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Theorie der

Reaktionsgeschwindigkeit in heterogenen Systemen.


Von
W. Kernst.

In meinem Lehrbuch der theoretischen Chemie (dritte Aufl. S. 539,


1900) habe ich bereits angedeutet, dass unter gewissen Bedingungen
sich Reaktionsgeschwindigkeiten in heterogenen Systemen auf Diffusions-
geschwindigkeit zurückführen lassen. Zweck dieser Zeilen soll eine
nähere Darlegung und Ausführung jener Bemerkungen sein.
Herr E r i c h B r u n n e r hat in einer an diese Notiz sich anschliessen-
den Abhandlung die nachfolgenden Betrachtungen erweitert und vor
allem einer eingehenden experimentellen Prüfung unterzogen. Wenn
die Theorie auch noch nach mehrern andern Richtungen hin weiter
zu prüfen sein wird, so setzen die Resultate Herrn B r u n n e r s doch
jetzt schon die Zulässigkeit der Theorie der Hauptsache nach ausser
Zweifel.
I. Viele Tatsachen führen zu der Annahme, dass an der Grenz-
fläche zweier Phasen sich das Gleichgewicht zwischen ihnen ausser-
ordentlich rasch herstellt. Auch theoretisch ist ein solches Verhalten
insofern wohl von vornherein anzunehmen, als andernfalls an der Tren-
nungsfläche zweier Phasen, also an unendlich benachbarten Punkten,
merkliche Unterschiede des chemischen Potentials auftreten würden, die
offenbar zu unendlich grossen Kräften und Reaktionsgeschwindigkeiten
führen müssten. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass in jedem
Augenblicke in unmittelbarer Nähe der Trennungsfläche das Gleichge-
wicht unendlich rasch sich herstellt. Nimmt man, was der Wahrheit
näher kommen wird, die Trennungsfläche nicht als mathematisch scharf
an, sondern stellt sich daselbst einen stetigen Übergang vor. so handelt
es sich doch immerhin um Dimensionen von der Grössenordnung der
Wirkungssphäre der Molekularkräfte, und wenn man dann auch nicht
mehr von unendlichen Reaktionsgeschwindigkeiten wird sprechen können,
so wird man immerhin solche von sehr hohem Betrage annehmen müssen,
was natürlich praktisch auf dasselbe hinausläuft.

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Theorie der Reaktionsgeschwindigkeit in heterogenen Systemen. 53

. Das soeben dargelegte Prinzip haben meines Wissens zuerst N o y e s


und W h i t n e y 1 ) für den Fall der Auflösung fester Körper in einem
Lösungsmittel ausgesprochen; sie nahmen nämlich an, dass an der Grenz-
fläche zwischen Kristall und Lösung in jedem Augenblicke Sättigung
herrscht. Die Auflösungsgeschwindigkeit des Kristalls wird hiernach
also lediglich durch die Diffusionsgeschwindigkeit des an der Grenz-
schicht in gesättigter Lösung befindlichen Stoffes in das Innere der
Lösung hinein bedingt.
Haben wir es nicht mit einer blossen Auflösung, sondern mit einer
chemischen Reaktion zu tun, wie z. B. der Auflösung von Magnesia in
Säuren, so werden wir im Sinne des eingangs dargelegten Prinzips an-
zunehmen haben, dass auch unter diesen Umständen die Magnesia in
jedem Augenblicke mit der Lösung im Gleichgewichte sich befindet,
d. h. dass die Lösung in der nächsten Nähe der Magnesia an ihr ge-
sättigt und daher schwach alkalisch ist. Die hierher diffundierende
Salzsäure wird also an der Trennungsfläche völlig neutralisiert; die Auf-
lösungsgeschwindigkeit der Magnesia hängt also lediglich von der Ge-
schwindigkeit ab, mit der die Salzsäure an die Trennungsfläche von
Magnesia und Lösung gelangt.
Diese Geschwindigkeit wird nun natürlich im allgemeinen von den
mehr zufälligen geometrischen Yerhältnissen und der Intensität der
Konvektionsströme, welche den reinen Diffusionsvorgang unterstützen,
im höchsten Masse abhängen. Um wohl definierte Verhältnisse zu
haben, muss man daher für einfache geometrische Dimensionen und für
eine konstante Rührung sorgen. Wenn die letztere hinreichend intensiv
ist, so wird man annehmen können, dass die Lösung eine praktisch
konstante Zusammensetzung gewinnt, und das Diffusionsgefälle wird sich
auf eine dünne, dem festen Körper adhärierende Schicht von der Dicke
(S konzentrieren. Ist F die Oberfläche der Magnesia und D der Diffu-
sionskoeffizient der Salzsäure, so wird unter diesen Bedingungen in der
β
Zeit dt die Salzsäuremenge DF-^clt zur Trennungsfläche diffundieren,
weil ja die Konzentration der Salzsäure an der Trennungsfläche selber
sehr klein gesetzt werden kann; natürlich geht die äquivalente Menge
.Magnesia während der Zeit dt in Lösung. Die einzige unbekannte
Grösse ist also die Dicke der ó adhärierenden Flüssigkeit, die natürlich
von Fall zu Fall wechseln und mit zunehmender Intensität der Rührung
immer kleiner werden wird. Immerhin ist zu erwarten, dass bei kon-
stant erhaltener Rührung wenigstens in verdünnten Lösungen ô bei ge-
>) Diese Zeitschr. 23, 689 (1897).

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54 W. Kernst

gebener Temperatur konstant sein wird, so dass es für eine gegebene


Versuchsanordnung ein für allemal bestimmt werden kann. D a m i t
w e r d e n a b e r die v e r s c h i e d e n a r t i g s t e n R e a k t i o n s g e s c h w i n d i g -
k e i t e n in h e t e r o g e n e n S y s t e m e n e i n e r B e r e c h n u n g in a b s o -
l u t e m M a s s e z u g ä n g l i c h , wofür Herr B r u n n e r in der nachfolgen-
den Arbeit Beispiele erbracht hat.
2. Genau die gleichen Betrachtungen und Formeln lassen sich aucli
auf elektrochemische Reaktionen übertragen, die ja ebenfalls den Reak-
tionsgeschwindigkeiten rein chemischer heterogener Systeme insofern
vollkommen an die Seite zu stellen sind, als auch hier die eigentliche
Reaktion an einer Trennungsfläche, nämlich der Berührungsfläche von
Elektrode und Elektrolyt, sich abspielt Dass sich auch die Theorie
elektrochemischer Reaktionsgeschwindigkeiten lediglich auf Diffusions-
erscheinungen zurückführen lässt, habe ich übrigens bereits früher schon
gelegentlich 1 ) angedeutet. Besonders einfach liegen die Verhältnisse in
dem Falle, dass es sich um die Oxydation, Chlorierung etc. eines Nicht-
elektrolyts handelt. Bei hinreichender Spannung und unter der Voraus-
setzung, dass der betreffende Vorgang, wie etwa die Reduktion von Jod,
glatt erfolgt, wird bei Anwendung einer Spannung, die ausreichend ist,
um die Konzentration der betreffenden Substanz in der nächsten Nähe
der Elektrode fortdauernd sehr klein zu erhalten, die Reaktionsgeschwin-
digkeit wiederum nur von der Menge der zur Elektrode wandernden
Substanz bedingt sein. Auch hier muss man, um wohl definierte Ver-
hältnisse zu haben, vor allem für eine konstante Rührung sorgen. Die
nähere Untersuchung gerade dieser Vorgänge erscheint besonders ver-
lockend, weil man, wenn man sekundäre Prozesse ausschliesst, in der
Bestimmung der Stromintensität ein sehr einfaches Mass für die Reak-
tionsgeschwindigkeit in jedem Augenblicke besitzt.
Nehmen die reagierenden Substanzen an der Stromleitung teil, so
ist natürlich ausser der Diffusion noch die elektrolytische Überführung
in bekannter Weise zu berücksichtigen.

In neuerer Zeit ist häufig die bekannte v a n ' t Hoffsche Theorie


der Ordnung einer Reaktion, d. h. die Schlussfolgerung vom Reaktions-
verlauf auf die Zahl der reagierenden Moleküle, auch auf in heterogenen
Systemen sich abspielende Reaktionen angewandt worden. Wenn man
bedenkt, dass diese Theorie lediglich auf der Berechnung der Wahr-
scheinlichkeit eines Zusammenstosses zweier oder mehrerer Moleküle im

') Zeitschr. f. Elektrochemie 7, 267 (1900;.

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Gaszustande oder verdünnter Lösung beruht, so ist es ja ohne weiteres


klar, dass die Theorie jeden Sinn verliert, sobald man sie auf heterogene
Systeme überträgt, oder dass wenigstens dafür irgend eine theoretische
Begründung nicht vorhanden ist
Die vorstehenden Betrachtungen lehren aber wohl, dass die Über-
tragung der v a n ' t H o f f s c h e n Theorie auf heterogene Systeme nicht
n u r gänzlich unmotiviert, sondern auch völlig unstatthaft ist, weil bei
Reaktionen in heterogenen Systemen, soweit sie ausschliesslich oder
auch nur teilweise an der Grenzfläche verschiedener Phasen sich ab-
spielen, die Geschwindigkeit ganz oder teilweise von Diffusionsgeschwin-
digkeiten abhängt, die natürlich mit der Ordnung der Reaktion im all-
gemeinen gar nichts zu tun haben werden.
Ein spezieller Fall von heterogenen chemischen Reaktionen ist die
in neuester Zeit vielfach untersuchte Beschleunigung durch Katalysatoren,
wie Platinasbest, B r e d i g s c h e Lösungen u. dergl. Da diese Reaktionen
wohl ausschliesslich an der Grenzfläche des Katalysators sich abspielen,
so wird die Geschwindigkeit keineswegs durch den Mechanismus der
betreffenden Reaktion, sondern wenn, was allerdings von vornherein
nicht sicher ist, der Katalysator während des Reaktionsverlaufes kon-
stante Beschaffenheit behält und zugleich mit praktisch unendlicher
Geschwindigkeit die betreffenden Substanzen an der Grenzfläche zur
Reaktion bringt, auch hier lediglich durch die Diffusion der reagieren-
den Stoffe zum Katalysator bedingt werden.

G ö t t i n g e n , August 1903.

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