausgehend von einer neuen Datenerfassung – die Datenverarbeitung bis zur adres-
sierten vertikalen Stufe erfolgt. Eine sehr geringe Geschwindigkeit wäre also bspw. ge-
geben, wenn aufgrund von weitgehend manuellen und mit vielen Medien- und System-
brüchen verbundenen Datenverarbeitungsprozessen die Latenz außerordentlich hoch ist.
Eine sehr hohe Geschwindigkeit läge vor, wenn die adressierte Stufe der Wissenstreppe
(z.  B. die Ausführung einer automatisierten Aktivität auf Stufe 5) innerhalb von Milli-
sekunden nach der zugrundeliegenden Datenerfassung erfolgt.
Mit der „Ortsunabhängigkeit“ wird die Frage beantwortet, welche Mobilität auf der
letztlichen Stufe erreicht wird. Als sehr gering wäre diese Mobilität bspw. dann einzu-
schätzen, wenn eine auf Stufe 2 bereitgestellte Information nur an einem dedizierten
Arbeitsplatz verfügbar gemacht würde. Hingegen wäre eine sehr hohe Mobilität erreicht,
wenn diese Information global (z. B. mittels einer App oder über das Internet) verfügbar
gemacht würde.
Auf der Skala der „Kostenmarginalität“ wird beschrieben, wie sich der laufende Auf-
wand (i. S. v. Grenzkosten) für die Ausführung der Datenverarbeitungsprozesse darstellt.
Die Investitionskosten – etwa für das EDV-System oder die Einführung der KI – werden
hierbei nicht ins Kalkül gezogen. Eine sehr gering ausgeprägte Kostenmarginalität (d. h.
äußerst hohe Kosten für die einzelne Datenverarbeitungstransaktion) wäre bspw. dann ge-
geben, wenn der manuelle Aufwand und/oder der Energie- und Ressourcenverbrauch bei
der Ausführung äußert hoch wären. Eine sehr hohe Kostenmarginalität läge hingegen vor,
wenn weder ein nennenswerter manueller Aufwand noch ein Energie- und Ressourcenver-
brauch mit der Ausführung einer datenverarbeitenden Transaktion verbunden wäre, wenn
die Grenzkosten also gegen Null gingen.
Mit „Uniformität“ wird die formale (nicht inhaltliche) Gleichartigkeit der im Datenver-
arbeitungsprozess gespeicherten und transformierten Daten, Informationen und Wissens-
496 C. Haag und N. Pyschny

artefakte bezeichnet. Eine sehr geringe Uniformität würde sich in der Praxis bspw. so
darstellen, dass uneinheitliche Dateiformate für die Datenerfassung und/oder Datenlücken
(z. B. temporäre Datenausfälle für gewisse Zeitintervalle oder das Fehlen von zeitlichen
Markern) vorlägen, die zu Uneindeutigkeiten führen und eine automatisierte Weiterver-
arbeitung dieser Daten unmöglich macht. Von einer sehr hohen Uniformität kann
­gesprochen werden, wenn Daten lückenlos und in einem stets einheitlichen Format vor-
liegen, keinerlei Interpretations- bzw. Korrekturbedarf mit sich bringen und somit für die
automatisierte Weiterverarbeitung optimal geeignet sind.
Die letzte Determinante „Skalierbarkeit“ drückt aus, inwieweit die für eine optimale
Datenverarbeitung erforderliche Kapazität ohne Restriktionen frei wählbar ist. Eine sehr
geringe Skalierbarkeit liegt bspw. dann vor, wenn das erlaubte Datenvolumen aufgrund
sehr begrenzter Speicher- und Rechenkapazitäten sehr gering ausfällt. Eine solch restrik-
tive Situation kann Ungenauigkeiten in Bezug auf die Datenqualität und eine mangelhafte
empirische Datenbasis für die statistische Analyse zur Herleitung von Erklärungs- und
Projektionsmodellen zur Folge haben. Als sehr hoch darf die Skalierbarkeit eingestuft
werden, wenn keinerlei Restriktionen in Bezug auf das Datenvolumen vorliegen, etwa
durch den Gebrauch von unternehmensexternen Cloud-Diensten.
Mit diesem nun vorliegenden Bezugsrahmen lässt sich der Grad der Digitalisierung in
vertikaler (anwendungszweckorientierter) und horizontaler (anwendungseffizienzorien­
tiert) Hinsicht beschreiben. Dies kann sowohl für die Bewertung des Ist-Zustandes einer
aktuellen EDV-Situation als auch für die Zielbeschreibung in Bezug auf ein für die Zukunft
geplantes EDV- bzw. KI-System dienlich sein. Inwieweit es in diesem Zusammenhang
sinnvoll ist, einen (möglichst) hohen vertikalen und horizontalen Digitalisierungsgrad
innerhalb der eigenen Wertschöpfungskette zu wählen, wird im Folgenden thematisiert.

18.3 In welchem Kontext die Digitalisierung einen Mehrwert


stiften kann

Welchen Mehrwert ist die Digitalisierung im Stande zu leisten? Um dieser zweiten Leit-
frage auf den Grund zu gehen, greifen wir auf die Erfahrungen aus dem Smart Manufac-
turing Cluster Bergisches Land zurück. Zu dem Netzwerkprojekt haben sich 14 kleine und
mittelständische Unternehmen aus ganz unterschiedlichen Branchen der verarbeitenden
Industrie zusammengetan2. Die Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten der einzel-
nen Unternehmen unterscheiden sich naturgemäß sehr stark voneinander.

2
 Im Zeitraum Juni 2018 bis Mai 2020 wurde das Netzwerk-Projekt von der TH Köln koordiniert. Im
Einzelnen waren folgende Unternehmen beteiligt: Berges Antriebstechnik GmbH & Co. KG, Dör-
renberg Edelstahl GmbH, Fabrilog GmbH & Co. KG, GC-heat Gebhard GmbH & Co. KG, GIZEH
Verpackungen GmbH & Co. KG, HEW-KABEL GmbH, HT Tooling GmbH, Klingelnberg GmbH,
PFLITSCH GmbH & Co. KG, PWM GmbH & Co. KG, Recknagel Präzisionsstahl GmbH, Schroe-
der Valves GmbH & Co. KG, Steinmüller Engineering GmbH, STRIKO Verfahrenstechnik W.Strik-
feldt & Koch GmbH und WSM – Walter Solbach Metallbau GmbH.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 497

Im Rahmen des unternehmensübergreifenden Diskurses wird klar, dass die Frage nach
dem Mehrwert oder Nutzenpotenzial der Digitalisierung nur kontextspezifisch beantwortet
werden kann. Dabei werden zwei Betrachtungsperspektiven als kontextgebend angesehen:

1. Welche Unternehmensspezifität liegt vor (d. h. welche Art des Geschäftsmodells, der
Marktmechanismen, der Wertschöpfungskette, des Fertigungsprinzips etc.)?
2. Welcher Teilprozess innerhalb der Wertschöpfungskette wird bei der Frage nach dem
Digitalisierungspotenzial konkret betrachtet?

Um das mögliche Spektrum in Bezug auf die zweite Frage einzugrenzen, fokussieren die
Untersuchungen innerhalb des Netzwerkprojekts auf vier datenverarbeitende Teilprozesse,
die für die Wertschöpfung fast aller produzierender Unternehmen eine gewichtige Rolle
spielen:

• Auftragsabwicklung
• Produktionsplanung und -steuerung
• Maschinen- und Prozessüberwachung
• After Sales Service

Dabei wird die These aufgestellt, dass das Nutzenpotenzial der Digitalisierung dieser vier
Teilprozesse (in Richtung einer vollkommenen Digitalisierung i. S. v. Abbildung 2) von
der spezifischen Gestalt jedes einzelnen Unternehmens abhängig ist. Denn erst eine ge-
naue Betrachtung dieser Unternehmensspezifität lässt erkennen, inwieweit a) durch den
Einsatz digitaler Systeme und KI-Ansätze theoretische Nutzenpotenziale erschlossen wer-
den könnten und b) die Möglichkeit zur Erschließung dieser Potenziale auf Grundlage der
aktuellen Unternehmenspraxis vorhanden ist.
Das theoretische Nutzenpotenzial der Digitalisierung hängt in erster Linie von der
Frage ab, welche Relevanz die Datenverarbeitung für den betrachteten Teilprozess vor
dem Hintergrund der Unternehmensspezifität einnimmt. Wenn die Relevanz hoch ist, dann
ist i.  d.  R. auch das Ziel einer möglichst automatisierten Art und Weise der Datenver-
arbeitung innerhalb dieses Teilprozesses erstrebenswert. Ist hingegen die Relevanz der
Datenverarbeitung niedrig, dann macht für diesen Teilprozess ein zunehmender vertikaler
und horizontaler Digitalisierungsgrad kaum Sinn.
Dieser Zusammenhang sei beispielhaft am Teilprozess der Produktionsplanung
und -steuerung erläutert. Dabei seien drei fiktive Unternehmen miteinander verglichen, die
sich hinsichtlich ihres Fertigungstyps und der Auftragsabwicklung wie folgt unter-
scheiden:

• Unternehmen A produziere Unikatprodukte in Einzelfertigung. Dabei muss mit jedem


Produktionsauftrag die jeweilige Maschinenbelegung festgelegt und daraufhin die
Reihenfolgenplanung für alle vorliegenden Aufträge vollzogen werden. Die Be-
arbeitungszeiten an den Maschinen sowie der Bedarf an Vormaterialien schwankt er-
498 C. Haag und N. Pyschny

heblich von Auftrag zu Auftrag und lässt sich im Vorfeld nicht antizipieren. Produktions-
aufträge und zugehörige Materialbestellungen können erst nach dem Auftragseingang
des Kunden angewiesen werden.
• Unternehmen B sei ein Produzent von Kleinserien in Losfertigung. Die für die opera-
tive Produktionsplanung zur Disposition stehenden Produkte sind im Vorfeld bekannt.
Die Möglichkeiten der Maschinenbelegung sind den Produkten durch vorliegende
Arbeitspläne zugewiesen. Jedem Produkt sind Stücklisten an Vormaterialien hinterlegt.
Die mittelfristig eingehenden Kundenbestellungen können in Art und Menge recht
genau antizipiert werden, sodass auf kleine Lagerhaltung produziert wird.
• Unternehmen C sei ein Massenhersteller von Produkten in kontinuierlicher Fließ-
fertigung. Die Fertigungslinien bestehen aus drei Stufen und es finden keinerlei Um-
rüstvorgänge statt, da auf jeder Linie nur eine Variante produziert wird. Da die Absatz-
mengen der Produkte sehr langfristig prognostiziert werden können, wird kontinuierlich
ein Konsignationslager beliefert.

Im direkten Vergleich wird ersichtlich, dass sich die Unternehmen deutlich in Bezug auf
die Relevanz der Datenverarbeitung im Teilprozess der Produktionsplanung und -steue-
rung unterscheiden. Während Unternehmen A mit jedem neuen Kundenauftrag mit ver-
änderten planungsrelevanten Daten umgehen muss, bleibt die Planungsgrundlage für
Unternehmen C im Zeitverlauf so gut wie konstant. Somit wäre das theoretische Nutzen-
potenzial eines hohen vertikalen und horizontalen Digitalisierungsgrades in diesem Teil-
prozess für Unternehmen A wesentlich höher einzustufen als für Unternehmen C. Die
Planungsbedingungen von Unternehmen B liegen im mittleren Bereich zwischen den
Unternehmen A und C. Der wiederkehrende Charakter der auftragsbezogenen Daten lässt
die Relevanz der Datenverarbeitung in der Produktionsplanung und -steuerung zwar nied-
riger als für Unternehmen A, aber höher als für Unternehmen C erscheinen. Für dieses
Unternehmen wäre folglich das Nutzenpotenzial der Digitalisierung dieses Teilprozesses
als moderat bis hoch einzustufen.
Die Frage nach der Möglichkeit zur Erschließung dieser Potenziale hängt hingegen maß-
geblich davon ab, wie komplex sich der Prozess des Wissensaufbaus (Stufe 1 bis 3) mit dem
Ziel der Wissensverwertung (Stufe 4 und folgende) darstellt. Im vorherigen Kapitel wurde
bereits festgehalten, dass die Modellstufen der Wissensverwertung i.  d.  R. auf eine Ent-
scheidungsfindung bzw. eine Planung in Bezug auf eine operative, taktische oder strategi-
sche Festlegung von Aktivitäten abzielen. Dieser Aspekt wird nun aufgegriffen und vertieft.
Nach Ulrich und Probst (1991) lässt sich der Komplexitätsgrad einer Entscheidungs-
findung und ihrer vorbereitenden Schritte in vier Klassen unterteilen (Abb. 18.3), wobei
die Zuordnung einer Entscheidungssituation zu einer dieser Klassen von zwei Faktoren
abhängt, nämlich

a. der Anzahl der vorliegenden und für die Entscheidung relevanten Eingangsvariablen und
b. der Veränderlichkeit dieser Eingangsvariablen von Entscheidungssituation zu Entschei­
dungssituation.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 499

Abb. 18.3  Komplexität von Entscheidungssituationen (i. A. a. Ulrich & Probst, 1991)

Entscheidungssituationen können als ‚einfach‘ (nicht komplex) erachtet werden, wenn


sowohl die Anzahl der vorliegenden und entscheidungsrelevanten Eingangsvariablen als
auch deren Veränderlichkeit niedrig sind. Als ‚kompliziert‘ (niederkomplex) werden Ent-
scheidungssituationen bezeichnet, bei denen entweder die Anzahl der Eingangsvariablen
hoch und deren Veränderlichkeit vergleichsweise niedrig ist oder aber die Variablenanzahl
niedrig aber deren Veränderlichkeit hoch ist. Liegt sowohl eine hohe Anzahl an Variablen
als auch eine hohe Veränderlichkeit dieser vor, so handelt es sich um ‚komplexe‘ Ent-
scheidungssituationen. Sind Anzahl und Veränderlichkeit der Eingangsvariablen äußerst
hoch, d.  h. ins Unendliche reichend, so lassen sich diese Entscheidungssituationen als
‚chaotisch‘ (äußerst komplex) bezeichnen.
Das durch David Snowden bekannt gewordene Cynefin-Framework (vgl. Snowden &
Boone, 2007) greift diese vier Klassen auf und leitet davon generische Strategien ab, wie
bei Entscheidungsfindungen in Abhängigkeit des vorliegenden Komplexitätsgrades vor-
gegangen werden sollte. Diese lauten wie folgt:
500 C. Haag und N. Pyschny

• Einfache Entscheidungssituationen können mit Hilfe des Vorgehens ‚Beobachten,


Kategorisieren und Entscheiden‘ bewältigt werden, d.  h. die wenigen Eingangs-
variablen werden mit ihren vorliegenden Ausprägungen erfasst, sie können einer im
Vorfeld bekannten Kategorie zugeordnet werden und es kann eine für diese Kategorie
bestmögliche Entscheidung (best practice) getroffen werden.
• Komplizierte Entscheidungssituationen machen eine Vorabüberprüfung der Datenlage
erforderlich, und auch möglich. Die Herangehensweise lautet hier ‚Beobachten, Ana-
lysieren und Entscheiden‘. Die Eingangsvariablen können z. B. mit Hilfe mathemati-
scher Verfahren analysiert werden, sodass sich daraus eine spezifische, auf diese neue
Situation zugeschnittene Handlungsempfehlung (good practice) ergibt.
• Komplexe Entscheidungssituationen, zeichnen sich hingegen durch ein derart großes
Datengemenge aus, dass sich deren innere Wirkbeziehungen nicht im Voraus, sondern
nur im Nachhinein wahrnehmen lassen. Solche Situationen müssen mit dem Ansatz
‚Probieren, Beobachten, Analysieren und Entscheiden‘ angegangen werden, d.  h. es
müssen zunächst Entscheidungen ausprobiert und deren Auswirkungen in reproduzier-
barer Weise erzeugt werden, um die Wirkbeziehungen auf deren Zustandekommen zu
analysieren. Es muss also zunächst ein ‚kontrolliertes Lernen‘ stattfinden, bevor sich
dann ein Entscheidungsmuster (emergent practice) für eine zukünftige, vergleichbare
Situation ausrichten lässt. Letztlich wird dadurch die komplexe Entscheidungssituation
in eine komplizierte überführt.
• Chaotische Entscheidungssituationen halten keinerlei analysierfähige Wirkbeziehung
bereit. Korrelationen oder Muster innerhalb der Datenmenge können auch nicht durch
kontrolliertes Lernen zum Vorschein treten, da die Vielzahl der Eingangsvariablen und
deren Veränderlichkeit viel zu groß sind. Es gibt hier schlichtweg keine bzw. eine zu
geringe Anzahl vergleichbar wiederkehrende Ereignisse. Ein analytisches Vorgehen ist
in dieser Situation nicht möglich, daher lautet hier der pragmatische Lösungsansatz
‚Handeln, Beobachten und Reagieren‘.

Mit Abb. 18.4 werden diese situationsabhängigen Entscheidungsfindungsstrategien noch-


mals zusammengefasst und in das Stufenmodell der Datenverarbeitung einsortiert.
Was bedeutet dies nun für die Frage nach dem kontextspezifischen Nutzenpotenzial der
Digitalisierung in den vorliegenden Fallbeispielen? Unternehmen C trifft im Bereich der
Produktionsplanung und -steuerung auf eine Entscheidungssituation, die als einfach ein-
gestuft werden darf. Die Anzahl an veränderlichen Eingangsvariablen ist bei einer Ein-­
Varianten-­Produktion verschwindend gering. Demzufolge ließe sich dieser datenver-
arbeitende Prozess sehr leicht algorithmisch fassen und digitalisieren.
Hingegen findet sich Unternehmen B in einer Situation wieder, die kompliziert er-
scheint. Es liegt eine große (jedoch endliche) Anzahl an planungsrelevanten Eingangs-
variablen vor und diese weisen ein vergleichsweise hohes (aber vorab festgelegtes) Maß
an Veränderlichkeit auf. Die Planungsaufgabe ließe sich also auf analytische Art und
Weise algorithmieren und auf digitalen Systemen programmieren.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 501

Abb. 18.4  Strategien bei Entscheidungssituationen mit unterschiedlichen Komplexitätsgraden


(i. A. a. Snowden & Boone, 2007)

Die Entscheidungssituation von Unternehmen A ist schließlich als chaotisch zu be-


zeichnen. Weder ist die Anzahl möglicher Eingangsvariablen endlich, noch ist deren Ver-
änderlichkeit in irgendeiner Weise begrenzt oder vorhersehbar. Eine solche Planungsauf-
gabe lässt sich nicht ohne weiteres algorithmisch abbilden und damit auch nicht mittels
digitaler Systeme automatisieren. Sie müsste zunächst in eine komplexe bzw. komplizierte
Planungsaufgabe überführt werden, z. B. durch das Einführen eines Baukastensystems oder
einer Konfigurationslogik in der Produktarchitektur, sodass der Parameterraum für die ope-
rative Produktionsplanung endlich würde. Die wie vorliegend beschriebene Situation bietet
also keine Möglichkeit zur algorithmischen Unterstützung der Entscheidungsfindung,
wenn auch – wie zuvor beschrieben – das theoretische Nutzenpotenzial sehr hoch wäre.
Abb.  18.5 zeigt schematisch auf, welches mögliche Nutzenpotenzial der Digitalisie-
rung der Produktionsplanung und -steuerung sich für die drei Unternehmen ergibt.
Es muss also stets gelten, die Digitalisierungspotenziale von Unternehmen kontext-
spezifisch zu ermitteln. In Bezug auf die Spezifität der Unternehmen sei dazu eine die
folgenden sechs Unternehmenstypen umfassende Typologie vorgeschlagen, die das Spek-
trum der im verarbeitenden Gewerbe tätigen Unternehmen hinsichtlich ihrer Geschäfts-
und Wertschöpfungsmodelle, Fertigungstypen und der Art der Auftragsabwicklung breit
gefächert und umfassend repräsentieren soll3:

3
 Dazu wurden die dem statistischen Bundesamt bekannten 24 Wirtschaftszweige des verarbeitenden
Gewerbes (siehe www.destatis.de) in Bezug auf die genannten Spezifitätskriterien untersucht und in
die vorliegenden sechs Typen überführt.
502 C. Haag und N. Pyschny

Abb. 18.5  Mögliches Digitalisierungspotenzial in Abhängigkeit der Unternehmensspezifität (sche-


matische Darstellung)

• Sondermaschinen- und -anlagenbauer


• Anbieter konfigurierbarer, technischer Systeme
• Zulieferer einfacher Komponenten oder Baugruppen
• Serienhersteller funktionaler Module oder Endprodukte
• Erzeuger von Rohstoffen und Vormaterialien
• Massenhersteller von kurzfristigen Konsumgütern

Jeder dieser Unternehmenstypen kommt, wie in Abb. 18.6 exemplarisch dargestellt, mit


einer unterschiedlichen Morphologie an Merkmalen daher, die entscheidenden Einfluss
darauf haben, in welchen Teilprozessen die Digitalisierung welchen Mehrwert stiften
kann, d. h. welches mögliche Nutzenpotenzial vorliegt.4
Mit Bezug auf die Leitfrage dieses Kapitels lässt sich also festhalten, dass der Mehr-
wert der Digitalisierung in hohem Maße vom konkreten Wertschöpfungskontext abhängt.
Die Frage, inwieweit ein möglichst hohes Maß an Digitalisierung in vertikaler und
­horizontaler Hinsicht erstrebenswert ist, hängt in erster Linie davon ab, wie relevant sich
die Verarbeitung von Daten für die handlungsleitenden Entscheidungen in diesem Wert-
schöpfungskontext darstellt, und ob der Komplexitätsgrad des dort vorliegenden Daten-

4
 Die Nutzenpotenziale je Unternehmenstyp und Teilprozess wurden im Expertenkreis, unterstützt
durch die Delphi-Methode, ermittelt.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 503

Unternehmenstyp 2:
Anbieter konfigurierbarer, technischer Systeme

Unternehmensmerkmale Merkmalsausprägungen

Business-to-Consumer Business-to-Business Business-to-Administration


Geschäftsbeziehungsart
(Endkunde) (Industriekunde) (öffentliche Hand)

Produkart Investitionsgut Gebrauchsgut Verbrauchsgut

Typisierte Erzeugnisse
Erzeugnisse nach Standarderzeugnisse Standarderzeugnisse
Erzeugnisspektrum mit kundenspezifischen
Kundenspezifikation mit Varianten ohne Varianten
Varianten

Konstruktion Vorproduktion auf Produktion auf


Produktion auf Produktion auf
und Lager und Lager und
Auftragsauslösungsart Bestellung mit Bestellung mit
Produktion Endmontage auf Versand auf
Einzelaufträgen Rahmenverträgen
auf Bestellung Bestellung Bestellung

Kontinuierliche
Produktonswiederholung Einmalfertigung (Unikat) Losfertigung
Massenfertigung

Typische Losgröße (bei Losfertigung) < 10 10...100 100...1.000 > 1.000

Anzahl der Fertigungsstufen 1...2 3...6 >6

Baustellen Werkstatt- Insel-/ Reihen- Fließ-


Produktionsablaufart
fertigung fertigung Zellenfertigung fertigung fertigung

Ur- Um- Spanende Oberflächen- Wärme- End-


Hauptfertigungsverfahren Fügen
formung formung Bearbeitung veredelung behandlung montage

Vom Rohmaterial zum Vom Rohmaterial zum Vom Halbfabrikat zum


Fertigungstiefe
Halbfabrikat Endprodukt Endprodukt

Charakteristika dieses Unternehmenstyps: Nutzenpoteziale


der Digitalisierung: niedrig mittel hoch
Modulare Produktarchitektur

Mittlerer Auslastungsgrad von Produktarchitektur Auftragsabwicklung


Divergenter Materialfluss durch die Produktion
Produktionsplanung
Vielstufige Produktionskette mit sowahl Fertigungs-als und-steuerung
auch Montageschritten
Maschinen-und
Komplexe Produktionsprogrammplanung Prozessüberwachung
(Reihenfolgen-und Maschinenbelegungsplanung)
After Sales Services
Erklärungsbedürftige Produkte mid langer Lebensdauer

Abb. 18.6  Kontextspezifisches Nutzenpotenzial der Digitalisierung für einen Anbieter konfigurier-
barer, technischer Systeme
504 C. Haag und N. Pyschny

gemenges ein algorithmisches Abbild (i.S. eines ‚digitalen Zwillings‘, vgl. Cinar et al.,
2020) der Wirkbeziehungen entscheidungsrelevanter Eingangsvariablen zulässt
Das mögliche Nutzenpotenzial der Digitalisierung hängt also ganz maßgeblich von der
spezifischen Gestalt jedes einzelnen Unternehmens ab und ist für jeden Teilprozess inner-
halb der Wertschöpfung individuell zu bestimmen. Abb.  18.7 stellt diese kontextspezi-
fischen Potenziale abschließend für die sechs definierten Unternehmenstypen dar.

Abb. 18.7  Übersicht der kontextspezifischen Nutzenpotenziale der Digitalisierung für die sechs
Unternehmenstypen
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 505

18.4 Wie der Mehrwert der Digitalisierung im konkreten


Wertschöpfungskontext aussehen kann

Zum Abschluss dieses Beitrags möchten wir aufzeigen, wie sich ein hoher Digitalisierungs-
grad in den zuvor genannten Teilprozessen konkret darstellen würde, d. h. anhand welcher
qualitativen Attribute und neuen Abläufe sich die Effizienzsteigerungen auf den einzelnen
Stufen der Datenverarbeitung bemerkbar machen können. Mit Abb. 18.8 soll zunächst ein
allgemeiner Blick auf die vier Teilprozesse gelegt und aufgezeigt werden, welche Merk-
male die Digitalisierung hier jeweils hervorbringen kann.
Im fachlichen Diskurs mit den regionalen Partnerunternehmen des Smart Manufactu-
ring Cluster wird klar, dass die digitale Transformation der Wertschöpfung auf ‚organi-
sche‘ Art und Weise von unten nach oben (i.S. des Stufenmodells) erfolgen sollte. So ist
etwa ein gewisses Maß an Maschinensensorik und das damit ermöglichte Sammeln von
Betriebsdaten (Stufe 1 und 2) unabdingbar, um nach und nach Wissen über die Ursächlich-
keit von Maschinenzuständen und Verschleißphänomenen durch eine explorative Daten-
analyse zu erlangen (Stufe 3), um dann schließlich darauf aufbauend ein prädiktives, zu-
standsorientiertes Instandhaltungskonzept zu entwickeln (Stufe 4 und 5).
Einstimmigkeit herrscht unter den Unternehmensvertretern gleichfalls darüber, dass,
bevor mit diesem ‚organischen‘ Aufbau der Digitalisierung begonnen wird, beschrieben
werden sollte, auf welcher Stufe des Wissensaufbaus und/oder der Wissensverwertung
letztlich welcher Mehrwert geschaffen werden soll. Nur so lassen sich nutzenorientierte,
digitale Systeme aufbauen, die einen spürbaren, praktischen Wert für die Unternehmen
haben. Im Fall der Maschinen- und Prozessüberwachung sollte z. B. im Vorfeld geklärt
werden, welche Maschinen auf welchen Fertigungsstufen überhaupt eine prädiktive Art
der Instandhaltung verlangen. Wo liegen die Engpässe innerhalb des Wertstroms? Welche
Prozessschritte beeinflussen die Durchlaufzeit? Für welche Maschinen ist ein Höchstmaß
an Verfügbarkeit gefragt?

Abb. 18.8  Ausprägungsbeispiele der Digitalisierung in den Teilprozessen industrieller Wert-


schöpfung
506 C. Haag und N. Pyschny

Dies alles sollte im Vorfeld untersucht werden, um das Wertversprechen des Einsatzes
digitaler Systeme und KI-Lösungen objektiv und konkret zu benennen und ggf. bemessen
zu können. So wird sichergestellt, dass als Resultat des mit Aufwand verbundenen Trans-
formationsprozesses auch ein realer Mehrwert zu erkennen ist.

18.5 Wie KI-Anwendungen in der Praxis umgesetzt werden

Technologien der Künstliche Intelligenz können als Werkzeuge angesehen werden, um


einen hohen vertikalen Grad der Digitalisierung und damit eine höhere Stufe autonomen
Handelns von technischen Systemen zu erreichen (Abb. 18.9).
Dabei sind die Anwendungsgebiete im industriellen Produktionsumfeld vielfältig und
erstrecken sich über verschiedene planende, steuernde und regelnde Funktionen, z. B.:

• Anlagenüberwachung und Instandhaltung


• Qualitätskontrolle und -management
• Prozesssteuerung und -optimierung
• Logistik
• Ressourcenplanung
• Produkt- und Prozessentwicklung

Die Grundlage für die Anwendung von KI-Technologien bildet die Erfassung und Auf-
bereitung von Daten über den Zustand und das Verhalten des betrachteten Systems,
z. B. einer Komponente, einer Maschine, einer Produktionslinie oder eines Werks.
Aus technologischer Sicht werden darauf aufbauend in aktuellen Anwendungen vor-
rangig KI-Werkzeuge aus den Bereichen Machine Learning sowie der Aktionsplanung

Abb. 18.9  Künstliche Intelligenz zur Erreichung eines hohen vertikalen Grads der Digitalisierung
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 507

und -optimierung eingesetzt [Seifert et al., Hatiboglu et al.]. Erstere werden beispielsweise
zum Aufbau von Modellen über die Wirkzusammenhänge in technischen Systemen (Stufe
3), Letztere zur Planung und Steuerung von Produktions-, Logistik- oder Instandhaltungs-
prozessen (Stufe 4) verwendet.
Ein zentrales Anwendungsfeld für KI-Technologien ist die Überwachung und Wartung
von technischen Anlagen – das so genannte Condition Monitoring – um kritische Zustände
vorherzusagen und im Sinne einer vorausschauenden Instandhaltung (Predictive Mainte-
nance) proaktiv im Hinblick auf mögliche Ausfälle handeln zu können. Ein verfolgter
Ansatz ist dabei die Analyse von historischen Daten über Betriebszustände, Wartungsfälle
und Störungen, um daraus Trends abzuleiten und zukünftige Entwicklungen vorherzu-
sagen. Alternativ oder in Kombination werden Sensordaten von Maschinen genutzt, um
Vorhersagemodelle zu entwickeln, die für die Simulation des Systemverhaltens eingesetzt
werden können.
Ein Praxisbeispiel für die KI-gestützte Instandhaltung wurde unter dem Titel „Mainte-
nance 4.0 for Intralogistics“ von Schaeffler Technologies in Kooperation mit SSI Schäfer
realisiert (Schaeffler, 2020). In einem Distributionszentrum des Unternehmens kommen
Lösungen zur Zustandsüberwachung betriebsrelevanter Antriebssysteme und zur teilauto-
matisierten Instandhaltung der Lagerlogistik zum Einsatz. Modulare Online-­Messsysteme
dienen zur permanenten Zustandsüberwachung von Regalbediengeräten, Hebestationen
oder Spiralförderern. Die gesammelten Sensordaten werden im lokalen Leitstand visuali-
siert und auf kritische Schwellwerte überwacht. Darauf aufbauend erfolgt auf Basis von
Schwingungs- und Temperaturanalysen in intelligenten Sensoren eine frühzeitige De-
tektion von Bauteilschäden und Funktionsfehlern. Im nächsten Schritt werden die Daten
genutzt, um Zustandsanalysen und Restlaufzeitprognosen vorzunehmen, die automatisierte
Handlungsempfehlungen für die Instandhaltung erzeugen.
Im Hinblick auf den vorgestellten Bezugsrahmen zur Bestimmung des Digitalisierungs-
grads aus Abbildung 2 kann die Anwendung von KI-Technologien in diesem Fallbeispiel
auf den Stufen 3 und 4 eingeordnet werden. Auf Basis der kontinuierlichen Erfassung von
Zustandsdaten werden Wirkmodelle über die Entwicklung von Bauteilschäden entwickelt
(Stufe 3) und für Prognosen und Vorhersagen genutzt, die in direkten Handlungs-
empfehlungen münden (Stufe 4). Aufgrund des hohen Automatisierungsgrads der Daten-
erfassung und Verarbeitung kann außerdem die Effizienz der Anwendung als hoch bis sehr
hoch angesehen werden (Abb. 18.10).
Zahlreiche KI-Anwendungen finden sich auch im Bereich der Qualitätskontrolle und
Prozessoptimierung. Dabei steht die Automatisierung von dynamischen Regelschleifen im
Vordergrund, wofür sich Planungsalgorithmen mit einer im Vergleich zum Menschen hö-
heren Verfügbarkeit und einer beschleunigten Verarbeitung anbieten. Außerdem können
neben unmittelbaren Prozessdaten auch historische Daten mit Informationen aus vor-
herigen Maschinenläufen oder vorgelagerten Prozessen in die Steuerungsprozesse ein-
fließen. Werden von den Algorithmen qualitätsrelevante Prozessabweichungen erkannt,
können diese durch automatische Anpassung der Prozessparameter korrigiert werden und
ggf. durch Adaption der Folgeprozesse ausgeglichen werden.
508 C. Haag und N. Pyschny

Abb. 18.10  Einordnung des Praxisbeispiels zur Anlagenüberwachung und Instandhaltung

Ein Anwendungsbeispiel findet sich bei der Plastipack GmbH, einem mittelständischen
Kunststoffverarbeitungsunternehmen spezialisiert auf Extrusionsblasformen. In einem
Pilotprojekt wurden KI-Verfahren entwickelt, um Prozessdaten – wie Drücke und Tempe-
raturen in den Werkzeugen – auf Anomalien zu untersuchen und damit Qualitätsprobleme
frühzeitig zu erkennen. Zum Anlernen der Modelle wird die Qualitätsprüfung der Bauteile
weiterhin manuell ausgeführt. Die KI-Modelle unterstützen beim Erkennen von Ab-
hängigkeiten zwischen Prozessparametern und -ergebnissen, und ermöglichen damit die
Überwachung und Optimierung der Fertigungsprozesse. Außerdem ist durch die
kontinuierliche Erfassung von Prozess- und Qualitätsdaten eine Rückverfolgbarkeit bis
zum Einzelstück gegeben [Digital in NRW (2020)].
Die Digitalisierungsgrad dieser KI-Anwendung ist im Bezugsrahmen auf Stufe 3 anzu-
siedeln, da es primär um den Aufbau von Wissen über Zusammenhänge zwischen ver-
schiedenen Prozessparametern und der Bauteilqualität geht. Die Effizienz der Digitalisie-
rung ist aufgrund der weiterhin manuellen Erfassung der Qualitätsdaten in der derzeitigen
Ausbaustufe eher gering (Abb. 18.11).
Ein drittes wichtiges Anwendungsgebiet für KI-Technologien findet sich in der Logis-
tik. Bereits heute setzen viele Unternehmen Lagerhaltungssoftwares ein, die KI-­Funktionen
anbieten – von der Überwachung kritischer Lagerbestände, bis hin zu Algorithmen, wel-
che Beschaffungsvorschläge aus Daten- und Trendanalysen ableiten. Aber vor allem für
den Transport von Waren kommen zunehmend KI-Technologien zum Einsatz, z. B. für die
dynamische Routenplanung von fahrerlosen Transportsystemen (FTS), die es ihnen auf
Basis verschiedener Sensordaten erlaubt, zu navigieren und Hindernisse zu umfahren.
Während sich einzelne FTS autonom fortbewegen, übernimmt die übergeordnete Planung
und Steuerung der Transportaufträge in der Regel ein zentrales System mit Planungs- und
Optimierungsalgorithmen.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 509

Abb. 18.11  Einordnung des Praxisbeispiels zur Qualitätskontrolle und Prozessoptimierung

Als Praxisbeispiel soll ein Anwendungsszenario aus der Stahlindustrie betrachtet


werden. Die Outokumpu GmbH setzt in einem Auslieferungszentrum mit Produktions-
kapazitäten für Konfektionierungsprozesse ein durchgängig automatisiertes Logistik-
system  – bestehend aus einem automatischen Eingangs- und Versandlager, mehreren
Fahrerlosen Transportfahrzeugen, die vier Produktionslinien versorgen, und einem
automatischen Zwischenlager ein [Ulrich & Albrecht, (2019)]. Die FTS sind für die
autonome ­Lieferung der Rohware aus dem Eingangslager an die Produktionslinien
sowie den Rücktransport fertiger Produkte ins Zwischenlager oder zum Versand zu-
ständig. Die Steuerung der gesamten Produktionsabläufe wird dabei von einem zentra-
len Produktionsplanungssystem übernommen, welches die FTS-Transportaufträge ge-
neriert und an das FTS-Leitsystem übergibt. Dort werden die Aufträge kombiniert und
anhand der Verfügbarkeit und Eignung der Fahrzeuge für die jeweilige Aufgabe zu-
gewiesen. Die einzelnen Fahrzeuge operieren vollständig autonom, wobei die Naviga-
tion über ein im Boden ­verlegtes Magnetraster unterstützt wird. Alle erledigten Trans-
porte werden in das übergeordnete Planungssystem zurückgemeldet, was eine lückenlose
Warenrückverfolgbarkeit ermöglicht.
In diesem Anwendungsbeispiel wird mit Stufe 5 ein relativ hoher Digitalisierungsgrad
erreicht (Abb.  18.12), da auf Basis implementierter Modelle und Regeln die auto-
matisierten Einheiten autonom Handlungen ausführen, um den Systemzustand zu beein-
flussen. Aufgrund der durchgängigen Erfassung und Verknüpfung von Informationen über
Produktionsaufträge und den Status der einzelnen Einheiten (FTS, Maschinen, Lager etc.)
sowie die automatisierte Verarbeitung dieser Informationen bis zur Ausführung von
Aktivitäten ist die Anwendungseffizienz sehr hoch, lediglich die Ortsunabhängig ist auf-
grund der Lokalität der Aktivitäten nicht relevant und daher auch gering.
510 C. Haag und N. Pyschny

Abb. 18.12  Einordnung des Praxisbeispiels zur KI in der Intralogistik

18.6 Fazit

In diesem Beitrag wurde gezeigt, welche Potenziale die Digitalisierung und der Einsatz
von KI für die industrielle Wertschöpfung bereithalten kann und in welchem Kontext sich
diese Potenziale realisieren lassen. Kontextgebend sind dabei einerseits die Unternehmens-
spezifität, d. h. charakteristische Geschäftsmodellkomponenten wie etwa der Fertigungs-
typ, und andererseits der für die Digitalisierung in den Fokus gerückte Teilprozess inner-
halb der Wertschöpfung der Unternehmen.
Der anvisierte Kontext für die KI-Anwendung sollte sowohl ein hohes Maß an theore-
tischem Nutzenpotenzial als auch die Möglichkeit zur Erschließung dieses Potenzials auf-
zeigen. In diesem Zusammenhang weisen solche Wertschöpfungskontexte, die aufgrund
ihres Datengemenges mit komplizierten bis komplexen Entscheidungs- und Planungsauf-
gaben daherkommen, das größte Nutzenpotenzial für die Digitalisierung auf.
Es wurden schließlich Fallbeispiele von Unternehmen vorgestellt, die es sich zur Auf-
gabe gemacht haben, eben solche komplizierten bzw. komplexen Teilprozesse ihrer Wert-
schöpfung zu digitalisieren und hier einen hohen Reifegrad erreicht haben.
Mit dem zuvor vorgestellten Bezugsrahmen wurden diese Fallbeispiele hinsichtlich
ihres vertikalen und horizontalen Digitalisierungsgrades eingeordnet und charakterisiert.
Diese beispielhafte Anwendung des Bezugsrahmens soll es dem interessierten Leser aus
der industriellen Praxis erleichtern, zukünftig auch für die eigenen geplanten Digitalisie-
rungs- und KI-Ansätze eine nutzenorientierte Zielbeschreibung vorzunehmen und daran
die eigenen Entwicklungs- und Implementierungsaktivitäten auszurichten.
18  Künstliche Intelligenz für die industrielle Produktion – Ein kontextorientierter … 511

Literatur

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Wittpahl, V. (2019). Künstliche Intelligenz. Springer. https://doi.org/10.1007/978-­3-­662-­58042-­4

Prof. Dr.-Ing. Christoph Haag  ist seit 2017 ist Professor für
Technologiemanagement an der Fakultät für Informatik und
Ingenieurwissenschaften der Technischen Hochschule Köln. In sei-
ner industrienahen Forschung, Lehre und Beratung befasst er sich
mit kontext- und nutzenorientierter Innovationsentwicklungs-
methoden, der digitalen Transformation und dem (Re-)Engineering
nachhaltiger Geschäftsmodelle. Prof. Haag studierte Wirtschafts-
ingenieurwesen an der Universität Paderborn und promovierte im
Bereich der Bewertung technologiebasierter Vermögenswerte am
Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie IPT in Aachen.
512 C. Haag und N. Pyschny

Prof. Dr.-Ing. Nicolas Pyschny  lehrt und forscht seit 2017 als Pro-
fessor für Konstruktion und Produktentwicklung an der Fakultät für
Informatik und Ingenieurwissenschaften der Technischen Hoch-
schule Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Digi-
talisierung im Engineering (Model-Based Systems Engineering,
Knowledge-Based Engineering, Design Automation) sowie die fle-
xible Automatisierung in der Handhabungs- und Montagetechnik.
Prof. Pyschny studierte Maschinenbau und Wirtschaftswissen-
schaften an der RWTH Aachen und promovierte im Bereich der
selbstoptimierenden Montagesysteme am Fraunhofer-Institut für
Produktionstechnologie IPT in Aachen.
Technologiebasierte Konzepte der digitalen
Wertschöpfung unter besonderer 19
Berücksichtigung von Künstlicher
Intelligenz

Sonja Köppl

Zusammenfassung

Um die Produktion nachhaltig zu verbessern, müssen Fertigungsbetriebe Schwach­


stellen in Prozessen ausfindig machen und beseitigen. Durch beschreibende bzw. dia­
gnostische Datenanalyse können Unternehmen diese Schwachstellen erkennen, beheben
und erhebliche Produktivitätssteigerungen erreichen. Durch die zunehmende Komplexi­
tät der Fertigungsanlagen und Produktionsprozesse reicht dies in vielen Fällen nicht
mehr aus. Um die zunehmend komplexen Kausalzusammenhänge zu erkennen, wird
eine künstliche Intelligenz benötigt. Basierend auf einzelnen KI-Pilotprojekten wer­
den, getrieben durch die Geschäftsleitung, eine auf die Analyse von großen Daten­
mengen ausgerichtete Unternehmens-IT aufgebaut und neue Rollen und Zusammen­
arbeitsmodelle etabliert. So wird die Basis geschaffen, um anschließend in kürzester
Zeit hunderte KI-Anwendungsfälle umzusetzen und KI zu industrialisieren.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Digitale Technologien · Digitale Wertschöpfung · Künstliche


Intelligenz · KI

S. Köppl (*)
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: sonja.koeppl@hnu.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 513


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_19
514 S. Köppl

Um KI zu industrialisieren müssen folgende Punkte beachtet und umgesetzt werden:

• Aufnehmen des Ziels der digitalen Transformation in der Unternehmensstrategie.


• Zuerst werden kleine einfache Pilotprojekte implementiert und anschließend skaliert.
• Erlangen eines hohen Datenverständnisses, um extrahierte Muster und Gesetzmäßig­
keiten auf Plausibilität überprüfen zu können.
• Nutzen der extrahierten Muster und Gesetzmäßigkeiten, um empirisches Wissen zu
hinterfragen und zu erweitern.
• Etablieren eines agilen Teams aus Domänenexperte, Data Scientist, Data Engineer, Ci­
tizen Data Scientist, Software Engineer und Projektleiter, um erfolgreiche Implemen­
tierung von KI sicherzustellen. Es ist darauf zu achten, dass Teammitglieder lokal zu­
sammenarbeiten.
• Erstellen einer flexiblen skalierbaren Infrastruktur bestehend aus Message oriented
Middleware, Cloud und Edge.
• Implementieren eines standardisierten Frameworks, welches Routineaufgaben bei der
Realisierung von ML Modellen automatisiert.
• Kontrollieren aller datengenerierenden und datenempfangenden Systeme, um Daten
abgreifen und KI generierte Erkenntnisse auswerten zu können.

19.1 Einleitung

Bei der Serien- bzw. Massenfertigung werden über einen bestimmten Zeitraum viele
gleichartige Produkte hergestellt. Dies führt dazu, dass die Hersteller der Produkte bei der
Fertigung viele Vorgänge standardisieren und verbessern können. Gerade in hochauto­
matisierten Fertigungen sind kontinuierliche Verbesserungen notwendig, um Effizienz
und Qualität der Prozesse zu verbessern und Produktionskosten zu senken.
Daher arbeiten Hersteller seit vielen Jahren an der Umsetzung von Industrie 4.0 Lösun­
gen. Dabei werden Fertigungsanlagen standardisiert und an Produktionsleitsysteme an­
gebunden. Dadurch liefern die Fertigungsstationen einen kontinuierlichen Datenfluss. Für
jede Fertigungsstation kann der Hersteller auf umfassende Informationen über Maschinen­
zustände, qualitätsrelevante Daten und sogar einzelne Sensorwerte zugreifen. Für einzelne
Fertigungsteile werden aus Gründen der Rückverfolgbarkeit hunderte Datenpunkte ge­
speichert (Luber & Litzel, 2019). Die Daten bilden die Grundlage für einen kontinuier­
lichen Verbesserungsprozess. Durch die Verknüpfung der Daten der vor- und nach­
gelagerten Produktionsstufen erreichen die Hersteller eine perfekte datenseitige vertikale
Verbindung. Allein durch die Umsetzung von Anwendungsfällen, die den unteren Teil der
Industrie 4.0 Pyramide betreffen, wie Standardisierung, Vernetzung und beschreibende
bzw. diagnostische Analyse von Daten (Kraus, 2019), können Unternehmen erhebliche
Produktivitätssteigerungen erreichen.
19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 515

In vielen Fällen ist dies aber nicht mehr ausreichend. Unternehmen sind mit einer zu­
nehmenden Komplexität der Fertigungsprozesse sowie des Designs konfrontiert. Die zu­
nehmende Komplexität der Anlagen und Prozesse führt zu 1:n Kausalzusammenhängen,
die für den Menschen schwer oder sogar unmöglich zu erfassen sind. Daher konzentrieren
sich Unternehmen mehr auf den oberen Teil der Industrie 4.0 Pyramide.
Es wird eine künstliche Intelligenz (KI) benötigt, welche solche komplexen Zusammen­
hänge auf Grundlage vorhandener Datenbestände und intelligenter Algorithmen erkennen
kann. Intelligente Algorithmen folgen nicht mehr genau definierten Programmcodezeilen,
sondern treffen datengesteuerte Vorhersagen oder Entscheidungen. Die aus den Daten ge­
wonnenen Entscheidungen können verallgemeinert werden. Empirisches Wissen wird
durch KI-Verfahren erweitert und ermöglicht den Menschen bisher unbekannte Wirk­
zusammenhänge schneller zu erkennen, um kontinuierlich an der Optimierung der
Fertigungsprozesse zu arbeiten.
Ziel ist es aufzuzeigen, wie industrialisierte KI in der Serien- bzw. Massenfertigung
realisiert werden kann. Dazu ist eine umfangreiche Unterstützung der Geschäftsleitung
notwendig, um Wertströme und Prozesse, genauso wie die Unternehmens-IT, aber auch
die Arbeitsweise von Mitarbeitern und Maschinen darauf hin anzupassen.

19.2 Aufbau einer Unternehmens-IT für die automatische Analyse


von großen Datenmengen

Bei der Digitalisierung werden digitale Repräsentationen von analogen Informationen,


physischen Objekten oder Ereignissen erzeugt. Speziell Fertigungsanlagen liefern konti­
nuierlich Daten, z.  B.  Sensorwerte, Maschinenzustände und qualitätsrelevante Daten
(Luber & Litzel, 2019). Die digitalisierten Informationen für sich alleine gesehen liefern
jedoch noch keinen großen Mehrwert. Nur wenn es gelingt, die verschiedensten digitalen
Informationen zusammenzuführen, also zu vernetzen, können Daten basierend auf ge­
eigneten Analysemethoden gewinnbringend für das Unternehmen genutzt werden. Hoch­
automatisierten Fertigungsanlagen sind dafür an ein Produktionsleitsystem angebunden.
Hier werden alle anfallenden Daten gespeichert und dazu verwendet die Produktion zu
überwachen und zu kontrollieren. Dies ermöglicht eine ganzheitliche Datenerfassung.
Ein Unternehmen besitzt in der Regel mehrere Fertigungsanlagen an mehreren Stand­
orten. Jede einzelne Fertigungsstation liefert kontinuierlich Daten. So werden in Unter­
nehmen am Tag mehrere Terrabyte an Daten in unterschiedlichen Formaten generiert.
Fertigungsanlagen liefern somit Big Data. Der Begriff Big Data bezeichnet die rasant
wachsende Datenmenge an strukturierten und unstrukturierten Daten, die im Unternehmen
täglich anfallen. Nicht die Daten selbst sind so wichtig. Entscheidend ist, was Unter­
nehmen mit den Daten machen. Große Datenmengen können analysiert werden, um Er­
kenntnisse zu gewinnen und auf deren Grundlage bessere Entscheidungen zu treffen und
das Unternehmen strategisch auszurichten (Enzberg et al., 2019).
516 S. Köppl

19.2.1 Speichern der Fertigungsdaten in einer Cloud Architektur

Diese extrem großen Datenmengen müssen mit speziellen Lösungen gespeichert, ver­
arbeitet und ausgewertet werden. Die Verlagerung der Daten in eine Cloud ist das
­effizienteste Vorgehen. In der Cloud stehen genügend Speicherplatz und Ressourcen für
die Speicherung, Vernetzung, Verarbeitung und Auswertung der Daten zur Verfügung.
Beim Cloud Computing geht es darum IT-Ressourcen nicht mehr zu besitzen und selbst zu
betreiben, sondern über das Internet bereitgestellte IT-Kapazitäten bei Bedarf temporär zu
nutzen. Mit Cloud-Computing werden Rechenleistung, Speicherkapazität und Software in
dem Umfang gemietet, wie sie tatsächlich benötigt werden (Klein et  al., 2013). Damit
können Unternehmen sich auf ihre Kerngeschäfte konzentrieren, ohne dass die IT zum
limitierenden Faktor wird.
Alle in der Cloud ankommenden Daten werden in einem Data Lake gesammelt. Hier
liegen ungefiltert alle in der Fertigung anfallenden Rohdaten. Werden diese Rohdaten an­
schließend aufbereitet, strukturiert und gefiltert stehen sie für bestimmte Zwecke in einem
Data Warehouse zur Verfügung (Mathis, 2017). Diese Daten können dann verwendet wer­
den,um KI-Anwendungsfälle umzusetzen und Muster und Gesetzmäßigkeiten zu extrahie­
ren. Beispielsweise kann mithilfe von intelligenten Algorithmen die ideale Kraftauf­
wendung für den Verstemmprozess an Fertigungsstation Nr. 2 vorhergesagt werden. Dazu
müssen die im Data Warehouse zur Verfügung stehenden Daten korrekt, vollständig und
widerspruchsfrei sein. Das Finden von Mustern und Gesetzmäßigkeiten in großen Daten­
mengen kann immense Rechenkapazitäten erfordern, die auch über die Cloud zur Ver­
fügung gestellt werden (Hentschel & Leyh, 2018).
Dabei ist es entscheidend, dass die Daten sowohl in der Cloud als auch weiterhin in den
Datenbanken des Produktionsleitsystems gespeichert werden, um den normalen Echtzeit­
betrieb der Fertigungsanlagen nicht zu gefährden. Das Produktionsleitsystem enthält ein
digitales Abbild der Produktion und ermöglicht die Überwachung der Prozesse in Echt­
zeit. Dies muss unabhängig von der Datenspeicherung und -analyse in der Cloud weiter­
hin gewährleistet werden.

19.2.2 Übermitteln der Daten durch Message oriented Middleware

Die Übermittlung der durch die Fertigungsstationen generierten Daten in die Cloud wird
durch eine Message oriented Middleware (MoM) übernommen. Diese Zwischen­
anwendung mit Schnittstellencharakter vermittelt anwendungsneutral über ein Netzwerk
zwischen zwei Softwarekomponenten. Es wird nur eine lose Kopplung zwischen Sender
und Empfänger aufgebaut. Die Kommunikation zwischen den beteiligten Komponenten
erfolgt durch den Austausch von Nachrichten. So wird eine asynchrone Kommunikation
zwischen Sender und Empfänger ermöglicht. Diese Art der Kommunikation steht im
Gegensatz zur synchronen Kommunikation, wo Sender und Empfänger direkt und zeit­
gleich miteinander Nachrichten austauschen. Die MoM verwaltet die asynchronen Nach­
19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 517

richten in Form einer Warteschlange. Dadurch kann sowohl der Sender als auch der Emp­
fänger die Nachrichten zu einem beliebigen Zeitpunkt in die Warteschlange stellen bzw.
abholen. Jede auszutauschende Nachricht besteht aus einem Header, welcher ein be­
stimmtes Flag zur Identifikation der Nachricht enthält und einem Body, welcher die
eigentlichen Daten beinhaltet. Die Empfänger überprüfen die Header, der sich in der
Warteschlange befindenden Nachrichten und lesen nur den Body der Nachrichten, wel­
che für den jeweiligen Empfänger bestimmt sind. Die Nachrichten werden so über die
MoM unabhängig von Programmiersprachen und Plattformen ausgetauscht (Rausch
et al., 2018).
Da alle Daten aus den Fertigungsstationen, wie Sensorwerte, Maschinendaten, Quali­
tätsdaten und Rückverfolgbarkeitsdaten in dem Produktionsleitsystem zusammengefasst
sind, können die Daten direkt am Produktionsleitsystem abgegriffen werden und über
die MoM in die Cloud gesendet werden. Das Produktionsleitsystem wird zum Sender
und legt die generierten Daten als asynchrone Nachrichten auf die MoM.  Die Cloud
kann dann die Nachrichten von der MoM abgreifen. Dadurch sind nur minimale An­
passungen in der bestehenden Software des Produktionsleitsystems notwendig. Die
Software der Fertigungsanlagen bleibt unverändert. Das ist ein Vorteil, da größere Soft­
wareänderungen an Fertigungsstationen immer kritisch sind und einen Stillstand der
Station und somit der Produktion erfordern. Bei unvorhergesehenen Problemen kann es
zusätzlich zu Terminverzögerungen, unzufriedenen Kunden und finanzielle Einbu­
ßen kommen.
Die Softwareänderung am Produktionsleitsystem kann, bei gegebener Offline-Fähig­
keit, bei laufendem Betrieb der Fertigungsstationen vorgenommen werden. Es ist kein
Maschinenstillstand notwendig. Durch die Offline-Fähigkeit vieler Produktionsleit­
systeme wird sichergestellt, dass die Fertigungsstationen weiter produzieren können, auch
wenn keine Verbindung zwischen Produktionsleitsystem und der Fertigungsstation be­
steht. Bei fehlender Verbindung müssen intelligente Komponenten oder auch Datenpuffer
diese Zeit überbrücken können. Dadurch wird eine hohe Verfügbarkeit der Fertigungs­
stationen sichergestellt (Kletti, 2013).
Abhängig von dem Aufbau der Fertigungslinie gibt es noch eine weitere Möglichkeit
die Daten abzugreifen. Manche Produktionslinien haben als Zwischenebene zwischen
SPS (Speicherprogrammierbare Steuerung, Gerät das zur Steuerung/Regelung einer
Maschine oder Anlage programmiert wird) und Produktionsleitsystem einen Linien-Ser­
ver. Dieser dient als Datenpuffer für die generierten Daten, bereitet sie auf und leitet
diese an das Produktionsleitsystem weiter. Durch den Linien-Server wird somit die
Offline-­Fähigkeit des Produktionsleitsystems sichergestellt. Auf dem Linien-Server lie­
gen Informationen vom Produktionsleitsystem für die SPS z.  B. über das zu ver­
arbeitende Werkstück und Daten von der SPS für das Produktionsleitsystem wie
z. B. Rückverfolgbarkeitsdaten oder Maschinendaten. So kann weiter gefertigt werden,
auch wenn kurzfristig keine Verbindung zum Produktionsleitsystem besteht. Da alle
wichtigen Daten, wenn auch nur vorübergehend, auf dem Linien-Server liegen, können
von dort auch die Daten abgegriffen werden. Der Linien-Server wird zum Sender und
518 S. Köppl

legt die Daten auf die MoM. Auch bei dieser Alternative sind nur kleine Änderungen an
der Software des Linien-Servers notwendig. Die Software der Fertigungsstationen bleibt
­unverändert.

19.2.3 Maschinelles Lernen in der digitalen Wertschöpfungskette

Wenn es bei KI-Anwendungsfällen um das Erkennen von komplexen Zusammenhängen


in großen Datenmengen geht, wird häufig Maschinelles Lernen (ML) angewendet. ML ist
ein Teilbereich der Informatik, der sich damit befasst, Computern die Fähigkeit zu ver­
leihen, selbständig zu lernen. Mithilfe des Maschinellen Lernens werden IT-Systeme in
die Lage versetzt, auf Basis vorhandener Datenbestände und Algorithmen, Muster und
Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und Lösungen zu entwickeln (Frochte, 2020). Diese Mus­
ter und Gesetzmäßigkeiten könnten wir Menschen aufgrund der enormen Komplexität
nicht erkennen. Es wird quasi künstliches Wissen aus Erfahrungen generiert. Die ge­
wonnenen Erkenntnisse lassen sich verallgemeinern und für neue Problemlösungen oder
für die Analyse von bisher unbekannten Daten verwenden.
Unternehmen sehen den potenziellen Nutzen von ML dabei hauptsächlich in einer Stei­
gerung der betrieblichen Effizienz (IT-Daily, 2018). Die Steigerung der Effizienz kann in
der Fertigung wie folgt erreicht werden:

• KI unterstützende Ursachenanalyse: mithilfe von statistischen Datenauswertungen


(Root Cause Analysis) lässt sich erkennen, wo Ursachen von Maschinenstillständen
oder Fehlproduktionen liegen, indem Daten auf auffällige Muster und Anomalien
untersucht werden.
• KI unterstützende Produktentwicklung: Felddaten und Fertigungsdaten werden dazu
verwendet, um Produkt- und Maschinendesigns zu verbessern.
• KI unterstützende Absatzprognosen: um die Planung zu optimieren kann mithilfe von
ML der Absatz von Produkten prognostiziert werden. So können z. B. Rüstvorgänge
effektiv geplant werden.
• KI optimierte Prozessbedingungen: während der Produktion erkennt ML fehlerhafte
Teile und korrigiert diese adaptiv in den folgenden Prozessschritten. Durch maschinen­
übergreifende Datenanalyse können z.  B.  Toleranzwerte passend zum individuellen
Fertigungsstück eingestellt werden.
• Vorausschauende Wartung: Ausfallzeiten von Maschinen und Anlagen werden redu­
ziert, indem vorausschauende Datenmodelle erkennen, wann es zu einem Ausfall kom­
men wird. So können Techniker für die Behebung der Probleme rechtzeitig vor einem
Maschinenstillstand beauftragt werden.
• Vorausschauende Qualität: um den Zustand aktuell produzierter Teile/Produkte früh­
zeitig zu erkennen, werden Muster in bereits vorhandenen Fertigungsdaten gesucht, die
Rückschlüsse auf die finale Produktqualität zulassen. Somit lassen sich frühzeitig Aus­
schussteile erkennen.
19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 519

• Digitaler Zwilling: anhand vorhandener Daten können digitale Abbilder von einzelnen
Komponenten bis hin zu gesamten Fertigungsstation erstellt werden. Der digitale Zwil­
ling kann dazu genutzt werden Verhalten und Funktionalität des realen Zwillings unter
normalen oder extremen Bedingungen zu simulieren.
• Echtzeit Visualisierung: werden die zahlreichen Prozessdaten in Echtzeit visualisiert
erhält man einen permanenten Einblick in die laufenden Prozesse. So werden mögliche
Probleme im Ablauf frühzeitig erkannt und man kann adäquat auf sie reagieren.

Bei der Umsetzung solcher ML-Projekte hält man sich an den CRISP-DM Standard (Cross
Industry Standard Process for Data Mining). Es handelt sich um ein standardisiertes
Prozessmodell, das immer dann Anwendung findet, wenn Datenbestände nach Mustern,
Trends und Zusammenhängen durchsucht werden sollen. Dabei werden 6 Phasen (Ge­
schäftsverständnis, Datenverständnis, Datenvorbereitung, Modellierung, Evaluierung,
Bereitstellung) unterschieden. Wobei die Phasen nicht als einmalig sequenziell durch­
laufen werden, sondern es muss häufig zwischen diesen hin- und hergewechselt werden
(Wirth, 2000).
Dabei ist Durchgängigkeit und Automatisierung sehr wichtig. Die Implementierung
von ML-Modellen besteht aus vielen Routineaktivitäten. Das Sammeln und Vorbereiten
der Daten stellt erfahrungsgemäß den größten Aufwand innerhalb des Workflows dar. Die
gesammelten Daten müssen je nach Qualität vor einer Analyse vereinheitlicht und auf
fehlende Werte untersucht werden. Für die Abstraktion der Muster innerhalb der Daten
werden intelligente Algorithmen benötigt, welche eine Konfiguration in Form von Hyper­
parametern enthalten. Zuletzt müssen die extrahierten Erkenntnisse vor der Bereitstellung
nach geeigneten Gütemaßen evaluiert werden.
Um diese Aufgaben weitgehend zu automatisieren, werden individuelle Frameworks
implementiert. Diese Frameworks werden speziell auf das Unternehmen bzw. die
Fertigungsdaten zugeschnitten. Abhängig von der Komplexität und dem Umfang der Auf­
gabe lassen sich so einzelne Schritte bis zum gesamten Prozess automatisieren. Dadurch
wird die Implementierung von ML-Anwendungsfällen deutlich vereinfacht und be­
schleunigt.
Das Gebiet des maschinellen Lernens enthält eine Vielzahl von Algorithmen, mit denen
Daten analysiert werden können. Ein großer Teil der Algorithmen benötigten viele histo­
rische Trainingsdaten, bei denen die Eingabeparameter als auch das Ergebnis bekannt
sind. Aus den Trainingsdaten und den intelligenten Algorithmen werden Modelle erstellt,
die anhand der Eingabeparameter auf das Ergebnis schließen lassen. Nach diesem rechen­
intensiven Training können die Modelle für unbekannte Eingabeparameter Ergebnisse lie­
fern (Frochte, 2020), z. B. die Vorhersage der Notwendigkeit einer Funktionsprüfung am
Ende der Montage für ein bestimmtes Fertigungsteil. Dieses Vorgehen wird unter dem
Begriff Überwachtes Lernen zusammengefasst. Ideale Voraussetzungen für das rechen­
intensive Training solcher Algorithmen bietet dabei die Cloud. Hier liegen alle benötigten
historischen Daten und es wird genügend Rechenkapazität zur Verfügung gestellt. Nach
dem Training befindet sich das erstellte Modell ebenfalls in der Cloud. Hier kann das Mo­
520 S. Köppl

dell schon Vorhersagen treffen. Dazu müssen die Daten der Fertigungsstation über die
MoM und das Internet in die Cloud übertragen werden. Dort werden die Daten aufbereitet
und an das trainierte Modell weitergeleitet. Dann ist das Modell in der Lage genau für
diese Daten ein Ergebnis vorherzusagen. Damit die Vorhersage an der Fertigungsstation
ausgewertet werden kann, muss diese über das Internet und die MoM zurück zur SPS
­gesendet werden. Dieser Vorgang kann, je nach Geschwindigkeit des Internets und der
agierenden Komponenten, mehrere Sekunden bis Minuten dauern. Für den Einsatz in der
Kurztakt Serien- bzw. Massenfertigung ist dies nicht akzeptabel, da hier die Vorhersage
am besten in Echtzeit oder wenigstens innerhalb der Taktzeit benötigt wird.

19.2.4 Betreiben der trainierten ML Modelle in einer prozessnahen


Edge Architektur

Um die Vorhersagen eines trainierten ML Modells in Echtzeit an die Fertigungsstationen


zu bringen, werden die trainierten Modelle in einer prozessnahen Architektur, wie ein
mobiles Gerät oder lokaler PC /Server, betrieben. Durch das sogenannte Edge Computing
werden die generierten Daten ohne Verzögerung am Ort der Entstehung ausgewertet, statt
auf die weit entfernte Cloud zurückzugreifen (Industrie 4.0 Award, 2019), wie in Abb. 19.1
dargestellt ist.
Nachdem das Modell in der Cloud trainiert wurde, wird es automatisch auf die Edge
Architektur übertragen. Die für die Vorhersage benötigten Daten liegen als asynchrone
Nachricht auf der MoM. Von dort aus kann nicht nur die Cloud, sondern auch die Edge
Architektur auf die Daten zugreifen. Die Edge Architektur verbindet sich als zusätzlicher

Abb. 19.1  IT-Architektur um KI Anwendungsfälle zu realisieren


19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 521

Empfänger mit der Message oriented Middleware und liest die für die Vorhersage be­
nötigten Nachrichten mit den Fertigungsdaten ein. Das trainierte Modell bereitet die Daten
auf und bestimmt die benötigte Vorhersage. Diese Vorhersage wird von der Edge Archi­
tektur als weitere asynchrone Nachricht an die MoM gesendet. Die Edge Architektur ist
also nicht nur Empfänger, sondern auch Sender.
Die Fertigungsstation muss jetzt nur noch die gewünschte Vorhersage aus der MoM
abgreifen. Dazu muss die Software der Fertigungsstation nur minimal angepasst werden.
Das SPS Programm registriert sich als weiterer Empfänger an der MoM und greift die ent­
sprechende Nachricht mit der benötigten Vorhersage ab. Die Vorhersage wird nun von dem
SPS-Programm ausgewertet und der Fertigungsprozess entsprechend geregelt. Mit dem
Aufwand der Softwareänderung wird ein geschlossener Regelkreis realisiert, die Vorher­
sagen eines intelligenten Algorithmus greifen live in den Fertigungsprozess ein.
Die auf der Edge Architektur bereitgestellten ML Modelle müssen regelmäßig an ver­
ändernde Bedingungen angepasst werden. Die Vorhersagequalität von trainierten Model­
len wird sich im Laufe der Zeit, aufgrund von Änderungen in der Umgebung, welche
gegen die Annahmen des Modells verstoßen, verschlechtern. Anstatt ein Modell einmal
bereitzustellen und zu einem anderen Projekt überzugehen, müssen ML Modelle neu trai­
niert werden, wenn festgestellt wird, dass die Verteilung der aktuellen Fertigungsdaten
erheblich von denen des ursprünglichen Trainingssatzes abweicht (Patruno, 2019). Damit
eine Verschlechterung der Vorhersagequalität festgestellt werden kann, muss das Modell
und die generierten Fertigungsdaten regelmäßig überwacht werden. Bei Bedarf erfolgt
automatisch ein Re-Training des Modells. Wie das initiale Trainieren von ML Modellen
wird auch das erneute Trainieren in der Cloud vorgenommen, da hier die erforderlichen
historischen Daten und Rechenkapazitäten zur Verfügung stehen. Das Re-Training unter­
scheidet sich kaum von dem Initialen-Training. Für das Re-Training wird nur ein aktueller
Trainingssatz an Fertigungsdaten benötigt. Dadurch kann das Modell an die geänderten
Umgebungsbedingungen angepasst werden. Anschließend wird das angepasste Modell
automatisch auf die Edge Architektur überführt, wo es das vorherige Modell ablöst, um für
den Fertigungsbetrieb hochqualitative Vorhersagen zu generieren. Beim Vorgang des
Re-Training ist darauf zu achten, dass zu jeder Zeit ein einsatzfähiges Modell auf der Edge
Architektur zur Verfügung steht, welches Vorhersagen für den Fertigungsprozess generie­
ren kann. Ohne diese Vorhersagen kann nicht weiter produziert werden und die Fertigung
würde stillstehen. Ebenso muss nachvollziehbar sein, wann welche Version der Modelle
produktiv im Einsatz war.

19.3 Aufbau von Rollen und Zusammenarbeitsmodellen für die


automatische Analyse von großen Datenmengen

Um in einem Unternehmen KI-Anwendungsfälle zu implementieren, ist es Voraussetzung,


dass die digitale Transformation mit Datenanalyse und Industrie 4.0 in der Unternehmens­
strategie fest verankert ist. Digitale Transformation, die auch KI im Unternehmen mitein­
522 S. Köppl

schließt, kann nur erfolgreich umgesetzt werden, wenn das Management und alle Mit­
arbeiter gemeinsam an dem Ziel der datengetriebenen Organisation arbeiten. Nur durch
die Interaktion und Veränderung der Arbeitsmethoden von Menschen, Maschinen und
Prozessen werden grundlegend neue Möglichkeiten geschaffen, um Verbesserungs­
prozesse einzuleiten und Produktivitätssteigerungen zu erzielen.
Der Geschäftsführer kennt die Relevanz, aber auch die Grenzen der digitalen Trans­
formation und unterstützt die Umsetzung. Dazu wird ein allgemeiner Überblick der zur
Verfügung stehenden Technologien und der benötigten Tools vorausgesetzt. Überzeugt
vom Nutzen von KI wird die Umsetzung vorangetrieben und eingefordert. Die Durch­
führung eines KI-Projekts ist ein komplexer Prozess, der die Zusammenarbeit eines gan­
zen funktionsübergreifenden agilen Teams erfordert. Es werden neue Rollen und Zu­
sammenarbeitsmodelle benötigt, um einen Mehrwert aus den Daten zu generieren
(Industrie 4.0 Award, 2019). Eine Rolle entspricht dabei nicht zwangsläufig einer Per­
son. Gerade bei kleineren Projekten kann ein Mitarbeiter auch mehrere Rollen
übernehmen.
Die entscheidenden Rollen in KI-Projekten sind der Domänenexperte, der Data Scien­
tist, der Data Engineer, der Citizen Data Scientist, der Software Engineer und der Projekt­
leiter (Mayer, 2020):

• Data Engineer: hat einen technischen Fokus und sorgt für die benötigte IT-Infrastruktur
und die benötigten Schnittstellen zu relevanten Systemen. Dies beinhaltet auch das Ein­
richten und Konfigurieren der Cloud und der Edge Architektur sowie das Integrieren
von ML Vorhersagen in Geschäftsprozessen. In diesem Zusammenhang beschäftigt
sich der Data Engineer auch mit dem Zusammentragen, Aufbereiten und Prüfen von
Daten. Diese Tätigkeiten bilden die Grundlage für Datenanalyseprojekte und Maschi­
nelles Lernen.
• Data Scientist: implementiert für das Unternehmen KI-Algorithmen und ML Modelle.
Er ist dafür zuständig, um aus unstrukturierten Rohdatenbeständen eine strukturierte
Datenbasis zu schaffen, diese zu analysieren und durch die Ergebnisse eine Ent­
scheidungsgrundlage für Unternehmen zu generieren. Dazu arbeitet der Data Scientist
eng zusammen mit dem Domänenexperten und dem Geschäftsführer. Dadurch werden
Kenntnisse in der Datenanalyse mit tiefem Prozesswissen angereichert und eine
schnelle Umsetzung der KI-Projekte ermöglicht.
• Domänenexperte: als Mitarbeiter einer Fachabteilung, hat er keine Kenntnisse in der
Datenanalyse, kennt dafür aber die Bedürfnisse der jeweiligen Fachabteilungen und
weiß wie und wo Daten generiert werden. Er unterstützt den Data Scientisten in den
Phasen Geschäftsverständnis, Datenverständnis und Datenvorbereitung. Dadurch wird
sichergestellt, dass der Data Scientist den zu implementierenden Anwendungsfall und
die zur Verfügung stehenden Daten verstanden hat.
• Citizen Data Scientist: arbeitet in zunehmend datengetriebenen Fachabteilungen, kann
mit bereitgestellten Tools einfache Datenanalysen durchführen und abschätzen, was
mit den vorliegenden Daten möglich ist. Er erkennt datengetriebene Anwendungsfälle
19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 523

in den Fachabteilungen und bittet den Data Scientist um Umsetzung. Damit wird die
Schnittstelle zwischen Fachabteilung und Data Scientist gebildet.
• Software Engineer: an ein erfolgreiches KI-Projekt schließt häufig ein Softwareent­
wicklungsprojekt an. Der Software Engineer überführt einen KI-Prototyp in eine be­
nutzerfreundliche Softwarelösung, so dass die Fachabteilungen dauerhaft von den Ana­
lyseergebnissen profitieren können. Dazu ist eine Zusammenarbeit mit dem Data
Engineer notwendig, um einen reibungslosen Datenfluss zwischen den Software­
lösungen zu ermöglichen.
• Projektleiter: je nach Größe des KI-Projektes wird noch ein Projektleiter benötigt, wel­
cher den Gesamtablauf des Projekts koordiniert und überwacht. Dazu benötigt der
Projektleiter ein Verständnis über die notwendigen Schritte um ein KI-Projekt um­
zusetzen.

Im Vorfeld von KI-Projekten kann oftmals nicht abgeschätzt werden, ob das Vorhaben
mittels den verfügbaren Daten erreicht werden kann. Dies kann meist nur erkannt werden,
wenn das Projekt gestartet und die Daten analysiert wurden. Um diese Besonderheiten
berücksichtigen zu können, wird ein agiles Projektmanagement etabliert und ein regel­
mäßiger Austausch zwischen den einzelnen Rollen sichergestellt.

19.4 Industrialisieren von KI, um eine nennenswerte


Produktivitätssteigerung zu erreichen

Die meisten ML Algorithmen, die heute in der Praxis Anwendung finden, gehören zur
Klasse des Überwachten Lernens. Ein einziges solches Modell zu trainieren ist vergleichs­
weise einfach. In der Serien- bzw. Massenfertigung gibt es jedoch eine Vielzahl von
Produktvarianten, die auf mehreren Fertigungslinien produziert werden. Daraus ergibt
sich eine Fülle von möglichen KI-Anwendungsfällen. Die Umsetzung eines einzelnen KI-­
Pilotprojekts bringt somit noch keine messbare Produktivitätssteigerung. Die Heraus­
forderung besteht darin hunderte, vielleicht sogar tausende KI-Anwendungsfälle zu im­
plementieren, um die gewünschte Effektivitätssteigerung jedes Jahr zu erreichen. Dazu
muss KI industrialisiert und KI-Anwendungsfälle in kürzester Zeit weitgehend auto­
matisiert umgesetzt werden.
Unternehmen müssen lernen, wie tausende ML Modelle effizient entwickelt, über­
wacht und an veränderte Umgebungsbedingungen angepasst werden können. Während
dieses Lernvorganges werden einzelne KI-Pilotprojekte dazu genutzt, um eine skalierbare
Architektur, standardisierte Frameworks und neue Zusammenarbeitsmodelle im Unter­
nehmen zu etablieren. Je nach geleisteter Vorarbeit und Vorwissen kann dies einen erheb­
lichen mehrjährigen Aufwand bedeuten.
Eine geeignete skalierbare IT-Architektur umfasst mindestens eine MoM für das asyn­
chrone Übermitteln der Daten, eine Cloud Architektur zum Speichern und Verarbeiten der
Daten, Schnittstellen zum Abgreifen und Empfangen von Daten und eine Edge Archi­
524 S. Köppl

tektur auf welcher die trainierten ML Modelle betrieben werden. Anhand der Daten eines
konkreten Pilotprojektes kann die Funktionsweise und Stabilität der aufgebauten Archi­
tektur überprüft und verbessert werden.
Ebenso bieten Pilotprojekte eine gute Chance damit das funktionsübergreifende agile
Team aus Domänenexperte, Data Scientist, Data Engineer, Citizen Data Scientist, Soft­
ware Engineer und Projektleiter zusammenfindet. Die einzelnen Mitglieder müssen sich
erst kennenlernen, sich aufeinander einstellen und ihre Rolle im Team finden. So d­ urchläuft
jedes Team am Anfang einen Selbstfindungsprozess bis es voll leistungsfähig arbei­
ten kann.
Die Daten des Pilotprojektes werden außerdem dazu verwendet standardisierte Frame­
works aufzubauen, mit denen die Routinetätigkeiten, welche während der Implementie­
rung von ML Modellen auftreten, automatisiert werden können.
Die erfolgreiche Umsetzung von Pilotprojekten kann somit auch die Machbarkeit und
das Potenzial von KI im Unternehmen nachweisen. Mit diesen Ergebnissen können kri­
tisch eingestellte Mitarbeiter von KI überzeugt werden.
Die Erkenntnisse und Erfahrungen aus kleinen einfachen Pilotprojekten werden an­
schließend dazu benötigt KI zu industrialisieren (Thrive, 2021). Dazu ist es wichtig, dass
folgende Punkte beachtet und umgesetzt werden:

• Zu allererst ist es wichtig, dass das agile Team die Daten versteht. Es muss das Ver­
ständnis zwischen digitalen Daten und analogen Fertigungsprozessen vorhanden sein,
um im Anschluss die gefundenen Muster und Gesetzmäßigkeiten auf Plausibilität hin
überprüfen zu können. Dazu ist die Zusammenarbeit zwischen Domänenexperte und
Data Scientist von besonderer Bedeutung.
• Bei der Besetzung der Rollen des agilen funktionsübergreifenden Teams ist darauf
zu achten, dass die Teammitglieder am selben Standort arbeiten und sich regelmäßig
abstimmen und zusammenarbeiten können. Dies ist gerade bei solchen Projekten,
wo sich die Zielsetzungen im Laufe der Datenanalyse mehrfach ändern kann, be­
sonders wichtig. Die Zusammenarbeit wird hier besonders erschwert, wenn einzelne
Teammitglieder in unterschiedlichen Niederlassungen und in unterschiedlichen
Zeitzonen arbeiten.
• Die anhand der Pilotprojekte aufgebaute IT-Infrastruktur muss so strukturiert sein, dass
sie flexibel auf spezielle Anwendungsfälle angepasst werden kann und ohne großen
Aufwand weitere Anwendungsfälle mit hinzugefügt werden können. Ebenso muss das
Framework, welches die Routineaufgaben bei der Implementierung von ML Modellen
automatisiert, mit den unterschiedlichen Daten der verschiedenen Anwendungsfälle
umgehen können.
• Zum Schluss ist es notwendig den gesamten Kreislauf zu kontrollieren. Das Unter­
nehmen muss in der Lage sein, sowohl seine datengenerierenden als auch eine daten­
empfangenden Systeme an die durch die KI geforderten Bedingungen anpassen zu
19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 525

können. Es muss z. B. möglich sein, Daten aus dem Produktionsleitsystem abzugreifen
und Vorhersagen durch die SPS auszuwerten.

Werden diese Punkte berücksichtigt, sinkt der Implementierungsaufwand für weitere


KI-Anwendungsfälle. Es wird möglich, einzelne Anwendungsfälle innerhalb von wenigen
Wochen oder sogar Tagen zur Anwendung zu bringen.
Industrialisierte KI führt nicht nur zu mehr Effektivität in der Fertigung, sondern ver­
ändert auch den Lernprozess. Durch KI werden bisher unbekannte Wirkzusammenhänge
offengelegt. Diese neuen Erkenntnisse können dazu genutzt werden, bestehendes Wissen
zu hinterfragen und unbekannte Interaktionen schneller zu erkennen. KI erweitert unser
empirisches Wissen und ermöglicht es uns weiter an der Effizienzsteigerung der
Fertigungsanlagen zu arbeiten.
Durch die erfolgreiche Implementierung von KI wird Mitarbeitern die Bedeutung von
Daten und einer hohen Datenqualität bewusst. Je nach Studie sind Mitarbeiter für bis zu
60 % der Fehler in den Daten verantwortlich. Eine mangelnde Datenqualität führt zu er­
höhten Kosten durch Mehraufwand, falsche Erkenntnisse durch Datenanalyse, Probleme
bei der Umsetzung rechtlicher Vorgaben, Umsatzeinbußen und Imageschaden (Semmel­
mann, 2021). Durch das erlangte Bewusstsein sind die Mitarbeiter auch dazu bereit einen
Beitrag zu einer hohen Datenqualität zu leisten. Was dem wirtschaftlichen Erfolg des
Unternehmens zugutekommt. Somit wird im gesamten Unternehmen die Wirtschaftlich­
keit verbessert und die Digitalisierung weiter vorangetrieben.

19.5 Fazit

KI zeigt ein hohes Innovationspotenzial. Bereits heute können nahezu unbegrenzte


Einsatzbereiche und Anwendungsfälle ausgemacht werden. Von der einfachen Auto­
matisierung bis hin zur Übernahme komplexer Aufgabengebiete. KI verändert unseren
Arbeitsalltag nachhaltig und nimmt uns tägliche Routineaufgaben ab. Dabei ist KI nicht
nur in der Fertigung, sondern auch in allen anderen Unternehmensbereichen einsetzbar,
wie im Verkauf und E-Commerce, im Marketing und Customer-Relationship-Manage­
ment, im Qualitätsmanagement, im Controlling oder auch in der Logistik.
Es ist allerdings zu beachten, dass eine umfassende KI-Transformation mindestens 2
bis 3 Jahre benötigt. Erste konkrete Ergebnisse zeigen sich dennoch schon in den ersten 6
bis 12 Monaten. Voraussetzung sind standardisierte vernetze Prozesse, welche kontinuier­
lich Daten in einer hohen Qualität liefern. Die erzeugten Daten bilden die Grundlage für
einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, beginnend bei beschreibender und diagnos­
tischer Datenanalyse. Danach kann, durch die Umsetzung einzelner KI-Pilotprojekte, die
Basis für industrialisierte KI im Unternehmen gelegt werden.
Auch muss dem Unternehmen bewusst sein, dass KI nicht jedes Problem löst. Un­
realistische Erwartungen gilt es unbedingt zu vermeiden.
526 S. Köppl

KI benötigt eine hohe Rechenleistung, große Datenmengen und intelligente Algorith­


men. Man kann davon ausgehen, dass sich die Rechenleistung in 1.5 Jahren, die Effizient
der Algorithmen in 11 Monaten und die zur Verfügung stehende Datenmenge innerhalb
von 2 Jahren verdoppeln wird. Somit wird KI sowohl unternehmerisch, politisch und auch
gesellschaftlich sicherlich noch in ganz andere Dimensionen vorstoßen.

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19  Technologiebasierte Konzepte der digitalen Wertschöpfung unter besonderer … 527

Dr. Sonja Köppl  ist seit 2019 Professorin für Betriebswirtschaft


mit  dem Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik an der Hochschule
­Neu-Ulm. Sie hält Lehrveranstaltungen in IT-­Grundlagen, Datenver­
arbeitung, Informationsinfrastruktur, Informationssicherheit, Infor­
mationssysteme und Big Data. Sie ist Internationalisierungsbeauf­
tragte und stellvertretende Frauenbeauftragte der Fakultät.
Ihr persönlicher Schwerpunkt liegt in der Automatisierung und
Digitalisierung von Geschäftsprozessen. Dies beinhaltet das Sam­
meln und Auswerten von großen Datenmengen durch Künstliche In­
telligenz und Maschinelles Lernen.
Vor ihrem Wechsel an die Hochschule Neu-Ulm war sie als
Projektleiterin und Data Scientistin tätig. Hier waren ihre Aufgaben
die Koordination und Mitarbeit an Industrie 4.0 Projekten, welche
die Digitalisierung, Qualitätssicherung und Effizienzsteigerung eines
hochautomatisierten Fertigungsprozesses zum Ziel hatten. Sie er­
reichte diese Ziele unter anderem durch die Reduzierung des Prüfauf­
wandes durch Smart Adaptive Testing und Steigerung der Anlagen­
effektivität anhand maschineller Lernmethoden. Die Grundlage dafür
legte sie in ihrer Industriepromotion und während ihrer jahrelangen
Erfahrung als Softwareentwicklerin.
Reporting im Zeitalter der Digitalisierung
Ein Ansatz zur Effizienzsteigerung im Reporting durch Self
20
Services

Martin Stirzel und Selcuk Yaldiran

Zusammenfassung

Unternehmen durchlaufen aktuell einen Wandel. Startups sind häufig Träger der Digi-
talisierung, doch auch in etablierten Unternehmen werden Prozesse und Methoden
hinterfragt und im Rahmen einer Optimierung kommen neue Ideen und digitale Tools
zum Einsatz. Dabei ersetzen Self Service-Lösungen immer mehr die bisher aufwändig
aufbereiteten und bereitgestellten Informationen. Dies hat auch in die Welt des Control-
lings Einzug gefunden. Der Beitrag beschreibt daher, wie Reporting unter der Nutzung
moderner Möglichkeiten der Digitalisierung neue Formen annehmen kann. Im Zen­
trum steht das Paradigma eines nachfrageorientierten Ansatzes für Nutzer im Rahmen
von Self Services zur Effizienzsteigerung im Reporting.
Neben Verhaltensänderungen sind durchaus auch weiterhin die klassischen system-
bildenden und systemkoppelnden Aufgaben des Controllings in einem Informations-
versorgungssystem erforderlich, allerdings in einer etwas modifizierten Form. Der hier
vorliegende Beitrag befasst sich mit einem Self Service-Ansatz im Kontext von Ent-
wicklungsdienstleistungen in der Automobilindustrie und zeigt praxistaugliche Lö-
sungen auf.

M. Stirzel (*)
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: martin.stirzel@hnu.de
S. Yaldiran
Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Geislingen, Geislingen, Deutschland
E-Mail: yaldirans@stud.hfwu.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 529


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_20
530 M. Stirzel und S. Yaldiran

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Reporting · Self Services · F&E-Controlling · Projektcontrolling ·


Selbststeuerung · Erprobungsmanagement

20.1 Einleitung und Erkenntnisinteresse

Derzeit sehen nahezu alle Unternehmen den Bedarf, sich mittels Digitalisierung zu
verändern.
Neben der technischen Seite gehen organisatorische Veränderungen einher. Im vor-
liegenden Fall findet ein Paradigmenwechsel in Richtung Self Services statt, wodurch
Mitarbeiter an höheren Freiheitsgraden und Flexibilität gewinnen. Dies folgt dem Trend,
dass Self Service-Reporting an Bedeutung gewinnt (vgl. Horváth et al., 2020, S. 190).
Um die notwendige Basis für Self Services zu schaffen, bedarf es einer informations-
technischen Unterstützung. Folglich befasst sich dieser Beitrag ebenso mit der infor­
mationstechnologischen Perspektive und einem für das Fallbeispiel geschaffenen System.
Zur übersichtlichen Gestaltung sowie anwenderspezifischen Visualisierung von Daten
hat sich der Einsatz von Business Intelligence (BI)-Software etabliert. Diese ermöglicht
den Nutzern nicht nur die Verknüpfung und Visualisierung der Daten, sondern darüber hi­
naus auch die Durchführung von Berechnungen. Geschäftsbereiche, für welche diese Be-
rechnungen relevant sein können, sind dabei zahlreich. Der Einsatz von BI-­Visualisierungen
ist längst nicht mehr nur für das Management interessant. Mit Hilfe der Datenanalyse
und -Visualisierung können Führungskräfte und auch Mitarbeiter dabei gezielt unterstützt
werden, Trends zu erkennen und somit schneller auf Veränderungen am Markt zu reagieren.
Auch für die Kommunikation der Fachbereiche untereinander oder aber für die Kommuni-
kation innerhalb eines Teams können diese Berechnungen interessant sein. Es stellt sich
daher die Frage: „Wie können Self Service-Reportingsysteme zur Effizienzsteigerung im
betrieblichen Controlling und Informationsmanagement beitragen?“

20.2 Zielsetzung und eingesetzte Methoden

Dieser Beitrag vergleicht anhand eines realen Beispiels bestehende mit neuen, Self
Service-­basierten Prozessen im Reporting. Das Erkenntnisinteresse unserer Forschung
liegt darin, Unterschiede und deren Implikationen zu identifizieren und die Generalisier-
barkeit und Übertragbarkeit als Best Practices zu beurteilen.
Dabei stützt sich die vorliegende Analyse auf

1. den formalen Rahmen von Controllingsystemen, insbesondere der Informations-



versorgung,
2. eine Bedarfsorientierung hinsichtlich der benötigten Informationen,
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 531

3. eine IT-technische Bereitstellung von Informationen im Rahmen von „Self Ser-



vices“ sowie
4. die damit einhergehenden organisatorischen und verhaltensbezogenen Veränderungen.

Die Erkenntnisse werden generiert durch eine Reihe von methodengestützten Schritten.
Der formale Bezugsrahmen stützt sich auf eine Literaturanalyse. Für die Exploration
des Kontextes wurden Experteninterviews durchgeführt. Sodann wurde eine Prozessauf-
nahme und -analyse durchgeführt. Es folgte die systembildende Konzeptentwicklung, bei
der sowohl eine funktionale, instrumentale als auch eine institutionale Betrachtung er-
folgte. Gestützt wurde die Konzeptentwicklung auf IT-Methoden wie UML-Diagramme
und Funktionalspezifikation, außerdem wurde der ETL-Prozess herangezogen.

20.3 Bezugsrahmen

Es handelt sich hierbei um die Implementierung von Teilen des Controllingsystems.


Hierfür wird zunächst der Bezugsrahmen geschaffen.

„Controlling ist – funktional gesehen – dasjenige Subsystem der Führung, das Planung und
Kontrolle sowie Informationsversorgung systembildend und systemkoppelnd zielorientiert
koordiniert und so die Adaption und Koordination des Gesamtsystems unterstützt.“ (Horváth
et al., 2020, S. 62)

Im vorliegenden Fall geht es schwerpunktmäßig um Teile des Informationsversorgungs-


systems (vgl. Horváth et  al., 2020, S.  60), wenn auch bestimmte Informationen in
Planungsaufgaben münden; man geht davon aus, dass die Informationsversorgung eine
Vorstufe einer Planung und Steuerung sein kann (vgl. Horváth et al., 2020, S. 190).
Ein Informationsversorgungssystem oder Teile davon haben zum Ziel, den Informations-
stand im Unternehmen zu verbessern (vgl. Horváth et  al., 2020, S.  190). Führungs-
informationen sollten verdichtet, verknüpft/vernetzt und relevant sein (vgl. Horváth et al.,
2020, S. 192). In letzter Zeit ist ein Trend zu Self Service-Reporting durch das Manage-
ment zu verzeichnen (vgl. Horváth et al., 2020, S. 190). Dieses zeichnet sich durch eine
hohe Geschwindigkeit und Selektivität sowie Effizienz aus, jedoch ist auf der anderen
Seite aufgrund der Vielfalt potenzieller Reports eine Anreicherung mit Kontext und infor-
malen Begleitinformationen kaum möglich. Daher konstatieren Horváth et  al. (2020,
S. 193) „Empfängerorientierung wird dadurch verbessert, allerdings fehlen auch die zu-
sätzlichen Leistungen der Controller, wie z. B. Kommentierungen der Informationen“.
Um ein solches System als systembildende Aufgabe aufzubauen, ist zunächst eine
Systemanalyse durchzuführen (vgl. Horváth et al., 2020, S. 51).
Informationen im Rahmen eines Reporting verfolgen diverse Funktionen (letztlich im
Rahmen des gesamten Planungs-/Kontroll- sowie Informationsversorgungs-Systems). Sie
tragen unter anderem zur reinen Informationsfunktion, zur Steuerungs-, Gestaltungs- und
532 M. Stirzel und S. Yaldiran

Prognosefunktion, aber nicht zuletzt auch zur Innovationsfunktion (wenn durch neue Ein-
blicke und Sichtweisen neue Ansätze entstehen) und Zielerreichungsfunktion bei (vgl. zu
den Funktionen auch Töpfer, 1976, S. 97). BI kann durch bereitgestellte Informationen die
Kommunikation von Teams untereinander unterstützen, um auf Probleme oder aber ge-
leistete Arbeit aufmerksam zu machen.
Um diese Funktionen zu erfüllen, sind aber zunächst entsprechende Systeme zu schaf-
fen: die Schaffung bzw. die Modifikation des Reporting ist als systembildend zu betrachten
(vgl. zu systembildender und systemkoppelnder Koordination Horváth et al., 2020, S. 49).
Ausgehend von strukturellen Rahmenbedingungen in der Organisation können funktio-
nale Anforderungen ermittelt werden. Hierfür können dann Methoden und Instrumente
entwickelt werden. Die Anwendung dieser kann ablauforganisatorisch noch eingebettet
werden in Prozesse.
In der Vorgehensweise steht nach der Klärung des organisationalen Kontext eine
Informationsbedarfsanalyse, bei der Art und Menge der benötigten Informationen für
die Self Services geklärt werden. Diese kann anhand von häufig genutzten Informationen
(in Berichten, Dokumenten, Systemen, …), Interviews mit Experten oder durch deduktive
Ableitung aus Unternehmenszielen durchgeführt werden.
Im nächsten Schritt steht die Informationsbeschaffung im Vordergrund. Sodann folgen
Informationsaufbereitung, Informationsspeicherung und Informationsabgabe (vgl. Hor-
váth et  al., 2020, S.  196). Zentrale Instrumente hierfür sind IT-Systeme (vgl. Horváth
et al., 2020, S. 195). Nachfolgend soll daher noch die Einbettung in einen Business Intel-
ligence(BI)-Bezugsrahmen erfolgen.
Nach Chamoni und Gluchowski dient BI grundsätzlich „[…] zur Kennzeichnung von
Systemen […], die auf der Basis interner Leistungs- und Abrechnungsdaten sowie ex-
terner Marktdaten in der Lage sind, das Management in seiner planenden, steuernden und
koordinierenden Tätigkeit zu unterstützen“ (Chamoni & Gluchowski, 2004, S. 119–128).
Betrachtet man die BI im Hinblick auf ein „analyseorientiertes Verständnis“, so ist fest-
zustellen, dass hier der Schwerpunkt auf dem Prozess der Datenauswertung liegt. In die-
sem Zusammenhang werden Anwendungen mit Schwerpunkt auf Datenbereitstellung wie
das Data Warehouse, der ETL-Prozess oder das Standard-Reporting nicht berücksichtigt.
Durch weitere Abstrahierungen ist die Sicht auf ein „enges BI-Verständnis“ möglich.
Hierzu zählen lediglich Anwendungen, welche eine direkte Unterstützung des Ent-
scheidungsfindungsprozesses bieten (vgl. Kemper et al., 2010, S. 3). Insbesondere das On-
line Analytical Processing (OLAP) und die Management Information Systems (MIS) bzw.
Executive Information Systems (EIS) im engeren Sinne werden an dieser Stelle als BI
definiert.
Es soll nun ein näherer Blick auf die Instrumente  – hier im Wesentlichen die IT-­
Systeme – geworfen werden. Zunächst einmal werden Datenspeicher eingesetzt, die teil-
weise in Legacy-Systemen bestehen können, meist aber aufgrund der neuen Anwendungen/
Funktionen ergänzt werden.
Bei der Datenverarbeitung kommt der Generierung und der (Zwischen-)Speicherung
eine wesentliche Rolle zu. Als Datenspeicher werden sogenannte Data Warehouses ein-
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 533

gesetzt, welche parallel zu den operationalen Systemen für gesonderte Zwecke betrieben
werden. Ein Data Warehouse beschreibt eine Datenbasis zur zentralen Verwaltung, Struk-
turierung und Speicherung unterschiedlichster Daten eines Unternehmens zur Unter-
stützung der Datenanalyse. Grundsätzlich ist ein Data Warehouse als Datenbank definiert,
die hauptsächlich der Speicherung von historischen Daten dient. Aktuelle Datensätze,
welche dem operativen Tagesgeschäft dienen, werden in der Regel in einer separaten
Datenbank verwaltet.
Mit Hilfe des Data Warehouse soll trotz dieser Entkopplung der schnelle Zugriff auf
möglichst aktuelle, operativ verwendete Daten gewährleistet werden, ohne dabei die ope-
rationalen Systeme einzuschränken. Weitere interne oder externe Datenquellen können
zusätzlich der Ergänzung dienen. In bestimmten Zyklen werden neue Datensätze von der
operationalen Ebene in das Data Warehouse übertragen, wobei sich die Aktualität aus den
Abständen zwischen den Update-Zyklen ergibt. „Die Gesamtheit aller Prozesse zur Daten-
beschaffung, Verwaltung, Sicherung und Bereitstellung der Daten nennt sich Data Ware-
housing.“ (Luber & Litzel, 2017, o.S.).
Sofern regelmäßig (und ggf. immer wieder) benötigte Daten umfangreiche, lang an-
dauernde Abfragen aus dem Data Warehouse erfordern, lassen sich ebenso in Zyklen
Datenzusammenstellungen bereits vor dem Bedarf des Nutzers oder von Nutzergruppen
erstellen; diese fertigen Zusammenstellungen nennen sich Data Marts. Damit wird die
eigentliche Datenbank entlastet, und die Nutzer erhalten die Daten viel schneller als durch
erneute Abfragen. Der Performancegewinn ist dabei von höherer Bedeutung als die zu-
sätzliche Belegung von Speicherplatz mit teilweise redundanten Daten in Form von Marts.
Die Gewinnung von Daten aus anderen Systemen und die Befüllung solcher Warehou-
ses erfolgt anhand der Schritte eines ETL-Prozesses. ETL steht für Extraktion, Trans-
formation, Laden und beschreibt „[…] mehrere Einzelschritte, durch die sich Daten aus
verschiedenen Datenquellen per Extrahieren und Aufbereiten in ein Data Warehouse inte-
grieren lassen.“ (Luber & Litzel, 2018, o.S.). Auch kann der ETL-Prozess zur Befüllung
einer Datenbank  – welche als kleines Data Warehouse betrachtet werden kann  – an-
gewendet werden. ETL-Lösungen bieten dem Anwender einen strukturierten Datenver-
arbeitungsprozess, welches dabei unterstützt Datenbestände aus verschiedenen hetero-
genen Landschaften in einer Datenbank zusammen zu führen. Dies wird mit Hilfe der drei
Phasen des ETL-Prozesses erreicht.

Extraktion
In der Extrahierungsphase liegt der Schwerpunkt bei der Extraktion wichtiger Daten aus
unterschiedlichen Datenbeständen. In der Regel ist diese Phase auch für die Bereitstellung
der Daten für die Transformationsphase verantwortlich. Um eine kontinuierliche Be-
füllung des Data Warehouse zu gewährleisten, findet dieser Prozessschritt regelmäßig statt
(vgl. Luber & Litzel, 2018, o.S.). Dabei ist es unwesentlich, ob eine Extraktion ganzer
oder bestimmter Teilbereiche aus Datenquellen erfolgt. Mögliche Datenquellen sind bei-
spielsweise Excel-Dateien oder Daten aus anderen Anwendungen.
534 M. Stirzel und S. Yaldiran

Transformation
In der Transformationsphase werden die zuvor extrahierten Daten in einen durch das Data
Warehouse geforderten Zustand versetzt. Dies ist insofern notwendig, da die extrahierten
Daten aus verschiedenartigen Datenquellen stammen und eine unterschiedliche Daten-
qualität und -struktur aufweisen können. Der Transformationsprozess kann in die drei
Teilschritte Bereinigung, Harmonisierung und Zuordnung unterteilt werden. So können
beispielsweise verschiedene Informationen zu ein und demselben Produkt in unterschied-
lichen Datenquellen hinterlegt sein, welche vor dem Laden in das Data Warehouse über
Schlüssel miteinander verknüpft werden müssen, um eine redundanzfreie und konsistente
Datenbasis zu bieten. Zudem können zusätzliche Kennzahlen wie Key Performance Indi-
cators (KPI) zu den vorliegenden Daten festgelegt und über Formeln berechnet werden.

Laden
Das Laden der Daten in ein Data Warehouse stellt den letzten Schritt des ETL-Prozesses
dar. In diesem Prozessschritt werden die zuvor transformierten und gegebenenfalls ver-
knüpften Daten im Data Warehouse abgelegt. Dieser Prozessschritt vollendet den Daten-
bereitstellungsprozess.

Durch die zuvor in das Data Warehouse geladenen Daten kann der Auswertprozess in
der BI-Endanwendung, wie z.  B.  OLAP-Anwendungen oder BI-Software (MS Power
BI, Tableau) stattfinden. Bei der Auswertung durch einen Nutzer wird über Online Analy-
tical Processing (OLAP) mittels spezieller Abfragesprachen auf ein Data Warehouse (bzw.
hier schlicht eine Datenbank) zugegriffen. Vollständige OLAP-Softwarelösungen dienen
der mehrdimensionalen Betrachtung verschiedener Fakten. Ziel von OLAP-­Anwendungen
ist es, mit Hilfe dieser mehrdimensionalen Betrachtungsweise eine zeitlich effiziente
sowie dynamisch flexible Datenanalyse zu ermöglichen. Neben vorgefertigten Datenaus-
gaben (Data Marts / Standard- und Ad hoc-Berichten) kann auch Data Mining stattfinden,
um weitergehende Analysen zu betreiben. Spätestens, wenn daraus auch eine Prognostik
abgeleitet werden soll, werden Data Mining-Verfahren angewendet.
Bei dem hier vorliegenden Fall handelt es sich um Reporting von Entwicklungs- und
Testdaten, mit deren Hilfe u. a. der Reifegrad im Entwicklungsprozess bestimmt werden
kann. Der Entwicklungsprozess besitzt diverse Spezifikationen wie Aktualitätsgrad und
Ungewissheit/Unsicherheit; es kommen daher spezielle hierfür geeignete Instrumente/
Kennzahlen für Reporting und Steuerung zur Anwendung. Tendenziell besteht eine stär-
kere Portfolio-, Planfortschritts- und Prozessorientierung bei Projekten in der Entwicklung.
Die Steuerung erfolgt dabei mehrdimensional hinsichtlich Zeit, Kosten und Qualität (vgl.
Möller & Stirzel, 2008, S. 243). Daher sind die Instrumente und Methoden auch anders
orientiert als bspw. für Operations/Produktion (vgl. zu Entwicklungs- und Anlaufspezi-
fischen Instrumenten Möller & Stirzel, 2008, S. 250 ff. und Stirzel, 2010, S. 91 ff., außer-
dem zu IT-Unterstützung in der Entwicklung Borchert & Stirzel, 2009, S. 10 ff.).
Um den Erfolg zu messen, unterstellt man, dass sowohl der funktionale Aspekt aus
dem Controlling als auch der instrumentale, IT-bezogene eine Wirkung auf den Erfolg be-
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 535

sitzen. Zunächst entsteht nur ein systembezogener Erfolg innerhalb des Controllings,
mittelbar treten auch weitere Erfolge (bspw. im Prozess bei den Anwendern) auf, und zu-
letzt kann auch ein Beitrag zum Unternehmenserfolg entstehen. Die Messung des Erfolgs
aus dem Controlling heraus basiert also auf der Hypothese, dass der Erfolg indirekt und
hintereinander in einer Wirkungskette entsteht (vgl. auch Weber & Schäffer, 2016,
S. 542 f.). Eine Abbildung der Gesamtkette würde im Rahmen einer Evaluation an dieser
Stelle zu weit führen, daher wird in der Evaluation (Abschn. 20.6) die Wirkung auf die
Prozesse der Anwender ins Zentrum gerückt.

20.4 Unternehmensspezifische Anforderungserhebung

In diesem Abschnitt werden das beispielhafte Szenario in einem mittelständischen Unter-


nehmen vorgestellt und die Anforderungen an das neue System erhoben.

20.4.1 Unternehmensszenario

Das Unternehmen der hier vorliegenden Fallstudie ist als Ingenieurdienstleister für die
Telekommunikations-, Luftfahrt-, Automobil- und Energieindustrie tätig. Zeitgleich wer-
den ständig zahlreiche große IT- und Engineering-Projekte durchgeführt.
Besonders in der Entwicklungsphase sind ein hoher Grad an Agilität und regelmäßige
Abstimmungen mit Kunden und Lieferanten sehr wichtig. Um die Kommunikation mit
dem Kunden und innerhalb des eigenen Teams zu unterstützen, können übersichtliche und
informative Visualisierungen eingesetzt werden.
Im konkreten Fall geht es hier um die Auswertung einer großen Anzahl von Testergeb-
nissen aus dem Engineering. Es handelt sich um embedded systems, bei denen das Zu-
sammenspiel von Hardware und Software in Testdurchläufen verifiziert werden muss.
Das Ergebnis eines Testdurchlaufes kann dabei positiv, negativ, undefiniert oder ir-
relevant sein. Die Test-Ergebnisse werden für jede Software-Version in einem Excel-­
Dokument erfasst. Negative Test-Ergebnisse haben einen Eintrag im kundeneigenen
Ticket-Portal zur Folge.
Durch die begrenzte Entwicklungszeit neuer technologischer Systeme und die in die-
sem Bereich notwendige Flexibilität fällt in kurzen Zeiträumen bereits eine große Menge
an Daten an, die überblickt werden und zur Steuerung den entsprechenden Stakeholdern
zur Verfügung gestellt werden muss. Der Fokus liegt dabei auf sachzielorientierten Infor-
mationen aus dem Engineering.
Ziel des hier vorgestellten Projekts war die Erarbeitung einer strukturierten Datenbasis
und die Erstellung eines Visualisierungsansatzes für historische Verläufe der Test-­
Ergebnisse, der Tickets sowie der Test-Ergebnisse.
Abb. 20.1 beschreibt das Szenario.
536 M. Stirzel und S. Yaldiran

Test-Ergebnisse Test-Ergebnisse
Software V1
Test-Ergebnisse Ticket-Portal
Software V2
Ticket-ID | Testfall-ID | Status
Test-Ergebnisse Ticket-Nr. 100 |Fall 014 | offen
Software V3
positiv negativ
undefiniert irrelevant
Fall 012 | positiv
Fall 013 | positiv
Fall 014 | undefiniert
Fall 015 | negativ
Fall 016 | positiv

Historischer Verlauf – Test-Ergebnisse


25
20
15
10
5
0
Januar Februar März April

positiv negativ irrelevant undefiniert

Abb. 20.1  Szenario im Unternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)

20.4.2 Funktionale und nicht-funktionale Anforderungen

Zunächst sollen an dieser Stelle die funktionalen Anforderungen, beginnend mit den An-
wendungsfällen, beschrieben werden.

UML zur Beschreibung der Anwendungsfälle


Die Unified Modeling Language ist eine Modellierungssprache, welche der Anforderungs-
beschreibung für Organisationssysteme und Softwaresysteme dient (vgl. Lämmel, 2007;
Thomsen, 2002). Durch die Nutzung unterschiedlicher Diagrammarten ist UML eine visuelle
Modellierungssprache. Mit Hilfe einer visuellen Darstellung soll die abstrakte Betrachtung
komplexer Software-Programme ermöglicht werden, was zu einer mitunter verbesserten Ver-
ständlichkeit führen soll. Zu den Aufgaben der UML gehören die „[…] Spezifikation, Visua-
lisierung und Dokumentation von Modellen für Softwaresysteme.“ (Pichler, 2003, S. 1).

Informationsbedarfsanalyse
Für die genannten Anwendungsfälle werden bestimmte Informationen benötigt. Im Fol-
genden wird daher beschrieben, wie der Informationsbedarf erhoben wurde.

Methodisch wurde hier auf Experteninterviews zurückgegriffen. Um eine umfassende


Sicht auf die Informationsbedarfe zu erhalten, wurden Stakeholder in unterschiedlichen
Rollen befragt.
Aufgrund unterschiedlicher Funktionen der einzelnen Team-Mitglieder sahen diese
unterschiedliche Informationen als für sie relevant an. Zunächst wurden die Informationen
gesammelt, welche zunächst für alle Team-Mitglieder relevant sind. Dies ist von Be-
deutung, da bei der Schaffung der Datenbasis diese Informationen als Pflichtfelder de-
klariert wurden. So kann bspw. die Darstellung eines Ticketverlaufes ohne Angabe des
Pflichtfelds Datum nicht erfolgen.
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 537

Visualisierungsanforderungen
Ziel der Datenvisualisierung ist, dem betroffenen Bereich eine Übersicht über den Status
eines Tickets und die Test-Ergebnisse eines Test-Cases über verschiedene Software-­
Versionen hinweg zu schaffen. Darüber hinaus soll die Visualisierung eine unterstützende
Grundlage für Handlungsentscheidungen bilden.

Folgende Visualisierungen werden hierzu benötigt:

• Statusvisualisierung über alle Testfälle


• Historienvisualisierung über einen einzelnen Testfall
• Historienvisualisierung der Ticketverarbeitung

Aus der Visualisierung des Test-Reports sollte eine direkt abrufbare Statistik über Test-­
Ergebnisse einer gewählten Software-Version ersichtlich werden. Auch wird eine Statistik
über den historischen Verlauf aller Software-Versionen benötigt. Aus der Visualisierung
der Tickets sollte ebenfalls ein historischer Verlauf hervorgehen. Hierbei ist es interessant
zu wissen, zu welchem Zeitpunkt sich der Status eines Tickets geändert hat und wie lange
bzw. seit wann es bereits angelegt ist. Hierbei sollte ersichtlich sein, wann ein Ticket erst-
mals angelegt wurde und zu welchem Zeitpunkt sich der Status geändert hat. Die zeitliche
Differenz zwischen den Statusänderungen gibt dem Nutzer der Visualisierungen Auf-
schluss über die Liegezeit eines Tickets.

Technische Anforderungen
Aufgrund des vorrangigen Ziels der Umsetzung einer zeitnahen, projektspezifischen Visu-
alisierung als Handlungsgrundlage bei zugleich einfacher und schneller Umsetzung fiel
die Entscheidung auf die Wahl einer Datenbanklösung. Das Aufsetzen eines Data Ware-
house hätte an dieser Stelle die zeitnahe Fertigstellung der Lösung gefährdet.

Durch die Wahl eines teamspezifischen Laufwerkes zur Speicherung der Datenbank
wurden die Zugriffsrechte geregelt. Somit haben lediglich die Nutzer des jeweiligen
Teams Zugriff auf die in den Datenbanken enthaltenen Informationen.
Ferner wird festgelegt, dass die Reihenfolge der Spaltennamen der Excel-Exporte sich
über Versionen hinweg nicht ändern darf. Die Excel-Dateien müssen so konfiguriert sein,
dass nur ein Arbeitsblatt existiert und alle zu übertragenden Informationen sich darauf be-
finden. Spaltennamen dürfen nur in der ersten Zeile festgelegt werden. Ein Hinzukommen
neuer Spalten dagegen ist möglich und die Berücksichtigung und Aufnahme dieser neuen
Spalten in die Datenbank sollte durch die Software gewährleistet werden.

Sonstige nicht-funktionale Anforderungen


Generell ist davon auszugehen, dass die beteiligten Akteure einen Ingenieurs- oder
Informatik-­Hintergrund besitzen. Beim Aufbau der Sichten ist dies zu berücksichtigen, da
die Nutzer sich bestmöglich zurechtfinden sollen.
538 M. Stirzel und S. Yaldiran

20.5 Implementierung

20.5.1 IT-Implementierung

Aus den Rahmenbedingungen folgt die grundsätzliche Setzung, mit einem datenbank-
basierten Ansatz zu arbeiten. Die nähere Detaillierung und Implementierung soll hier be-
schrieben werden.

20.5.1.1 Auswahl einer geeigneten Datenbank-/BI-Plattform


Zur Erstellung einer skalierbar einsatzfähigen Software ist die Festsetzung bestimmter
Spezifikationen notwendig. Durch die vielfältigen Möglichkeiten des handlungsunter-
stützenden Reportings, welches BI-Software gegenüber vergleichsweise einfacheren Ex-
cel-Kalkulationen und Diagrammen bietet, eignet sich der Einsatz von BI-Software be-
sonders. Um eine nachhaltige Speicherung sowie Strukturierung der Daten zu ermöglichen,
hat sich das Team – für welches die BI Visualisierung erstellt wurde – dazu entschieden,
die Excel-Exporte mit Hilfe einer Datenbank zu verwalten. So müssen die für eine Visua-
lisierung der Tickets sowie der Test-Ergebnisse aus Test-Reports benötigten Daten in eine
Datenbank übertragen werden. Aus diesem Grund war es Teil der Aufgabe, eine anwender-
spezifische Software zur datenbankbasierten Datenverarbeitung zu schreiben. Nach-
folgend werden die Anforderungen an die Software und die BI Software sowie der Aufbau
und die Struktur der Datenbank erläutert.
Bei der Auswahl der Software sollten Aspekte wie Lizenzkosten und die Verwendung
von unternehmensweit genutzten Lösungen berücksichtigt werden. Nachfolgend werden
die Anforderungen an die Software und die BI Software sowie der Aufbau und die Struktur
der Datenbank erläutert.
Hauptaufgabe der Software ist es, Informationen wiederholt aus einer Excel-Datei aus-
zulesen und diese in strukturierter Form in die separat aufgesetzte Datenbank zu übertragen.

DBMS
Um eine zentrale Speicherung und Verwaltung der Daten zu ermöglichen, werden Daten-
bankmanagementsysteme (DBMS) eingesetzt. Das DBMS gewährleistet die Datensicher-
heit und den Datenschutz und kontrolliert alle Lese- und Schreibzugriffe auf die Daten-
bank. Durch die Ablage der Datenbank auf ein Team-Laufwerk wird der Nutzerkreis
eingeschränkt und gegen den Zugriff unbefugter gesichert. Zudem ist eine weitere Be-
schränkung des Zugriffs auf einen bestimmten Nutzerkreis innerhalb des Teams, durch die
Verschlüsselung der Datenbank mittels eines Kennworts möglich. Im konkreten Fall
­beschränkt sich der Nutzerkreis auf ein bestimmtes Team, weshalb eine weitere Ein-
schränkung nicht notwendig ist.

Die Kommunikation zwischen dem Nutzer und der Datenbank bzw. des Datenbank-
managementsystems (DBMS) wird mittels Datenbanksprachen ermöglicht. Ein Vorteil
von SQL ist die deskriptive Beschaffenheit und somit einfache Verständlichkeit der
Sprache.
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 539

Auswahl einer Programmiersprache für den ETL-Prozess


Für den ETL-Prozess musste zunächst eine geeignete Programmiersprache ausgewählt
werden. In die engere Wahl kamen dabei Python und Java. Die Auswahl von Java erfolgte
aufgrund der kostenfrei verfügbaren Lizenz und der weiten Verbreitung dieser
Programmiersprache innerhalb des Unternehmens. Dadurch können Änderungen und
Wartungsarbeiten schneller durchgeführt werden, da ein größerer Personenkreis über die
erforderlichen Kenntnisse verfügt.

Auswahl der BI-Plattform zur Ausgabe


Die Vorauswahl der BI-Software-Lösungen beschränkte sich auf zwei der Marktführer in
diesem Bereich: Tableau und Microsoft (MS) Power BI. Tab. 20.1 stellt Vor- und Nachteile
der Lösungen gegenüber.

Bei der Auswahl der BI-Plattform fiel letztlich die Wahl auf MS Power BI. Die kosten-
freie Desktop-Version sowie der unternehmensweite Einsatz der Software waren die
Hauptargumente bei der Auswahl.

Aufbau und Struktur der Datenbank


Die Datenbank wurde auf einem Teamlaufwerk eingerichtet, da hier bereits alle Be-
rechtigungsstrukturen abgebildet waren. In Abb. 20.2 werden die Details zur Struktur der
Datenbank näher beschrieben.

Das in der Abb. 20.3 sichtbare Feld „ID“ stellt den Primärschlüssel und somit einen
eindeutigen Wert dar. Der Datentyp AutoWert sorgt für einen „eindeutige[n] Wert, der von
Access für jeden neuen Datensatz erstellt wird.“ (Microsoft, 2020, o.S.). Dem Feld
­„ExportDatum“ wird der Datentyp Datum/Uhrzeit zugewiesen, um im Hinblick auf die
Darstellung einer Historie mittels BI-Software Zeitstempel zur Verfügung zu stellen. Für
sämtliche „IDs“ sowie den „Status“ wird der Datentyp „Kurzer Text“ mit einer Kapazität
von bis zu 255 Zeichen gesetzt. Für alle weiteren Spalten wird der Datentyp „Langer Text“
angewandt, mit einer Speichergröße von bis zu einem Gigabyte (GB). Bei weiteren Spal-

Tab. 20.1  Gegenüberstellung von BI-Lösungen


BI-­
Software Vorteile Nachteile
Tableau + Darstellung einer unbeschränkten Anzahl - Keine kostenfrei nutzbare Version
von Datenpunkten verfügbar
+ Zusätzliche Funktionen in Hinsicht auf - Höhere Lizenzkosten im Vergleich
Datenanalyse im Vergleich zu Power BI zu Power BI
MS Power +Desktop-Version kostenlos - Reports in kostenloser Version nicht
BI +Marketplace bietet zusätzliche mit anderen Anwendern teilbar
Visualisierungen - Beschränkte Anzahl von
+ Einfacher Aufbau durch Orientierung am Datenpunkten pro Visualisierung
Office-Layout
+ Im Unternehmen bereits etabliert
540 M. Stirzel und S. Yaldiran

Abb. 20.2  Datenbankstruktur. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 20.3  Pflichtspalten. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 20.4  Historische Daten. (Quelle: Eigene Darstellung)

ten, welche zu einem späteren Zeitpunkt den Excel-Dateien hinzukommen könnten, wird
ebenfalls der Datentyp „Langer Text“ angewandt. Die im Vergleich zum Datentyp „Kurzer
Text“ gebotene hohe Speicherkapazität, bietet den Vorteil den unterschiedlichen An-
sprüchen möglicher neuer Spalten gerecht zu werden.
In Abb. 20.4 ist der Datentyp der Spalte „ID“ wie auch in der Tabelle latestData als Auto-
Wert sowie als Primärschlüssel festgesetzt. Allen weiteren Spalten in dieser Tabelle wird
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 541

der Datentyp „Kurzer Text“ zugewiesen, da dieses ausreichend Speicher-Kapazität, für die
hierin zu hinterlegenden Daten bietet, sowie die Möglichkeit alphanumerische Daten zu
hinterlegen. Darüber hinaus wird die Spalte „SpaltenNameDB“ benötigt, in der die Namen
der Spalten durch den Entwickler hinterlegt werden, welche für die Visualisierungen not-
wendig sind. Die in dieser Spalte hinterlegten Spalten-Namen werden im Laufe des
Programm-Ablaufes an eine Schnittstelle mit grafischer Benutzeroberfläche übergeben.
Ferner werden in der Spalte „ExcelSpaltenName“ die von der Schnittstelle übergebenen
Namen der zuvor festgelegten Pflicht-Spalten hinterlegt. In der Spalte „ExcelIndex“ werden
die durch die Datenverarbeitungssoftware ermittelten Indizes in Form von Zahlen hinterlegt.
Die Abb. 20.4 stellt die für die Darstellung der Historie notwendigen Felder dar. Im
Gegensatz zur Tabelle „latestData“ beinhaltet die Tabelle „historicData“ zusätzlich das
Feld „AnderungsDatum“, in welcher das Datum der letzten Änderung an einem Ticket
festgehalten wird. Auch hier wird analog zur Spalte „ExportDatum“ der Datentyp Datum/
Uhrzeit gewählt, um diese später als solche in einer BI-Visualisierung berücksichtigen zu
können und Markierungen in Zeitachsen zu ermöglichen.

Umsetzung der technischen Vorgänge  Im ersten Schritt ist eine Bestandsaufnahme


notwendig, in der festgehalten wird, welche Daten und Informationen vorgegeben wer-
den und welche davon selbstständig zu generieren sind. Außerdem ist es wichtig, vor-
gegebene Schnittstellen zu berücksichtigen, da das Projekt um eine GUI erweitert wer-
den sollte. Schnittstellen dienen der Kommunikation verschiedener Komponenten einer
Software. Ohne eine vorherige Definition der Schnittstellen ist die weitere Planung der
Software nicht möglich. Daher sollen an dieser Stelle zunächst die Schnittstellen be-
trachtet werden.

Laut Johner verfügt Software über drei verschiedene Software-Schnittstellentypen:


Benutzer-­ System-Schnittstellen, System-System-Schnittstellen und Schnittstellen zur
Laufzeitumgebung (vgl. Johner, 2018, o.S.). Während eine Benutzer-System-Schnittstelle
der Kommunikation zwischen dem Benutzer und dem Software-System dient, stellt die
System-System-Schnittstelle eine Kommunikation zwischen zwei verschiedenen Syste-
men her. Die Schnittstelle zu einer Laufzeitumgebung ermöglicht die Lauffähigkeit des
Software-Systems auf unterschiedlichen Umgebungen.
Das hier zu entwickelnde Datenverarbeitungsprogramm verfügt über drei Schnitt-
stellen, eine zur GUI, eine zur Datenbank und eine zum Java-Runtime-Environment. Die
erste der Schnittstellen stellt eine Benutzer-System-Schnittstelle dar, die der Vorgabe des
Quellordners für die Excel-Dateien, des Zielordners der Datenbank und der Übergabe der
­Namen der Pflicht-Spalten sowie des Export-Datums der Excel-Dateien dient. Die zweite
Schnittstelle ist eine System-System-Schnittstelle, welche die Kommunikation zwischen
der Java-Anwendung und dem Datenbanksystem ermöglicht. Die Schnittstelle zwischen
der Java-Anwendung und der Java-Runtime-Environment hingegen stellt eine Schnitt-
stelle zur Laufzeitumgebung dar. Konkret wird in diesem Fall die Lauffähigkeit des Java-­
Programmes auf dem Betriebssystem Windows abgesichert.
542 M. Stirzel und S. Yaldiran

INPUT THROUGHPUT OUTPUT

Java Programm

datenbankbasierte
Datenverarbeitung

Graphical User Interface Datenbanken


OUTPUT
Quellpfad: Excel-Ordner Befüllte Datenbank mit Tabellen:
Zielpfad: Datenbank
Export-Datum der Excel-Dateien → latest Data
Daten des zuletzt eingelesenen Excel-Exportes

→ historic Data
Daten aller bisher eingelesenen Excel-Exporte

BI Visualisierungen

Statusvisualisierung Tickets/Testfälle
Historienvisualisierung Tickets/Testfälle

Abb. 20.5  Übersicht über die Gesamtlösung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Überblick über die Gesamt-Lösung


Abb. 20.5 gibt einen Überblick über die gesamte Lösung, beginnend mit dem Input, weiter
über die Verarbeitung / den Throughput sowie über die Outputs.

Funktionsweise der Lösung


Die Software prüft in regelmäßigen Zeitabständen das Vorhandensein neuer Dateien im
vorgegebenen Quellordner für Excel-Dateien. An erster Stelle wird hierzu geprüft, ob die
im Quellordner enthaltenen Excel-Dokumente jeweils gelesen worden sind. Um dies zeit-
lich effizient zu gestalten wurde festgelegt, dass das Exportdatum des Excel-Dokumentes
im Format Jahr, Monat und Tag „YYYYMMDD“ im Namen eines jeden Excel-­
Dokumentes hinterlegt wird. Hierzu wird für das Export-Datum eines jeden Dokumentes
überprüft, ob dieses bereits in der Datenbank-Tabelle „historicData“ vorliegt. Ist dies nicht
der Fall, so wird mit dem nächsten Dokument fortgefahren. Existiert das Export-Datum
eines Dokumentes noch nicht, so befindet sich dieses Dokument im Zustand „ungelesen“.
Das ungelesene Dokument wird dann erstmalig ausgelesen und liegt in Form einer Matrix
in Java vor.

Im nächsten Schritt wird überprüft, ob die Matrix neue Spalten hinzubekommen hat.
Dies geschieht, indem die Anzahl der Spalten der Tabelle „latestData“ mit der Anzahl der
Matrix-Spalten verglichen wird. Stimmt die Anzahl überein, so ist davon auszugehen, dass
keine neue Spalte vorliegt. In diesem Fall kann zunächst der Inhalt der Tabelle latestData
geleert und im nächsten Schritt mit der vorliegenden Matrix befüllt werden.
Stimmt die Anzahl der Spalten nicht überein, so sind der Tabelle zunächst die neuen
Spalten hinzuzufügen. Im nächsten Schritt kann dann ebenso der Inhalt der Tabelle latest-
Data geleert und im Anschluss mit dem Inhalt der Matrix befüllt werden.
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 543

Als nächstes werden der GUI-Schnittstelle die Namen der festgelegten Pflichtspalten
für die Tabelle historicData übergeben. Die Schnittstelle liefert daraufhin die Namen
dieser Spalten, wie sie im Excel-Dokument vorliegen. Anhand der vorgegebenen Namen
der Spalten werden die Indizes im Excel-Dokument berechnet, um auf die benötigten
Spalten der Matrix zugreifen zu können. Die nun vorliegende Matrix enthält lediglich
die vorgegebenen Pflichtspalten sowie das Export- und Änderungsdatum als zusätz-
liche Spalte.
Im nächsten Schritt wird auf die Korrektheit der Zieldatenbank überprüft, in der die
Daten zu den Tickets hinterlegt werden. Grund für diese Überprüfung ist, dass bei den
Tickets aus den Excel-Exporten zusätzliche Regelungen stattfinden, um inhaltlich redun-
dante Datensätze zu vermeiden. Ist die Zieldatenbank eine andere, so wird der Inhalt der
Matrix in die Tabelle historicData übertragen. Hauptursache für die Übertragung ohne
weitere Regelungen in diesem Fall ist, dass mehrere Test-Reports zu einer Software Ver-
sion existieren können, bei denen die Test-Ergebnisse zu den jeweiligen Test-Fällen je-
doch unterschiedlich ausfallen. Dies kann beispielsweise vorkommen, wenn ein einfacher
Fehler unterlaufen ist, für dessen Behebung jedoch kein Release einer neuen Software-­
Version benötigt wird.
Liegt hingegen die Datenbank für die Tickets als Zieldatenbank vor, so wird zunächst
überprüft, ob die in der Matrix vorliegende ID bereits in der Tabelle historicData vorliegt.
Ziel ist hierbei, inhaltliche Redundanzen zu vermeiden. Dadurch, dass die vorliegenden
Excel-Dokumente lediglich ein Abbild des Ticketsystems darstellen, ist es möglich, dass
ein Ticket zu einem späteren Export Zeitpunkt weiterhin keine Änderungen erfahren hat.
Die Erfassung dieser zusätzlichen Informationen würde zu Redundanzen und somit einer
ineffizienten Nutzung des Speichervolumens der Datenbank führen. Liegt die ID nicht in
der Datenbank vor, so wird der gesamte Eintrag zu diesem Ticket in die Datenbank
übertragen.
Ist die ID hingegen bekannt, so kann zunächst nicht festgestellt werden, wie viele Ein-
träge zu dieser ID in der Datenbank bereits vorliegen. Zur Überprüfung wurde hierzu der
Parameter Änderungsdatum eingeführt. Wird ein Ticket erstmals erfasst, entspricht das
Änderungsdatum dem Exportdatum. Nach dieser Eigenschaft wird in den vorliegenden
Einträgen zu dem Ticket gesucht. So kann davon ausgegangen werden, dass dies der aktu-
elle Eintrag ist. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob Änderungen in den Pflichtspalten
gegenüber dem letzten Stand vorliegen. Liegen keine Änderungen vor, so kann von einem
redundanten Datensatz ausgegangen werden. In diesem Fall überspringt die Software die
Übertragung dieses Datensatzes in die Datenbank. Sobald Änderungen in den Pflicht-
spalten festgestellt werden, wird das Änderungsdatum des letzten Eintrags in der Daten-
bank mit dem Exportdatum des jetzt vorliegenden Ticket-Exportes überschrieben. Zudem
wird der neue Eintrag zu dem Ticket in der Datenbank hinzugefügt (dabei stimmen selbst-
verständlich Export- und Änderungsdatum überein), um den aktuellen Eintrag kenntlich
zu machen.
544 M. Stirzel und S. Yaldiran

Ausgabe für Self Service-Reportingdienste


Auf die Datenbank können verschiedene Filter- und Auswertungsoptionen angewandt
werden, um entsprechende Reports nach dem Bedarf des einzelnen Users zu erzeugen.

Um dem Endbenutzer der Visualisierungen eine klare Übersicht der Datenbasis darzu-
stellen, wurden verschiedene Darstellungsmöglichkeiten der BI Software von Microsoft
Power BI verwendet. Die Visualisierungen folgen dabei einer einfachen Regel, im oberen
Bereich werden mögliche Filter und im darunter liegenden Bereich die Visualisierungen
der Daten angebracht.
Das in Abb. 20.6 dargestellte Beispiel einer Visualisierung in einem Report soll hier
anhand von Testdaten-Auswertungen aus der Entwicklung zeigen.
Um dem Nutzer eine leichte Informationsaufnahme des absoluten Anteils der jeweili-
gen Testergebnisse am Gesamtanteil zu ermöglichen, wurde ein Ringdiagramm eingesetzt.
Bei nicht ausgewähltem Filter werden in dem Ringdiagramm auf der linken Seite der ab-
solute Anteil der Testfälle mit den Ergebnissen „Pass“, „Error“ und „Fail“ dargestellt.
Neben der Visualisierung der meist benötigten Informationen ist auch eine Ad-hoc-­
Anpassung durch den Benutzer möglich.
Weiterhin kann auch die Historie bezogen auf einen ausgewählten Vorgang (hier: Test-
fall anhand FehlerID) ausgewertet werden (s. Abb. 20.7).
Auf der rechten Seite der Abb. 20.7 wird die Dauer von dem Datum der Anlegung bis
zum Datum der letzten Statusänderung eines Tickets in Form einer Kennzahl dargestellt.
Dadurch soll dem Nutzer die gesamte Bearbeitungszeit eines Tickets auf einem Blick an-

Abb. 20.6  Beispielhafte Visualisierung Testdaten Gesamtsicht. (Quelle: Eigene Darstellung)


20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 545

Abb. 20.7  Beispielhafte Visualisierung Ticketverlauf. (Quelle: Eigene Darstellung)

gezeigt werden. Im unteren Bereich der Abbildung befindet sich die Visualisierung zur
Darstellung des historischen Statusverlaufs der Tickets.

20.5.1.2 Nutzer-Befragung
Um eine spätere Nutzung bestmöglich an die Bedürfnisse und Bedarfe der Nutzer abzu-
stimmen, wurde eine zunächst erstellte Probeversion dem gesamten Team, welches das
Tool nutzen soll, gezeigt. Mittels einer Befragung wurde überprüft, ob alle notwendigen
Informationen in der für die Anwendungsfälle geeigneten Form entnehmbar sind. Wie
weit die Wahrnehmung eines IT-Projektleiters von der eines Benutzers differieren kann,
zeigt bereits die allgemein gehaltene Übersichtsfrage.
Die Auswertung der Umfrage ergab, dass das Team bezüglich des Informationsgehalts
der im Rahmen dieses Projekts erstellten Visualisierungen mit einem Anteil von 66,7 %
nicht hinreichend versorgt war (s. Abb. 20.8). Somit war das Feedback mit entsprechender
Update-Schleife essenziell.

20.5.2 Reorganisation als Self Service

Kern dieses Beitrags ist die Umwandlung eines push-orientierten Standardreportings in


ein pull-orientiertes Self Service-Reporting (vgl. auch Horváth et al., 2020, S. 190). Mit
den beschriebenen IT-Lösung wurde die notwendige Grundlage geschaffen. Ein Self
Service-­Reporting bedarf jedoch zusätzlich eines Paradigmenwechsels. Das Bewusstsein
546 M. Stirzel und S. Yaldiran

Sind in den Visualisierungen alle für dich erforderlichen Informationen enthalten?


Antworten

Ja
Nein
66.7%

33.3%

Abb. 20.8  Kontrollbefragung der Benutzer. (Quelle: Eigene Darstellung)

bei den Nutzern muss entstehen. Dies beginnt bei der eigenen Erkenntnis, Informationen
für das selbständige Management zu benötigen. Hierzu wurden den nutzenden Mit-
arbeitern Analyse-Beispiele und -Potenziale in einer Schulung vorgestellt, um diese zu
eigenen Ideen zu inspirieren. Zugleich wurden ihnen die Bedienung des BI-Tools nahe-
gebracht.

20.6 Evaluierung und Beitrag zur Effizienzsteigerung

In diesem Kapitel wird die Effizienzsteigerung durch den Einsatz von BI und der damit
einhergehenden Nutzung einer Datenbank als Datenbasis ermittelt, indem der Prozess vor
und nach dem Einsatz aufgezeigt und diskutiert wird.

Prozess vor Implementierung


Daten zu Tickets wurden vormals als Momentaufnahme in Form von Excel-Dateien ex-
portiert. Durch die regelmäßige automatisierte Generierung dieser Excel-Exporte war die
Verfolgung der aktuellen Status bestimmter Tickets möglich, jedoch war kein historischer
Verlauf der Tickets ersichtlich. Zur Darstellung eines Verlaufes wurde eine separate Ex-
cel-Datei angelegt, in der die aktuellen Daten zu den Tickets regelmäßig eingepflegt wur-
den. Zudem wurden die Test-Reports aus einer weiteren Quelle – auch in Form von Ex-
cel-Dateien  – exportiert. Zur Einsicht eines historischen Verlaufes war es auch hier
notwendig, eine separate Excel-Datei regelmäßig zu pflegen. Der Prozess der Datenpflege
in das Excel-Dokument, welches der Übersicht diente, die begrenzten Visualisierungs-
möglichkeiten von MS Excel und die langen Ladezeiten – aufgrund der Datenansammlung
über einen gewissen Zeitraum hinweg – waren große Nachteile dieses Prozesses (siehe
auch Abb. 20.9).
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 547

Excel-Export Excel-Export
Ticketportal regelmäßige Pflege der
Moment-
Excel-Export
aufnahmen Ticketdaten
Ticket-Nr. | Ticket -Status | Beschreibung
Ticket-Nr. | Ticket -Status | Beschreibung
Ticket-Nr. | Ticket -Status | Beschreibung

Excel-Visualisierungen

Excel-Export Excel-Export
Test -Report-Quelle
Moment-
Excel-Export
Testfall -Nr. | Status | Software-Version aufnahmen
Testfall -Nr. | Status | Software-Version
Testfall -Nr. | Status | Software-Version regelmäßige Pflege der
Ticketdaten

Abb. 20.9  Prozess vor Implementierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Geschätzter Zeitaufwand (innerhalb eines Teams) im vorherigen Prozess:

• 2,5 h pro Woche

Nutzung:

• Projektweite Nutzung der teilweise unübersichtlichen Excel-Statistiken


• Kein zentraler Datenspeicher
• Redundante Daten

Prozess nach Implementierung


Die Daten zu Tickets und Test-Reports werden nunmehr täglich automatisiert in die bei-
den Datenbanken übertragen und dort verwaltet. Das BI-Tool hat dabei direkten Zugriff
auf die Datenbanken und bezieht die neuen Daten automatisch in die Visualisierungen mit
ein. Der historische Verlauf eines Tickets ist – mit Hilfe in die Visualisierung integrierter
Filterelemente  – einfach einsehbar. Durch die zentrale Verwaltung der Ticket-Daten in
einer Datenbank können auch Mitarbeiter, die anderen Teams aber derselben Abteilung
angehören, die Datenbank als Datenbasis für eigene Visualisierungen nutzen und für sie
relevante Daten abbilden (siehe Abb. 20.10). Zudem ist die Anwendung dazu im Stande,
neue Datenbanken zu generieren und diese mit neuen Daten zu befüllen. Dies führt zu
einem projektübergreifend skalierbaren Einsatz und kann als Datenbasis für weitere Self
Service-BI-Visualisierungen genutzt werden.
548 M. Stirzel und S. Yaldiran

Excel-Export Excel-Export
Ticketportal Moment- automatisierte Pflege der
aufnahmen Excel-Export Ticketdaten
Ticket-Nr. | Ticket-Status | Beschreibung
Ticket-Nr. | Ticket-Status | Beschreibung
Ticket-Nr. | Ticket-Status | Beschreibung

BI Visualisierungen

Excel-Export Excel-Export
Test-Report-Quelle Moment-
aufnahmen Excel-Export
Testfall-Nr. | Status | Software-Version
Testfall-Nr. | Status | Software-Version
automatisierte Pflege der
Testfall-Nr. | Status | Software-Version
Ticketdaten

Abb. 20.10  Prozess nach Implementierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Geschätzter Zeitaufwand (innerhalb eines Teams):

• Kein zusätzlicher Aufwand aufgrund automatischer ETL-Prozesse

Nutzung:

• Unternehmensweite Nutzung der Datenbasis


• Projektweite Nutzung der übersichtlicheren BI-Visualisierungen
• Zentraler Datenspeicher ohne Redundanzen

Prozess-Gegenüberstellung
Der Effekt auf die Effizienzsteigerung lässt sich aus Abb. 20.11 ablesen. Hinsichtlich der
Berichtsvorbereitung und -bereitstellung kann eine Einsparung von ca. 3 Stunden pro Tag
erzielt werden, die entweder einen Projektunterstützer oder gar einen fakturierbaren
Projektmitarbeiter entlasten. Geht man davon aus, dass die Berichtsdaten an 4 Tagen in der
Woche aktualisiert / benötigt werden, können in einem Monat ca. 48 Stunden eingespart
werden. Zudem werden im neuen Prozess die Daten aktuell am selben Tag bereitgestellt
und nicht erst am Folgetag wie vorher.

Nach der in Abschn.  20.5.2 genannten Schulung wurden einen Monat später das
push-orientierte Reporting außer Betrieb gesetzt. Ab diesem Zeitpunkt konnte die
Effizienzsteigerung in der Berichterstellung ausgeschöpft werden.
Darüber hinaus sind die im neuen System bereitgestellten Daten übersichtlicher dar-
gestellt, und der Anwender kann schneller einen Überblick. Die hier eingesparte Zeit
wurde zwar qualitativ zurückgemeldet, lässt sich jedoch nur schwer abschätzen und
20  Reporting im Zeitalter der Digitalisierung 549

Manuelle Nutzung der


Bereitstellung
Vorher Extraktion Harmonisierung, Berichte
statische Berichte
Update/Pflege (Aktualität Vortag)
(Administration) (Administration) (Administration) (Anwender)

Ca. 1 Tag Bearbeitung

Nutzung dynamischer Trigger für neue


Nachher Extraktion Kurzfristige automatisierte Ausgabe
tagesaktueller Analysen und Ideen
(ohne Administration/Aufsicht und Zeitaufwand) BI-Daten  Innovationen
(Administration) (Anwender) (Anwender)
Übernahme Extrakt;
Bereitstellung
Transformation,
Datenbank/BI
Laden
(IT-System) (IT-System)

Abb. 20.11  Effizienzsteigerung im Prozess. (Quelle: Eigene Darstellung)

quantifizieren. Zudem werden die Auslastung des Teams und aktuelle Heraus-
forderungen für alle transparenter, dies triggert auch Gespräche und den Austausch
über Projektwissen.
Darüber hinaus entstanden ab sofort zusätzliche Potenziale aus neuen Denkweisen und
Analysen. Das Lernen der Anwender und die Transformation in eine selbstlernende Orga-
nisation, unterstützt durch das Self Service-Reporting, führt in einer weiteren Hypothese
zu einer Effektivitätssteigerung. Die Erhöhung der Selbständigkeit und der Management-
qualität lässt sich nur mittelbar erfassen, ebenso die Wirkung auf den Unternehmenserfolg
(siehe auch Abschn. 20.3 letzter Absatz zu „Erfolg“).

20.7 Fazit

Aufgrund der täglich wachsenden Menge an Daten wird es zunehmend schwieriger, diese
zu veranschaulichen und daraus Schlüsse zu ziehen. Die Nutzung von Self Service-BI-­
Tools ermöglicht es jedem Team, für sich relevante Daten mit Hilfe von Statistiken und
weiteren Veranschaulichungen zu visualisieren. Dies sorgt dafür, dass Mitarbeiter sprich-
wörtlich „ein Bild davon bekommen“ wie die aktuelle Situation innerhalb eines Projektes
ist und den bisher geleisteten Workload darzustellen. In den vorherigen Abschnitten wurde
gezeigt, wie ein zeitaktuelles Reporting mittels Self Services implementiert werden kann.
Dabei konnte eine messbare, nachhaltige Effizienzsteigerung nachgewiesen werden.
Die Befragung der Nutzer auf dem Weg der Implementierung (Abschn. 20.5.1.2) hat
gezeigt, dass ein System nicht immer notwendigerweise von Anfang an die Bedürfnisse
und Bedarfe der Nutzer deckt. Es empfiehlt sich daher, entweder direkt unter Einbindung
der Nutzer mit agilen Methoden oder mit entsprechenden Kontrollschleifen ein System zu
validieren.
Bei der Entwicklung der Anwendung zur datenbankbasierten Datenverarbeitung lag
der Fokus auf der Skalierbarkeit, um auch projektübergreifend Gebrauch von der Daten-
bereitstellungskomponente der BI zu machen. Hier wurden mit Hilfe der Rahmen-
bedingungen und einer ausführlichen Literaturrecherche geeignete Lösungen festgehalten
und deren Vor- und Nachteile im konkreten Fall gegeneinander abgewogen, um eine Aus-
550 M. Stirzel und S. Yaldiran

wahl treffen zu können. Die erstellten Datenbanken können später als Datenquelle von
Anwendungen zur Datenauswertung angesteuert werden. Dieser Schritt ist notwendig, um
weitergehende Berechnungen auf Grundlage dieser Daten durchführen zu können.
Die Datenverarbeitungsanwendung bietet Entwicklern den weiteren Ausbau der Soft-
ware und ist als eine projektübergreifende Lösung in vielen Gebieten einsetzbar. Für die
Zukunft wäre der geplante Einsatz einer grafischen Benutzeroberfläche für die Ver-
besserung der Usability und der User Experience ein weiterer Vorteil. Auch im Bereich der
Reportings ist eine gewisse Skalierbarkeit möglich. Durch die Nutzung einer umfang-
reichen Datenbasis können für unterschiedliche Nutzer dieser Reports weitergehende Be-
rechnungen zur Ermittlung von KPIs durchgeführt und somit neue Erkenntnisse ge-
wonnen werden.
Eine Übertragung des funktionierenden Konzepts auf andere Unternehmensprozesse,
wie bspw. IT-Ticketprozesse, erscheint ebenso möglich, um den Stand von gestellten Ti-
ckets zu tracken und in Reports mitaufzunehmen. Mit Hilfe der visualisierten Daten kann
die Basis für eine transparentere Kommunikation geschaffen werden. Zudem kann eine
übersichtlichere Gestaltung für eine schnellere Erkennung von Trends und die Berück-
sichtigung nützlicher Randinformationen sorgen. Dadurch können beispielsweise be-
stimmte IT-Prozesse, welche maßgeblich für die Erstellung solcher Tickets verantwortlich
sind, überarbeitet werden. Dies sorgt für eine nutzerorientiertere und flexiblere Reaktion
auf anfallende IT-Tickets und steigert die Effizienz der Arbeit nachhaltig.
Zusätzliche Erweiterungsmöglichkeiten werden in der Mustererkennung und Prognos-
tik gesehen, hierzu könnten Ansätze aus der Künstlichen Intelligenz (KI) eingesetzt werden.
Ebenso ist eine Anreicherung mit Daten möglich, welche außerhalb des Prozesses an-
fallen, um gesamtheitlichere Prognosen anstellen zu können. Bei Finanzdaten wäre an
dieser Stelle die Einbindung externer Parameter wie die Zinsentwicklung oder aber die
Nutzung allgemeiner Wirtschaftsdaten mittels einer Schnittstelle denkbar.

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Prof. Dr. rer. pol. Martin Stirzel  lehrt an der Fakultät für
Informationsmanagement der Hochschule Neu-Ulm (HNU). Nach
Studium und Promotion an der Universität Stuttgart (Lehrstuhl Con-
trolling Prof. Horváth) und langjähriger Tätigkeit in der Automobil-
branche (Daimler-Konzern sowie in einer Vielzahl von Projekten mit
Akteuren aus der Automobilindustrie) lehrt und forscht er nun im
Studiengang Information Management Automotive (IMA) an der
HNU, in Zusammenarbeit mit bestehenden sowie Startup-Unterneh-
men, Verbänden und öffentlichen Trägern.

Selcuk Yaldiran, B.Sc., Information Management Automo­


tive,  studiert nach Abschluss seines Bachelor-­Studiums an der HNU
nun im Master-Studiengang Automotive and Mobility Management
(M.Sc.) an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (Fakultät
Wirtschaft und Recht, Prof. Dr. phil. Reindl) in Geislingen a. d.
Steige. Während seines Studiums übte er mehrere Tätigkeiten im
Automobil- und IT-Umfeld (Daimler-­ Konzern, Siemens Mobility
sowie Ingenieursdienstleister in der Automobilindustrie) aus.
Beide Autoren haben zu gleichen Teilen an diesem Beitrag
mitgewirkt.
Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine
Daten-dominante Logik braucht 21
Petra Kugler

Zusammenfassung

Big Data besitzen ein großes Potenzial für Unternehmen, Vorteile im Wettbewerb auf-
zubauen. Sie können zu besseren Entscheiden, zu mehr Effizienz oder zu Innovationen
führen. Doch fällt es vielen Unternehmen schwer, Big Data tatsächlich in Werte zu
transferieren. Der Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass Unternehmen zunächst interne
Veränderungen vornehmen müssen, um dies zu ermöglichen. Big Data ist mit be-
sonderen Charakteristika verbunden. Um diese Charakteristika in Wettbewerbsvorteile
zu transferieren, braucht es einerseits eine Kombination aus technischem und
Management-­Wissen. Andererseits erfordert dies eine Daten-dominante Logik, die sich
von der bisherigen Produkte- oder Service-dominanten Logik in Unternehmen unter-
scheidet. Die Diskussion des Beitrags baut auf Erkenntnissen zu Big Data in einem
strategischen Kontext und zur Ressourcen- und Fähigkeitsbasierten Sichtweise  in
Unternehmen (RBV, CBV) auf.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Daten-dominante Logik · Big Data · Big Data Analytics · Big Data
Strategie

P. Kugler (*)
Institut für Unternehmensführung (IFU-OST), Ost – Ostschweizer Fachhochschule, St.Gallen,
Schweiz
E-Mail: petra.kugler@ost.ch

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 553


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_21
554 P. Kugler

21.1 Einleitung

Big Data wird häufig als „neues Öl“ oder als „neues Gold“ bezeichnet (z. B. Tabesh et al.,
2019; Manyika et al., 2011; Chin et al., 2017). Dahinter steckt die Idee, dass Daten zu
grundlegenden Veränderungen in der unternehmerischen Wertschöpfung führen können.
Häufig nutzen Unternehmen Big Data in Verbindung mit neuen Geschäftsmodellen, die
auf Plattformen, Netzwerken und digitalen Ökosystemen aufbauen. Die Stärke der Ver-
änderungen, die durch digitale Technologien angestoßen wird, kann dabei mit den voraus-
gehenden industriellen Revolutionen verglichen werden. Der Digitalisierung insgesamt
und insbesondere Big Data wird damit ein erhebliches disruptives Potenzial (Christensen,
1997) zugesprochen, das viele etablierte Lösungen und Ansätze in traditionellen Branchen
obsolet macht. Etablierte Industrien ordnen sich dann neu, denn es gibt „neue“ Gewinner
und Verlierer in diesem Prozess. Unternehmen müssen daher einerseits verstehen, welche
Veränderungen und Herausforderungen durch Big Data angestoßen werden, wenn andere
Unternehmen zielgerichtet mit Daten arbeiten.
Andererseits bieten sich auch zahlreiche Möglichkeiten, Daten und Praktiken zu ihrer
Analyse für die eigene Wertschöpfung gewinnbringend zu nutzen. Doch es zeigt sich, dass
Big Data nicht einfach nur „viele Daten“ sind, sondern eine besondere Ressource, auf die
sich Unternehmen erst neu einstellen müssen, damit die Daten tatsächlich zum Erfolg des
Unternehmens beitragen können. Insofern verwundert es nicht, dass sich viele Unter-
nehmen schwer damit tun, Daten in unternehmerische Werte oder in Wettbewerbsvorteile
zu transferieren. Das Potenzial, das in Big Data steckt, wird daher vielfach noch nicht
ausgeschöpft (Chin et al., 2017; Hagiu & Wright, 2020). Darin liegt eine große Chance für
Unternehmen. Doch wo sollen Unternehmen ansetzen, um mit Big Data nachhaltig Werte
zu schaffen?
Ziel des Beitrages ist es, anhand der in der Literatur diskutierten Erkenntnisse aufzu-
zeigen, dass in Unternehmen erst Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um die
Ressource Big Data überhaupt wertschöpfend nutzen zu können. Im Mittelpunkt der Be-
trachtung stehen dabei die dominante Logik von Unternehmen, (Prahalad & Bettis, 1986;
Bettis & Prahalad, 1995). Darunter wird ein in der Vergangenheit gelerntes Selbstver-
ständnis und ein gelerntes Handlungsrepertoire verstanden. In einer veränderten Situation,
wie sie durch Big Data angestoßen wird, braucht es jedoch neue Denk- und Handlungs-
weisen (Jarzabkowski, 2001), welche Unternehmen erst verstehen und aufbauen müssen.
Empirische Erkenntnisse deuten darauf hin, dass die intensive Arbeit mit Daten eine
Daten-dominante Logik (Kugler, 2020) erfordert, welche Daten in den Mittelpunkt der
Wertschöpfung stellt.
Eine Daten-dominante Logik zeigt sich im Denken und Handeln sowohl auf individu-
eller als auch organisationaler Ebene. Sie beeinflusst, welcher Stellenwert Big Data im
Unternehmen generell beigemessen wird und zu welchen Veränderungen dies in der orga-
nisationalen Wertschöpfung führt. Der Beitrag zeigt auf, dass datengetriebene Unterneh-
mennach einer anderen Logik funktionieren als Unternehmen, in welchen Big Data
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 555

einen geringeren Stellenwert besitzen. Eine Daten-dominante Logik unterscheidet sich


von derjenigen von solchen Unternehmen, die auf Produkte oder Services ausgerichtet sind.
Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Im zweiten Kapitel wird diskutiert, inwiefern die
Digitalisierung allgemein und Big Data grundlegende Veränderungen auf Märkten und in
Organisationen anstoßen und diese einer neuen Logik folgen. Das dritte Kapitel geht ge-
nauer auf Big Data und die Charakteristika, die mit den Daten verbunden sind, ein. Auf-
grund dieser Charakteristika brauchen Unternehmen bestimmte Fähigkeiten, um Daten in
Werte zu transferieren. Der Beitrag folgert, dass diese Fähigkeiten eine Veränderung der
in  vielen Unternehmen vorherrschenden, etablierten dominanten Logik hin zu einer
Daten-dominanten Logik erfordert.

21.2 Digitalisierung und Big Data verändern die Logik von


Märkten und Unternehmen

Im Jahr 2020 waren von den zehn wertvollsten Unternehmen, gemessen an der Markt-
kapitalisierung, sieben amerikanische oder chinesische Technologiekonzerne (Statista,
2021).1 Noch vor zehn Jahren sah das Bild ganz anders aus: In der Gruppe der erfolg-
reichsten Unternehmen waren deutlich mehr und unterschiedliche Industrien vertreten. Es
scheint also, dass es gerade die Technologieunternehmen sind, welche mit sich ver-
ändernden Bedingungen besonders gut klarkommen, oder diese sogar anstoßen. Denn es
zeigt sich heute immer deutlicher, dass die voranschreitende Digitalisierung zu grund-
legenden Veränderungen  führt, sowohl auf dem Markt, als auch in Unternehmen. Dies
wird unter anderem deutlich an neuen Konstrukten wie digitale Ökosysteme, die nicht an
etablierte Denkkategorien wie Branchengrenzen gebunden sind, an neuen Spielregeln am
Markt, an innovativen Organisationsformen oder auch an veränderten individuellen Ver-
haltensweisen, die durch die Nutzung digitaler Tools erst angestoßen werden (Brynjolfs-
son & McAffee, 2014; Hamel & Zanini, 2020; Iansiti & Lakhani, 2020; McAffee & Bryn-
jolfsson, 2018; Parker et al., 2017). Je besser Unternehmen diese Veränderungen erkennen,
verstehen und mit ihnen umgehen können, umso eher ist es für sie möglich, erfolgreich im
Wettbewerb zu bestehen. Was unternehmensextern am Markt geschieht und wie Unter-
nehmen intern funktionieren, ist dabei nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Digi-
tale Technologien sind einerseits Ermöglicher, um Neues anzustoßen. Andererseits zwin-
gen sie Unternehmen aber auch, solche Neuerungen selbst aufzugreifen, um überhaupt
noch im Wettbewerb mitspielen zu können.

1
 Die zehn wertvollsten Unternehmen  waren im Jahr 2020 (Statista, 2021): 1. Saudi Arabian Oil
Company (Saudi Aramco) (Saudi Arabia), 2. Microsoft (United States), 3. Apple (United States), 4.
Amazon (United States), 5. Alphabet (United States), 6. Facebook (United States), 7. Alibaba
(China), 8. Tencent Holdings (China), 9. Berkshire Hathaway (United States), 10. Johnson & John-
son (United States).
556 P. Kugler

Am Markt zeigt sich, dass nicht alle Unternehmen gleich mit der digitalen Veränderung
umgehen und auch nicht alle gleich erfolgreich sind. Auf der einen Seite nutzen meist
junge Unternehmen, Start-ups oder Technologiekonzerne digitale Technologien, um ge-
zielt neue Geschäftsmodelle, Produkte oder Services zu entwickeln. Wenn dies gelingt, so
sind die erfolgreichen Unternehmen ihren Wettbewerbern oft deutlich überlegen. Dies
trifft in besonderem Maße auf die sogenannten „GAFA“ Unternehmen zu (Google/Alpha-
bet, Apple, Facebook, Amazon), die häufig als Vorbilder angeführt werden. Diesen Unter-
nehmen ist gemeinsam, dass sie Plattformen, Big Data und Analytics Methoden nutzen,
um aktuelle und potenzielle Nutzer und Märkte besser zu verstehen. Darüber hinaus zeigt
sich aber auch, dass sich etablierte Unternehmen oft schwertun, ihre bestehenden Ge-
schäftsmodelle, Prozesse und Strukturen an Daten auszurichten und eine digitale Logik zu
etablieren. Viele etablierte Unternehmen funktionieren nach anderen Spielregeln und nach
einer anderen Logik als digitale Unternehmen.
Auch organisationsintern funktionieren digitale Unternehmen anders als eher traditio-
nelle (also „analoge“) Unternehmen. Dies wird deutlich am Beispiel agiler und offener
Organisationsmodelle (Kugler, 2019; Kugler et al., 2019), die sich durch Charakteristika
wie Flexibilität, flache Hierarchien und einem veränderten Führungsverständnis aus-
zeichnen (z.  B.  Chesbrough, 2006; Hamel & Breen, 2007; Laloux, 2015). Häufig sind
solche Organisationsformen überhaupt erst umsetzbar, da digitale Tools eine neue Art der
Zusammenarbeit und Wertschöpfung ermöglichen. Digitale Organisationen scheinen dann
oft einem veränderten Paradigma zu folgen, was sich beispielsweise in der Entwicklung
weg von einer Produkte-dominanten Logik hin zu einer Service-dominanten Logik zeigt
(Vargo & Lusch, 2004, 2006). Technologische  Neuerungen, Veränderungen auf dem
Markt und im Inneren von Organisationen treten dabei häufig gemeinsam auf.
Vor diesem Hintergrund wird es zunehmen schwierig, allgemein von „Digitalisierung“
zu sprechen. Um konkrete Aussagen dazu zu treffen, wie Unternehmen mithilfe digitaler
Technologien ihre Wertschöpfung sinnvoll verändern können, braucht es vielmehr eine
Unterscheidung zwischen verschiedenen digitalen Spielarten, Technologien und Ge-
schäftsmodellen. Insbesondere Daten, oder „Big Data“ und Big Data Praktiken spielen bei
erfolgreichen Unternehmen eine herausragende Rolle. So sind sich sowohl Praktiker als
auch Wissenschaftler darüber einig, dass Unternehmen, die Big Data gezielt nutzen, ein
großes Erfolgspotenzial besitzen. Denn anhand von Daten lassen sich Möglichkeiten zur
Effizienzsteigerung oder Potenziale für innovative Produkte, Services und Geschäfts-
modelle identifizieren. Viele Entscheidungen können anhand von Daten besser abgeschätzt
und besser abgestützt werden. In Daten und Datenanalyse Praktiken liegt somit das Poten-
zial, Vorteile im Wettbewerb aufzubauen, was letztlich signifikant zum Erfolg eines Unter-
nehmens beitragen kann. Dies setzt jedoch voraus, dass Unternehmen Big Data als eine
zentrale Ressource (an)erkennen und innerhalb des Unternehmens die „richtigen“ Voraus-
setzungen zu ihrer Nutzung schaffen. Doch oft fehlt es an Wissen dazu, welche Besonder-
heiten ein datengetriebenes Unternehmen kennzeichnen, so dass das Potenzial, welches in
Big Data steckt, nicht ausgeschöpft werden kann (Akter et al., 2016; Fosso Wamba et al.,
2017; Gupta & George, 2016; Mikalef et al., 2020).
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 557

21.3 Von Big Data zu Big Value

21.3.1 Big Data ist mehr als nur „viele Daten“

Auch wenn Big Data das Potenzial zugesprochen wird, Unternehmen und Märkte grundlegend
zu verändern, so ist die Arbeit mit Daten für Unternehmen nicht grundlegend neu. Der Begriff
„Daten“ hat im Zusammenhang von „Big Data“, „Data Science“, „Data Analytics“, oder „Busi-
ness Intelligence“ jedoch nicht mehr viel mit der Auswertung von Excel-­Tabellen zu tun, son-
dern ist durch einige besondere Charakteristika gekennzeichnet. Eine klare Abgrenzung oder
allgemeingültige Definition für den Begriff Big Data gibt es jedoch nicht. Vielmehr geht es um
potenziell unendlich große Mengen an verschiedenen Daten, die in Echtzeit aus zahlreichen
Quellen gesammelt, gespeichert und analysiert werden können: „The term big data is often used
to describe massive, complex, and real-time streaming data that require sophisticated manage-
ment, analytical, and processing techniques to extract insights“ (Gupta & George, 2016, S. 2).
Um Big Data von einem traditionellen Verständnis „einfacher“ Daten zu unterscheiden,
werden häufig fünf zentrale Charakteristika, oder fünf „Vs“ herangezogen, die sich aus
den ersten Buchstaben der englischen Begriffe ergeben: Volume, variety, velocity, veracity
und value (siehe Tab. 21.1).

Tab. 21.1  Charakteristika von „Big Data“: Die fünf „Vs“. (Quelle: Fosso Wamba et  al., 2015,
2017; Remane et al., 2017)
Begriff „V“
(Englisch) Begriff (Deutsch) Aussage
Volume Große Menge Sehr große Datenmengen, die entweder viel Speicherplatz
Volumen benötigen oder aus einer großen Anzahl an Datensätzen
bestehen. Sie können gesammelt, gespeichert, analysiert und in
neue Werte transferiert werden.
Variety Große Vielfalt Daten, die von zahlreichen verschiedenen Quellen stammen und
viele verschiedene Formate besitzen können, wie Text, Bild
oder Sprache.
Velocity Große Daten werden in Echtzeit kontinuierlich und mit großer
Geschwindigkeit Geschwindigkeit erzeugt oder transportiert. Sie stehen
unmittelbar zur Verfügung.
Veracity Großer Die große Menge an Daten ermöglicht es, genaue und
Wahrheitsgehalt verlässliche Prognosen zu treffen. Jedoch müssen Rohdaten
zunächst analysiert und interpretiert werden, bevor sie Aussagen
zu Zusammenhängen ermöglichen.
Value Großer Wert Die große Genauigkeit, Menge, Geschwindigkeit und
Wahrheitsgehalt machen Daten zu einer wertvollen Ressource
für zahlreiche ökonomische Anwendungsbereiche. Rohdaten
haben wenig oder keinen Wert, erst wenn Daten zu
Erkenntnissen führen, können Unternehmen sie direkt oder
indirekt in Werte transferieren.
558 P. Kugler

„Volume“ bezeichnet große, digitale Datenmengen, die oft „nebenbei“ ohne großen
Mehraufwand gewonnen werden. Digitale Technologien ermöglichen es heute erst, gro-
ßen Mengen an Daten zu speichern und zu verarbeiten. So ist es für Unternehmen bei-
spielsweise möglich, präzise Produktionsdaten, Daten zu Kundenpräferenzen oder zum
Mitarbeiterverhalten auszuwerten. Dazu reichen einfache digitale Aktivitäten aus, wie bei-
spielsweise ein Kontakt der Kunden mit der Unternehmenswebsite oder eine mit Sensoren
ausgestattete Maschine. Die so entstehenden Datenmengen übersteigen in einem mittel-
großen KMU schnell die Speichermenge eines Terabytes – pro Tag.
Die Daten können aus unterschiedlichen Kontexten („variety“) stammen, miteinander
in Beziehung gesetzt werden und so zu neuen Einsichten führen. Zu möglichen Daten-
quellen gehören unter anderem Suchmaschinen, E-Commerce und Handel, Websites, So-
ziale Netzwerke oder Daten aus Produktions- und Logistikprozessen (z.  B.  Mariani &
Fosso Wamba, 2020). Die Daten haben dabei oft unterschiedliche Formate, wie zum Bei-
spiel Text, Bild, Sprache, die zusammengeführt werden. Die Daten können zu jedem Zeit-
punkt in Echtzeit erhoben, transportiert und ausgewertet werden, so dass einige Aus-
wertungen zeitglich Erkenntnisse liefern können. So stehen Maschinendaten aus der
Produktion oder Daten zum Nutzungsverhalten einer Website aus dem Internet unmittel-
bar zur Verfügung. Überall, wo es um Überwachungs- und Kontrolldaten geht, wird keine
wertvolle Zeit bis zu möglichen Handlungen verloren („velocity“).
Aufgrund der sehr großen Datenmenge und der Vielfalt an sich wechselseitig er-
gänzende Datenquellen sind die Muster, die entdeckt werden und die Aussagen, die über
einen Sachverhalt getroffen werden, auch sehr genau, also verlässlich („veracity“). Big
Data können zur Beschreibung einer großen Vielfalt an Sachverhalten herangezogen
werden, über die bisher keine oder nur ungenaue Aussagen getroffen werden konnten.
Wurden bisher Kunden direkt zu ihrem Nutzungsverhalten zu Produkten befragt, dann
war nicht immer klar, ob sich die Antwort auf das tatsächliche Verhalten oder möglicher-
weise vielmehr auf ein sozial erwünschtes Verhalten bezog. Die so generierten Kunden-
daten waren bislang also nicht immer zuverlässig in ihrer Aussage. Big Data liefern
hingegen deutlich aussagekräftigere Daten, auf deren Grundlage Unternehmen bessere,
genauere und faktenbasierte Entscheide fällen können, welche vage Vermutungen oder
intuitive Entscheide ersetzen. Das heißt jedoch auch, dass sich Entscheider auf Daten
verlassen müssen, auch wenn die Datenlage nicht der subjektiven Intuition des Ent-
scheiders entspricht. Entscheide werden dann möglicherweise auf eine andere Art als
bisher getroffen.
Insofern ist es prinzipiell möglich, die Daten auch in unternehmerische Werte zu trans-
ferieren („value“). Dies beinhaltet einerseits die Möglichkeit, effizienter  und kosten-
günstiger zu werden, indem zum Beispiel nicht rentable Prozesse verbessert werden.
Andererseits eröffnen sich durch neue Einsichten aus den Daten auch neue Möglichkeiten
für Innovationen. Bessere Informationen zu Kundenwünschen ermöglichen innovative
Produkte, Services, Prozesse oder auch neue Geschäftsmodelle. Vor diesem Hintergrund
können wir davon ausgehen, dass künftig nicht die technische Machbarkeit, sondern vielmehr
die menschliche Vorstellungskraft die Grenzen dessen definiert, was mit Daten überhaupt ge-
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 559

macht werden kann. Welchen Wert die vorhandenen Daten für ein Unternehmen besitzen
hängt dabei unter anderem davon ab, wie gut es dem Unternehmen gelingt, diese zu be-
arbeiten und in den Unternehmenskontext einzufügen.

21.3.2 Daten sind noch kein Wissen und noch kein Wettbewerbsvorteil

Tatsächlich ist es für etablierte Unternehmen oft noch schwierig, konkret zu definieren,wie


die fünf genannten V-Charakteristika von Big Data wertschöpfend eingesetzt werden kön-
nen. Gerade in dieser Wissenslücke liegt aber auch ein großes Potenzial für die Arbeit mit
den Daten, denn diese bieten die Möglichkeit, Vorteile im Wettbewerb aufzubauen. Die
fünf V-Charakteristika führen dazu, dass Big Data oft heterogen, oft unstrukturiert oder
halbstrukturiert, agnostisch oder zufällig sind. „Herkömmliche“ Daten, zum Beispiel sol-
che, die bisher herangezogen wurden, um einen standardmäßigen Strategieprozess zu de-
finieren, sind hingegen eher homogen, strukturiert, zielgerichtet und theoriegetrieben
(Constantiou & Kallinikos, 2015). Big Data bringt also eine neue und deutlich komplexere
Qualität von Daten mit sich, als wir es bislang gewohnt waren. Der Nutzen und Erkennt-
nisgewinn von unbearbeiteten oder nur wenig bearbeiteten Rohdaten erschließt sich
Unternehmen dann nicht mehr unmittelbar. Unbearbeitete Rohdaten sind daher von nur
geringem oder sogar ohne direkten Wert, sie sind wie ein ungeschliffener Rohdiamant, der
erst bearbeitet werden muss, um seinen Glanz und seinen Wert zu offenbaren.
Oder anders ausgedrückt, Rohdaten sind noch keine Information oder noch kein Wis-
sen, das zu einer Erkenntnis oder zu besseren Entscheiden führt. Es wird also zwischen
Daten, Information und Wissen unterschieden. (Roh-)daten sind objektive Fakten, die in
keinem bestimmten Kontext stehen. Informationen sind Daten, die bereits eine Be-
deutung enthalten, indem sie bereinigt, bearbeitet und geordnet wurden. Dazu gehören
Kategorisierungen, Berechnungen, Korrekturen oder Zusammenfassungen der Daten.
Wissen geht hingegen noch einen Schritt weiter, denn die Informationen werden durch
Analyse und Interpretation in einen größeren Zusammenhang gesetzt, zum Beispiel in
den Kontext von Geschäftsmodellen. Es wird möglich, aufgrund der so generierten Ein-
sichten zu handeln (Davenport & Prusack, 1998, siehe auch Bumblauskas et al., 2017).
Für Unternehmen sind also vor allem Big Data wertvoll, die anhand von komplexen
Analysemethoden (Big Data Analytics) bereits intensiv bearbeitet wurden und so zu
neuen Erkenntnissen führen, die im Unternehmen oder auf dem Markt angewendet wer-
den können (siehe hierzu auch Kugler & Plank, 2021).
Rohdaten sind eine Ressource, die zahlreichen Unternehmen in ähnlicher Form vor-
liegen kann oder zwischen Unternehmen transferierbar ist. Daten sind daher keine Quelle,
um nachhaltige Vorteile im Wettbewerb zu erzielen. Erst die Analyse, Interpretation und
Verknüpfung der Daten mit unternehmerischen Fragestellungen macht Rohdaten einzig-
artig und aus strategischer Sicht wertvoll. Gelingt es einem Unternehmen, einzigartige,
nur schwer zu imitierende Erkenntnisse aus den Daten zu gewinnen, dann kann so die
Grundlage für einen nachhaltigen Vorteil im Wettbewerb geschaffen werden. Analysierte
560 P. Kugler

Daten genügen den Kriterien für einen Wettbewerbsvorteil, sie sind wertvoll, selten, nicht
imitierbar und nicht substituierbar. Rohdaten hingegen genügen diesen Kriterien meist
nicht (Bumblauskas et al., 2017; Gupta & George, 2016; Kriterien nach Barney, 1991).

21.3.3 Strukturierte und unstrukturierte Daten

Unternehmen stehen dann vor der grundsätzlichen Entscheidung, wie mit den Rohdaten
verfahren werden soll. Einerseits besteht die Möglichkeit, die oft sehr große Mengen un-
strukturierter Rohdaten zu sammeln und zu einem späteren Zeitpunkt zu entscheiden, wel-
che Analysen vorgenommen und welche Erkenntnisse daraus gezogen werden sollen.
Diese induktive Methode lässt den größtmöglichen Spielraum im Umgang mit den Daten.
Denn häufig ist zum Zeitpunkt der Datengewinnung noch gar nicht klar, welche Möglich-
keiten sich potenziell aus den Daten ergeben können. Das Ziel der Datenanalyse kann also
noch nicht vollständig definiert werden. Ein solches Vorgehen erfordert jedoch sehr viel
Speicherplatz für die Daten und ist daher auch kostenintensiv. Es braucht zudem gute ana-
lytische Fähigkeiten, um aus den unstrukturierten Daten für das Unternehmen Muster und
Strukturen herauszufiltern, die zu einem Mehrwert führen können.
Für viele, vor allem Klein- und mittelständische Unternehmen (KMU), ist es daher
andererseits realistischer, zunächst klare Ziele und Zusammenhänge festzulegen, und
dann zielgerichtet bestimmte Daten zu sammeln und zu analysieren. Diese deduktive Me-
thode ist einfacher in der Realisation, es besteht jedoch die Gefahr, dass Fragestellungen,
die sich zu einem späteren Zeitpunkt als relevant oder einzigartig herausstellen, mit den
vorhandenen Daten nicht abgedeckt werden können. Die Vorgehensweise hat daher ein
geringeres innovatives Potenzial. Wie so oft im Rahmen strategischer Entscheide liegen
also das Potenzial, Vorteile im Wettbewerb zu generieren und die Hürden, die zunächst
überwunden werden müssen, um das Potenzial tatsächlich nutzen zu können, nahe bei-
einander. Es gibt keine Abkürzung zu nachhaltigen Vorteilen im Wettbewerb.

21.3.4 Fähigkeiten des Unternehmens zur Nutzung von Big Data

Es wird deutlich, dass der Wert von Daten zu einem großen Teil davon abhängt, wie gut es
Unternehmen gelingt, den Daten-Rohdiamant sinnvoll zu bearbeiten, zu analysieren und in
unternehmerische Werte zu transferieren. Dies geschieht nicht automatisch, sondern er-
fordert die dazu notwendigen Praktiken und Fähigkeiten des Unternehmens zum Umgang
mit den Daten. Unter diesen „Big Data Analytics Capabilities“ (BDAC) wird dabei „a ho-
listic approach to managing, processing and analyzing the 5 V data-related dimensions (i.e.
volume, variety, velocity, veracity and value) to create actionable ideas for delivering sus-
tained value, meaning performance and establishing competitive advantages“ verstanden
(Fosso Wamba et al., 2020, S. 2). Zur Unterscheidung und Definition der Begriffe Big Data,
Big Data Analytics und Big Data Analytics Capabilities siehe auch Tab. 21.2.
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 561

Tab. 21.2  Big Data, Big Data Analytics und Big Data Analytics Fähigkeiten
BD Big Data Eine große Menge an komplexen und in Echtzeit Gupta &
strömende Daten, die anspruchsvolle Verwaltungs-, George, 2016,
Analyse- und Verarbeitungstechniken erfordern, um S. 2 (Original
Erkenntnisse zu gewinnen. auf Englisch).
BDA Big Data Ein ganzheitlicher Ansatz für die Verwaltung, Fosso Wamba
Analytics Verarbeitung und Analyse der 5 V-Daten-Dimensionen et al., 2020, S. 2
(d. h. Volumen, Vielfalt, Geschwindigkeit, (Original auf
Wahrhaftigkeit und Wert), um umsetzbare Ideen zu Englisch).
entwickeln und um nachhaltigen Wert und
Wettbewerbsvorteile aufzubauen.
BDAC Big Data Die Fähigkeit, mithilfe von Datenmanagement, Fosso Wamba
Analytics Infrastruktur (Technologie) und Talent (Personal) et al., 2017,
Capability ökonomisch relevante Erkenntnisse zu gewinnen, um S. 358 (Original
das Unternehmen im Wettbewerb zu stärken. auf Englisch).

Insofern verwundert es nicht, dass es Unternehmen oft schwerfällt, die ihnen vor-
liegenden Daten tatsächlich in unternehmerische Werte, in Wettbewerbsvorteile oder in
finanziellen Erfolg zu transferieren (Hagiu & Wright, 2020; Chin et al., 2017; Henke et al.
2017). Häufig ist daher auch der tatsächliche Wert der Daten unklar für das Unternehmen.
Das mögliche Potenzial der Daten wird dann nicht ausgeschöpft oder die vorliegende
Technologie wurde möglicherweise überschätzt (Hagiu & Wright, 2020). Unternehmen
müssen also auch innerhalb der Organisation Voraussetzungen schaffen, welche es ermög-
lichen, das Potenzial von Big Data und den damit verbundenen Praktiken tatsächlich nut-
zen zu können. Technologische Innovationen erfordern dann auch Innovationen im Ma-
nagement oder im Selbstverständnis einer Organisation.
Technisches Wissen und Management Wissen müssen somit miteinander verknüpft wer-
den, um die Ergebnisse der Datenanalyse überhaupt erst in Opportunitäten und letztlich in
unternehmerischen Wert zu transferieren. Technisches Wissen findet sich sowohl auf orga-
nisationaler als auch auf individueller Ebene der Mitarbeitenden. Auf organisationaler
Ebene geht es um die Daten selbst ebenso wie um die erforderliche Infrastruktur zu ihrer
Auswertung. Auf individueller Ebene braucht es darüber hinaus Kenntnisse zur Datenana-
lyse und -Interpretation, zum Beispiel durch die Position eines Data Scientist. Management
Fähigkeiten beinhalten strategische, koordinierende und planende Kenntnisse (Akter et al.,
2016). Erst die Kombination unterschiedlicher Fähigkeiten kann den Wert, der in Big Data
verborgen liegt, für ein Unternehmen nutzbar machen. Weder Technologie noch Manage-
ment können dies isoliert leisten, so dass das Potenzial, welches in Big Data liegt, bei einer
isolierten Betrachtung innerhalb nur einer dieser Disziplinen schnell übersehen wird (Chin
et al., 2017; Henke et al., 2016). Big Data braucht also eine gesamtheitliche Betrachtungs-
weise. Interessanterweise zeigen Studien, dass es gerade die individuellen Kenntnisse, und
die Fähigkeiten der Mitarbeitenden sind, die den wichtigsten Faktor in diesem Prozess dar-
stellen. Ohne das Wissen der Mitarbeitenden können Big Data kaum in unternehmerische
Werte oder in Vorteile im Wettbewerb umgewandelt werden (Akter et al., 2016).
562 P. Kugler

21.4 Dominante Management Logik

21.4.1 Was ist eine dominante Logik?

Die größten Hürden zum Ausschöpfen des Potenzials von Big Data liegen also weniger
auf der technischen Seite als darin, die notwendigen organisationalen und menschlichen
Voraussetzungen zum Erkennen und zur Nutzung des Potenzials überhaupt zu schaffen.
Dies wird auch in empirischen Erhebungen bestätigt (z. B. Kugler et al., 2020). Dahinter
verbergen sich verschiedene Faktoren, die häufig auch als „weiche“ Aspekte einer Organi-
sation bezeichnet werden, wie zum Beispiel fehlendes Wissen, Kompetenzen, Führungs-
aspekte, eine unklare Einbettung von Big Data in die Strategie der Unternehmen oder auch
die Kultur und das Mindset eines Unternehmens (siehe auch Kugler, 2020).
So zeigen Studien, dass viele Unternehmen es bislang nicht geschafft haben, eine
datengetriebene Organisationskultur zu entwickeln (Brown et  al., 2013; Mariani und
Fosso Wamba, 2020; New Vantage Partners LLC, 2017). Vielmehr fehlt es an einem
grundlegenden Verständnis dafür, wie das Unternehmen selbst, das Geschäftsmodell und
der Wertschöpfungsprozess verändert werden  müssen, um mit Big Data und Big Data
Praktiken zu arbeiten. Wie genau eine solche Kultur aussieht, ist bislang jedoch noch nicht
hinreichend geklärt. Jedoch scheinen die Denkweise der Organisationsmitglieder und die
Ausgestaltung der Organisation in enger Beziehung zu stehen. Diesen Aspekt greift die
Idee der dominanten Management-Logik auf (Prahalad & Bettis, 1986).
Als dominante Logik werden das strategische Mindset und die Handlungen eines Ma-
nagement Teams bezeichnet (Bettis et al., 2003), also die Art und Weise wie Manager ihr
Unternehmen und dessen Umwelt gedanklich wahrnehmen, kategorisieren und daraus ab-
geleitet Handlungen ergreifen. Eine dominante Logik ist die Art und Weise wie Individuen
„conceptualize the business and make critical resource allocation decisions  – be it in
technologies, product development, distribution, advertising, or in human resource ma-
nagement“ (Prahalad & Bettis, 1986, S.  490). Dahinter steckt die  grundlegende Frage,
warum es intelligenten, gut ausgebildete Managern oft schwerfällt, grundlegende struktu-
relle Veränderungen ihres Kerngeschäftes überhaupt wahrzunehmen oder rechtzeitig umzu-
setzen. Dies ist häufig vor dem Hintergrund technologischer Neuerungen oder Disruptio-
nen der Fall, so wie es für die Digitalisierung insgesamt und für die Nutzung von Big Data
in Unternehmen beschrieben wurde (siehe auch Kugler, 2020). Etablierten Unternehmen
gelingt es dann oft nicht, zu erkennen, wie sich ein Markt und die Bedürfnisse der Kunden
verändern und welche Konsequenzen sich daraus für das eigene Unternehmen ergeben.

21.4.2 Dominante Logik verhindert Veränderungen

Indem die Mitglieder eines Managementteams sich regelmäßig austauschen und ähnliche
Tools nutzen, gleicht sich ihr Wissen an. In der Folge werden die involvierten Personen
eine strategische Situation auch ähnlich interpretieren. Wie eine Situation in der Ver-
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 563

gangenheit eingeschätzt und wie auf diese reagiert wurde, beeinflusst also künftige Wahr-
nehmungen wie ein Filter. Menschen nehmen in einer unübersichtlichen Situation vor
allem das wahr, was sie bereits aus der Vergangenheit kennen, während Unbekanntes aus-
geblendet wird. Neue, unbekannte Phänomene werden dann häufig gar nicht wahr-
genommen, nicht ernst genommen oder falsch interpretiert. Dies ist insbesondere in sol-
chen Situationen der Fall, die  sehr unsicher, komplex oder voller widersprüchlicher
Informationen sind. Das Gehirn vereinfacht dann gerade solche Irritationen, die anhand
des Wissens aus der Vergangenheit nur schwer einzuschätzen sind (Bettis & Prahalad,
1995). Das Ergebnis ist dann die kollektive Fehleinschätzung einer sich verändernden
unternehmerischen Situation. Dieser Sachverhalt hindert etablierte Unternehmen oft
daran, sich auf disruptive Innovationen oder neue Technologien einzustellen.
Auch in unterschiedlichen Unternehmenstypen lassen sich verschiedene dominante
Logiken finden. Dies wird etwa deutlich am Beispiel der unterschiedlichen dominanten
Logik, die in produzierenden Unternehmen oder in Dienstleistungs-Unternehmen vor-
herrscht. Im Rahmen einer Produkte-dominanten Logik steht in einem produzierenden
Unternehmen stets der Austausch des hergestellten, physischen Produktes. In einem
Unternehmen, welches Dienstleistungen anbietet, geht es hingegen immer um einen ge-
meinsamen Co-Creation Prozess, in den Anbieter und Nutzer der Leistung involviert sind.
Eine solche Transaktion ist deutlich stärker beziehungsorientiert, nicht-physische Charak-
teristika spielen dann eine erhebliche Rolle im Prozess der Leistungserstellung. Häufig
fällt es produzierenden Unternehmen, die stärker lösungsorientierte Leistungen anbieten
möchten, schwer, die bestehende Produkte-dominante Logik in eine Service-dominante
Logik zu transferieren (Vargo & Lusch, 2004, 2006).
Die grundlegende Art des Geschäftes beeinflusst also, wie Unternehmen „funktionie-
ren“, das heißt, wie die Mitarbeitenden denken und handeln. Es wurde gezeigt, dass sich
eine auf Big Data fußende Wertschöpfung grundlegend von einer solchen unterscheidet,
die nicht auf der Analyse großer Datenmengen aufbaut. Insofern braucht es möglicher-
weise eine neue, Daten-dominante Logik, um das ganze Potenzial von Big Data für die
unternehmerische Wertschöpfung auszunutzen (Kugler, 2020). Erst wenige Erkenntnisse
liegen dazu vor, was eine solche Logik konkret charakterisiert. Eine Daten-dominante
Logik bezeichnet in diesem Zusammenhang „the guiding way in which the members of a
data-driven company think, act, and design their value creation process within and across
the boundaries of their organization“ (Kugler, 2020, S. 25).

21.4.3 Dominante Logik umfasst Denken und Handeln

Da eine dominante Logik ein kognitives Konzept ist, ist es schwierig bis unmöglich, dieses
direkt in Unternehmen zu beobachten. Möglich ist dies jedoch, indem aus individuellen und
organisationalen Denk- und Handlungsweisen (Jarzabkowski, 2001) auf eine vorherrschende
dominante Logik geschlossen wird. Auf individueller Ebene äußert sich diese Logik vor
allem im „Denken“, unter anderem in einem bestimmten Weltbild, in Überzeugungen
564 P. Kugler

oder auch in der Definition von Kriterien zur Bewertung eines Sachverhaltes. Individuel-
les Denken wird auf organisationaler Ebene in Handlungen umgesetzt und dadurch sicht-
bar. Dies zeigt sich unter anderem darin, in welchen Gremien oder auf welchen Platt-
formen Entscheidungen getroffen werden (wer wird als zuständig und kompetent
betrachtet?), ebenso in organisationalen Prozessen oder Verfahren. Auch auf organisatio-
naler Ebene findet gemeinsames „Denken“ statt, etwa durch die Kultur oder Identität einer
Organisation, die ein gemeinsames Selbstverständnis prägen. Eine zusammenfassende
Übersicht hierzu zeigt Tab. 21.3.
Individuelles und organisationales „Denken“ und „Handeln“ ermöglicht es in Unter-
nehmen, ein spezifisches Handlungsrepertoire aufzubauen, welches für künftige Situatio-
nen eingesetzt werden kann. Bei sich wiederholenden Situationen oder einer großen
Stabilität ist dieses Vorgehen effizient. Unter sich verändernden Bedingungen, zum
­Beispiel im Zusammenhang mit neuen Technologien oder Disruptionen, passen das eta­
blierte Handlungsrepertoire und die etablierte Logik jedoch nicht mehr, es braucht neue
Handlungsmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund gelingt es Unternehmen nicht, neue
Informationen mit den bisherigen Erkenntnissen, Handlungen, Strukturen zu verknüpfen
(Kugler, 2020). Unklar ist bisher, welches Denk- und Handlungsrepertoire Unternehmen
benötigen, in deren Wertschöpfung Big Data eine zentrale Rolle einnimmt.

Tab. 21.3  Indikatoren einer dominanten Logik


Analyseebene „Handeln“ „Denken“
Individuelle Ebene Individuelles Handeln und Überzeugungen, Annahmen,
Entscheiden Erwartungen, Interpretationen,
Individuelle Problemlösungen Hypothesen
Kognitive Schemata, Denkweisen,
Weltbild,
Konzeptualisierung des Geschäfts
Beschränkungen der Suchräume
Auswahl- und Bewertungskriterien
Definition Merkmale akzeptabler
Lösungen
Organisationale Leistungsangebot, Kernaktivitäten Kulturelle Werte und Normen
Ebene Organisations- und Management Organisationale Identität, Image
Prinzipien, formale Verfahren, Organizationale Routinen)
Administrative Werkzeuge Prozessuales Gedächtnis
Technologie-Anwendungen Sozialarchitektur des
Zielsetzungen, Entscheidungsgremien Unternehmens
Systeme, Strukturen, Denkweise des Top Management
Prozesse, Verfahren, Produkte, Marke Teams
In Anlehnung an Kugler, 2020, S. 19. Mit freundlicher Genehmigung von Technology Information
Management Review auf Grundlage der Open Budapest License. Original auf Englisch.
Quellen: Bettis & Prahalad, 1995; Côté et al., 1999; Grant, 1988; Jarzabkowski, 2001; Lampel &
Shamsie, 2000; Obloj et al., 2010; Pan, 2017; Prahalad, 2004; Prahalad & Bettis, 1986; Vargo &
Lusch, 2004.
21  Aus Big Data wird Big Value: Warum es eine Daten-dominante Logik braucht 565

21.5 Fazit

Ziel des Beitrages war es, aufbauend auf bisherigen Erkenntnissen aus der Literatur auf-
zuzeigen, dass die Digitalisierung allgemein und insbesondere Big Data zu einer grund-
legend neuen Logik auf Märkten und in Organisationen führen . Um das Potenzial von Big
Data wertschöpfend nutzen zu können, brauchen Unternehmen solche Fähigkeiten, wel-
che die besonderen Charakteristika der Daten nutzen. Der Beitrag kommt zu dem Ergeb-
nis, dass datengetriebene Unternehmen eine Daten-dominante Logik erfordern, die sich
von der Logik vieler traditioneller (analoger) Unternehmen unterscheidet. Diese beein-
flusst sowohl das Denken als auch das Handeln im unternehmerischen Kontext.
Aus wissenschaftlicher Sicht tragen die Ergebnisse des Beitrages zu mehreren Literatur-
strömen bei. Der Beitrag hilft dabei, zu verstehen, wie Daten als strategische Ressource im
Rahmen der Wertschöpfung gezielt eingesetzt werden können. Die Diskussion baut auf
Erkenntnissen aus den Literaturströmen zu Big Data in einem strategischen Kontext und
zum Ressourcen- und Fähigkeits-basierten Ansatz (RBV, CBV) auf. Auch eine Daten-­
dominante Logik kann als organisationale Fähigkeit gelten. Aus praxisorientierter Sicht
trägt der Beitrag dazu bei, Unternehmen bei der Umsetzung der digitalen Transformation
zu unterstützen, insbesondere bei der Arbeit mit Daten und Data Science Praktiken. Der
Beitrag hilft dabei zu verstehen, auf welche Hürden die Arbeit mit Daten im Unternehmen
stößt und wo Unternehmen ansetzen müssen, um dies zu tun. Im Zentrum steht dabei die
dominante Logik, nach welcher das Unternehmen funktioniert und gestaltet wird.
Der Beitrag ist als Anstoß zu verstehen, genauer zu untersuchen, was eine Daten-­
dominate Logik konkret charakterisiert und wie diese von Unternehmen gestaltet werden
kann. Diese Fragen konnten im Rahmen der Diskussion nicht beantwortet werden. Der
Beitrag ist jedoch ein wichtiger Schritt, um überhaupt zu verstehen, dass Big Data die
richtigen organisationalen Rahmenbedingungen brauchen, um deren Potenzial Big Value
zu generieren, überhaupt ausgeschöpft werden kann. Der Beitrag zeigt implizit zudem auf,
dass technologische Veränderungen nicht ohne Veränderungen im Management einher-
gehen. Insofern liegt eine interessante offene Frage darin, ob technologische Disruptionen
notwendigerweise auch von Disruptionen im Management begleitet werden müssen und
ob eine dominante Logik ein Bindeglied zwischen diesen Veränderungen darstellt.

21.6 Danksagung

Der Beitrag wurde im Rahmen des Projektes „ABH 097 Data Sharing Framework“ aus
Mitteln des Interreg-Programms „Alpenrhein-Bodensee-Hochrhein gefördert. Die Mittel
des Interreg-Programms werden vom Europäischen Fonds für regionale Entwicklung
(EFRE) und vom Schweizer Bund zur Verfügung gestellt.
566 P. Kugler

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Petra Kugler  ist Professorin für Strategie und Management am In­


stitut für Unternehmensführung der OST – Ostschweizer Fachhoch-
schule in St.Gallen. Im Rahmen der Forschung beschäftigt sie sich mit
der Schnittstelle zwischen Innovation, Strategie und Management und
darauf, wie Unternehmen auch in turbulenten Zeiten nachhaltige
Wettbewerbsvorteile generieren und schützen können. Sie interessiert
sich besonders für strategische Innovation, Management Innovation,
digitale Technologien, die widersprüchliche Natur von Innovation und
Koordination in Organisationen und deren Wirkung auf den Wett-
bewerb. Sie promovierte an der Universität St.Gallen (HSG), war in
der Werbung tätig und sammelte internationale akademische Er-
fahrung durch verschiedene Stipendien, u.  a. ein Stipendium des
Schweizerischen Nationalfonds für ein Forschungsjahr an der Uni-
versity of California, Berkeley.
Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung
funktioniert! 22
Digitalisierung von Geschäftsprozessen am Beispiel des
Auftragsmanagementprozesses

Francesco Fusaro

Nur wer sein Ziel kennt, findet seinen Weg.


(Epiktet, Philosoph, 50–125 n. Chr.)

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird der praktische Aspekt der Digitalisierung von Geschäfts-
prozessen beleuchtet. Speziell werden die Besonderheiten bei der Digitalisierung der
Auftragsmanagementprozesse behandelt.
Nach einem Rückblick auf die jüngsten Entwicklungen der Digitalisierung in
Deutschland werden zunächst die Erfolgsfaktoren der Digitalisierung, aber auch die
häufigsten Gründe für das Scheitern von solchen Vorhaben betrachtet.
Danach bietet der Autor den Lesenden eine grobe Skizze für den Ablauf eines
Digitalisierungsprojekts an, indem er die drei Phasen eines Digitalisierungsprojekts,
von der Initiierung bis zum Go-Live der neuen Software-Lösung, beschreibt.
Als Bonus liefert der Autor, der als Digitalisierungsexperte den Deutschen Mittel-
stand in der Digitalisierung begleitet, ein Praxisbeispiel, in dem sich viele Unternehmen
wiederfinden können.

F. Fusaro (*)
FUSARO Unternehmensentwicklung,
Leinfelden-Echterdingen, Deutschland
E-Mail: ff@fusaro.eu

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 569


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_22
570 F. Fusaro

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Prozessmanagement · Auftragsmanagement · Digitale


Transformation · Projektmanagement · Teammanagement · Teamentwicklung · High
Performance Teams · Krisenmanagement · Strategieimplementierung ·
Anforderungsmanagement · Softwareauswahl · Softwareimplementierung ·
Projektmanagement · Unternehmensberatung

22.1 Für wen ist dieses Kapitel geschrieben?

Wir schreiben das Jahr 2021. Viele deutsche Unternehmen sind die ersten Schritte in der
Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse gegangen. Manche haben bereits ein erstes großes
Digitalisierungsprojekt hinter sich gebracht, das zeigen Umfrageergebnisse des DIHK
(https://www.dihk.de/resource/blob/35410/e090fdfd44f3ced7d374ac3e17ae2599/ihk-­
digitalisierungsumfrage-­2021-­data.pdf, 2021). Ich persönlich schätze, dass die meisten
Mittelstandsunternehmen bis 1500 Mitarbeiter jedoch noch keine oder nur kleine Erfolge
in der Digitalisierung ihrer wertschöpfenden Geschäftsprozesse erreicht haben.
Die Wichtigkeit des Themas sowie der gesamten Digitalen Transformation ist in den
Führungsetagen des Mittelstands angekommen. Nur sind die Gehversuche oft Versuche
geblieben. Für manche Wenige ist aus dem Traum vom digitalen Unternehmen zwischen-
zeitlich ein Albtraum geworden.
Doch woran liegt es, dass das eine Unternehmen die Digitalisierung oder die Digitale
Transformation besser hinbekommt als das andere?
Ich möchte in diesem Kapitel versuchen, diese Frage zu beantworten. Und ich möchte
Ihnen aufzeigen, wie Sie mit deutlich reduzierten Reibungsverlusten zum Ziel gelangen.
Dazu möchte ich darauf hinweisen, dass die Ausführungen in diesem Kapitel auf mei-
nen Erfahrungen in der Digitalisierung von Auftragsmanagement- und Field Service-­
Prozessen bauen. Meine Kunden beschäftigen zwischen 500 und 1500 Mitarbeiter*innen.
Sie sind in den vergangenen Jahren stark gewachsen und sie sind vorwiegend Teil der so-
genannten Kritischen Infrastruktur (KRITIS), zu der beispielsweise Bauunternehmen,
Energieversorger, Netzbetreiber und -Errichter, Telekommunikationsunternehmen und
mehr zählen. Eben alle Unternehmen, die dafür sorgen, dass Menschen unter anderem mit
Strom, Gas, Wasser, Fernsehen, Radio und dem Internet versorgt werden.
Diese Unternehmen halten eine große Anzahl an sogenannten Field Service-­Arbeitskräften
vor. Das sind Kolonnenführer, Monteure, Service Techniker, Entstörungsspezialisten und
mehr. Damit die Aufträge in kurzer Zeit fehlerfrei und in bester Qualität abgearbeitet werden
können, sind die richtigen Werkzeuge notwendig. Und genau dabei unterstütze ich meine Kun-
den. Ich sorge dafür, dass die Profis auch Profiwerkzeuge zur Verfügung haben. Oder haben Sie
schon einen Landschaftsgärtner mit einem Discounter-­Werkzeug bei der Arbeit gesehen? Eben.
Ich stelle ab Abschn.  22.4 eine Blaupause vor, die Sie in jeder Phase Ihres
Digitalisierungsprojekts konsultieren können. Für die Ausgestaltung sind jedoch Sie allein
verantwortlich. Kein Prozess der Welt kann Ihnen ohne Anpassungen als Anleitung die-
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 571

nen. Execution is King! Für alle Punkte, die Sie in dieser Abhandlung lesen werden, gilt
das Pareto-Prinzip (Laukat, 1999). Aber nicht, wie Sie jetzt vielleicht denken. „Gehen Sie
mit einer 80 %-Lösung ins Rennen, die restlichen 20 % erarbeiten Sie im Praxiseinsatz“.
Nein, ich schlage Ihnen sogar vor, dass Sie mit einer 20 %-Lösung schon loslegen können.
Nicht in allen Fällen, aber, Sie ahnen es bereits, in 80 % der Fälle ist das möglich.
Vergeuden Sie also nicht mehr Zeit für die Planung und Konzeption wie nötig. Wie
einst Franz Beckenbauer schon sagte: „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine spannende und inspirierende Lektüre und viel
Erfolg bei Ihren Digitalisierungsvorhaben.
Ich stehe Ihnen gerne für Ihre Fragen zur Verfügung. Schreiben Sie diese direkt an
mich. E-Mails finden ihren Weg in mein Postfach unter ff@fusaro.eu.

22.2 Digitalisierung in Deutschland

22.2.1 Stand der Digitalisierung in Deutschland

„Bis 2021 ist Deutschlands Verwaltung komplett digital.“ (https://www.wiwo.de/politik/


deutschland/altmaier-­b eim-­h andelsblatt-­w irtschaftsclub-­b is-­2 021-­i st-­d eutschlands-­
verwaltung-­komplett-­digital/20319692.html, 2021, Bundeswirtschaftsminister Peter Alt-
maier (CDU), 2017)

Im Gegensatz zu den meistern Politiker*innen vergisst das Internet nichts und im Juni
2021 erfährt dieses Zitat des Bundeswirtschaftsministers eine Renaissance, die er sich so
sicher nicht vorgestellt hat. Er war im gleichen Atemzug sogar bereit, zwölf Flaschen
guten Grauburgunder darauf zu verwetten, dass diese vollumfängliche Digitalisierung der
Verwaltung auch wirklich klappe.
Die erste Frage ist nun natürlich: Wer bekommt den Wein? Denn wenn in der Endphase
der Corona-Pandemie eine Sache klar ist, dann dass es Deutschland nicht gelungen ist,
seine gesamte Verwaltung zu digitalisieren. Aber vielleicht war es auch zu ambitioniert,
mit der Verwaltung gleich eine nahezu monströs gewachsene Institution anzugehen, die in
unserem Land nahezu heilig ist.

Ein Blick in die Praxis: Digitalisierung im Gesundheitswesen


Aber vielleicht waren die Bemühungen ja im Kleinen erfolgreicher? Schauen wir uns doch
aus gegebenem Anlass mal das Gesundheitswesen an. So viel vorweg: Es hat nicht funk-
tioniert. Die Digitalisierung war als Thema nicht präsent, es gab keine Budgets und kaum
IT-Kompetenzen. Zudem waren die Einrichtungen unterbesetzt  – und unterdigitalisiert.
Klingt vertraut? Das liegt daran, dass viele der Versäumnisse, die in den Gesundheits-
ämtern zu beobachten waren, symptomatisch für den Zustand der Digitalisierung im ge-
samten Land sind.
572 F. Fusaro

Zur Illustration eine Anekdote aus dem Gesundheitsamt Aachen: Hier schickten die
Labore im Frühjahr 2020 jeden Tag die Testergebnisse der positiven Fälle an das Gesund-
heitsamt. Per Fax. Diese Faxe wurden dann manuell in den Computer übertragen. Pro Fall
dauerte das knapp 20 Minuten. Anschließend wurden zunächst die Betroffenen angerufen
und schließlich wurden diese Daten wieder ausgedruckt und zur zentralen Datensammlung
an das RKI gefaxt.
Keine Vernetzung unter den Gesundheitsämtern sowie mit Laboren oder dem RKI. Kein
Geld, Angst vor Komplexität und Desinteresse an den entscheidenden Positionen – was im
Gesundheitssektor zu beobachten war, unterscheidet sich nur wenig von der Situation in
anderen Bereichen der Gesellschaft, die vor der digitalen Transformation stehen.

Wenn viel nicht viel hilft


Und wie immer, wenn in Deutschland derart eklatante Versäumnisse offenbar werden,
lassen weder das milliardenschwere Investitionsprogramm noch die entsprechend giganti-
sche Softwarelösung lange auf sich warten.

DEMIS ist das „Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den
Infektionsschutz“. Es soll alle Meldungen an das Gesundheitsamt digitalisieren. Dafür jedoch
müssten auch Arztpraxen, Pflegeheime oder Krankenhäuser daran angeschlossen werden.
Und obwohl das Projekt bereits seit 2014 läuft, funktioniert bislang nur die Schnittstelle zu
den Laboren einwandfrei. Betrachtet man Zeit, Investition und Ergebnis, sind dies zwar noch
keine BER-Verhältnisse. Aber ein Land, dessen Wirtschaftsminister sich wünscht, dass seine
Digitalwirtschaft so stark werden solle, wie sein Maschinenbau, sollte es besser können.
Was uns zum Punkt führt, dass sich die Grundprobleme der Digitalisierung in den
Gesundheitsämtern problemlos auf die digitale Transformation im gesamten Land über-
tragen lassen:

• IT-Strukturen sind (sofern vorhanden) über Jahrzehnte gewachsen und lassen sich nur
schwerlich umbauen, bzw. mit anderen Systemen verknüpfen. Territorialkämpfe, Ent-
scheidungsschwäche und unklare Verantwortlichkeiten erschweren die Situation zu-
sätzlich.
• Prozesse, die sich seit Jahren kaum verändert haben, treffen auf eine Vielzahl ver-
schiedener Software-Lösungen: Fachanbieter sind mit ihren Produkten ebenso ver-
treten, wie lokale Softwareschmieden oder Eigenentwicklungen. Keine Spur einer
übergeordneten, gemeinsamen Strategie bzw. miteinander kompatibler Lösungen.
• Ziel und Weg werden verwechselt. 2020 sollte mit SORMAS (Surveillance, Outbreak
Response Management and Analysis System) eine vom Helmholtz-Zentrum für
Infektionsforschung (HZI) und dem Deutschen Zentrum für Infektionsforschung
(DZIF) entwickelte Software zum Management für Maßnahmen zur Epidemiebe­
kämpfung in den Gesundheitsämtern implementiert werden. Viele weigerten sich zu-
nächst, stimmten dann nach Druck durch die Politik zu, verwendetet sie dann aber
nicht. Der Grund: Die Software war überdimensioniert, zu weit weg von der Praxis und
ließ sich nur schwer individualisieren. Fazit der Anwender*innen an der Front: Soft-
ware, die sowohl staatlich verordnet als auch programmiert wird, schaffe mehr Pro­
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 573

bleme als sie löse. Denn eigentlich wünschten sich die Gesundheitsämter nur einheit-
liche Schnittstellen und Standards, um ihr Ziel zu erreichen: Datenaustausch un­tereinander.
Der Weg dorthin ist nicht automatisch eine Multi-Millionen-Euro-Software, die
zwangsimplementiert wird. Schließlich braucht auch nicht jeder Rechner in Deutsch-
land Outlook, nur um E-Mails zu schreiben.

22.2.2 Irgendwo zwischen Theorie und Praxis

Viele der Problemfelder, die sich bei Digitalisierungsprojekten in Unternehmen be-


obachten lassen, erkennt man auch bei Projekten der öffentlichen Hand. Wie etwa
die Kluft zwischen theoretischer Ausarbeitung eines Projektes und der praktischen
Anwendung.
Viel zu oft beobachten wir zwei Fälle:

1. Bei der Konzeption einer Software wird jeder noch so marginale Anwendungsfall be-
rücksichtigt. Dies bläht Code und User Interface immer weiter auf und führt dazu, dass
die Software später nur unter großen Mühen zu implementieren und zu warten ist.
Auch die Bedienung kostet die Anwender*innen viele Nerven und ist nur selten mit
Freude verbunden.
2. Die Software wird nur für eine idealisierte Version der Anwendung entwickelt und lässt
sich später nur mit erheblichem Kostenaufwand anpassen.

Beide Fälle werden dadurch noch weiter verkompliziert, dass die ewigen Fragen nach
Budget und Verantwortung mehr Konfliktpotenzial in sich tragen, als dies einem effizien-
ten Projektmanagement zuträglich wäre. Denn leider sind Software-Entscheidungen
immer auch Gremien-Entscheidungen. Und Gremien haben es nun mal so an sich, dass sie
nicht immer durchgängig ausschließlich mit Experten zum gerade debattierten Thema be-
setzt sind. Die Folge sind Lösungen, die versuchen, es allen recht zu machen. Bei dieser
Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners bleiben sowohl ein intuitiv bedienbares User
Interface als auch ein tatsächlicher Praxisbezug auf der Strecke.
Apropos Praxisbezug. Hier hapert es in Deutschland immer noch am meisten. Denn je
größer ein Digitalisierungsprojekt, desto ausgeprägter ist auch der Wunsch der Verantwort-
lichen, es wirklich allen Beteiligten recht zu machen, die später einmal mit der Lösung
arbeiten sollen. Und das sind nicht nur die Key User, die das Tool zu 80 % nutzen und
deren Meinung für ihre Kolleginnen und Kollegen zählt. Und wenn diese Multiplikatoren
dann mit Pauken und Trompeten ihre neue Megasoftware vorgestellt bekommen und
sehen, dass die für sie wichtigste Funktion in der dritten Navigationsebene versteckt ist,
kehrt Ernüchterung ein. Und diese wandelt sich auch dann nicht in Begeisterung, wenn
klar wird, dass Schnittstellen zu anderen genutzten Programmen erst noch entwickelt wer-
den müssen. All das führt dazu, dass die Software zwar installiert ist aber im Tagesgeschäft
meist wenig Verwendung findet.
574 F. Fusaro

Zusammengefasst: Woran gebricht es also in Deutschland bei der Überbrückung der


Kluft zwischen Theorie und Praxis?

• Zu viel Fokus auf Details und zu wenig Mut zu echten 80/20-Entscheidungen


• Unbedingter Praxisbezug, idealerweise mit konstanten Usertests
• Engere Beteiligung der Key User aus der Praxis
• Individualisierbare Lösungen mit entsprechenden Schnittstellen

22.2.3 Quo vadis? Ein Digitalisierungsausblick

Im europäischen Vergleich steht Deutschland hinsichtlich der Digitalisierung von Wirt-


schaft und Gesellschaft nur an zwölfter Stelle. Kleinere Länder wie zum Beispiel Irland
und natürlich das Baltikum sind uns hier inzwischen weit voraus.
Dabei hat die Digitalisierung in Deutschland viele Bereiche erfasst und vor allem die
großen Player sind hinsichtlich Industrie 4.0 immer besser aufgestellt. Ein Bereich aber
wirkt angesichts der digitalen Transformation immer noch ein bisschen wie das berühmte
gallische Dorf: Der Mittelstand. Doch gerade hier liegt die entscheidende Hürde für digi-
tale Transformation Made in Germany. Denn Deutschlands KMU sind nicht nur öko-
nomisches Rückgrat der Volkswirtschaft, sondern sogar identitätsstiftend für das teutoni-
sche Selbstverständnis als Exportweltmeister.

Der Mittelstand – Schlüssel zum Erfolg


Solange unsere Hidden Champions nicht aus ihrem digitalen Dornröschenschlaf auf-
wachen, wird sich Deutschland auch weiterhin nur schleppend digital transformieren.
Schließlich werden knapp 78 Prozent des Umsatzes im Bau- und Gastgewerbe in KMU
erzielt. Und 57 Prozent der erwerbstätigen Personen sind laut Statistischem Bundesamt in
kleinen und mittleren Unternehmen tätig. Angesichts dieser Zahlen wird deutlich: Die
ausbleibende Digitalisierung betrifft also jede und jeden zweiten Arbeitnehmenden.

Ein Grund für diese Schwierigkeiten ist eine typisch deutsche Prozesstreue. Diese wird
vielleicht am besten versinnbildlicht durch das fast schon sprichwörtliche „Das haben wir
schon immer so gemacht“. Unsere Erfahrung zeigt: Je kleiner das KMU, desto fester ver-
ankert und desto älter sind hier die Prozesse. Eng damit verwandt ist die immer wieder zu
beobachtende Liebe zum Detail. Wenn hierzulande ein Konzept oder Prozess entwickelt
wird, kann man davon ausgehen, dass die Verantwortlichen versuchen werden, jeden noch
so peripheren Aspekt komplett zu berücksichtigen. Die deutsche Impfkampagne während
der Corona-Pandemie ist hierfür ein gutes Beispiel. Und diese Liebe zum Detail kommt
beim Maschinenbau auch gut an  – bei der Digitalisierung jedoch ist sie eher kontra-
produktiv. Denn in den Jahren der Konzeptionierung hat sich die untersuchte Technik
schon dreimal weiterentwickelt und am Ende ist das Konzept schon veraltet, bevor auch
nur eine Zeile Code geschrieben wurde.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 575

Konstant und nachhaltig überzeugen


Dabei ist die Situation klar: Wer im globalen Wettbewerb nicht untergehen will, muss di-
gitalisieren. Denn die Gewissheit, dass einem das eigene Marktsegment von der Wiege bis
zur Bahre gehört, erodiert zusehends: Start-ups und IT-Unternehmen sind auf einmal in
Bereichen jenseits ihres Kerngeschäfts aktiv. Zum Beispiel wird der Automotive-Sektor
zusehends von vermeintlich bislang in diesem Segment kaum präsenten Software- und
Hardware-Firmen aufgerollt, deren Komponenten die Mobilität der Zukunft prägen werden.

Und genau hier beginnt oft das Umdenken – denn wenn ein sicher geglaubter Auftrag
auf einmal an einen Wettbewerber (womöglich noch branchenfremd!) geht, wird oft die
Frage gestellt: Was machen die besser als wir? Und nicht selten landet man auf der Suche
nach Antworten bei der Digitalisierung. Oder vielmehr: Beim Ausbleiben ebendieser. Die
gute Nachricht: Ist das Bewusstsein für die Problematik der Digitalisierung erst einmal
vorhanden, ist die Umsetzung zwar keine reine Formalie mehr (das sehen wir in den nach-
folgenden Abschnitten), aber der Dringlichkeit sind sich alle Beteiligten bewusst. Diese
Erfahrung haben zumindest wir in unserer täglichen Arbeit gemacht.

Die Rahmenbedingungen stimmen


Zugegeben: Die Themen Netzabdeckung, Glasfaser und Fachkräfte sind drei nicht zu
unterschätzende Hürden auf dem Weg Deutschlands in eine goldene digitale Zukunft.
Und sämtliche Witze, die hierzu durchs Netz geistern, haben ihre Daseinsberechtigung.
Aber wenn man sich die Fakten anschaut, sind die Rahmenbedingungen für eine erfolg-
reiche Digitalisierung gar nicht so schlecht: Der Anteil an Festnetz-Breitbandanschlüssen
ist führend in der EU. Und bei den grundlegenden digitalen Kompetenzen und den grund-
legenden Softwarekompetenzen der Arbeitnehmer*innen liegt Deutschland an respektab-
ler fünfter Stelle. (https://www.destatis.de/DE/Themen/Branchen-­Unternehmen/Unter-
nehmen/Kleine-­Unternehmen-­Mittlere-­Unternehmen/aktuell-­umsatz.html, 2021)

Aber: Hinsichtlich der Abdeckung der Netze mit sehr hoher Kapazität (Very High Ca-
pacity Networks  – VHCN) liegt Deutschland nur auf Rang 21 und damit unter dem
EU-Durchschnitt. Ebenso erreicht es bei der Digitalisierung der öffentlichen Dienste nur
für den 21. Platz. Und auch die Integration digitaler Technik in industrielle Abläufe geht
nur zäh voran. Eine LinkedIn-Seite reicht eben nicht aus, um sich als Unternehmen mit
dem Etikett „Digitalchampion“ zu schmücken.

Ängste ernst nehmen


Digitale Transformation funktioniert nur mit den Menschen – und nicht gegen sie. Des-
wegen ist ein Schlüssel für erfolgreiche Digitalisierungs-Projekte, diese auch als Ver-
änderungsprojekte zu begreifen, in denen es vor allem um die darin involvierten Menschen
geht. Denn eine Software, die nicht von Menschen benutzt und gelebt wird, ist nichts wert.
Und eben weil die digitale Transformation das Potenzial hat, unser aller Leben grund-
576 F. Fusaro

legend zu verändern, ist es umso wichtiger, die Lücke zu schließen, zwischen dem Wunsch
nach Bequemlichkeit und Zeitersparnis auf der einen und den Ängsten auf der anderen
Seite. Damit die Menschen die Digitalisierung als tatsächliche Chance begreifen, brau-
chen sie Sicherheit und Transparenz. Sie müssen sich sicher sein können, dass die Digita-
lisierung nach klaren Regeln abläuft und dass die Politik dafür sorgt, dass alle beteiligten
Parteien diese Regeln auch einhalten. Wenn dies gegeben ist und sich Deutschland zudem
endlich vom leidigen „Weiter so“ verabschiedet, kann aus dem Land der Dichter und Den-
ker vielleicht ja tatsächlich noch das Land der Developer und Data Scientists werden.

22.3 Erfolgsfaktoren in der Umsetzung


von Digitalisierungsvorhaben

Die Digitalisierung stellt Unternehmen vor große Herausforderungen. Genauer gesagt


ist hiermit die Umsetzung von Digitalisierungsvorhaben oder Digitalisierungsprojekten
gemeint.
Das legt erst einmal die Frage nahe, wo die Unterschiede zwischen einem Digitalisierungs-
projekt und einem „normalen“ Projekt, wie es die meisten Unternehmen regelmäßig und in
hoher Anzahl durchführen, liegen. In diesem Abschnitt werden außerdem die Fragen be-
antwortet, welches die größten Fehler bei der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten
und welches die Erfolgsfaktoren eben jener Projekte sind.
Dabei beziehe ich mich in diesem Beitrag auf Projekte mit den folgenden Merkmalen:
(Angaben des Autors, Erfahrungen aus der Praxis als selbständiger Digitalisierungs-
berater, o .J.)

• Die Digitalisierung beschränkt sich auf die Abbildung der Auftragsmanagement-, Dis-
positions- und Field Service-Prozesse
• Die Projekte finden in Unternehmen mit einer Mitarbeiteranzahl zwischen 500 und
1500 statt
• Die Anzahl der Lizenzen beträgt zwischen 150 und 850 Stück
• Die Investitionssumme beläuft sich auf Werte zwischen 500.000 € und 3.600.000 €
• Die Projektdauer liegt im Durchschnitt bei ~16 Monaten

Digitalisierungsprojekte vs. „normale Projekte“


Ein Digitalisierungsprojekt besitzt im Vergleich zu sonstigen Projekten in der Regel:

1 . Sehr viele Schnittstellen in die verschiedensten Abteilungen eines Unternehmens.


2. Eine besondere Form der Neuartigkeit. Ein Projekt sollte immer einen neuartigen und
einmaligen Charakter besitzen, ansonsten ist es Bestandteil des Tagesgeschäfts. Bei
Digitalisierungsprojekten treffen die Neuartigkeit als Definition des Projekts auf die
Neuartigkeit eines Leuchtturmprojekts, der Projektmanagementmethodik, der Ver-
änderungstiefe, aber auch auf die Größe des Projekts.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 577

3. Die Eigenschaft, dass ein tiefgreifender Wandel in der Organisation des Unternehmens
einhergeht.
4. Die Anforderungen an verschiedenste Fachbereiche, die meistens so noch nicht in
einem Projekt zusammengearbeitet haben.
5. Als Ergebnis meistens den Einsatz neuer Technologien, was branchenabhängig variie-
ren kann.
6. Eine Renaissancekraft für ein Unternehmen, da es fortan die Chance hat, auf weitaus
mehr Daten Zugriff zu haben, als es bisher der Fall war.
7. Besondere Anforderungen an das Management bzw. den oder die Auftraggeber, was
die Führung eines solchen Projekts und vor allem der Menschen, die im Projektteam
arbeiten, angeht.

Die Liste lässt sich fast beliebig fortführen und ist natürlich keinesfalls als exklusiv für
Digitalisierungsprojekte zu verstehen. Jedoch haben sich in meiner Praxis diese Ver-
änderungen stets gezeigt. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus meinem Tätig-
keitsgebiet lässt ebenfalls den Schluss gut und gerne zu.

22.3.1 Gründe für das Scheitern von Digitalisierungsvorhaben

Schaut man auf die Ergebnisse verschiedener Studien, Umfragen und sonstigen Er-
hebungen, die sich auf die Erfolgswahrscheinlichkeiten eines Digitalisierungsprojekts fo-
kussieren, bekommt man in der Regel folgendes zu lesen:

• Das Scheitern von Digitalisierungsprojekten kostet im Schnitt 1,1 Millionen € in


Deutschland (Fujitsu, 2017).
• 80 Prozent der Digitalisierungsprojekte scheitern (Braun & Mahayni, 2020).
• In Deutschland werden hauptsächlich Geschäftsprozesse digitalisiert. Das bedeutet,
dass die Digitalisierung und nicht die Digitale Transformation im Vordergrund steht.

An Negativ-Beispielen mangelt es nicht

„Europas Impfpass-Server stehen bereit, doch das Gesetz dazu lässt noch auf sich warten. In
Deutschland wurde dabei vor allem zu wenig an die Hausärzte gedacht.“ (Herwartz & Klöck-
ner, 2021) Handelsblatt 15.05.2021

Um es noch deutlicher zu machen, nehmen wir uns eine der Wirtschaftsmeldungen zum
Thema Digitalisierung willkürlich heraus. Bei oben abgedrucktem Zitat handelt es sich
um den Einleitungstext eines Artikels, der am 15.05.2021 im Handelsblatt erschien. Der
Artikel handelt von den europäischen Bestrebungen, einen einheitlichen digitalen Impf-
pass ins Leben zu rufen, der die Papier-Impfpässe ersetzen soll.
Der Zeitplan sehe laut Gesundheitsminister Jens Spahn vor, dass der digitale Impfpass
in Form der CovPass-App Ende Juni in Deutschland ausgerollt werden solle (Herwartz &
578 F. Fusaro

Klöckner, 2021). Sie als Leser werden zum Zeitpunkt der Lektüre wissen, ob Herr Spahn
Recht behalten sollte oder nicht. Ich kann den Autoren des Artikels nur beipflichten und
meine berechtigten Zweifel ob der Einhaltung des Zeitplans kundtun. In diesem Projekt
wurden die Projektphasen komplett vertauscht. Die IT-Infrastruktur steht hier schon vor
dem Konzept. Dieses kann nicht vollständig sein, wenn noch nicht einmal die Anwender,
in diesem Fall die Hausärzte, wissen, wie die App zu verwenden sei. Der Prozess steht
nicht, von einer Kommunikationsstrategie ganz zu schweigen. Am Ende zahlt dafür der
Verbraucher mit seinem Steueraufkommen und dem endlosen Ärger, der durch die Un-
wissenheit aller handelnden Beteiligten zwangsläufig entstehen wird.
Sie glauben, dass privatwirtschaftlich geführte Unternehmen aus diesen Fehlern lernen
und es besser machen? Hierfür möchte ich für Sie als Leser*innen Einflussfaktoren für das
Scheitern von Digitalisierungsprojekten aufzeigen.
Was sind aber die Gründe, weshalb Digitalisierungsvorhaben in deutschen Unter-
nehmen so oft scheitern, und vor allem im internationalen Vergleich mehr als doppelt so
teuer sind? Ich möchte nachfolgend einige dieser Gründe aufzeigen, die für das Scheitern
von Digitalisierungsprojekten verantwortlich gemacht werden können. Die Nennungen
sind keineswegs nur theoretischer Natur, sondern sie bestehen aus Beobachtungen meiner
praktischen Erfahrung als Unternehmensberater.

22.3.1.1 Aktionismus
Die Margen werden kleiner, das Geschäftsmodell bleibt das alte. Die Kundenzufriedenheit
sinkt, eine zielgerichtete Interaktion mit den Kunden bleibt aus. Der Wettbewerb gewinnt
immer spürbarer Marktanteile, die Sicherheit der vergangenen Jahrzehnte schwindet.
Was kommt ist der Angstschweiß und was bleibt ist der fahle Geschmack im Mund,
nun endlich etwas tun zu müssen, aber nicht die richtigen Werkzeuge und Rezepte im
Holster zu haben.
Es bleiben nur zwei Reaktionsmöglichkeiten: entweder der Angriff oder die Flucht.
Letztere kommt per se nicht infrage, und wenn sie doch gewählt wird, dauert der Nieder-
gang nicht lange und das Unternehmen blutet langsam, aber sicher aus. Zug nicht nur
verpasst, sondern auch davon überfahren worden!
Da muss die Management-Entscheidung her, es wird die Digitalisierungs-Bazooka aus-
gepackt. Vorhandene Budgets werden geplündert, umgelagert, großzügig mit freien Ge-
schäftsführer- oder Vorstandsbudgettöpfen angereichert. Doch entpuppt sich die Bazooka
nur allzu oft als Wasserpistole, mit der versucht wird, den lichterloh brennenden Wett-
bewerbsvorteil zu löschen, indem neue Hochglanzwebseiten oder unnütze und überteuerte
Software ohne Plan oder gar einer Strategie eingekauft werden.

22.3.1.2 Unklares Zielbild


Die Digitalisierung eines Unternehmens ist kein Selbstzweck. Es braucht ein klares Ziel-
bild, eine plakative Daseinsberechtigung, die von allen Stakeholdern des Unternehmens
verstanden werden kann. Diese Orientierungshilfe dient in allen Phasen des Projekts als
Leuchtturm, an dem sich die Projektteammitglieder immer wieder ausrichten können.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 579

Fehlt das Zielbild, entsteht Chaos und Wildwuchs. Eine einheitliche Lösung kann dann
nicht mehr gefunden werden. In dieser Situation kämpft die Projektleitung gegen
­Windmühlen. Immer wieder werden neue Schaubilder gezeichnet, die den Endzustand der
Softwarefunktionen skizzieren sollen, neue Zeitpläne erstellt und so weiter.

22.3.1.3 Schlechte Kommunikation


„Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick et al., 2007). So formulierte es Paul
Watzlawick 1969 mit seinen beiden Kollegen Janet H. Beavin und Don D. Jackson. Was
sie damit ausdrücken wollten, war, dass kein Mensch jemals nicht kommuniziert oder
damit aufhört, es sozusagen pausieren kann. Kommunikation findet immer statt und muss
nicht zwingend verbaler Natur sein. Wir kommunizieren öfter non-verbal als verbal.
Darum ist in diesem Zusammenhang die richtige Frage nicht, ob kommuniziert wird
oder nicht, sondern ob gut oder schlecht kommuniziert wird. Denn kommuniziert wird
immer. Wenn wir das auf den Unternehmenskontext projizieren, stoßen wir zwangsläufig
auf die berühmte „Gerüchteküche“ oder den „Flur- bzw. Buschfunk“. Die sind informelle
Kommunikationskanäle, über die meist nicht gesicherte Informationen ausgetauscht wer-
den. Kombiniert man diese Kommunikationskanäle mit dem beliebten und bekannten
Spiel „Stille Post“, weiß man, warum stetige und gute Kommunikation wichtig ist. Das
gilt insbesondere für große Projektvorhaben, die einen impliziten Veränderungscharakter
besitzen. Wie Digitalisierungsprojekte eben.
Nun ist bei der Kommunikation Kontinuität nicht das einzige Qualitätskriterium. Der
gemeinsame Kommunikationsmaßstab sowie die Kommunikationsstrategie spielen hier
ebenfalls eine tragende Rolle. Diese sind Teil des Change-Managements und sollte obliga-
torischer Bestandteil jedes Digitalisierungsprojekts sein.

22.3.1.4 Unrealistische Erwartungshaltung


Digitalisierungsprojekte haben im Durchschnitt eine Dauer von 18 Monaten (Fujitsu,
2017). Ein kleines Rechenbeispiel soll verdeutlichen, welche Kosten in diesem Zeitraum
auf ein Unternehmen zukommen können, siehe Tab. 22.1.

Tab. 22.1  Beispiel Aufstellung Kostenpositionen, eigene Darstellung


Nr. Position Gesamtkosten Annahmen
1 Personalaufwand 135.000 € 5 Mitarbeiter, die über 18 Monate 30 %
ihrer Zeit aufbringen, Brutto-Verdienst
inkl. Sozialabgaben 5000 €/Monat
2 Softwarelizenzen 300.000 € 200 Lizenzen à 1500 €
3 Wartungsvertrag 45.000 € 15 % des Lizenzwerts p.a.
4 Beratungs- und 108.000 € 3 Dienstleister mit je 30 Manntagen à
Projektleitungsaufwand Software-­ 1200 €
Dienstleister
Summe 588.000 €
580 F. Fusaro

Diese Aufstellung muss noch nicht einmal vollständig sein. Beauftragt ein Unter-
nehmen z. B. einen externen Projektleiter oder ein Beraterteam, erhöht sich das Budget
­signifikant.
Plant man nun für dieses Projekt zu wenig Ressourcen, Zeit oder Budget ein, ist es zum
nächsten Projektänderungsantrag nicht weit.

Was passiert, wenn nicht digitalisiert wird?


Wird hingegen nicht digitalisiert, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Unternehmen
von Wettbewerbern vom Markt gedrängt wird und das Unternehmen schnell in eine Ab-
satz- und Erfolgskrise kommt.

Beispiele finden sich nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie in erschreckend
großer Anzahl wieder, sondern sind bereits seit einigen Jahren fester Bestandteil der Wirt-
schaftsnachrichten. Aktuell ist dies wieder zu lesen in Bezug auf den europäischen
Impfpass.
Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist nicht die, ob oder ob nicht
digitalisiert werden sollte, sondern, warum die Digitalisierung nicht schon gestern an-
gepackt wurde.
Die Analogie zur digitalen Impfpass-Farce kann auch hier wiederhergestellt werden.
Die Bundesregierung beantwortete Anfang April auf eine Anfrage der FDP-Fraktion im
Bundestag auf die Frage, welche Kosten für die Bereitstellung der CovPass-App auf den
Bund zukommen. Die Schätzung der Bundesregierung beläuft sich auf 2,7 Millionen €
(Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wieland
Schinnenburg, Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der FDP– Drucksache 19/27714 vom 06.04.2021). Wohlgemerkt wird die App
Anfang 2022 abgelöst, da dann die Funktion in der bereits bestehenden elektronischen
Patientenakte integriert werden soll. „Ab dem 1. Januar 2022 wird der digitale Impfnach-
weis Teil der elektronischen Patientenakte in der Telematikinfrastruktur“ (Antwort der
Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Wieland Schinnenburg,
Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP–
Drucksache 19/27714 vom 06.04.2021).

22.3.2 Die wichtigsten Erfolgsfaktoren bei der Umsetzung


von Digitalisierungsvorhaben

Klares Zielbild
Ein Schiff benötigt einen Leuchtturm, genauso wie ein Mount Everest-Besteiger einen
Sherpa benötigt, um auf der Route zu bleiben und am Gipfel anzukommen.

Kein anderes Bild zeichnet sich in Digitalisierungsprojekten ab. Aber was bedeutet es,
ein Zielbild zu haben? Ich möchte es ein klein wenig klarer machen: Wenn Sie und Ihr
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 581

Team keine Vorstellung davon haben, wohin Sie gehen möchten, werden Sie auch nie am
Ziel ankommen, sondern sich verirren. Ihre Vision muss viel mehr sein als nur eine Dunst-
wolke leerer Worthülsen. Eine gute Vision erklärt in kurzen, klaren Sätzen, warum es er-
strebenswert und alternativlos ist, diesen Weg gemeinsam zu beschreiten.

Performantes Projektteam
Um bei dem Bild des Schiffes zu bleiben: ein Schiff, das nur aus Kapitänen besteht, wird
niemals ankommen, weil die Crew verhungert. Ein Schiff voller Matrosen auf der anderen
Seite wird ebenfalls scheitern, weil es auf Grund laufen wird.

Es braucht also einen Kapitän, einen Stellvertreter, Steuerfrauen, Schiffsjungen, Köche,


etc. Sie verstehen, auf was ich hinaus möchte?
Umso hochwertiger ein Team ausgestattet ist, umso besser werden die Ergebnisse sein.
Nach welchen Kriterien Sie ein Team auswählen und zusammenstellen sollten, erfahren
Sie im Abschn. 22.4.3.1

Kontinuierliche und zielgerichtete Kommunikation


Wir schreiben das Jahr 2014. Genauer gesagt ist es der 13. Juli 2014. Knapp 75.000 Men-
schen vor Ort, und nach Aussagen der FIFA ca. 1 Mrd. Menschen vor den Fernsehgeräten
weltweit (https://de.fifa.com/worldcup/news/fifa-­fussball-­wm-­2014tm-­3-­2-­milliarden-­
zuschauer-­1-­milliarde-­beim-­fina-­2745551 vom 16 Dez 2015, 2021), sehen, wie Mario
Götze nach einem Zuspiel von André Schürrle den Ball in einer Bewegung mit der Brust
annimmt und ihn im Fallen am argentinischen Schlussmann Sergio Romero in das lange
Eck des Tores streichelt. Deutschland wird wenige Minuten später zum vierten Mal in der
Geschichte des deutschen Fußballs Weltmeister.

Weltmeisterlich war nicht nur die sportliche Leistung auf dem Platz, sondern auch die
kommunikative Leistung und der Wille außerhalb des Platzes.
Wer Weltmeister werden möchte, muss sich schon davor so verhalten, als wäre man es
bereits. Das schließt die Kommunikation mit ein. Die Kommunikation nach innen und die
nach außen. „Fake it till you make it“ lautet hier die Losung. So tun, als ob, um zu er-
reichen, was man erreichen möchte.
Was im sportlichen Bereich durch Trainerstab inkl. Mentaltrainer schon seit Jahr-
zehnten gelebt wird, ist in Digitalisierungsprojekten der Job von Auftraggeber, Projekt-
leiter bzw. Product Owner und Scrum Master. Sie müssen das Team regelrecht einschwören
auf die Veränderung, die kommen wird und auf das Zielbild, die gemeinsame Vision des
Projektteams.
Dafür ist Kommunikation unabdingbar. Die Grundlage guter Kommunikation ist, dass
sich die Beteiligten darüber klar werden, was die Einflussfaktoren für gute Kommunika-
tion sind und wie man diese praktisch anwenden kann. Dabei geht es um mehr als nur
miteinander reden. Aktives Zuhören, hinterfragen, gemeinsame Maßstäbe entwickeln und
verhandeln sind nur einige der Themenfelder, die zu guter Kommunikation führen.
582 F. Fusaro

Definierte Change-Management-Strategie
Die Vision steht, das Team ist bereit, über Kommunikation wurde bereits gesprochen. Der
nächste Schritt ist nun, das inhaltlich Vereinbarte auch nach außen an die Stakeholder
zu tragen.

Die Stakeholder eines Digitalisierungsprojekts sind alle, deren Erfolg und die zu-
künftige Arbeitsweise durch das Projekt beeinflusst werden.
Dabei beschränkt sich diese Gruppe nicht nur auf die Anwender, die nach dem Go Live
tagtäglich mit dem neuen digitalen Werkzeug arbeiten müssen. Sie schließt auch alle im
Unternehmen beteiligten Personen mit ein, von der Geschäftsführung über die Führungs-
kräfte bis hin zu den Schnittstellenabteilungen.
Vor allem bei wertschöpfenden Hauptprozessen, wie dem Auftragsmanagement-
prozess, sind die Schnittstellen vielfältig. Von der Personalabteilung über die IT bis hin zu
den Abteilungen Finanzen, Controlling, Rechnungswesen sind meistens alle involviert.
Nicht zu vergessen ist der Betriebsrat, eine wichtige Kontrollinstanz und rechtliche
Interessensvertretung der Mitarbeiter im Unternehmen. Alle wollen und sollen mit den
richtigen Informationen versorgt werden.
Stellen Sie dafür eine Kommunikationsstrategie auf und legen Sie fest wer zu welchem
Thema in welcher Detailtiefe informiert werden soll.

Die richtigen Partner


Ein Projekt in dieser Größenordnung kann man nicht allein stemmen. Man benötigt die
richtigen Partner, um dies zu schaffen. In einem Digitalisierungsprojekt sind dies externe
Soft- und Hardwarepartner, wie z. B. der Hersteller der Software, die zur Digitalisierung
der Geschäftsprozesse gekauft wird oder der bzw. die Dienstleister, die zur Wartung der
bestehenden Systeme beauftragt wurden.

Doch was macht den richtigen Partner aus? Und wie findet man diesen?
Zum einen geht es um die Definition, wer denn der richtige Partner ist. Hier spielen
einige Faktoren eine Rolle. Die folgenden Fragen können dabei helfen, den richtigen Part-
ner für Ihr Digitalisierungsvorhaben zu finden.
Spricht der Partner meine Sprache? Dies ist essenziell wichtig, da wir hier von der
Kommunikation sprechen. Die ist wiederum ein Erfolgsfaktor in großen Digitalisierungs-
projekten. Neben der reinen Sprache ist es wichtig, dass der Partner Ihre Fach- und
Prozesssprache spricht. Nur, wenn ein Dienstleister oder Lieferant Ihre Prozesse kennt
und sich, wenn auch nur rudimentär, mit den fachlich-/rechtlichen Gegebenheiten aus-
kennt, kann er Sie auch richtig beraten und unterstützen.
Bietet der Partner eine valide Eskalationsstrategie an? Was zu tun ist, wenn ein Feuer aus-
bricht, das sollte jedem klar sein. Die Fluchtwege sind gekennzeichnet, der Sammelplatz vor
dem Gebäude ist ebenfalls bekannt. Aber wenn sich in einem Millionen-Projekt eine schein-
bar unüberwindbare Hürde auftut, dann schauen sich alle ratlos an. Das muss nicht sein.
Fragen Sie offen danach, wie und wann eskaliert werden sollte, wer dann mit wem spricht
und wie Probleme, die es in großen Projekten nun einmal gibt, gelöst werden können.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 583

Wie groß ist die Motivation des Lieferanten? Ist Ihr Projekt auch für Ihren Lieferanten
neu oder hat er das schon zigmal durchgeführt? Möchte der Lieferant in der Branche Fuß
fassen und verfolgt somit eine Strategie? Diese Informationen können wichtig für Sie sein,
denn dadurch wird klar, ob der Lieferant echter Partner ist und die Extra-Meile für Sie geht
oder ob er Dienst nach Vorschrift macht.
Auf welche kritischen Ressourcen kann Ihr Lieferant zurückgreifen? Unterhält Ihr Lie-
ferant eine große Entwicklungsabteilung oder konkurriert er mit allen anderen Wett-
bewerbern um die besten Entwickler? Auch wichtig ist hierbei die Kennzahl Verhältnis
Anzahl Entwickler zu Gesamtanzahl Mitarbeiter.

22.4 In drei Phasen zum digitalisierten Geschäftsprozess

Die Digitalisierung von Geschäftsprozessen gliedert sich grob in drei aufeinander auf-
bauende Phasen. Diese werden in diesem Abschnitt ausgiebig beschrieben. Sie werden
keine theoretische Abhandlung zu Herleitungen oder abstrakten Beschreibungen vor-
handener Frameworks von mir bekommen. Dafür sollten Sie eine Schulung besuchen oder
einfach einmal Googlen. Stattdessen biete ich Ihnen einige der wichtigsten praktischen
Erfahrungen aus über einem Jahrzehnt in der Welt der Prozesse, der Digitalisierung und
digitaler Geschäftsmodelle.

22.4.1 Phase I – der Start in Ihre Digitalisierung

„Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Worten. Achte auf Deine Worte, denn sie
werden zu Handlungen. Achte auf Deine Handlungen, denn sie werden zu Gewohnheiten.
Achte auf Deine Gewohnheiten, denn sie werden Dein Charakter. Achte auf Deinen Charak-
ter, denn er wird Dein Schicksal.“ (Reade, 1814)

Die erste Phase betrifft im Idealfall die Digitale Transformation insgesamt, kann sich je-
doch auch „nur“ auf die Digitalisierung von Geschäftsprozessen beziehen. In dieser Phase
gilt es, die Digitalisierung für Ihr Unternehmen zu definieren. Warum möchte das Unter-
nehmen die Digitale Transformation angehen? Was ist das Ziel der Digitalisierung? Was
soll sich denn danach konkret verbessert haben?
Neben diesen Einstiegsfragen sollte das Unternehmen schon einmal einen groben Plan
entwickeln, welche Themen zu welchem Zeitpunkt betrachtet werden sollen. Denn es han-
delt sich nicht nur um ein Projekt wie jedes andere. Wie bereits in Kapitel Abschn. 22.3
beschrieben, sind Digitalisierungsprojekte immer gleichzeitig auch Veränderungsprojekte.
Daher muss in der ersten Phase der Digitalisierung das Change-Management ebenfalls
vorangetrieben werden. Dies beginnt schon damit, dass die Initiatoren der Digitalisierung,
meist auf C-Ebene, Verbündete für sich gewinnen können. Ein kleines, aber einflussreiches
Team von charismatischen Experten reicht hier aus, um den Grundstein für die Digitale
Transformation zu legen.
584 F. Fusaro

Abschließend geht es in der Phase I darum, den Startpunkt abzustecken und einen gro-
ben Rahmen, zeitlich und monetär, für das Digitalisierungsvorhaben vorzugeben. Dann
kann es losgehen.

Erschaffen Sie einen Ziele-Magneten


Ungeachtet, wem das oben genannte Zitat nun genau zugeordnet werden kann, beschreibt
es die Kraft der Autosuggestion. Einer Fähigkeit, die unser menschliches Gehirn besitzt,
die uns erlaubt, uns eine zukünftige Version unseres eigenen Ichs vorzustellen und die
Transformation dorthin zu begünstigen.

Wie oft haben wir in Hollywoodfilmen die Szene gesehen, in der der Held der Erzäh-
lung nach vielen Niederlagen zum ersten Mal seine wirkliche Berufung im eigenen
Spiegelbild zu sehen bekommt. Fortan gewinnt die Heldin oder der Held Schlacht für
Schlacht, bevor die Figur auch den Krieg gewinnt.
Im wirtschaftlichen Kontext wurde die Frage 2015 von Donald Sull untersucht, warum
sich Unternehmen bei der Umsetzung der eigenen Unternehmensstrategien so schwertun.
Die wichtigste Erkenntnis war, dass die interne Kommunikation eine tragende Rolle
spielte (Sull, 2015). Wenn in monate- oder jahrelangen Prozessen Kernwerte, Mission
Statements, Leitbilder Wettbewerbs- und Portfolioanalysen erarbeitet und durchgeführt
wurden, um dann endlich eine Unternehmensstrategie zu erarbeiten, die dann nicht erfolg-
reich umgesetzt werden, liegt der Grund wahrscheinlich in der schlechten Kommunikation.
In seinen Untersuchungen beschreibt Sull, dass bei Befragungen im mittleren Manage-
ment, übertragen auf den deutschen Mittelstand also zum Beispiel Abteilungs- und Team-
leiter, nur 55  % der Befragten auch nur eines der strategischen Top-Ziele des Unter-
nehmens für die aktuelle Periode nennen konnten. Dieses Ergebnis resultierte daraus, dass
Unternehmensziele vom Top-Management zwar häufig kommuniziert wurde, aber kein
Wert darauf gelegt wurde, zu untersuchen, ob die Prioritäten auch so verstanden wurden.
Das Ergebnis ist allzu oft, dass es im mittleren Management eine Vielzahl weiterer Priori-
täten und Ziele gibt, die nicht zwingend mit der Unternehmensstrategie im Einklang ste-
hen. Ein diffuses Bild ergibt sich.

Emotionen erzeugen Identifikation


Was kann ein Unternehmen also tun, um strategische Entscheidungen besser nachvollzieh-
bar zu machen? Meine Erfahrung zeigt, dass Menschen sich mit emotional aufgeladenen
Bildern stark identifizieren können. Dieses Bild, ich nenne es Zielbild, muss folgende
Kriterien erfüllen.

Es muss:

1 . So detailliert wie möglich beschrieben werden,


2. Aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können, ohne dass es seinen Zweck
verändert,
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 585

3 . Im Unternehmen von allen akzeptiert werden können und positive Emotionen wecken,
4. Und vor allem einfach einzuprägen sein.

Eine generische Beschreibung, wie zum Beispiel „wir wollen unserer sozialen Ver-
antwortung gerecht werden“ oder „wir wollen [hier gerne wahlweise Technologie, Quali-
tät oder Preis eintragen] -Führer werden“ würden somit schon einmal wegfallen.
Was mich in der Praxis immer interessiert, sind die pragmatischen Details. Was soll
sich dadurch verbessern? Wie wirkt sich das aus? Wie können dies Kunden, Mitarbeiter
und Lieferanten erfahren?
Genauso verhält es sich mit dem Zielbild, die ich mit meinen Kunden zur eigenen Di-
gitalen Transformation oder in Digitalisierungsprojekten erarbeite. Nur, wenn hier Klar-
heit herrscht und jeder dieses Bild zu jeder Zeit vor Augen behält, besteht die realistische
Chance, dass auch danach gehandelt wird.
Wenn dieses Zielbild in einer kleinen Koalitionsgruppe erarbeitet wurde, kann es intern
weiter kommuniziert werden. Das Veränderungsmanagement hat hier bereits begonnen.
Nach dem Modell von Kotter (1995) befinden wir uns bereits auf der vierten Stufe: „Die
Vision kommunizieren“. Dem nächsten Ziel, eine breitere Masse an Menschen für das
Vorhaben zu begeistern und zu befähigen, widmen wir uns im nächsten Kapitel.

22.4.2 Phase II – das Digitalisierungsprojekt-Setup

Jetzt wird es schon konkreter. Sie haben bereits ein kleines, aber feines Team um sich
herum aufgebaut und den groben Rahmen abgesteckt. Das nächste, was nun zu tun ist, ist
herauszufinden, welche digitale Lösung Sie suchen sollten.
Dazu schauen Sie sich Ihre Prozesse an. Genauer gesagt schauen Sie sich die Ge-
schäftsprozesse an, die Sie mit der höchsten Priorisierung digitalisieren sollten. Die wich-
tigsten Prozesse eines Unternehmens sind leicht identifiziert. Stellen Sie sich einfach diese
eine Frage: „Würde das Unternehmen noch Geld verdienen, wenn dieser eine Prozess
nicht mehr ausgeführt würde?“. Das war’s.
Machen wir ein paar Beispiele: könnte Ihr Unternehmen noch weiter Umsätze generie-
ren, wenn Sie das Controlling nicht mehr betreiben würden? Wahrscheinlich, es sei denn,
Sie sind Controlling-Dienstleister. Dasselbe gilt für die Personalprozesse oder etwa die
Buchhaltungsprozesse. Klar, es würde sicher nicht lange gut gehen, aber Sie könnten wei-
ter Umsätze generieren. Wie aber stünde es um Ihr Unternehmen, wenn Sie keine Pro-
dukte mehr produzieren oder Ihre Dienstleistungen nicht mehr ausführen würden? Das
würde dann sehr schnell zu Umsatzeinbrüchen führen. Hier sprechen wir also von der
Auftragsverwaltung und von der Leistungserbringung. Kurz danach folgt dann der Ver-
triebs- dann der Einkaufsprozess. Dies sind in der Regel die wichtigsten Geschäfts-
prozesse.
586 F. Fusaro

Identifizieren Sie die Anforderungen an die Software-Funktionen


Wurden die Prozesse analysiert, sollten Sie nun einmal die Anforderungen an die digitale
Softwarelösung ableiten. Aufbauend auf diesen Ergebnissen werden Sie nun abschließend
noch eine Ein- und Abgrenzung vornehmen, die primär darauf abzielt, die richtige Soft-
ware am Markt identifizieren zu können. Die Abgrenzung sollte Ihnen auch helfen, den
Überblick zu behalten und nur Leistbares anzugehen. Denn davon ist ein Großteil der
Akzeptanz Ihrer Mitarbeiter abhängig.

Die grobe Richtung wurde von Ihnen im Zielbild verankert. Nun geht es darum, den
Weg dorthin zu skizzieren und ihn dann, das wird in Abschn.  22.4.3 beschrieben, zu
begehen.

22.4.2.1 Die Projektvorbereitungen


Sie kennen also Ihr Ziel, haben es fest vor Augen, auch wenn es am Horizont noch etwas
unscharf flimmert. Doch die Richtung ist Ihnen klar. Berücksichtigen Sie die folgenden
Punkte und passen Sie diese an Ihre eigenen Bedürfnisse an. So sind Sie schon besser auf-
gestellt als die meisten anderen Unternehmen.
Mit dieser Vorarbeit können Sie nun Ihr Projekt skizzieren und ihm langsam eine Struk-
tur geben. Definieren Sie zuallererst, wie Sie das Projekt durchführen möchten. Haben Sie
eine erprobte klassische Projektmanagementstruktur oder arbeiten Sie nach der agilen
Arbeitsweise?
Die Wahl des geeigneten Projektmanagementansatzes wird beeinflusst von den Rah­
menbedingungen, die bei Ihnen im Unternehmen vorherrschen. Um diese Einflussfaktoren
zu identifizieren, sollten Sie sich Fragen stellen, wie:

• Haben wir Projektmanagement-Spezialisten, wie z. B. ausgebildete Projektmanager?


• Haben diese bereits Erfahrung sammeln können in größeren Digitalisierungsprojekten
oder in anderen Softwareprojekten?
• Haben diese Spezialisten eher eine klassische Projektmanagement-Ausbildung, wie
z. B. PRINCE 2, PMBOK oder IPMA, oder sind diese im agilen Scrum-Ansatz aus-
gebildet?
• Haben Sie einen standardisierten Projektmanagementprozess im Unternehmen eta­
bliert und dementsprechend viel Erfahrung mit der Durchführung von großen Projekten
oder sind Sie hier noch unstrukturiert unterwegs?
• Wie groß sind die Auswirkungen des Digitalisierungsprojekts, das Sie angehen möch-
ten? Wie viele Abteilungen sind involviert? Sind Kunden involviert? Schaffen Sie gar
neue digitale Angebote für Ihre Kunden?

Die Liste lässt sich je nach Ausgangslage noch ergänzen, soll in dieser Betrachtung jedoch
ausreichen.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 587

Ihr Projektteam benötigt den richtigen Nährboden, um wachsen zu können


Statten Sie nun das Projekt mit genügend Ressourcen aus. Über das Projektteam sprechen
wir gleich noch. Hier sind die Ressourcen gemeint, die nicht immer im Vordergrund ste-
hen. Ressourcen wie:

• Zeit: planen Sie realistisch und zielgerichtet. Sie planen zu knapp? Machen Sie sich auf
heftige Rückmeldungen von allen Beteiligten gefasst. Ich bin persönlich ein Fan von
sportlichen Zeitplänen. Aber auch von realistischen und dadurch erreichbaren Meilen-
steinen. Kürzere Laufzeiten bei gleichbleibender Qualität und ohne reihenweise
­Burn-­Out-­Fällen oder Kündigungen bei Ihren Mitarbeitern sind nur erreichbar, wenn
Sie Ihre Erwartungshaltung beim Funktionsumfang herunterschrauben. Sie kennen das
Spiel vom magischen Dreieck zwischen Preis, Geschwindigkeit und Qualität? So ist es
hier auch. Aber etwas komplexer. Meine Faustformel für die schnelle Zeitabschätzung
lautet: geschätzte und im Projektteam abgestimmte Zeitplanung + 20–25 %! Menschen
neigen dazu, Zeitpläne zu unterschätzen und rechnen die möglichen Einflussfaktoren,
die einen Zeitplan schnell in die Länge ziehen können, schlicht nicht mit ein. Es ist
auch ein Ding der Unmöglichkeit, dies zu tun, daher der Risikoaufschlag von 20–25 %.
Für ein Projekt, das über einen Zeitraum von einem Jahr geplant ist, plane ich mit 1,2
Jahren mindestens ein, besser wären hier fünf Quartale.
• Budget: Für das Budget gilt die Faustformel analog. Wie oft haben Sie Projekte durch-
geführt, die im Budget beendet wurden? Wenn man näher hinschaut, kann ein Projekt,
das keine Budgetüberschreitung hatte, entweder zu klein war und somit nicht in der
Größenklasse spielt, wie die Projekte, die ich hier betrachte, s. Abschn. 22.3. Oder der
Funktionsumfang hat signifikant abgenommen, was eine ähnliche Klassifizierung wie
im vorigen Beispiel zulässt. Sie kennen vielleicht den vielzitierten Spruch „Der Appetit
kommt beim Essen“. Wenn Sie ein Projekt dieser Größenordnung durchführen und eine
echte Digitalisierung vorhaben, trifft dieser Spruch absolut zu! Mit jedem neuen An-
wender, der im System arbeitet, kommen neue Wünsche, Ideen, Fragen auf. Sie werden
garantiert mehr Mühe haben, all diesen Input aufzunehmen, als nach neuem zu suchen.
Jeder Wunsch bedeutet im Zweifel auch zusätzliches Budget. Schnittstellen müssen
angepasst werden, Entwickler verschiedener Dienstleister müssen betreut und ge-
managt werden. Funktionen stehen in Abhängigkeit zueinander, was Sie zwingt, noch
das ein oder andere mehr zu implementieren. Planen Sie diese Eventualitäten ein in
Form von zusätzlichem Budget. Die Digitalisierung ist teurer als Sie denken. Aber die
positive Nachricht ist, dass sie nicht so teuer ist, wie wenn Sie nichts tun würden!
• Externe Berater: Externe Berater können eine wertvolle Quelle für Abkürzungen sein.
Wenn Sie einen erfahrenen und empathischen Berater an Ihrer Seite haben, der Ihre
Interessen zu seinen macht, werden Sie Zeit und Budget sparen, die Sie ansonsten für
gemachte Fehler aufbringen müssten. Ein Berater hat in der Regel mehr Projekt-
erfahrung als Ihre Mitarbeiter und bringt mit dem externen Blick eine neue, frische
Perspektive mit. Auch Ihre Mitarbeiter können von einem guten Berater profitieren. Sie
588 F. Fusaro

lernen neue Werkzeuge und Vorgehensweisen kennen. Achten Sie bei der Auswahl
eines externen Beraters auf folgende Kriterien:
–– Erfahrung: hier ist nicht zwingend die Erfahrung in der Branche gemeint. Ein guter
Berater kann Geschäftsmodelle und Prozesse in kürzester Zeit durchdringen. Er
oder sie projiziert bereits erzielte Erfolge auf Ihre Digitalisierung.
–– Verständnis: versteht der Berater, was Sie machen, was Sie antreibt und welche Ab-
hängigkeiten es bei Ihnen gibt?
–– Sprache: spricht der Berater Ihre Sprache? Damit ist sowohl der fachliche Jargon
gemeint als auch Ihre Unternehmenskultur.
–– Empathie: kann sich der Berater in Andere hineinversetzen? Versteht er oder sie die
Teamdynamiken und kann dementsprechend zielführend handeln?
–– Charisma: kann der Berater oder die Beraterin auch überzeugen und Ihnen somit
einen Teil der Arbeit abnehmen? Oder handelt es sich eher um eine unnahbare und
zahlen-/daten-/faktenbasierte Person?
–– Prozesse & Methoden: Hat der Berater ein prozess- und methodenbasiertes Vor-
gehen, das Sie wie eine Blaupause auf Ihr Projekt anwenden können?
• Raum: Räume anzubieten heißt nicht immer, physische oder digitale Räume zu bieten.
Sondern es bedeutet in erster Linie, Beteiligte zu Betroffenen zu machen. Es bedeutet,
Ergebnisverantwortung zu übertragen. Das mag für den ein oder anderen Beteiligten
befremdlich erscheinen und Sie können nicht allen gleichermaßen Ergebnisse ab-
fordern. Dafür sind die Hintergründe der Projektmitglieder zu unterschiedlich. Sie wis-
sen sicher am besten, wem Sie welche Verantwortung übertragen können. Räume ent-
stehen hier in Form von Entscheidungsfreiheit in gewissem Maße einzuräumen. Doch
Räume können auch physischer Natur sein. Sorgen Sie für eine Umgebung, in der am
wenigsten Reibungspunkte entstehen. Sorgen Sie für flächendeckende WLAN-Ab-
deckung, besorgen Sie sich Hardware, Kreativwerkzeuge, etc. Diese Investitionen fal-
len in der Regel im Vergleich zum Gesamtbudget nicht ins Gewicht und bieten einen
besseren Return in Form von Leistung und Engagement der Teammitglieder, als wenn
Sie sie nicht tätigen würden. Leistungen können zu guter Letzt nur dann entstehen,
wenn die handelnden Personen auch Arbeitszeit dafür opfern können. Das bedeutet,
dass Aufgaben im operativen Tagesgeschäft für den Zeitraum des Projekts an Kollegen
übergeben werden sollten.

So bilden Sie das richtige Projektteam


Sie sind mit einem eingeschworenen Rumpfteam gestartet, was für die nächste Phase nicht
mehr ausreichen wird. Sie werden an personelle Engpässe stoßen, die es zu vermeiden gilt.
Sie benötigen Vertreterinnen und Vertreter und vor allem eines: mehr Verbündete.

Ein gutes Team ist immer perfekt besetzt, nie mit zu vielen oder zu wenigen Personen.
Mehr Personen verbessern die Projektqualität nicht und zu wenige Personen verzögern
den Projektverlauf unnötig. Achten Sie deshalb auf eine ausgewogene Mischung.
Diese Rollen müssen Sie in einem Digitalisierungs-Projektteam auf jeden Fall beachten:
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 589

• Auftraggeber oder Projekt-Sponsor: das muss immer die Person sein, die die Ressour-
cen stellt.
• Projektleitung: je nach Projektmanagementmethode ist das der Projektleiter oder die
Kombination aus Product Owner und Scrum Master.
• Teilprojektleiter: innerhalb des Projektteams gibt es verschiedene Subteams, die nach
Aufgaben oder Bereichsherkunft aufgeteilt sind. Es macht Sinn, Teilprojektteams für
die IT, den oder die Fachbereiche und für das Change-Management zu bilden.
• Key User oder Guides: das sind Projektbeteiligte, die nicht zwingend dem Projektteam
zugehörig sein müssen. Diese Personen sind Vorreiter in Ihren Bereichen und versorgen
ihre Kolleginnen und Kollegen mit Informationen und bieten Hilfestellungen an.
• Testanwender: können zum Teil aus den Key Usern bestehen. Es macht aber durchaus
Sinn, ganz normalen Anwendern diese Rolle anzuvertrauen. So kann die Akzeptanz
innerhalb des Unternehmens leicht steigen.
• Anwender: das ist die Rolle mit den meisten Mitgliedern. Die Anwender nutzen die
Softwarelösung und Standardprozesse später im Tagesgeschäft. Für sie ändert sich in
der Regel am meisten.
• Projektleiter oder Ansprechpartner des Lieferanten: oftmals wird diese Position in
einem Projektteam vergessen. Doch erinnern Sie sich bitte, warum Sie sich für den
Dienstleister entschieden haben. Sie wollten einen Partner auf Augenhöhe, der mit
Ihnen zusammen dieses Großprojekt erfolgreich stemmt. Beachten Sie das daher un-
bedingt in der Zusammenstellung des Projektteams.

cc Praktische Tipps für eine erfolgreiche Zusammenarbeit im Projekt 


• Achten Sie zudem darauf, dass jede Position eine adäquate Vertretung hat.
Somit können kurzfristigen Ausfällen und Projektverzögerungen entgegen-
gewirkt ­werden.
• Erstellen Sie neben der klassischen Organigramm-Darstellung eine Liste mit
allen vollständigen Kontaktdaten.
• Erarbeiten Sie gemeinsam als Team die Rollenbeschreibungen. Damit wird
eine gemeinsame Basis für Kommunikation und Erwartungshaltung gelegt.

Projektorganisation ist der Schlüssel zum Erfolg


Wenn die Trompete zu einem anderen Takt bläst, als es das Schlagzeug vorgibt, hört sich
das nur gut an, wenn es in einem Cartoon vorkommt, oder wenn Jazz-Profis jammen.
Doch auf Dauer kann man sich das nicht anhören. Als Zuhörer wird einem da schnell
schwindelig.

Übersetzt auf das Projekt-Tagesgeschäft fühlt es sich nicht nur komisch an, auch die
Ergebnisse werden kaum halb so gut sein, wie das der Jazz-Band. Daher ist es umso wich-
tiger, dass in einem Projekt ein gemeinsamer Takt vorhanden ist. Eine passende Struktur
an Terminformaten mit abgestimmten Intervallen und Inhalten ist hier die richtige Wahl.
590 F. Fusaro

Die Projektarbeit findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Es kommen Fragestellungen


aus den Fachbereichen und von den Anwendern auf, dafür müssen Lösungen gefunden
werden und dafür müssen Entscheidungen gefällt werden. Damit sind die verschiedenen
Ebenen klar: Entscheidungs-, Lösungsfindungs- und Arbeitsebene.
Auch wenn eine agile Vorgehensweise sicherlich seine Daseinsberechtigung hat, habe
ich bereits in Projekten mitgewirkt, in denen keinerlei Protokolle geschrieben wurden.
Eine ausführliche Dokumentation ist sicher nicht immer sinnvoll. Doch wichtige Themen
sollten definitiv dokumentiert werden, natürlich mit Fertigstellungsdatum und festgelegter
Verantwortung.

Entscheidungen müssen getroffen werden


Auf der Entscheidungsebene befinden sich der Projektsponsor bzw. Auftraggeber und ge-
gebenenfalls Führungskräfte der beteiligten Fachabteilungen. Ein weiteres Mitglied kann
aus der Geschäftsleitung kommen.

Dieses Gremium trifft sich je nach Projektphase ein- bis viermal pro Monat. Die
Detailebene ist vorwiegend nicht tief, hier spielt das Große Ganze eine wichtige Rolle.
Moderiert wird diese Terminserie sinnvollerweise von der Projektleitung bzw. vom Pro-
duct Owner oder Scrum Master. Die Dauer sollte hier nicht zu kurz gewählt werden,
unter einer Stunde macht es sicher keinen Sinn, über zwei Stunden ist nicht effizient.
Die Mitte macht am meisten Sinn, 90 Minuten sollte eingeplant werden. Die Struktur
muss nicht fix durch das gesamte Projekt durchgezogen werden. Nehmen Sie An-
passungen vor, wenn nötig.

Operative Projektarbeit auf Arbeitsebene


Das Projektteam sollte sich bestenfalls mehrmals pro Woche treffen. Aus der agilen Welt
nutze ich gerne Dailys und Weeklys, also kurze tägliche und wöchentliche Team-
zusammenkünfte mit fester Agenda. Wichtige anstehende Themen, zu erledigende Auf-
gaben und Probleme werden hier besprochen.

Aus einem anderen Projekt kenne ich folgendes Vorgehen: zu Beginn der kurzen
Team-Treffen hat jeder in den ersten Minuten sein wichtigstes Problem auf ein Post-It ge-
schrieben und an einer Tafel am Eingang des Raumes angeheftet. Darauf waren z. B. Punkte
zu lesen, wie: „IT-Dienstleister XY seit 1 Woche nicht erreichbar. Suche Ansprechpartner
auf Geschäftsführungsebene“ oder „Hat jemand Erfahrung mit Software für schnelle
Prozessvisualisierungen?“. Wenn dann einer der Teammitglieder helfen konnte, haben
sich die Beteiligten nach der Besprechung kurz in der Kaffeeecke ausgetauscht.
Das Daily sollte 15 Minuten, das Weekly 45 Minuten nicht überschreiten. In beiden
Formaten geht es um ein kurzes Update der verantwortlichen Teilprojektleiter. Tief-
ergehende Diskussionen oder gemeinsame Entscheidungen werden idealerweise an-
gekündigt oder finden am besten außerhalb der Veranstaltungen statt.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 591

Stellen Sie regelmäßig Informationen für alle zur Verfügung


In Ihrer Kommunikations- und Change Managementstrategie sollte definiert werden, wel-
che Zielgruppen Sie ansprechen wollen und wie Sie dies tun möchten.

Der Projektfortschritt kann am besten monatlich an alle Interessierten außerhalb des


Projektteams kommuniziert werden.
Die Geschäftsleitung erwartet eventuell auch Berichte und möchte diese gerne direkt
aus dem Projektteam erhalten. Dies sollten Sie nach Bedarf einberufen.
In frühen Phasen, in denen noch viel konzipiert werden, eignen sich Methoden wie das
World Café oder Townhalls, um möglichst viele Mitarbeiter*innen mitzunehmen und
­deren Input zu erhalten. Diese Methoden zeichnen sich dadurch aus, dass sie flexibel auf
den jeweiligen Sachverhalt angepasst werden können.
Weitere Formate richten sich nach Ihrer Unternehmensgröße. Sie können auch vor-
handene Formate nutzen und dort Ihre Themen platzieren. Wenn es beispielsweise eine
monatliche Information der Geschäftsleiter zur Lage der Gesellschaft gibt, dann geben Sie
die Informationen weiter, mit der Bitte, dass diese mit auf die Agenda aufgenommen wer-
den. Oder ein Projektteammitglied bekommt direkt einen Slot zur Verfügung gestellt.

cc Tipp  Nehmen Sie alle Bedenken ernst: meine Erfahrung zeigt, dass Rück-
meldungen von den Anwendern zu wenig ernst genommen werden und zu
häufig auf der Personenebene verarbeitet werden. Doch jegliche Meldungen
aus den Vertretern der Fachbereiche ist Gold wert!
Hinterfragen Sie gegeben falls, bis Sie verstanden haben, was gemeint ist.
Anschließend geben Sie immer eine Rückmeldung. Seien Sie verbindlich. Ihr
Gegenüber merkt das und versteht das als Form von Wertschätzung.

22.4.2.2 Die Anforderungen


Jetzt sollten Sie Ihre wichtigsten und für Ihr Unternehmen kritischsten Prozesse be-
trachten. In den Unternehmen, die ich bisher begleiten durfte, konnte ich jedes Mal auf ein
Neues dasselbe Bild beobachten. In den Unternehmen arbeiteten hochspezialisierte Men-
schen, die Ihr Handwerk perfekt verstanden. Gestandene Profis, die es am Markt so nicht
zu kaufen gibt. Diese Menschen würden sich nicht als Experten sehen. Und doch sind sie
nicht zu ersetzen. Fallen sie trotzdem aus, steigt die Arbeitslast für die Kolleginnen und
Kollegen im besten Fall spürbar an. Eine Situation, die nicht auf Dauer zu halten ist, ohne
merkliche Auswirkungen mit sich zu bringen.

Eine gemeinsame Standardsoftware benötigt Standardprozesse


Eine weitere Beobachtung, die sich vor allem dann ergibt, wenn das Unternehmen de-
zentral auf Landes- oder Bundesebene in mehreren Standorten und technischen Nieder-
lassungen organisiert ist, ist die Prozessvielfalt. Ein und derselbe Vorgang wird dann an
verschiedenen Standorten unterschiedlich gelöst. Meist gibt es nur ein ideales Vorgehen.
592 F. Fusaro

Die anderen arbeiten nicht effizient. Das fordert die meistens ohnehin angespannte
Personalsituation unnötig heraus.

Abhilfe schafft eine einheitliche Prozesslandschaft mit echten Standards. Daher sollten
Sie ausreichend Zeit auf die richtige Aufnahme der relevanten Geschäftsprozesse ver-
wenden. Sie möchten in dieser Phase wissen, welcher Standort wie vorgeht. Wie Sie die
Prozesse aufnehmen, das sollten Sie immer individuell entscheiden. Finden Sie die rich-
tige Balance zwischen Schnelligkeit der Aufnahme, Akzeptanz der Mitarbeiter und gründ-
licher Aufnahme der Prozesse.
Entscheiden Sie dann nach der Prozessanalyse, wie ein Standardprozess aussehen
kann, der an allen Standorten funktionieren wird. Nur, wenn Sie diesen Schritt korrekt be-
arbeiten, werden Sie den Grundstein für die richtige Softwareauswahl legen können.

Hinterfragen Sie den Status Quo


Ist der Soll-Prozess klar, notieren Sie die benötigten Funktionen und deren Anforderungen
so genau wie möglich. Achten Sie darauf, dass Sie hier weniger visionär als realistisch
vorgehen. Stellen Sie sich also lieber die Frage, wie Sie Ihre Mitarbeiter durch den Einsatz
von Software besser unterstützen können, anstatt den Einsatz von Drohnen für das Aus-
messen von Gruben zu diskutieren.

Sind die Anforderungen einmal aufgenommen, gilt es, diese Ansammlung noch einmal
kritisch zu hinterfragen. Ist wirklich alles wichtig? Werden alle Funktionen direkt be-
nötigt, oder kann auch ein schrittweises Ausrollen der Funktionspakete erfolgen? Was
wird nicht benötigt? Was ist Pflicht und was ist nice to have?
Dieses Hinterfragen hilft Ihnen, den Überblick zu behalten oder ihn wieder zu erlangen,
sollte dieser auf der Reise etwas verloren gegangen sein. Außerdem fällt es Ihnen deutlich
leichter, die Ausarbeitungen mit Ihrem Zielbild abzugleichen.

cc Hinterfragen Sie vor der Ausschreibung Ihre Anforderungen und Funktionen


noch einmal. Begrenzen Sie sich auf die wichtigsten Funktionen und nehmen
Sie so wenig „nice to have“-Funktionen mit auf.

22.4.2.3 Das Auswahlverfahren


Nun haben Sie die ersten internen Schritte erfolgreich gemeistert und die Weichen für ein
erfolgreiches Projekt richtiggestellt. Jetzt geht es das erste Mal nach außen – Sie sprechen
aktiv Dienstleister, Softwarehersteller und Integrationspartner, an und stellen Ihre Wün-
sche externen Personen vor. Sie merken nun schnell, was funktionieren wird und was nicht.
Doch eins nach dem anderen. Beginnen wir erst einmal kurz zusammenzufassen, was
für eine Ansprache externer Dienstleister alles benötigt wird. Ich arbeite in der Praxis mit
den erfahrenen Einkäuferinnen und Einkäufern meiner Kunden zusammen. Daher möchte
ich eine kurze Liste aufstellen, auf was Sie achten können, um eine professionelle
Lieferantenansprache zu gewährleisten. Die Liste soll keineswegs eine Vollständigkeit für
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 593

sich reklamieren und es gibt sicher noch weitere Ausprägungen und Anforderungen, die je
nach Branche auch rechtlicher Natur sind. Die nachfolgende Auflistung stellt jedoch eine
Sammlung und Zusammenfassung vergangener Projekte dar, mithilfe derer Software im
Wert von mehreren Millionen eingekauft wurde.
Sie sollten folgende Themen auf dem Schirm, bzw. folgende Unterlagen bereithalten:

1. Ihre schriftlichen Anforderungen. Das Herzstück ist Ihre Beschreibung Ihrer An-
forderungen. Ob Sie dies als klassisches Lastenheft aufbauen oder eher nach agilem
Vorbild mit User Stories schmücken, sei Ihnen überlassen.
2. Rückmeldeformular für den Lieferanten. Der Lieferant sollte für alle relevanten Infor-
mationen, die Sie einfordern ein entsprechendes Formular mit vordefinierten Eingabe-
feldern vorfinden. Sorgen Sie dafür, dass der Lieferant hier so wenig Aufwand wie
möglich hat. Hier sollten Preise, Aufwandsschätzungen, zeitliche Verfügbarkeiten und
viele weitere Informationen eingefordert werden.
3. Auswertungstabelle für den Lieferantenvergleich. Sie möchten eine objektive Ent-
scheidung treffen und sind firmenintern aus Compliance-Gründen eventuell dazu ver-
pflichtet, diese schriftlich herleiten und begründen zu können. Dazu sollten Sie eine
Liste mit allen wichtigen Bewertungskriterien erstellen, die Sie mit einem oder mehre-
ren Bewertungsmaßstäben versehen.
4. Die Spielregeln. Sie sollten festlegen, nach welchen Regeln die Lieferantenauswahl
bzw. die Ausschreibung stattfinden soll. Legen Sie klare Zeitpläne für die Rück-
meldungen dar, klären Sie, wer bei Ihnen für Rückfragen zur Verfügung steht und wel-
che Fragen überhaupt beantwortet werden dürfen oder können.
5. Das Vertragswerk. Zusammen mit den Spielregeln halten Sie einen Satz an Verträgen
vor, die Sie im Bedarfsfall vorlegen können. Ihre Investition, Ihre Regeln. Gute Liefe-
ranten sind darauf vorbereitet. Mit einem echten Partner arbeiten Sie die Verträge ge-
meinsam aus.
6. Die Lieferantenliste. Kontaktdaten, Webseite, Produktnamen. Alles, was man so an
Informationen benötigt werden könnte, sollte in eine Tabelle eingetragen werden.

Zapfen Sie alle Quellen an


Über Internetrecherchen, Gespräche mit Ihrem Netzwerk, Erfahrungen Ihrer Mitar­
beiterinnen und Mitarbeiter, die meistens bereits Erfahrungen in anderen Unternehmen
sammeln konnte, erarbeiten Sie sich eine Liste mit allen infrage kommenden Lieferanten,
die sogenannte Long List.

Diese Longlist bewerten Sie im Team nach vereinbarten Bewertungskriterien und


schließen somit einen Teil der Lieferanten bereits ohne eine Ansprache aus. Ich empfehle
Ihnen das nicht unbedingt. Sollten Sie sich unsicher sein, rate ich Ihnen eher, noch einmal
in die Recherche zu gehen, Ihre Bewertungskriterien zu überdenken, oder tatsächlich mit
dem Wackelkandidaten ins Gespräch zu gehen. Eines haben diese Unternehmen nämlich
594 F. Fusaro

gemein. Sie stehen nicht für glasklare und kundenorientierte Kommunikation. Einer Ent-
wicklerbude können Sie vielleicht ein Hochglanz-Corporate Design verpassen, aber es ist
und bleibt eine Entwicklerbude. Das soll nicht abwertend klingen. Im Gegenteil, Sie
möchten in den meisten Fällen einen lösungsorientierten Anbieter haben. Aber sie müssen
erstens wissen, nach was Sie suchen sollen und wie Sie mit den Lieferanten umgehen
sollten. Ein offenes Gespräch wirkt meist Wunder.
Nachdem Sie die ersten Unternehmen ausgeschlossen haben, haben Sie eine vorläufige
Short List. Eine bereits verkürzte Liste also. Diese Liste wird sich noch verändern, maß-
geblich durch zwei Faktoren. Der erste Faktor ist simpel. Sie können sicher aus Zeit-
gründen nicht mit allen, sagen wir zehn bis 15 Lieferanten sprechen. Schon allein daher
muss sich diese Liste noch einmal verkürzen. Legen Sie verschiedene Runden fest, in
denen Sie nach vorgefertigten Kriterien entscheiden, mit wem Sie weiter im Gespräch
bleiben wollen. Der Zielwert sollte sein, dass Sie mit drei Unternehmen in die weiter-
führenden Gespräche gehen.

Glauben Sie an Zufälle?


Der zweite Faktor, warum sich die Liste verändern wird, ist der Faktor Zufall. Stellen Sie
sich die Situation vor. Sie arbeiten seit Wochen oder Monaten auf ein Ziel hin und haben
mittlerweile eine klare Vorstellung über die Funktionalität der Software. Sie denken von
morgens bis abends an die Software und lenken somit Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die
Software und welchen Nutzen sie für Sie, Ihre Mitarbeiter und Ihre Kunden mitbringt. Die
Wahrscheinlichkeit, dass Sie jetzt in Kontakt mit Software-Herstellern kommen, ist hoch
und ich habe den Effekt in der Praxis schon erlebt. Wie durch Zufall hat just in dieser
Phase ein Software-Hersteller bei einem meiner Kunden erfolgreich im Telefonat mit mei-
nem direkten Auftraggeber und Entscheider im Projekt die eigene Software platziert. Ein
paar Monate später gingen wir mit dieser Software in den Produktivbetrieb über. Halten
Sie also die Augen geöffnet. Vielleicht begegnet Ihnen Ihr Wunschpartner durch Zufall.

Im letzten Abschnitt des Auswahlverfahrens sollten Sie sich nun, wie erwähnt, auf ma-
ximal drei Hersteller beschränken. Das sind die Top 3 Ihrer Short List. Sie dürfen hier
einen Favoriten haben. Stellen Sie aber sicher, dass Ihr Team an der Entscheidung beteiligt
ist und dass die Kriterien über die wirtschaftlichen Faktoren hinaus gehen. Außerdem
möchten Sie sich eine sehr gute Verhandlungsposition erhalten. Dafür sollten Sie in Sze-
narien denken. Was passiert, wenn der Wunschkandidat doch nicht liefern kann oder das
Budget nicht ausreicht? Legen Sie sich einen guten Plan B zurecht. Nur, wenn Sie eine
gute Alternative haben, gehen Sie auch entspannt in die Verhandlungsgespräche.

cc Bonus-Tipps 
• Gehen Sie nicht zuerst mit Ihrem Wunschpartner ins Gespräch! Sondieren
Sie erst einmal die Lage und prüfen Sie ihre vermeintliche zweite und dritte
Wahl. Wenn Sie dann wissen, was die anderen leisten können, sprechen Sie
mit Ihrem Favoriten. Dann sehen Sie zum einen schnell, ob das wirklich Ihr
Favorit bleibt. Außerdem wollen Sie mit Ihrem Wunschpartner nicht direkt
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 595

zu Beginn in eine schwierige oder verfahrene Situation kommen, aus der Sie
dann vermeintlich nur schwer wieder herauskommen. Mit einer guten Alter-
native in der Hinterhand erzielen Sie bessere Ergebnisse.
• Bewerten Sie die Anbieter mit Kriterien, die nicht rein wirtschaftlicher Natur
sind. Betreiben Sie opportunistisches Risikomanagement. Was macht einen
Anbieter in Ihren Augen zu einem echten Partner? Was ist Ihnen wichtig?
Wovon könnten Sie noch profitieren? Umso ganzheitlicher Sie hier an die
Sache rangehen, umso größer könnte der Nutzen für Sie sein und umso bes-
ser können Sie verhandeln. Dann bewegen Sie sich nicht im Standard und
auch die Anbieter werden mehr gefordert, Ihnen ein sehr gutes Angebot zu
unterbreiten.

22.4.3 Phase III – Die Implementierungsphase

Die letzte Phase bricht an. Die Software ist gekauft, die Tinte unter den Verträgen ist tro-
cken. Nun geht es in den Umsetzungsmodus über.
Bisher haben Sie die Digitale Transformation angeschoben, das Change-Management
aktiviert, ein Team um sich herum aufgebaut, die relevanten Prozesse analysiert, die An-
forderungen an die zukünftige Software abgeleitet und noch einmal eingegrenzt und ge-
nauer definiert.
Ich erkläre nun, wie die nächsten Schritte aussehen werden. Dazu finden Sie im Text
dann wichtige Hinweise und Tipps, wie Sie Ihr Risiko durch unnötige Fehler verrin­
gern können.
In dieser Phase sollten Sie in der folgenden Reihenfolge vorgehen:

1 . Sie kommunizieren weiterhin regelmäßig jegliche Entwicklungen und Änderungen.


2. Sie stellen ein neues Team zusammen oder erweitern Ihr vorhandenes Team, das die
Digitalisierung umsetzt.
3. Sie führen mit Ihrem neuen Partner die Spezifikationsphase durch.
4. Sie starten mit der Konfiguration und schließen diese mit den Abnahmetests

bzw. User Acceptance Tests (UAT) ab.
5. Sie gehen mit Ihrer neuen Software live.
6. Sie starten mit der Optimierungsphase und verbessern nun die Software kontinuierlich.

Diese Punkte stellen eine stark verkürzte Liste dar, die es für Ihr Unternehmen individuell
mit Leben zu füllen gilt. Gerade hier zeigt sich, wie gut Sie vorbereitet sind. Gehen wir die
einzelnen Punkte einmal durch.

22.4.3.1 Passt das Team noch?


Sie haben bis hierhin mindestens zwei Teams aufgestellt. Das erste Team hat sich mit
Grundsatzfragen beschäftigt und mit der Frage, welche Geschäftsprozesse überhaupt digi-
talisiert werden sollen.
596 F. Fusaro

Nun wird das Projekt weitaus komplexer. Es kommen aus meiner Erfahrung heraus
noch mindestens zwei bis drei Dienstleister hinzu. Integrationspartner, ERP-Entwickler,
Schnittstellenexperten, Datenbank-Profis und mehr.
Für die Bereitstellung der IT-Infrastruktur und für die Wartung Ihrer IT-Systeme kaufen
Sie sich evtl. von außen zusätzliche Arbeitskraft ein. Für bestimmtes Datenbanken-­
Spezialwissen haben Sie vielleicht die Dienste des Datenbank-Anbieters gesichert. Und so
kommen hier bereits aus Ihren Reihen ein paar Dienstleister zusammen, die auch in Ihrem
Projekt tätig werden sollen.
Zu den IT-Technikern und Entwicklern kommen noch Experten für das Change-­
Management, aus der Personalabteilung und aus dem Betriebsrat mit dazu.
Die wichtigste Gruppe neben den Mitarbeitern aus der IT-Abteilung sind die Ver-
treter*innen aus den betroffenen Fachabteilungen. Sorgen Sie hier unbedingt für eine re-
präsentative Auswahl. Dabei helfen Ihnen Kriterien, um die richtigen Mitarbeiter*innen
zu finden.
Projektmitglieder aus dem Fachbereich sollten:

• Zeit für das Projekt aufbringen können. Dies muss die zuständige Führungskraft ge-
nehmigen.
• Idealerweise Interesse und Wissen zu IT-Systemen mitbringen.
• Gut vernetzt sein im Unternehmen.
• Erfahrungen mit derartigen Projekten oder anderen größeren Projekten gesam­
melt haben.
• Überdurchschnittliche Kommunikations- und Organisationsfähigkeiten mitbringen.
• Teamplayer sein.
• An den Projektnutzen glauben.
• Vertreter*innen haben, für den Fall eines Ausfalles.

Dieses Team neu aufzustellen, fällt Ihnen wahrscheinlich leicht. Sie kennen Ihre Kol-
leg*innen und Mitarbeiter*innen am besten. Was Ihnen deutlich schwerer fallen dürfte, ist
das Erkennen der Ursachen, wenn es plötzlich nicht mehr so rund läuft im Team. Die Er-
gebnisse verschlechtern sich qualitativ und quantitativ. Fertigstellungsdaten, neudeutsch
„Deadlines“, werden zu echten Todeslinien. Das Team ist nämlich tot. Daher kann keine
Diskussion zu einem echten Erfolg führen. Sie haben keine Überzeugungstäter mehr im
Team, sondern nur noch ängstliche Verweigerer und Vermeider, die den Projekterfolg ge-
fährden. Sie sind gefragt. Dabei ist es unerheblich, welche Rolle Sie im Projekt einnehmen.
Sie müssen handeln. Aber wie?

Was, wenn das Team nicht performt?


Für den Fall, dass das Team in einer Notsituation ist. Also nicht handeln kann, keine oder
schlechte Ergebnisse erzielt, aber auch, wenn das Team zerstritten ist, dann müssen Sie auf
Ursachenforschung gehen.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 597

Abb. 22.1  Robert M. Lencioni – die 5 Dysfunktionen eines Teams. (Quelle: Eigene Darstellung)

Um jedoch herauszufinden, woran es liegt, sollten Sie auf eine Methode zurückgreifen,
damit Sie Anhaltspunkte bekommen, wonach Sie Ausschau halten sollten. Dabei könnte
Ihnen das Konzept von Lencioni (2014) helfen.
Er erforschte Teams und fand heraus, was ein nicht erfolgreiches Team von einem hoch
performanten Team unterscheidet. Daraus hat er die fünf Dysfunktionen eines Teams ab-
geleitet. Diese bauen aufeinander auf, was die Darstellung des Konzepts in Form einer
Pyramide verdeutlichen soll (Quelle: eigene Darstellung) (Abb. 22.1).
Die Dysfunktionen im Überblick:

1. Fehlendes Vertrauen (Absence of trust): Die Ursache im fehlenden Vertrauen liegt in


einzelnen Teammitgliedern, die nicht in der Lage sind, ihre Schwächen preiszugeben.
Dadurch ist es dem Team nicht möglich, sich gegenseitig zu unterstützen. Das Gegen-
teil ist der Fall. Das Team verfällt immer mehr in defensive Verhaltensweisen und wen-
det dafür eine Menge Energie auf, die besser im Verfolgen des eigentlichen Projektziels
investiert wäre.
2. Angst vor Konflikten (Fear of conflict): aufbauend auf dem fehlenden Vertrauen, kann
ein Team nicht wirklich offen über Konflikte sprechen. Konflikte innerhalb von Teams
sind per se nichts Hinderliches. Sie müssen nicht einmal immer aufgelöst werden. Je-
doch muss ein Team in der Lage sein, offen Konflikte ansprechen und anschließend
bewerten zu können, wie dieser Konflikt gelöst werden könnte. Werden Konflikte nicht
„auf den Tisch gepackt“, entstehen ängstliche Entscheidungen als Resultat.
598 F. Fusaro

3. Fehlende Verpflichtung (Lack of commitment): ohne Konfliktbereitschaft kann es


keine offenen Debatten zur Lösungsfindung geben. Das führt dann dazu, dass nicht alle
Teammitglieder in Entscheidungsprozessen involviert werden oder sich beteiligen.
Wenn ein Teammitglied dann nicht an einer Entscheidung beteiligt ist, sinkt somit
zwangsläufig die Verpflichtung, hinter der Entscheidung zu stehen.
4. Vermeidung von Rechenschaft (Avoidance of accountability): in gut funktionieren-
den Teams ist es ein Standard, dass die Teammitglieder sich gegenseitig am Ziel-
erreichungsgrad ihrer ihnen zugetragenen Aufgaben messen. Das bedeutet, dass jeder
im Team es akzeptiert, wenn er oder sie selbst auf die eigene Zielerreichung an-
gesprochen wird. Wenn sich also das Team oder einzelne Teammitglieder nicht ver-
pflichtet fühlen, sich an gefällten Entscheidungen zu halten, werden sie auch keine
Rechenschaft dazu ablegen oder diese bei anderen einfordern.
5. Unaufmerksam für Ergebnisse (Inattention of results): am Ende des Projekts steht
das Ergebnis. Es sagt aus, ob und wie gut ein ausgegebenes Ziel erreicht wurde. Wenn
jedoch ein Teammitglied sich nct verpflichtet fühlt und somit auch niemandem Rechen-
schaft ablegen möchte, verfolgt dieses Teammitglied nur seine eigenen Ziele. Und wird
somit nichts für die Zielerreichung des Projekts tun. Genauso wenig wird er oder sie
brauchbare Resultate erzielen.

Das können Sie tun, um Ihr Team produktiver zu machen


Mit dem Konzept von Lencioni sind Sie nun in der Lage, schnell identifizieren zu können,
warum ein Team nicht vorankommt oder schlechte Ergebnisse erzielt.

Beginnen wir also von unten nach oben. Als erstes untersuchen Sie, ob es dem Team an
Vertrauen fehlt. Das ist keine leichte Aufgabe, vor allem, wenn der Streit eskaliert ist.
Befähigen Sie Ihr Team dazu, sich zu öffnen. Machen Sie klar, dass eine sichere Um-
gebung existiert, in der die Handlungen und Aussagen nicht sanktioniert werden. Nehmen
Sie sich bei Bedarf einen erfahrenen Experten als Moderatoren für den Prozess zur Seite.
Je nach Unternehmenskultur kommt dieser besser von außen und nimmt eine sichtbar
neutrale Rolle ein. Räumen Sie dann Vorurteile oder falsche Bewertungen aus, indem Sie
versuchen herauszufinden, warum es zu einer Eskalation oder schlechten Ergebnissen
kam. Hier kann Ihnen das Harvard-Konzept aus der Verhandlungswelt helfen (Fisher
et al., 2015). Das sachbezogene Verhandeln beruht im ersten Schritt darin, Menschen und
Probleme getrennt voneinander zu betrachten. Anschließend konzentriert man sich auf
Interessen statt Positionen. Damit ist gemeint, dass die ersten Aussagen von Menschen in
Bezug auf ein bestimmtes Thema, z. B. Preisvorstellungen oder Vertragskonditionen, als
Position zu verstehen sind. Jede Position hat jedoch ein wahres Interesse, das sich noch im
Verborgenen befindet, als Grundlage. Wenn Sie dieses Interesse herausfinden, finden Sie
auch den Zugang zur Person.
Genau so können Sie mit Teams verfahren. Finden Sie heraus, was die Menschen dazu
bringt, die Position zu vertreten, die Sie beobachtet haben. Stellen Sie Fragen und hören
Sie genau zu. Hinterfragen Sie die Aussagen, bis Sie zum Kern vorgestoßen sind. Sie wer-
den schnell erkennen, was die Ursachen sind. Liegt es an fehlendem Vertrauen? Wenn ja,
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 599

was können Sie tun? Ich gebe Ihnen für jede Dysfunktion einen kurzen Impuls, wie Sie die
Situation entschärfen und verbessern können. Und achten Sie bitte darauf: nur, wenn auch
Sie mit gutem Beispiel vorangehen, werden Ihnen die Teammitglieder vertrauen und
Ihnen folgen.
Liegt es an …:

1. fehlendem Vertrauen? Vereinbaren Sie mit dem Team Termine, die nichts mit dem
Projekt zu tun haben. Hier sollen sich die Teammitglieder besser kennen und (ein)
schätzen lernen können. Dazu braucht es vielleicht nur ein oder zwei intensive Ter-
mine, dann können bereits grundlegende Missverständnisse aus dem Weg geräumt
werden und Sie können sich wieder dem Projekt widmen.
2. der Angst vor Konflikten? Hier herrscht vermutlich ein falsches Harmoniebedürfnis
oder es ist den Teammitgliedern nicht klar, was Sie im Team äußern können und was
nicht. Arbeiten Sie also an der Vertrauensbasis. Zusätzlich können Sie darüber spre-
chen, dass Konflikte nicht immer negativ sein müssen, sondern auch zur Lösungs-
findung beitragen können. Legen Sie im Team klare Regeln fest, wie mit Konflikten
umgegangen werden soll. Das nimmt die Angst und zahlt auf das Vertrauenskonto ein.
3. fehlender Verpflichtung? Stellen Sie sicher, dass bei Entscheidungen, aber auch in
Terminen, alle Teammitglieder zu Wort kommen. Das ist schwerer als es scheint, vor
allem, wenn Sie vorwiegend remote arbeiten und die Stimmung im Team nicht immer
leicht zu greifen ist. Stellen Sie außerdem Transparenz her. Zeigen Sie schriftlich auf,
wie der Projektfortschritt ist und stellen Sie klar, dass das Team alle Kompetenzen be-
kommt, um das Projektziel zu erreichen.
4. Vermeidung von Rechenschaft? Das hier scheint die Paradedisziplin im Projekt-
management zu sein, wird aber allzu oft falsch oder nicht gemacht. Stellen Sie klar, nach
welchen Regeln das Projektteam arbeiten muss. Dies sollte mit dem Team erarbeitet
werden. Verteilen Sie Verantwortlichkeiten und klare Fertigstellungsdaten und stellen
Sie so mehr Verbindlichkeit her. Machen Sie klar, dass Unverbindlichkeit nicht geduldet
wird. Nichts wirkt so destruktiv in einem Projekt wie fehlende Verbindlichkeit.
5. der Unaufmerksamkeit gegenüber Ergebnissen? Ihr Team leistet viel und es liegt
nicht an den anderen Dysfunktionen, dass trotzdem keine, wenige oder schlechte Ergeb-
nisse produziert werden? Dann sorgen Sie für mehr Transparenz, welche Ergebnisse
erreicht wurden, welche hätten erreicht werden sollen und was das für die Zielerreichung
im Projekt bedeutet. Belohnen Sie gute Leistungen regelmäßig, aber nicht willkürlich
und vor allem nicht jedes Mal. Kein Kind dieser Erde kauft es Ihnen ab, wenn Sie es
nicht ernst meinen. Warum sollten es Ihre Kolleg*innen oder Mitarbeiter*innen tun?

cc Es ist eines der Megathemen in unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft: die
Diversität. Leisten Sie Ihren Beitrag und stellen Sie Ihre Teams so divers auf wie
möglich. Klar, Expertenwissen geht vor. Aber machen Sie keinen Halt vor
Geschlechter oder Kulturen. Solange das Team den Projekterfolg in den
Mittelpunkt stellt, kann Vielfalt nur helfen.
600 F. Fusaro

22.4.3.2 Die Spezifikation


Mit der Spezifikation betreiben Sie aktives Risikomanagement. Ihr Risiko sinkt signifikant
mit jeder Detailstufe der Spezifikation. Kleine Risse im gemeinsamen Verständnis zwi-
schen Ihnen und dem Softwarehersteller werden zu rieseigen Schluchten, die nur schwer
zu durchqueren sind.
In der Spezifikation, die unterschiedliche Namen haben kann, wie z. B. Pflichtenheft,
Leistungsbeschreibung bzw. Statement of Work oder dergleichen, gibt es mindestens diese
Bestandteile:

1 . Ihre Anforderungen an die Software,


2. Wie der Hersteller Ihre Anforderungen verstanden hat,
3. Wie der Hersteller gedenkt, die Anforderungen in Lines of Code, und damit zu einem
fertigen Produkt, umzuwandeln,
4. Wie der Arbeitsmodus zwischen dem Team des Herstellers und Ihrem Projektteam ge-
wünscht wird,
5. Welche Funktionen zu welcher Zeit bereitgestellt werden,
6. Welche Meilensteine veranschlagt werden.

Ein solches Dokument beschreibt somit ausführlich, wie ein Softwarehersteller plant,
Ihre Anforderungen umsetzen zu wollen. Dabei geht er auf die Anforderungen an die
Funktionalität als auch auf die Umsetzung und Anforderungen bezüglich Schnittstellen
und der IT-Infrastruktur ein. Es berücksichtigt die prozessualen Anforderungen sowie die
Benutzeroberfläche genauso wie die Angaben zur zeitlichen Vorgehensweise und der Prio-
risierung der abzuarbeitenden Themen.
Neben den technischen Inhalten beschreibt die Spezifikation auch Anwendungsbei-
spiele, sog. Use Cases, an denen verdeutlicht werden soll, wie der Hersteller Ihre An-
forderungen verstanden hat. Gute Dienstleister legen viel Wert auf die Kommunikations-
prozesse und legen fest, was im Eskalationsfall getan werden muss.
Dieses Dokument erarbeitet der Hersteller basierend auf Ihren Vorgaben. Spätestens
hier werden Sie verstehen, welche fundamentalen Auswirkungen Ihre Vorarbeiten haben,
die in Abschn. 22.4.2 beschrieben wurden.
Eine Spezifikation sollte daher zwingend gemeinsam erarbeitet werden. Sie stehen als
Auftraggeber damit auch in der Pflicht, die Spezifikation abzunehmen und somit zu quit-
tieren, dass Sie mit der Vorgehensweise des Herstellers einverstanden sind. Dieses Do­
kument wird Vertragsbestandteil. Eine rechtliche Prüfung sollten Sie ebenfalls in Be-
tracht ziehen.

22.4.3.3 Die Umsetzung des Change-Managements


Ich konzentriere mich in diesem Abschnitt auf die praktische Anwendung des Change-­
Managements. Was im bisherigen Projektverlauf vielleicht nebenher lief, sollte spätestens
jetzt eines der Hauptthemen werden.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 601

Die Anwender werden bald die neue Software nutzen. Ihre Aufgabe besteht nun darin,
dafür zu sorgen, dass sich der ganze Staub, den Sie aufgewirbelt haben, an den richtigen
Stellen niederlegt – oder aus dem Unternehmen gefegt wird. Und das bekommen Sie nur
mit der richtigen Kommunikation hin.

Kommunikation und Organisation sind Trumpf in der Konfiguration


Oftmals kann ich beobachten, dass entweder zu wenig oder zu viel kommuniziert wird. Ja,
es kann auch zu viel kommuniziert werden. Auslöser sind meistens zu wenig Vorgaben in
der Kommunikation. Legen Sie daher fest, wer zu welchem Zeitpunkt und zu welchem
Thema mit wem kommunizieren soll. Das erspart Ihnen redundante Arbeit und fördert die
Arbeitseffizienz.

Sie können dies steuern, indem Sie mit Ihrem Team verschiedene Besprechungsformate
für diese Phase festlegen. Sorgen Sie dafür, dass nicht alle Projektteammitglieder mit dem
Hersteller sprechen. Sie können dies erreichen, wenn Sie einen Teil des Projektteams für
diese Phase in ein neues Subteam zusammenfassen. Dieses Konfigurationsteam kümmert
sich dann speziell darum, dass zielgerichtet konfiguriert wird. Der Weg ist Ihnen nun
schon klar, jetzt geht es um die effiziente Abarbeitung (Abb. 22.2).

Abb. 22.2 Beispiel Subteam Konfiguration als Kommunikator zwischen Projektteam und


Software-­Hersteller. (Quelle: eigene Darstellung)
602 F. Fusaro

Der andere Teil des Projektteams kann sich nun auf andere Themen, wie zum Beispiel
das Test- und Schulungsmanagement oder das Change-Management fokussieren.
Damit sind jegliche Meldungen der Anwender gemeint, die nun verstärkt auf Sie
­einprasseln.
Sie nehmen alle Einwände ernst, lernen, diese zu hinterfragen und zu verstehen. Nur
dann haben Sie eine Chance, dem Fragesteller eine genügsame und motivierende Antwort
anbieten zu können.

Kommunikation mit Absicht und Struktur


Falls noch nicht geschehen, sollten Sie einen detaillierten Kommunikationsplan aus-
arbeiten, der es Ihnen und dem Projektteam ermöglicht, regelmäßig zu kommunizieren,
ohne dass Sie sich überlegen müssen, was die Themen sein könnten.

Ein Beispiel, wie so etwas gestaltet werden kann, habe ich Ihnen vorbereitet, siehe
Tab. 22.2.
An dieser Stelle sei noch einmal erwähnt, dass das Change-Management eine obligato-
rische Disziplin in einem Digitalisierungsprojekt darstellen sollte. Jeder Mensch reagiert
zu Beginn vielleicht unterschiedlich auf Veränderungen, jedoch ist die emotionale Abfolge
in einem Veränderungsprozess weitgehend erforscht und kann im Modell von Richard
K. Streich nachvollzogen werden (Streich, 1997).
Weitere Modelle, die sich besser für die Anwendung und Steuerung von Change-­
Management-­Aktivitäten eignen, sind die Modelle von Lewin (https://de.wikipedia.org/
wiki/3-­Phasen-­Modell_von_Lewin, n.d.) und Kotter (1995).

Tab. 22.2  Beispiel einer Kommunikationsstruktur als Change-Management-Werkzeug. (Quelle:


eigene Darstellung)
Stakeholder Thema Intervall Verantwortlich
Geschäftsleitung Allgemeiner Projektstatus, Monatlich bis Auftraggeber
Fokus auf Zahlen, Daten, quartalsweise
Fakten
Lenkungskreis Detaillierter Projektstatus Wöchentlich bis Projektleitung
monatlich
Betriebsrat Allgemeiner Projektstatus Monatlich bis Auftraggeber/
mit Fokus auf BR-relevante quartalsweise Projektleitung
Themen
(z. B. Arbeitszeiterfassung)
Key User & Detaillierter Projektstatus Je nach Projektphase Projektleitung oder
Testanwender und Arbeitsanweisungen monatlich bis Teilprojektleitung
wöchentlich (z. B. Teilprojektteam
Fachbereich)
Rest des Grober Projektfortschritt, Je nach Projektphase Projektleitung oder
Unternehmens Meilensteine und Erfolge quartalsweise oder Teilprojektleitung
monatlich, während (z. B. Teilprojektteam
Go Live auch öfter Change-Management)
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 603

22.4.3.4 Die Konfiguration des Systems


Wenn die Spezifikation verabschiedet wurde, können Sie gemeinsam damit beginnen, das
System zu konfigurieren. Wie bereits in Abschn. 22.3 erwähnt, bezieht sich das Kapitel auf
größere Softwareprojekte. Eine Standardsoftware, die nach Installation sofort genutzt
werden kann, existiert schlichtweg nicht. Eine Konfiguration des Systems ist immer un-
abdingbar, und Sie sollten großen Wert legen auf eine strukturierte, vollständige und somit
gründliche Durchführung der Konfiguration. Die Software wird Teil Ihrer Wertschöpfung,
ein Werkzeug, wie ein Spezialfahrzeug zum Beispiel. Das Fahrzeug wurde ebenfalls aus-
giebig getestet und hat zudem noch eine offizielle Betriebserlaubnis bekommen. Das Aus-
stellen der Betriebserlaubnis übernehmen in unserem Fall Sie selbst. Sie kaufen, helfen bei
Spezifikation und Konfiguration und nehmen die Software in Betrieb.
Achten Sie bei der Konfiguration des Systems darauf, dass bei jeder Funktionalität eine
ausreichende Validierung aus dem Fachbereich vorliegt. Ist die Konfiguration vollständig
oder nahezu abgeschlossen, folgt das Testmanagement, welches mit dem Abnahmetest
endet. Damit nehmen Sie die Software vom Hersteller ab und Sie geht spätestens dann in
Ihr Hoheitsgebiet über.
Bei der Konfiguration des Systems sind folgende Themen zu beachten:

1. Rollen und Berechtigungen: welche Rollen werden benötigt? Welche Berechtigungen


sollen die verschiedenen Rollen bekommen? Tipp: versuchen Sie, möglichst wenige
und nur so viele Rollen, wie nötig, zu definieren. Jede Rolle muss regelmäßig auf
Aktualität überprüft werden. Somit bleibt der Aufwand, dies zu tun, immer ver-
hältnismäßig.
2. Prozessorientierung: Hangeln Sie sich an Ihren Anforderungen und Prozessen ent-
lang. Somit behalten Sie den Überblick und wissen genau, wie weit der Fortschritt in
der Konfiguration ist.
3. Schnittstellen: entwickeln Sie am besten zu Beginn die Schnittstellen. Mit den Schnitt-
stellen lassen sich Daten aus Umsystemen in und aus dem neuen System transportieren.
Damit können Sie bei der Entwicklung der Benutzeroberfläche schon auf Daten
zugreifen.
4. Benutzeroberfläche: das ist das, was der Anwender sieht und bedienen wird. Hier
müssen Sie alle Ansichten konfigurieren und meistens auch designen. Legen Sie fest,
wann ein Formular Sinn ergibt und wie dieses aussehen soll. Eine Tabellen- oder
Listenansicht muss auch immer gut filterbar sein, damit eine einfache Handhabung ent-
stehen kann. Warnungen und Alarme sind ebenfalls zu konfigurieren. Jede Software hat
hier andere Möglichkeiten der Konfiguration. Legen Sie frühzeitig erfahrene Anwender
in der Software an, damit diese schon einmal vorab testen können, ob die Konfigura-
tion passt.
5. Benutzeranlage: Legen Sie die Anwender im System an. Am besten geschieht dies
durch eine automatisierte Schnittstelle in Ihre globale Benutzerdatenbank. Somit müs-
sen Sie Veränderungen in der Stammdatenbank nicht händisch im neuen System ändern.
604 F. Fusaro

22.4.3.5 Bemerkungen zum Go Live


Der Go Live naht. Sie befinden sich mitten im Testmanagement. Die Konfiguration ist ab-
geschlossen, Ihr Team führt nur noch marginale Veränderungen durch und behebt die Feh-
ler, die durch das Testmanagement entstanden sind. Ihre Anwender wurden auch schon
geschult und sind mit dem System einigermaßen gut vertraut.
Nun gehen Sie in den Produktivbetrieb über. Das erste Mal werden echte Daten im
neuen System erfasst und verarbeitet. Ich möchte hier die wichtigsten Fragen aufgreifen,
um Ihnen eine Art Checkliste an die Hand zu geben, die für den Go Live und die
Optimierungsphase danach wichtig werden.

1. Vor dem Go Live


1. Ist ein Plan vorhanden, wie mit den Daten in den Altsystemen, die durch das neue
System ersetzt werden sollen, umgegangen werden soll? Wann sollen neue Aufträge
nur noch im neuen System angelegt und bearbeitet werden?
2. Funktionieren alle Schnittstellen zu allen anderen Umsystemen?
3. Wurden alle Anwender geschult?
4. Weiß jedes Projektteammitglied, was wann zu tun ist?
5. Wurde im Unternehmen kommuniziert, wann der Go Live stattfindet? Wurden alle
Führungskräfte involviert?
6. Wurden alle relevanten Themen mit dem Betriebsrat abgesprochen?
2. Während des Go Live
1. Stehen genügend Projektteammitglieder aus der IT und den Fachbereichen zur Ver-
fügung, um Probleme während des Go Live schnell beheben zu können?
2. Sind bestimmte Kommunikationskanäle dafür bestimmt und kommuniziert worden?
3. Gibt es ein Dokument, das jeden einzelnen Schritt, der für den Go Live zu erledigen
ist, beinhaltet?
4. Gibt es einen Plan B? Was passiert, wenn es schiefgeht? Kann das Tagesgeschäft
weiterbearbeitet werden?
3. Nach dem Go Live
1. Sind Erfolgskriterien für einen erfolgreichen Go Live definiert?
2. Können diese nachvollzogen, zentral abgerufen und abgeglichen werden?
3. Ist definiert, wann Altsysteme, die durch die neue Software ersetzt werden sollen,
abgeschaltet werden?
4. Wurden hierbei auch die Kündigungsfristen der Software-Lizenz-, Support- und
Wartungsverträge beachtet? Hinweis: dies kann auch noch Monate nach der Soft-
wareeinführung geschehen, je nach Anzahl bestehender Aufträge und anderen
Faktoren.
5. Sind für die kritische Anfangsphase mit dem neuen System geeignete Kommuni­
kationskanäle vorhanden?
6. Ist ein engmaschiges Netz an Key Usern in den Fachbereichen vorhanden, die vor
Ort den Anwendern schnell Rede und Antwort stehen können?
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 605

7. Ist ein geeigneter Prozess vorhanden, mit dem Ideen, Wünsche, aber vor allem Pro-
bleme und Fehler in den ersten Wochen adäquat aufgenommen und verarbeitet wer-
den können?

Nach dem Go Live empfehle ich, dass ein Teil des Projektteams sich regelmäßig weiter
bespricht und auch die Anwender regelmäßig informiert und proaktiv Hilfe anbietet.
Hilfestellungen können Regeltermine, Sprechstunden, offene Diskussionsrunden, zu-
sätzliche Schulungstermine, Befragungen und mehr sein. Welche Formate Sie hier wäh-
len, bleibt Ihnen überlassen und sind abhängig von Unternehmensgröße, Kultur und be-
stehenden Formaten.
Wie lange diese Phase andauert, richtet sich ebenfalls nach der Komplexität der Soft-
ware und anderen Faktoren.

cc Ein geeignetes Mittel, um Schulungsunterlagen oder Anwenderhandbücher zu


ergänzen oder ganz zu ersetzen, sind Schulungsvideos. Diese können heute
mit der passenden Software, die für Bildschirmaufnahmen geeignet sind,
bestens aufgenommen werden. Manche Programme unterstützen hier auch
Untertitel und eine Indexierung an. So kann ein Anwender gezielt und bequem
nach Informationen suchen und sich im ersten Schritt selbst versorgen. Meine
Schätzung lautet, dass damit bereits 80  % der Fragen beantwortet werden
können, sofern Sie es dem Anwender so einfach wie möglich machen, an die
Videos zu gelangen.

22.4.4 Bonus: Digitalisierung am Beispiel


eines Mittelstandsunternehmens

Das folgende Beispiel dieser kleinen Fallstudie ist ein realer Fall. Das Unternehmen ist in
der Baubranche tätig und beschäftigt ca. 1000 Mitarbeiter*innen. Das Ziel des Projekts
war es, ca. 4/5 der Mitarbeiter mit einer neuen Standardsoftware für die Bearbeitung von
Aufträgen auszustatten. Das Unternehmen hatte in den zehn Jahren zuvor sowohl die Mit-
arbeiter- als auch die Umsatzzahlen verdoppelt. Eine normale Ausgangslage bei meinen
Kunden. Obwohl das Unternehmen in der Ausführung ihrer Bauprojekte sehr innovativ
vorging, war von diesem Innovationsgedanken in der Verwaltung kaum etwas zu spüren.

Die Mitarbeiter und Kunden beschleunigten die Digitalisierung


Als externer Berater traf ich auf ein Team, bestehend aus zwei Geschäftsführern, Mit-
gliedern der Führungsriege eines Fachbereichs und ausgewählter Experten dieses Fach-
bereichs.

Während meiner Ist-Aufnahme, die geprägt war von Workshops und Einzelgesprächen,
stellte sich heraus, dass das Unternehmen an über zehn Standorten dezentral organisiert
606 F. Fusaro

war. Der einzige Standard war, dass jeder Standort offiziell seine Leistungsdaten in einem
standardisierten Excel-Formular bereitstellen musste. Diese Listen wurden dann einen
Monat lang befüllt und für den Monatsabschluss vom kaufmännischen Leiter konsolidiert.
Sie können sich vorstellen, dass hierbei Fehler nicht ausblieben, und für das gesamte
Unternehmen stellten die Monatsabschlüsse eine stressige Zerreißprobe dar.
Für Standardprozesse, wie das Erstellen einer Ausgangsrechnung für einen Kunden,
gab es sogar innerhalb der unterschiedlichen Standorte Varianten in der Abarbeitung, je
nachdem welches Team hier zusammengearbeitet hat. An die Anstrengung der letzten
Jahre hatten sich die Mitarbeiter zwar gewöhnt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis
dieses System kollabieren würde. Ein zu großes Risiko entstand.
Auch die Kunden haben den digitalen Wandel teilweise begriffen und vor allem die
Key Accounts fingen damit an, digitale Schnittstellen anzubieten, mit dem Hinweis, dass
eine Übergabe der Auftragsdaten per E-Mail oder Post nur noch bis zu einem gewissen
Datum möglich sei. Daher entstanden Bestrebungen, den Auftragsmanagementprozess
mitsamt der Field Service-Prozesse zu digitalisieren.

Zu Beginn standen die Prozesse im Fokus


Da der benötigte Standard in den Prozessen noch nicht herrschte, begann ich damit, Work-
shops durchzuführen, um die Prozesse aufzunehmen und zu optimieren. Anschließend
habe ich in einigen Einzelgesprächen und Terminen mit kleineren Teams vor Ort versucht,
die Prozesse zu validieren. Nach ca. acht Wochen war es so weit und ein gemeinsamer
Standardprozess war definiert. Jedenfalls in der Version 1.0. Dieser sollte sich nämlich
noch weiterentwickeln im Laufe des Projekts (Abb. 22.3).

Mit Beendigung der Prozessaufnahme startete die Formulierung der Anforderungen in


einem Lastenheft. Der Titel lässt es vielleicht nicht vermuten. Aber das Lastenheft war in
Wirklichkeit ein Dokument, was um den neuen Soll-Prozess herum aufgebaut wurde. Hier
war das geballte Prozesswissen des Unternehmens gespeichert. Eine wertvolle Grundlage
für das weitere Projekt entstand.
Parallel zu der Vorbereitung der Ausschreibung wurden die Kommunikationsprozesse
zwischen den Fachbereichen und der IT-Abteilung aufgebaut. Das ging nicht ohne Rei-
bungen daher. Bisher hatte das Unternehmen solche Projekte ausschließlich aus der IT-Ab-
teilung heraus geleitet. Je nachdem, wer die Projektleitung innehatte, wurde der Fach-
bereich enger eingebunden. Ansonsten war es Usus, dass der Fachbereich erst ab einem
späten Zeitpunkt involviert wurde. Was regelmäßig zu nicht kundenzentrierten Software-

Abb. 22.3  Übersicht des Auftragsmanagementprozesses. (Quelle: eigene Darstellung)


22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 607

lösungen führte. Zum Unmut der Anwender. Und nein, wir sprechen nicht vom Jahre
1980, sondern von einem Projektstart im Jahr 2018!
Diese kritische Phase konnte nur durch den unerschütterlichen Mut der Geschäfts-
führung und einem gemeinsamen Zielbild des Projektteams überstanden werden. Zum
Zeitpunkt dieser Lektüre werden jeden Tag knapp 100 Aufträge standardisiert angelegt,
bearbeitet, zurückgemeldet und abgerechnet. Fast alle großen Kunden sind bereits mit
digitalen Schnittstellen an das System angebunden, sodass die Auftragsanlage weitest-
gehend automatisiert erfolgt und nur noch in Einzelfällen eine händische Überprüfung
benötigt. Allein dieser Arbeitsschritt hat im Schnitt zwei Mitarbeiter*innen gebunden und
war stark fehleranfällig.

Der richtige Partner wurde gesucht


Nachdem die Anforderungen definiert waren, wurden gemeinsam mit dem internen Ein-
kauf Dienstleister gesucht, die die benötigten Funktionen liefern konnten. Nachdem uns
bekannt war, dass keine Standardlösung gesucht wurde, mussten wir breit gestreut suchen
und jeden Hersteller in Vorgesprächen validieren und nach den kritischsten Funktionen
abfragen.

Aus einer Liste mit 13 Anbietern wurde auf eine vorläufige Short List mit sechs An-
bietern gekürzt. Die verbleibenden Anbieter haben wir mittels Telefonkonferenzen und
teilweiser Bildschirmübertragung (es war das Jahr 2019!) kontaktiert und konnten somit
einen kleinen Kreis von drei verbleibenden Anbietern ermitteln.
Mit diesen Anbietern sind wir dann in mehrstufige Gespräche gegangen. Doch keiner
der Anbieter konnte das liefern, was gefordert war. Trotzdem waren wir uns sicher, die
richtigen Funktionen ermittelt zu haben und wollten davon noch nicht abrücken. Es stand
also im Raum, das kleinere Übel zu wählen. Wobei es immer darauf hinauslief, dass eben
nicht nur eine, sondern evtl. zwei bis drei Software-Module miteinander kombiniert wer-
den sollten. Doch die Ideallösung war das nicht. Die Gespräche liefen also weiter. Und
zwischendrin, ohne, dass es dafür eine plausible Erklärung gab, meldete sich ein Vertriebs-
mitarbeiter eines Software-Herstellers bei einem der Entscheider im Projekt. Es stellte
sich heraus, dass dieser jede Anforderung in einer Software anbieten konnte. Es lohnte
sich also doch, den Markt zu sondieren und alle im Projektteam zu involvieren. Hätte sonst
die Führungskraft des Fachbereichs sofort reagiert und einen kurzfristigen Vorstellungs-
termin einberufen, wäre nur der Einkauf oder die IT-Abteilung in den Prozess involviert
gewesen? Ich schätze nicht.
Sprechen wir also von einem glücklichen Zufall oder vom Glück des Tüchtigen? Ich
überlasse Ihnen die Antwort.

Die Implementierungsphase – die Arbeit beginnt jetzt erst


Die Verträge mit dem Wunschpartner wurden also geschlossen. Nun musste das Projekt
aufgesetzt werden.
608 F. Fusaro

Es wurde damit begonnen, das Projektteam aufzustocken. Neue Vertreter der Fach-
bereiche kamen mit dazu. Wir haben hier darauf geachtet, dass alle neuen Mitarbeiter*innen
zum einen offen waren für Veränderungen und motiviert waren, die Zeit, die sie von Ihren
Vorgesetzten zur Verfügung bekamen, für das Projekt einzusetzen. Das war für alle
­Beteiligten nicht leicht. Denn dadurch mussten Aufgaben des Tagesgeschäfts innerhalb
der Abteilungen von den Kolleg*innen, die nicht im Projekt mitgearbeitet haben, zusätz-
lich erledigt werden.
Mit dem neuen Team wurden parallel die Rollendefinitionen innerhalb des Projekt-
teams und eine Kommunikationsstrategie erarbeitet. Dazu gehörte es auch, dass geeignete
Formate zum Austausch mit den restlichen Mitarbeiter*innen und Anwendern erfunden
wurden. So entstand auch das digitale Gipfeltreffen mit dem Projektteam. Hier wurde
jeden zweiten Monat die Projektfortschritte, inklusive aller Probleme und Erfolge, und die
Vorschau über die nächsten Schritte kommuniziert. Am wichtigsten für das Projektteam
waren jedoch die Fragerunden nach der kurzen Präsentation. Wir waren uns darüber einig,
dass dies eine perfekte Chance sein würde, das Stimmungsbild in der Belegschaft aufzu-
greifen und Einwände, Sorgen und Ängste zu behandeln.
Die Arbeit in Zusammenarbeit mit dem Hersteller begann. Eine interessante Anfangs-
phase kann ich hierbei in jedem komplexen Projekt beobachten. Wie in jedem Team, was
sich neu geformt hat, gibt es zu Beginn eine eher stürmische Phase, in der noch nicht alles
rund läuft. Wichtig ist hier, dass sich überhaupt etwas tut. Das war hier schon der Fall,
allerdings gab es noch viel zu viel unstrukturiertes Arbeiten, Termine ohne Sinn und Dis-
kussionen ohne gemeinsamen Kommunikationsmaßstab. Eine Leitplanke musste also her.
Dafür versammelte ich das Team und wir haben Schritt für Schritt verschiedene Dinge
festgelegt und im Team entschieden. Die Art, wann und wie wir miteinander kommunizie-
ren, die Inhalte, die Meilensteine. Einfach alles wurde noch einmal geprüft und be-
schlossen. Hier hatte ich einen wichtigen Schritt nicht richtig zu Ende geführt und zu viele
Dinge vorausgesetzt. Man lernt nie aus.

Der Go Live – die heiße Phase kam näher


Das Datum für den Go Live lag vor uns. Wir hatten diesen um zwei Monate nach hinten
korrigieren müssen, da ein IT-Dienstleister in der gewünschten Zeit nicht zur Verfügung
stand. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, was ich über Zeitpläne in Abschn. 22.4.2.1
geschrieben habe.

Die Konfiguration war schon fast abgeschlossen, da haben wir bereits die ersten An-
wendertests durchgeführt. Zwischen dem Abnahmetest und dem Beginn der Anwender-
schulung lagen keine zwei Wochen. Das ist wenig Puffer für die Größe des Projekts. Doch
wir sollten es schaffen. Für die Anwenderschulungen haben wir uns für ein Hybridmodell
zwischen Präsenzschulungen und dem Train-the-Trainer-Ansatz gewählt. Das war für die
Struktur ideal, denn die Außendienstmitarbeiter wurden ohnehin regelmäßig von Ihren
Kolleg*innen im Innendienst zu verschiedenen Themen geschult. Somit hat das hervor-
ragend funktioniert.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 609

Dann kam der Tag des Go Live. Wir haben uns für eine Mischung aus „Big Bang“ und
schrittweisem Rollout in Abhängigkeit der abzulösenden Umsysteme entschieden. Ein
kontrollierter, aber auch risikobehafteter Schritt. Daher haben wir den Praxistest mit einem
kleineren Bereich vorgelagert durchgeführt, um daraus lernen zu können.
Mit diesem Projekt haben wir im Unternehmen, aber auch in der Branche einen Stan-
dard gesetzt. Natürlich lief nicht alles nach Plan. Aber das Budget wurde nur mit 5  %
überschritten, obwohl viele Zusatzwünsche während des Projektverlaufs dazukamen, die
zum Großteil auch umgesetzt wurden. Das Unternehmen hat zudem eine Projekt-
organisation entwickeln können, die sicher auch auf weitere Projekte in der Größen-
ordnung problemlos angewandt werden konnte. Und, das finde ich am wichtigsten,
die Akzeptanz unter den Anwendern ist mittlerweile sehr hoch. Zudem haben sich
Schlüssel-Mitarbeiter im Projektteam durch Ihren unermüdlichen Einsatz zu wichtigen
Experten für das neue System entwickelt, was mit einer wirtschaftlichen Verbesserung der
Mitarbeiter*innen einherging. Das sind die wahren Erfolge eines solchen Projekts.

22.5 Fazit

All diese Schritte und Entscheidungen, die es in einem solchen Projekt zu treffen gilt,
sollen Ihnen aufzeigen, dass es kein Standardvorgehen gibt, das Ihnen Schritt für Schritt
vorgibt, was wann zu tun ist. Sie müssen einen Großteil der Schritte inhaltlich füllen. Da
führt kein Weg dran vorbei. Den roten Faden bekommen Sie in diesem Fachbeitrag ge-
liefert. Nun sind Sie dran. Füllen Sie diesen mit Leben.
Damit Sie dafür bestens gewappnet sind, möchte ich die wichtigsten Informationen
noch einmal für Sie zusammenfassen.

Starten Sie mit dem Zielbild


Wenn Sie Menschen begeistern möchten, benötigen Sie ein Zielbild, welches nicht nur
Zahlen, Daten und Fakten beinhaltet, sondern auch Emotionen weckt. Erinnern Sie sich
doch einmal an Ihre letzten Einkäufe im privaten Bereich. Ich meine damit nicht unbedingt
die Lebensmitteleinkäufe. Sondern eher Ihre letzten Ausgaben für Ihr teures Hobby, tech-
nische Geräte oder Kleidung. Sie kaufen dort, wo Ihr Herz höherschlägt. Diese Rede-
wendung kam übrigens daher, dass Sie an bestimmte Dinge, in diesem Fall zum Beispiel
Luxusgüter, bestimmte, positive Emotionen geknüpft haben. Egal, wie viele wirtschaft-
liche Gründe dagegensprechen. Sie brauchen diese Lenkradheizung oder dieses sündhaft
teure Seidenhemd mit den pinken Flamingos unbedingt, komme was wolle. Genau so
funktioniert es auch mit einem Zielbild.

Kennen Sie Ihre Prozesse


Auch wenn es unlängst klar sein sollte. In Gesprächen mit zahlreichen Software-­
Herstellern, Dienstleistern und Integrationspartnern bekomme ich immer wieder ge-
610 F. Fusaro

spiegelt, dass eine Software eingekauft wurde, ohne die prozessuale Grundlage erarbeitet
zu haben. Dann muss der Kunde nach dem Kauf noch eine Extra-Runde drehen, um dann
bei der Erarbeitung und Dokumentation der eigenen Prozesse herauszufinden, dass die
gekaufte Software doch nicht die richtige ist oder nur zu einem Teil passt. Das muss nicht
sein. Es erfordert wenig Aufwand, darf aber nicht vergessen werden. Ihre Prozesse be-
stimmen die Funktionalität der Software – nicht andersherum.

Nur mit einem starken Team erreichen Sie starke Ergebnisse


Missverständnisse, unnötige Projektverzögerungen, Unzufriedenheit. So muss ein Digi­
talisierungsprojekt nicht ablaufen. Die Stärke Ihres Teams ist ausschlaggebend für den
Erfolg des Projekts. Zeigen Sie mir Ihre Teammitglieder und ich sage Ihnen, wie erfolg-
reich Sie sein werden! Sie wollen ein Team haben, das schnell gute Entscheidungen vor-
bereiten und treffen kann.

Just do it – es gewinnt der, der am besten umsetzt


Die Digitalisierung und die Digitale Transformation sind keine Schönheitswettbewerbe.
Sie dürfen hier auch einmal unperfekt sein und Fehler machen. Erinnern Sie sich bitte, für
die meisten Unternehmen ist das wirklich Neuland in jeglicher Hinsicht. Versuchen Sie
also, den Anwendern so früh und so zahlreich wie möglich Einblicke in die neue Software
zu geben. Erst dann werden Sie sehen, wie gut Sie geplant haben, was schon gut funktio-
niert und wo nachgebessert werden muss. Umso früher Sie das machen, umso günstiger
werden Fehler. In einem späteren Stadium werden Fehler immer teurer sein, vor allem,
wenn Sie Fehler in der Auswahl der richtigen Software gemacht haben. Das erklärt dann
auch, warum wir in Deutschland Weltmeister bei den Kosten für gescheiterte Digi­
talisierungsprojekte sind.

Suchen Sie sich keine Dienstleister oder Lieferanten


Was Sie brauchen sind echte Partner. Die mit Ihnen statt durch Sie erfolgreich werden. Die
Sie auch in einer schwierigen Projektphase unterstützen und Sie nicht im Stich lassen. Für
einen echten Partner ist das Budget nicht alles. Er möchte Sie überzeugen, indem er nicht
nur das hält, zu was er oder sie vertraglich verpflichtet ist, sondern die Anforderungen
übererfüllt. Ein Partner hält Ihnen aber auch den Spiegel vor, wenn es nötig ist. Er sagt
seine Meinung und zeigt dabei trotzdem Wertschätzung.

Bleiben Sie standhaft


Sie haben alles bedacht und sind sich sicher, dass dies der richtige Weg ist, das Unter-
nehmen digital besser aufzustellen? Sie kennen den Nutzen und haben diesen validiert?
Gut so. Bleiben Sie nun standhaft und halten Sie durch. Denn auf dem Pfad der Digitali-
sierung weht ein rauer Wind. Meistens Gegenwind. Halten Sie es ein wenig aus, bleiben
Sie sich und dem Projekt treu. Es wird immer Menschen geben, die Sie nicht überzeugen
können. Konzentrieren Sie sich auf die anderen! Das ist nämlich die überwiegende Mehr-
heit. Wenn Sie Durchhaltevermögen zeigen, werden Ihnen alle folgen.
22  Stellen Sie sich vor, die Digitalisierung funktioniert! 611

Kommunizieren Sie wie ein Weltmeister


Kommunizieren Sie oft und viel. Mehr Transparenz führt zu besserem Verständnis und zu
besseren Fragen. Sie treibt die Transformation, die in Ihrem Unternehmen stattfindet,
­besser voran, als wenn Sie alles unter Verschluss hielten. Kommunizieren Sie also mit
breiter Brust und mit Mut. Diesen Mut brauchen Sie und den müssen Sie auch von Ihren
Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen einfordern. Das geht nur, wenn Sie mit gutem Bei-
spiel vorangehen.

Zum Abschluss, ein Appell


Die Digitalisierung ist somit keine unlösbare Aufgabe. Sondern sie ist eine unumgängliche
Aufgabe, die es zwingend zu lösen gilt. Es gibt keine Entschuldigungen mehr, um Ihr
Unternehmen digital und somit zukunftssicher aufzustellen.

Der erste Schritt ist dabei sicherlich die Digitalisierung. Jedoch kommt kein Unter-
nehmen, das von sich behauptet, es möchte sich weiterentwickeln und wachsen, daran
vorbei, auch das eigene Geschäftsmodell weiterzuentwickeln und somit in die Digitale
Transformation einzutauchen.
Diese nicht anzugehen ist so, als wenn auf der Titanic geleugnet würde, dass das Schiff
beginnt zu sinken.

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Michael Theurer, Grigorios Aggelidis, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP– Druck-
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rungen, Paradoxien (11., unveränd. Aufl., S. 53–70). Huber.

Francesco Fusaro,  Jahrgang 1984, ist Diplom-Betriebswirt (FH),


Ehemann und Vater. Er studierte und lehrte an der HfWU
Nürtingen-Geislingen. Er ist seit 2011 selbständig als Unternehmens-
berater und unterstützt KMU und Unternehmen der Kritischen Infra-
struktur (KRITIS) bei ihren Digitalisierungsvorhaben. Digitale Ge-
schäftsmodelle und die Digitalisierung von Geschäftsprozessen sind
sein Steckenpferd. Seine Kunden schätzen ihn sehr für seine Mi-
schung aus technischem und prozessualem Verständnis und seiner
Hingabe für den Menschen in diesen Veränderungsprozessen.
Mehr „Anarchie“ wagen? –
Kooperationsmuster 23
in Innovationsnetzwerken und deren
Entwicklung im Zuge der Digitalisierung der
Automobilbranche

Fabian Reck und Sebastian Posset

Zusammenfassung

In diesem Beitrag diskutieren wir, auf welche Art und Weise Innovationsnetzwerke bei
der Digitalisierung der Automobilindustrie genutzt werden und inwiefern sich Ko-
operationsmuster im Zuge der digitalen Transformation verändern. Wir greifen dabei
auf eine empirischen Datenerhebung in Form von qualitativen Experteninterviews und
Fallstudiendaten aus 24 kooperativen Innovationsprojekten in Themenbereichen wie
„Autonomes Fahren“, „Smart Mobility Management“ und „Connected Services“ zu-
rück. Unsere Studie zeigt auf, dass Automobilunternehmen zwar verstärkt auf hetero-
genere Innovationsnetzwerke setzen, jedoch weiterhin auf zentralisierten Kontroll- und
Koordinationsmechanismen beharren. Wir schlagen zwei zueinander komplementäre
Perspektiven zur Erklärung dieser Entwicklung vor und leiten Prognosen für die Ent-
wicklung von Innovationsnetzwerken in der Branche ab. Im Speziellen sehen wir zwei
gegensätzliche, jedoch sich ergänzende Szenarien: 1) die Formierung dauerhafter,
branchenübergreifender Allianzen als „Orchestratoren“ und „Keystone“-Akteure der
digitalen Transformation; 2) das Entstehen offener Communities und Cluster mit der
Etablierung von Mobilität als Open-Source-System.

F. Reck (*)
Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland
E-Mail: fabian.reck@uni-bamberg.de
S. Posset
LIDL Stiftung & Co. KG, Heilbronn, Deutschland
E-Mail: sebastian.posset@lidl.com

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 613


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_23
614 F. Reck und S. Posset

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Automobilindustrie · Trends · Digitale Transformation ·


Innovationsnetzwerk

23.1 Netzwerke und Kooperationsbeziehungen als Grundlage


von Innovation in der digitalen Welt

Digitale Innovationen eröffnen Unternehmen zahlreiche Chancen, z.  B. durch die Er-
weiterung der Funktionalität physischer Produkte oder durch das Angebot von daten-
basierten Dienstleistungen (Porter & Heppelmann, 2014). Die Digitalisierung bringt aller-
dings tiefgreifende Änderungen in den Entstehungs- und Diffusionsmechanismen von
Produkt- und Serviceinnovationen mit sich (Nambisan et al., 2017). Die Forschung hebt
hier vor allem zwei Faktoren hervor: (1) Konvergenz, d. h., das Verschwimmen von Markt-
und Branchengrenzen bei digitalen Produkten und Dienstleistungen (Tilson et al., 2010);
(2) Konnektivität, d. h., die voranschreitende Vernetzung von Innovationsakteuren durch
verbesserte Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) (Majchrzak & Malho-
tra, 2013). Um in der digitalen Welt erfolgreich zu innovieren, müssen Unternehmen ge-
eignete Strategien formulieren und implementieren, die diesen Entwicklungen Rechnung
tragen (Yoo et al., 2012).
Insbesondere ein Strategieelement gewinnt im Zuge der Digitalisierung besonders
stark an Bedeutung: die Kooperationsbeziehungen und Netzwerke des Unternehmens
(Lyytinen et al., 2016). Die „Annual Global Innovation Survey“ der Boston Consulting
Group von 2018 ergab beispielsweise, dass die jährliche Anzahl kooperativer Innovations-
vorhaben im Zeitraum von 2014 bis 2017 branchenübergreifend um knapp 60 % anstieg
(Ringel & Zablit, 2018). Eine Studie des Beratungsunternehmens Accenture aus dem-
selben Jahr kommt zu einem ähnlichen Ergebnis (Lyman et al., 2018). 76 % der befragten
Topmanager gaben an, dass Unternehmensnetzwerke bis Mitte der 2020er-Jahre zur domi-
nierenden Organisationsform für Innovationsvorhaben aufsteigen werden. Gleichzeitig
scheinen viele Unternehmen Probleme zu haben, Kooperationsbeziehungen aufzubauen
und effektiv zu nutzen. Lediglich 40 % der Befragten bewerteten das strategische Bewusst-
sein und die unternehmensinterne Expertise im Management von Innovationsnetzwerken
als ausreichend. Nur knapp 50  % der Unternehmen erzielten signifikante Umsatz-
steigerungen aus kooperativen Innovationsvorhaben.
Vor allem Unternehmen aus traditionell „analogen“ Industrien sehen sich mit den
Herausforderungen dieser stetig wachsenden Vernetzung konfrontiert (Reck & Fliaster,
2019). Ein Beispiel dafür ist die Automobilbranche. Technologische Trends wie Auto-
nomes Fahren und Smart Mobility führen nicht nur zu einer Transformation des Ge-
schäftsmodells von Automobilherstellern, sondern ziehen grundlegende Veränderungen
der Struktur und Steuerung von Innovationsnetzwerken in der Branche nach sich (Hen-
fridsson & Yoo, 2014). So entsteht für Automobilunternehmen ein erheblicher Ko-
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 615

ordinationsbedarf mit Akteuren aus verschiedensten Industriesektoren wie beispielsweise


Energieversorgung, Telekommunikation sowie Straßen- und Tiefbau (Cacilo et al., 2015).
Die Unternehmen stehen daher vor Frage, welche Formen der Zusammenarbeit in der di-
gitalen Welt den größten Erfolg versprechen und wie der Übergang von der traditionellen,
hierarchisch geprägten Kooperationslogik der Automobilindustrie hin zu aufkommenden
neuen Netzwerkformen am besten gestaltet werden kann.
Die Forschungsliteratur deutet hier auf zwei generelle Trends hin: (1) Innovationsnetz-
werke werden heterogener (Arthur, 2009); (2) die Organisation von Innovationsnetz-
werken wird dezentraler (Tiwana et al., 2010). Lyytinen et al. (2016) sprechen von einem
Übergang von auf klaren Kunden-Lieferanten-Beziehungen aufbauenden „projekt-
basierten“ Netzwerken hin zu community-basierten „anarchischen“ Netzwerkformen.
Über die generelle Benennung dieser Trends hinaus bietet die Literatur jedoch nur wenige
Erkenntnisse. Insgesamt ist die bisherige Forschung hauptsächlich konzeptioneller Art,
die wenigen empirischen Untersuchungen beschränken sich auf einzelne Fallstudien aus
Branchen wie beispielsweise IKT- (Nepelski & De Prato, 2018), Software- (Makkonen &
Komulainen, 2018) und Lebensmittelindustrie (Zoppolletto et  al., 2020). Infolgedessen
sind Kooperationsmuster und Entwicklungstrends in digitalen Innovationsnetzwerken
nicht ausreichend erklärt. Zur Ableitung von branchenspezifischen Handlungsemp­
fehlungen für die Managementpraxis fehlt es zudem an Untersuchungen in weiteren
Industriekontexten.
In diesem Beitrag fokussieren wir uns auf Innovationsnetzwerke in der Automobil-
industrie und tragen so zur Schließung der genannten Forschungslücken bei. Insbesondere
beantworten wir folgende Forschungsfragen: (1) In welchen Netzwerk- und Koopera­
tionsformen werden digitale Innovationen in der Automobilbranche organisiert? (2) In-
wiefern ist eine Entwicklung in Richtung Heterogenität und Dezentralisierung beobacht-
bar? (3) Welche strategischen Implikationen lassen sich für Automobilunternehmen
ableiten?
Basierend auf Experteninterviews und einer Fallstudienanalyse zeigen wir auf, dass
Innovationsnetzwerke in der Automobilbranche eindeutig heterogener, jedoch bislang
nicht dezentraler werden. Unsere empirische Untersuchung liefert hierfür zwei gegensätz-
liche Erklärungsansätze. Einerseits zeigen unsere Daten, dass OEMs dezentrale Ko-
operationsformen nicht vollständig außer Acht lassen. Vielmehr versuchen diese
Unternehmen, in begrenztem Umfang mit dezentral organisierten Netzwerken zu
­
­experimentieren und graduell deren Einsatzmöglichkeiten auszuloten. Diese Strategie
wird vor allem aus Gründen der Ressourcenkontrolle und zur Stärkung der eigenen Rolle
als „Orchestrator“ (Dhanaraj & Parkhe, 2006) und „Keystone“-Akteur (Iansiti & Levien,
2004) des Ecosystems der Automobilbranche genutzt. Andererseits deutet viel darauf hin,
dass im Zuge der Digitalisierung eine Disruption traditioneller Kooperationsmuster statt-
findet. Die Vernachlässigung dezentraler Netzwerkformen ließe sich demnach vor allem
auf „Incumbent Inertia“ der Automobil-OEMs zurückführen  – die Trägheit etablierter
Unternehmen bei der Reaktion auf Veränderungen im Marktumfeld (Gilbert, 2005). Auf
Basis unserer Studienergebnisse argumentieren wir, dass eine parallele Betrachtung der
616 F. Reck und S. Posset

beiden Erklärungsansätze sinnvoll ist und wichtige Erkenntnisse für die Formulierung von
Netzwerk- und Digitalisierungsstrategien etablierter Industrieunternehmen liefert.

23.2 Stand der Forschung: Innovationsnetzwerke


und Digitalisierung

Die wissenschaftliche Literatur ist sich weitgehend einig, dass mit einem steigenden Grad
an Digitalisierung in der Geschäftswelt Innovationen immer weniger in linearen Prozes-
sen innerhalb von Unternehmensgrenzen entstehen (Nambisan et  al., 2017). Vielmehr
führt die digitale Transformation zu einer verstärkten „Demokratisierung“ von Innovation
(Yoo et al., 2012). Innovationsvorhaben werden dabei nicht von einzelnen Unternehmen,
sondern in multilateralen Unternehmenskooperationen und Netzwerken organisiert (Lyy-
tinen et al., 2016).
Innovationsnetzwerke spielen deshalb eine zentrale Rolle für die Innovationsfähigkeit
von Unternehmen und stellen einen wichtigen Differenzierungsfaktor zwischen erfolg-
reichen Innovatoren und weniger innovativen Firmen dar (Dhanaraj & Parkhe, 2006). Der
Begriff „Innovationsnetzwerk“ beschreibt eine freiwillige Kooperation von zwei oder
mehr ansonsten unabhängigen Akteuren mit dem gemeinsamen Ziel der Entwicklung,
Umsetzung und/oder Vermarktung eines bestimmten Innovationsvorhabens (Dilk et  al.,
2008). Diese Definition umfasst ein breites Spektrum an Netzwerkarten: Innovationsnetz-
werke können beispielsweise in Form von strategischen Allianzen (He et  al., 2020),
Industrieverbänden (Wen et al., 2020) und Technologieplattformen (Tiwana et al., 2010)
auftreten.

23.2.1 Vier Arten von Innovationsnetzwerken

Aufgrund der Vielfalt von Netzwerkformen benötigen wir für unsere Analyse der Auto-
mobilindustrie eine einheitliche Systematik zur Klassifizierung und Bewertung von
Innovationsnetzwerken. Lyytinen et al. (2016) bieten einen für die Zwecke unserer Studie
passenden Ansatz. Dieser unterscheidet verschiedene Arten von Innovationsnetzwerken
anhand zweier Dimensionen: a) Heterogenität der Zusammensetzung des jeweiligen Netz-
werks, und b) Zentralisierungsgrad der Koordination und Kontrolle der Innovations-
prozesse im Netzwerk.
Die erste Dimension „Heterogenität“ beschreibt die Zusammensetzung der im In­
novationsnetzwerk versammelten Partnerunternehmen. Ein hoher Grad an Heterogenität
resultiert vor allem daraus, dass die beteiligten Unternehmen aus unterschiedlichen
Branchenhintergrund kommen und dadurch jeweils eine unterschiedliche Technologie-
basis besitzen (Ozcan & Eisenhardt, 2009). Eine heterogene Zusammensetzung führt ge-
nerell zu einer größeren Bandbreite an Expertise und eröffnet den beteiligten Unternehmen
die Chance, neuartige Lösungskonzepte durch kreative Wissenskombinationen zu ent-
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 617

wickeln (Reck & Fliaster, 2019). Andererseits kann Heterogenität auch zu Konflikten und
Verständigungsproblemen führen (Gassmann et al., 2010). Der optimale Grad an Hetero-
genität hängt somit von den Eigenschaften des jeweiligen Innovationsvorhabens ab,
z. B. dessen Komplexität und Neuheitsgrad (Lyytinen et al., 2016).
Die zweite Dimension „Zentralisierung“ beschreibt die Art und Weise, wie die Auf-
gabenteilung im Innovationsnetzwerk gesteuert und koordiniert wird. In zentral ge-
steuerten Netzwerken liegt eine asymmetrische Machtverteilung unter den beteiligten
Netzwerkpartnern vor, bei der die Kontrolle im Wesentlichen von einem oder einigen we-
nigen Unternehmen ausgeht (Lyytinen et al., 2016). Im Gegensatz dazu sind in dezentra­
len Netzwerken die Kooperationspartner gleichgestellt, zentrale Steuerungs- und Ko-
ordinationsinstanzen sind auf ein Minimum beschränkt (Tilson et al., 2010). Zwischen den
beiden Ausprägungen zentral vs. dezentral existieren eine Reihe von Mischformen. So
kann zum Beispiel ein einzelnes Unternehmen bestimmte Schlüsselaufgaben im Netzwerk
zentral verantworten, während andere Aktivitäten den restlichen Netzwerkmitgliedern
selbst überlassen werden (Provan & Kenis, 2008). Zudem kommt es häufig vor, dass die
beteiligten Unternehmen gemeinschaftlich eine dedizierte Organisationseinheit schaffen
oder einen Netzwerkmanager einsetzen, der hauptverantwortlich mit der Steuerung und
Koordinierung der Zusammenarbeit im Netzwerk betraut ist (Heidenreich et al., 2016).
Basierend auf den beiden Dimensionen unterscheiden Lyytinen et al. (2016) vier Arten
von Innovationsnetzwerken: 1) „projektbasierte“, 2) „föderale“, 3) „clanähnliche“ und 4)
„anarchische“ Netzwerke (siehe Abb. 23.1). Jeder dieser Idealtypen beschreibt ein spezi-
fisches Muster der Organisation kollaborativer Innovationsvorhaben, jeweils mit spezi-
fischen Nutzenpotenzialen und Herausforderungen.

• Projektbasiertes Innovationsnetzwerk: Diese Netzwerkform besteht aus einem homo-


genen Pool von Partnerunternehmen, deren Branchen- und Technologiehintergrund
sich stark überschneiden. Die Steuerung der Kooperation erfolgt über eine zentrali-

Abb. 23.1  Arten von Innovationsnetzwerken. (Quelle: Eigene Darstellung)


618 F. Reck und S. Posset

sierte bzw. hierarchisch organisierte Kontrollstruktur, Entscheidungskompetenzen lie-


gen oft in der Hand eines einzelnen Unternehmens. Typischerweise zeichnen sich
projektbasierte Innovationsnetzwerke durch einen hohen Grad an Standardisierung in
den Arbeitsabläufen und Kommunikationsprozessen zwischen den Partnern aus.
­Branchenweit genutzte IT-Tools (z. B. CAD, CAM) und etablierte Normungssysteme
(z. B. TQM, ISO9000) helfen dabei, Fehler im Rahmen der Zusammenarbeit zu mini-
mieren und eine effiziente, zielorientierte Kooperation zu ermöglichen. Zudem existiert
meist ein starker sozialer „Common Ground“: die beteiligten Akteure besitzen ähnliche
Geschäftserfahrungen, sprechen eine gemeinsame Sprache und betrachten neue
Technologien und Marktchancen weitestgehend aus derselben Perspektive. Beispiele
für projektbasierte Innovationsnetzwerke in der Automobilindustrie sind klassische
OEM-Lieferanten-Beziehungen, die sich auf die Verbesserung modularer Teilsysteme
fokussieren, wie z. B. den Antriebsstrang oder das Bremssystem eines Fahrzeugs (Hen-
fridsson & Yoo, 2014).
• Föderales Innovationsnetzwerk: Charakteristisch für diesen Netzwerktyp ist eine
branchenübergreifende Partnerkonstellation mit heterogener Wissensbasis. Dabei wird
der Innovations- und Kooperationsprozess zentral kontrolliert und koordiniert. Das Ziel
föderaler Innovationsnetzwerke ist üblicherweise die Orchestrierung der Expertise ver-
schiedener Fachdisziplinen zur Generierung einer komplexen Produktarchitektur (An-
dersson et  al., 2008). Föderale Innovationsnetzwerke sind in der Automobilbranche
weit verbreitet, im Grunde basiert die Entwicklung jedes neuen Fahrzeugmodells auf
dieser Netzwerkform (Henfridsson & Yoo, 2014). OEMs bündeln dabei die Expertise
von Unternehmen aus Maschinenbau, Elektrotechnik, Industriedesign, IKT und Werk-
stofftechnik. Die Partnerunternehmen stehen jedoch stets in enger Abstimmung und
unter starker Kontrolle des jeweiligen OEM, der Regeln und Standards für die Zu-
sammenarbeit bestimmt und das Ergebnis der Innovationsaktivität definiert und durch-
setzt. In der digitalen Welt wird das Prinzip des föderalen Netzwerks im Rahmen von
Softwareplattformen noch weiter ausgereizt (Chen et al., 2007). Während hierbei an-
dere, eher technologiebasierte Kontrollmechanismen verwendet werden, ist das Grund-
prinzip ähnlich: zentrale Akteure wie Google, Facebook oder Amazon führen App-­
Entwickler, Serviceanbieter und „Content Creators“ jeglicher Couleur zusammen,
behalten dabei jedoch weitestgehend die Kontrolle über die digitale Leistungsarchi-
tektur und die Verteilung der erzielten Umsätze und Gewinne (Tilson et al., 2010).
• Clanähnliches Innovationsnetzwerk: In dieser Netzwerkform findet sich eine homo-
gene Gruppe von Partnern mit sehr ähnlicher Expertise zusammen. Die Akteure unter-
liegen hier jedoch weder einer hierarchischen Kontrollstruktur noch wird die Zu-
sammenarbeit durch einen zentralen Prozess gesteuert. Die Partnerunternehmen im
Netzwerk teilen ein gemeinsames Interesse an einer bestimmten Produkt- oder Dienst-
leistungskategorie und besitzen diesbezüglich ein umfassendes Fachwissen. Innovatio-
nen in clanähnlichen Netzwerken entstehen durch „largescale sharing of work“ (Lyyti-
nen et  al., 2016, S.  62), ermöglicht durch eine gemeinsame Sprache der beteiligten
Akteure, starke soziale Normen und ein meritokratisches Reputationssystem. Ein typi-
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 619

sches Beispiel für diese Netzwerkform ist die Open-Source-Softwareentwicklung (Til-


son et al., 2010). Open-Source-Entwickler sind an keine zentrale Kontrollstruktur ge-
bunden, sondern handeln vielmehr aus Eigeninteresse, stets unter Einhaltung von
Gemeinschaftsnormen hinsichtlich Form und Qualität des erstellten Programmcodes.
Ein wichtiges Beispiel clanähnlicher Innovationsnetzwerke in der Automobilindustrie
stellen Industrieverbände dar (Wen et al., 2020). Diese leisten einen signifikanten Bei-
trag zur Innovation in der Branche, z. B. durch die Entwicklung und Aushandlung von
Standards und Industrienormen oder die gemeinsame Erforschung von Zukunfts-
technologien und Marktszenarien (z. B. im Rahmen alternativer Antriebe).
• Anarchisches Innovationsnetzwerk: Der vierte Netzwerktyp ist durch eine hetero-
gene Teilnehmerkonstellation charakterisiert. Es existiert keine zentrale Kontroll-
instanz für den Innovationsprozess, die Struktur des Netzwerks und die Ergebnisse
der Innovationsaktivitäten. Anarchische Netzwerke treten vor allem dann auf, wenn
Innovationsvorhaben einen radikalen Neuheitsgrad aufweisen und dabei traditio-
nelle Branchengrenzen überschreiten. Bei solchen Innovationsvorhaben agieren die
Partnerunternehmen außerhalb etablierter Strukturen. Die Zusammenarbeit ist durch
das Entstehen von „trading zones“ (Lyytinen et al., 2016, S. 65) und „hyper-collabo-
ration“ (Kolk et  al., 2018, S.  23) geprägt. Es herrscht weitestgehende Unklarheit
welche Expertise benötigt wird und wer diese Expertise besitzt. Machtverhältnisse
und Beziehungen zwischen Akteuren sind umkämpft, verändern sich und müssen
kontinuierlich neu verhandelt werden. Im Rahmen der Automobilindustrie treten
anarchische Innovationsnetzwerke vor allem bei Themen wie dem autonomen Fah-
ren und Smart Mobility auf (Svahn et  al., 2017). Beiker et  al. (2016, S.  1) be-
schreiben die Wettbewerbssituation in diesen Technologiefeldern wie folgt: „a
potent mix of large high-tech companies and start-ups […] will transform typically
vertically integrated automotive value chains into a complex, horizontally structured
ecosystem“. Automobilhersteller sind dabei nicht mehr in der Lage, bisherige „Total
Control“-Normen in ihrem Netzwerk durchzusetzen. Stattdessen agieren sie in dy-
namisch wechselnden Kooperationsbeziehungen mit etablierten Playern (z. B. an-
dere OEMs und Zulieferern), Newcomern (z.  B.  Big Tech und Start-ups) und
weiteren „non-obvious“ Partnern (z. B. branchenfremde Unternehmen, öffentliche
Verwaltung) (Kolk et al., 2018).

23.2.2 Entwicklungstrends in der Zusammensetzung und Steuerung


von Innovationsnetzwerken

Aus unternehmensstrategischer Sicht stellt sich nun die Frage, ob und inwiefern die vier
oben beschriebenen Netzwerktypen im Zuge der Digitalisierung an Bedeutung gewinnen,
bzw. verlieren. Die bisherige Forschung geht stark davon aus, dass die Digitalisierung die
Form der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen und damit auch die relative Häufigkeit/
Wichtigkeit bestimmter Netzwerktypen stark beeinflusst (Yoo et al., 2012). Lyytinen et al.
620 F. Reck und S. Posset

(2016) fassen die Entwicklung in folgenden Worten zusammen: „The introduction of digi-
tal components into products, then, no matter how innocent the original intent […] might
be, is likely to lead to fundamental and continuing reconfiguration of the innovation net-
works“ (S. 69).
Die Entwicklung der Zusammensetzung und Steuerung von Innovationsnetzwerken
wird vor allem durch zwei Kerneigenschaften digitaler Innovation beeinflusst: Konvergenz
und Konnektivität. Konvergenz bedeutet, dass Digitalisierung die Kombination einer Viel-
zahl an Technologien erlaubt und dadurch die Integration zahlreicher bislang getrennter
Leistungen und Funktionen ermöglicht (Arthur, 2009). Ein einfaches Smartphone ver-
bindet zum Beispiel Telefonie, Fotografie, Internetfähigkeit und darüber hinaus ein
breites, vom Nutzer durch die Installation von Apps individuell festgelegtes Funk­
tionsspektrum (Henfridsson & Yoo, 2014). Die hohe Schnittstellenfähigkeit digitaler
Technologien führt insgesamt dazu, dass „smarte“ Funktionen in physische Objekte ein-
gebettet, bislang separate Nutzenerlebnisse in einem einzelnen Produkt gebündelt und so
komplexe, kontinuierlich modifizier- und erweiterbare Produktarchitekturen geschaffen
werden (Yoo et  al., 2012). Dies hat starke Auswirkungen auf die Organisation der Zu-
sammenarbeit von Unternehmen, da digitale Innovation vor allem aus der Zusammen-
führung bislang unverbundener „Knowledge Communities“ und dem Aufbrechen von
Branchengrenzen entsteht (Kolloch & Reck, 2019). Durch das Zusammenwachsen bisher
getrennter Industrien müssen Unternehmen neue und diversere Partnerschaften eingehen,
sodass insgesamt ein steigender Grad an Heterogenität in Innovationsnetzwerken zu er-
warten ist (Lyytinen et al., 2016).
Der Begriff Konnektivität, auf der anderen Seite, beschreibt, dass digitale Artefakte
schneller und kostengünstiger zwischen Unternehmen übertragen und modifiziert werden
können als dies in der physischen Welt möglich wäre (Autio et al., 2018). Der verstärkte
Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien führt zu abnehmenden Ko-
ordinationskosten zwischen Partnerunternehmen (Majchrzak & Malhotra, 2013). Insgesamt
reduziert sich die „Tyranny of Space“ in Innovationsprozessen: die Zusammenarbeit von
Innovationsakteuren wird immer weniger durch geografische Distanzen und Unternehmens-
grenzen behindert (Yoo et  al., 2012). Die Folge sind neue Formen der Organisation,
z. B. Open-Source-Projekte, in denen unabhängige Programmierer Software-­Applikationen
um neue Funktionen erweitern, Komponenten des digitalen Produkts auf ihre Bedürfnisse
anpassen und die dabei erstellten Programmcodes der Community offen zur Verfügung stel-
len (Tilson et al., 2010). Konnektivität führt dazu, dass der Einfluss einzelner Akteure über
Innovationsprozesse und -ergebnisse stark abnimmt (Autio et al., 2018). Infolgedessen ver-
lieren Top-down Kontrollmechanismen immer mehr an Bedeutung (Lyytinen et al., 2016).
Da Innovation in der digitalen Welt somit ein fundamental dezentraler Prozess ist, ist ins-
gesamt eine wachsende Bedeutung dezentraler Netzwerkformen zu erwarten.
Zusammengefasst liefert die bisherige Forschung eine eindeutige Prognose: Innova­
tionsnetzwerke werden im Zuge der Digitalisierung sowohl heterogener als auch de-
zentraler. Insgesamt ergibt sich der in Abb. 23.2 dargestellte Entwicklungstrend: die rela-
tive Häufigkeit und Wichtigkeit der vier Netzwerktypen verschiebt sich von „Südwesten“
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 621

Abb. 23.2  Entwicklung von Innovationsnetzwerken im Zuge der Digitalisierung. (Quelle: Eigene
Darstellung)

nach „Nordosten“. Anarchische Innovationsnetzwerke sollten demnach an Bedeutung


gewinnen, auch und sogar besonders in der Automobilindustrie (Kolk et al., 2018). Lyyti-
nen et al. (2016) bezeichnen die Entwicklung hin zu anarchischen Netzwerkformen dabei
als „inevitable journey for organizations that want to embrace the generative capacity of
digitally induced product innovation“ (S. 71). Wie genau diese „Reise“ aus Unternehmens-
sicht verläuft, ist allerdings weitestgehend unklar. Die bisherige Forschung beschränkt
sich hauptsächlich auf konzeptionelle Darstellungen und liefert bislang keine Erkennt-
nisse, ob beispielsweise ein dominanter Transformationspfad besteht. Wir stellen hier
einen generellen Mangel an empirischen Untersuchungen fest, sodass weitere Forschungs-
arbeiten dringend notwendig sind.

23.3 Empirie: Innovationsnetzwerke bei der Digitalisierung


der Automobilindustrie

Unsere empirische Studie setzt an den oben beschriebenen Forschungslücken an. Konkret
untersuchen wir, in welchem Umfang die vier Netzwerkarten bei digitalen Innovations-
vorhaben in der Automobilindustrie auftreten, inwiefern Innovationsnetzwerke tatsächlich
heterogener und dezentraler werden und zuletzt, ob Transformationspfade bzw. eine
Transformationslogik erkennbar sind. Unser Ziel ist dabei ein tiefgehendes Verständnis
von Mustern und Mechanismen in der Zusammenarbeit von Unternehmen. Zu diesem
Zweck nutzen wir einen qualitativ-empirischen Ansatz. Dieser erlaubt es uns, detaillierte
Erkenntnisse darüber zu sammeln, „wie“ und „warum“ sich Innovationsnetzwerke im
Zuge der Digitalisierung verändern (Yin, 2013). Zudem ist ein qualitatives Studiendesign
gut dafür geeignet, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und geeignete Erklärungsan-
sätze für diese zu entwickeln (Dubé & Paré, 2003).
622 F. Reck und S. Posset

Das gewählte Forschungsdesign kombiniert eine qualitative Inhaltsanalyse semi-


strukturierter Experteninterviews (Gioia et al., 2013) mit einer multiplen Fallstudienana-
lyse (Eisenhardt & Graebner, 2007). Dazu führten wir neun ca. 90-minütige Interviews
mit Senior Managern aus der Automobilindustrie (Hierarchielevel: Vice President bis
C-Suite). Bei der Auswahl der Experten achteten wir darauf, ein möglichst ganzheitliches
Bild der Branche zu erhalten: drei Interviewpartner sind bei OEMs beschäftigt, zwei bei
Tier-1 Lieferanten, drei in Automotive & Mobility Business Units in führenden Software-
und IT-Firmen, einer als Partner in einer auf die Automobilindustrie spezialisierten IT- und
Technologieberatung. Abb.  23.3 fasst die Gesamtstruktur unserer Datenerhebung zu­
sammen.
Die erste Hälfte des Interviews diente jeweils dazu, die grundsätzliche Experten-
meinung zu den Themen „Innovationsnetzwerke“ und „Digitale Innovation“ in der Auto-
mobilbranche zu erfragen. In der zweiten Hälfte baten wir die Befragten, uns Informatio-
nen zu zwei bis drei strategisch wichtigen kooperativen Innovationsvorhaben aus den
letzten Jahren bereitzustellen. Basierend auf den im Interview erhaltenen Informationen,
bereitgestellten internen Projektberichten und öffentlich verfügbaren Dokumenten führten
wir eine Analyse jedes Einzelfalls mit anschließender Cross-Case-Analyse durch (Eisen-
hardt & Graebner, 2007). Dieses Vorgehen erlaubte es uns, die generelle Expertenmeinung
unserer Interviewpartner mit konkreten Fallbeispielen abzugleichen.
Im Laufe unserer Erhebung erhielten wir auf diese Weise Informationen zu 24 ko-
operativen digitalen Innovationsprojekten. Abb. 23.4 und 23.5 geben einen Überblick über
die jeweiligen Innovationsvorhaben und die beteiligten Partnerunternehmen. Insgesamt
decken die Projekte die aktuell wichtigsten Innovationsfelder in der Automobilindustrie
umfassend ab. Unter anderem finden sich Innovationsvorhaben zu den Themenbereichen
„Autonomous Driving“, „Security“, „Digital Twin“, „Cloud Services“, „5G Plant Connec-
tivity“, „Home Integration“, „Entertainment“, „Vehicle Management“ und „Mobility Ma-

Abb. 23.3  Datenquellen der empirischen Untersuchung. (Quelle: Eigene Darstellung)


23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 623

Abb. 23.4  Übersicht der betrachteten Innovationsprojekte. (Quelle: Eigene Darstellung)

nagement“ (Schmidt et al., 2019). Somit bietet unsere Sammlung an Fallstudien ein an-
nähernd komplettes Bild der digitalen Innovation in der Automobilbranche. Die befragten
Experten bestätigten diese Einschätzung in Follow-up-Gesprächen: „Also, wenn ich mir
Ihre Liste da so angucke […], dann haben Sie da schon eine ganz gute Collage davon, was
bei uns in der Branche gerade so abgeht.“ (IKT3).
624 F. Reck und S. Posset

Abb. 23.5  Übersicht der betrachteten Innovationsprojekte  – Fortsetzung. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

23.3.1 Beobachtete Netzwerkformen

Unsere Analyse startet mit der Frage, in welchen Netzwerkformen digitale Innovationen
in der Automobilbranche organisiert werden. Im ersten Schritt nutzten wir die g­ ewonnenen
Interview- und Archivdaten, um die Innovationsnetzwerke jedes der 24 Projekte in die
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 625

Systematik von Lyytinen et al. (2016) einzuordnen. Dabei identifizierten wir fünf Kate-
gorien von Innovationsnetzwerken, die sich eindeutig im Hinblick auf die Zusammen-
setzung der Partner und die Steuerung der Zusammenarbeit unterscheiden. Abb. 23.6 stellt
die Einordnung der einzelnen Innovationsprojekte in die 4-Felder-Matrix schematisch dar
und bildet die Eingruppierung in die jeweiligen Kategorien ab.

• Kategorie 1a, b: Die Innovationsnetzwerke in Kategorie 1a entsprechen der traditionel-


len OEM-Lieferanten-Kooperation und damit dem Idealtyp eines projektbasierten
Netzwerks nach Lyytinen et  al. (2016). Ein Experte fasst die Kooperation innerhalb
dieser Netzwerkform prägnant zusammen: „Das heißt, da ist die klassische Struktur
noch intakt  – Wir: Auftragnehmer, Automobilhersteller: Auftraggeber“ (Lieferant1).
Typischerweise behandeln diese Projekte die Innovation von IT- und Software-
komponenten im Fahrzeug oder in Wertschöpfungsprozessen, so beispielsweise die
OCR-, Chatbot- und Dealership-Touchpoint-Software von OEM3. Innovationsnetz-
werke in Kategorie 1b weisen eine etwas heterogenere Zusammensetzung auf, hier
arbeiten die OEMs meist mit branchenübergreifend agierenden IT-, Software- und
Telekommunikationsanbietern zusammen. Das grundlegende Muster der Zusammen-
arbeit bleibt jedoch bestehen: der OEM ist in der Lead-Position, der Partner bringt
wichtige Teilexpertise ein. Infolgedessen bestimmt der OEM auch weitestgehend die
Regeln der Zusammenarbeit, definiert Zielergebnisse und verpflichtet die Partnerunter-
nehmen zu Qualitätsmanagement und Standardisierung: „Also wir mussten mit unse-
rem Hardware-­Partner durch diese Automotive-Zertifizierung gehen, damit wir dann
am Ende des Tages diese Zertifizierung der Industrie überhaupt erst erhalten haben.
[…] D. h., wir nähern uns da stark an Prozesse der Automobilindustrie an.“ (IKT2).
• Kategorie 2: Diese Netzwerkform ähnelt dem von Lyytinen et al. (2016) beschriebenen
Idealtyp eines föderalen Innovationsnetzwerks sehr stark. Ein zentraler Akteur definiert
eine neue Produkt- und Leistungsarchitektur, versammelt Partner mit starker Expertise

Abb. 23.6  Schematische Darstellung der beobachteten Netzwerkformen. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)
626 F. Reck und S. Posset

in den einzelnen Teilgebieten, koordiniert die Zusammenarbeit im Netzwerk und ver-


antwortet letztlich das Projektergebnis. Das Projekt OEM1_DigitalFactory stellt den
typischen Fall eines solchen Innovationsnetzwerks dar: „In der Fabrik ist die
Lead-Funktion ganz klar bei uns. […] Die Zusammenarbeit war eher im Sinne von
Kunden-Lieferantenbeziehung geprägt, in der wir auch den Takt geben. Wir bewegen
uns zwar auch in der Ausgestaltung einzelner Lösungen, wo wir sagen: ‚Hey, da wissen
wir noch nicht genau, wie es aussieht‘. Also eher in agilen Experimentierprojekte, die
wir dann erproben, bevor wir sie produktiv setzen und wo wir dann auf Augenhöhe
sprechen. Aber der generelle Rahmen war stärker vorgegeben, stärker im Sinne eines
klassischen Projektes: ‚Wir müssen bis zum Termin X Folgendes umgesetzt haben,
damit dann im Januar nächsten Jahres die Produktion auch funktioniert.‘“ (OEM1).
• Kategorie 3: Ab hier beginnen die beobachteten Innovationsnetzwerke von den vier
Idealtypen abzuweichen. Kategorie 3 beschreibt so eine Zwischenform von föderalem
und anarchischem Netzwerk. Die beteiligten Partner in diesen Netzwerken sind hetero-
gen, z.  B. im Projekt Lieferant1_ValetParking (Automobil-OEM, Tier1-Lieferanten,
Software- und IT-Anbieter, Energieversorger, öffentliche Verwaltung). Die Zusammen-
arbeit wird dabei wie folgt beschrieben: „Da ist es eine partnerschaftliche Zusammen-
arbeit auf Augenhöhe, wo wir Entwicklungskapazitäten poolen, zusammen ein System
entwickeln und dann zusammen nutzen bzw. anderen zur Verfügung stellen.“ (Liefe-
rant1). Steuerung und Koordination sind teilweise dezentral, insofern dass die Partner
auf Augenhöhe kommunizieren und Entscheidungen gemeinsam getroffen werden.
Dennoch ist diese Form der Kooperation weit von dezentraler Steuerung im Sinne von
Lyytinen et  al. (2016) entfernt. Vielmehr bildet Kategorie 3 Konsortien ab, mit klar
definierten Leistungsbeiträgen und strikter Ergebniskontrolle, jeweils basierend auf
formalen Vereinbarungen und Verträgen. Einer der befragten Experten fasst diese Netz-
werkform in folgenden Worten zusammen: „Das sind Kooperationen und Innovations-
netzwerke auf Augenhöhe. […] Das ist also ein gegenseitiges Interesse, wo wir von dem
jeweiligen Partner auch einen Fortschritt in dem eigenen Wissen erwarten. Wir lernen
auf der Softwareseite sehr viel und die Tech-Unternehmen lernen Automobil sehr stark
kennen. Das ist eine Synergie auf Augenhöhe und manifestiert sich eben daran, dass es
kein reines Käufer-Zulieferer-System ist, sondern dass auch alle Beteiligten stark in
das Thema investieren, und zwar finanziell und auch personell.“ (OEM2). Diese Art
von Innovationsnetzwerk lässt sich am besten als partnerschaftlich-föderal bezeichnen.
Die einzelnen Partner bringen ihre jeweilige Expertise zu Teilsystemen in der zu ent-
wickelnden Produktarchitektur ein, jedoch nimmt keines der beteiligten Unternehmen
die alleinige Lead-Funktion ein.
• Kategorie 4: Innovationsnetzwerke dieser Art sind ebenfalls meist als Konsortien auf-
gebaut, ähnlich wie die Netzwerke in Kategorie 3. Der Unterschied ist, dass in Netz-
werken der Kategorie 4 hauptsächlich Unternehmen der Automobilbranche und deren
IT-Dienstleister zusammenkommen, sodass die Zusammensetzung eher homogen ist.
Des Weiteren ist die Zusammenarbeit tendenziell offener organisiert, auch wenn die
Kooperation ebenfalls auf formalen Verträgen, Vereinbarungen und Mitgliedschaften
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 627

basiert. Ein Experte beschreibt mehrere Beispiele dieser Netzwerkform: „Das sind
Arbeitsgruppen, die es auf verschiedensten Ebenen gibt, ob es jetzt im Bereich der
Standardisierung oder Industriekooperationen sind, ob es jetzt ein Industrial Internet
Consortium – IIC – in den USA ist, ob das IEEE Arbeitsgruppen sind im Bereich auto-
nomes Fahren sind, wo man sich schon immer sehr eng ausgetauscht hat und wo auch
signifikant Innovation kreiert wird.“ (Lieferant1). Insgesamt lässt sich die Netzwerk-
form somit als formal-organisiertes Clannetzwerk beschreiben.
• Kategorie 5: In unserer empirischen Erhebung kann lediglich diese letzte Netzwerk-
form als wirklich dezentral organisiert beschrieben werden. Zugleich stellt Kategorie 5
einen absoluten Ausnahme-, bzw. Einzelfall dar. Einzig das Projekt Consultant_Digi-
talTwin nutzt ein Innovationsnetzwerk dieser Art. Unser Interviewpartner beschreibt
dabei den Aufbau und die Organisation des Netzwerks folgendermaßen: „Wir haben
uns Partner am Markt gesucht, die sich mit großen Daten, mit Big Data, auskennen
[…] und haben uns mehr oder weniger somit ein loses Innovationsnetzwerk erschaffen.
Lose heißt es deshalb, weil es keine Verträge nach klassischer Art gibt, sondern es gibt
eher eine Interessengemeinschaft. Da haben wir uns zusammengetan und relativ schnell
und zügig und sehr konstruktiv einen Prototyp gebaut, den wir schon vor einem Monat
hier auf dem großen Automobilelektronik-Kongress vorgestellt haben. Faktisch mit
einer Innovationsgeschwindigkeit, wo man früher erst ein Jahr lang über einen Vertrag
über die Zusammenarbeit verhandelt hätte. Hier hat man jetzt eher grundsätzliche Zu-
sammenarbeitsregeln. Über die muss man sich kurz abstimmen, aber dann einfach ge-
sagt: ‚Komm, lass uns mal anfangen und mit dem ersten MVP – Minimum Viable Pro-
duct – mal anstarten‘.“ (Consultant).

23.3.2 Beobachtete Muster und Trends

Die zweite Frage im Rahmen unserer empirischen Analyse ist, inwiefern Muster und
Trends in der Netzwerkaktivität von Automobilunternehmen erkennbar sind. Abb.  23.7
bietet hier einen aufschlussreichen Startpunkt. Es ist klar ersichtlich, dass die große Mehr-
heit der betrachteten Innovationsvorhaben auf die unteren beiden Quadranten entfällt. Ins-
gesamt elf Projekte (ca. 46 %) fallen den Kategorien 1a und 1b zu und somit den projekt-
basierten Innovationsnetzwerken nach Lyytinen et al. (2016). Die Kategorien 2 und 3 im
Feld der föderalen Innovationsnetzwerke umfassen drei (ca. 13 %) bzw. sieben (ca. 29 %)
Projekte. Clanähnliche Innovationsnetzwerke spielen eine untergeordnete Rolle, mit zwei
Projekten in Kategorie 4 (ca. 8  %) und einem in Kategorie 5 (ca. 4  %). Anarchische
Innovationsnetzwerke nannte keiner der Befragten, trotz aktiver Nachfrage unsererseits.
Da 24 Innovationsprojekte nur in begrenztem Umfang eine allgemeine Aussage über
die relative Wichtigkeit/Häufigkeit verschiedener Netzwerkarten zulassen, baten wir die
Experten eine ungefähre Schätzung des jeweiligen Anteils für jede der vier Netzwerkarten
nach Lyytinen et al. (2016) an den kooperativ durchgeführten digitalen ­Innovationsprojekten
des eigenen Unternehmens abzugeben. Das oben beschriebene Muster wurde dabei be-
628 F. Reck und S. Posset

Abb. 23.7  Erklärungsansätze für das Netzwerkverhalten von Automobilunternehmen. (Quelle:


Eigene Darstellung)

stätigt, bzw. sogar eher verstärkt. Nach Angaben der Befragten werden über 60  % der
Digitalisierungsvorhaben in projektbasierten Innovationsnetzwerken durchgeführt, 20–30 %
in föderalen Netzwerken, 10–15  % in clanähnlichen Netzwerken und 0–5  % in an-
archischen Netzwerken.
Insgesamt ist jedoch ein klarer Trend ersichtlich: die Zusammensetzung der Innovations-
netzwerke in der Automobilindustrie wird im Zuge der Digitalisierung deutlich hetero-
gener. Die befragten Experten führen dies, wie erwartet, auf Konvergenzeffekte zurück,
siehe beispielsweise folgende Aussage: „Aktuell ist eher das Thema heterogen gefragt,
weil die Zeiten der Homogenität […] vorbei sind. […] Gerade bei den Megathemen, die
uns alle bewegen, wie beispielsweise das Thema Mobility oder Urbanisierung, habe ich
den Eindruck, dass die Innovationskräfte in den verschiedenen Industrien oder ver-
schiedenen Disziplinen einer Industrie aufeinanderstoßen. Dass sich jetzt ein Energiever-
sorger mit dem Laden von Elektroautos beschäftigt oder dass ein Telekommunikationsan-
bieter sich damit beschäftigt, wie in einer Smart City gewisse Verkehrsströme laufen, oder
dass er sich mit Parkplatzlösungen beschäftigt, hätte es vor ein paar Jahren so nicht ge-
geben.“ (Consultant). Insgesamt besteht bei den Unternehmen ein hohes strategisches
Bewusstsein für den Trend in Richtung Heterogenität: „Our networks will change, of
course. They will change over the years, because more and more when we move to a mo-
bility solution of the OEM, the services would play a bigger role than the product itself.
Then you would need to have more collaboration from different industries.“ (OEM3).
Insbesondere zeigt die Automobilbranche eine hohe Bereitschaft, auf Unternehmen aus
IT- und Softwarebranche zuzugehen und Fähigkeiten zur branchenübergreifenden Zu-
sammenarbeit zu entwickeln: „Der Übergang kommt aus dem ‚Ich arbeite mit anderen
OEMs, ich arbeite mit Zulieferern an Innovationen‘ zukünftig in eine Form ‚Wie kann ich
­eigentlich mit IT-Konzernen, die potenziell auch immer Wettbewerber sein können, zu-
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 629

sammenarbeiten?‘“ (OEM1). Daneben stellen vor allem Start-ups wichtige Partnertargets


zur Erhöhung der Heterogenität des eigenen Netzwerks dar: „The last four, five years, in-
novation fields were dominated by small and lean startups. They probably have no mecha-
nical knowledge on how to manufacture a product, but they know how the product can be
utilized to create a new revenue stream. […] Here, we have more dependency now and
where we have to work as a part of the ecosystem rather than being individual.“ (Liefe-
rant2). Diese Ergebnisse sind insofern bemerkenswert, da sie einen Lernprozess in der
Automobilindustrie über die letzten 10-15 Jahre abbilden. Studien von Gassmann et al.
(2010) und Lazzarotti et al. (2013) berichten beispielsweise noch von erheblichen opera-
tiven Schwierigkeiten und unternehmenspolitischen Widerständen beim Versuch der Zu-
sammenarbeit mit „non-suppliers“ und „cross-industry partners“. Inzwischen scheinen
Automobilunternehmen diese Form der Kooperation jedoch verinnerlicht zu haben und
benennen die Steigerung der Heterogenität in ihrem Netzwerk sogar als explizites strate-
gisches Ziel: „Yes, I think heterogeneity is a transition. Ten years back, cross-industry
collaboration was like less than 10 percent and now the target is to make it 30 per-
cent.“ (OEM3).
Im Gegensatz dazu lässt sich kein ausgeprägter Trend zu einer stärkeren De-
zentralisierung betrachten. Auch bei Partnerschaften auf „Augenhöhe“ spielen formale
Kontrolle und enge Koordination eine wichtige Rolle: „Letztendlich muss man balancie-
ren, dass man zwei Partner hat, die durchaus auch Wettbewerber in dem Geschäft sind
bzw. eigene Interessen verfolgen. Das muss man im Zweifelsfall in so einer Kooperation
über einen klar formulierten Auftrag und über klare vertragliche Beziehungen dann auch
zurückstellen können.“ (OEM1). Dezentralität im Sinne von Lyytinen et al. (2016) schlie-
ßen die Experten in der Automobilbranche weitestgehend aus: „Klare Abgrenzung zu
Open-­Source: Da ist es sehr viel offener und sehr viel kleinteiliger. Da liegt die Ver-
antwortung in den Projekten selbst und da werden die Entscheidungen auch dezentral
getroffen.“ (OEM2). Insgesamt scheint Dezentralität, wenn überhaupt, ein Nebenprodukt
von Heterogenität zu sein. Branchenfremde Unternehmen sind weitestgehend unabhängig
von den Automobil-OEMs und den großen Tier1-Lieferanten (Gassmann et al., 2010). Die
Machtverhältnisse sind somit balancierter als bei Kooperationsbeziehungen innerhalb der
Branche, eine partnerschaftliche Steuerung und Koordination von Innovationsnetzwerken
dadurch wahrscheinlicher: „Da hat sozusagen jeder der Partner sein eigenes Königreich.
Da begegnet man sich fast automatisch als Gleichgestellte.“ (IKT2).

23.3.3 Mögliche Erklärungsansätze für die gewonnenen Erkenntnisse

Unsere Studie zeigt, dass die Automobilindustrie bei der Digitalisierung verstärkt auf
heterogene Innovationsnetzwerke setzt. Dezentralität in der Koordination und Steuerung
dieser Netzwerke hingegen wird skeptisch gesehen und bislang kaum praktisch umgesetzt.
Es stellt sich die Frage, wie dieses Muster zustande kommt. Die Aussagen und Experten-
meinungen unserer Interviewpartner scheinen sich bei diesem Thema teils zu ­widersprechen
630 F. Reck und S. Posset

und ergeben kein kohärentes Gesamtbild. Aus diesem Grund verglichen wir unsere empi-
rische Datenbasis mit bestehenden Theorien in der strategischen Managementforschung
und identifizierten dabei zwei mögliche Erklärungsansätze. Beide Ansätze beschreiben
jeweils eine in sich konsistente Argumentationskette, führen jedoch zu grundverschiedenen
Schlussfolgerungen hinsichtlich der Entwicklung von Innovationsnetzwerken in der Auto-
mobilindustrie. Abb. 23.7 stellt die Kernelemente beider Perspektiven einander gegenüber.

23.3.3.1 Ressourcenkontrolle, Komplementarität


und Unsicherheitsreduktion
Der erste Erklärungsansatz basiert auf der Annahme, dass Kooperationsmuster die Folge
bewusster strategischer Entscheidungen der Automobilunternehmen sind, insbesondere
der OEMs. Die beteiligten Entscheidungsträger handeln weitestgehend rational, sodass
die verfolgten Netzwerkstrategien der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Unter-
nehmens dienen. Innovationsnetzwerke sollen vor allem dabei helfen, den Zugriff des
Unternehmens auf erfolgskritische Ressourcen (insbesondere Technologien und Experten-
wissen) sicherzustellen, die Unsicherheiten beim Ressourcenzugang zu minimieren und
bestehende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse im Sinne des Unternehmens zu festi-
gen, bzw. zu verschieben. Im Wesentlichen ist diese Sichtweise in der Resource Depen-
dence Theory (Hillman et al., 2009) der strategischen Managementforschung begründet.
Basierend auf dieser Perspektive folgen Netzwerkaktivitäten bei der Digitalisierung der
Automobilbranche einem zentralen Motiv: Unternehmen suchen nach der effektivsten und
effizientesten Art und Weise, Kontrolle über die für digitale Innovation notwendigen
Technologie- und Wissensressourcen sicherzustellen. Im Detail beinhaltet dieser Er-
klärungsansatz fünf Kernthesen:

1. Der Innovationserfolg in der Automobilindustrie hängt hauptsächlich von der Kon­


trolle über erfolgskritische Technologie- und Wissensressourcen ab. In technologie-
lastigen Branchen, insbesondere der Automobilindustrie, ist der Zugang zu neuem
Wissen in relevanten Innovationsfeldern unsicher und umkämpft. Unternehmen, denen
es gelingt, diese Unsicherheiten zu minimieren, sollten dadurch einen Wettbewerbsvor-
teil besitzen. Dies gilt insbesondere dann, wenn gleichzeitig der Zugriff anderer Unter-
nehmen auf die Ressourcen verhindert werden kann (Hillman et  al., 2009). Infolge-
dessen streben Automobilunternehmen auch bei digitalen Innovationen danach, sich
geistiges Eigentum zu sichern und exklusiv zu nutzen: „Wir melden pro Jahr 5000
Patente an. Ich glaube, selbst im autonomen Bereich sind wir das Unternehmen welt-
weit, dass die meisten Patente hält vor Google, vor Apple, vor allen anderen.“ (Liefe-
rant 1). Innovationsnetzwerke können zwar den Ressourcenzugang des Unternehmens
stärken, schaffen jedoch gleichzeitig neue Unsicherheitsfaktoren. Einerseits mindert
Kooperation die Exklusivität der in Innovationsprojekten geschaffenen Wissens-
ressourcen: „The risk is always how would you differentiate yourself. […] This diffe-
rentiation factor will be at risk if you have only collaborative projects.“ (OEM3).
Andererseits entsteht durch Kooperation Abhängigkeit vom jeweiligen Partner: „Die
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 631

Geschwindigkeit wird niemals so groß sein, dass OEMs sich ausschließlich auf Partner
verlassen. […] Sie würden nie etwas gerade im Kommunikationsmodul, das 5G-fähig
ist, in ein Fahrzeug einbauen, wo der Partner gesagt hat, das ist in Ordnung.“ (IKT3).
In ihrem Netzwerkverhalten müssen Automobilunternehmen deshalb sorgfältig die je-
weiligen Chancen und Risiken der Nutzung von Innovationsnetzwerken abwägen. Es
gilt diejenige Netzwerkform zu finden, die insgesamt den besten Trade-off liefert.
2. Unternehmen in der Automobilindustrie entwickeln und optimieren ihre Innovations-
netzwerke mit Blick auf die Komplementarität der Partnerressourcen. Innovationsnetz-
werke sind vor allem dann wertvoll, wenn sie Zugang zu technologischer Expertise
bieten, die das Unternehmen nicht oder nur schwerlich selbst aufbauen kann. Das zen-
trale Motiv für die Kooperation in Innovationsnetzwerken ist deshalb die Komplementari-
tät von Partnerressourcen (Chung et  al., 2000). Dies gilt ebenso in der Automobil-
industrie, wie die befragten Experten bestätigen: „Ich würde sagen schon klar, dass es
schon eine gute komplementäre Situation geben sollte und dass man sich ergänzt und
dass man nicht dauernd 100 % Deckungsgleichheit hat. Das hat sowohl eine techno-
logische Komponente oder eine Prozesskomponente bzw. Know-how-Komponente.“
(IKT2). Die digitale Transformation hat dabei den Bedarf an Komplementärressourcen
stark wachsen lassen: „Du siehst ja auch in letzter Zeit, gerade was autonomes Fahren
betrifft, da wird die Komplexität so hoch. […] Beim autonomen Fahren geht es bei
unserer Netzwerkaktivität darum, dass wir Innovationen aufnehmen, die wir ansonsten
nicht zur Verfügung hätten, oder aber Komplexität bewältigen, die wir ansonsten allein
nicht bewältigen könnten.“ (Lieferant1). Der Trend zu heterogenen Netzwerken ist
letztlich die strategische Antwort der Unternehmen auf die hohe Relevanz von
Komplementärressourcen: „Wir waren die weltbesten Autobauer, die besten Motoren-
hersteller. Jetzt mit der Digitalisierung kommen wir in Bereiche, die für uns komplett
neu sind, und das schaffen wir nicht, nur intern aufzubauen. D. h., die Relevanz hetero-
gener Innovationsnetzwerke wurde erkannt, und in die Richtung wird auch stark in-
vestiert. Das ist kein Altruismus, sondern eine betriebswirtschaftliche Notwendig-
keit.“ (OEM2).
3 . Der zentrale Erfolgsfaktor in Innovationsnetzwerken in der Automobilindustrie sind
enge Koordination und formale Steuerung. Bei der Realisierung partnerschaftlicher
Innovationsvorhaben treten eine Reihe von Kooperationsrisiken auf, die zu verfehlten
Projektzielen oder zum kompletten Scheitern führen können (Dellermann et al., 2017a).
Vor dem Hintergrund der Ressourcenkontrolle müssen sich Automobilunternehmen
zudem gegen mögliches Fehlverhalten und Opportunismus von Partnern absichern,
insbesondere da einige dieser Partner potenzielle Konkurrenten im Mobilitätsmarkt der
Zukunft sind (Lazzarotti et al., 2013). Zentrale Steuerung und formale Vereinbarung
sind daher unabdingbar: „Natürlich werden wir immer noch gewisse zentrale Struktu-
ren haben. Einfach deswegen, weil es nicht praktisch ist, alles dezentralisiert zu ma-
chen. Weil es auch nicht gut ist für Synergien und Kostenstrukturen. […] Je mehr du
dezentralisiert, desto ineffizienter wird das in gewisser Weise auch, weil du Sachen
duplizierst.“ (Lieferant1). In Innovationsnetzwerken setzen Automobilunternehmen
632 F. Reck und S. Posset

deshalb auf enge Koordination und klare Regeln und Absprachen: „I often see that
once you start the collaboration, it starts in a very vague manner where nobody knows
where we are moving. So, the expectation and rule setting from both sides are very
important. Otherwise everybody aims towards getting more revenue share, and many
of the collaborations are failing.“ (Lieferant2). Im Gegensatz dazu bringen dezentrale
Kooperationsformen Risiken mit sich, die mit den Anforderungen der physischen Welt
unvereinbar sind: „Die Automobilindustrie hat auch eine gewisse Verantwortung. Wenn
ein Auto auf der Straße stehen bleibt, ist das ein anderes Problem, als wenn eine App
stehen bleibt. Oder ein Konsumgut, wenn ein Fernseher nach fünf Jahren nicht mehr
geht, ist das etwas anderes, als wenn ein Auto nach fünf Jahren nicht mehr geht. Das
spiegelt sich dann auch in der Zusammenarbeit wider.“ (Consultant).
4. Digitale Innovation in der Automobilindustrie bedarf einer klaren Definition von
Rollenverhältnissen und Kooperationsarchitekturen. Für digitale Innovation in der
Automobilbranche ist es wie oben beschrieben notwendig, eine Bandbreite an Ressour-
cen und Leistungsbeiträgen von Partnerunternehmen zu mobilisieren. Klare Rollenver-
hältnisse und Kooperationsarchitekturen leisten hier einen wichtigen Beitrag. Sie
helfen vor allem, die Interaktionen zwischen Partnern zu strukturieren und stabile
Rahmenbedingungen zu schaffen, die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen erst
ermöglichen (Ozcan & Eisenhardt, 2009). Im Zuge der Digitalisierung treten Spannun-
gen und Machtverschiebungen in den traditionellen Strukturen der Automobilindustrie
auf: „Wie stehen wir zueinander? Was sind unsere Rollen in der Value Chain zum Bei-
spiel? Die verschieben sich. Dadurch gibt es natürlich strategische Spannungen. Die
treten tagtäglich auf und da müssen wir uns die ganze Zeit neu definieren.“ (Liefe-
rant1). Dies kann schnell zu Verteilungskonflikten führen, die eine erfolgreiche Ko-
operation zwischen Unternehmen behindern: „Wenn solche Innovationen sehr erfolg-
reich sein werden, dann wird es sehr schnell darum gehen, wer kriegt welchen Teil vom
Kuchen.“ (OEM2). Durch die Öffnung von Branchengrenzen und den Eintritt neuer
Player ist die Organisation von digitaler Innovation in der Automobilbranche unüber-
sichtlich und ökonomisch ineffizient: „Everybody is trying to do the same thing. And
everybody sees that they’re trying to be the first one in the world which is not the case.
These things are a wastage of time, money, resources and this is happening because
there is no collaborative platform where people know that in which area who is wor-
king on and how to collaborate in those areas plus the collaboration framework also
needs to be very clear – so this will help us to have more innovation in the industry.“
(Lieferant2). Die Etablierung von Rollenverhältnissen und Regeln der Kooperation
wird typischerweise von zentralen „Orchestratoren“ (Dhanaraj & Parkhe, 2006) bzw.
„Keystone“-Akteuren (Iansiti & Levien, 2004) vorangetrieben. In der analogen Auto-
mobilindustrie wurde diese Aufgabe vor allem von OEMs übernommen (Henfridsson
& Yoo, 2014). Auch in der digitalen Welt sollten diese Unternehmen deshalb eine zen-
trale Rolle einnehmen.
5 . Die Entwicklung digitaler Innovationsnetzwerke in der Automobilindustrie folgt einem
inkrementell-evolutorischem Transformationspfad. Zusammengenommen führen die
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 633

vier oben beschriebenen Thesen zu einer klaren Prognose für die zukünftige Ent-
wicklung von Innovationsnetzwerken in der Automobilbranche. Demnach bleibt die
grundlegende Logik hinter Unternehmensnetzwerken und Kooperationsbeziehungen
beim Übergang von analoger zu digitaler Welt dieselbe. Die größte Veränderung liegt
darin, dass Automobilunternehmen aktiv nach neuen Partnern suchen und zudem ihr
bisheriges Suchfeld nach Kooperationsmöglichkeiten deutlich ausweiten: „Wir werden
dadurch, dass wir neue Ideen und auch andere Ansätze brauchen, heterogener arbeiten
müssen. Das ist mit sehr viel Aufwand und sehr viel Zeit verbunden, die auch spendiert
wird, um mit Start-ups zu arbeiten, Inkubationen selbst intern oder extern zu betreiben,
und wo wir die ganze Klaviatur an kooperativen Innovationsmechanismen nutzen müs-
sen, um nach wie vor ein führender Anbieter sein zu können.“ (Lieferant1). Um neue
Partner zu erreichen, zeigen Automobilunternehmen eindeutig Veränderungs- und
Investitionsbereitschaft: „Wir haben auch im Unternehmen eine Digitalisierungs-­
Roadmap aufgestellt, wo alle Bereiche in der Digitalisierung stark unterstützt werden
sollen. Und auch hier werden wir sehr stark über Communities gehen und diese Com-
munities auch zu einem sehr starken Maße für andere Unternehmen öffnen. […] Wir
stehen am Anfang. Wir werden aber massiv in diese Richtung investieren.“ (OEM2).
Insgesamt ist zu erwarten, dass Automobilunternehmen vor allem bei Kerntechno-
logien verstärkt partnerschaftlich-föderale Innovationsnetzwerke (Kategorie 3) nutzen.
Die derzeitigen branchenübergreifenden Konsortien werden voraussichtlich mehr und
mehr durch dauerhafte strategische Allianzen abgelöst: „Da entstehen komplett neue
Allianzen, da entstehen Zusammenkünfte, wie sie zum Beispiel in der Luftfahrtindustrie
vor vielen Jahren, Jahrzehnten gegründet wurden mit Star Alliance und SkyTeam Alli-
ance als Beispielen. Solche Dinge, die kommen jetzt auch hier in der Automobil-
industrie zum Einsatz.“ (IKT1). Ein wahrscheinliches Szenario ist, dass diese Allian-
zen schrittweise die bisherige Rolle der OEMs als zentrale Akteure im Ecosystem der
Automobilbranche einnehmen. Anstelle der Entwicklung und Vermarktung von Auto-
mobilen durch OEMs würde so die gemeinschaftliche Entwicklung und Vermarktung
umfassender und smarter Mobilitätslösungen durch Allianzen (beispielsweise von
OEMs, IKT-Anbietern und Softwareunternehmen) zur dominierenden Wettbe­
werbslogik.

23.3.3.2 Offenheit, Generativität und organisationale Trägheit


Während der oben beschriebene erste Erklärungsansatz den Schluss zulässt, dass Auto-
mobilunternehmen mit ihren derzeitigen Netzwerkstrategien grundsätzlich auf dem richti-
gen Weg sind, führt der zweite Erklärungsansatz zu einer deutlich kritischeren Bewertung
der aktuellen Entwicklung. Hier ist die zentrale Annahme, dass Schnittstellenfähigkeit und
eben nicht Ressourcenkontrolle der zentrale Treiber der Wettbewerbsfähigkeit in der digi-
talen Welt ist. Die Tatsache, dass Automobilunternehmen dezentrale Innovationsnetz-
werke weitestgehend meiden, ist dieser Sichtweise folgend keine vertretbare strategische
Entscheidung, sondern vielmehr das Resultat von „Incumbent Inertia“ – dem Verharren
von Unternehmen auf etablierten Routinen und Handlungsweisen, selbst wenn diese durch
634 F. Reck und S. Posset

Veränderungen im Marktumfeld obsolet werden (Gilbert, 2005). Folgerichtig liefert dieser


zweite Erklärungsansatz eindeutige Gegenpositionen zu den fünf oben beschriebenen
Thesen. Im Detail lauten diese wie folgt:

1. Der Innovationserfolg in der Automobilindustrie hängt hauptsächlich von der Schnitt-


stellen- und Anschlussfähigkeit an Technologie- und Wissensressourcen ab. Während
Ressourcenkontrolle ein wichtiger Erfolgsfaktor in der physischen Welt ist, bezweifeln
weite Teile der Forschungsliteratur die Anwendbarkeit des Konzepts auf die digitale
Welt (Nambisan et al., 2017; Yoo et al., 2012). Der Grund dafür liegt in der Reprogram-
mierbarkeit digitaler Technologien (Tilson et al., 2010). Diese sind nahezu unbegrenzt
modifizierbar und bieten unzählige Möglichkeiten der Anwenderanpassung (Autio
et al., 2018). Technologie- und Wissensressourcen sind so leichter austauschbar, Ent-
wicklungen sind nur auf sehr kurze Sicht planbar: „Die exponentielle Entwicklung der
Technologie, wie zum Beispiel Quantum Computing, kann heute in der Form noch kei-
ner so richtig einschätzen, was das für mein Kerngeschäft in 5 oder 10 Jahren heißt. In
5 oder 10 Jahren gibt es dann ganz andere Technologien, die vielleicht bestehende be-
reits wieder überholen.“ (OEM1). Ressourcenkontrolle bietet somit immer geringere
Wettbewerbsvorteile: „Sie kennen den Spruch, AirBnB als größter Hotelanbieter hat
kein Hotel, Spotify hat keine einzige Musik produziert und Uber hat kein einziges Auto,
das ist bekannt. Das Ganze betrifft die Automobilindustrie immens, denn wenn sie sich
da nicht richtig entwickelt, wird sie faktisch das Ende nehmen wie ein simpler Produ-
zent und an Bedeutung, Brand, Ertragskraft etc. verlieren und Commodity werden.“
(Consultant). Statt Technologien und Wissensressourcen selbst zu generieren und ver-
geblich zu versuchen, diese zu kontrollieren, geht es in der digitalen Welt vielmehr
darum, möglichst breite Anschluss- und Schnittstellenfähigkeit herzustellen: „Yes, so
as automotive industry, we’re adopting more modularized developments. For example,
we are making lot of APIs which are open for others to connect and similarly we also
connect with the different products within the IT companies which they develop with
their APIs which are open. So, this is really helping us to do a lot of integration and
data transfer in a very modular way.“ (Lieferant2).
2. Unternehmen in der Automobilindustrie sollten ihre Innovationsnetzwerke mit Blick
auf Generativität entwickeln und optimieren. Wie bereits im ersten Erklärungsansatz
festgestellt, spielen Komplementärressourcen eine wichtige Rolle bei der Generierung
digitaler Innovationen (Dellermann et  al., 2017b). Wenn jedoch Komplementär-
ressourcen jederzeit und überall entstehen können (Yoo et al., 2012), ist es fraglich, ob
eine Ausrichtung der eigenen Netzwerkstrategie auf den Zugang zu Komplementär-
ressourcen zielführend bzw. überhaupt möglich ist. Eine Optimierung der eigenen
Innovationsnetzwerke auf Komplementärressourcen bedarf zumindest einer groben
Planbarkeit und Sichtbarkeit dieser Ressourcen. Diese ist schwerlich gegeben, da in der
digitalen Welt im Grunde unklar ist, wer gerade wo eine potenzielle Add-on-Techno-
logie zum eigenen Produkt entwickelt (Arthur, 2009): „Man kann sich eigentlich nicht
im vornherein auf Services festzulegen und auf bestimmte Unternehmen, weil, wenn
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 635

man zu stark auf einen Partner setzt und dadurch andere Entwicklungen verpasst, dann
riskiert man gegebenenfalls als Automobilhersteller selbst seine Geschäftsfähigkeit.“
(IKT3). In der digitalen Welt ist deshalb „Generativität“ eine sinnvollere Zielgröße,
d. h., die Fähigkeit des Netzwerks, spontane innovative Erträge aus einer großen, oft
wenig koordinierten Anzahl an Mitgliedern zu stimulieren (Autio et al., 2018). Dies
kann typischerweise durch die Bereitstellung von Plattformtechnologien geschehen:
„Bei Ökosystemen oder auch digitalen Plattformen geht es ja darum, dass ich etwas
bereitstelle, wo andere damit ihre Anwendungen machen. […] Das haben OEMs auch
schon früher in einer gewissen Form gemacht, aber es geht jetzt deutlich darüber hi­
naus, indem man sagt, ich stelle jetzt eine Plattform bereit und anderen entwickeln Pro-
dukte auf der Plattform. […] Wenn man das Ganze noch konsequenter weiterdenkt,
sind die größten Firmen der Welt, wie Google oder Facebook, eigentlich digitale Platt-
formen, die etwas bereitstellen und die Masse der Anwendungen darauf wird von Drit-
ten gebaut.“ (Consultant).
3. Der zentrale Erfolgsfaktor in Innovationsnetzwerken in der Automobilindustrie ist die
Fähigkeit des Netzwerks, auf breiter Basis neue Partner anzuziehen und an sich zu
binden. Während bei auf Komplementarität ausgerichteten Innovationsnetzwerken eine
zielgerichtete Partnersuche und -auswahl entscheidend sind, rücken bei auf Generativi-
tät ausgerichteten Netzwerken Attraktivitäts- und Loyalitätsmanagement gegenüber
einer Vielzahl an potenziellen Plattformmitgliedern in den Mittelpunkt (Dellermann
et  al., 2017b). Anstelle eines Wettbewerbs um Ressourcen tritt ein Wettbewerb um
Partner: „Das heißt ja nicht nur: ‚Ja, wir öffnen unsere Schnittstellen für Dritte und ihr
könnt gerne was darauf bauen‘, sondern die Dritten sind der eigentliche Kern. Man
konzentriert sich nicht nur auf die Plattform, sondern auf die Mitglieder der Platt-
form.“ (Consultant). Automobilunternehmen scheinen jedoch genau mit diesem At-
traktivitäts- und Loyalitätsmanagement Probleme zu haben. Aufgrund der traditionell
starken Position der Branche sehen diese Unternehmen den eigenen Wert als Ko-
operationspartner oft als gegeben an: „Genau, das ist ja das Stichwort beim Thema
Ökosysteme. Ein Automobiler denkt: ‚Ich bin die Sonne, um mich herum sind kleine
Planeten‘.“ (Consultant). Als Folge dieser Selbstbezogenheit mangelt es häufig an
Bewusstsein dafür, was potenzielle Partner und Plattformmitglieder anzieht oder ab-
schreckt: „Auf der einen Seite die Automobilindustrie, die über 130 Jahre gewachsen,
eher sequenziell organisiert, eher sehr fein prozessual organisiert ist. Darauf stößt jetzt
die Start-up-Kultur, die dort völlig entgegengesetzt ist, die mit einer tollen Idee kommt,
dort wahnsinnig schnell diese Idee verbessern, optimieren wird, aber wenn man damit
auf einen OEM stößt, sagt der erst einmal: ‚Hier unterschreibe erst einmal mein MDA
und meine AGBs.‘ Da ist das Start-up völlig überfordert.“ (Consultant).
4 . Starre Rollenverhältnisse und Kooperationsarchitekturen behindern die vollständige
Ausnutzung des Wertschöpfungspotenzials von Innovationsnetzwerken in der Auto-
mobilindustrie. Lyytinen et  al. (2016) argumentieren, dass nur heterogene und de-
zentrale Innovationsnetzwerke zur vollen Ausschöpfung des generativen Potenzials
digitaler Technologien führen. Dies bestätigen auch die befragten Experten: „Also, aus
636 F. Reck und S. Posset

meiner Sicht ist die Öffnung hin zu vielschichtigen Partnerschaften erforderlich. Das
heißt, wir werden mehr in heterogene Zusammenarbeitsformen gehen und die de-
zentralisiert. Das ist meine persönliche Sicht, weil die Entwicklungsgeschwindigkeit,
die der Markt verlangt, die die Unternehmen verlangen, das werden sie in homogenen,
geschlossenen Systemen einfach nicht mehr leisten können.“ (IKT1). Wie oben be-
schrieben, lassen Automobilunternehmen Heterogenität bereitwillig zu. Anders sieht es
im Hinblick auf Dezentralität aus. Hier bestehen insbesondere OEMs auf der Formali-
sierung von Rollenverhältnissen und Kooperationsnormen: „Wir kommen aus einer
langen Tradition hierarchisch gesteuerter Projekte und hierarchisch orientierter
Projektarbeit. Das löst sich schrittweise auf, braucht aber eine Menge, um erst einmal
zusammenzufinden.“ (OEM1). Die oft starren Regeln erweisen sich als Barriere für
Generativität aus dem Partnernetzwerk der Automobilunternehmen: „Da kommt dann
eine flippige Start-up-­Idee rein und sagt: ‚Das und das will ich gerne!‘, und dann sagt
einer: ‚Junger Freund, die Jahresplanung für 2020 hätte man schon bis März letzten
Jahres abschließen müssen. Das, was ihr wollt, ist zwar schön, aber da hättet ihr euch
schon vor anderthalb Jahren anmelden müssen.‘“ (Consultant). Zudem ähneln die
Innovationsnetzwerke von Automobilunternehmen eher geschlossenen Gesellschaften
als offenen Communities. Die Mitwirkung in den jeweiligen Ecosystemen wird stark
beschränkt und handverlesen ausgewählt: „Es gibt entsprechende Organe in der Firma,
die Due Diligence machen, neue Partner natürlich überprüfen. […] Es geht wirklich
darum, wo man Geschäftschancen sieht und wie sich auch Business Cases rechnen, die
man dann entsprechend in den jeweiligen Geschäftseinheiten und Dimensionen zur
Entscheidung bringt.“ (OEM1).
5 . Die Entwicklung digitaler Innovationsnetzwerke in der Automobilindustrie folgt einem
radikal-disruptiven Transformationspfad. Unter der Annahme von Offenheit und
Generativität als zentralen Erfolgsfaktoren für digitale Innovation lassen sich folgende
dominierende Netzwerkformen für die Automobilindustrie und den Mobilitätsmarkt
prognostizieren: offene Communities, Cluster und Ecosysteme, d.  h. anarchische
Innovationsnetzwerke (Lyytinen et al., 2016). Diese Innovationsnetzwerke versammeln
nicht nur neue Partner, sondern bringen eine vollkommen neue Kooperationslogik mit
sich, die adäquat gemanagt werden muss. Vor allem mit letzterem haben Automobil-
unternehmen augenscheinlich Probleme. Warum das so ist, lässt sich mithilfe des Kon-
zepts der „Incumbent Inertia“ erklären (Gilbert, 2005). Dieses beschreibt eine Situa-
tion, in der die traditionellen „Ways-of-Doing-Things“ etablierter Unternehmen durch
Technologie-, Markt- und Umfeldveränderungen unter Druck gesetzt werden. Eine
solche Entwicklung ist in der Automobilindustrie deutlich beobachtbar: „Da gibt es
natürlich massivste Spannungen und Verwerfungen in dem Markt. Auf einmal kommt
Amazon rein von links, da kommt Apple rein von rechts, da kommt Google von hinten.
Was ändert das? […] Ist das etwas, was die Vormachtstellung der Automobilhersteller
eventuell betrifft?“ (Lieferant1). Erschwerend kommt hinzu, dass etablierte Unter-
nehmen zumindest eine Zeit lang parallel die alte und die neue Logik bedienen müssen:
„Man muss immer gucken, wie bewahre ich die bewährten Prozesse. Ich muss es aber
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 637

ergänzen und anreichern mit dem sogenannten Neuen und das ist die Herausforderung
für die Industrie, beides können zu müssen. Das ist wirklich das Harte.“ (IKT2). In
einer solchen Situation reagieren Unternehmen mit verstärkten Ressourceneinsatz und
Investitionen in Veränderungen, siehe zum Beispiel die Bereitschaft der Automobil-
unternehmen neue Partner und Netzwerke zu erschließen. Allerdings scheitern eta­
blierte Player meist daran, die „Soft Factors“, d. h. die zugrundeliegenden Routinen,
Verhaltensweisen, Mindsets und Kulturen anzupassen, so auch in der Automobil-
branche: „OEMs müssen mit Informationen deutlich anders umgehen, müssen Infor-
mationen in Netzwerken bereitstellen. Es ist ein Thema der Prozesse, Information als
Herrschaftswissen hört dann zumindest bei vielen Themen auf. Es muss eine Bereit-
schaft geben und das ist auch ein Kulturthema. […] Das sind alles Themen, wo man
sagt, das kann man besser machen, indem man schneller, Stichwort Dinosaurier, auf
die Umwelt reagiert.“ (Consultant). Automobilunternehmen passen sich somit im Hin-
blick auf die Frage „Mit wem kooperieren wir?“ an, sind aber nicht in der Lage, sich
im Hinblick auf die Frage „Wie kooperieren wir?“ neu auszurichten. Infolgedessen
schaffen sie es nicht, dezentrale Netzwerkformen für sich nutzbar zu machen.

23.4 Schlussbetrachtung und Handlungsempfehlungen

In diesem Beitrag betrachteten wir, auf welche Art und Weise Netzwerke und Ko-
operationsbeziehungen bei digitalen Innovationen in der Automobilbranche zum Einsatz
kommen. Unsere Ergebnisse zeigen, dass digitale Innovationsvorhaben vor allem in klas-
sischen OEM-Lieferanten-Beziehungen (d. h., in projektbasierten Innovationsnetzwerken)
und branchenübergreifenden Konsortien (d. h., in partnerschaftlich-föderale Innovations-
netzwerken) organisiert werden. Insgesamt ist ein klarer Trend in Richtung einer hetero-
generen Zusammensetzung von Innovationsnetzwerken zu beobachten. Automobilunter-
nehmen suchen aktiv und strategisch nach neuen Partnern, vor allem in Branchen, die
durch Smart Mobility und Autonomes Fahren mehr und mehr mit der Automobilindustrie
zusammenwachsen. Im Gegensatz dazu konnte kein Trend in Richtung stärkerer De-
zentralisierung festgestellt werden – ein unerwartetes Ergebnis vor dem Hintergrund der
bisherigen Forschung zu digitaler Innovation. Automobilunternehmen bevorzugen hier
eindeutig stabile Rollenverhältnisse und enge Koordination mit Netzwerkpartnern.
Unser Beitrag schlägt zwei alternative Erklärungsansätze für das beobachtete Netz-
werkverhalten vor. Diese beiden Erklärungsansätze zeigen gegensätzliche Argumentations-
ketten dafür auf, dass Automobilunternehmen Netzwerkheterogenität aktiv befördern, je-
doch Dezentralität auf ein notwendiges Minimum beschränken. Der erste Ansatz fokussiert
sich auf Ressourcenkontrolle und Komplementärressourcen als Treiber des Innovations-
erfolgs von Unternehmen. Aus dieser Perspektive geschieht die Vermeidung dezentraler
Netzwerkformen aus insgesamt nachvollziehbaren strategischen Gründen. Der zweite
Ansatz folgt der Annahme, dass Schnittstellenfähigkeit und Generativität die zentralen
Erfolgsfaktoren bei der digitalen Transformation der Automobilindustrie sind. Diese
638 F. Reck und S. Posset

Sichtweise impliziert, dass der geringe Grad an Dezentralisierung die Folge ­organisationaler
Trägheit der Automobilunternehmen ist und diesen letztlich teuer zu stehen kom-
men könnte.
Am Ende ist es wie bei vielen anderen strategischen Fragestellungen: die Wahrheit liegt
vermutlich zwischen diesen beiden Extrempositionen. Zu einem gewissen Grad werden
sowohl Kontrolle als auch Anschlussfähigkeit notwendig sein, sowohl Komplementarität
als auch Generativität. Die parallele Betrachtung der beiden Erklärungsansätze erlaubt
hier einen ganzheitlichen Überblick über das Spannungsfeld, in dem sich die Automobil-
industrie derzeit befindet. Durch ihre Gegenüberstellung helfen die beiden Erklärungsan-
sätze dabei, das strategische Bewusstsein für netzwerkrelevante Fragestellungen zu
schärfen und die richtige Balance in der Nutzung verschiedener Netzwerk- und Ko-
operationsformen herzustellen.
Auf diese Weise liefert unsere Forschung mehrere Handlungsempfehlungen für
Unternehmens-­ strategen, Netzwerkmanager und Digitalisierungsexperten. Zuvorderst
steht hier die Frage, welche Art Innovationsnetzwerk sich letzten Endes als dominante
Kooperationsform in der Automobilbranche durchsetzen wird: partnerschaftlich-föderale
Innovationsnetzwerke oder anarchische Innovationsnetzwerke? Auf welche Netzwerk-
form sollten Automobilunternehmen hier zukünftig setzen? In Anbetracht unserer
Forschungsergebnisse halten wir eine integrierte Herangehensweise für am meisten
erfolgversprechend. Automobilunternehmen sollten dabei zentrale Allianzen um die Kern-
technologien und -unsicherheiten zukünftiger Technologiefelder schließen. Beim Thema
Autonomes Fahren wären beispielsweise vier Hauptbereiche abzudecken: Fahrzeugbau,
Software & AI, Kommunikationstechnologie und Verkehrsinfrastruktur. Diese strategi-
schen Allianzen entwickeln kooperativ Produkt- und Leistungsarchitekturen mit dem ex-
pliziten Ziel, diese als offene Plattform für Servicedienstleister und unabhängige Soft-
wareentwickler bereitzustellen. Die jeweilige Allianz bildet somit den Kern eines
dynamischen Ecosystems mit einer weitläufigen Peripherie an verbunden Akteuren. Wäh-
rend dieses Ecosystem die Basis für den Innovationserfolg darstellt, würden Automobil-
unternehmen des Weiteren auf die volle „Klaviatur“ der anderen oben beschriebenen
Netzwerkformen zugreifen, beispielsweise um Teilmodule weiterzuentwickeln oder
Industriestandards in die gewünschte Richtung zu verschieben. Dabei sollten die Unter-
nehmen einen Portfolioansatz verfolgen, um jeweils die geeignete Netzwerkform für das
spezifische Innovationsvorhaben auszuwählen.
Damit diese Vision in die Tat umgesetzt werden kann, müssen Automobilunternehmen
massiv in den Aufbau wichtiger unternehmensinterner Fähigkeiten investieren. Wir sehen
hier drei dringende Handlungsfelder. Erstens zeigen Studien, dass die Teilnahme un-
abhängiger Entwickler in digitalen Ecosystemen vorrangig durch die technologische
Qualität der jeweiligen Plattform bestimmt wird (Dellermann et al., 2017b). Zur Steige-
rung der Attraktivität eigener Plattformen benötigen Automobilunternehmen deshalb
Fähigkeiten im Bereich Software-Interfaces, APIs und Open-Source. Zweitens bedarf es
einer Professionalisierung des Netzwerkmanagements, einer bislang oft eher stiefmütter-
lich behandelten organisationalen Funktion in vielen Unternehmen. Hier bietet sich bei-
23  Mehr „Anarchie“ wagen? – Kooperationsmuster in Innovationsnetzwerken und … 639

spielsweise die Schaffung eigener Organisationseinheiten für die Bündelung von Exper-
tise im N
­ etzwerkmanagement an, die als Berater für die jeweiligen Geschäftsabteilungen
und Projektteams zur Verfügung stehen (Kale et al., 2002). Des Weiteren liefert die For-
schung eine Reihe von Best Practices, die Automobilunternehmen intern implementieren
können (Reck & Fliaster, 2019). Drittens benötigen Automobilunternehmen ein hohes
Maß an netzwerkbezogener „Ambidexterität“ (Birkinshaw & Gibson, 2004), d.  h., die
Fähigkeit eine Balance zwischen miteinander in Konflikt stehenden Zielgrößen herzu-
stellen (z. B. gleichzeitige Offenheit und Ressourcenkontrolle in Innovationsnetzwerken).
Dieser letzte Punkt umfasst insbesondere auch die Unternehmenskultur, die sich hierzu
von der derzeitigen Effizienzorientierung der Automobilindustrie hin zu mehr Ambigui-
tätstoleranz öffnen muss. Um es zum Abschluss mit den Worten eines der befragten Ex-
perten auszudrücken: „Das Allerwichtigste, was man oft beim Thema Innovationsnetz-
werke unterschätzt, ist dass die konkrete Organisationsform hauptsächlich als Enablement
dient, aber wichtig ist eher die Frage des Mindsets und der Kultur. Wenn ich das nicht
zustande bringe, dann kann ich mir die Organisationsform schenken.“ (IKT2).

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Dr. Fabian Reck  promovierte am Lehrstuhl für Betriebswirtschafts-


lehre, insbesondere Innovationsmanagement der Otto-Friedrich-Uni-
versität Bamberg und am Kompetenzzentrum für Geschäftsmodelle
in der digitalen Welt. Seine Forschung beschäftigt sich mit dem Ein-
fluss von Personen- und Unternehmensnetzwerken auf die erfolg-
reiche digitale Transformation von Industrieunternehmen.
642 F. Reck und S. Posset

Sebastian Posset M.Sc.,  studierte Betriebswirtschaftslehre an der


Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Im Rahmen seiner Masterarbeit
am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Innovations-
management untersuchte er die Rolle von Innovationsnetzwerken bei
der Digitalisierung der ­Automobilindustrie.
Digitale Wertschöpfungspotenziale
in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 24
Daniel Werth, Simon Hiller, Heiner Lasi und David Rygl

Zusammenfassung

Durch den Austausch von Daten aus verschiedenen Objekten ermöglicht das Internet
der Dinge (Internet of Things/IoT) neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Unter-
nehmen aus verschiedenen Bereichen. Diese Kooperationen von Unternehmen werden
als IoT-Ökosysteme (Wertschöpfungsnetzwerke) bezeichnet. Durch die Wechsel-
beziehungen zwischen den Partnern innerhalb des IoT-Ökosystems können diese
Unternehmen zusätzliche Geschäftspotenziale realisieren. In unserem Beitrag identi-
fizieren wir Geschäftspotenziale und Ökosystemanforderungen basierend auf den
Wechselbeziehungen zwischen den Partnern in einem IoT-Ökosystem. Grundlage
unseres Beitrags ist eine Fallstudie mit verschiedenen Unternehmen, welches unter rea-
len Bedingungen durchgeführte wurde. Im Rahmen der Fallstudie wurde ein neues
Wertschöpfungssystem geschaffen, das auf Basis je gefertigtem Gutteil vergütet wird
(Pay-per-Part) und der bisherige Produzent nicht mehr Eigentümer des realen Ob-
jekts ist.

D. Werth
Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Heilbronn, Deutschland
E-Mail: daniel.werth@ferdinand-steinbeis-institut.de
S. Hiller · H. Lasi
Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Stuttgart, Deutschland
E-Mail: simon.hiller@ferdinand-steinbeis-institut.de; heiner.lasi@ferdinand-steinbeis-institut.de
D. Rygl (*)
Ferdinand-Steinbeis-Insitut, Nürnberg, Deutschland
E-Mail: david.rygl@ferdinand-steinbeis-institut.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 643


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_24
644 D. Werth et al.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Wertschöpfungspotenziale · Internet of Things · IoT · Pay-per-Part

24.1 Ausgangssituation

Die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen ist eine wesentliche Voraus-
setzung zum Erhalt des erreichten Wohlstands. In diesem Kontext wird der Digitalisierung
und Vernetzung derzeit eine Schlüsselrolle zugeordnet. Diskutiert werden aktuell zahl-
reiche Ansätze, die Unternehmen befähigen sollen, mittels Digitalisierung und Vernetzung
ihre Position im globalen Wettbewerb zu verbessern, ausgehend von einer Wertschöpfungs-
verlagerung auf digitale Plattformen.
Bei regionaler Betrachtung stellt Deutschland derzeit jedoch eine Ausnahme dar. Es
scheint, als ob in deutschen Unternehmen verbreitete Ansätze die (vollständige) Integra-
tion von Automatisierungstechnologie und Informationstechnologie mittels Schnittstellen
fokussieren.
Die Zielsetzung ist hierbei, bestehende Abläufe durch den Einsatz von Computer-
technologie und Software unter der Maßgabe von Effizienz, Effektivität und Flexibilität zu
verbessern. Hierbei spielt es zunächst keine Rolle, ob die fokussierten Prozesse im direkt
wertschöpfenden Bereich (bspw. in einer Fertigung) oder im administrativen Bereich
(bspw. in der Fakturierung) angesiedelt sind (Abschn. 24.2).
Eine andere Perspektive hinsichtlich der Adressierung orchestrierter Abläufe zur Ge-
nerierung von Wertschöpfung im Kontext der Digitalisierung baut auf der zunehmenden
Durchdringung von Objekten mit Internettechnologie auf und stellt die Identifikation
und Implementierung von zusätzlichen (neuen) Geschäftsprozessen in den Vordergrund.
Charakteristisch für die bei dieser Perspektive fokussierten Prozesse ist, dass im Ver-
gleich zu der Automatisierungsperspektive die Digitalisierung nicht primär indirekt,
sondern weitestgehend direkt wertschöpfend wirkt. Hierbei entscheidend ist das Zu-
sammenspiel zwischen realer und digitaler Welt, gepaart mit der Erkenntnis, dass durch
digitale Abbilder die Realität in der Virtualität abbildbar und orchestrierbar wird. Diese
Betrachtungsweisen bilden zusammenführend die Grundlage für eine fortschreitende
Digitalisierung weit über die bisher bekannten Unternehmens- und Branchengrenzen
hinaus. Hierdurch können sich vor allem klassische Wettbewerbsstrukturen auflösen.
Damit einhergehend begeben sich oftmals neue Wettbewerber in bestehende Domänen
und versuchen, die Schnittstellen zum Kunden mit digitalen Services anders als bisher
zu besetzen. Befähiger hierbei sind die Gewinnung und Verwendung von Daten digitaler
Abbilder realer Objekte. Die Daten digitaler Abbilder unterscheiden sich von klassi-
schen Stamm- oder Planungsdaten insofern, als dass sie vor allem den Zustand eines
realen Objekts (Asset) sowie Abhängigkeiten verschiedener Messwerte in Form digita-
ler Modelle abbilden. Der Zustand des digitalen Abbilds lässt sich mithilfe von Funktio-
nen und Services beeinflussen, die Änderung des digitalen Zustandes wiederum auf das
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 645

reale Objekt übertragen. Das Wertschöpfungspotenzial digitaler Abbilder besteht ins-


besondere darin, dass über digitale Abbilder die Steuerung von Prozessen anderer Ab-
läufe möglich wird und für Unternehmen neue Wertschöpfungsmodelle (z. B. Dienst-
leistungen) entstehen.
Dieser Beitrag thematisiert den Aufbau direkt wertschöpfender Prozesse mittels Digi-
talisierung. Am Fallbeispiel Pay-per-Part wird gezeigt, dass ausgehend von einem IT-­
basierten Digitalisierungsverständnis es zu einer Verlagerung von Wertschöpfung auf digi-
tale Plattformen kommt. Die im Transferprojekt teilnehmenden Unternehmen haben
gezeigt, dass partnerschaftlich, in einem Wertschöpfungsnetzwerk (Ökosystem), auf einer
gemeinsamen Datenbasis, für alle Beteiligten große Potenziale in Form von neuen Ge-
schäftsmodellen und zusätzliche Wertschöpfung ermöglicht werden kann.

24.2 Grundlagen

Das folgende Kapitel widmet sich dem übergeordneten Zusammenhang digitaler Wert-
schöpfung, welches das grundlegende Verständnis der Digitalisierung, der zukünftigen
Relevanz digitaler Abbilder, bis hin zu neuen Wertschöpfungspotenzialen für Unter-
nehmen darstellt. Einleitend gilt es zu klären, warum es relevant ist zu verstehen,
dass global zunehmend das Ziel verfolgt wird, Automatisierungstechnologie durch
Informationstechnologie abzulösen und warum Unternehmen vor der Herausforderung
stehen, neben den etablierten Wertschöpfungsketten plattformbasierte Dienste in ihre
Wertschöpfung zu integrieren (Abschn. 24.2.1). Im zweiten Schritt soll die Frage geklärt
werden, warum eine zunehmende Digitalisierung und Vernetzung aufgrund der Ent-
wicklungen des Industrial Internet/Internet of Things eine bisher noch nicht dagewesene
globale Erforschung in der Wissenschaft und eine experimentierende Integration in der
Wirtschaft ermöglicht (Abschn. 24.2.2). Abschließend gilt es aufzuzeigen, warum es für
Unternehmen bedeutend sein wird, in gut positionierten wertschöpfungsorientierten Netz-
werken vertreten zu sein, ausgehend von einer Verlagerung von Wertschöpfung auf digi-
tale Plattformen (Abschn. 24.2.3).

24.2.1 Digitalisierungsverständnisse

Der Begriff der Digitalisierung steht für eine vielschichtige Veränderung, deren Potenziale
und Auswirkungen in weiten Teilen noch unbekannt sind. Aus wissenschaftlicher Per­
spektive bedingt dies eine Fülle neuer Konzepte und Methoden sowie aus wirtschaftlicher
Sicht mutige Entscheidungen zur Gestaltung neuer Wertschöpfungsszenarien und Ge-
schäftsmodelle in bisher unbekanntem Terrain (Weber et al., 2021). Erste Erkenntnisse aus
der Praxis zeigen, dass insbesondere dort neue Nutzenszenarien entstehen, wo bereichs-
und branchenübergreifende Wertschöpfung adressiert wird.
646 D. Werth et al.

Im Folgenden wird zunächst unter Digitalisierung das allgemeine Phänomen der Er-
fassung, Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten mittels diskreter Werte
verstanden. Diese allgemein gehaltene Verwendung des Begriffs Digitalisierung beinhaltet
die mit dem zunehmenden Einsatz von Computern einhergehende Veränderung, die in der
Industrie in den 1960er-Jahren begonnen hat. Im Rahmen dieser Entwicklung sind in den
vergangenen Jahrzehnten in operativen Unternehmensbereichen Ansätze entstanden, die
in unterschiedlichen Branchen und Kontexten aufgrund unterschiedlicher Anforderungen
und Rahmenbedingungen zu einer Vielzahl an proprietären und heterogenen Lösungen
und Standards unter dem Oberbegriff der Automatisierungstechnik geführt haben (z. B.
Maschinensteuerungen). Unter Automatisierungstechnik werden daher computer-­basierte
Systeme, die primär die Erfassung, Verarbeitung und Übertragung von diskreten Signalen
und Daten zum Zwecke der Automatisierung unter Berücksichtigung domänenspezi-
fischer Zwecke, Anforderungen und Standards dienen, subsumiert. Der Fokus liegt hierbei
auf der Wertschöpfungsstufe der Produktion, so dass etablierte Wertschöpfungsketten
weitgehend unverändert bleiben. Aktuelle Untersuchungen hierzu zeigen, dass in etlichen
produzierenden Betrieben noch teils erhebliche Potenziale zur Steigerung der Wirtschaft-
lichkeit bestehen, die durch Digitalisierungs- und Vernetzungsprojekte in der Produktion
realisiert werden können. Daher ist insbesondere in Deutschland dieser produktions-
orientierte Ansatz gegenwärtig für viele industrielle Unternehmen ein Startpunkt hin zur
Industrie 4.0 (Lasi, 2017).
Parallel hierzu ist in dispositiven Kontexten unter dem Oberbegriff der Informations-
technologie (IT) eine „Software-basierte Lösungswelt“ entstanden, die auf Basis einheit-
licher (Internetprotokoll-)Standards zunehmend interkonnektiv und interoperabel aus-
gestaltet wird. Ein Beispiel hierzu ist die Kommunikation per E-Mail. In diesem Beitrag
werden daher unter dem Begriff der Informationstechnologie computer-basierte Systeme
zur Eingabe, Verarbeitung, Speicherung und Übertragung von Daten (Information)
unter Berücksichtigung domänenunabhängiger Interkonnektivität und Interoperabilität
verstanden.
Im internationalen Kontext ist zu beobachten, dass aktuell vielfach das Ziel verfolgt
wird, Automatisierungstechnologie durch Informationstechnologie abzulösen. Dabei ist
zu erkennen, dass auch in industriellen Prozessen eine durchgängige Interkonnektivität
und Interoperabilität durch den durchgängigen Einsatz von Internettechnologie hergestellt
wird. Für eine zunehmend vernetze Zukunft wird es von Relevanz werden, dass von phy-
sischen Objekten (Assets, z. B. Akkuschrauber, Flurförderfahrzeuge) ein digitales Abbild
erstellt wird und sich diese innerhalb offener Netzwerke mit weiteren digitalen Abbildern
orchestrieren lassen (interkonnektiv und interoperabel). Das Ziel hierbei ist es aus der
Virtualität heraus Einfluss auf das physische Objekt (Realität) zu nehmen. Digitale Ab-
bilder bilden somit die Realität in der Virtualität ab und schaffen die Grundlage für die
fortschreitende Digitalisierung (vgl. Abschn. 24.2.3).
Eine Perspektive, die in diesem Kontext insbesondere in IT-getriebenen Unternehmen
vorzufinden ist, fokussiert Potenziale im industriellen Kontext, die durch einen zusätz-
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 647

lichen (Kunden-)Nutzen industrieller Angebote auf Basis internetbasierter Vernetzung


entstehen (vgl. Abb. 24.2). Beispiele hierfür sind datenbasierte Dienstleistungen wie prä-
ventive Wartungsmaßnahmen bis hin zu nutzungsorientierten Leistungsabrechnungen
(Pay-per-X). Die Herausforderungen sind dabei vielfältig. Einerseits müssen Produkte
mittels aktueller Technologien interkonnektiv und interoperabel gestaltet werden. Anderer-
seits sind weitgehende Entscheidungen bzgl. der Produktstrategie (bspw. offene versus
geschlossene Systeme), des Partnerings (bspw. mit welchen Unternehmen/Partner erfolgt
eine Kooperation) sowie zu Geschäftsmodellen (bspw. Tarifierung des Nutzens) zu treffen.
Diesen Herausforderungen stehen jedoch große Chancen gegenüber, die sich insbesondere
durch einen Blick über die produzierende Industrie hinaus identifizieren lassen
und im Folgenden näher dargestellt und anhand eines konkreten Transferbeispiels (vgl.
Abschn. 24.3) ausführlich erörtert werden.
In Domänen, in denen primär softwarebasiert Nutzen generiert wird, ist es längst üb-
lich, dass digitale Produkte über deren gesamte Nutzungsphase durch zusätzliche soft-
warebasierte Dienste verbessert und permanent um zusätzlichen Kundennutzen erweitert
werden. Häufig erfolgt dies mittels digitaler Plattformen. Im industriellen Kontext stehen
Unternehmen zunehmend vor der Herausforderung, neben den etablierten Wertschöp­
fungsketten plattformbasierte Dienste in ihre Wertschöpfung zu integrieren. Dies er­
fordert  von klassischen Unternehmen interdisziplinäre Geschäftsfähigkeiten und Mitar­
beiterkompetenzen, die vielfach bis dato nicht vorhanden sind. Als Folge sind Unternehmen
und Beschäftigte dazu angehalten, sich flexibler und diverser aufzustellen sowie eine Kul-
tur des lebenslangen „digitalen“ Lernens zu etablieren (Rygl et al., 2021). Zwischenzeit-
lich bildet der Aufbau interdisziplinärer Kooperationen zunehmend eine zentrale Heraus-
forderung (vgl. Abb. 24.1).
Die Berücksichtigung der Erlösperspektive in Verbindung mit (domänenüber-
greifenden) Plattformdiensten führt zu einem weiteren Ansatz, der durch die Fokussierung
von Wertschöpfung in internetbasierten industriellen Ökosystemen über Branchengrenzen
hinweg charakterisiert ist (vgl. Abb. 24.2). Hierbei werden die Chancen der digitalen Ver-

Wertschöpfung Handel mit


digitalen
Kunden Produkons- Produkten
generieren Knowhow
Qualitäts-
prüfung
Geschäsfähigkeiten Und viele
Konzept- mehr…
gestaltung Prozess-
bezogene
Beratung

Technologien Mitarbeiter

Abb. 24.1  Interdisziplinäre Geschäftsfähigkeiten. (Quelle: Eigene Darstellung)


648 D. Werth et al.

Wertschöpfungsnetzwerke

Erlösperspektive Plattform
Technologie-
perspektive
Kostensenkung Pipeline
& Flexibilisierung

Produkt(ionsprozess)- Produktnutzung/
Vorphase Vertrieb Produkon Recycling
entwicklung Service/Wartung
Industrie 4.0 Industrial Internet
Einsatz cyber-physischer (IoT & Dienste in
Systeme in der Produkon industriellen Prozessen)
und Logisk

Unternehmensspezifischer Gesamtansatz zur Steigerung der


Wertschöpfung miels interdisziplinärer Geschäftsfähigkeiten
und Mitarbeiterkompetenzen

Abb. 24.2  Wertschöpfungsorientiertes Verständnis und Abgrenzung Industrie 4.0. (Quelle: Eigene
Darstellung)

netzung (Industrial Internet of Things/IIoT) fokussiert, die u. a. darin bestehen, dass mit-
tels einer abstrahierten Problembetrachtung auf Basis von offenen Standards Lösungsan-
sätze branchenübergreifend eingesetzt werden können.
Ein Beispiel hierfür ist die Ortung und Verfolgung von Werkzeugen in einer Fertigungs-
umgebung. Lösungsansätze hierzu sind im Kontext der Industrie vielversprechend, da
hierdurch die Qualitätssicherung sowie das Werkzeugmanagement unterstützt werden
können. Auf einer abstrahierten Betrachtungsebene „Ortung und Verfolgung“ kann die
Problemstellung in andere Domänen (bspw. Tracking von Betten im Gesundheitswesen,
Verfolgung von Transporteinheiten in der Logistik) übertragen werden (Industrial Internet
Consortium, 2017).
Mittels der Entstehung von kontextunabhängigen Lösungsansätzen auf Basis neuer
internetbasierter Technologien und Standards werden Lösungsanbieter in die Lage ver-
setzt, einerseits in unterschiedlichen Anwendungskontexten aktiv zu sein und anderer-
seits eine Vernetzung der Kontexte (Domänen) herbeizuführen. Die zunehmende
domänenübergreifende Interkonnektivität und Interoperabilität stellt damit für eta­
blierte Unternehmen das Risiko dar, dass Unternehmen aus anderen Bereichen und
Branchen zu Wettbewerbern werden. Andererseits besteht für viele produzierende
mittelständische Unternehmen die große Chance, in neue Bereiche und Branchen ein-
zutreten und mittels der Vernetzung bisher getrennter Branchenanwendungen neue
Wertschöpfung zu generieren. Entscheidend wird hierbei sein, frühzeitig Erfahrung im
Bereich internetbasierter Lösungsansätze mittels Kooperationen zu sammeln und mit
strategischen Partnerschaften branchenübergreifende Wertschöpfungssysteme (Öko-
systeme) aufzubauen.
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 649

24.2.2 Industry IoT Consortium

Eine zunehmende Digitalisierung und Vernetzung ermöglicht eine globale Erforschung in


der Wissenschaft und eine experimentierende Integration in der Wirtschaft, welche auf-
grund des breiten Anwendungskontexts unterschiedliche Betrachtungsweisen ermög-
lichen. Der vorliegende Beitrag betrachtet schwerpunktmäßig die Entwicklungen des In-
dustrial Internet/Internet of Things, federführend aufgrund der Initiative des Industry IoT
Consortiums (IIC, ehem. Industrial Internet Consortiums).
Das IIC ist ein von Wirtschaftsunternehmen getriebenes Konsortium und wurde 2014
von General Electric, AT&T, Cisco, Intel und IBM gegründet. Mittlerweile hat das IIC als
offene und von ihren Mitgliedern getriebene Organisation rund 250 Mitglieder aus ca. 30
Ländern. Die im IIC vorangetriebenen Themenfelder stellen für Wirtschaftsakteure und
insbesondere für die stark ausgeprägten deutschen industriellen Unternehmen eine erheb-
liche Relevanz dar.
Die Mitglieder des Konsortiums verfolgen das gemeinsame Ziel, nutzenstiftende An-
wendungsszenarien für die Verbindung von physischer und digitaler Welt zu entwickeln
und branchenübergreifend und interdisziplinär mittels Internettechnologie umzusetzen
(Industrial Internet Consortium, 2021). Die Entwicklung und Umsetzung erfolgt hierbei in
einem pragmatischen Zusammenspiel innerhalb sogenannter Testbeds.
Das Ziel des weltweiten Konsortiums ist die Beschleunigung der Entwicklung des In-
dustrial Internets (Internet der Dinge und digitalen Services) im wirtschaftlichen Kontext.
Dies erfolgt über die Koordination von Initiativen, in denen Anforderungen erhoben und
Spezifikationen für neue (Internet-) Protokolle und Standards erarbeitet werden. Der
Fokus liegt auf der Schaffung einer branchenübergreifenden (cross-domain) Interoperabili-
tät und Interkonnektivität. Hierzu sind gemeinsame Architekturen und offene Standards
eine wesentliche Voraussetzung.
Das Bestreben ist die Erschaffung erforderlicher Verbindung von Unternehmen und
Technologien, um das Wachstum des Industrial Internets voranzutreiben und zugleich mit
Best Practices-Beispiele (Testbeds) zu unterstreichen.
Die hierfür vom IIC vorangetriebenen Testbeds sind bislang jedoch vorwiegend auf die
Voraussetzungen von großen Unternehmen ausgerichtet und über die nachfolgenden Cha-
rakteristika definiert:

• Schnelle Realisierung betriebswirtschaftlicher Potenziale in kontrollierter Experi­


mentierumgebung,
• Reale Unternehmensbedingungen,
• Evaluation /Spezifikation/Optimierung von Digitalisierungs-und-­Vernetzungslösungen.

Für Handwerksunternehmen bis hin zu großen Unternehmen bedarf es zudem einiger An-
passungen, die insbesondere die Erfolgsfaktoren dieser Unternehmen aber auch deren li-
650 D. Werth et al.

mitierende Randbedingungen berücksichtigen. Daraus sind beim Ferdinand-Steinbeis-­


Institut die Micro Testbeds (vgl. Abschn. 24.3) entstanden. Insbesondere in diesem Kontext
ist die Notwendigkeit vorhanden, Technologien, Services etc. unter realen Unternehmens-
bedingungen zu testen, zu evaluieren und darauf aufbauend zu spezifizieren und zu opti-
mieren. Im Vergleich zu Testbeds grenzen sich die Micro Testbeds durch eine interdiszi-
plinäre und branchenübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen von internetbasierten
Ökosystemen ab und sind zusätzlich durch eine schnelle und pragmatische Realisierung
von Anwendungsszenarien charakterisiert. Somit ergänzt das Ferdinand-Steinbeis-Institut
die Definition von Testbeds aus dem IIC um die partnerschaftliche Zusammenarbeit über
Branchengrenzen hinweg sowie die schnelle Umsetzung zur Erlangung eines Wett-
bewerbsvorsprungs (Ferdinand-Steinbeis-Institut, 2018).

24.2.3 Digitales Abbild und Wertschöpfung

Die deutsche Wirtschaft steht vor der Herausforderung, wie sie von neuen Wertschöpfungs-
potenzialen durch digitale Abbilder profitieren kann, ohne dabei in die Abhängigkeit gro-
ßer, internationaler Plattformen zu geraten.
Die Daten digitaler Abbilder unterscheiden sich von klassischen Stamm- oder Planungs-
daten, als dass sie vor allem den Zustand des realen Objekts (Asset) sowie Abhängigkeiten
verschiedener Messwerte in Form digitaler Modelle abbilden (Sensoren). Der Zustand des
digitalen Abbilds lässt sich mithilfe von Funktionen und Services bereichern, um ent-
sprechende Änderungen des digitalen Zustandes auf das reale Objekt zu übertragen (Ak-
toren). Das Wertschöpfungspotenzial digitaler Abbilder (vgl. Abb. 24.3) besteht dabei ins-
besondere darin, dass über digitale Abbilder die Steuerung von Prozessen und anderer
Abläufe in der Realität möglich wird.
Das vorliegende Verständnis von Digitalisierung, hinsichtlich der technologischen
Interaktion zwischen realer und digitaler Welt und damit einhergehende Digitalisierungs-
lösungen, basieren auf dem Ebenen-Modell der Industrial Internet Reference Architecture
(IIRA). Die Zielsetzung der IIRA ist es, Leitlinien bereitzustellen und Unterstützung für
die Entwicklung, Dokumentation und Kommunikation im Kontext der Digitalisierung zu
geben (Lin et al., 2017). Hierfür teilt die IIRA digitale Systeme in die vier Ebenen Busi-
ness-, Partner-, Prozess- und Implementierungsebene. Im Folgenden werden diese Ebenen
kurz beschrieben.

• Die Businessebene befasst sich mit der Identifikation verschiedener Akteure sowie
deren Geschäftsinteressen, Werte und Ziele gegenüber einem digitalen System.
• Die Partnerebene stellt die Aktivitäten der Nutzer des digitalen Systems dar. Nutzer
können hierbei Unternehmen, Menschen oder Systemkomponenten/logische Sys-
teme sein.
• Die Prozessebene geht auf die Belange der Funktionsbausteine ein, ihre Struktur und
Wechselbeziehung sowie die Schnittstellen und deren Wechselwirkungen.
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 651

Digitales Abbild

Sensoren Aktoren
Reales Asset

Abb. 24.3  Digitales Abbild. (Quelle: Eigene Darstellung)

• Die Implementierungsebene befasst sich mit den Technologien, die zur Implementie-
rung der funktionalen Komponenten erforderlich sind (Lin et al., 2017).

Bezugnehmend auf das Grundverständnis der IIRA bietet Digitalisierung Unternehmen


zukünftig die Möglichkeit, auf Basis des Zusammenspiels von Unternehmen aus unter-
schiedlichen Bereichen und Branchen, zusätzliche Wertschöpfung auf der Businessebene
zu generieren. Von besonderem Interesse ist hierbei die Fragestellung aus wissenschaft-
licher und unternehmerischer Perspektive hinsichtlich der zukünftigen Partizipation an
Wertschöpfung und die Veränderung klassischer Wertschöpfungsketten (Pipelines) hin zu
wertschöpfenden Netzwerken. Dieser Zusammenhang wird in Abb. 24.4 dargestellt.
Der Hintergrund sind Beobachtungen, dass durch eine zunehmende Vernetzung be-
liebiger Objekte (cyber-physische Systeme) mittels Internettechnologie digitale Platt-
formen entstehen, über die Daten, Produkte und Dienstleistungen gemakelt werden kön-
nen. Damit sind die Technologien, die unter dem Begriff der Digitalisierung subsumiert
werden, Befähiger für sich neu bildende Wertschöpfungsnetzwerke (Uckelmann et  al.,
2011; Kandiah & Gossain, 1998). Auf dieser Grundlage können Unternehmen aus ver-
schiedenen Disziplinen, Bereichen und Branchen wechselseitig zusammenarbeiten und
direkte Transferschritte bis hin zu neuen Geschäftsmodellen entwickeln (Slama et  al.,
2016). Aufgrund der interdisziplinären Zusammenarbeit und der differenzierten Ge-
schäftsfähigkeiten ist der in Wertschöpfungsnetzwerken entstehende Nutzen um ein Viel-
652 D. Werth et al.

Fähigkeiten

Businessebene Fähigkeiten Fähigkeiten

Fähigkeiten

Partner

Prozesse

Pla
orm

Offenheit

Technologie

Abb. 24.4  Alternative Darstellung der Industrial Internet Reference Architecture (angelehnt an
(Lin et al., 2017))

faches höher, welches ein Unternehmen für sich betrachtet nicht erreichen würde (Weber
et al., 2019b).
Wertschöpfungsnetzwerke entstehen in Folge auf Basis gemeinsamer Verständnisse
der beteiligten Unternehmen und der pragmatischen Gestaltung von Wertschöpfungs-
szenarien. Ein zentrales Element von Wertschöpfungsnetzwerken ist dabei die Fragmen-
tierung einzelner Leistungsbestandteile (Business Capabilities), die von den jeweiligen
Unternehmen des Netzwerks eingebracht werden (Picot, 2001). Für Unternehmen wird
es zukünftig wichtig, in gut positionierten wertschöpfungsorientierten Netzwerken ver-
treten zu sein oder diese mit Partnern aufzubauen, um die Positionen im globalen Wett-
bewerb zu verbessern, ausgehend von einer Verlagerung von Wertschöpfung auf digitale
Plattformen.
Aus den Prinzipien der Digitalisierung sowie aus zahlreichen, erfolgreich umsetzten
Praxisbeispielen am Ferdinand-Steinbeis-Institut (Micro Testbeds, vgl. Abschn.  24.3)
ergibt sich, dass die Beteiligung an Wertschöpfungsnetzwerken vielfach ohne großen
Investitionsaufwand, personaler Kompetenzaufbau oder ohne Entwicklung bestimmter
Geschäftsfähigkeiten (Business Capabilities) erfolgen kann. Damit stellt diese Ent-
wicklung eine große Chance für Unternehmen jeglicher Branche und Bereiche dar (vgl.
Abb. 24.5).
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 653

Plattform

Plattform

Plattform

Wertschöpfungsnetzwerke

Abb. 24.5  Digitale Wertschöpfungsnetzwerke. (Quelle: Eigene Darstellung)

24.3 Micro Testbed Ansatz

Micro Testbed ist ein Ansatz, um ca. drei bis fünf Unternehmen zusammen zu bringen, mit
dem Ziel, gemeinsam Wertschöpfungsszenarien im realen Umfeld der beteiligten Unter-
nehmen experimentell umzusetzen. In einem hierfür neutral moderierten Vertrauensraum
arbeiten die teilnehmenden Unternehmen branchenübergreifend und partnerschaftlich zu-
sammen (vgl. Abb. 24.6).
Die Mitarbeit in einem Micro Testbed ist für die beteiligten Unternehmen insbesondere
eine unternehmerische Entscheidung mit offenem Ausgang, da zu Beginn des jeweiligen
Ansatzes die Problemstellung als auch die finale Lösung in der Regel unbekannt sind. Der
Schwerpunkt des Projekts wird dabei auf die Umsetzung kleiner, gemeinsam entwickelter,
konkreter Anwendungsszenarien gelegt. Auf diese Art und Weise entstehen unter Nutzung
bestehender Technologien durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit neue Produkte und
Services im Kontext der Digitalisierung und Vernetzung. Das Ergebnis eines Micro Test-
beds ist damit vielfach ein vorher nicht antizipierbarer Nutzen für alle Beteiligten (Weber
& Lasi, 2017), welcher für alle beteiligten Unternehmen größer ist und alleine schwer um-
setzbar ist.
Als übergeordnetes Ziel lässt sich aufgrund zahlreicher erfolgreicher Umsetzungen
aufzeigen, wie mit vorhandenen Mitteln eine schnelle Umsetzung ermöglicht werden
kann. Dieser sogenannte Proof of Concept soll für die beteiligten Unternehmen einen ent-
scheidenden Nutzen stiften und die Möglichkeit schaffen, gemeinsam an den ­gewonnenen
Erkenntnissen und Ergebnissen zu lernen. Dabei zielt der Proof of Concept auf die
Generierung von domänenübergreifende Wertschöpfung in vernetzten Ökosystemen ab.
Üblicherweise ist die Dauer eines Micro Testbeds auf sechs bis zwölf Monaten angesetzt
654 D. Werth et al.

Micro Testbed
- Interdisziplinäre Zusammenarbeit zur Generierung branchenübergreifender Wertschöpfung -

Nutzen / Wertschöpfung Neutrale Plattform


Partnerschaftliche Zusammenarbeit
Konkrete Umsetzung
• Iniierung eines Vertrauensraums mit Unternehmen
Kontakt zu aus unterschiedlichen Branchen
Technologiepartnern • Neutral moderierte Workshops unter Einbezug von
Experten und wissenschaliche Begleitung
Erschließung neuer Märkte

Branchenübergreifende Fokus digitale Wertschöpfung


Zusammenarbeit Neutral iniierte & • Generierung kleiner, interdisziplinärer Anwendungs-
moderierte Plaorm szenarien für branchenübergreifende Wertschöpfung
Vertrauensraum
• Selekon generierter Anwendungsszenarien
Zugang zu internationalen • Konkresierung der technischen Umsetzung
Entwicklungen
Hands-on Umsetzung im Unternehmen
Partizipation an neuer
Wertschöpfung • Hands-on Umsetzung in den Unternehmen vor Ort
• Evaluaon und Spezifikaon der Anwendungsszenarien
Nationale/Internationale
• Roll-out und Skalierung der Szenarien
Sichtbarkeit

Abb. 24.6  Micro Testbed (angelehnt an (Weber & Lasi, 2017))

(Weber & Lasi, 2017). Abb. 24.6 zeigt den Ablauf eines Micro Testbeds, das ein mehr-
stufiges und iteratives Vorgehen ist, welches auf Workshops basiert.

24.4 Methodisches Vorgehen

Die Forschungsaktivitäten rund um Micro Testbeds können in die Wissenschaftsdisziplin


der gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik eingeordnet werden. Erkenntnisgegen-
stand sind dabei Informationssysteme aus den Objekttypen Mensch, Informations- und
Kommunikationstechnik und Organisation, sowie deren Beziehung zueinander. Das Me-
morandum der gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik sieht vorliegend ein vier-­
Phasen Prozess vor, d. h. von der Analyse über den Entwurf zur Evaluation und schluss-
endlich zur Diffusion (Österle et al., 2010).

Analyse  In dieser Phase wird das Forschungsziel mit der Forschungsfrage und der ent-
sprechenden Forschungslücke beschrieben (Österle et al., 2010). Für den beschriebenen
Fall ergaben sich primär folgende Fragen für die beteiligten Partner:

• Welchen Mehrwert bietet die Digitalisierung?


• Wie muss ein Pay-per-Part Ökosystem gestaltet sein?
• Welchen Nutzen bietet das Ökosystem Pay-per-Part für die einzelnen Partner?

Zusätzlich wird in der Analysephase auch der grundlegende Stand der Wissenschaft und
Praxis, wie in Abschn. 20.2.1 beschrieben, dargelegt.
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 655

Entwurf  Auf Basis von wissenschaftlich anerkannten Methoden sind in der Entwurfs-
phase die entsprechenden Artefakte herzuleiten (Österle et al., 2010).

Das auf Workshops basierenden Konzept der Micro Testbeds gibt es unterschiedliche
Rollen. Die Workshops werden von einem Moderator geleitet und von einem Projekt-
manager sowie einem IoT Experten mitbegleitet. Zur Dokumentation der Ergebnisse ist
zusätzlich ein Wissenschaftler mit anwesend. Die Workshops sind nach Atteslander als
unstrukturierte Gruppendiskussionen zu sehen (Atteslander, 2010, S.  133  ff.) und ein-
gebettet in den Case Study Ansatz von Yin. Eine Case Study ist eine empirische Unter-
suchung, die ein gegenwärtiges Phänomen in seinem realen Kontext untersucht, ins-
besondere dann, wenn die Grenzen zwischen Phänomen und Kontext nicht klar erkennbar
sind (Yin, 2018). Für jeden Workshop gibt es eine eigens definierte Forschungsfrage, die
durch ­teilnehmende Beobachtung beantwortet wird. Die Ergebnisse stehen dann in Form
von geschriebenen Protokollen und/oder Fotoprotokollen zur Verfügung.

Evaluation  Für die Überprüfung des entworfenen Artefakts dient die Evaluationsphase
(Österle et  al., 2010). Der Micro Testbed Ansatz ist mit zahlreichen unterschiedlichen
Unternehmen sowie Fragestellungen durchgeführt wurden (Hiller et  al., 2020; Weber
et al., 2019a). Zusätzlich ergibt sich eine Überprüfung durch den Grad der Implementie-
rung der gewonnenen Erkenntnisse bei den teilnehmenden Unternehmen.

Diffusion  Die Ergebnisse werden den unterschiedlichen Anspruchsgruppen in ent-


sprechender Aufmachung zur Verfügung gestellt, beispielsweise in Vorträgen, Publikatio-
nen oder Vorlesungen.

24.5 Fallstudie Industrial Service (Pay-per-Part)

Mit einem offenen und partnerschaftlichen Plattformansatz wurden im Micro Testbed In-
dustrial Service neue Wertschöpfungsansätze zum Nutzen aller Beteiligter generiert.
Federführend in diesem Micro Testbed war ein Industrial Service Dienstleister.
Die im Micro Testbed teilnehmenden Unternehmen wurden auf Basis ihrer unter-
nehmensspezifischen Fähigkeiten (Business Capabilities) ausgewählt (Weber et al., 2018).
Grundlage hierfür ist die etablierte Referenzarchitektur IIRA des Industrial Internet Con-
sortiums (Lin et al., 2017).
Zusammenhängend zeigt Abb.  24.7 die jeweilige Rolle der teilnehmenden Unter-
nehmen entlang der klassischen Wertschöpfungskette. Die am Micro Testbed teil-
nehmenden Maschinenbauer dominieren die Kette der Maschinenentwicklung und
Maschinenproduktion. Der teilnehmende Hersteller von Baggern hat seine Fähigkeiten
entlang der Wertschöpfungskette des Produktes selbst eingebracht und der Industrial Ser-
vice Dienstleister wiederum besetzt mit seinen Fähigkeiten typischerweise den Schnitt-
656 D. Werth et al.

Produkt Fergung
& Montage

Abb. 24.7  Ineinandergreifende Wertschöpfungsketten am Fallbeispiel Industrial Services ((Weber


et al., 2019a) angelehnt an (Westkämper & Zahn, 2009))

Enterprise-Ebene
Plaorm- &
Systemanbieter
Plaorm-Ebene
Sensorhersteller
Edge-Ebene

Produkt Forschung Produkt Fergung Produkt Nutzung


& Entwicklung & Montage & Instandhaltung

Maschinen- Maschinen- Maschinen-


Entwicklung Produkon Einsatz

Abb. 24.8  3-Ebenen-Architektur (Weber et al., 2019a) angelehnt an (Lin et al., 2017)

punkt dieser Ketten. Der Sensorhersteller sowie der Provider von Software- und Platt-
formlösungen lassen sich abschließend mit ihren Fähigkeiten zwischen Edge- und
Plattform-Ebene bzw. zwischen Plattform- und Enterprise-Ebene verorten (vgl. Abb. 24.8).

Ausgangssituation und Fähigkeiten (Bildung eines Ökosystems)  Den Ausgangspunkt


des Wertschöpfungsnetzwerkes bildete ein Industrial Service Dienstleister. Das Unter-
nehmen stellte sich die Frage, wie es das digitale Abbild nutzen kann, um zusätzlichen
Nutzen zu stiften, um damit gegen neue Wettbewerber auch aus anderen Branchen be-
stehen zu können.

Bevor die Partner ihre Aktivitäten in dem Wertschöpfungsnetzwerk starteten, sahen sie
das Thema Digitalisierung als Möglichkeit, bisherige Abläufe zu optimieren (Auto-
matisierung). Das Thema neue Wertschöpfungsszenarien war für die Unternehmen bis
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 657

dato nicht im Fokus und die Unternehmen arbeiteten vornehmlich in bilateralen Ko-
operationen zusammen. Dabei hatten die Unternehmen keine konkrete Vorstellung, was
Digitalisierung für ihr Unternehmen im Speziellen bedeutet und wie sie die Digitalisie-
rung angehen können.
Durch die Kombination der Fähigkeiten der unterschiedlichen Partner wurden An-
wendungsszenarien identifiziert. Diese Wertschöpfungsszenarien wurden gebündelt und
von den Micro Testbed Teilnehmern bewertet. Die Teilnehmer entschieden sich dafür im
Rahmen des Micro Testbeds das Wertschöpfungsszenario Pay-per-Part weiter zu ver-
folgen. Pay-per-Part bedeutet, dass nach gefertigtem Gutteil vergütet wird und der bis-
herige Produzent nichtmehr Eigentümer der Maschine ist.
Hierfür nahmen die Partner neue Rollen in einem Netzwerk ein und gestalteten die
Fertigungsprozesse bei der Erstellung eines Bauteils neu. Zentraler Befähiger ist eine of-
fene Plattform, über die Daten von unterschiedlichen Partnern ausgetauscht werden
­können. Wichtig war hierbei, dass alle beteiligten Partner ihren Nutzen in der Umsetzung
dieses Wertschöpfungsszenarios erkannten.
Das gewählte Szenario zeichnet sich nicht ausschließlich durch Neuheit oder durch das
Design eines bestimmten Industrial Internet of Things Produkts oder einer Dienstleistung
aus. Ihr Merkmal liegt in der kollaborativen Umsetzung im Rahmen eines Ökosystems,
das durch Industrial Internet of Things (IIoT), wie anschließend beschrieben, ermög-
licht wird.

Technische Realisierung der Fallstudie Industrial Service  Eine Drehbühne eines Rad-
baggers wurde als Objekt identifiziert. Dieses durchläuft mehrere Arbeitsschritte auf einer
5-Achsen-CNC Fräsmaschine, unter anderem, um Bohrungen zu setzen und Gewinde zu
drehen. Anschließend erfolgt ein Verschraubungsprozess, indem die Drehbühne das Ver-
bindungsstück zum Ober- und Unterwagen des Radbaggers darstellt.

Die technische Implementierung des Szenarios wurde auf der 3-Ebenen-Architektur


des Industrial Internet Consortiums umgesetzt und basiert auf einer offenen Plattform. Die
Drehbühne wurde mit zusätzlicher Sensorik bestückt, zur eindeutigen Identifikation im
Fertigungsprozess.
Für den Schritt der 5-Achsen-CNC Fräsmaschine wurde Konnektivität zur Steuerungs-
einheit der Fräsmaschine geschaffen. Die benötigten Daten wurden auf eine digitale Platt-
form gesendet. Für den Schrauber und den Schraubprozess wurde ebenfalls aus der be-
stehenden Steuerungseinheit dieses Montageprozesses, Konnektivität geschaffen und
somit die notwendigen Daten an die digitale Plattform gesendet. Im Verlauf der techni-
schen Implementierung des Proof of Concept, sowie der Ausspezifizierung der Rollen der
Partner im Ökosystem, wurde festgestellt, dass nicht alle notwendigen Rollen besetzt
waren. Das Ökosystem wurde um einen weiteren Partner erweitert. Die Rolle des Be-
sitzers der Maschine, wurde durch einen Rückversicherer abgedeckt. Zudem brachte der
Rückversicherer die Fähigkeiten der Risikoübernahme mit in das Ökosystem ein (vgl.
Abb. 24.9).
658 D. Werth et al.

Plaorm- &
Sensoranbieter
Digitale Abbilder auf offenen Plaormen

Sensorhersteller

Maschinenbauer,
Montageanlage &
Zerspanungsanlage

Industriel Service Hersteller von


Dienstleister Bagger

Abb. 24.9  Pay-per-Part Ökosystem, Fallstudie. (Quelle: Eigene Darstellung)

Im Ökosystem Pay-per-Part ist der Hersteller von Baggern der Abnehmer der ge-
fertigten und montierten Drehbühne. Er bezahlt pro Gutteil und ist nicht mehr Eigentümer
der Maschinen, die die Drehbühne fertigen und montieren. Der Hersteller von Baggern
gibt jedoch, wie in einer konventionellen Fertigung, Spezifikationen zum Produkt und in
welchem Prozess dieses montiert wird, weiterhin vor.
Einen erhöhten Freiheitsgrad bekommen die Maschinenbauer, diese können unter den
Spezifikationen des zu fertigenden Produktes und des Prozesses ihre Maschinen nach
eigenen Fähigkeiten bereitstellen. Das ermöglicht den Maschinenbauern das volle Poten-
zial ihrer Fähigkeiten ausnutzen zu können und Maschinen in einem, auf Pay-per-Part
zugeschnittenen, neuen Design herzustellen. Die Maschinen selbst werden dann an den
neuen Besitzer verkauft.
Der neue Besitzer im Ökosystem ist der Rückversicherer, zudem sichert er gegen
Schwankungen der Abnahmemenge des Gutteils ab. Durch die Digitalisierung der
­Maschinen und des Produktes und die damit entstandene Transparenz ist der Rückver-
sicherer zusätzlich in der Lage, das fertige Produkt auch im Feld gegen Ausfälle zu
versichern.
Möglich gemacht wird die Transparenz durch den Sensorhersteller sowie den Anbieter
von Plattform- und Systemlösungen. Die Fräsmaschine, die Drehbühne und der Schrauber
im Schraubprozess werden in der Virtualität abgebildet. Zudem können vom Anbieter von
Plattform- und Systemlösungen zusätzliche Analysen auf der Plattformebene zur Ver-
fügung gestellt werden. Das Ökosystem könnte hier auch für weitere Partner im Bereich
der Analyse geöffnet werden.
Den Betrieb und den Service des Fertigungs- und Montageprozesses übernimmt im
Ökosystem der Industrial Service Dienstleister. Dieser kann seine Fähigkeiten im Bereich
der Instandhaltung mit dem Betrieb nutzenstiftend kombinieren.
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 659

Serviceebene – kompev und kooperav

Gemeinscha lich genutzter Datenbasis


(digitale Abbilder auf offenen Plaormen)

Datenebene – kooperav

Abb. 24.10  Kooperative Datenräume. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 24.10 gibt einerseits einen Überblick über die Datenebene (Assets und digitale
Abbilder), der gemeinsam, in einem kooperativen Ansatz genutzt wird. Andererseits wie
die Partner in einem Netzwerk kompetitiv gegenüberstehen und die Einnahmen des be-
zahlten Gutteils je nach Partner und Geschäftsmodell aufgeteilt werden kann. Wichtig je-
doch ist, dass jeder Partner im Ökosystem einen Nutzen hat.
Wichtig für die Institutionalisierung kooperativer Datenräume ist es, dass alle Partner
Nutzen generieren unter Wahrung der freien Datenverfügbarkeit bei gleichzeitiger
Informationseigentümerschaft und -souveränität. Für die Realisierung kooperativer Daten-
räume bietet sich beispielsweise das Rechtskleid der Genossenschaften an: Es ist seit jeher
ein etabliertes Konzept zur Umsetzung von Verbundvorhaben in dem Ziele gemeinsam und
gemeinschaftlich verfolgt werden. Zudem wird durch das Identitätsprinzip sichergestellt,
dass die Interessen der Mitglieder in den Mittelpunkt gestellt werden, ein Prinzip, das die
Genossenschaften von anderen Formen der kooperativen Zusammenarbeit abgrenzt. All
diese Vorzüge bilden eine gute Grundlage für die Bildung eines Vertrauensraums, in dem
beteiligte Partner selbstbestimmt und gleichberechtigt zusammenkommen; getreu der Aus-
sage von Friedrich Wilhelm Raiffeisen: „Was den Einzelnen nicht möglich ist, das Vermögen
viele“. Eine Genossenschaft im Kontext digitaler Abbilder auf offenen Plattformen wird als
Datengenossenschaft bezeichnet. Eine Datengenossenschaft ist definiert, als eine Organisa-
tion in der Rechtsform der Genossenschaft (eG), mithilfe derer die gemeinsame Sammlung
und Analyse von Daten in einem Ökosystem institutionalisiert wird (Baars et al., 2021).
660 D. Werth et al.

24.6 Ausblick

Das Ziel des vorliegenden Beitrags digitaler Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen


am Beispiel Pay-per-Part ist es aufzuzeigen, dass Digitalisierung zu Veränderungen klas-
sischer Wertschöpfungsketten hin zu plattformbasierten Wertschöpfungssystemen führt
und neue Formen von Services ermöglicht werden. Im Micro Testbed Industrial Services
zeigte sich, dass eine zunehmende Verlagerung der Wertschöpfung durch Digitalisierung
im industriellen Kontext Veränderungen mit sich bringt, die weit über den bisherigen
Produktionskontext hinaus reicht. Viele Unternehmen müssen aufgrund ihrer spezialisier-
ten Ausrichtung und der begrenzten Ressourcen ihre Rolle innerhalb von sich verändernden
Wertschöpfungsketten neu definieren und neben den etablierten Wertschöpfungsketten
plattformbasierte Dienste in ihre Wertschöpfung integrieren bzw. in gut positionierten
wertschöpfungsorientierten Netzwerken vertreten zu sein.
Auf Basis einer digitalen Plattform und eines genossenschaftlichen Datenansatzes
konnte ein Wertschöpfungsnetzwerk (Ökosystem) mit branchenübergreifenden Unter-
nehmen im Micro Testbed Industrial Services geschaffen werden. In diesem Ökosystem
entstanden an verschiedenen Stellen zusätzliche Möglichkeiten für die beteiligten Unter-
nehmenspartner, neue Wertschöpfung zu generieren. Es zeigte sich, dass es in einem zu-
künftigen Ökosystem nicht mehr nur einen bzw. wenige Kunden gibt, sondern eine Viel-
zahl von Leistungsempfängern. Diese können Teil des Ökosystems sein oder nicht. Jeder
der beteiligten Unternehmen hat aufgrund der jeweiligen Geschäftsfähigkeiten einen ent-
sprechenden Mehrwehrt den Netzwerk-/Kooperationspartnern zu bieten und profitiert von
seiner Rolle im Ökosystem.
Die im Rahmen des Micro Testbeds definierten Leistungsverflechtungen und finanziel-
len Verflechtungen können zusammenfassend als abstraktes Geschäftsmodell des Öko-
systems bezeichnet werden, mit einem entsprechenden Nutzen für die beteiligten Unter-
nehmen durch Pay-per-Part (Bezahlung nach Gutteil).
Der entstehende Nutzen durch Pay-per-Part für das Wertschöpfungsnetzwerk lässt sich
wie folgt zusammenfassen:

• Digitalisierung schafft Transparenz im Prozess (Maschine und digitales Abbild). Wei-


tere Nutzenpotenziale durch digitale Abbilder außerhalb von Pay-per-Part sind u.  a.
Benchmarking von Maschinen und Anlagen, Predictive Maintenance für Maschinen
und Anlagen, Gewährleistung von Kapazitätsauslastung sowie Risikoabsicherung von
Objekten im Feld.
• Mehrwert für alle Beteiligten
• Klassische Kunden-Lieferanden Beziehungen lösen sich auf und Partnerschaften im
Ökosystem entstehen
• Volles Potenzial der Geschäftsfähigkeiten wird ausgenutzt
• Flexibler Zugriff auf Produktionskapazität
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 661

Letztlich hat jeder der Partner aufgrund der interdisziplinären Zusammensetzung mit an-
deren Unternehmen einen vielfach höheren Nutzen und profitiert in seiner Rolle im Öko-
system. Die im Rahmen des Micro Testbeds definierten Leistungsverflechtungen und
finanziellen Verflechtungen können als abstraktes Geschäftsmodell des Ökosystems be-
zeichnet werden und im weiteren Verlauf entsprechend im betriebswirtschaftlichen Kon-
text skaliert werden.

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Yin, R. K. (2018). Case study research and applications; design and methods. SAGE.

Dr. Daniel Werth  ist als Senior-Research-Fellow am Ferdi-


nand-Steinbeis-Institut tätig. Seine Tätigkeit liegt in der Dualität aus
wissenschaftlicher Forschung und dem Transfer in die Wirtschaft. Er
forscht und lehrt in den Bereichen multilateraler Ökosysteme und
Verlagerung von Wertschöpfung im Kontext von Digitalisierung mit
Schwerpunkt Mittelstand. Er ist Co-Lead des Digital-­Trust-­Forums,
Lead Case Study Working Group der AIoT User Group und als
Experte für Business Transformation in mehreren Beiräten/Gre-
mien tätig.

Simon Hiller  ist Projektleiter mehrerer domänenübergreifender


IIoT-Projekte, sogenannter Micro Testbeds. Als wissenschaftlicher
Mitarbeit am Ferdinand-­Steinbeis-­Institut war an der Entwicklung
des Micro Testbed Ansatzes maßgeblich beteiligt. Er forscht im Be-
reich Industrie 4.0/Industrial Internet und fokussiert sich dabei auf
die Wertschöpfung durch cyber-­physischen Systemen insbesondere
im Hinblick auf Additive Manufacturing.

Professor Dr. Heiner Lasi  leitet seit April 2015 das Ferdinand-­
Steinbeis-­Institut mit Sitz in Stuttgart und Heilbronn und ist Inhaber
der Professur für Industrial Intelligence an der Steinbeis Hochschule.
Lasi forscht und lehrt im Bereich neuer Konzepte und Methoden zur
erfolgreichen Gestaltung der Digitalen Transformation in Wirtschaft
und Gesellschaft. Im Rahmen seiner internationalen Aktivitäten ist er
u. a. Mitglied im AIoT Editorial Board und ein gefragter Experte für
die Gestaltung neuer Wertschöpfungsmodelle, u.  a. in der Enquete
Kommission KI des Deutschen Bundestags und der Arbeitsgruppe
Digitale Agenda des Bundeskanzleramts.
24  Digitale Wertschöpfungspotenziale in Ökosystemen am Beispiel Pay-per-Part 663

Professor Dr. David Rygl  ist seit 2021 beim Ferdinand-­Steinbeis-­


Institut am Bildungscampus in Heilbronn tätig. Im Jahr 2013 wurde
er zum wissenschaftlichen Professor für Internationales Manage-
ment an die School of International Business and Entrepreneurship
(SIBE) der Steinbeis-Hochschule berufen. David Rygl beschäftigt
sich mit den Themenbereichen der Unternehmensentwicklung
von kleinen und mittleren Unternehmungen (KMUs) sowie Mittel-
ständischer Weltmarktführer (MWFs). Hierzu zählen beispielsweise
neben der Untersuchung zukünftiger Internationalisierungsstrategien
des Mittelstands im Kontext der zunehmenden Re-Globalisierung in
vielen Teilen der Weltwirtschaft auch Analysen zur nachhaltigen Ge-
staltung von Wertschöpfungsszenarien in internationalen Innovations-
ökosystemen für Start-Ups, Handwerk und Mittelstand.
Status Quo und Hürden der Digitalisierung
im Supply Chain Management bei KMU 25
Jürgen Grinninger, Philipp Kaiser und Christian Lieb

Zusammenfassung

Der nachfolgende Beitrag untersucht den Fortschritt der Digitalisierung von kleinen
und mittelständischen Unternehmen (KMU) in Bezug auf das Supply Chain Manage-
ment. KMU sind das Rückgrat der deutschen Industrie, haben aufgrund ihrer Größe
aber besondere Hürden bei der Digitalisierung. Gleichzeitig nehmen sie auch in den
Lieferketten größerer Unternehmen einen elementaren Bestandteil ein. Dies bedeutet,
dass die Digitalisierung der Supply Chain Prozesse von KMU für eine nachhaltige di-
gitale Transformation des gesamtheitlichen Supply Chain Managements ebenso das
Rückgrat darstellt. Um den Status Quo und die Hürden der digitalen Transformation zu
untersuchen, wird auf Basis von durchgeführten Interviews ein Einblick aus strategi-
scher und technologischer Perspektive gegeben. Zudem werden aus den Antworten der
Befragten Eckpunkte für eine nachhaltige digitale Transformation des Supply Chain
Managements von KMU abgeleitet.

Schlüsselwörter

Digitalisierung · Supply Chain Management · KMU · Digitale Transformation ·


Digitale Technologien

J. Grinninger (*)
Hochschule Neu-Ulm, Neu-Ulm, Deutschland
E-Mail: juergen.grinninger@hnu.de
P. Kaiser · C. Lieb
BLSG AG, Garching bei München, Deutschland
E-Mail: philipp.kaiser@blsg.de; christian.lieb@blsg.de

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer Fachmedien Wiesbaden 665


GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023
D. R. A. Schallmo et al. (Hrsg.), Digitalisierung, Schwerpunkt Business Model
Innovation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-36634-6_25
666 J. Grinninger et al.

25.1 Einleitung

Politiker wie auch Wissenschaftler werden nicht müde die Aussage von Dieter Hundt zu
wiederholen: „Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Er erwirtschaftet
mehr als die Hälfte der Wertschöpfung, stellt fast 60 Prozent der Arbeitsplätze und rund 82
Prozent der betrieblichen Ausbildungsplätze. Aber deutscher Mittelstand ist mehr als nur
Materielles. Der deutsche Mittelstand ist eine Gesinnung und eine Haltung im gesellschaft-
lichen, wirtschaftlichen und politischen Prozess“ (Hundt, 2017).
Allein in den vergangenen 15 Jahren stieg der Exportumsatz von KMU um fast 40 Pro-
zent auf über 200 Milliarden Euro (Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2016).
Auch bei den Importen gibt es insbesondere beim verarbeitenden Gewerbe einen signi-
fikanten Umsatzzuwachs in den letzten Jahren. Im Jahr 2011 bezogen bereits mehr als
zweidrittel der befragten Unternehmen Waren aus dem Ausland (siehe Abb. 25.1) (Kranz-
usch & Holz, n.d.).
Die Internationalisierung des Güterverkehrs bei KMU wirkt sich auf die Prozesse in
den Unternehmen aus. Das Supply Chain Management als Querschnittsfunktion und Ver-
bindungsglied zwischen Beschaffungs-, Produktions- und Distributionszyklus wird dabei
zunehmend als Enabler für Wettbewerbsvorteile im produzierenden Umfeld wahr-
genommen. Gleichzeitig stellt es Unternehmen vor neue Herausforderungen, globale
Waren- und Informationsflüsse zu managen.
Die Digitalisierung von komplexen Wertschöpfungsnetzwerken wirkt als Katalysator
für Evolutionssprünge in Transparenz und Effizienz. Digitalisierung bedeutet die Trans-
formation von analogen zu digitalen Informationen, deren digitale Darstellung und die
Durchführung von digitaler Kommunikation (Demara et al., 2016). Dies erfolgt im Supply
Chain Management durch:

11 % aller Unternehmen
in Deutschland exportieren,
davon sind 97 % KMU
18 % des gesamten
Exportumsatzes werden
Seit 2000 konnten KMU 39,9 % von KMU erwirtschaftet
mehr Exportumsatz erzielen €
201 Milliarden Euro Umsatz erzielen
Exportierende im Ausland, das sind 20,4 %
ihres Gesamtumsatzes

Abb. 25.1  Bedeutung von KMU in der globalen Supply Chain. (Quelle: Eigene Darstellung)
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 667

• Digitalisierung von Abläufen


• Vernetzung von Menschen und Objekten
• Austausch von Daten

Ein Beispiel zu letzterem ist der elektronische Datenaustausch (EDI) zwischen Supply
Chain Partnern.
Eine digitale Implementierung im Supply Chain Management bedingt aufgrund der
Vernetzung verschiedener Akteure (Lieferanten und Kunden) im Wertschöpfungsnetz-
werk immer auch einen Prozess der digitalen Transformation. Darin begründet sich auch
eine zentrale Herausforderung: KMU und deren Supply Chain Partner stehen an ver-
schiedenen Stellen des Digitalisierungswegs. Des Weiteren gibt es eine Fülle an digitalen
Lösungen, die den Markt intransparent machen und den Know-how Aufbau komplex ge-
stalten. Daneben bestehen teilweise Ängste, dass digitale Lösungen teuer sind und die
Umsetzung zu komplex ist, da mehrere Unternehmensbereiche („Bereichsdenken“) bzw.
mehrere Unternehmen („Silodenken“) in die Implementierung eingebunden werden müs-
sen. Insbesondere die Re-Organisation von Strukturen im Unternehmen und Wert-
schöpfungsnetzwerk, sowie die neuen Anforderungen an das Kompetenzprofil von Mit-
arbeitern stellen KMU vor Herausforderungen.
Im Rahmen dieses Beitrags wird ein Einblick in den Status Quo der Digitalisierung bei
KMU im produzierenden Umfeld gegeben, die Hürden bei der nachhaltigen Implementie-
rung von digitalen Lösungen diskutiert sowie Eckpunkte abgeleitet, die eine nachhaltige
digitale Transformation des Supply Chain Management bei KMU begünstigen.

25.2 Supply Chain Management von KMU

In der Literatur gibt es zahlreiche Definitionen von Supply Chain Management. Gemäß
dem Council of Supply Chain Management Professionals (CSCMP) „encompasses SCM
the planning and management of all activities involved in sourcing and procurement, con-
version, and all logistics management activities. Importantly, it also includes coordination
and collaboration with channel partners, which can be suppliers, intermediaries, third
party service providers, and customers. In essence, supply chain management integrates
supply and demand management within and across companies.“ (Stank et al., 2020).
Das Supply Chain Management als Schnittstellenfunktion plant und steuert die Aktivi-
täten im Beschaffungs-, Produktions-, Versand/Transport- und Kundenauftragszyklus
(Chopra & Meindl, 2014) (siehe Abb. 25.2) und nimmt auch bei KMU eine wettbewerbs-
kritische Stellung ein.
Eine besondere Herausforderung haben KMU durch die unterschiedlichen Positionen
bzw. Rollen, die diese in einem Wertschöpfungsnetzwerk einnehmen. Typischerweise ste-
chen zwei besonders hervor. Zum einen gibt es KMU, die nur Kunde sind, also OEM von
Produkten, die direkt an den Endkunden bzw. Distributionspartner, z.  B.  Händler, ver-
trieben werden. Zum anderen gibt es KMU, die sowohl Kunde als auch Lieferant inner-
668 J. Grinninger et al.

Abb. 25.2  Zyklen im Supply Kunde


Chain Management. (Quelle:
Chopra & Meindl, 2014)
Kundenbestellzyklus

Einzelhändler

Lieferzyklus

Großhändler/
Distributor

Produktionszyklus

Hersteller

Beschaffungszyklus

Lieferant

halb einer Supply Chain sind, also nicht am Ende der B2B Supply Chain stehen. In beiden
Fällen gilt, dass das KMU aufgrund der Größe bei zahlreichen seiner Lieferanten häufig
ein kleiner Kunde ist. Die Marktmacht des KMU gegenüber seinen Lieferanten ist folglich
gering. Das bedingt ein Anpassen des Unternehmens an die meist starren Prozessvorgaben
des Kunden bzw. der Lieferanten. Sofern keine Standards in der Branche (z. B. beim elek-
tronischen Datenaustausch, Behältern, Labelling von Produkten) festgelegt sind, erzeugt
dies eine enorme Prozesskomplexität. Eine weitere Besonderheit im Supply Chain Ma-
nagement bei KMU liegt in der Aufbauorganisation. Viele Unternehmen haben heute
keine eigenständige Supply Chain Organisation, sondern die Aufgaben sind auf mehrere
Funktionsbereiche (Einkauf, Produktion, Vertrieb, Fertigungsplanung und -steuerung)
verstreut. Oftmals ist auch der Grad an Systemunterstützung in Form von Customer
Relationship Management-, Enterprise Ressource Planning-, Manufacturing Execution-­
Systemen sehr niedrig bzw. eine Systemunterstützung fehlt gänzlich. Laut Christensen
fokussieren sich speziell erfolgreiche Unternehmen oftmals zu sehr auf die aktuellen Be-
dürfnisse und Anforderungen ihrer Kunden. Sie verpassen es deshalb, neue Technologien
und Geschäftsmodelle zu implementieren, welche die zukünftigen, noch unbekannten
Kundenbedürfnisse decken können (Innovator’s Dilemma) (Christensen, 2000).
Die digitale Transformation der Supply Chain ausgehend von KMU, kann daher nicht
auf Basis von Anforderungen, die aus einer marktbeherrschenden Position heraus ent-
stehen, realisiert werden. Vielmehr müssen die unternehmensübergreifenden Potenziale in
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 669

einem kooperativen Ansatz zwischen den beteiligten Unternehmen transparent dargestellt


werden, so dass alle Beteiligten einen individuellen Vorteil aus dem gesamtheitlichen Op-
timum für sich erkennen. Trends, wie E-Commerce stellen produzierende KMU aber auch
vor neue Herausforderungen im Innenverhältnis. Um die Produkte mit kurzer Vorlaufzeit
und in kleinen Losgrößen an den Kunden auszuliefern, und gleichzeitig ressourcen-
effizient zu arbeiten, müssen Unternehmen die Reaktionsfähigkeit erhöhen. Dazu sind
u. a. transparente Informationen darüber notwendig, welches Material zu welcher Zeit an
welchem Ort ist. Durch die digitale Transformation von Geschäftsprozessen in der Supply
Chain kann diese Transparenz ohne Zeitverzögerung geschaffen werden.

25.3 Ebenen der digitalen Transformation

Die Digitalisierung verändert Prozesse, Geschäftsmodelle und auch das Denken in Unter-
nehmen. Diese Transformation wird maßgeblich aus zwei Richtungen getrieben. Zum
einen sehen die Führungsetagen von KMU oft die strategische Chance die Unternehmens-
prozesse nachhaltig zu verbessern und durch digitale Lösungen Transparenz sowie Opera-
tional Excellence zu erreichen. Zum anderen erhöhen die Neuentwicklungen von digitalen
Technologien sowie der zunehmende Reifegrad bestehender Lösungen stetig das Inte­
resse, aber auch den Wettbewerbsdruck im eigenen Unternehmen zu digitalisieren. Die
Vielzahl an verfügbaren und einsatzfähigen Technologien und die rasante Geschwindig-
keit, mit der neue Lösungen auf den Markt gebracht werden in Kombination mit fehlen-
dem Know-how führen bei KMU zu Intransparenz. Dies sorgt für Verunsicherung und
Inaktivität bei der Entscheidung zu digitalisieren, aus Sorge falsche, kostenintensive Ent-
scheidungen zu treffen. Gerade in kleineren Unternehmen ist das Wissen über neue digi-
tale Technologien im Rahmen von Industrie 4.0 häufig noch gering. Einer Innovationsent-
scheidung gehen oft Monate der Informationssuche voraus (Christensen, 2000). Dadurch
bleiben gesehene Chancen der Digitalisierung (Christensen, 2000) und Optimierungs-
potenziale im Unternehmen ungenutzt. Eben aus diesem Grund ist es unabdingbar, dass
die Digitalisierung nicht nur auf operativer Ebene stattfindet, sondern in einer nachhaltigen
Strategie verfolgt wird.
Zur Untersuchung des Status Quo zur Digitalisierung von KMU im Supply Chain Ma-
nagement wurden leitfadengestützte Experteninterviews durchgeführt. Dabei wurden 23
Unternehmensvertreter aus unterschiedlichen Branchen befragt. Mit 43 % der Teilnehmer
gehören Unternehmen des Maschinenbaus zu den häufigsten Interviewpartnern (siehe
Abb. 25.3).
Je nach Position des Unternehmens in der Supply Chain kann der Veränderungsprozess
zur Digitalisierung aus unterschiedlichen Gründen initiiert sein (siehe Abb. 25.4). Wäh-
rend OEM (43 % der untersuchten Unternehmen) die Entscheidung zu digitalisieren häu-
fig aus eigenem Antrieb bzw. aufgrund von Bedürfnissen des Endkunden treffen, entsteht
bei Lieferanten oder Dienstleistern innerhalb der Supply Chain (48 % der untersuchten
Unternehmen) teilweise ein Digitalisierungsdruck auf Drängen des OEM.
670 J. Grinninger et al.

10

2 2 2 2

1 1

0 0
(Sonder-) Automobil Metall Nahrungs- Sozialwesen Transport Elektro Medizintechnik Luft & Kunststoff
Maschinenbau mittel & Logistik Raumfahrt

Abb. 25.3  Verteilung der Grundgesamtheit der Befragten auf Industriezweige. (Quelle: Eigene
Darstellung)

10

4 4

2 2

OEM Tier-1 Tier-2 Tier-3 Logistik- Verbraucher


dienstleister

Abb. 25.4  Verteilung der Grundgesamtheit der Befragten auf deren Position. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 671

25.3.1 Strategisch

Die Grundlage für eine erfolgreiche Technologiediffusion in Unternehmen ist eine Klar-
heit über die Vision und Strategie zur Digitalisierung. In den ersten beiden Stufen – ­Wissen
und Überzeugung – nach Rogers (2003) wird hierzu die Grundlage gelegt. Entscheider
sammeln Informationen und identifizieren deren Vorteile im Einsatz. Darauf aufbauend
entwickelt sich eine Einstellung zu den wahrgenommenen oder erwarteten Eigenschaften
der Innovation durch ihren relativen Vorteil, ihre Kompatibilität, ihre Komplexität, ihre
Versuchseignung sowie durch die Beobachtbarkeit der, durch die Innovation hervor-
gerufenen, Veränderungen (Demara et al., 2016). Wer Leistung und Veränderung fordert,
muss Sinn bieten, erklärt Professor Dieter Frey, Leiter des Centers for Leadership and
People Management an der LMU. Es entsteht nicht durch die Tätigkeit an sich Sinn, son-
dern durch die Einbettung des eigenen Tuns in ein großes Ganzes. Damit dies gelingen
kann, braucht es ein gemeinsames Zielbild, das aufzeigt, wohin sich das Unternehmen
verändern soll und warum (Frey & Schmalzried, 2013). Das Zielbild Digitalisierung dient
in Anlehnung an die Lean-Philosophie als „Nordstern“ – beschreibt somit die Zukunft, ist
konkret, fordernd, das warum erklärend, ambitioniert und es lässt sich einfach kommuni-
zieren, so dass jeder Mitarbeiter des Unternehmens dies versteht. Zur Erarbeitung von
Zielbildern gibt es zahlreiche Methoden, z. B. den Golden Circle von Simon Sinek (2009).
Darauf aufbauend wird die Strategie als Summe an Maßnahmen zur Erreichung der Vision
definiert.
Fast die Hälfte aller befragten Unternehmen (43 %) haben aktuell noch keine Vision
bzw. Zielbild hinsichtlich Digitalisierung, noch sind sie sich im Klaren über eine Road-
map (39  %) (siehe Abb.  25.5). Dies zeigt, dass es Unternehmen gibt, die einen
Implementierungspfad ohne festgelegtes Ziel beschrieben haben. Bei den Unternehmen
mit einer Strategie ist diese primär auf einen Zeithorizont von mehr als 3 Jahren aus-
gerichtet. Trotz der fehlenden Guidance gibt es KMU, die in Bezug auf das Supply Chain
Management ihren Stand zu Digitalisierung als eher hoch bzw. hoch einschätzen. Daraus
lässt sich in Summe erkennen, dass bei einem großen Teil der befragten KMU das Ver-
ständnis zur Vorgehensweise einer erfolgreichen Technologiediffusion fehlt.
Einigkeit herrscht dagegen bei den Teilnehmern zur Relevanz des Themas Digitalisie-
rung für das eigene Unternehmen. 96 % der Interviewpartner sind der Meinung, dass dies
relevant oder sehr relevant für das Management der Supply Chain Aktivitäten ist (siehe
Abb. 25.6). Das Bild wird bestätigt durch die Studienergebnisse einer im Jahr 2020 durch-
geführten Studie zu Trends und Strategien in Logistik und Supply Chain Management –
hier sehen 66 % bzw. 59 % der Unternehmen eine Möglichkeit durch Digitalisierung zu-
sätzliche Erlöse zu generieren bzw. Kosten zu reduzieren. Insgesamt befürchten nur
wenige Unternehmen (ca.  29  %) Risiken bei der digitalen Transformation (Kersten
et al., 2020).
Der allgemeine Stand zur Digitalisierung weicht nicht vom Reifegrad im Supply Chain
Management ab. Die Erkenntnis bzw. Notwendigkeit zur Digitalisierung von Prozessen
im Supply Chain Management als Querschnittsfunktion zeigt aktuell somit noch keine
672 J. Grinninger et al.

Gibt es in Ihrem Unternehmen ein Gibt es in Ihrem Unternehmen eine


Digitalisierungszielbild (Vision)? Digitalisierungsroadmap?

Ja
Nein 43 % 39 %

57 % Ja
61%
Nein

Auf welchen Zeithorizont ist Ihre Digitalisierungsstrategie


ausgerichtet?
14

5
3
1
0
keine Strategie bis 1 Jahr 1 -3 Jahre 3 -5 Jahre > 5 Jahre

Abb. 25.5  Digitalisierungsstrategie und Roadmap. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wie hoch bewerten Sie den Wie hoch bewerten Sie den Stand der Für wie relevant halten Sie das
allgemeinen Stand der Digitalisierung Digitalisierung im Bereich SCM Thema Digitalisierung in Bezug auf
in Ihrem Unternehmen? in Ihrem Unternehmen? SCM für Ihr Unternehmen?

sehr hoch sehr niedrig sehr hoch sehr niedrig nicht relevant kaum relevant
hoch niedrig hoch niedrig
0% 4% 0%
13 % 9% relevant
4 %4 % 0% 4%
0%

39 % eher niedrig 39 %
30 % 57 %
52 %
43 %
eher hoch
eher hoch
eher niedrig
sehr relevant

Abb. 25.6  Stand der Digitalisierung in befragten Unternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 673

Auswirkung auf die Implementierungsquote. Fast die Hälfte aller befragten KMU haben
einen niedrigen Entwicklungslevel bei der Digitalisierung von Abläufen, der Vernetzung
von Menschen und Objekten und dem Austausch von Daten (siehe Abb. 25.6). Dies zeigt
den Nachholbedarf trotz der wahrgenommenen Wichtigkeit des Themas. Es handelt sich
damit nicht um ein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem.
Trotz teils fehlender Vision sowie Roadmap und wohl wegen der erkannten Dringlich-
keit planen die Unternehmen teils signifikante Budgets für Digitalisierungsprojekte.
­Immerhin ein Fünftel der befragten Betriebe sieht Investitionen in Höhe von mehr als 0,5
Mio. Euro im nächsten Jahr ausschließlich für die Digitalisierung (siehe Abb. 25.7).
Ohne qualifizierte Ressourcen in Form von Mitarbeitern oder externen Beratern sind
Digitalisierungsprojekte nicht durchführbar. Zahlreiche Beratungsunternehmen aus dem
Prozess- und IT-Umfeld haben heute eigene Geschäftsfelder mit Experten zu Techno-
logien bzw. digitaler Transformation. Abb. 25.8 zeigt, dass das Thema Digitalisierung be-
reits in der Aufbauorganisation der KMU angekommen ist. Lediglich 30  % der Unter-
nehmen haben heute noch keine explizite Funktion im Betrieb die sich mit Digitalisierung
beschäftigt. Das zeigt, dass die Unternehmen erkannt haben, dass Expertenwissen ein
elementarer Schritt auf dem Weg der Umgestaltung ist. Diejenigen Unternehmen mit die-
sen Stellen, haben lt. Umfrage heute bereits durchschnittlich zwei Experten an Board.
Einzelne Unternehmen haben bereits ganze Abteilungen mit entsprechendem Manage-
ment geschaffen, die sich mit der Konzeption, Implementierung und teils auch dem Be-
trieb von Digitalisierungslösungen beschäftigen. Hier zeigen sich erhebliche Unterschiede
in der Vorgehensweise und Verankerung in der betrieblichen Organisation. Eine Option ist,
dass reine Projektorganisationen (meist als Stabsstelle Digitalisierung) sich um die Initiie-

Wie viel Budget in Euro planen Sie


jährlich für Digitalisierungsprojekte?

> 1000 TEUR

17 %

501 - 1000 TEUR


4%

52 %
101 - 500 TEUR 13 %

9%
0 - 100 TEUR 4% nicht bekannt
keine Angabe

Abb. 25.7  Jährlich geplantes Budget für Digitalisierungsprojekte. (Quelle: Eigene Darstellung)
674 J. Grinninger et al.

9
8
7

4 4
3 Ø2

Abteilungs- Projektmanager/- Digitale Strategie Supply-Chain- Digitalisierung Beauftragter Keine expliziten


/Bereichsleiter leiter Digitalisierung Produktion/Logistik Digitalisierung Digitalisierungs-
Digitalisierung Digitalisierung rollen

Abb. 25.8  Besetzte Rollen zu Digitalisierung in den befragten Unternehmen. (Quelle: Eigene Dar-
stellung)

rung und Projektierung von Digitalisierungsprojekten kümmern – der Betrieb wird dann
von den Fachfunktionen verantwortet. Andererseits gibt es auch Betriebe bei den sich die
bestehenden Funktionen/Abteilungen parallel zum Tagesgeschäft um die digitale Trans-
formation (Projekt- und Betriebsphase) kümmern.

25.3.2 Technologisch

Neben der klaren Vorstellung über das Ziel, den Zweck und den Weg in Form einer Stra-
tegie zur digitalen Transformation bilden, wie in Abschn. 25.3.1 beschrieben, das Wissen
und die Überzeugung zu innovativen Technologien für das Supply Chain Management die
Grundlage für eine erfolgreiche Technologiediffusion (Rogers, 2003). Entscheidend hier-
bei ist nicht nur die Kenntnis der Technologie selbst, sondern insbesondere wie die Inno-
vationen auf die eigene Umgebung adaptiert werden können und dadurch einen Kos­
ten-­
Nutzen-­ Vorteil ermöglichen. Dies setzt voraus, dass die Ist-Situation inkl. der
Schwachstellen bei der Digitalisierung von Abläufen, der fehlenden Vernetzung von Men-
schen und Objekten und dem analogen Austausch von Daten bekannt ist. Dazu sind
geeignete Analyseinstrumente wie ein SCM-Digitalisierungsreifegradmodell oder die
logistikorientierte Wertstromanalyse der Schlüssel zur Transparenz.
Darauf aufbauend gilt es Digitalisierungslösungen auf dem Markt zu identifizieren, die
einen potenziellen Mehrwert liefern. Abb. 25.9 liefert einen unvollständigen Ausschnitt
der Technologien, die unabhängig von ihrer Marktreife für den Einsatz im Supply Chain
Management verwendet werden.
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 675

Materialfluss Informationsfluss

Digitales Assistenz- Autonome Daten- Kunden- Informations- IT-


Abbild systeme Technologien analyse schnittstellen austausch Services
RFID Wearables Roboter Descriptive Analytics Mobiler Mobiler Enterprise
Datenzugriff für Datenzugriff für Ressource
Kunden Mitarbeiter Planning System
Lokalisierung Pick by Light Fahrerlose Predictive Kundenbindungs- Webbasierte Warehouse
Transportsysteme Analytics programme Kommunikation Management
System
Sensorik zur Pick by Voice Autonome LKW Prescriptive Analytics Social Media Digitale Manufacturing
Überwachung Analytics Marktplätze Execution
System
2D-Codes Pick by Vision Drohnen Robotic Process Open Innovation Unternehmens- Platform as a
Automation übergreifende Service (Cloud)
Maschine-
Maschine-
Kommunikation
Digitaler Zwilling Augmented 3D-Druck Automatisierte Unternehmens- 5G-Standard Blockchain
Reality Entscheidungen übergreifendes
Master Daten
Management
Virtual Reality Maschinelles Sehen Open API
Maschinelles Lernen/ Execution
Künstliche Intelligenz Management
System
Data/Text Mining
Process Mining
NLP

Abb. 25.9  Überblick Technologien und Digitalisierungslösungen für das Supply Chain Manage-
ment. (Quelle: Eigene Darstellung)

Im Folgenden werden ausgewählte Technologien kurz erläutert und dann deren Be-
wertung durch die Befragten hinsichtlich der Relevanz und des Einsatzes in der Inbound-,
Inhouse- und Outboundlogistik diskutiert.
Grundlage für die Einschätzung der Technologien bildet Abb. 25.10.

Künstliche Intelligenz/Machine Learning/Deep Learning


Das Ziel des Einsatzes von künstlicher Intelligenz ist es Maschinen zu befähigen zu den-
ken wie Menschen. Machine Learning ist ein Teilgebiet der KI und besteht aus Techniken,
die Computer dazu verhilft, Zusammenhänge aus Daten zu erkennen, und KI-­Applikationen
zur Verfügung zu stellen. Deep Learning hingegen ist eine Untergruppe des maschinellen
Lernens, wodurch Rechner über neuronale Netze automatisch Muster zur Merkmals-
erkennung identifizieren – die Basis um komplexere Probleme zu lösen (Abb. 25.11).

Es existieren bereits Lösungen für das Supply Chain Management mit integrierter
KI. So verwenden Spediteure Software zur Erkennung und automatisierten Verarbeitung
von für den Transport notwendigen Dokumenten (z. B. Ladepapiere, Lieferscheine) oder
für die Prognose von ETA (estimated time of arrival) Terminen im Überseeverkehr, basie-
rend auf der Kombination von Historiendaten der genommenen effizientesten Routen und
Echtzeitinformationen (z.  B.  Wetterdaten). Des Weiteren wird KI in der Logistik ein-
gesetzt, um Anomalien oder Muster z.  B. bei Warenlieferungen von Lieferanten zu er-
kennen oder bei der effizienten Verpackung von verschiedenen Artikeln, um eine mög-
lichst hohe Packdichte zu erreichen und damit Transportkosten zu reduzieren. Viele der
Anwendungen im Logistikumfeld befinden sich nach wie vor in einer Erprobungsphase.
676 J. Grinninger et al.

Wie bewerten Sie folgende Technologien in Bezug auf Ihr Unternehmen?


Inbound Inhouse Outbound

Technologie nicht bekannt nicht relevant in Prüfung Einsatz geplant im Einsatz

Künstliche Intelligenz 13 % 39 % 17 % 13 % 17 % 13 % 57 % 9 % 13 % 9 % 13 % 26 % 35 % 9 % 17 %

Machine Learning 17 % 35 % 30 % 9% 17 % 30 % 13 % 17 % 22 % 17 % 52 % 13 % 9%
9% 9%
Cloud Lösungen 13 % 17 % 13 % 52 % 13 % 9 % 13 % 61 % 13 % 13 % 13 % 13 % 48 %
4% 4%
Master Data Management 35 % 13 % 26 % 17 % 9 % 35 % 13 % 22 % 17 % 13 % 35 % 13 % 26 % 13 % 13 %

Open API 43 % 17 % 9 % 13 % 17 % 43 % 22 % 9 % 13 % 13 % 43 % 17 % 9 % 13 % 17 %

Data Mining 17 % 26 % 22 % 17 % 17 % 17 % 22 % 22 % 17 % 22 % 17 % 30 % 26 % 13 % 13 %

Process Mining 30 % 22 % 13 % 22 % 13 % 30 % 30 % 17 % 17 % 4 % 30 % 26 % 17 % 22 % 4 %

BI Systeme 26 % 9 % 17 % 17 % 30 % 26 % 4 % 17 % 17 % 35 % 26 % 4 % 17 % 26 % 26 %

Digitaler Zwilling 26 % 39 % 4 % 17 % 13 % 26 % 39 % 4 % 22 % 9% 26 % 48 % 9 % 13 %
4%
Execution Management Systeme (EMS) 43 % 17 % 9 % 13 % 17 % 43 % 17 % 9 % 13 % 17 % 43 % 17 % 13 % 13 % 13 %

Robotic Process Automation (RPA) 26 % 22 % 13 % 13 % 26 % 26 % 30 % 9 % 13 % 22 % 26 % 43 % 13 % 13 %


4%

Abb. 25.10  Bewertung der Technologien durch die Befragten. (Quelle: Eigene Darstellung)

Deep Machine Artificial


Learning Learning Intelligence

Abb. 25.11  Zusammenhang Künstliche Intelligenz/Machine Learning/Deep Learning

Dieses Bild wird auch durch die Ergebnisse der Umfragen verdeutlicht. Lediglich 17 %
der befragten KMU haben KI-Anwendungen im Einsatz, weitere 13 % planen diese. Über
50 % der Unternehmen kennen diese Technologie nicht bzw. sehen keine Einsatzmöglich-
keit. Für Maschinelles Lernen sieht die Situation ähnlich aus, hier nutzen lediglich 18 %
der Unternehmen diese Innovation bereits bzw. haben den Einsatz geplant.

Business Intelligence/Business Analytics/Data Mining/Process Mining


Das traditionelle Einsatzgebiet von Business Intelligence beschäftigt sich mit der Frage-
stellung „Was ist passiert?“ (deskriptiv) und „Warum ist etwas passiert?“ (diagnostisch).
Hierzu zählen klassisches Reporting, Ad-Hoc Reporting (OLAP) von Key Performance
Indicators und als Methodik auch das Data/Process Mining. Dazu werden Historiendaten
genutzt, um aktuelle Probleme zu lösen.
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 677

Data Mining ist ein Schritt im Verfahren Knowledge Discovery Database (KDD) und
ein analytischer Prozess, der anhand von computergestützten Methoden eine möglichst
autonome und effiziente Identifizierung von Datenmustern innerhalb großer Datensätze
findet. Dies dient der Entscheidungsunterstützung, um Muster und Beziehungen, die
außerhalb des Bereichs der menschlichen Erfahrung und Vorstellungskraft liegen, zu ent-
decken, überprüfen und vorzulegen. Die eingesetzten Algorithmen kommen aus der Sta-
tistik, künstlichen Intelligenz oder dem maschinellen Lernen. Im Process Mining werden
dazu anstelle von Bewegungsdaten (z.  B.  Lagerbestand) Log-Files von IT-Systemen
­verwendet. Dadurch wird ermöglicht, das in Daten enthaltene, implizite und sonst ver-
borgene Prozesswissen zu einem Gesamtprozess zu modellieren und dies Entscheidern zu
vermitteln.
Business Analytics geht über Visual, Predictive und Prescriptive Analytics den Fragen
„Was wird passieren?“ und „Was ist zu tun?“ nach. Das Ziel ist aus den Trends der Ver-
gangenheit Vorhersagen für die Zukunft (z. B. Genauigkeit in der Kundenbedarfsprognose)
abzuleiten.
Der Status Quo bei den interviewten Unternehmen zeigt, dass klassisches Business
Intelligence am weitesten verbreitet ist – 30 % haben ein irgendwie geartetes Reporting,
weitere 34 % prüfen oder planen den Einsatz. Nichtsdestotrotz bedeutet dies, dass aktuell
70 % der KMU keine Visualisierung von Kennzahlen und Prozessdaten im Supply Chain
Management im Einsatz haben. Dies ist insofern erstaunlich, da diese Methoden bereits
seit Jahrzehnten zum Industriestandard zählen, wohingegen innovative Technologien wie
Data oder Process Mining auch vereinzelt in befragten Unternehmen implementiert sind.

Cloud Computing
Beim Cloud Computing werden IT-Ressourcen, wie Server, Datenspeicher oder Applika-
tionen über das Internet bereitgestellt und nach Nutzung abgerechnet. Erste Anwendungen
diesbezüglich gibt es schon seit den 90er-Jahren.

Auch für die SCM-Verantwortlichen in den befragten Unternehmen sind Cloud-Dienste


keine Ausnahme mehr. Bei 52 % ist diese Art der Ressourcen-Nutzung bereits im Einsatz,
weitere 30 % prüfen bzw. planen den Einsatz.

Robotic Process Automation


RPA wird eingesetzt, um administrative, repetitive, meist zeitintensive Aufgaben in
Software-­Applikationen zu automatisieren und zu beschleunigen, die ansonsten manuell
durch Menschen durchgeführt werden (z. B. Ändern von logistischen Stammdaten). Neben
einfachen administrativen Aufgaben können Unternehmen Software-Roboter einsetzen,
um datengesteuerte Aktivitäten zu integrieren und zu automatisieren (z. B. Steuerung von
Workflows). Bei der Automatisierung können einzelne Tasks herangezogen werden oder
sogar ganze Prozess-Workflows. Der Einsatz von Robotic Process Automation (RPA)
kann für Organisationen erhebliche Effizienzpotenziale freisetzen und dadurch für Mit-
arbeiter neue Freiräume schaffen, ohne gleich kostspielige (IT-)Projekte aufzusetzen
(Langmann & Turi, 2020).
678 J. Grinninger et al.

Nahezu 50 % der befragten Personen kennen Robotic Process Automation nicht oder
sehen diese Technologie als nicht relevant für ihr Unternehmen an. Teilweise verwechseln
Mitarbeiter RPA mit Automatisierung durch Makros oder Programmierung in Office-­
Software-­Paketen. Erkenntnisse aus RPA Projekten haben gezeigt, dass selbst bei voll-
umfänglichem Wissen und funktionierenden Prozess-Automatisierungen nach wie vor
eine ablehnende Haltung bzw. Leugnung der Eignung der Technologie bei den Mit-
arbeitern vorhanden ist. Nur über ein entsprechendes Know-how und Changemanagement
kann dem begegnet werden (Langmann & Turi, 2020).

25.4 Hürden der Digitalisierung für KMU

Dass insbesondere KMU bei der digitalen Transformation von Lieferketten auf große
Herausforderungen treffen, zeigt sich darin, dass fundamentale Voraussetzungen noch
nicht erfüllt sind. Exemplarisch dafür ist eine Bemerkung der befragten Unternehmen:
„Digitalisierungslösungen sind mehrere Schritte voraus. Die Rahmenbedingungen für die
Einführung sind nicht gegeben. Die Lösungen sind teils zu High-Tech!“. Dieses Beispiel
zeigt deutlich, dass die Digitalisierung von Prozessen oder die Einführung bestimmter
Technologien bei KMU nicht nur eine Veränderung darstellen. Vielmehr bedeutet Digita-
lisierung für KMU einen Evolutionssprung in Transparenz und Effizienz (Demara et al.,
2016). Dennoch geben 74  % der befragten Unternehmen an, bereits Digitalisierungs-
projekte umgesetzt zu haben (siehe Abb. 25.12). Die in Abb. 25.13 aufgezeigten Beispiele
zeigen auf, dass eben genannte Projekte sehr vielfältig sind und überwiegend nicht auf die
Lieferkette ausgerichtet sind. Nur zwei der genannten Projekte sind aus dem Bereich
Supply Chain Management. Jedes vierte der befragten Unternehmen hat noch keine
Digitalisierungsprojekte umgesetzt.
Drei der befragten Unternehmen haben zuletzt Projekte zur Einführung von EDI (Elec-
tronic Data Interchange) umgesetzt bzw. planen die Einführung in naher Zukunft. EDI
dient zum elektronischen, standardisierten Datenaustausch mit Kunden und Lieferanten
(Höcht, 2020). Im Gegensatz zu dieser Technologie gibt es jedoch bereits wesentlich fort-
schrittlichere Lösungen wie beispielsweise Open API (Application Programming Inter-
face). In diesem Fall werden Daten zwischen zwei Unternehmen nicht nur elektronisch
versendet, sondern über eine Schnittstelle zwischen deren Systemen in Echtzeit und ohne
menschliches Eingreifen aktualisiert, übersetzt und freigegeben (Sauterleute et al., 2018).
Abb. 25.10 zeigt, dass beispielsweise im In- und Outbound bereits bei 17 % der befragten
Open API im Einsatz ist bzw. weitere 13 % den Einsatz planen. Eben beschriebene Sach-
verhalte zeigen auf, dass sich die befragten Unternehmen an verschiedenen Stufen der
digitalen Transformation befinden und der Status Quo teilweise mehrere Jahre hinter dem
Stand der Technik zurückliegt. Weitere Beispiele für in den nächsten drei Jahren geplante
Projekte sind die Einführung von RPA zur Digitalisierung und Automatisierung des
Lieferscheinprozesses im Wareneingang, die Nutzung von Data Mining zur Optimierung
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 679

Haben Sie bereits Digitalisierungsprojekte


umgesetzt?

Nein

26 %

74 %

Ja

Abb. 25.12  Umsetzungsstand Digitalisierungsprojekte in befragten Unternehmen. (Quelle: Eigene


Darstellung)

von Maschinenstillstandszeiten und die Zuliefererintegration für C-Teile sowie die auto-
matische Nachbestellung und Buchung per RFID-Technik. Die künftig geplanten Projekte
zeigen deutlich, dass die befragten Unternehmen grundsätzlich offen für neue Techno-
logien sind. Allerdings ist über den Großteil der Befragten hinweg festzustellen, dass die
Projekte überwiegend Insellösungen sind und demnach nicht zu einer ganzheitlichen
Digitalisierungsstrategie mit integrierten Systemen beitragen. Die Tatsache, dass 57 % der
Befragten kein Digitalisierungsprojekt nennen können, welches innerhalb der nächsten
drei Jahre umgesetzt werden soll, untermauert wiederum, dass Digitalisierung bei den be-
fragten Unternehmen nicht strategisch geplant ist, sondern vielmehr spontan umgesetzt
und als ­Insellösung gesehen wird. In Abb. 25.14 wird aufgezeigt, welche Probleme und
Befürchtungen die befragten Unternehmen in Bezug auf Digitalisierungsprojekte hatten
bzw. haben.
70 % der Befragten geben an, dass die Komplexität von digitalen Lösungen ein großes
Problem bei der Umsetzung darstellt. Dass jeder zweite der Befragten mangelndes Know-­
how als zusätzliche Herausforderung beschreibt, macht deutlich, dass die Komplexität der
680

Beispiel 1 Beispiel 2 Beispiel 3 Beispiel 4 Beispiel 5

Widerkehrende, Fehlende Traceability


Fehlende Transparenz Kein standardisierter
Problem/Ausgangs- manuelle Tätigkeiten bei Fehlende Transparenz zwischen Warenversand
über Energieverbrauchs- Datenaustausch im In-
situation Rechnungsprüfung/- über Betriebsdaten und Wareneingang bei
daten und Outbound
buchung Kunde

Einführung Trac and


Einführung Energie Einführung RPA in der Einführung eines BDE Trace zur 15 minütigen Aufbau EDI Schnittstelle
Lösung
Management Software Buchhaltung Systems Standortkontrolle der für In- und Outbound
Outbound-Logistik

Einmalige Kosten 5000€ 40.000€ 130.000€ 75.000€ 15.000€

Ressourcen 1 FTE a 2h pro Woche 1 FTE a 5h pro Woche 5 FTE a 10h pro Woche 2 FTE a 40h pro Woche 1 FTE 40h pro Woche

Dauer 2 Wochen 5 Monate 1 Jahr 3 Monate 6 Monate 1 Monat

Abb. 25.13  Beispiele für umgesetzte Digitalisierungsprojekte unter den Befragten. (Quelle: Eigene Darstellung)
J. Grinninger et al.
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 681

Zustimmung in % Rang

Komplexität 70 % 1

IT-Sicherheit 52 % 2

Mangelndes Know-how 52 % 2

Insellösungen 39 % 3

Kosten/Investitionsbedarf 39 % 3

Insellösungen 39 % 3

Breitbandverfügbarkeit 9% 4

Ressourcen 9% 4

Schnittstellen zwischen
4% 5
Programmen

Abb. 25.14  Problem und Befürchtungen der Unternehmen in Digitalisierungsprojekten. (Quelle:


Eigene Darstellung)

digitalen Lösungen nicht vollständig durchdrungen und bewertet werden kann. Somit fehlt
auch das Verständnis für die Vorteile, welche durch die jeweiligen Technologien gehoben
werden könnten. In Zusammenhang mit hoher Komplexität nennen die Unternehmen
nicht nur die Komplexität neuer Digitalisierungslösungen, sondern auch die Komplexität
der eigenen Systeme und Strukturen. Dies wird durch die Aussage „Zusammenführen von
fünf verschiedenen ERP-Systemen an drei verschiedenen Standorten“ eines Befragten zu-
sätzlich verdeutlicht. Die Transparenz über eigene Systeme, Informationsflüsse und Pro-
zesse ist überwiegend nicht gegeben, wobei diese Elemente Grundvoraussetzung für eine
nachhaltige Digitalisierungsstrategie darstellen. Es fehlt daher insbesondere an Experten-
wissen innerhalb der Unternehmen, um den aktuellen Status zu verstehen und darauf auf-
bauend Digitalisierung strategisch, effizient, effektiv und nachhaltig umzusetzen. 30  %
der befragten Unternehmen haben keine expliziten Digitalisierungsstellen besetzt. 52 %
haben kein Budget für Digitalisierungsprojekte geplant. 39 % geben hohe Kosten und In-
vestitionsbedarfe als Hemmnis für Digitalisierungsprojekte an. Um Wirtschaftlichkeits-
analysen ganzheitlich durchzuführen, fehlt überwiegend das Know-how, demnach wird
682 J. Grinninger et al.

auch der qualitative und quantitative Nutzen sowie Break-Even-Point der Lösungen nicht
erkannt. Alles in allem bleibt festzuhalten, dass sehr viele Zweifel bei den befragten Unter-
nehmen zum Thema Digitalisierung bestehen, wobei bereits umgesetzte Projekte über-
wiegend als eher erfolgreich eingestuft wurden. Abb. 25.15 zeigt die Verteilung auf, wie
die befragten Unternehmen bereits umgesetzte Digitalisierungsprojekte hinsichtlich deren
Erfolgs eingestuft haben.
Nur 13  % der Befragten stufen deren bisherigen Digitalisierungsprojekte als nicht
erfolgreich ein. Die Erfolgsfaktoren, welche ein Digitalisierungsprojekt für die Unter-
nehmen erfolgreich und nachhaltig machen, sind in Abb. 25.16 aufgezeigt.
Ca. 91 % der befragten Unternehmen erwarten eine Kosteneinsparung aus der Um-
setzung von Digitalisierungsprojekten. Das fehlende Know-how sowie die nicht durch-
drungene Komplexität der Lösungen lassen jedoch Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen in
umfassender Form häufig nicht zu. Neben diesem Erfolgsfaktor ist unter anderem auch
der Aspekt Umweltschutz für 39 % der Unternehmen wichtig. Themen wie Zeiterspar-
nis, die Reduzierung von verschiedenen Systemen und Schnittstellen sowie die
Entlastung bei repetitiven Aufgaben werden hingegen nur von 4 % der Befragten als
Erfolgsfaktor für Digitalisierungsprojekte genannt. Die Transparenz über Daten und
Prozesse wird von 70  % der Befragten als Erfolgsfaktor eingestuft. Diese Elemente
sind zentraler Bestandteil des Supply Chain Managements. Demnach wird eine auf die
Lieferkette ausgerichtete Organisation als zentraler Bestandteil des Unternehmens-
erfolgs angesehen, jedoch nicht im Sinne der digitalen Transformation in die Strategie
miteinbezogen.

Abb. 25.15  Einschätzung der Würden Sie die bereits umgesetzten


umgesetzten Digitalisierungs-Projekte als erfolgreich
bezeichnen?
Digitalisierungsprojekte in den
Unternehmen. (Quelle: Eigene nicht erfolgreich sehr erfolgreich
Darstellung) weniger erfolgreich 4% 4%
13 %

78 %

eher erfolgreich
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 683

Zustimmung in % Rang

Kosteneinsparung 91 % 1

Automa sierung 74 % 2

Transparenz (Daten und


70 % 3
Prozesse)

Prozessstabilität 61 % 4

Integrierte
43 % 5
Systemlandscha‚

Usability 43 % 5

Umweltschutz 39 % 6

Zeiteinsparung 4% 7

Reduzierung von
verschiedenen Systemen 4% 7
und Schni‰stellen
Entlastung bei reziproken
4% 7
Aufgaben

Abb. 25.16  Faktoren für ein erfolgreiches und nachhaltiges Digitalisierungsprojekt. (Quelle:
eigene Darstellung)

25.5 Eckpunkte zur erfolgreichen digitalen


Transformation von KMU

Produktions- und Logistikprozesse bei KMU sind häufig durch eine „Hands-on Mentali-
tät“ und fehlende Standardisierung geprägt. Ebenso fehlt oft die Transparenz über Prozess-
zusammenhänge, die insbesondere im Supply Chain Management auch globale Wert-
schöpfungsketten betrifft. Um einerseits diese Komplexität zu beherrschen und andererseits
die Anforderungen des Marktes hinsichtlich effizienter, agiler, zuverlässiger und kunden-
orientierter Abläufe zu gewährleisten, können Digitalisierungslösungen Wettbewerbsvor-
teile bringen. Aus den durchgeführten Interviews und analysierten Digitalisierungs-
projekten konnten folgende Eckpunkte für die erfolgreiche digitale Transformation bei
KMU identifiziert werden:

• Aufbau von Know-how und Qualifizierung der Mitarbeiter


• Wahrnehmen der Digitalisierung als Veränderung
684 J. Grinninger et al.

• Ableiten und Verankern des Zielbilds der Digitalisierung


• Ausrichten der Aufbauorganisation
• Zusammenarbeiten in der Supply Chain
• Erlangen von Datenkompetenz

Aufbau von Know-how und Qualifizierung der Mitarbeiter


Die Basis für Innovationen durch digitale Technologien ist, dass im Management der
Unternehmen ausreichend Informationen dazu vorliegen, welche Probleme durch Digita-
lisierung von Abläufen, Vernetzung von Menschen und Objekten und dem Austausch von
Daten gelöst werden – kurz welchen Nutzen aber auch welchen Aufwand die Einführung
mit sich bringt. Der Aufbau von Know-how in den einzelnen Unternehmensfunktionen
und damit auch im Supply Chain Management ist damit unabdingbar. Der Qualifizierungs-
prozess auf allen Unternehmensebenen (Top-Management, Management und Mitarbeiter)
startet bei der Aufnahme des Status Quo. Im Rahmen einer logistikorientierten Wert­
stromanalyse wird das ganze Wertschöpfungsnetzwerk sowohl in den Informations-, Steu-
erungs- als auch allen Materialflüssen aufgenommen. Hier werden alle Schwachstellen
verortet. Ergänzt wird dies durch die Bestimmung eines Digitalisierungsreifegrades in
dem der aktuelle Stand der Digitalisierung in den einzelnen Prozessen bestimmt wird. In
diesem Zuge werden auch alle potenziellen Technologien auf Einsetzbarkeit untersucht.
Dieses Vorgehen erfolgt integrativ, d. h. mit der permanenten Einbindung aller am Prozess
beteiligten Personen. Das notwendige Know-how, sowohl fachlich, methodisch als auch
sozial, können initial externe Unternehmensberater oder Forschungseinrichtungen/Hoch-
schulen liefern. Dabei ist aber von Anfang an sicherzustellen, dass ein kontinuierlicher
Wissenstransfer in das KMU stattfindet.

Wahrnehmen der Digitalisierung als Veränderung


Die Begriffe Änderung und Wandel umschreiben im betriebswirtschaftlichen Kontext ge-
nerell eine „Bewegung“ von einem Ausgangs- zu einem Ziel/Endzustand im Sozialsystem
Unternehmen (Steinle, 2005). Dafür hat sich der Begriff „Change-Management“ ein-
gebürgert. Er steht für die zielgerichtete Identifikation, Gestaltung, Steuerung und Ent-
wicklung von Wandlungsvorhaben unterschiedlichen Inhalts (Steinle et al., 2009). Digita-
lisierung als Veränderung des Status Quo in Bezug auf Technologien, Prozessen und
Aufgaben der beteiligten Rollen löst Reaktionen wie Widerstand aus. Die Ursachen dafür
sind, dass die Betroffenen

• die Ziele, Hintergründe oder die Motive nicht verstanden haben,


• verstehen worum es geht, aber nicht daran glauben (aus vorheriger negativer ­Erfahrung),
• nicht mitziehen wollen oder können, weil sie sich keine positiven Konsequenzen ver-
sprechen.

Wichtig ist der konstruktive Umgang mit diesen Widerständen, d. h.: ernst nehmen, fra-
gen, nachfragen, informieren über das Neue, Beteiligte involvieren und Vereinbarungen
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 685

treffen, trainieren und ausbilden, Strukturen schaffen für eine klare Kommunikation.
Im Rahmen eines integrierten Change-Managements kann durch ausgebildete Trans-
formationsmanager oder Prozessbegleiter z. B. das 8 Stufen Modell nach Kotter verwendet
werden. Hierbei müssen in acht Stufen drei fundamentale Fragen zur Veränderung be-
antwortet werden (Kotter, 1995):

• Why: Klima für Veränderung schaffen


• What: Empowerment der ganzen Organisation
• How: Nachhaltige Umsetzung des Wandels

Die Wirksamkeit eines Change-Prozesses kommt an Grenzen, wenn im Unternehmen


selbst kein Bewusstsein für die Veränderung da ist und dies lediglich als Aufwand empfun-
den wird.
Erfolgreiche Veränderung kann pseudo-mathematisch wie folgt definiert werden.

U V  S  B

U steht dabei für Unzufriedenheit im System, V für eine klare Vision bzw. ein Zielfoto der
Veränderung, S für den ersten Schritt zur Umsetzung und B für die vorhandenen Be-
harrungskräfte des Systems.

Ableiten und Verankern des Zielbilds der Digitalisierung


Veränderung gelingt aber auch nur, wenn eine klare Vision des Wandels existiert und kom-
muniziert wird. Im allgemeinen Sprachgebrauch heißt es: „Wer kein Ziel hat, darf sich
nicht wundern, wenn er nicht oder ganz woanders ankommt!“. Ausgehend von der Vision
und Strategie des Unternehmens wird mit einem gemeinsamen Verständnis der Möglich-
keiten der Zweck der Digitalisierung für den Betrieb definiert. Dabei gibt es verschiedene
Auslöser:

• Liquiditäts-/Rentabilitätskrise
• Umsatz-/Rentabilitätskrise
• Strategische/Innovationskrise

Im ersten Schritt geht es darum, das „Warum Digitalisierung“ in Zahlen, Daten und Fakten
zu formulieren. Hier helfen Potenzialauflistungtung und Maßnahmenbewertung aus der
Ist-Analyse. Damit ist es möglich, das Ziel für elementare Unternehmenskennzahlen
(z.  B.  Liefertreue oder Kundenauftragsdurchlaufzeit) festzulegen und über die Maß-
nahmen den Zukunftszustand möglichst einfach zu visualisieren. Methodisch kann hier
visuelles Storytelling helfen, getreu nach Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944), Schrift-
steller und Pilot: „Jedes starke Bild wird Wirklichkeit.“. Elementar in diesem Vorgehen ist,
dass die Unternehmensstrategie eine Art Leitfunktion hat. Ist das Zielbild definiert und
kommuniziert, wird eine Strategie als konkretes Maßnahmen-Set daraus abgeleitet. Hilf-
reich hierfür sind Methoden zur Kaskadierung von Zielen und Maßnahmen (z. B. Hoshin
686 J. Grinninger et al.

Kanri oder Objective Key Results) auf die einzelnen Unternehmensfunktionen und
Prozessbereiche. Als probates und einfaches Mittel zur Operationalisierung von Maß-
nahmen eignet sich der PDCA-Zyklus nach Deming (2000). Über die Abfolge Plan-Do-
Check-Act wird die Überführung des Ist- in den Soll-Zustand überwacht.

Ausrichten der Aufbauorganisation


Die Digitalisierung aller Versorgungsprozesse kann nur gelingen, wenn es klare Ver-
antwortlichkeiten sowohl für die Analyse und Konzeption wie auch den Betrieb nach der
digitalen Transformation gibt. Die KMU haben heute oftmals noch keine Organisations-
einheit Supply Chain Management, sondern agieren in verschiedenen Funktionsbereichen.
Dies führt per se zu Schnittstellen sowohl in den internen Zuständigkeiten, ggfs. unter-
schiedlichen Zielsetzungen (z. B. Auslastung der Anlagen versus Durchlaufzeit) als auch
teils in der Nutzung unterschiedlicher IT-Applikationen durch die verschiedenen Ab-
teilungen. Eine prozess- und kundenorientierte Ausrichtung aller Abläufe auf Basis des
Wertstrom-Soll-Design bildet die Grundlage für die Re-Organisation der Aufgaben zu
einem integrierten Supply Chain Management. Diese neue Unternehmensfunktion wird
gleichzeitig so ausgerichtet, dass die jeweiligen Process Owner auch die Verantwortung
für Implementierung des digitalen Zielbildes bekommen. So ist gewährleistet, dass Digi-
talisierung breit im Unternehmen verankert ist und diese durch die Bereichsverantwort-
lichen angenommen wird.

Zusammenarbeiten in der Supply Chain


Die besondere Sandwich-Position und oftmals kleinere Rolle der KMU in Supply Chain
Netzwerken verhindert, dass Optimierungen im Austausch von Daten isoliert zielführend
sind. Nur über die Integration aller Wertschöpfungspartner gelingt eine Digitalisierung
von Schnittstellen. Die Supply Chain Collaboration liefert hier geeignete Werkzeuge zur
gemeinsamen Gestaltung dieser Schnittstellen zwischen den beteiligten Unternehmen und
basiert auf der Zusammenarbeit zwischen Kunde und Lieferant. Durch gemeinsam ge-
nutzte Geschäftsprozesse und Workflows zwischen dem Kunden und den Zulieferern, wel-
che definierte Regeln und Verantwortlichkeiten haben, wird es Unternehmen ermöglicht,
eine synchronisierte, faktenbasierte Planung und Steuerung ihrer übergreifenden Logistik-
aktivitäten zu gewährleisten. Dies wird außerdem durch vereinbarte Ziel- und Messgrößen
und durch die Nutzung von Internettechnologien garantiert (Busch, 2009). Fawcett sieht
die größten Widerstände bei der unternehmensweiten Kollaboration im Supply Chain Ma-
nagement in „functional structure and turf conflicts, poorly aligned goals and metrics, lack
of leadership, resistence of change, lack of trust, inadequate information sharing and in-
adequate alliance management“ (Fawcett et  al., 2012). Die digitale Transformation der
Supply Chain ausgehend von KMU kann nur durch einen kooperativen Ansatz zwischen
den Partnern erfolgen, um unternehmensübergreifend die Potenziale transparent zu ma-
chen, so dass alle Beteiligten einen individuellen Vorteil aus dem gesamtheitlichen Opti-
mum für sich erkennen.
25  Status Quo und Hürden der Digitalisierung im Supply Chain Management bei KMU 687

Erlangen von Datenkompetenz


Daten sind der Kern und das Kraftwerk der Digitalisierung. Sie bilden sowohl die Grund-
lage für Methoden und Algorithmen der digitalen Supply Chain als auch deren Ergebnis.
Um mit Daten richtig umzugehen, sind Kompetenzen in verschiedenen Bereichen er-
forderlich.

Zunächst muss die Struktur der Supply Chain Daten im Unternehmen verstanden wer-
den. Dadurch wird transparent,

• welche Daten aus welcher Quelle stammen,


• in welchen Programmen Daten verwaltet und bearbeitet werden,
• welche Daten einen Einfluss auf die Steuerung der Supply Chain haben und
• wie diese Daten im Zusammenhang zueinanderstehen.

Die Einbindung neuer Software und Devices in bestehende Strukturen kann zu einer
IT-Systemlandschaft mit zahlreichen Systembrüchen führen. Um dies zu vermeiden, soll
die Datenstruktur transparent und möglichst einfach aufgebaut sein. Digitale Methoden
und Tools, wie z. B. Master Data Management, können bei der Erzeugung und Verwaltung
dieser Transparenz unterstützen.
Eng im Zusammenhang mit der Datenstruktur steht die Anbindung von Datenquellen
zueinander. Standardisierte Schnittstellen reduzieren den Implementierungsaufwand und
erhöhen die Flexibilität neue Partner in die Supply Chain zu integrieren. In der Automobil-
industrie ist in der Supply Chain noch die Anbindung per EDI weit verbreitet. Neuere
Standards wie Open API treten jedoch vermehrt branchenübergreifend auf. Die Interviews
zeigen, dass 43 % der Befragten diesen Standard jedoch überhaupt nicht kennen.
Gesammelte und verwaltetet Daten werden erst durch deren Aufbereitung, Analyse und
Interpretation zu einem Mehrwert im Unternehmen. Daneben besteht eine hohe Gefahr
der Fehlinterpretation von Daten, falls eine transparente Datenstruktur sowie ein generel-
les Prozessverständnis nicht vollständig vorhanden sind. Data- und Process Mining Tools
können dabei unterstützen diese Transparenz zu erzeugen, BI-Systeme helfen in Ver-
bindung mit künstlicher Intelligenz bei der automatischen Analyse von Daten und Pro­
gnose von statistischen Szenarien. Um valide Entscheidungen auf Basis dieser Tools zu
treffen, muss deren Wirkweise bei der Interpretation berücksichtigt werden.
Die Digitalisierung der Supply Chain bedeutet im Besonderen die Digitalisierung von
Schnittstellen zwischen Unternehmen. Durch den bereits weit verbreiteten Einsatz von
Cloud-Lösungen lassen sich die gegenseitigen Daten auf „neutralem Boden“ verwalten.
Jedoch steigen durch die Schnittstellen und den unternehmensübergreifenden Datenaus-
tausch die Gefahr potenzieller Sicherheitslücken sowie die Anzahl an Angriffspunkten.
Um die Supply Chain zu digitalisieren, ist es auch für KMU unerlässlich Kompetenzen zu
Datensicherheit aufzubauen.
688 J. Grinninger et al.

25.6 Fazit

Der Einblick in den Status Quo der Digitalisierung in KMU zeigt, dass sowohl auf strate-
gischer als auch technologischer Ebene noch keine durchgehende Basis für eine flächen-
deckende Digitalisierung vorhanden ist. 43 % befragten Unternehmen haben kein strategi-
sches Zielbild für die Digitalisierung der Supply Chain. Selbst bei den Unternehmen, die
eine digitale Vision haben, fehlt häufig eine Roadmap mit Projekten, Verantwortlichen und
Terminen, um sich gezielt in Richtung dieser Vision zu entwickeln. Häufig werden einzelne
Pilotprojekte ohne ein übergeordnetes Zielbild durchgeführt. Jedoch gibt es auch KMU,
die ihre Unternehmensorganisation bereits gezielt auf die Digitalisierung ausrichten.
Technologisch ist besonders der Einsatz von Cloud-Lösungen weit verbreitet. Dahingegen
sind die meisten anderen abgefragten Digitalisierungstechnologien überwiegend un-
bekannt oder als nicht relevant eingestuft. Besonders die Themen künstliche Intelligenz,
Machine Learning und Digitaler Zwilling werden in Bezug auf die Supply Chain von über
35 % der Befragten als nicht relevant beurteilt. Da die Relevanz von BI Systemen jedoch
als höher bewertet wird und darin häufig Algorithmen der künstlichen Intelligenz ver-
wendet werden, scheint deren Wirkweise in KMU noch nicht durchdrungen zu sein. Aus
dem hohen Grad an nicht bekannten Technologien wird geschlossen, dass KMU oft ein
Defizit im Know-how Aufbau für die Digitalisierung haben. Um die Digitalisierung auch
in KMU zu fördern und die Arbeitsweise sowie Vor- bzw. Nachteile verschiedener Lösun-
gen transparent darzustellen, ist noch deutliche Aufklärungsarbeit erforderlich.

Literatur

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setzen (Bd. 30). Mering Rainer Hampp Verlag.

Prof. Dr. Jürgen Grinninger  wurde im Jahre 1973 in Waldkirchen


(Bayern) geboren. Sein Diplom zum Wirtschaftsingenieur erwarb er
an der Hochschule Würzburg-­Schweinfurt. Im Anschluss an ver-
schiedene Tätigkeiten bei der Ford Motor Company sowie der Audi
AG im Bereich Produktion und Logistik gründete der Experte für
Lean Management 2004 die Unternehmensberatung BLSG AG. Pa­
rallel zu seiner Vorstandstätigkeit schloss Jürgen Grinninger im Jahr
2012 seine Promotion an der Technischen Universität München,
Fakultät Maschinenwesen  – Lehrstuhl Fördertechnik Materialfluss
und Logistik ab. Seit dem Jahr 2020 lehrt er als Professor für Supply
Chain und Projektmanagement an der Hochschule Neu-Ulm.

Philipp Kaiser  wurde 1995 in Krumbach (Bayern) geboren. Nach


dem Abschluss der allgemeinen Hochschulreife absolviert er ein
duales Studium in dem Bereich Betriebswirtschaftslehre mit dem
Schwerpunkt Finance an der DHBW Heidenheim (2016). An-
schließend an das Bachelor Studium absolviert er ein berufs-
begleitendes Masterstudium im Bereich Betriebswirtschaftslehre an
der Ostfalia Hochschule Wolfsburg (2019). Im Anschluss an das
Masterstudium begann Philipp Kaiser seine professionelle Arbeits-
erfahrung bei der BLSG AG als Consultant – Automotive Produktion
und Logistik.
Dr.-Ing. Christian Lieb  wurde im Jahre 1990 in Schwabmünchen
(Bayern) geboren. Sein Masterstudium im Bereich Maschinenbau
und Management schloss er 2015 an der Technischen Universität
München ab. Seit 2016 war er neben seiner Tätigkeit als wissen-
schaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Fördertechnik Material-
fluss Logistik der Technischen Universität München als externer Be-
rater bei der BLSG AG sowie als freiberuflicher Logistikplaner tätig.
Seit 2020 ist Christian Lieb hauptberuflich bei der BLSG AG als Be-
rater für Produktions- und Logistiksysteme tätig. Zudem promovierte
er 2021 zum Forschungsthema „Dynamischen Steuerungsstrategien
für innerbetriebliche Routenzugsysteme“.

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