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DAS DEUTSCHLAND-LIED

VON TORSTEN SCHWANKE

ERSTER GESANG

VORZEIT

Ein wundersam eigentümliches Gefühl


muss uns überkommen, wenn wir uns bei dem Anblick,
den unser Land gegenwärtig bietet, vorstellen,
dass wir zweitausend Jahre vor heute

im Vogelflug über Germanien getragen werden.


Dort sehen wir einen unermesslichen Wald,
aus dessen monotoner, düsterer Oberfläche
sich Berge erheben, die bewaldeten Inseln gleichen.

Rauschende Gewässer, die entlang


der großen Flussbecken wandern,
um an kargen Küsten ins Meer zu münden,
sowie hier und da verstreute Lichtungen,

Lichtungen und Siedlungen bringen nur


eine spärliche Abwechslung in das Waldbild,
dessen Mächtigkeit viel mit der des Meeres gemein hat
und wie dieses den Eindruck des Erhabenen erzeugt.

In diesen weiten Gebieten mit dem rauen Klima


der nordischen Waldlandschaft
stritten unsere Vorfahren mit den Tieren der Wildnis
um den Boden, wo der mächtige Auerochse

mit dem zotteligen Bären


um die Königswürde der Tiere kämpfte.
Unsere alten Tierlegenden, die den Duft des Waldes atmen,
haben klare Erinnerungen

an dieses germanische Urwaldleben bewahrt und überliefert.


Die Ursprünge des deutschen Volkes verlieren sich
in der märchenhaften Ferne der Zeit,
deren Geheimnisse die rastlose Forschung

unserer Tage zu durchdringen trachtet,


aber noch keineswegs einer klaren Lösung
nahe gekommen ist. Die vergleichende Sprachwissenschaft
hat bekanntlich außerordentlich wirksame Dienste

bei der Erhellung des prähistorischen Dunkels geleistet,


und es ist ihren Erkenntnissen zu verdanken,
dass Herkunft und ursprüngliche Heimat
der Germanen allmählich aus dem mythischen Dunkel

in das historische Zwielicht getreten sind.


Die Deutschen gelten als ein Zweig
der großen indogermanischen Völkerfamilie,
zu der die Ostarier (Inder)

und die Westarier (Iraner) gehören,


ferner die Hellenen und Italiker,
schließlich Slawen, Kelten und Germanen.
Dorthin also, von wo der große Strom

der arischen Familie ausging,


müssten wir den ursprünglichen Sitz unserer Väter verlegen,
auf die zentralasiatische Hochebene,
über der sich der Paropamisos oder Hindukusch erhebt

und aus ewigen Schneelagern den Indus


nach Süden und den Oxus nach Norden schickt.
Unser Volk wäre also von kaukasischer Rasse
und alpinen Ursprungs.

Die gemeinsamen Wurzeln der Sprache,


der idealistische Ton der Weltanschauung,
die vielen Ähnlichkeiten in Religion und Brauchtum
zeugen mehr oder weniger eindeutig

von der arischen Verwandtschaft.


Auch die Anklänge an alte indische
und deutsche Heldensagen, insbesondere
die Ähnlichkeit zwischen dem indischen Helden Karna

und dem deutschen Helden Siegfried, weisen auf sie hin.


Wann sich die germanischen Nachkommen
von der indogermanischen Familienlinie abspalteten,
wann unsere Vorfahren die arische Heimat -

die übrigens statt im Quellgebiet von Oxus und Jaxartes


heute viel weiter westlich, nämlich
in der litauisch-russischen Ebene, vermutet wird -
verlassen haben und nach Europa eingewandert sein könnten,

ist noch nicht mit Sicherheit, aber zumindest


mit einiger Wahrscheinlichkeit zu bestimmen.
Die Trennung der germanischen Völker
von der großen arischen Familie

scheint stattgefunden zu haben, bevor die Arier


vom nomadischen Hirtenleben
zur sesshaften Landwirtschaft übergingen.
Diese Annahme stützt sich auf die deutliche Übereinstimmung

zwischen Sanskrit und Deutsch in sprachlichen Formen,


die sich auf die Tierhaltung beziehen,
während der Faden der sprachlichen Übereinstimmung abreißt,
wenn man von den pastoralen

zu den agrarischen Begriffen übergeht.


Da die Ackerkultur der indischen
und medo-persischen (iranischen) Arier

im oder nach dem 12. Jahrhundert v. Chr.


begonnen zu haben scheint, ist man
zu dem Schluss gekommen, dass die Abzweigung
und Westwanderung der germanischen Stämme

zu oder vor der genannten Zeit stattgefunden haben muss.


Das Verhältnis zwischen der germanischen Wanderung
und der hellenisch-italienischen,
slawischen und keltischen Wanderung ist unklar.

Nur so viel scheint sicher zu sein, dass die Griechen


und Italiener im Süden Europas siedelten,
die Kelten in der Mitte, die Slawen dahinter im Osten
und die Germanen im Norden.

Will man jedoch bei der Wahrheit bleiben,


so muss man feststellen, dass wir im Dunkel
oder Zwielicht der germanischen Vorgeschichte
noch immer nur auf dem wackeligen Boden von Vermutungen

und nicht auf dem festen Boden der Fakten stehen.


Alles, was wir über die ursprüngliche Heimat
und die Urzeit der Indogermanen wissen
oder zu wissen glauben, sowie über die Wanderung

der Nachkommen dieser großen Völkerfamilie,


also der Hellenen und Italiker,
der Kelten, Germanen und Slawen,
von Asien nach Europa,

sind nur Schlüsse, die aus den Prämissen


der Sprach- und Religionswissenschaft gezogen werden.
Diese wiederum haben entscheidenden Widerspruch gefunden,
so entscheidend, dass der Tatsache

des Indogermanentums selbst,


die man für unzweifelhaft erwiesen hielt,
nur der Wert einer Hypothese zuerkannt
und die Einwanderung der vier großen Ableger

des indogermanischen oder arischen Stammes


von Asien nach Europa
als völlig unbewiesen angesehen wurde.
Die ur- und frühgeschichtlichen Schicksale unseres Volkes

werden daher noch lange Zeit Gegenstand


von Gelehrtenstreitigkeiten bleiben
und vielleicht nie Geschichte werden.
Was die Bezeichnung unseres Volkes

und der mit ihm eng verwandten Skandinavier


als Germanen betrifft, so ist dieser Name vielleicht
eine Ehrung, die die Nachbarn unserer Vorfahren
ihrer kriegerischen Tugend zollten.

Er ist nicht vom lateinischen Wort germanus abgeleitet,


wie es in der Vergangenheit fälschlicherweise getan wurde.
Seine Bedeutung ist Speermänner,
Männer der Verteidigung, Männer des Krieges,

denn das alte deutsche Wort ger bedeutet Wurfspeer.


Man hat auch versucht, den Namen Germanen
von dem keltischen Wort gairm oder garm abzuleiten,
das Lärm bedeutet, so dass die Kelten,

die mit dem germanischen Stamm der Tunger


am Niederrhein zusammenstießen,
ihnen den Namen Lärmer, Schreier,
Schlachtenrufer gegeben hätten.

Die Ableitung von Ger scheint jedoch vorzuziehen zu sein.


Eine neuere Annahme ist, dass Germanisch
"Nachbar" bedeutet. Der ursprüngliche Nationalname
der Germanen war wahrscheinlich Teutonen,

Deutsche, übertragen auf das Volk


von seinem mythischen Stammvater Teut oder besser Deut,
woran das im Altdeutschen verwendete
weiche Th am Wortanfang erinnert.

Der Name Teut beweist seinen alten mythischen Charakter


durch seine enge sprachliche Verwandtschaft
mit der Bezeichnung des Gottesbegriffs
in den indogermanischen Idiomen (deva).

„Deutsch" ist aber auch abgeleitet von diet


(zum Volk gehörend), sowie von diutan, d.h. deuten,
verständlich machen. Die Existenz der deutschen Sprache
als Nationalsprache, im Gegensatz

zu den romanischen Idiomen,


ist erstmals 813 n. Chr. belegt.
Übrigens hat sich erst im 10. Jahrhundert,
zur Zeit Kaiser Ottos des Großen,

die nationale Bezeichnung "Deutsche",


die alle deutschen Stämme umfasst, herausgebildet
und allmählich durchgesetzt. Der besagte Herrscher
wurde als erster "Rex Theutonicorum",

König der Deutschen, genannt.


Die Annahme, dass unsere Vorfahren
von einem asiatisch-indoeuropäischen Ursprungsort
nach Europa eingewandert sind,

wird durch die weitere Annahme gestützt,


dass dieser Wanderungszug Skandinavien als erstes Ziel hatte.
In der skandinavischen Abgeschiedenheit
blieb das altgermanische Wesen länger und reiner erhalten

als in den südgermanischen Landen, also in Deutschland,


wohin die Völkerscharen aus Skandinavien strömten
und die Kelten nach Westen drängten.
Wann dies geschehen sein soll,

darüber schweigt aber nicht nur die Geschichte,


sondern auch die Sage.
Vielleicht ist die Überquerung der Alpen
durch die Kimbern und Teutonen,

die hundert Jahre vor Christi Geburt stattfand,


als Folge des drängenden Lebens anzusehen,
mit dem die allmähliche Südwärtsbewegung der Germanen
die deutschen Wälder erfüllt haben mag.

Mit dieser berühmten Bewegung


zweier germanischer Stämme
traten die Germanen erstmals deutlich auf die Bühne
der Weltgeschichte. Obwohl Marius' Generalskunst

und die Disziplin der römischen Legionen


den drohenden Angriff der Nordmänner
auf Italien diesmal abwehrten,
war das Unternehmen der Kimbern und Teutonen

nur ein verfrühtes, gleichsam prophetisches Vorspiel


zu der schrecklichen Heimsuchung,
die die Germanen später über Rom bringen sollten.
Nebenbei bemerkt: Schon das erste Auftreten

unserer Vorfahren auf der Bühne der Weltgeschichte,


die zimbrisch-teutonische Wanderung,
war durch einen grundlegenden Mangel
des deutschen Charakters gekennzeichnet:

durch einen Mangel an politischem Verstand,


Schick und Taktgefühl.
Ahnherr Michel war anfangs ein tapferer Tölpel.
Die Geschichte Roms war damals die der Welt.

Das erste Auftreten unserer Vorfahren


war eine Episode der römischen Geschichte
in einer schicksalhaften Zeit.
Wütende Parteikämpfe erschütterten das gigantische Bauwerk,

das die römische Kriegsführung und Staatskunst errichtet hatte,


in seinen Grundfesten. Schon kämpfte man nicht mehr
um Republik oder Monarchie, sondern nur noch
um den Besitz der Alleinherrschaft.

Marius und Sulla übten diese nacheinander


auf die brutalste Weise aus.
Der große Sklavenkrieg und die Verschwörung Catilinas
legten die inneren Schäden des Staates

in erschreckender Weise offen,


und die Geschichte der beiden Triumvirate
zeigt unwiderlegbar, dass eine freie Staatsform
nur auf der Grundlage sittlicher Reinheit

und hochgesinnten Patriotismus gedeihen kann


und dass gerade eine Republik
ohne die Voraussetzung republikanischer Bürgertugend
nicht denkbar ist.

Nach dem Sieg über seinen Rivalen Pompejus


gründete Julius Cäsar das Cäsarische Regiment.
Die Ermordung des genialen Mannes
durch die republikanischen Aristokraten

konnte den vollständigen Untergang


der römischen Freiheit nicht aufhalten.
Der Sieg, den die Mitglieder des zweiten Triumvirats
über Brutus und Cassius

in der Ebene von Philippi errangen,


entschied zugunsten der Monarchie,
der imperatorischen Macht,
die der kluge Octavianus,

nachdem er sich seines Konkurrenten Antonius


durch den Seesieg bei Aktium entledigt hatte,
dauerhaft etablierte. Der Titel Augustus,
den er sich selbst gegeben hatte, bezeugte deutlich genug,

dass die oberste Macht über die römische Welt


von nun an in den Händen einer einzigen Person lag.
Für seine monarchische Politik übernahm der neue Kaiser
einen wichtigen Aspekt der republikanischen Staatsidee Roms,

nämlich das Prinzip der ständigen Befriedigung


des altrömischen Expansions- und Eroberungsstrebens.
Große äußere Errungenschaften sollten die Römer
den Verlust der inneren Freiheit vergessen lassen,

und diese Eroberungspolitik brachte den römischen Staat


nun auch in engeren Kontakt
mit den Bewohnern Germaniens.
Caesar hatte schon während seiner Statthalterschaft in Gallien

Pläne gegen Germanien geschmiedet


und begonnen, sie durch wiederholte Rheinüberquerungen
zu verwirklichen. Die Generäle des Augustus
griffen die Pläne Caesars wieder auf,

und die Römer fassten im Süden und Westen


unseres Landes festen Fuß
und traten hier mit der gleichen Beharrlichkeit
und dem gleichen Kolonisationstalent auf,

mit dem sie die römischen Adler siegreich


in den kolchischen Wäldern gepflanzt hatten,
im Nilschlamm Ägyptens, in den Wüsten Numidiens,
an den Küsten Spaniens

und in den Druidenhainen Galliens.


Ihre kriegerischen Triumphe in Germanien
wurden durch die Überlegenheit begünstigt,
die die Zivilisation stets gegenüber der totalen

oder halben Barbarei behauptet.


Der römische Geist machte in Germanien
so rasche Fortschritte, dass es schien,
als ob das ganze weite Land unserer Vorfahren

ihm zum Opfer fallen sollte.


Die Axt der römischen Kultur begann,
die germanischen Urwälder zu roden.
Durch Sümpfe und undurchdringliche Wälder

wurden Militärstraßen gebaut,


um die römischen Siedlungen miteinander zu verbinden,
und es wurden befestigte Hauptquartiere
und Wachtürme errichtet.

Das Eroberungswerk wurde durch die Geizigkeit


und die unpatriotische Haltung
der deutschen Häuptlinge erleichtert.
Germanische Großmänner verbündeten sich

mit den Eroberern und trugen als Vasallen


der Römer dazu bei, das Joch der Römer
weiter in die Bezirke des Vaterlandes zu tragen;
die Söhne der vornehmsten Familien

traten in den römischen Militärdienst ein


und betrachteten den Erwerb des römischen Bürgerrechts
und der römischen Ritterschaft
als glänzendes Ziel ihres Ehrgeizes;

kurzum, die Unterwerfung des Germanentums


unter das Römertum schien auf dem besten Wege zu sein.
Aber die Römer hatten einen wichtigen Punkt
in ihren Berechnungen vergessen:

den stolzen Instinkt für Unabhängigkeit,


der ein so starkes Volk wie die Germanen beseelen musste,
und die deutsche Vorliebe
für das Vertraute und Traditionelle.

Letzteres war vielleicht noch mehr als ersteres


die Ursache für ihr Scheitern.
Die Germanen lehnten sich gegen die gewaltsame
Unterdrückung ihrer Sprache, Sitten und Gebräuche auf,

die in einigen Fällen auch mit Härte


und Grausamkeit verbunden war,
wie es die Römer versuchten,
und dieser Aufstand fand in Armin (Hermann),

dem Sohn Segimers, der einem Teil


des Cheruskerstammes als Häuptling vorstand,
einen geschickten Unterstützer und Anführer.
Armin war zweifellos der Träger

einer großen nationalen Idee,


mit der er die einzelnen Germanenstämme
zu einem mächtigen Schlag gegen die Römer
zu vereinen vermochte. Durch den berühmten Sieg,

den er an der Spitze der verbündeten Germanen


im Teutoburger Wald
über drei Legionen römischer Kerntruppen
unter Varus errang,

sowie durch seine spätere geschickte Kriegsführung


gegen die Römer unter Germanicus,
wurde er zum Retter unseres nationalen Daseins.
Ein Geist wie der seine musste das Grundübel erkennen,

das Deutschland seit jeher heimgesucht hat.


Seine Siege hatten ihn gelehrt,
wozu die vereinte deutsche Kraft fähig war,
und deshalb nahm er sich vor, sein Volk

nach der Rettung seiner Unabhängigkeit


aus dem Zustand der Uneinigkeit und Zersplitterung
zur nationalen Einheit zu führen.
An Aposteln und Märtyrern hat es dem Gedanken

der deutschen Einheit bis in unsere Tage nie gefehlt.


Armin war der erste von ihnen.
Er fiel dem Egoismus der deutschen Fürsten zum Opfer
und wurde von seinen Verwandten ermordet.

Sie waren nicht in der Lage oder willens gewesen,


sein großes Denken zu würdigen,
und ihr gemeinsamer Neid verbarg
seine bösen Versuche hinter dem Vorwurf,

der römische Eroberer strebe


nach despotischer Alleinherrschaft in Germanien.
Schon damals also erhoben die deutschen Großen
jenen Schrei der Bedrohung der deutschen Freiheit,

den sie auch später immer dann anstimmten,


wenn es galt, ihre dynastischen Sonderinteressen
der Einheit des Vaterlandes zu opfern.
Der Widerstand, den die Römer durch Armin erfuhren,

war übrigens von nachhaltiger Wirkung,


die durch die Freiheitskämpfe
der niederrheinischen Völker
unter der Führung von Civilis noch gesteigert wurde.

Seitdem war an eine Unterwerfung ganz Deutschlands


nicht mehr zu denken, wenngleich die Römer
an den Süd- und Westgrenzen den alten Ruhm
ihrer Waffen während der gesamten Kaiserzeit

zu bewahren suchten. Die Siege, die Julian


zu Beginn der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts
über die Alemannen und Franken errang,
waren eine der letzten glänzenden Waffenleistungen

des untergehenden Römischen Reiches.


Von nun an veränderte sich das Verhältnis
zwischen den beiden Völkern völlig.
Die germanischen Stämme wurden zu Angreifern,

und als sie, erneut von ihrer angestammten,


ungezügelten Wanderlust gepackt,
die Südhänge der Alpen hinabstiegen, um sie zu erobern,
sank das alte Römische Reich

vor ihren eisernen Schritten


in schnellem Tempo zu Boden.
Die Einstellung der Römer zu Germanien seit Caesars Zeiten
muss es ihnen sehr wichtig gemacht haben,

mehr über die Beschaffenheit des Landes


und die Eigenheiten seiner Bewohner zu erfahren,
als die vagen und oft geradezu märchenhaften Legenden,
die in Griechenland und Italien

über die Wald- und Nebelländer des Nordens kursierten,


zu liefern vermochten. Forschungsfreudige Männer
mit politischem Scharfsinn
kamen diesem Bedürfnis nach,

und Geographen und Historiker der antiken Welt begannen,


sich mit dem fremden Deutschland zu beschäftigen.
Ihre Werke sind die Quellen der deutschen Vorgeschichte,
denn von ihren Anfängen

bis zum Beginn der Völkerwanderung


fehlen einheimische Sprachdenkmäler
und historische Dokumente völlig.
In erster Linie sind Julius Caesar und Tacitus zu nennen.

Letzterer hat in seine Memoiren


über die Gallischen Kriege Episoden eingeflochten,
die sich mit germanischen Angelegenheiten befassen;
letzterer, der größte Meister

der römischen Geschichtsschreibung,


hat nicht nur in seinen beiden Geschichtswerken
("Historien" und "Annalen"), die zwei Perioden
der Kaiserzeit abdecken, den Beziehungen

zwischen Römern und Germanen


sorgfältige Beachtung geschenkt,
sondern auch in seiner eigenen Schrift
die antiken germanischen Verhältnisse

einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen.


Es handelt sich um Tacitus' berühmte "Germania"
oder, wie der Titel des Werkes in den Editionen meist lautet:
"Das Büchlein von der Lage, den Sitten

und Völkerschaften Germaniens".


Es mag wohl sein, dass die Absicht,
die Krankheit und Verderbnis der römischen Zivilisation
mit der Gesundheit des halbbarbarischen Naturlebens

zu kontrastieren, nicht ohne Einfluss


auf den großen Historiker war,
als er die Farben für sein Gemälde
der antiken Germania mischte;

aber es wäre eine völlige Verkennung


des Geistes hoher Wahrhaftigkeit, der Tacitus beseelte,
wenn man, wie bereits geschehen,
der Germania nur den sehr zweifelhaften Wert

eines extravaganten Tendenzwerkes zusprechen würde.


Betrachtet man die Anschaulichkeit seines Berichtes,
so wird die Annahme, dass Tacitus,
der zu Beginn der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts

unserer Zeitrechnung geboren sein mag,


seine Schilderung des alten Deutschlands
zumindest teilweise aus eigenem Erleben verfasst hat,
nicht wenig wahrscheinlicher.

Er ist meist scharf, bestimmt,


verschweigt keineswegs die Schattenseiten
seines Gegenstandes und ist nur dort ungenau
und unzureichend, wo ihn,

wie bei den religiösen Vorstellungen der Germanen,


seine römisch-griechischen mythologischen Vorstellungen
an der richtigen Wahrnehmung
des allzu Fremden hinderten.

Abgesehen davon können wir uns


auf unserer Wanderung durch die alten deutschen Wälder
getrost seiner Führung anvertrauen
und die Hinweise beherzigen, die von anderswo kommen.

Wenn man sich ein richtiges Bild


vom Zustand einer menschlichen Gesellschaft
zu einer bestimmten Zeit machen will,
ist es zunächst einmal wichtig, festzustellen,

aus wie vielen Personen diese Gesellschaft bestand.


Leider fehlen uns aber die Mittel, die Zahl der Einwohner
des alten Deutschlands
auch nur annähernd zu bestimmen.

Schließlich hat sich unser Land


in den letzten zwei Jahrtausenden
in Bezug auf die Bewirtschaftung
und die Nährstoffkapazität des Bodens

außerordentlich verändert. Nur so viel ist sicher,


dass auf demselben Stück Land,
das heute eine Million Bauern
und Handwerker mühelos ernährt,

in prähistorischer Zeit hunderttausend Jäger und Krieger


kaum ihre Nahrung finden konnten.
Vielleicht lässt sich aus dem Exodus der Helvetier,
die zu Caesars Zeiten mit ihren Frauen und Kindern

ihre Schweizer Heimat verließen,


ein Rückschluss auf die Bevölkerung
des alten Deutschlands ziehen.
Caesar gibt die Gesamtzahl der Helvetier

mit 370 000 Personen aller Altersgruppen


und Geschlechter an. Müsste diese Angabe
nicht die Annahme rechtfertigen,
dass sich unter der Bevölkerung ganz Deutschlands

zu jener Zeit etwa eine halbe Million junger Männer


und bewaffneter Männer befanden?
Die Zahl noch niedriger anzusetzen,
würde angesichts der Massen von Kriegern,

die einige Jahrhunderte später


über das Römische Reich herfielen,
unpraktisch erscheinen.
Wie viele Einwohner Germanien auch immer hatte,

eine einheitliche Masse, einen Gesamtstaat,


bildete es jedoch nicht. Wie von alters her
der freie deutsche Mann es vorzog,
einzeln auf der Hufe zu leben -

eine germanische Sitte, die besonders


in den bäuerlichen Gehöften Westfalens
noch heute lebendig in Erinnerung gerufen wird -
so trennte sich auch der Stamm vom Volke,

und dieser besondere Wunsch, tief verwurzelt


im germanischen Streben nach Selbstbehauptung
der Persönlichkeit, ist immer als trennender Keil
in die Gesamtheit der deutschen Nation getrieben worden.

Das häusliche Leben hat immer den Staat


in den Hintergrund gedrängt,
und nur ein Sohn der Mutter Germania,
der Angelsachse in England, hat dieses und jenes

gleich gut früh entwickeln können.


Die älteste Einteilung der germanischen Stämme
findet sich bei Tacitus. Er sagt:
In alten Liedern, ihren einzigen Dokumenten

und Annalen, verherrlichen sie den Gott Thuisto,


den Spross der Erde, und seinen Sohn Mannus
als die Gründer und Stammväter ihres Volkes.
Mannus aber schreiben sie drei Söhne zu,

nach denen die Germanen,


die am Meer wohnen,
den Namen Ingevones,
die in der Mitte den Namen Hermiones

und die übrigen den Namen Istaevones


erhalten haben sollen.
Der römische Geschichtsschreiber kennt und nennt
aber auch die Stammesnamen

der Marsier, Gambrivier, Sueben und Vandalen


als die ursprünglichen, während der ältere Plinius
seinerseits von fünf großen Stämmen
oder Familien der Germanen spricht:

Vindilers, Ingevones, Istaevones,


Hermiones und Peucinier.
Die genaue Entstehung der deutschen Stämme
in älterer und ältester Zeit zu bestimmen und zu beweisen,

ist ein schieres Ding der Unmöglichkeit.


In diesem, wie in vielen anderen Punkten
des germanischen Altertums,
wird der Gelehrtenstreit nie zur Ruhe kommen.

Die einzelnen Stämme waren an Zahl und Macht


sehr verschieden. Nur eine große, allgemeine Gefahr
vermochte die einzelnen, meist miteinander
verfeindeten Stämme

zu einem gemeinsamen Vorgehen zu vereinen.


Ansonsten bildeten nur die gemeinsame Sprache,
die Bräuche und die religiösen Vorstellungen
ein loses Band zwischen ihnen.

Von den prähistorischen deutschen Völkerbünden


waren drei am berühmtesten und beeinflussten
das Schicksal des ganzen Vaterlandes:
der von Cäsar beschriebene Suevenbund,

der von Armin gegründete niederdeutsche Cheruskerbund


und der oberdeutsche Markomannenbund,
an dessen Spitze Marbod stand.
Im unteren Rheingau gab es die Bataver,

weiter oben an beiden Ufern


unseres schönsten Flusses die Ubier (bei Köln),
die Trevire (um Trier), die Nervier (im Hennegau),
die Vangionen (bei Worms), die Nemetres (um Speier),

die Triboker (im Elsass). Zwischen Rhein und Elbe


lebten die Cattier (in Hessen),
die Usipeter (nördlich der Lippe),
die Tenkterer (im Bergischen),

die Cherusker (beiderseits des Harzes),


die Brukterer (in Osnabrück) und nördlich davon
die Chamavier und Angrivarier.
Zwischen Weser und Ems könnten

die von Tacitus erwähnten Dulgibier


und Khasuaren gelebt haben.
In den Regionen der Nordsee lebten
die Chauken und Friesen,

an den Küsten der Ostsee die Heruler und Rugier,


an der Unterelbe die Sachsen,
südöstlich begrenzt von den Angeln,
weiter oben am Westufer der Elbe die Langobarden,

im deutschen Donauraum
und später in Böhmen die Markomannen,
weiter flussabwärts die Quaden,
in Schlesien die Semnonen und Burgunder,
zwischen Weichsel und Pregel die Goten.

Der Name Suevi bezeichnete einen Zusammenschluss


vieler Stämme in dem weiten Gebiet zwischen Elbe,
Weichsel und Ostsee.
Später breitete sich dieser Zusammenschluss

auf den Süden Deutschlands aus, weshalb der Name


des schwäbischen Stammes hier noch immer bekannt ist.
Die Grenzen all dieser und anderer Stämme
lassen sich nicht genau festlegen.

Schon in prähistorischer Zeit wechselten sie häufig ihren Sitz,


und die Völkerwanderung verwischte dann
die stillschweigend gezogenen germanischen Stammesgrenzen
bis zur Unkenntlichkeit.

Die alten Schriftsteller sind sich darin einig,


in den Germanen ein in körperlicher und sittlicher Hinsicht
höchst eigenartiges Volk zu erkennen.
Insbesondere Tacitus preist sie

als ein unvermischtes Volk,


das nur sich selbst ähnlich ist.
Hochgewachsener und muskulöser Körperbau,
Kraft und Lebendigkeit der Glieder,

feurig blaue Augen, rötlich blondes Haar,


eine offene und freie Haltung
galten als charakteristische Merkmale
der germanischen Rasse;

nicht minder die Tapferkeit,


die Wunden und Tod verachtete,
und eine Streitlust, die sich bis zur Wut steigerte
und die Römer lange Zeit

unter dem Namen "furor teutonicus"


in Angst und Schrecken versetzte.
In seinem Bericht über die Kämpfe mit Ariovist
gibt Caesar eine sehr schöne Beschreibung des Schreckens,

den die Römer bei ihrer ersten feindlichen Begegnung


mit den Germanen empfanden:
Während Caesar einige Tage in Vesontio weilte,
wurde sein ganzes Heer plötzlich

von einer solchen Furcht ergriffen,


dass die Gemüter aller sehr verwirrt waren.
Die Römer befragten die Gallier und Kaufleute
über die Germanen,

die sie wegen ihrer enormen Größe,


ihrer unglaublichen Tapferkeit
und ihrer Waffenkunst lobten.
Sie, die Gallier, hatten schon oft versucht,

mit den Germanen zu kämpfen,


waren aber nicht einmal in der Lage gewesen,
den feurigen Blick der germanischen Augen zu ertragen.
Die Angst ergriff zuerst die Offiziere,

die neu in der Kriegsführung waren,


und ging dann allmählich
auf die kampferfahrenen Soldaten über.
Überall im Lager wurden Testamente verfasst,

und verschiedene Offiziere erklärten


auch dem Kommandanten, dass die Soldaten
aus Angst den Gehorsam verweigern würden,
wenn er den Befehl gäbe, gegen die Germanen auszurücken.

Diese Furcht vor den deutschen Eisenherzen


hat den Italienern auch heute noch
zum Verhängnis gereicht.
Obwohl sie sehr schlecht bewaffnet waren -

denn die Künste des Bergbaus


und des Schwertschwingens waren
unseren Vorfahren unbekannt -
konnten sie die römischen Legionen

durch die unwiderstehliche Kraft ihres Ansturms besiegen.


Ihre Hauptwaffen waren Pfeile und Speere,
letztere, Framen genannt,
mit schmalen und kurzen Eisenspitzen,

die für die Verteidigung aus nah und fern


gleichermaßen geeignet waren.
Nur mit einem leichten Kriegsmantel bekleidet,
selten mit Rüstung und Helm ausgestattet,

zogen diese Männer, abgehärtet gegen Frost und Unwetter


und trotzten Hunger und Müdigkeit,
in die Schlacht. Ihre Hauptstärke bestand
aus Fußsoldaten, aber sie kannten und übten auch

den Gebrauch der Reiterei.


Sie bildeten ihre Kampfreihenfolge in Keilform.
Zu fliehen war eine Beleidigung,
und den Schild zurückzulassen war geradezu unehrenhaft.

Waffen waren das Kennzeichen eines freien Mannes,


seine Zierde und sein Stolz;
niemand durfte sie anlegen, bevor die Gemeinschaft
ihn für verteidigungsfähig erklärt hatte.

Die Bewaffnung der jungen Männer


mit Schild und Rüstung erfolgte
in der Vollversammlung der Gemeinschaft,
in der sie nur durch diesen Akt Sitz und Stimme erhielten.

Das oberste Kommando im Krieg


wurde nicht durch Geburt,
sondern durch herausragende Tapferkeit verliehen.
Wer als Überlebender aus der Schlacht zurückkehrte,

wurde auf Lebenszeit entehrt.


Durch das Verteilen von Beute,
durch Geschenke von Pferden und Waffen,
durch üppige Gastfreundschaft

band der Häuptling seine Kriegerschar fester an sich.


Die Mittel für solche Ausgaben
lieferten Krieg und Raub, und daher auch
die unersättliche Kriegslust der Anführer und Gefolgsleute.

Neben dem Krieg galt nur die Jagd als ein Geschäft,
das der freien Männer würdig war.
Die Zeit, die sie nicht mit der Jagd
und der Kriegsführung verbrachten,

wurde mit müßigem Ausruhen


oder mit Zechgelagen verbracht,
die die beiden großen alten germanischen Laster,
die Trunksucht und die Spielsucht, nährten.

Ihre Nahrung bestand hauptsächlich aus Getreide,


Sauermilch und Wild;
ihr Getränk, das sie im Übermaß liebten,
war ein Saft aus Gerste oder Weizen,

der bis zu einer gewissen Ähnlichkeit


mit Wein verdorben war,
wie Tacitus' treffende Formulierung sagt.
Dies war der Beginn des Nationalgetränks,

das seither so sorgfältig entwickelt wurde


und heute unter dem Namen "deutsches Lagerbier"
in der ganzen Welt die Runde macht.
Da es üblich war, Tag und Nacht

ohne Unterbrechung zu trinken,


artete das Gelage nicht selten in einen Aufruhr aus
und endete in Totschlag.
Es war durchaus nicht unüblich, sein Hab und Gut,

ja sogar seine persönliche Freiheit,


beim Würfelspiel zu verspielen,
angeheizt durch Bier
und manchmal sogar nüchtern.

Auf der anderen Seite wurden


fast alle wichtigen Angelegenheiten
beim Bankett besprochen.
Hier wurden Versöhnungen herbeigeführt

und Heiratsbündnisse geschlossen,


hier wurde sogar über Krieg und Frieden entschieden,
hier zeigte sich die Gastfreundschaft,
diese von den Germanen

bis zur äußersten Konsequenz praktizierte Tugend,


in ihrer ganzen Pracht,
hier wurde das Lieblingsspektakel unserer Vorfahren,
der nackte Tanz junger Männer

zwischen erhobenen Schwertspitzen


und Schneiden, aufgeführt,
hier schließlich öffnete sich in zwangloser Heiterkeit
das Innere der Brust eines Volkes ohne List und Tücke.

Der einzige nennenswerte nationale Reichtum


im alten Deutschland bestand in den Herden.
Der Boden, dessen Bewirtschaftung den Frauen,
alten Männern und Sklaven überlassen war,

brachte nur Getreide für den Lebensunterhalt hervor.


Wie überall, wo die Landwirtschaft
noch in den Kinderschuhen steckte,
brachte sie keine feineren

und reichhaltigeren Produkte hervor.


Rinder- und Schafherden sowie Waffen und Pferde
waren die einzigen und am meisten geschätzten Besitztümer,
die auch die Mittel für den Tauschhandel lieferten.

Die Wertschätzung von Gold und Silber,


die Kenntnis und der Gebrauch des Geldes
kamen erst allmählich von den Römern herüber.
Die Art und Weise, wie das Land besiedelt wurde,

stand einem raschen kulturellen Fortschritt im Wege.


Die Germanen siedelten einzeln und zerstreut,
wo immer eine Quelle, ein Feld, ein Wald sie einlud.
Holz und Lehm waren die üblichen Baumaterialien,

aber das Tünchen der Hauswände


mit einer Art glänzender Erde deutet leise
auf das Erwachen des Schönheitssinns hin.
Im Winter suchten viele in Erdhöhlen

Zuflucht vor der Kälte.


Jeder umgab seine Behausung mit einem Hof
und diesen mit einem Zaun, so dass das Ganze
eine Art Burg bildete, ein germanischer Brauch,

dessen hohe Bedeutung noch heute


in der Maxime des Engländers lebendig ist:
My house is my castle!
Ein germanisches Dorf bestand

nicht aus durchgehenden Straßen,


sondern aus einer Reihe von Einzelhöfen,
die über ein weites Gebiet verstreut waren.
Städte waren für unsere Vorfahren geradezu abstoßend.

Sie sahen in solchen Mauern einen Eingriff


in das freie Leben des Menschen.
Als die Tenkterer in den Civilis-Kriegen
einen Gesandten zu den Ubiern schickten,

um mit ihnen gemeinsame Sache zu machen,


um das römische Joch zu brechen,
bestanden diese vor allem darauf, dass Köln,
die berühmte römische Plantagenstadt,

die von der Kaiserin Agrippina gegründet worden war,


als Bollwerk der Knechtschaft, in dessen Mauern
man keine Tapferkeit gelernt hatte,
zerstört werden sollte.

Die Tracht der Germanen war so einfach und rau


wie ihr ganzes Leben.
Das gebräuchlichste und für die Ärmeren
sogar einzige Kleidungsstück

war der Mantel oder Rock aus Tierhäuten oder Leinen,


der auf der linken Schulter mit einer Schließe
oder, in Ermangelung einer solchen,
mit einem Dorn befestigt wurde.

Nach dem, was alte Autoren über die Kleidung


unserer Vorfahren berichten, können wir jedoch annehmen,
dass die Kleidung der Reicheren
und die der Frauen nicht ganz aus dem Wald stammte,

sondern dass der reichere Mann


einen kurzen, eng anliegenden Rock mit Ärmeln trug,
über den ein Mantel aus Fellen
oder Pelzen geworfen wurde.

Auch die Frauen trugen diesen Mantel


und darunter ein längeres, ärmelloses Mieder,
das Arme, Schultern, Hals
und den oberen Teil der Brust freiließ.

Fügt man noch einen Miedergürtel


für beide Geschlechter hinzu,
erhält man eine Tracht,
die in ihren wesentlichen Merkmalen

das ganze Mittelalter hindurch gleich blieb.


Die Sitte der germanischen Krieger,
ihre Köpfe mit dem Fell wilder Tiere zu bedecken,
um im Kampf furchterregender zu wirken,

scheint uralt zu sein.


Es versteht sich von selbst, dass die Bekanntschaft
mit den Römern zu einer allmählichen Vervollständigung
und Ausschmückung von Kleidung

und Rüstung führen musste.


Der häufigere Anblick des Komforts und Luxus,
den die Römer in ihren Plantagen
in Süd- und Westdeutschland an den Tag legten,

muss eine natürliche Wirkung


auf die Waldkinder gehabt haben, umso mehr,
als die römische Tracht in ihrem Grundcharakter
der germanischen Tracht entsprach.

Der deutsche Nachahmungstrieb,


der später so viel unglückliche Nachahmungssucht
in unsere Geschichte brachte, tat ein Übriges.
Der hellste Punkt in der moralischen Geschichte

unserer Vorfahren ist das Verhältnis


der beiden Geschlechter zueinander
und die Stellung der Frau, eine Stellung,
die unverhältnismäßig höher und edler war

als die, die das Altertum der Frau zugestand.


In den ältesten Zeiten war natürlich auch
das germanische Frauenbild ein sehr hartes.
Dass das neugeborene Kind als Junge höher geachtet wurde

als als Mädchen, ist noch nicht ganz verstanden worden.


Und auch in historischer Zeit kommen einzelne Züge
großer Rohheit vor: zum Beispiel,
als die Friesen ihre Frauen

den Römern als Handelsware überließen,


um den auferlegten Tribut zu zahlen.
Doch während der künstlerische Grieche
ebenso wenig wie der pragmatische Römer
seine Vorstellung von der Frau als etwas Untergeordnetem,

ja Unreinem aufgeben konnte,


wuchs im Schatten der germanischen Wälder
ein Frauenbild heran, das dem deutschen
Idealismus zur höchsten Ehre gereicht.

Nur die Germanen erkannten, dass die Frau


die nährende und wärmende Flamme der Geschichte ist;
nur durch sie wurde die Frau
wirklich in die Gesellschaft eingeführt.

Tacitus berichtet, dass sie in den Frauen etwas Heiliges


und Ahnungsvolles sahen;
sie achteten auf den Rat der Frauen
und hörten auf ihre Sprüche.

Der Einfluss, den Aurinia und Velda


in ihrem Volk ausübten,
wie er von dem eben erwähnten Mann bezeugt wird,
beweist, dass begabte Frauen

im alten Deutschland nicht selten


prophetisches Ansehen besaßen.
Letztere, eine Jungfrau aus dem Stamm der Brukterer,
herrschte zur Zeit der Kriege der Germanen

gegen die Römer unter Vespasian weithin;


Civilis suchte ihren Rat
und schickte ihr Trophäen seiner Siege.
Auch die altgermanischen Frauennamen
sind ein aussagekräftiges Zeugnis
für die Verehrung der Frauen.
Zu den ältesten gehören: Skonea (die Schöne),
Berchta (die Strahlende),

Heidr (die Fröhliche), Liba (die Lebhafte).


Später kamen eine Reihe nicht minder bedeutungsvoller hinzu,
bei denen vor allem die Verbindungen mit
wiz (weiß, z.B. Svanhvit), heit (strahlend, z.B. Adalheit),

brun (hell, z.B. Kolbrun)


und louk (lohnend, z.B. Hiltilouk) nahelegen.
Die germanischen Frauen der Männer wussten ihrerseits,
wie sie sich Respekt verschaffen und erhalten konnten.

Wie die Tapferkeit des Mannes,


so war die Keuschheit der Frau die höchste Zierde.
Der Verzicht auf die Jungfräulichkeit vor der Ehe
war diesen hochgewachsenen, blondhaarigen,

blauäugigen Schönheiten unbekannt


und wurde in den seltenen Fällen, in denen er vorkam,
mit der schwersten Strafe
für ein Mädchen geahndet;

denn weder Schönheit noch Reichtum


gewannen einen Mann für eine entehrte Frau.
Wie hoch die Frau als Gattin angesehen wurde,
zeigt das Wort selbst; denn Frau

bedeutet ursprünglich die Erfreuende,


Gefällige und bekam später die Bedeutung
von Geliebte.
Generell hatten es im alten Deutschland
beide Geschlechter nicht allzu eilig,
den Bund der Ehe zu schließen.
Es wurde volle körperliche und geistige Reife verlangt,
und in der Regel wurde nicht

vor dem zwanzigsten Lebensjahr geheiratet.


In den frühesten Zeiten war das Anbieten von Geschenken
durch den Bräutigam an die Verwandten der Braut
wahrscheinlich ein tatsächlicher Kauf der Person der Braut;

später bekam der Kauf der Braut


eine eher symbolische Bedeutung,
indem er die Befreiung der Braut
aus der angeborenen Knechtschaft ihres Vaterhauses

und ihren Eintritt in den Clan


und den Schutz des Bräutigams veranschaulichte.
Die Geschenke des Bräutigams bestanden aus Vieh,
einem geschirrten Pferd, einem Schild samt Rahmen

und einem Schwert; die Braut ihrerseits


schenkte ihm ebenfalls eine Kriegsrüstung.
Andere Mitgiften von Frauen konnten zumindest
in prähistorischer Zeit nur aus Reiseutensilien bestehen,

denn zu jener Zeit waren Frauen


vom Landbesitz ausgeschlossen.
Nur in Liedern und Sagen kommt es vor,
dass die Jungfrau im versammelten Gemeinschaftsring

ihren Mann frei wählt, vielleicht eine Erinnerung


an die alte arische Sitte;
auch in den indischen Epen wählen die Königstöchter
ihre Männer, wie Drapaudi und Damajanti.
Wie hoch die eheliche Beziehung der Germanen
über den sexuellen Verhältnissen
der Barbarenvölker stand,
beweist der Brauch der Initiation,

der bei den meisten Stämmen vorherrschte


und der natürlich keineswegs die Gewohnheit ausschloss,
dass die Großen und Reichen
sich Konkubinen hielten.

Die Unantastbarkeit des Ehebundes


wurde vor allem von den Frauen verlangt.
Ehebruch war äußerst selten,
seine Bestrafung war summarisch

und wurde dem Ehemann überlassen.


In Anwesenheit von Verwandten
wurde die Ehebrecherin, nachdem sie entkleidet war,
vom Ehemann aus dem Haus gestoßen

und im Dorf ausgepeitscht.


Nach altem germanischem Recht
durfte der beleidigte Ehemann die sündigende Frau
und ihren Buhlen ungestraft erschlagen,

wenn er sie auf frischer Tat ertappte,


und noch im späten Mittelalter wurde die Ehebrecherin
nach germanischem Recht hier und da
der schrecklichen Strafe ausgesetzt,

lebendig begraben zu werden.


Aber diese spätere Gesetzgebung dehnte ihre Strenge
auch auf den ehebrecherischen Mann aus
und sühnte damit ein früheres Unrecht.
Das Band der Ehe durfte nur durch den Tod gelöst werden.
Ja, nicht einmal durch den Tod.
In alten Zeiten folgte die deutsche Witwe,
wie die indische Witwe, ihrem Mann ins Grab,

ein Brauch, der sich im Norden viel länger hielt


als in Deutschland. Seinem Mann in den Tod zu folgen,
brachte der Frau großen Ruhm,
das Gegenteil aber tiefe Schande.

Der byzantinische Prokopios berichtet,


dass bei den Herulern der Brauch,
die Frauen mit zu bestatten,
bis ins 6. christliche Jahrhundert fortbestand.

In den skandinavischen Quellen finden sich


zahlreiche Beispiele für diesen Brauch,
der auf religiösen Überzeugungen beruht.
Man glaubte, dass die schweren Pforten der Unterwelt

nicht an den Fersen des Verstorbenen zuschlagen würden,


dem seine Frau in den Tod folgte.
In der nordischen Sage folgt Gunnhild
ihrem Mann Asmund in den Tod,

und Saxo Grammatikus, der die Sage erzählt,


fügt ausdrücklich hinzu, dass das Volk
der treuen Frau für ihr Opfer
große Anerkennung zollte.

Nanna wird in der Sage zusammen


mit ihrem Mann Baldur verbrannt.
Brunhild tötet sich, um dem mit ihr verlobten Sigurd
in den Tod zu folgen,
und beschimpft im Sterben ihre Schwägerin Gudrun,
weil sie ihren Mann nicht zum Scheiterhaufen begleitet hat.
Der alte deutsche Familienvater war stolz darauf,
eine starke Familie zu haben.

Die Zahl der Kinder zu begrenzen


oder gar einen der Sprösslinge zu töten,
war unseren Vorfahren daher ein Gräuel,
während Fehlgeburten in Sümpfen erstickt wurden.

Zu den schwersten Verbrechen zählten sie


den Diebstahl von Frauen
und die gewaltsame Verletzung
der weiblichen Scham.

Die Frau stand dem Mann als treue Gefährtin


in Glück und Unglück zur Seite;
sie kümmerte sich um das einfache Feld
und den Haushalt zu Hause,

sie folgte ihm auch auf seinen kriegerischen Reisen,


brachte ihm Essen und Trinken
und befeuerte seinen Kampfesmut
durch ihren Zuspruch.

Es werden Beispiele erzählt, wie schwankende


germanische Schlachtreihen
durch das inbrünstige Flehen der Frauen,
durch das Entblößen ihrer Brüste,

durch das Hinweisen auf die Schande der Gefangenschaft


wiederhergestellt und zum Sieg geführt wurden.
Aber Sage und Geschichte haben auch manches Beispiel
für Zorn, Rachsucht und Mordlust
germanischer Frauen überliefert,
und dass auch Betrug und Untreue
zu den weiblichen Lastern gehörten,
wird an mehreren Stellen der Edda

eindringlich genug betont. Dort heißt es:


Traue nicht auf die Worte eines Mädchens,
auf das, was ein Weib dir sagt,
denn wie ein Rad dreht sich ihr Herz,

und Wandel ist in ihrem Schoß.


Wenn wir all dies zusammennehmen, können wir,
ohne unseren alten Frauen Unrecht zu tun, die Meinung vertreten,
dass sie in höherem Maße kräftige und keusche

als anmutige und liebenswerte


Lebensgefährten gewesen sein mögen.
Es muss etwas Sprödes, Hartes,
Männliches in ihrer Haltung

und in ihrem ganzen Auftreten gewesen sein.


Die Entwicklung ihrer angenehmeren
und sanfteren Eigenschaften und Reize
war der christlichen Kultur vorbehalten.

In den religiösen Vorstellungen eines Volkes


pflegt sich sein Wesen
in seiner ganzen Tiefe zu offenbaren,
weil in diesen Vorstellungen die ganze Gedankenwelt

einer menschlichen Gesellschaft


wie in einem Brennpunkt zusammenläuft
und alle einzelnen Strahlen
ihrer Welt- und Lebensanschauung
von diesem Zentrum ausgehen.
Der kühne, trotzige, wilde Charakter
des alten germanischen Volkes,
der in allen seinen Äußerungen hervortritt,

wird daher erst richtig verständlich,


wenn wir die Religion betrachten,
unter deren Einfluss das Volk dachte,
sprach und handelte.

Hier aber lassen uns unsere antiken Führer im Stich,


weil sie, unfähig, die Eigenheiten
dieser nordischen Mythologie zu verstehen,
den Kreis ihrer eigenen Vorstellungen auf sie übertrugen

und die Oberflächlichkeit ihrer Kenntnisse


mit dem Schild der griechisch-römischen
Götternamen zu bedecken suchten.
Selbst der sonst so kluge Tacitus weiß nur zu sagen,

dass die Germanen Merkur und Mars, Herkules


und Isis verehrten,
und fast die einzige glaubwürdige Information,
die er gibt, ist, dass unsere Vorfahren

es der Majestät der Götter nicht für angemessen hielten,


sie in Mauern einzuschließen,
sondern ihnen heilige Haine und Bäume
als Tempel weihten.

Die zahllosen Spuren, die die religiösen Vorstellungen


und Gefühle unserer Vorfahren hinterlassen haben,
aufzuspüren, zu sammeln, zu vergleichen und zu deuten
und den Glauben unserer Vorfahren
dem Verständnis unserer Enkel näher zu bringen,
war die Aufgabe unserer Heimatforschung.
Es ist wahr, dass in diesem Verständnis
vieles noch zu dunkel und unzusammenhängend ist,

um ganz klar und vollständig zu sein.


Die mündliche Überlieferung der Ahnenreligion
ist freilich im Volke bis in die Gegenwart
nie ganz unterbrochen worden,

und viele Volksglauben, wie sie heute noch


gang und gäbe sind und sich in zahllosen Mythen,
Märchen und Sagen verfestigt haben,
sind altgermanischen Ursprungs.

Um ihren heidnischen Charakter zu erkennen,


braucht man nur die mehr oder weniger geschickte,
oft sehr leichte christliche Überfärbung zu entfernen
und sich daran zu erinnern, dass auch heute noch

drei unserer Wochentage germanisch sind,


zwei im Hochdeutschen
und einer im alemannisch-schweizerischen Dialekt,
benannt nach Gottheiten unserer heidnischen Vorfahren:

Donnerstag (Tag des Donar), Freitag (Tag der Freia)


und Ziestig (Tag des Zio).
Andererseits haben uns die Ungunst des Zufalls
und mehr noch die fromme Wut der christlichen Konvertiten

nur die spärlichsten schriftlichen Zeugnisse


des deutschen Heidentums hinterlassen,
zumindest nur die spärlichsten
heidnisch-religiösen Primärquellen.
Streng genommen beschränkten sich diese bis vor kurzem
auf zwei kleine Gedichte, Zauberformeln,
die ihrem Inhalt nach unzweifelhaft
der heidnischen Zeit angehören.

Georg Waitz fand sie in der Bibliothek


des Merseburger Domkapitels,
und Jakob Grimm veröffentlichte sie.
Der erste Spruch soll die Fesseln eines Kriegsgefangenen lockern,

der zweite den verrenkten Fuß eines Pferdes heilen.


Beide Formeln sind in alter
thüringischer Mundart
geschrieben und lauten:

Eiris sâzun idisî sâzun hera duoder,


sumâ hapt heptidun sumâ heri lîzidun,
sumâ clûbôdun umbi cuoniwidî,
insprinc haptbandun invar vîgandun.

phol ende Wôdan vuorun zi holza,


du wart demo Balderes volon sîn vouz birenkit,
thu biguolen Sinthgunt, Sunnâ erâ suister,
thu biguolen Frîiâ Volla erâ suister,

thu biguolen Wôdan sô he wola conda,


sôse bênrenkt sôse bluotrenkî sôse lidirenkt,
bên zi bêna bluot zi bluoda,
lid zi geliden sôse gelîmidâ sîn.

Früher saßen die Frauen, saßen hier und dort:


die eine fesselte die Fesseln,
die andere hielt das Heer auf,
die andere zupfte an Knieseilen.
Entflieht den Fesseln, entkommt den Feinden!
Vol und Wodan gingen in den Wald;
dort wurde dem Fohlen Balders der Fuß ausgekugelt;
dort besprachen ihn Sinthgunt und Sunna, ihre Schwester,

dort besprachen ihn Freija und Volla, ihre Schwester,


dort besprach ihn Wodan, wie er wohl verstand,
als Auskugelung von Beinen, als Auskugelung von Blut,
als Auskugelung von Gliedern, Bein an Bein,

Blut an Blut, Glied an Glied,


als ob sie geklebt wären.
Zu diesen heidnischen Relikten gesellt sich nun
ein weiterer Fund,

die Nordendorfer Spange


mit Runeninschrift:
Loga thore Vodan,
vigu Thonar!

Wodan, hemme die Flamme!


Donar, hemme den Kampf!
Die zweite der Merseburger Formeln
und die Nordendorfer Runeninschrift

sind von größter Bedeutung,


da sie gewisse Anhaltspunkte dafür liefern,
dass sich die ursprüngliche Gemeinschaft der deutschen
und skandinavischen Bruderstämme

in Sprache, Recht und Sitte auch wesentlich


auf den religiösen Glauben erstreckte.
Wotan ist identisch mit Odin,
sozusagen dem Hauptgott,
dem Zeus oder Jupiter
der skandinavisch-germanischen Religionslehre,
und Donar ist identisch
mit dem skandinavischen Thor.

Der nordischen Religion wurde eine größere Reife,


eine umfassendere Entwicklung
und eine systematischere Ausbildung zuteil
als der deutschen Religion,

die dem Christentum zum Opfer fiel,


bevor sie ihre volle Blüte erreicht hatte.
Deshalb ist unser Wissen
über die altdeutsche Religion eher bruchstückhaft,

während die altnordische Religion


als ein vollständiges System,
als ein gut strukturierter Organismus
vor uns erscheint.

Aber das Grundwesen beider ist eins,


und man hat treffend auf die Entwicklung
der nord- und südgermanischen Sprachformen verwiesen,
um das Verhältnis zwischen deutscher und nordischer Religion

zu veranschaulichen. So wie die verschiedenen Dialekte


der germanischen Sprache insgesamt
eine Übereinstimmung in Lauten,
Wurzeln und Beugungen zeigen,

aber so wie sich die Laute und Beugungen


in den einzelnen Dialekten individuell entwickelt haben,
so wie Wurzeln in dem einen verloren gingen
und in dem anderen erhalten blieben und neue Triebe sprossen,
so wird es auch im Glauben
aller germanischen Völker
einen übereinstimmenden Grundtypus gegeben haben,
der aber in den einzelnen Stämmen

noch individueller war als ihre Sprache.


Wollte man den Grundtypus der germanischen Religion
bis zu ihren tiefsten Wurzeln zurückverfolgen,
müsste man bis zu den Adityas,

den kosmischen Göttern der ursprünglichen


indogermanischen Religion, zurückgehen.
Doch für solch weitreichende Untersuchungen
ist hier kein Platz.

Wir werden uns daher damit begnügen,


in aller Kürze darzulegen, was bisher
pber die religiösen Vorstellungen
der alten Germanen bekannt ist,

dann einen Abriss der skandinavischen Religionslehre


nach nordischen Quellen geben
und schließlich vom Kult der Germanen sprechen.
Wir können nicht glauben,

dass alle religiösen Vorstellungen unserer Vorfahren


aus der Vorstellung eines
geistigen Urwesens hervorgegangen sind.
Gegen eine solche Annahme spricht

die allgemeine Erfahrung,


dass erst eine höhere Bildung
zum monotheistischen Gottesbegriff aufsteigt,
und die analoge Tatsache, dass die ursprüngliche Religion
der Arier, die mit den Germanen verwandt waren,
ein kosmischer Polytheismus war.
Und wenn, wie wir weiter sehen werden,
die nordische Religionslehre von einem geistigen Urwesen,

von einem Allvater ausgeht,


dann ist nicht nur zu bedenken,
dass die späte Systematisierung der Religion
jüdisch-christliche Einflüsse sehr wahrscheinlich macht,

sondern auch, dass der hellenische Polytheismus


in seinem Zeus ebenfalls einen solchen Allvater kennt.
Geht man aber davon aus, dass das religiöse Gefühl
unserer Vorfahren von der Vorstellung

eines göttlichen Urwesens ausging,


das in allen deutschen Dialekten
mit dem Namen Gott bezeichnet wurde,
so spaltete sich dieser Gottesbegriff im Volksbewusstsein

sehr bald in eine polytheistische


oder pantheistische Richtung.
Die Ansicht, dass die Aufspaltung
des einheitlichen Gottesbegriffs in eine Dreifaltigkeit

(Wuotan, Fro, Donar)


eine Vorwegnahme der christlichen Trinität war,
ist recht merkwürdig, da die arisch-indische Trinität
bekanntlich viel älter ist als die christliche Trinität.

Die germanische Dreifaltigkeit der Götter


entwickelte sich bald zu einer Zwölferzahl weiter,
die zwar in Deutschland noch nicht vollständig,
aber im Norden nachweisbar ist.
Was die einzelnen altgermanischen Götter betrifft,
so ist Wodan der höchste Gott,
der alles durchdringende Weltgeist.
Er ist der Himmel, der die Erde schützt;

er ist die Sonne, die sie beleuchtet und befruchtet;


er ist die schöpferische Kraft, die alles formt;
von ihm hängt letztlich alles ab,
die Fruchtbarkeit des Feldes, Krieg und Sieg;

alles geht von ihm aus und alles kehrt zu ihm zurück.
In seiner Umarmung mit der Erde
bringt er seinen mächtigsten Sohn hervor,
den bärtigen Donar, den Donnerer,

den rastlosen Beschützer seiner Mutter, der Erde,


und ihrer Bewirtschafter,
den mutigen Kämpfer gegen die Feinde
der Götter und Menschen.

Fro ist der Gott der Freude,


Schutzherr des Friedens und der Ehe,
der schöpferischen, zeugenden Liebe.
Lio, der eigentliche Kriegsgott, in allem,

was mit Krieg und Kampf zu tun hat,


gleichsam die ausführende Hand seines Vaters Wodan.
Paltar, ebenfalls ein Sohn Wodans,
ist der weise, gerechte, beredte Gott,

der Gesetzgeber und Richter,


dem sein Sohn Forasizo zur Seite stand,
der Schlichter des Handels, der vorsitzende Richter.
Aki ist der Gott des Meeres und Vol der Gott der Jagd.
Wir sehen, dass alle diese Götter
kosmische oder moralische Ausströmungen
des allumfassenden Wesens von Wodan waren.
Vom Widersacher der Götter, Loko,

sind in Deutschland bisher nur wenige


direkte Spuren gefunden worden,
dafür aber umso mehr indirekte
in den zahllosen Teufelslegenden,

die in unserem Volk kursierten.


Mit der Entwicklung des Polytheismus
finden sich überall auch weibliche Gottheiten.
Unter den von unseren Vorfahren verehrten Göttinnen

stand Nerthus, die fruchtbare, gebärfreudige Mutter,


die Verkörperung der weiblichen Erde
im Gegensatz zum männlichen Himmel,
ganz oben auf der Liste.

Andere erwähnte Göttinnen sind Holda,


die Beschützerin der Liebenden,
die Schutzherrin der Ehen;
Perahta, verwandt mit Holda,

die Schutzgöttin des weiblichen Fleißes;


Hluodana, die Hüterin des häuslichen Herdes;
Tanfana, von Tacitus erwähnt,
deren Wesen noch unklar ist;

Nehalennia, identisch mit Volla,


der suevischen Göttin des Überflusses;
Ostara, Göttin des aufgehenden Morgenlichts,
des blütenbringenden Frühlings
(daher unser Ostern, die Osterzeit, der Frühling);
Frouwa, von der sich der Name Frau ableitet,
Fros glückselige Schwester,
Spenderin von Gnade und Zauber,

als Holda später im Bewusstsein der Menschen


durch die Christin Maria ersetzt wurde;
schließlich Frikka, die Frau von Wodan,
die den alles überwachenden hohen Sitz

und seine Allwissenheit ihres Mannes teilt.


Im Gegensatz zu diesen wohlwollenden Frauenmächten
stand Hellia, die unheimliche, unerbittliche
Göttin der Unterwelt,

zu der die Seelen der an Altersschwäche


oder Gebrechlichkeit Verstorbenen kamen
und deren Personenbegriff sich in christlicher Zeit
zu einem lokalen wandelte: Hellia wurde Hölle.

Wie in der griechischen Religion,


so gab es auch in der altdeutschen Religion
eine Zwischenstufe zwischen Göttern und Menschen,
die der Helden.

Das Christentum hat diese Zwischenstufe beibehalten,


nur dass es die Helden durch die Heiligen ersetzt hat.
Die Helden sind besondere Lieblinge der Götter,
verkehren mit ihnen,

zeugen Söhne und Töchter mit Göttinnen,


werden von ihren göttlichen Freunden
mit wunderbaren Gaben und Geschenken ausgestattet
und werden bei ihrem Tod zu den Sitzen der Seligen entrückt.
Unsere deutsche Heldensage beginnt mit Tuisto oder Tuisko
(Tivisko, also Tius' Sohn, also Gottessohn).
Laut Tacitus ist Tuisto der Vorfahr unseres Volkes,
und sein Sohn Mannus wird der erste der Helden genannt,

der Vater aller Menschen.


Dem Mythos nach stammen die drei Hauptstämme
der Germanen von ihm
durch seine drei Söhne Ingo, Isko und Irmino ab.

Von da an verdunkelt sich die Ahnentafel


des deutschen Heldentums,
und auf Namen wie Skeaf und Gibicho
fällt nur noch ein trübes Licht.

Heller wird es im Bereich der deutschen


und skandinavischen Heldenbücher des Mittelalters:
Hier treten die Helden Siegfried,
Dietrich und Hildebrand,

Mime, Eigil, Wieland und Wittich,


Wate und andere
deutlich in das dichterische Bewusstsein ein.
Aber die religiösen Bedürfnisse unserer Vorfahren

wurden noch nicht mit Göttern und Helden befriedigt.


Die Volksphantasie suchte überall nach Hinweisen
auf gottähnliche und gespenstische Schöpfungen
im Wirken der Naturkräfte,

und gerade dieser Eingriff der Natur


verleiht der altdeutschen Religion
etwas Pantheistisches.
In der Vorstellung der Riesen, auch oder Hünen genannt,
kommt dies zum Ausdruck;
denn diese ungehobelten Wesen
übertreffen den Menschen
nur an körperlicher Länge und Kraft,

keineswegs an Witz und Verstand;


sie sind so dumm, wie sie lang sind.
Die in der nordischen Religionslehre
sehr deutlich ausgeprägte Erinnerung

an das erzfeindliche Verhältnis der Riesen zu den Asen


scheint in Deutschland völlig verloren gegangen zu sein.
Ein weitaus spirituelleres Element als in den Riesen
verkörpert sich in den halbgöttlichen Wesen,

die in Bezug auf die Körpergröße


den Menschen unterlegen sind.
Sie heißen Wichte oder Elben
und werden in Licht und Schwarz eingeteilt.

Deutsche Märchen wimmeln davon,


und auch die Zwergenkönige Alberich und Laurin
sind in den Heldensagen berühmt.
Im Allgemeinen sind die Elben gutmütig

und menschenfreundlich („die Guten Schönen“);


aber die Elbenfrauen
locken gerne schöne junge Männer
in ihre Arme, die Zwerge schöne Mädchen.

Es gibt sehr viele Elfenwesen: Hausgeister,


Waldgeister und Wassergeister.
Schließlich wurde der Glücksbegriff in der Vorstellung
unserer Vorfahren auch persönlich.
Diese Glücksgöttin ist Frau Sälde,
die im Mittelalter von den mittelhochdeutschen Dichtern
noch häufig genannt und bezeichnet wurde.
Aber über allen göttlichen und halbgöttlichen Wesen

sowie über den Menschen


thront die ewige Notwendigkeit der Natur,
das Schicksal,
das im nordischen Glaubenssystem

in den drei Schicksalsschwestern (Nornen)


zur persönlichen Form gebracht wird.
Wir werden ihnen wieder begegnen,
wenn wir uns der Darstellung der germanischen

Theogonie und Kosmogonie zuwenden,


wie sie in den nordischen Quellen enthalten ist.
Den schriftlichen Denkmälern des altnordischen
heidnischen Geistes war das Schicksal günstiger

als denen des altgermanischen Geistes.


In der fernen Einsamkeit Islands
fand dieser Geist Zuflucht vor fürstlicher
und christlich-priesterlicher Unterdrückung.

Ab 874 waren norwegische Männer dorthin ausgewandert


und hatten dort eine freie Gemeinde gegründet,
die erst nach dem Jahr 1000 unter dem Einfluss
des aus dem Mutterland herübergekommenen

Christentums allmählich verkümmerte.


Das geistige Erbe dieses isländischen Freistaates
sind eine Reihe von Gedichten und Prosawerken,
die an die primitiven Zustände des Germanismus
und das vorchristliche germanische Weltbild erinnern.
Die isländische Poesie ist in zwei Hauptgattungen unterteilt:
Mythen der Götter und Heldensagen,
zu denen die Lieder der Skalden hinzugefügt werden.

Die alten Götter- und Heldenmythen


sind uns in der unter dem Namen Edda
(Ältere Mutter, Ahnherrin)
berühmten Zusammenstellung als kostbares Erbe überliefert.

Sömund Sigfusson, ein 1133 verstorbener


isländischer Gelehrter, soll diese Sammlung
zusammengetragen haben, weshalb sie auch
als Sämundische Edda oder ältere Edda bezeichnet wird,

im Gegensatz zu der jüngeren Edda,


die weiter unten beschrieben wird.
Die Lieder der älteren Edda sind in Stabreimen geschrieben,
also in der ältesten Form germanischer Dichtung.

Ihre Autoren sind unbekannt,


und ihr Alter kann nicht im Detail nachgewiesen werden.
Aber in jedem Fall sind sie uralt im Geiste
und zu einem großen Teil in der Form.

Kühn, starr, monströs, wie die altnordische Natur,


ist die Poesie, die diese Lieder atmen.
In knapp abgekürzter Sprache,
mit wilder Hast und Energie stürmen sie dahin

wie die Herzen wilder nordischer Helden,


die in die Schlacht eilen.
Die mythologischen Gesänge der Edda
erzählen entweder einzelne Göttermythen
oder versuchen, den gesamten Verlauf
der nordischen Götterlehre
in großen Umrissen zu skizzieren.
Dies gilt insbesondere für die Völuspa,

also die Prophezeiung und Vision der Wala,


die als das älteste der Edda-Lieder gilt
und ohne Frage das wichtigste ist.
Unter den epischen Gesängen der Edda

ragen die Helgi-Lieder


durch ihren spezifisch nordischen Heldengehalt heraus,
aber von noch größerem Interesse ist für uns der Liederzyklus,
der sich mit der Siegfried- und Nibelungensage befasst,

die hier zweifellos in ältester Form vorliegen,


die uns überliefert sind, obwohl sie vielleicht
in ihrer ursprünglichen Form aus Deutschland
in den Norden eingewandert sind.

Im Laufe der Zeit nahm die epische Poesie


des alten Skandinaviens eine historischere Richtung.
Auf diese Weise wurde sie von den Skalden kultiviert,
deren schöpferische Tätigkeit sich

vom Ende des 8. Jahrhunderts


bis zum Ende des 11. Jahrhunderts erstreckte.
Islands historische Prosa folgte der Poesie der Skalden.
Sein wichtigstes Werk ist die berühmte Geschichte

der norwegischen Könige von Snorri Sturluson,


der 1241 erschlagen wurde,
gewöhnlich nach den einleitenden Worten
„Heimskringla“ (Weltkreis) genannt,
beginnend mit der mythischen Vorgeschichte
und bis ins Jahr 1176 hinabreichend,
ein prächtiges Seitenstück zur älteren Edda,
das in Geist und Form die ganze Wildheit

des altnordischen Wikingerlebens illustriert.


Das didaktische Hauptwerk der isländischen Literatur,
die jüngere Edda, auch Snorra-Edda genannt,
wird ebenfalls Snorri zugeschrieben,

wenn auch zu Recht nur teilweise,


und behandelt in drei Abschnitten
zunächst die Göttermythen,
dann die Regeln der Scalden-Dichtung,

und schließlich mit den isländischen Buchstaben (Runen)


und den Gesetzen der Redekunst.
Aesir war der Name der Götter des germanischen Nordens,
und dieses Wort ist identisch mit dem gotischen Ansen (anses),

das die Jordanier durch Halbgötter (semidei) darstellt.


Das religiöse Weltbild der Germanen in der Edda
ist polytheistisch. Aber dieser Polytheismus
erhob sich weit über den Gemeinschaftsfetischismus;

denn die Aesir-Lehre wurzelte in der Annahme


eines spirituellen Urwesens, Allvaters,
das war, bevor die Welt entstand,
und sein wird, wenn sie längst untergegangen ist.

Dem schöpferischen Wort dieses Urwesens


verdankt alles seine Existenz,
auch die Götter und Menschen.
Die verschiedenen Eigenschaften seines Wesens
näherten sich dem sinnlichen Verständnis der Menschen
in Form von Göttern und Göttinnen.
So entstand der Nordische Olymp (Asgard).
Sein oberster Herrscher ist der weise Odin,

der auf seinem achtfüßigen Wunderpferd Sleipnir reitet,


seinen nie vermissten Speer Gungnir in der Hand.
Um ihn gruppiert sich sein zahlreiches Geschlecht,
der Donnergott Thor, der als kriegerischster Ase,

von der nordischen Sage bevorzugt behandelt,


den Hammer Miöllnir führt;
dann der milde, gerechte Baldur,
der flinke, listige Hermodur,

der singende Bragur oder Bragi,


dann Heimdall, der Wächter der Bifröst-Brücke,
die nach Asgard hinaufführt,
der Wettergott Freir, der disharmonische Forsetti,

der verschwiegene Widar, der mutige Uller,


der bogenkundige Wali,
der windbeherrschende Niördr,
der blinde Hödur und der unerschrockene Tyr.

Odins Frau Frigg hat ihrerseits einen zahlreichen Kreis


von Töchtern, Gefährtinnen und Dienerinnen um sich,
Freia, Iduna, Lofn, Gefion, Saga, Fulla, Siöfn, Eir,
Hlin, Syn, Wara, Snotra, Gna und andere.

Besondere Erwähnung verdienen die Nornen und Walküren.


Die ersteren, Personifikationen der ewigen Notwendigkeit
der Natur, wohnen unter der Lebensesche Yggdrasil;
sie sind drei an der Zahl, Urd, Wardendi und Skuld,
ordnen den Lauf der Dinge
nach unveränderlichen Gesetzen
und geben den Asen Ratschläge.
Es ist die Pflicht der Walküren,

in unsterblicher Schönheit in die Schlacht zu reiten,


die dem Tode geweihten Helden auszuwählen,
die Gefallenen in Odins Halle zu eskortieren
und ihnen dort beim Bankett zu dienen.

Dem Geschlecht der Asen gegenüber


steht das der Riesen, die in Jötunheim wohnen,
und Loki und seine Nachkommen.
Loki ist das böse Prinzip,

der Ahriman der Aesir-Religion.


Er selbst ist ein Ase, aber den anderen völlig ungleich,
denn er ist ein Dämon voller Arglist und Bosheit,
der Vater der Lüge,

der Schöpfer von Laster und Ungerechtigkeit.


Mit der Joth-Jungfrau Angurboda
zeugt er drei Ungeheuer,
die erdumhüllende Schlange Jormungandr (Mitgard-Schlange),

den Wolf Fenris und die verworfene Todesgöttin Hel,


die über Helheim regiert,
die traurige Behausung der Geister derer,
die nicht gestorben sind den Krieger-Tod.

Es ist sehr seltsam, dass Loki immer


in Gesellschaft der Aesir erscheint,
da er ihnen allerlei Leid zufügt.
Unter den untergeordneten Genien und Dämonen
der nordischen Mythologie spielen
die Zwerge und Elfen eine wichtige Rolle.
Diejenigen, die in Felsen oder unter der Erde leben,
werden als Zauberer gefürchtet und als Künstler geschätzt.

Die Elfen werden in Lichtelfen


und Schwarzelfen unterteilt;
erstere sind lieblich anzusehen,
lieben den Umgang mit Menschen und tun ihnen gutes,

letztere sind unförmig


und von verräterischer, schelmischer Natur.
Der Gang der nordischen Kosmogonie
und der Göttergeschichte ist folgender.

Bevor es Himmel, Erde und Meer gab,


gab es drei Dinge: Hitze, Kälte und Wasser,
über deren Ursprung wir
völlig im Dunkeln gelassen werden.

Im Süden lag die heiße, helle Welt Muspelheim


mit ihrem Grenzwächter Surtur,
im Norden die kalte Welt Niflheim,
über deren Herkunft wir ebenfalls nicht informiert sind.

Zwischen den beiden tat sich ein riesiger Abgrund auf.


Dieser ist gefüllt mit dem Eis,
das zwölf aus Niflheim kommende Flüsse
darin abgelagert haben.

In diesem Raum treffen sich


die Feuerstrahlen von Muspelheim
und der Rauhreif von Niflheim.
LetztereR schmilzt,
und aus den fallenden Tropfen
werden der Riese Ymir
und seine Ernährerin, die Kuh Audhumla, geboren,
aus deren Euter vier Milchströme fließen.

Einmal, als Ymir schlief, fing er an zu schwitzen,


und ein Mann und eine Frau wuchsen
unter seinem linken Arm, und sein einer Fuß
zeugte mit dem anderen einen Sohn.

Daraus entstand das Geschlecht der Riesen,


auch Frostriesen genannt.
Die Kuh Audhumla ernährte sich,
indem sie die Eisblöcke leckte, die salzig waren,

und am ersten Tag, als sie die Steine leckte,


kamen abends menschliche Haare heraus,
am nächsten Tag ein Männerkopf,
am dritten Tag war es ein ganzer Mann,

und sein Name war Buri.


Er hatte einen Sohn, wie, wird nicht gesagt, der Bör hieß.
Bör heiratete das Riesenmädchen Bestla
und zeugte mit seiner Frau drei Söhne

Odin, Wili und We.


Odin und seine Frau Frigg
sind die Vorfahren der Aesir-Familie.
Börs Söhne töteten den Riesen Ymir,

aus dessen Wunden so viel Blut lief,


dass die ganze Familie der Frostriesen darin ertrank,
bis auf einen namens Bergelmir,
der sich mit seiner Frau auf einem Boot rettete
und aus dem später die neue Riesenfamilie entstand -
ein besonders nordisches Design der Sintflut-Saga.
Aus Ymirs Leichnam formten Börs Söhne die Welt.
Aus seinem Blut schufen sie das Meer und alle anderen Gewässer,

aus seinem Fleisch die Erde,


aus seinen Knochen die Berge,
aus seinem Kiefer und seinen Zähnen die Steine,
aus seinem Haar die Bäume,

aus seinem Gehirn die Wolken,


schließlich aus seinem Schädel die Himmelsgewölbe
mit seinen vier Ecken;
Unter jeder Ecke platzierten sie einen Zwerg als Stütze,

und diese Zwerge nannten sie Austri (Osten),


Westri (Westen), Nordri (Norden), Sudri (Süden).
Die Welt war immer noch leer
von Licht und Dunkelheit.

Dann nahmen Börs Söhne die Feuerfunken,


die von Muspelheim herumflogen,
und setzten sie in den Himmel,
um den Himmel und die Erde zu erleuchten

und die Einteilung von Jahr und Tag


nach ihrem festen Lauf zu bestimmen.
Auf der kreisförmigen Erde,
die von der Tiefsee der Welt umgeben ist,

befestigten sie das innere Land


mit einem Damm aus Ymirs Augenbrauen
und nannten es Mitgard.
Aber als sie einmal am Ufer des Sees spazieren gingen,
fanden sie zwei Bäume,
und aus diesen schufen sie das erste Menschenpaar,
Odin, der Geist und Leben gab,
Wili, Verstand und Bewegung, We Sprache, Gehör und Gesicht.

Sie nannten den Mann Ask (Esche),


die Frau Embla (Ulme).
Von diesen stammte die menschliche Rasse ab,
der Mitgard als Wohnort gegeben wurde.

Für sich selbst errichteten die Asen jedoch


mitten in der Welt das Schloss Asgard,
das durch die Bifröst-Brücke (den Regenbogen)
mit der Erde verbunden ist.

Der Hof dieser Götterburg wird Ida-Feld genannt,


wo sich die Asen versammeln,
um sich zu beraten und um zu essen.
Hier wurden zwölf Stühle aufgestellt und ein Hochsitz für Odin.

Das Schloss, das diese Sitze umgab, hieß Gladsheim


und war außen wie innen aus purem Gold.
Daneben war eine andere Halle namens Wingolf,
die die Wohnung der Asen war.

Die Asgarden ließen Asgard


mit kostbaren Haushaltsgegenständen dekorieren,
und zwar mit Hilfe der Zweige,
die sie aus den Maden in Ymirs Fleisch machten.

Es gab auch eine Halle namens Valhalla


(die Halle der Erschlagenen).
Darin saßen die Einherianer,
also die gefallenen Helden,
und labten sich an Met der Götter,
serviert von Walküren.
Jeder Mann, der im Kampf
oder an in dieser Welt erlittenen Wunden starb,

trat in die Freuden Walhallas ein,


weshalb die nordischen Krieger lachend starben
und viele alte Männer, als sie ihr Ende nahen fühlten,
die Rune des Todes schnitzten,

sich verwunden ließen mit der Spitze einer Lanze,


um nicht zur dunklen Hel hinabsteigen zu müssen.
In Jötunheim lebte ein Riese,
der Narfi (dunkel) hieß

und eine Tochter hatte, die Nott (Nacht) hieß.


Von ihrem ersten Ehemann Naglfari
hatte sie einen Sohn, Audr (Stoff),
von ihrem zweiten Ehemann Annar

eine Tochter, Jörd (Erde),


von ihrem dritten Ehemann Delingr,
der aus der Familie der Aesir stammte,
wiederum einen Sohn, Dagr (Tag), der licht und schön war.

Dann nahm der Allmächtige die Nacht


und ihren Sohn, den Tag,
und gab ihnen zwei Pferde und zwei Streitwagen
und setzte sie in den Himmel,

damit sie zweimal zwölf Stunden um die Erde kreisten.


Die Nacht treibt voran mit ihrem Pferd,
das Hrimfaxi (mit der reifen Mähne) heißt
und jeden Morgen die Erde mit dem Schaum ihrer Zähne betaut.
Der Tag folgt ihr mit seinem Ross Skinfaxi (Lichtmähne),
das Luft und Erde mit dem Glanz seiner Mähne erleuchtet.
Außerdem hatte ein Mann namens Mundilföri
zwei reizende und schöne Kinder,

und er nannte den Sohn Mani (Mond)


und die Tochter Sol (Sonne).
Aber ihr Stolz verärgerte die Asen,
und sie nahmen die Geschwister

und setzten sie in den Himmel


und riefen Mani, um den Lauf des Mondes zu führen,
und Sol, um die Hengste zu führen,
die den Sonnenwagen zogen,

den die Asen aus den Feuerfunken


von Muspelheim geschaffen hatten.
Aber Sonne und Mond bewegen sich so schnell,
weil sie ständig von zwei riesigen Wölfen gejagt werden,

Sköll und Managarm (Mondhund),


Kinder einer riesigen Frau.
Lange Zeit lebten die Asen glücklich und sorglos
in einem goldenen Zeitalter,

nachdem sie die gefährlichen Kinder von Loki


vorerst unschädlich gemacht hatten,
indem sie Hel die Herrschaft
über das Totenreich überließen,

indem sie die Mitgardschlange


in das Weltmeer stürzten
und indem sie den Wolf Fenris
mit einem Band banden,
das von den Schwarzen Elfen
aus den Schnurrhaaren einer Jungfrau
und aus dem Geräusch der Katzenschritte gewebt wurde
(im Spiel der Unmöglichkeiten

stimmt die altnordische Poesie signifikant


mit der altindischen überein).
Aber ihr schlimmster Feind, Loki, war nicht untätig.
Der Mythos von den drei riesigen Mädchen,

die nach Asgard kamen und den Asen


die wunderbaren Goldtafeln wegnahmen,
auf denen schicksalhafte Runen (Sprüche)
der ältesten Weisheit geschrieben standen,

kann durchaus als Hinweis


auf die Nornen interpretiert werden,
die das Schicksal bestimmten der Götter.
Dies verdunkelte sich allmählich,

aber besonders schnell,


nachdem Lokis Verrat den Tod
des rechtschaffenen Baldur herbeigeführt hatte.
Dafür und für andere Dinge rächten sich die Götter,

indem sie den verräterischen Loki


auf einem Felsen festschmiedeten,
so dass eine über ihm hängende Giftschlange
ständig ihr Gift in sein Gesicht tropfte.

Hier begegnen wir einem der wenigen sanften,


einem der schönsten Merkmale der nordischen Mythologie.
Lokis Frau Sigyn bleibt ihrem Entführer unerschütterlich treu
und wehrt mit rührender Liebe
mit einer darunter gehaltenen Schale
das tropfende Viperngift vom Gesicht ihres Mannes ab.
Wenn die Schüssel voll ist, gießt Sigyn sie aus;
derweil aber tropft das ätzende Gift in Lokis Gesicht,

gegen das er in seinen Fesseln so heftig ankämpft,


dass die ganze Erde erbebt,
und das nennen die Menschen ein Erdbeben.
Erst zur Zeit der Götterdämmerung wird er wieder frei.

Das ist das Ende der Welt.


Unheimliche Omen kündigen das große Ereignis an.
Brüder befehden sich, wie es in der Völuspa heißt,
und hauen sich nieder,

Brüder und Schwestern sehen den Clan zerbrochen:


Unerhörtes geschieht, großer Ehebruch;
Beilalter, Schwertzeit, wo Schilde klaffen,
Windzeitalter, Wolfszeitalter, bevor die Welt zerstört wird.

Der Jüngste Tag der nordischen Religion selbst


wird so von der jüngeren Edda
sehr anschaulich beschrieben. Dort wird geschehen,
was die schrecklichste Zeitung denken wird:

dass der Wolf die Sonne verschlingt,


zu großem Unheil für die Menschen.
Der andere Wolf wird den Mond ergreifen,
und die Sterne werden vom Himmel fallen.

Und es wird geschehen, dass die Erde erbeben wird


und alle Berge
und die Bäume entwurzelt werden
und die Berge einstürzen
und alle Ketten und Fesseln zerrissen werden.
Dann wird der Fenriswolf losgelassen
und das Meer das Land überschwemmen,
weil die Mitgard-Schlange wieder Mut fasst

und das Land aufsucht. Der Fenris-Wolf


geht mit aufgerissenem Rachen umher,
so dass sein Oberkiefer den Himmel berührt,
sein Unterkiefer die Erde.

Feuer glüht aus seinen Augen und seiner Nase.


Die Mitgard-Schlange spuckt das Gift aus
und entflammt Luft und Meer:
entsetzlich ist ihr Anblick, wie sie dem Wolf zur Seite kämpft.

Der Himmel zerbricht mit diesem Lärm.


Da kommen Muspelheims Söhne angeritten,
Surtur an ihrer Spitze,
vor ihm und hinter ihm glühendes Feuer.

Wie sie über die Brücke von Bifröst reiten,


zerbricht sie, Muspels Söhnen
gehen in die Ebene namens Wigrid.
Dort werden der Fenriswolf

und die Mitgardschlange kommen,


und Loki wird auch dort sein,
und mit ihm alle Frostriesen
und das ganze Gefolge von Hel.

Und wenn diese Dinge geschehen,


erhebt sich Heimdall und bläst das Giallar-Horn
mit all seiner Kraft
und ruft alle Götter zum Kampf.
Odin zuerst, die Asen und Einherianer
eilen in den Wald.
Odin geht dem Fenris-Wolf entgegen,
und Thor schreitet an seiner Seite,

kann ihm aber keine große Hilfe sein,


denn er hat alle Hände voll zu tun,
die Mitgard-Schlange zu bekämpfen.
Freir kämpft gegen Surtur,

und sie kämpfen in einer harten Begegnung,


bis Freir erliegt.
Inzwischen ist auch Garm, der Hund, freigelassen worden;
er kämpft mit Tyr, und einer bringt den anderen zu Fall.

Thor gelingt es, die Mitgard-Schlange zu töten,


aber kaum hat er sich neun Schritte entfernt,
stürzt er durch das Gift, das der Wurm auf ihn spuckt,
tot zu Boden.

Der Fenriswolf verschlingt Odin,


und dies wird sein Tod.
Sofort greift Widar den Wolf an,
stellt seinen Fuß in seinen Unterkiefer,

packt seinen Oberkiefer mit seiner Hand


und reißt ihm die Kehle entzwei,
und das ist der Tod des Wolfs.
Loki kämpft mit Heimdall und einer tötet den anderen.

Dann schleudert Surtur Feuer über die Erde


und verbrennt die ganze Welt.
Aber nicht mit solch haarsträubendem Schrecken
endet die nordische Lehre.
Die Flammen der Weltverbrennung haben gewütet.
In verjüngter Schönheit, in grünstem Schmuck
erhebt sich die Erde wieder
aus den Gezeiten des Ozeans,

und Getreide wächst darauf ungesät.


Die Asen tauchen aus ihrer Zerstörung auf,
kommen nach Asgard
und finden dort die goldene Rune.

Auch die menschliche Rasse


war nicht vollständig untergegangen,
ein Menschenpaar, Lif (Leben)
und Lifthrasir (Lebenskraft),

hatte sich vor Surturs Flammen


in den Hoddmimir-Wald geflüchtet
und sich vom Morgentau ernährt.
Aus diesen beiden entsteht ein so großes Geschlecht,

dass es die ganze Erde bewohnen wird.


Die Seelen der Menschen,
die beim Verbrennen der Welt umgekommen sind,
wohnen in Nastrand (Leichenstrand),

wo die Bösen leiden,


und in Gimil (Himmel),
wo die Guten endlose Glückseligkeit genießen.
So finden wir auch im germanischen Glauben

die Lehre von der endgültigen Wiederherstellung aller Dinge,


wobei zu beachten ist, dass hier christliche Einflüsse
sehr aktiv gewesen sein können.
Immerhin trägt die Lehre von der Bestrafung
der Bösen in der Hölle
und der Belohnung der Guten im Himmel
einen christlichen Stempel,
obwohl der Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode

der ursprünglichen Aesir-Religion inhärent war.


Wir müssen uns den Kult der altgermanischen Religion
sehr einfach vorstellen.
Germanische Innerlichkeit rückte ihre Kultstätten

in den Schatten der Wälder


und verlieh ihrem Ausdruck gerne
ein geheimnisvolles Flair,
wie besonders der Gottesdienst der Hertha auf Rügen
(oder Helgoland oder Seeland) anzeigt.

Was uns Tacitus darüber erzählt, zeigt übrigens,


dass der religiöse Glaube unserer Vorfahren
einen beruhigenden, beruhigenden Einfluss
auf ihre trotzigen Gemüter hatte.

Im 40. Kapitel seiner Germania


berichtet der Römer über den Dienst von Hertha,
der Mutter Erde, von der ihre Gläubigen glaubten,
dass sie die Menschen von Zeit zu Zeit besuchte:

Auf einer Insel des Ozeans ist ein heiliger Hain


und darin der geweihten Wagen,
bedeckt mit einem Tuch.
Nur der Priester darf ihn berühren.

Er bemerkt auch, wenn die Göttin


im Heiligtum anwesend ist.
Dann spannt er Färsen an ihren Wagen
und begleitet die Göttin auf ihrer Reise mit größter Ehrfurcht.
Dies ist dann eine Zeit des Feierns für das ganze Land,
das die Göttin für ihren Besuch ehrt.
Kein Krieg wird begonnen,
Verteidigung und Waffen feiern,

Frieden und Ruhe herrschen,


bis der Priester die Göttin,
die genug vom sterblichen Verkehr hat,
zurückgebracht hat zu ihrem Heiligtum.

Dann werden der Wagen, das Abdecktuch und,


wenn man es glauben kann, die Göttin selbst
in dem einsamen Teich gewaschen.
Die Sklaven, die diese Arbeit tun,

werden bald von demselben See verschluckt.


Deshalb geheimes Entsetzen
und Heilige Dunkelheit über das Wesen,
das nur die dem Tode Geweihten erblicken dürfen.

Die bildhauerische Unerfahrenheit der Germanen


verbot ihnen, der bildlichen Darstellung
ihrer Götter große Bedeutung beizumessen;
völlig ausgeschlossen war eine solche Darstellung nicht.

Das beweist insbesondere das berühmte


altsächsische Nationalheiligtum, die Irminsäule,
die Karl der Große zerstörte.
Sie zeigte einen bewaffneten Mann,

der in der rechten Hand eine Fahne


und in der linken eine Waage
als Symbol für das Kriegsglück hielt.
Vielleicht war es ein Bild von Tyr.
Die Eiche wurde Donar
als Symbol der Stärke gewidmet.
Heilige Orte waren nicht nur Haine,
sondern auch Quellen, Wasserfälle und Berggipfel.

Neben dem Gebet gehörten auch Gesang


und Tanz zum Gottesdienst,
wie es alte Volksbräuche suggerieren,
ebenso wie festliche Prozessionen,

um den Wechsel der Jahreszeiten zu feiern.


Das fröhlichste Fest dieser Art war der Frühlingsanfang.
Der wichtigste Teil des Gottesdienstes aber war das Opfer,
denn die Idee, die Götter durch Opfergaben zu versöhnen,

ihre Hilfe gleichsam zu erkaufen und ihnen zu danken,


die in allen Religionen
in den unterschiedlichsten Formen wiederkehrte,
war auch in der germanischen Religion präsent.

Unsere Vorfahren opferten ihren Göttern Früchte,


Tiere und – das lässt sich nicht verheimlichen – Menschen.
Die Geaten, in denen wir nach Grimm
die nächsten Vorfahren

der germanischen Stämme erkennen können,


pflegten alle fünf Jahre einen Boten
zu ihrem Gott Zamolxis zu schicken,
ihn also dem Gott zu opfern.

Hände und Füße des Opfers wurden gefesselt,


er wurde in die Luft geschleudert
und im Sturz von drei Lanzen aufgefangen.
Ein eigentümlicher Menschenopferdienst,
verbunden mit Orakelsammlung,
wurde von den Kimbrianern
während einer Invasion in Oberitalien praktiziert.
Sie hatten Priesterinnen,

grau vor Alter, barfuß, in weiße Gewänder gekleidet,


mit ehernen Gürteln umgürtet,
bloße Schwerter in den Händen.
So trafen sie die gefangenen Römer im Lager,

bekränzten sie und führten sie


zu einem großen ehernen Kessel.
Hier schnitt die Hohepriesterin den Opfern,
die über den Kesselrand erhoben worden waren,

die Kehle durch und sie prophezeiten aus dem Blut,


das in den Kessel floss.
Die Sachsen opferten Wotan ihren zehnten Mann,
bevor sie sich auf ein gefährliches Unterfangen begaben,

und die Cattaner schworen, alle gefangenen Männer und Pferde


in ihrem Krieg gegen die Hermunduri zu opfern,
denn letztere galten als Opfergaben,
die der Gottheit besonders gefielen.

Die skandinavischen Germanen hielten länger


am Menschenopferkult fest als die Deutschen.
Snorri in der Ynglingasage berichtet:
Domalldi übernahm das Erbe

nach seinem Vater Wisbur


und regierte die Länder.
In seinen Tagen gab es großen Hunger
und viel Elend in Schweden.
Die Schweden brachten große Opfer in Uppsala;
im ersten Herbst opferten sie Ochsen
und verbesserten den Verlauf der Fruchtbarkeit doch nicht.
Aber im zweiten Herbst opferten sie Menschen,

aber die Fruchtbarkeit war gleich oder schlechter.


Aber im dritten Herbst kamen die Schweden
mit vielen Männern nach Uppsala,
als die Opfer gebracht werden sollten.

Da hatten die Häuptlinge ihre Beratungen getroffen


und vereinbart, dass die unfruchtbare Zeit
vor König Domalldi stehen sollte
und dass sie ihn selbst opfern

und ihn gefangen nehmen und töten


und die Altäre röten sollten der Götter
mit seinem Blut;
und so taten sie es.

Die Schweden gaben Odin


ihren König Olaf Treteliga
und opferten ihn für den Reichtum
an Früchten für sich selbst.

Die drei Hauptopferzeiten im germanischen Gottesdienst


fielen ziemlich genau mit unseren Martini,
Weihnachten und Walpurgis zusammen.
Zum Opferdienst gehörte wohl auch

das Entzünden von Feuern


auf den Bergen und Hügeln.
Aus dem Wiehern der Pferde,
dem Flug und Geschrei der Vögel
wurden verschiedene Prophezeiungen
und Warnungen abgeleitet.
So auch vom Rauschen, Branden
und Strudeln fließender Gewässer.

Als der germanische Heerführer Ariovist


Caesar in Gallien gegenüberstand,
sagten ihm die Alrunen oder Seher,
die mit ihm über den Rhein gereist waren,

dass sie das Fließen und Rauschen


der Bäche und Flüsse beobachtet
und an ihnen gesehen hätten,
dass das deutsche Heer kommen würde ohne Sieg,

wenn es vor dem Neumond in die Schlacht zog.


Eine andere Art des Orakelsammelns
war das Zeichnen oder Lesen von Runen.
Das hier beobachtete Verfahren beweist auch

die Existenz einer Schrift im alten Deutschland.


Bestimmte Zeichen wurden in die gebrochenen Zweige
eines fruchttragenden Baumes geschnitzt oder geschnitten,
von dem angenommen wird,

dass er hauptsächlich die Buche war.


Dann wurden diese Zweige oder Stöcke
(daher Buchstaben) zufällig auf dem Boden verstreut,
wieder gelesen (daher unser Wort lesen)

und ihre Bedeutung gemäß diesen Zeichen interpretiert,


entweder indem ein Wort daraus zusammengesetzt wurde,
während die Buchstaben nach und nach ausgewählt wurden,
oder indem man jedem einzelnen Buchstaben
einen Bezug zum jeweiligen Objekt gibt.
Diese urgermanische Buchstabenschrift
war nicht allgemein bekannt,
weshalb ihr der Name Runenschrift
(von runa, Geheimnis) gegeben wurde.

Bis weit ins Mittelalter hinein wurden


vor allem in Skandinavien
Runen in Holz geschnitten
und in Steine geschnitzt.

Von einer geschlossenen Priesterschaft


ist im alten Germanien kaum auszugehen.
Jeder Freie war Priester seines Hauses,
jeder Älteste Priester seiner Gemeinde.

Da Frauen jedoch nach dem Glauben unserer Vorfahren


etwas Heiliges an sich hatten,
wurden Frauen bevorzugt
mit priesterlichen Aufgaben betraut.

Einer der Hauptaspekte eines solchen Dienstes


war die Untersuchung des Schicksals
und der Weissagung.
Besonders qualifizierte Frauen genossen

ein hohes Ansehen.


Die Grundlage dieses Rufs war zweifellos
die Lehre der Nornen.
Die allmähliche Übertragung ihrer Eigenschaften

auf die Prophetinnen ist deutlich nachweisbar.


Sobald ein Volk aus der Verwilderung
in den Kreis der Kultur tritt, beginnt es auch,
poetische Äußerungen seines Gefühlslebens erklingen zu lassen.

Solche Äußerungen sind vorzugsweise


mit den Taten der Vorfahren verbunden,
und sie sind überwiegend episch,
weil dem Material kindliche Naivität anhaftet.

Ein tiefer poetischer Hauch


durchzieht die gesamte germanische Kultur
und ist unser Garant dafür, dass in unserem Land
seit jeher der göttliche Funke der Poesie glüht.

Zu welcher Kühnheit und Kraft die Einbildungskraft,


die Grundvoraussetzung aller Poesie,
bei unseren Vorfahren aufstieg,
bezeugt die germanische Götterlehre,

an deren mythischem Material dichterische Tätigkeit


am frühesten geübt worden sein mag.
Mythischen Inhalt hatten auch die alten Lieder
von Tuisto und seinem Sohn Mannus,

den legendären Stammvätern unseres Volkes.


Tacitus nennt diese Lieder die einzigen
historischen Denkmäler des alten Germaniens,
und tatsächlich trat das epische Volkslied

an die Stelle der Geschichtsschreibung.


Es gab noch keine Prosa.
Die späteren Lieder über die Taten des Befreiers Armin,
die noch Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung

unter den Germanenstämmen erklangen,


hatten zweifellos mehr historischen Inhalt
als die oben erwähnten Lieder.
Lied ertönte bei den Festen unserer Vorfahren,

mit Lied zogen sie in die Schlacht.


Sie versuchten, den Ausgang der Schlacht
aus dem schwächeren oder volleren Klang
des Schlachtgesangs zu erraten,

weshalb sie die Mulde des Schildes vor den Mund hielten,
um den Klang dröhnender zu machen.
Daraus erhielt das Kriegslied den Namen Bardit
(Schildlied, vom altnordischen Wort Bardhi, Schild).

Der hieraus von germanischen Eiferern gezogene Schluss,


es habe im alten Deutschland eine eigene Zunft
von Dichtern und Sängern, den Barden, gegeben,
muss als völlig unbegründet

und auf einer Verwechslung germanischer


und keltisch-gallischer Verhältnisse beruhend
zurückgewiesen werden. Was die Form
der alten Sagen- und Kriegslieder anbelangt,

zu denen sich möglicherweise Spott-, Schmäh-


und Rätsellieder gesellt haben,
so ist mit größter Wahrscheinlichkeit davon auszugehen,
dass sie auf dem Gesetz der Alliteration beruhten,

dass es die Stabreime waren, die wir überall


in den Überresten unserer ältesten Gedichte finden.
Gut möglich, dass unsere älteste vorchristliche Dichtung
zwei der wichtigsten germanischen Sagen besser kannte,

die Sage vom Drachentöter Siegfried


und die Sage vom Wolf Isengrimm und dem Fuchs Reineke.
Zumindest reichen die Wurzeln dieser Legenden
weit in die germanische Vorgeschichte zurück,

was auf den spezifisch mythisch-heidnischen Charakter


der ersteren und die naiv-waldliche
Ursprünglichkeit der letzteren hindeutet.
Die Behandlung beider dürfte begonnen haben,

als sich unsere Sprache von den gemeinsamen


sprachlichen Wurzeln Sanskrit und Zend,
Keltisch, Hellenisch-Italisch
und Slawisch abspaltete.

Von der altdeutschen Freiheit ist viel gesagt


und gesungen worden.
Unverzeihliche Ignoranz
und verzeihlicher Enthusiasmus

haben gleichermaßen daran gearbeitet,


den Staatshaushalt unserer Vorfahren
mit einem Glanz der Freiheit zu schmücken,
dessen phantastischer Glanz

dem Licht unvoreingenommener Forschung


nicht standhalten konnte.
Zwar war in der altgermanischen Freiheit
die Ankündigung einer zweiten Jugend Europas

angesichts der Fäulnis der römischen Welt;


aber ebenso wahr ist, dass in den alten deutschen Wäldern
von Freiheit im heutigen Sinne,
von der Ausdehnung der Menschenrechte

über alle Klassen der Nation,


überhaupt keine Rede war.
Es gab freie Menschen, ja,
aber es gab noch viel mehr, die nicht frei waren.

Die ganze Nation war in erster Linie


in zwei große Klassen geteilt,
die Freien oder Privilegierten
und die Unfreien oder Gesetzlosen.

Letztere waren den ersteren zahlenmäßig weit überlegen:


Zu allen Zeiten brauchte ein Herr,
gerade um den Herrn spielen zu können,
viele Diener.

Später wurden der Stand der Freien


und der Stand der Unfreien
jeweils in zwei Untertypen unterteilt,
nämlich die ersten in edle Freie (Edelinge)

und in Gemeinfreie,
die zweiten in Leibeigene
und in tatsächliche Sklaven.
Die Sklaven, eine ursprünglich aus Kriegsgefangenen

gebildete Klasse,
werden in den alten Rechtsnormen explizit
den Tieren gleichgestellt.
Der deutsche Sklave war ein Ding, eine Ware, ein Tauschmittel;

der Herr konnte ihn ungestraft misshandeln,


verwunden und töten,
denn nach altgermanischer Rechtsordnung
waren nur die Freien gesetzlich geschützt.

Die Leibeigenen unterschieden sich


von den Sklaven dadurch,
dass sie von den Herrn Land zum Bauen und Verwenden
gegen bestimmte Dienste und Abgaben erhielten

und dass sie nur gleichzeitig mit dem Land,


auf dem sie saßen, verkauft werden konnten.
Das sich später entwickelnde Feudalsystem
basierte auf der wirtschaftlichen Beziehung

zwischen den Sklaven und den Grundbesitzern.


Der Knecht war jedoch besser gestellt
als der eigentliche Sklave,
zumal er die Möglichkeit hatte,

sich aus der Knechtschaft freizukaufen,


wobei zu beachten ist, dass die Nachkommen
eines befreiten Leibeigenen erst in der dritten Generation
alle Rechte der Freien genossen.

Solange er ein Sklave war, hatte er kein Recht,


zu klagen oder vor Gericht zu erscheinen,
sondern musste sich von einem Freien vertreten lassen.
Die ganze Brutalität des Verfahrens gegen Ehrenbürger

offenbart sich schon in dem Rechtsgrundsatz,


dass einem Diener, der seinen Herrn
eines Verbrechens bezichtigte, nicht zu glauben sei.
Je größer die Gesetzlosigkeit der Unfreien,

desto größer die Privilegien der Freien.


Nur sie hatten das Recht, Waffen zu tragen,
nur sie hatten Sitz und Stimme in der Volksversammlung,
nur sie konnten Ankläger, Zeugen und Richter sein,

nur sie konnten das Priestertum tragen.


So lagen Kult, Gesetzgebung, Staatsgewalt
und das Richteramt ausschließlich in ihrer Hand.
Von einem demokratischen Zug,

der unsere Urzeit durchdrungen hätte,


kann demnach nur gesprochen werden,
wenn man den Begriff „Volk“
auf eine Minderheit von Privilegierten,

auf die Herren, die Barone, beschränkt.


Für die einfachen Menschen jedoch bestand die Freiheit
des alten Deutschland aus harter Arbeit und Entbehrungen,
hohen Steuern, Plackerei und Prügelstrafe.

Ihr Los, das der Leibeigenen und Sklaven,


war ein sehr trauriges.
Sie mussten für ihre untätigen Herren arbeiten
und bei der geringsten Beleidigung

Misshandlungen erleiden.
Ohne Rechte in diesem Leben hatten sie keine Aussicht
auf ein Leben im Jenseits:
Nur die Freien wurden in Wotans Walhalla zugelassen.

In der frühesten Vorgeschichte bildeten nur die Adligen,


die im Besitz eines nach den Rechten
des Erstgeborenen vererbbaren Grundbesitzes waren,
die privilegierte Klasse.

Grundbesitz und Adel waren also


ursprünglich ein und dasselbe.
Deshalb wird das Wort Adel selbst
auf Odal (Eigentum) zurückgeführt,

wobei anzumerken ist, dass die Herleitung umstritten ist,


da an anderer Stelle behauptet wird,
Adel bedeute ursprünglich Geschlecht (Gattung),
mit dem Zweitrangigen Bedeutung von Noblen,

denn im Mittelalter wurden die adeligen Bürger


auch "Geschlechter" genannt.
Aus den befreiten Knechten entwickelte sich allmählich
der Status der gemeinen Freien.

Später ging aus den Adligen der Hochadel


und aus den einfachen Freien der Niederadel hervor,
während die Gefolgsleute, die sich
um einzelne berühmte Kriegshelden versammelten,

die Kinderstube des Waffenadels waren,


der durch die Völkerwanderung an Bedeutung gewann.
Der Eigentümer des Grundbesitzes hatte Anspruch
auf die Würde und Herrschaft seiner Familie;

seine männlichen und weiblichen Verwandten


schuldeten ihm Gehorsam (standen unter seinem Bann).
Mehrere Grundbesitzer in freier Assoziation
bildeten eine Mark oder Gemeinde.

Gemeinsame Interessen vereinten mehrere Gemeinden


zu einem Gau, dessen öffentliche Angelegenheiten
in der Versammlung der Freien
unter freiem Himmel beraten und entschieden wurden.

In solchen Versammlungen wurden Männer,


die sich durch ihren Besitz, ihren Mut
und ihren Ruhm als Krieger auszeichneten,
zu Herzögen gewählt,

die als Anführer vor der Armee


der Besitzer und ihres Gefolges marschierten,
daher der Name; ferner die Priester
und die Gaurichter (Grafen).

Diese Beamten waren der Ursprung


der auf Gewohnheitsrecht basierenden Gesetze,
die wohl hier und da auch mittels
Runenschrift propagiert wurden.

Fassen wir das Gesagte zusammen,


so können die lockeren, informellen Staatsverbände
Altdeutschlands mit Recht als Adelsrepubliken,
aristokratische Freistaaten bezeichnet werden.

Das germanische Rechtssystem


blieb von der frühesten bis zum Ende
der karolingischen Zeit
im Wesentlichen gleich.

Dass nur Freie Ankläger, Zeugen und Richter sein konnten,


wurde bereits erwähnt.
Die Gerichtsstätten lagen unter freiem Himmel
in der Nähe heiliger Bäume und Quellen,

was bereits darauf hindeutet,


dass die Beilegung von Rechtsstreitigkeiten
in heidnischer Zeit von religiösen Bräuchen begleitet war
und die Priesterschaft ihren Anteil

an der Verwaltung der Gerechtigkeit hatten.


Zuerst waren die Priester selbst Richter,
später wurden die Richter von den Freien
aus ihrer Mitte gewählt, und der Graf leitete das Gericht.

Das Verfahren war öffentlich vor dem versammelten Volk,


vor dem rechtsfähigen Teil des Volkes,
woraus folgt, dass die Urteile auf der Grundlage
der öffentlichen Meinung beruhten.

Nach dem alten Rechtsgrundsatz:


Wo kein Ankläger ist, ist kein Richter –
war die Verfahrensform
die des Anklageverfahrens.

Das praktikabelste Mittel, um Schuld


oder Unschuld zu beweisen, war der Eid,
der auf den Griff oder die Schneide
des Schwertes geleistet wurde

und diesen oder jenen Gott anrief.


Männer fluchten auch auf ihren Bart,
während Frauen fluchten, indem
sie ihre Hände auf ihre Brüste oder Zöpfe legten.

Der Eid war mit der germanischen Institution


des Eidhelfers verbunden.
In den meisten deutschen Stämmen galt der Grundsatz,
dass der Ankläger nicht die Schuld des Angeklagten,

sondern der Angeklagte seine Unschuld zu beweisen hatte.


Aus diesem Grund musste der Angeklagte
einen Eid schwören, um sich freizusprechen,
aber sein Wort allein reichte nicht aus,

um das Vertrauen der Öffentlichkeit


in ihn wiederherzustellen.
Deshalb musste er sich eine Reihe von Freunden suchen,
die bereit waren, mit einem eigenen Eid zu bestätigen,

dass sie an die Versicherung seiner Unschuld glaubten.


Sie bezeugten nicht den Sachverhalt,
sondern die Glaubwürdigkeit des Angeklagten,
sie halfen ihm bei der Eidesleistung,

daher die Bezeichnung Eidhelfer.


Ihre Anzahl variierte je nach Schwere
des betreffenden Verbrechens;
in den schwersten Fällen stieg sie auf 80.

Wenn der Staatsanwalt jedoch


dem Eid des Angeklagten
und dem seiner Eidleistenden nicht traute,
hatte er immer noch die Möglichkeit,

zu einem gerichtlichen Duell zu greifen,


wie ein göttliches Gericht;
denn in solchen Fällen, dachten unsere Vorfahren,
müsste das Urteil der Gottheit selbst anvertraut werden,

die dem unschuldigen Teil den Sieg geben würde.


Auch der Angeklagte musste sich,
wenn er keine Helfer zur Eidesleistung finden konnte,
durch ein Duell reinigen

oder sich einem anderen Gottesgericht,


nämlich der Wasser- oder Feuerprobe, unterziehen.
Das gebräuchlichste Verfahren
bei dieser Art von Gottesgericht war,

dass der Angeklagte einen Ring


aus kochendem Wasser ziehen musste.
Blieb seine Hand bei diesem Test intakt,
war seine Unschuld bewiesen,

im gegenteiligen Fall galt er jedoch als verurteilt.


Alle angeklagten Freien wurden einem solchen
oder einem ähnlichen göttlichen Gericht unterzogen;
ebenso die Frauen, wenn sie niemanden fanden,

der bereit war, ihre Sache gegen den Ankläger


im Zweikampf zu vertreten.
Auf die Erlangung göttlicher Urteile
werden wir bei unserer Schilderung

der mittelalterlichen Rechtsbräuche zurückkommen


und näher darauf eingehen;
An dieser Stelle nur der Hinweis, dass die einzige Passage
in den germanischen Volksrechtsbüchern,

die das Vorkommen von Rechtsordnungen


zur Zeit des Heidentums bezeugt,
im ältesten Text der „Lex Salica“ vorkommt,
wo der Prozess vom Kessel wird erwähnt.

Es lässt sich jedoch nachweisen,


dass wie bei den alten Indern, so auch bei den meisten
oder allen germanischen Völkern, die Gottesgerichte
bereits in heidnischer Zeit bekannt waren,

obwohl ihre prozessuale Entwicklung


erst mit der Bekehrung unserer Vorfahren
zum Christentum begann.
Einem beschuldigten Ehrenbürger

wurde nur in zwei Fällen jeglicher Schutz entzogen,


nämlich dann, wenn er von der Gesamtgemeinde
auf frischer Tat ertappt wurde
oder wenn die Gesamtgemeinde den Tatbestand

zu seinen Ungunsten ausgesagt hat.


In Kriminalfällen von einiger Bedeutung
lautete das Urteil gegen überstellte Freie
der Tod in verschiedenen Formen

oder zumindest grausame Verstümmelung.


Die Todesstrafe oder Prügelstrafe
konnte über Freie jedoch nur verhängt werden,
wenn sie als direkte Feinde

und Schädiger der Gemeinschaft


durch Ermordung des Feldherrn,
durch Landesverrat und dergleichen handelten.
Alle anderen Verbrechen, Mord nicht ausgenommen,

wurden vom Ehrenbürger lediglich


durch Zahlung einer Sühne gesühnt,
die der Familie des Beleidigten, Verletzten
oder Getöteten zufiel.

Diese Geldbuße, deren Höhe nach der Schwere


des Verbrechens bestimmt
und vom Gericht festgesetzt wurde,
wurde in Geld oder Vieh oder anderem Eigentum gezahlt,

und diese Bestimmung hätte die Tür geöffnet


für die Willkür und Bosheit der Reichen,
wäre da nicht der ziemlich hohe Wert des Geldes gewesen.
Bei den Franken zum Beispiel,

wo der Wert einer Keule einem Schilling entsprach,


musste der Mord an einer wehrlosen Frau
mit 6000 Schilling oder Kühen gesühnt werden,
und in diesem Verhältnis noch geringere Verletzungen

und Beleidigungen, insbesondere solche gegen Frauen,


wurden gesühnt. Wer zum Beispiel einer Frau
auf beleidigend unehrenhafte Weise die Hand streichelte,
musste dafür mit 15 Schilling oder Kühen büßen;

wenn er ihren Oberarm streichelte,


musste er das mit 35 Schilling oder Kühen büßen,
natürlich mit Anzeige und Überweisung;
wagte er es auch nur, ihre Brust zu berühren,

stieg die Strafe auf 45 Schilling oder Kühe.


Hervorzuheben ist noch ein weiterer wichtiger Aspekt
des germanischen Strafrechts,
das sogenannte Faust- oder Fehderecht,

das seine Wurzeln teils im alten Brauch der Blutrache,


teils in der Rechtsauffassung Beziehung hatte
zur Friedensbeziehung unserer Vorfahren.
Wer das Gesetz brach, brach auch den Frieden

mit dem Geschädigten und seiner Sippe.


Der altgermanische Staat überließ es dem Geschädigten,
wenn er nicht vor Gericht Gerechtigkeit suchen wollte,
selbst Wiedergutmachung zu fordern

und auf das Recht der Faust


oder der Fehde zurückzugreifen,
die darin bestand, dass der Geschädigte
mit seinen Clans und Freunden

eine Fehde gegen den Verletzer aufnehmen


und den Bruch des Rechtsfriedens
mit dem Blut des Friedensbrechers sühnen durfte,
wenn er dazu in der Lage war

oder ein rechtzeitiger Vertrag


das Schlimmste nicht verhinderte.
Das Recht auf Fehde war also eine Ergänzung
zum Recht auf Geldwert;

es war auch nicht uneingeschränkt,


denn im Falle bloßer Zivilansprüche
war es nicht erlaubt,
auf Fehde zurückzugreifen.

Der Respekt vor und die Ehrung der Toten


wird überall mit dem Aufstieg der Kultur etabliert.
Es war auch im alten Germanien vorhanden.
In vorgeschichtlicher Zeit scheint die Totenbestattung

die üblichere Form der Bestattung gewesen zu sein,


da sie später nach der Bekehrung unserer Vorfahren
zum Christentum zur ausschließlichen Form wurde.
Zu Beginn der historischen Zeiten scheint das Verbrennen

der Toten der vorherrschende Brauch zu sein.


Das älteste historische Zeugnis gibt Tacitus in der Germania.
Dort erfahren wir, dass die Einäscherung,
wie sie zu unserer Zeit in Deutschland initiiert wurde,

bereits in den alten deutschen Wäldern üblich war.


Der römische Geschichtsschreiber formuliert die Sache
auch so allgemein, dass man seiner Meinung nach
davon ausgehen müsste, dass die Germanen

zu seiner Zeit ihre Toten nicht bestatteten,


sondern alle verbrannten.
Die Kosten konnten damals keine Rolle spielen,
da das Holz kostenlos zur Verfügung stand.

Außerdem vergaß Tacitus nicht zu erwähnen,


dass der Standesunterschied, die kastenartige Ungleichheit,
die das Leben im alten Deutschland prägte,
auch im Tod erhalten blieb.

Für die Verbrennung der Leichen von Adligen


waren spezielle Holzarten reserviert.
Die Germania sagt in ihrer prägnanten Sprache:
Sie machen sich nicht viel Mühe mit den Toten.

Allerdings werden bestimmte Holzarten verwendet,


um die Körper angesehener Männer zu verbrennen.
Kleidung und Schmuck werden nicht
auf den Holzstapel gelegt, sondern die Waffen des Mannes

und manchmal sein Pferd mit ihm.


Ein Grashaufen markiert die Grabstätte der Asche.
Sie wollen nichts wissen von der mühseligen Errichtung
stattlicher Denkmäler,

solche, denken sie, belasten nur die Toten.


Wehklagen und Tränen lassen sie bald vergehen,
aber nicht Kummer und Trauer.

Wehklage ziemt sich für Frauen,


treue Erinnerung für Männer.
Die eigentümlichste Bestattung,
die in der germanischen Welt stattfand,

war zweifellos die Bestattung


des mächtigen Alaric
im umgeleiteten Flussbett des Busento in Kalabrien,
das nach getaner Arbeit wieder aufgefüllt wurde.

Rückblickend stellen wir fest, dass im alten Germanien


nicht jene idealen Bedingungen herrschten,
die germanische Begeisterung sich vorstellte
und anderen vorzustellen versuchte,
sondern dass dort ein gesundes, starkes,
geistig und körperlich gut organisiertes,
moralisch frisches und vitales Volk
einzog zu Bedingungen,

die aus der Barbarei des Waldes


bereits entscheidend herausgearbeitet waren
und die fruchtbarsten Keime
für weitere Entwicklungen trugen.

Wir treten aus dem Schatten


der alten deutschen Wälder,
um uns durch die Wirren der Völkerwanderung
ins Mittelalter zu bewegen.

ZWEITER GESANG
CHRISTENTUM

Wenn wir uns die Geschichte


der römischen Kaiser ansehen,
kommen wir nicht umhin, davon überzeugt zu sein,
dass die Menschheit der Erneuerung bedurfte,

um nicht unwiederbringlich in der Pest zu versinken.


Die antike Gesellschaft, wie sie von Tacitus
in seinem lapidaren Stil dargestellt,
wie von Juvenals satirischem Pinsel

mit feurigen Farben gemalt,


kannte und wollte in ihrer orgiastischen Trunkenheit
nur den Wechsel von Lust und Grausamkeit
und taumelte in bacchantischer Raserei
einer Katastrophe entgegen,
die die alte Welt zerschmettern würde,
mit eiserner Faust in Schutt und Asche legen,
um diese Ruinen als Fundament für eine neue zu nutzen.

Eine gewaltige Revolution stand bevor,


die einerseits durch Gedankenkraft
und andererseits durch rohe Gewalt vollbracht wurde.
Hatte der im Christentum wiedergeborene

orientalische Spiritualismus
den hellenisch-römischen Sensualismus
wie ein Weltuntergang ausgelöscht,
so brach die materielle Macht der nordischen Volksmacht

als historische Götterdämmerung


über die antike Welt herein.
Der christlich verordneten seelischen Fastenkur
half das gesunde Blut der germanischen Jugend

bei der Erneuerung des Gesellschaftskörpers.


Die neue, moderne europäische Gesellschaft
basiert auf der Mischung neuer ideeller
und materieller Elemente,

die während des Übergangs von der Antike


zum Mittelalter stattfand.
Das Christentum lag lange als Traum und Vorahnung
in den Herzen der Menschen.

Die uralte Sehnsucht des Menschengeschlechts


nach der Verschmelzung
des Göttlichen mit dem Menschlichen
war bereits vom religiösen Bewusstsein
der Griechen auf eigene Weise versucht worden,
indem es den Mythos des Gottmenschen Dionysos schuf,
den der olympische Zeus
mit einer erdgeborenen Frau gezeugt,

damit seine Freuden-spendenden Gaben


den Menschen von der traurigen Erde
zu den ätherischen Höhen der Begeisterung
und göttlichen Trunkenheit erheben.

Aber der überwiegend sinnliche Charakter des Hellenismus


ließ die Versöhnung von Geist und Natur,
die dieser tiefgründige Mythos nahelegt,
nicht zustande kommen.

Der mystische Prozess der Menschwerdung Gottes


sollte sich in einem völlig anders organisierten Volk abspielen,
und diese kühne Poesie
sollte zu einer weltgeschichtlichen Macht werden,

wobei nicht vergessen werden darf,


dass griechische Mythologie und Philosophie
hier ebenso einflussreich waren
wie die orientalische Kraft der Abstraktion,

die Judäa seit jeher auszeichnete.


Nur durch diese Macht gelang es
dem großen hebräischen Staatsmann und Patrioten,
sein Volk aus der polytheistischen Zerrissenheit

und gleichzeitig aus dem politischen und sozialen Schmutz


der ägyptischen Sklaverei herauszuziehen.
Der Gott, der von der mosaischen Gesetzgebung
zum Staatsgott und obersten Herrscher Israels ausgerufen wurde,
steht inmitten der bunten, lüsternen alten Götterwelt
wie ein unbegreiflicher und doch allmächtiger,
wie ein unbegreiflicher und doch alles durchdringender
und dominierender Gedanke.

Die ganze jüdische Geschichte ist nur


ein schmerzhafter Kampf,
um dem tyrannischen Joch dieses eifersüchtigen
und grausamen Monotheismus zu entkommen.

Die Vorstellung einer ewig in metaphysische Wolken


gehüllten Gottheit reichte
dem fortschreitenden religiösen Bewusstsein
jedoch nicht lange genug.

Daher die stille und allmähliche Reform des Jahwe-Glaubens,


die seit der babylonischen Gefangenschaft,
wo die Juden die Lehre Zarathustras kennengelernt hatten,
eine Reform war, die prophetisch

in der Andeutung einer großen Verjüngung


der Nation angekündigt wurde,
in der Lehre vom Kommen eines Messias.
Wunderbarerweise fiel die Erfüllung solcher Prophezeiungen

mit einer sehnsuchtsvollen religiösen Stimmung zusammen,


die die Verderbtheit und Erschöpfung der westlichen Welt
in allen edleren Köpfen geweckt und die platonische
und stoische Philosophie genährt hatte.

Als daher der Prophet von Nazareth,


der Apostel der endlich gefundenen
mystischen Gottmenschheit,
die tröstenden Worte sprach:
Kommt her zu mir, all ihr Mühseligen und Beladenen,
und ich werde euch Ruhe geben!
Millionen lauschten der frohen Botschaft,
und vor den dämmernden Strahlen einer Weltreligion

traten alle Nationalgötter geblendet zurück.


Wahrhaft erhaben in ihrer schlichten Größe
steht die christliche Kirche der ersten Zeit,
die nicht nur alle Menschen Brüderlichkeit lehrte,

sondern versuchte sie auch zu praktizieren,


aber sobald es sich von einer leidenden
und kämpfenden Kirche in eine triumphierende,
von einer brüderlichen Gemeinde

in eine priesterliche Domäne verwandelte,


sobald einer der schlimmsten Männer,
die je gelebt haben, Konstantin,
es zum Instrument der Politik machte,

zur Polizeiinstitution, zur Staatsreligion,


war sein Glanz dahin.
Dass es dennoch eine weltbeherrschende Stellung
erlangte und behauptete,

lag an der germanischen Jugendenergie,


die zugleich anschwellen ließ den Gesellschaftskörper
mit frischem Lebenselixier,
und wurde zum eigentlichen Träger des Christentums.

Die innenpolitischen Verhältnisse Deutschlands


hatten sich im Laufe des 3. Jahrhunderts verändert,
als an die Stelle der bösen urzeitlichen Stammeszersplitterung
mehrere große Völkerbünde getreten waren.
Im Norden, vom Rhein bis zur Elbe
und weit hinein nach Schleswig,
war der Sachsenbund mächtig.
Westlich davon hatten sich verwandte Stämme

zum Fränkischen Bund zusammengeschlossen,


der, von den Sachsen gedrängt,
seine Waffen nach Westen trug
und das römische Nordgallien eroberte und verteidigte.

Der Südwesten Deutschlands,


die Oberrheingebiete bis zur Lahn,
gehörte dem Alemannenbund, der seine Grenzen
allmählich bis zum Bodensee ausdehnte.

Im Norden lehnten sich die Sitze der Burgunder an,


im Osten die Sitze der Schwaben.
Der eigentliche Osten Germaniens,
von den Küsten der Ostsee

bis zu den Küsten des Schwarzen Meeres,


wurde von den Goten gehalten,
einem weit verzweigten Verband
verwandter Stämme, unter denen

die Heruler, Rugier, Gepiden und Vandalen


zu nennen sind. Östlich von ihnen,
in Richtung Wolga,
ließen die Alanen ihre Herden weiden.

Die Goten, die im 4. Jahrhundert durch den Dnjepr


in die Ostgoten und die Westgoten geteilt wurden,
können als die herausragendsten
aller historisch bedeutenden deutschen Stämme
dieser Zeit bezeichnet werden,
sowohl in Bezug auf kriegerischen Ruhm
als auch auf erzieherische Fähigkeiten.
Auf Raubzügen, die sie zu Wasser und zu Lande

bis nach Byzanz, Trapezunt, Kleinasien


und Griechenland unternahmen,
ließen sie die Römer die Schärfe
des germanischen Schwertes spüren,

öffneten sich aber gleichzeitig auch


den wohltuenden Einflüssen der Erziehung.
Unter den Westgoten lebte ihr großer Bekehrter und Apostel,
der Bischof Ulfila, der die Bibel ins Gotische übersetzte,

wobei er ein Alphabet verwendete,


dessen Formen sicherlich vom Griechischen,
aber auch von den alten Runen beeinflusst waren.
Die uns vorliegenden Fragmente dieser Bibelübersetzung

sind das älteste schriftliche Denkmal


der germanischen Sprache,
wie auch die mit den gotischen Reichen
in Italien und Spanien ausgestorbene gotische Mundart

die ehrwürdige Mutter des althochdeutschen Idioms ist


und war vom 7. bis zum 11. Jahrhundert
die dominierende Sprache in Deutschland.
Sie gliederte sich in drei Unterdialekte,

das Alemannische oder Schwäbische,


das Bairische und das Fränkische,
und war durch das Übergangselement
des thüringisch-hessischen Dialekts
mit dem Altplattdeutschen
oder Altsächsischen verbunden.
Bei den Goten stand das patriotische Heldenlied
zweifellos in neuer Blüte.
Sie begleiteten die Darbietung ihrer Lieder mit der Harfe.

Sie kannten auch die Flöte und das Horn.


Unter ihnen waren Sänger und Harfenisten
von Beruf und Ansehen.
Dass auch Könige und Helden das Singen

und Harfenspiel praktizierten,


wird vielfach in den ältesten Überlieferungen
unserer Heldendichtung erwähnt.
Vor allem der byzantinische Geschichtsschreiber Procopius

legt bewegende Zeugnisse der Liedkunst


gotischer Fürsten ab. Er erzählt,
dass König Gelimer, der von Pharas in Pappua
gefangen genommen worden,

in seiner Not einen Boten


zum feindlichen Kommandanten schickte,
um ihn um drei Dinge zu bitten:
einen Laib Brot, weil er seit seiner Besteigung dieses Berges

keins mehr gesehen hatte;


einen feuchten Schwamm, um seine entzündeten
Augen zu kühlen; schließlich eine Harfe,
um dazu ein Lied zu singen,

das er über sein jetziges Elend komponiert hatte.


Ein recht deutliches Echo alter gotischer Lieder
ist in der weitgehend legendären Gotischen Chronik zu hören,
die die Ostgoten in lateinischer Sprache verfassten.

Dieses Buch sowie die im 8. Jahrhundert verfasste


lombardische Chronik liefern uns einen Einblick
in die Anfänge der deutschen Geschichte.
Die Völkerwanderungslawine,

die das Römische Reich überziehen sollte,


wurde durch das Nomadenvolk der Hunnen,
die im 4. Jahrhundert aus den Steppen
Zentralasiens hervorbrachen,

die Alanen besiegten, die Ostgoten besiegten,


die Westgoten verdrängten,
zu einem rasanten Lauf gebracht
in die oströmischen Provinzen südlich der Donau

und machten das heutige Ungarn


zum Zentrum eines riesigen Territoriums,
dessen Bewohner (Gepiden, Langobarden)
ihnen tributpflichtig wurden.

Die Westgoten wurden bald den Oströmern feindlich gesinnt,


besiegten ihren Herrscher Valens
in der schrecklichen Schlacht von Adrianopel,
verwüsteten die oströmischen Provinzen

und bedrohten sogar Italien.


In dieser Not bekleidete Gratian,
der damalige Regent des Weströmischen Reiches,
den waffenkundigen Spanier Theodosius

mit der Würde des Augustus über Ostrom,


der den gotischen Krieg mit Waffen
und diplomatischem Geschick beendete
und dann geschickte ausnutzte die mörderische Zwietracht,

die im weströmischen Kaiserhaus wütete,


usurpierte auch den Thron des Abendlandes.
Unter dem Zepter dieses mächtigen Mannes
wurde das gesamte römische Weltreich

zum letzten Mal vereint.


Kraft seines Testaments teilte Theodosius es
bei seinem Tod unter seinen schwachen Söhnen Arcadius,
an den der Orient mit Konstantinopel fiel,

und Honorius, an den der Okzident mit Rom fiel.


Tatsächlich wurde die römische Welt
jedoch bereits von Barbaren regiert,
indem Ost-Rom vom Minister Rufinus, einem Gallier,

und West-Rom vom Minister Stilicho,


einem Vandalen, regiert wurde.
Der Neid des Rufinus auf Stilicho veranlasste
den König der Westgoten, Alarich, dazu,

in die Provinzen des Weströmischen Reiches einzufallen.


Brandschatzend und mordend durchstreiften die Goten
Griechenland, zerstörten und zertrampelten
die Überreste der hellenischen Kultur

und brachen dann in Oberitalien ein.


Allein Stilichos Krieg fügte ihnen
in zwei Schlachten solche Verluste zu,
dass Alarich es für angebracht hielt,

vorerst nach Illyrien zurückzukehren.


Auch dem nach dem Rückzug Alarichs erfolgten
Einfall großer Banden von Burgundern,
Vandalen, Sueben und anderen germanischen Stämmen

in Italien konnte Stilicho


mit dem Sieg bei Fiesole wirkungsvoll entgegentreten.
Radagais, der Herzog der verbündeten germanischen Stämme,
fiel in dieser Schlacht.

Die Trümmer seines Heeres gelangten in römischen Sold


oder warfen sich zusammen mit Alemannen,
Herulern und anderen auf Gallien,
das sie von einem Ende zum anderen mit Verwüstung füllten.

In diesem schrecklichen Waffengewirr


gründeten die Burgunder das Burgunderreich,
das sich, die Westschweiz und Ostgallien umfassend,
vom Mittelmeer bis zu den Vogesen erstreckte

und Worms als Hauptstadt hatte.


Die Vandalen, Sueben und Alanen
drangen von Gallien aus in die Pyrenäenhalbinsel ein
und nahmen den nordwestlichen Teil davon in Besitz,

während die Alanen sich in Portugal (Lusitanien) niederließen


und die Vandalen Südspanien besetzten,
von wo aus sie nach zwanzig Jahren
die Pyrenäen eroberten

und ganz Europa. unter Geiserich


nach Nordafrika übersiedelten
und gründeten dort auf den Ruinen römischer Provinzen
ein großes Vandalenreich.

In der Zwischenzeit hatten höfische Intrigen


West-Rom seines hervorragenden Führers Stilicho beraubt,
und so fand Alarich bei seiner zweiten Invasion
in Italien keinen ebenbürtigen Gegner mehr.

Nun stürmten die Goten die Mauern der antiken Roma,


die so lange die Welt regiert hatte
und später als Sitz der Päpste erneut regieren sollten.
Alarich starb bald darauf in Unteritalien

in der Blüte männlicher Kraft.


Er war ganz der Held,
als den ihn das germanische Heldenlied liebte,
und selbst seine Beerdigung

im abgetragenen und wieder zurückgebrachten Bett


des Busento hat etwas Poetisches.
Alarics Schwager Athaulf führte die Goten
aufgrund eines mit Honorius geschlossenen Vertrages

nach Gallien, wo sie im Süden des Landes


das westgotische Reich
mit der Hauptstadt Toulouse gründeten,
das, als die Vandalen Spanien räumten,

sich allmählich über letzteres Land ausdehnte,


während Südgallien später an die Franken kam.
Nach dem Ende der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts
erhoben sich die Hunnen, die wir in Ungarn zurückgelassen,

zu einer neuen verheerenden Völkerwanderung,


Attila, in der deutschen Sage Etzel,
Gottes Geißel genannt,
war der Anführer ihrer Horden,

deren Zahl sich auf mehr als eine halbe Million Krieger belief.
Durch Österreich und Bayern rheinaufwärts
zerstörte Attila das burgundische Königshaus in Worms,
brach in Gallien ein und verwüstete das ganze Land

bis zur Loire. Hier aber stellte sich ihm


der tapfere Aëtius, letzter Schild und Bollwerk
des Weströmischen Reiches, mit einem Heer
aus römischen Truppen,

Burgundern, Westgoten und Franken entgegen


und stoppte die Hunneninvasion
mit der mörderischen Schlacht
in der katalanischen Ebene.

Von diesem Schlachtfeld,


das mit 170.000 Leichen bedeckt war,
wandte sich Attila rückwärts,
um im folgenden Jahr in Oberitalien einzufallen.

Die Eloquenz des römischen Papstes Leo


soll ihn dazu bewogen haben,
mit Kaiser Valentinian III. Frieden zu schließen.
Kurz darauf endete Attilas Leben

infolge einer Blutung, die den großen Eroberer


in der Hochzeitsnacht heimsuchte,
die er mit der schönen Burgunderin Ildiko feierte.
Mit ihm war der mächtige Geist verschwunden,

der das Hunnenreich zusammenhielt,


und es zerfiel bald in seine widersprüchlichen Teile.
Diese Zeit der allgemeinen Auflösung,
Neubildung und Vernichtung von Staaten und Reichen

brachte schließlich das endgültige Gericht über Weström.


Die zahlreichen germanischen Krieger
in römischen Diensten,
die längst die Herren Italiens waren,

forderten vom letzten weströmischen


Schattenkaiser Romulus Augustulus
die förmliche Abtretung eines Drittels
des italienischen Territoriums zu ihren Gunsten.

Als dies verweigert wurde,


stürzten die germanischen Krieger
den Kaiser vom Thron
und bestiegen ihn in ihren Anführer,

den Herulier Odoacer,


dem der Legende nach ein christlicher Missionar
namens Severinus zu Hause in Noricum
seine künftige Erhebung prophezeit hatte.

Zwölf Jahre nach dem Ende des Weströmischen Reiches


hatte Odoaker unter dem Titel König von Italien regiert,
als byzantinische Hetze den König der Ostgoten,
Theoderich, dazu verlockte, in Italien einzufallen.

Nach Attilas Tod hatten sich die Ostgoten


von dem nur lose auf ihnen lastenden Joch
der Hunnen befreit.
Jetzt brachen 200.000 Kriegsmänner,

gefolgt von Frauen und Kindern,


von ihren Sitzen in Pannonien nach Italien auf.
Bei Verona wurde Odoaker von Theoderich,
der in der deutschen Legende Dietrich von Bern genannt wird,

besiegt, und der Sieger errichtete nun


das Ostgotenreich, das ganz Italien umfasste
und in Österreich bis zur Donau reichte.
Theoderich machte seine Goten zu Herren aller Ländereien

und übertrug ihnen ausschließlich die Waffengewalt.


Gleichzeitig favorisierte er jedoch eine Verschmelzung
römischer und germanischer Natur
in Verwaltung, Gesetzgebung und Lebensweise.

Er war auch nicht abgeneigt, die Überreste


der alten Bildung zu retten.
Unter seiner Herrschaft lebte und schrieb
der letzte berühmte Philosoph der Antike, Boëthius,

dessen Buch „Vom Trost der Philosophie im Unglück“,


obwohl von heidnischem Wissenschaftsgeist inspiriert,
zu einem Lieblingsbuch
der mittelalterlichen Gelehrten wurde,

und der Historiker Cassiodorus,


die einen ganz wesentlichen Einfluss
auf die Bildung des Mittelalters ausübten.
Von ihm stammt die bekannte Einteilung

aller Schulwissenschaften
in das sogenannte Trivium
(Grammatik, Rhetorik, Dialektik)
für die unteren Klassen

und das sogenannte Quadrivium


(Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie)
für die oberen Klassen.
Oberschichten entstanden,

welche Disziplinen unter dem Namen


der sieben freien Künste
Grundlage und Gegenstand aller
mittelalterlichen Lehre wurden und blieben.

In der Zwischenzeit, nach Theoderichs Tod,


nahm der ostgotische Ruhm in Italien rapide ab.
Nach erbitterten Schlachten unterlagen die Ostgoten,
obwohl sie von so glorreichen Helden

wie Totila und Teja angeführt wurden,


der Kriegsführung byzantinischer Armeen,
die der oströmische Kaiser Justinian
unter seinen brillanten Kommandanten

Belisar und Narses nach Italien schickte.


Nach dem Untergang des Ostgotenreiches
verwaltete Narses Italien
als oströmische Provinz,

bis er kurz vor seinem Tod


durch gerichtliche Undankbarkeit
dazu veranlasst wurde, den germanischen Stamm
der Langobarden aus Pannonien,

wohin sie von der Niederung gezogen waren,


zu rufen an die Elbe, über die Alpen.
Unter ihrem König Albuin
kamen die Langobarden

und gründeten das Langobardenreich in Oberitalien


mit der Hauptstadt Pavia.
Albuin selbst hatte nicht lange Zeit,
sich an seinem neuen Besitz zu erfreuen,

und sein Abgang zeugt ganz deutlich


von der Wildheit und Rohheit dieser Zeit.
Im Rausch eines Festmahls
hatte er seine Frau Rosamunde,

die Tochter des von ihm erschlagenen


Gepidenkönigs Kunimund, gezwungen,
aus dem Schädel ihres Vaters zu trinken,
der nach germanischem Brauch als Trinkschale kreiste.

Rosamunde rächte diese Grausamkeit,


indem sie für den Preis, ihren Charme zu genießen,
einen Attentäter kaufte,
der den König im Schlaf angriff und tötete.

Das Langobardenreich selbst


konnte zwei Jahrhunderte überleben,
bis es im 8. Jahrhundert
dem fränkischen Eroberer Karl unterlag.

Die Franken am Niederrhein und in Belgien


wurden in Ripuarische und Salische Franken unterteilt.
Als der schlaue, skrupellose und streitsüchtige
Chlodwig über letztere herrschte,

verstand er es, erstere in Form


einer Eidgenossenschaft von sich abhängig zu machen
und stürzte sich dann mit der ganzen Kraft
der fränkischen Macht auf die Alemannen,

die expandierten rheinabwärts


und wurden in der großen Schlacht bei Zülpich
zwischen Aachen und Bonn
von Clovis entscheidend geschlagen.

Der Sieger, der nun das fränkische Land


rheinaufwärts bis zum Neckar,
später durch Überwindung der Burgunder
bis an die Rhone

und durch Unterwerfung der Westgoten in Frankreich


bis an die Garonne ausdehnte,
konvertierte zum Christentum
und eröffnete damit eigentlich die Reihe

der Christlichsten Könige -


der Klerus gab ihm diesen Titel -
die im Namen und unter dem Deckmantel der Religion
die abscheulichsten Verbrechen begangen haben.

Die Art und Weise, wie Chlodwig


das Christentum zur Durchsetzung
seiner politischen Pläne benutzte,
zeigt mit erschreckender Wahrheit,

wie tief das Christentum bereits


von der idealen Höhe seiner Ursprünge
im 6. Jahrhundert herabgesunken war.
Ja, es war schon der lächerliche

und intolerante Fetischismus,


anderseits das unterwürfige
und bequemste Hilfsmittel der Despotie geworden,
und erst in der Blütezeit des Rittertums

erhielt es wieder eine ideelle Färbung,


indem es nämlich den Marien-Kult
auf Poesie und Gesellschaftssitten übertrug.
Chlodwigs Verdorbenheit

wurde von seiner Dynastie geerbt,


die nach einem alten fabelhaften Ahnenkönig
der Franken, Merovig, benannt wurde,
die Merowinger genannt.

Selbst die unmoralische Vorstellungskraft


würde vergeblich darum kämpfen,
sich an die Laster und Abscheulichkeiten zu erinnern,
die im Haus der Merowinger beheimatet waren.

Der gröbste Aberglaube, die wildeste Sinnlichkeit,


rasende Habgier, Meineid, Verrat, Inzest, Vergiftung,
Mord an Verwandten, listige Bosheit und Grausamkeit
sind die Hauptmerkmale des Bildes,

das uns der Chronist Gregor von Tours


gezeichnet hat von damals.
Aber alles wurde übertroffen von den Freveltaten
der beiden merowingischen Königsgemahlinnen

Fredegunde und Brünhild,


in denen die menschliche Natur zeigte,
was sie an kolossaler Verderbtheit
zu leisten vermochte.

Die Geschichte dieser beiden Frauen


ist eine lange und schreckliche Tragödie,
die mit dem Ende von Brunhild
zu einem grausamen Ende kam,

die Chlotar II., der Sohn ihrer Todfeindin Fredegunde,


besiegte, sie gefangen nahm,
sie drei Tage lang folterte
und schließlich an den Schwanz eines wilden Pferdes binden

und zu Tode schleifen ließ.


Wenn wir diese Szene mit dem Ausgang
von Albuins Kriegen zusammensetzen und bedenken,
dass in einem der merowingischen Verwandtschaftskriege

beide Seiten mit solcher Wut kämpften,


dass die Erschlagenen keinen Platz hatten,
um zu Boden zu sinken,
sondern sich zwischen ihnen auftürmten,

aufrecht wie lebende Wesen fort geschoben wurden,


werden wir uns leicht eine Vorstellung
von der bestialischen Wildheit
der Völkerwanderungszeit machen können.

Vom Christentum der damaligen Zeit im Allgemeinen


und von der germanisch-christlichen Natur im Besonderen
gibt Gregors Chronik der Franken
ein getreues, haarsträubend ekelhaftes Bild.

Die schändlichsten Laster, Verrat,


die schändlichsten Ausschreitungen
gehörten zum Alltag der christianisierten Franken.
Und wie hätte es anders sein können?

Denn die liebende Lehrerin


und Pädagogin der Völker, die damalige Kirche,
war in Wahrheit und Wirklichkeit
selbst eine rohe und bösartige Barbarin.

Wie konnte sie der Barbarei widerstehen?


Dieses Christentum war bar jeden Wahrheitssinns,
jeglichen Rechtssinns;
es hatte nicht einmal eine dunkle Ahnung,

geschweige denn ein klares Bewusstsein


für das Bessere und Edle im Menschen.
Die angebliche Lehrerin
und Pädagogin der Völker

musste sich erst mehr oder weniger barbarisch machen,


musste bei dem antiken Heidentum zur Schule gehen,
bevor sie zivilisatorisch
auf das germanische Heidentum wirken konnte.

Die Kirche zur Zeit des Gregor von Tours


war dazu nicht in der Lage.
Das herausragendste Beispiel dafür war Clovis selbst,
der von der Kirche so hoch gelobte

Beichtvater und Konvertit.


Dieser christliche König hat seine grausamsten Taten
und schändlichsten Gräuel
erst nach seiner Bekehrung begangen.

Gregor, der fromme Bischof von Tours,


erzählt naiv diese Gräueltaten von Clovis;
dann zieht er die Summe der Gräueltaten von Clovis
in dem berüchtigten Satz:

Tag für Tag warf Gott seine Feinde vor ihm zu Boden
und mehrte sein Reich, weil er mit rechtem Herzen
vor ihm herging und tat,
was wohlgefällig war in seinen Augen.

Beim Abstieg und Untergang


der merowingischen Dynastie
machte sich der träge, schlürfende Gang
der Nemesis bemerkbar.

Wie die Könige dieser Dynastie schließlich so verarmten,


dass sie als faule Könige ein dummes Dasein fristeten,
wie ihr Majordomus nach und nach
alle Regierungsgewalt an sich riss,

wie diese Macht in der Familie Pippins von Heristall


erblich wurde, wie schließlich entthronte
der Majordomus Pippin den Kleinen,
den letzten Merowinger,

und wurde an seiner Stelle König der Franken,


braucht hier nicht näher erzählt zu werden.
Es braucht hier auch nicht erzählt zu werden,
wie Pippins Sohn Karl der Große

das Frankenreich zu einer Weltmonarchie ausgebaut hat,


wie er ganz Deutschland unterjocht hat,
insbesondere durch die Niederlage
und grausame Christianisierung der Sachsen,

die ihre altgermanische Nationalität und Religion


unter ihrem heldenhaften Herzog Witukind verteidigten
und wie er schließlich von Papst Leo III.
zum römischen Kaiser gekrönt wurde.

Eine Szene, aus der die Päpste später das Recht ableiteten,
die deutschen Könige in ihrer Würde zu bestätigen,
sie erneuerten das abendländische Kaisertum,
legten aber gleichzeitig auch den Grundstein

für die weltliche päpstliche Macht,


indem sie die Landzuweisungen seines Vaters
an den Papst bestätigten
und indem sie neue hinzufügten.

Karl entschied den Sieg des römischen Christentums


über das heidnische Deutschtum.
Er hatte wohl verstanden,
welche Hilfen der Bundesbund einer Kirche bot,

die den Begriff einer unmittelbar


von der Gottheit ausgehenden
und nur dieser verantwortlichen
Fürstenmajestät aufstellte,

die den Germanen bisher völlig unbekannt war,


und bedingungslosen Gehorsam predigte
gegenüber dieser Majestät.
Obwohl der häufige Kontakt

mit den Oströmern und Weströmern


die germanischen Völker bereits
mit dem römischen Fürstencharakter vertraut gemacht hatte,
wie die römischen Herrscher- und Fürstentitel

Rex und Dux zeigen,


die im Zuge der Völkerwanderung nach und nach
bei ihnen auftauchten, war dies der Fall erst bei Karl,
er hat jene große Umgestaltung

der germanischen Staatsverfassung bewirkt,


die die Souveränität der Volksversammlung der Freien (Thing)
auf die Person des Fürsten übertrug.
Mit Karl dem Großen begann also eine neue Staatsepoche

und mit ihr ein neues Kulturzeitalter für Deutschland,


das katholische-germanische Zeitalter.
Von der Zeit der Völkerwanderung an
war die deutsche Kultur nicht mehr eigenständig,

sondern in jeder Hinsicht stark


von der romanischen Bildung geprägt.
Als Romanes bezeichnet man bekanntlich
die Mischlingsvölker, die aus der Vermischung

der germanischen Eroberer


mit den unterworfenen Einwohnern
der römischen Provinzen entstanden sind,
also vorzugsweise die Italischen,

Franzosen, Spanier und Portugiesen.


Die Eroberer vermischten auch ihre Sprache
mit der der eroberten Römer,
und weil letztere sich einer vollständigeren Entwicklung

und Form erfreute, unterwarf sie natürlich


die gröberen Idiome der Sieger derart,
dass das Latein die durchgehende Grundlage
für Sprache und Schrift wurde und blieb

in den ehemals weströmischen Provinzen.


Natürlich musste die lateinische Sprache
in diesem sprachlichen Prozess
die Aufnahme vieler fremder Elemente durchmachen,

verlor durch die Verarbeitung dieser Elemente


ihre Eigentümlichkeit und entwickelte sich,
während das eigentliche Latein
Kirchen- und Gelehrtensprache blieb,

allmählich zur Sprache, Romanzo genannt,


eine Redewendung, die in den romanischen Ländern
lange Zeit allgemein akzeptiert war,
bis sich die verschiedenen romanischen Dialekte

mit der schärferen Unterscheidung


der einzelnen romanischen Nationalitäten davon abzweigten.
Die Silbenzählung und der Endreim wurden charakteristisch
für die romanische Dichtungsform,

ob sich letztere, wie einige meinen,


aus der neulateinischen Dichtung,
wie sie sich aus der römischen Kirchendichtung entwickelte,
zur romanischen Dichtung entwickelte,

oder, wie andere behaupten,


mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit,
aus der reimreichen Poesie
der Araber in Spanien.

Die romanische Dichtung hatte jedoch


einen höchst bedeutsamen Einfluss
auf die deutsche Dichtung des Mittelalters,
und so löste der romanische Endreim

schon früh den germanischen Stabreim ab.


Wie in diesem Fall verloren die Germanen
in ihrer Vermischung mit den Südländern,
nur um auf der anderen Seite zu gewinnen.

Der Verlust ihrer Vorgeschichte,


ihrer nationalen Heldensage,
also des Fundaments, auf dem die eigenständige
historische Entwicklung eines Volkes ruht,

wurde zumindest teilweise dadurch kompensiert,


dass die Geschmeidigkeit des Südens
die Starrheit und Rohheit des Nordischen aufweichte,
und dass die Brutalität des germanischen Feudalismus

in der fröhlichen Mobilität des südländischen Volkslebens


ein heilsames Gegengewicht fand.
Auch darf nicht übersehen werden, dass der Austausch
nordischer und südlicher Traditionen,

Mythen und Legenden ein poetisches Kapital anhäufte,


das die Poesie bis heute nicht auszuschöpfen vermochte.
Schließlich ist es der durch die Einwanderung der Nordländer
körperlich erfrischten südlichen Lebensfreude zu verdanken,

dass das jüdisch-rigide spiritistische Dogma


im Katholizismus vermenschlicht wurde.
Durch den im antiken Heidentum geschulten Katholizismus
wurde das Christentum in die Sphäre der Kunst erhoben.

Da sie, das dogmatische Skelett mit Fleisch bekleidend,


mehr auf die Sinne und den Verstand
als auf den Geist des Menschen wirken wollte,
schuf sie die christliche Kunst,

indem sie mit der Wiederbelebung und Anwendung


des poetischen Wortes
Musik, Architektur, Bildhauerei, Malerei schuf,
auch die Schauspielkunst,

den ganzen Gottesdienst künstlerisch zu gestalten.


Die Romantik, die Blüte des mittelalterlichen Lebens,
wurzelte in der phantasievollen Symbolik des Katholizismus.
Das Wort ist Romanik,

und auch die Romantik verdankt ihren Körper


den romanischen Völkern;
aber die Seele wurde ihm
vom Germanismus eingehaucht.

Die Seele ist das romantische Liebesideal,


das die Frau zum Mittelpunkt des Lebens gemacht hat.
Die Strahlen dieser neuen Liebessonne
gingen zunächst vom Marienkult aus,

der von den Germanen begeistert aufgenommen wurde,


weil er der ursprünglich germanischen
Frauenverehrung entsprach.
Durch ihre Begeisterung für diesen Kult

zerstörten die Germanen die Verachtung,


mit der die Apostel und Kirchenväter
die Frau betrachtet sehen wollten.
Die abweisende Art des heiligen Paulus

und die schmutzigen Ausdrücke,


mit denen die Kirchenväter
von der Frau und ihrem Geschlechtsverkehr gesprochen hatten,
wurden nur von der Romantik vergolten.

Der germanische, innere Zug der Romantik


umgab die Liebe mit einem Heiligenschein.
Das folgende Beispiel zeigt, wie anders sich unsere Vorfahren
die Stellung der Frau vorstellten als das Urchristentum.

In einem altdeutschen Mysterium


wird die Hochzeit von Kana geschildert.
Die Mutter Jesu bittet ihn um Wein.
Das Evangelium lässt den Sohn der Mutter schroff antworten:

Frau, was habe ich mit dir zu tun?


Doch der deutsche Dichter verwandelt
diese brutal orientalische Ansprache in die Worte:
Reines Weib und Mutter mein.

Ja, die germanische Minne, die Minne Gottes und der Frauen,
ist die Seele der Romantik,
und die zuerst von den romanischen Völkern
entwickelte Ritterlichkeit ist ihr Körper.

Angesichts der Wandlung des kulturellen Lebens


unserer Vorväter durch die Einführung des Christentums
darf die Kulturgeschichte nicht versäumen,
einen Blick auf die Umstände und Mittel zu werfen,

die diese Einführung ermöglichten.


Die Politik der römischen Bischöfe, der Päpste,
die mit zäher Beharrlichkeit ihren Weg zum Fürstentum
über die christliche Kirche fortsetzten,

konnte nicht verkennen, welchen Zuwachs a


n Einfluss und Macht sie aus der Eingliederung
der nordischen Völker in die Kirche ziehen würden.
Denn es ist nur fair anzuerkennen,

dass die Missionare, die der Römische Stuhl


über die Alpen entsandte, in ihrer Missionsarbeit
ebenso viel List wie Mut,
so viel Geschmeidigkeit wie Energie entwickelt haben.

Ihre Unvorsichtigkeit in der Wahl der Mittel


erklärt die Schnelligkeit und Größe ihrer Erfolge.
Bereits im 4. Jahrhundert wurden an Rhein und Donau
christliche Kirchen und Bistümer gegründet,

soweit die römische Herrschaft reichte.


Auch hier und da hatten Missionare
in Eigenregie die Bekehrung betrieben,
wie in Alemannien und am Main,

und das Christentum war bereits zu Beginn


des 8. Jahrhunderts bis zur Saale und Elbe gekommen.
Ihre eigentliche Grundlage, ihre feste Norm und Form
erhielt die christliche Kirche in Deutschland

jedoch erst durch Winfrid, genannt Bonifatius,


der vom päpstlichen Stuhl förmlich zur Durchführung
seines Bekehrungswerkes ermächtigt wurde.
Der Sturz der uralten, dem Donar geweihten

und weithin als Nationalheiligtum verehrten


Eiche bei Geismar in Hessen,
die Winfrids Axthieben zum Opfer fiel,
kündigte den Untergang des germanischen Heidentums an.

Bonifatius war dem römischen Stuhl ergeben,


der ihn als ersten Erzbischof von Mainz einsetzte,
und seine Bemühungen, die junge germanische Kirche,
die er durch Klöster- und Bistumsgründungen,

durch die Einführung von Kirchensynoden


und anderen Institutionen sicherte,
der päpstlichen Macht zu unterwerfen,
gelang sehr gut.

Die deutsche Kulturgeschichte muss diesem klugen


und tatkräftigen Mönch
eine herausragende Stellung einräumen,
denn Winfrids Werk hat zweifellos ein Motiv geschaffen,

das sich zeitweise als mächtig


durch die gesamte deutsche Kulturbewegung
und in unseren Tagen wieder so mächtig
wie eh und je erwiesen hat:

das Motiv des der Gegensatz


des germanischen Freiheits- und Selbstbestimmungsprinzips
gegen das romanische Autoritätsprinzip
und dessen Verwirklichungswille

in Form einer geistigen Universaldespotie.


Man würde sich jedoch täuschen, wollte man den Aufstieg
des Christentums unter unseren Vorfahren
in erster Linie als Überzeugungssache ansehen.

Mit welcher Abneigung viele deutsche Stämme


dem neuen Glauben gegenüberstanden,
wie sie sich gegen den damit verbundenen Zehnten wehrten,
zeigt der Widerstand der Sachsen,

den Karl der Große nur


mit Strömen von Blut niederschlagen konnte.
Wie bei allen großen Umwälzungen
ging es auch hier sehr chaotisch zu.

Von einer gewissen Kenntnis des Christentums


war bei der Masse der Konvertiten keine Rede.
Was Trägheit, Neugier und materielles Interesse
nicht erreichen konnten, schafften List und Gewalt.

Die polytheistischen Religionen sind an sich


nicht so intolerant wie die monotheistischen.
Unseren Vorfahren dürfte es daher
nicht so schwergefallen sein, der Zahl ihrer Götter

einen neuen Gott, Christus, hinzuzufügen.


Sie, die daran gewöhnt waren,
ihren Göttern Menschen zu opfern,
konnten es auch leicht mit Jahwe aufnehmen,

dessen Zorn ihn dazu brachte,


seinen eigenen Sohn zu opfern.
Der christliche Teufel entsprach ganz ihrem Loki,
ebenso wie die christlichen Heiligen ihren Halbgöttern.

Thors und Odins Wunder machten ihnen


auch die der christlichen Götter glaubhaft,
die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele
war ihnen nicht fremd,

und das Dogma des Jüngsten Gerichts


konnte ihnen durchaus als eine Version ihrer Vorstellung
der Götterdämmerung erscheinen.
Welche Kraft der sinnliche Glanz

auf die Gemüter der Menschen ausübte,


hatten schon die christlichen Priester in ihrem Kampf
gegen das griechisch-römische Heidentum erprobt.
Die Konkurrenz der Arianer und Orthodoxen,

sich an kirchlicher Pracht zu übertrumpfen,


hatte den Bilder- und Zeremoniendienst
noch schneller entwickelt, und so konnte die Kirche
den Germanen liturgische Spektakel bieten,

deren Prunk und Pracht Ehrfurcht erwecken müssen.


Das traf diese Kinder der Natur.
Bewunderung aber ist immer die Brücke zur Hingabe,
die sich die christlichen Priester

um so leichter zu erwerben wussten,


als es keine einheimische heidnische Priesterkaste gab,
mit deren Interessen sie in Konflikt geraten konnten.
Die Priester versuchten auch, den Konvertiten

das Joch des neuen Glaubens


so leicht wie möglich zu machen.
Sie begnügten sich damit, dass die Proselyten
Gebete aufsagen lernten,

sich mit Taufwasser übergießen ließen,


eine äußerliche Buße für allzu grobe Verbrechen leisteten,
zum Beispiel die Wallfahrt zu einem gepriesenen Heiligtum,
was schon ein altdeutscher religiöser Brauch war,

und vor allem nicht zu vergessen,


der Kirche Geschenke zu machen.
Wie oberflächlich die Bekehrung war, zeigt die Tatsache,
dass es zur Zeit Bonifatius in Deutschland Priester gab,

die auf den Namen Christi tauften


und Donar opferten.
Auch die gröbste Gier der Bekehrten
spielte bei der Bekehrung eine nicht geringe Rolle.

Die Tatsache, dass die Getauften beschenkt wurden,


erhöhte ihre Zahl
und führte zu mancher komischen Aufführung.
Zu Ostern kamen die Dänen beispielsweise zur Taufe

an den Hof des treuen Kaisers Ludwig


und bekamen ein wunderschönes weißes Gewand
mit symbolischer Bedeutung überreicht.
Einmal erschien eine unerwartet große Zahl,

und die zur Verfügung gestellten Gewänder


reichten nicht aus.
Eilig ließ der Kaiser Bettzeug zuschneiden
und fertigte daraus Taufkleider.

Solche Gewänder missfielen jedoch einem dänischen Häuptling,


und er rief ärgerlich aus:
Ich bin hier schon zehnmal getauft worden,
und jedes Mal habe ich das schönste Gewand bekommen;

aber so ein Sack steht einem Krieger nicht,


und schämte ich mich nicht, nackt zu gehen,
ich würde dir das Tuch
und deinen Christus an den Kopf werfen.

Dass Frauen bei der Bekehrung der Heiden


eine große Rolle spielten,
belegen viele historische Zeugnisse.
Die christlichen Priester nutzten die Neigung der Frauen

zu religiösem Enthusiasmus schnell aus


und nutzten ihren Einfluss auf Männerherzen,
sie wussten, wie man die Schürze jeder Frau
in eine Fahne des Glaubens verwandelte.

Christliche Prinzessinnen,
die mit heidnischen Prinzen verheiratet waren,
vollbrachten zahlreiche Bekehrungswunder.
Wie diese Macht im großen Stil genutzt wurde,

zeigen die Kriege Karls gegen die Sachsen,


der einst fünftausend Sachsen ermorden ließen,
die sein Christentum und Königtum verschmähten.
Wenn die Bekehrung zum Christentum

meist nur eine äußerliche war, soll dies nicht leugnen,


dass die Lehre, wie sie sich in der Kirche etabliert hatte,
in den folgenden Generationen
mehr Fleisch und Blut angenommen hatte.

Der germanische Geist übte bald seine religiöse Macht aus,


und die deutsche Tiefgründigkeit
tauchte mit schwärmerischem Eifer
in die Geheimnisse des neuen Glaubens ein.

Es gab auch eine Bedrohung von außen


durch den erobernden Islam,
der viel zur Stärkung der christlichen Welt beitrug.
Der große Sieg des fränkischen Kaisers Karl Martell

an der Spitze der Christen über die Araber,


die von Spanien, wo sie das westgotische Reich zerstört hatten,
bei Poitiers nach Frankreich vorgedrungen waren,
hatte die schärfste Gefahr abgewendet:

aber während des ganzen Mittelalters


wickelte die feindselige Haltung,
die die mohammedanische Welt
gegenüber der christlichen Welt einnahm,

ein Band der Gemeinschaft um letztere.


Der gefeierte Repräsentant einer solchen Einheit
zu Beginn des Mittelalters ist Kaiser Karl,
den Legende und Geschichte

seit seinem glücklichen Sieg über die Araber in Nordspanien


gerne als christlichen Helden und Militärfürsten sehen
und darstellen als Schild und Festung der Christenheit,
anerkannt von den Mohammedanern

durch die Absendung von Gesandtschaften an ihn.


Wir werden auf ihn zurückkommen,
sobald wir unsere Augen schnell wieder
auf das spärliche literarische Erbe gelenkt haben,

das uns die Zeit vor Karl hinterlassen hat.


Alle Poesie hat ihren Ursprung im Menschen,
und der ungeregelte Klang der Natur
weist den Weg zu den Modulationen der Kunst.

Wir wissen mit Sicherheit, dass unsere Vorfahren


im Gesang begabt waren
und dass sie sich über dieses Talent freuten,
während sie es übten.

Aber lassen wir den angelsächsischen Beowulf beiseite,


muss man sagen, dass uns nur die spärlichsten Reste
der ursprünglichen Waldlieder
der deutschen Vorgeschichte überliefert sind.

In der ersten Reihe stehen die Merseburger Zauberformeln,


in der zweiten die älteste
und nur noch fragmentarisch erhaltene Fassung
des Hildebrandliedes.

Es ist nicht bekannt, wie die frühe deutsche Volksdichtung


von professionellen Pflegern und Trägern geschaffen wurde;
schon sehr früh gab es aber Wandersänger,
die die einheimischen Heldenlieder

vor Volk und Fürsten sangen und sagten,


rezitativisch rezitierten, begleitet von der Harfe,
der Zither und später auch der Geige.
Das Gesetz der Betonung,

das immer noch das oberste Gesetz unserer Verskunst ist,


mag auch in seinen urzeitlichen Versuchen
seine natürliche Gültigkeit gehabt haben.
Die ältesten uns überlieferten regulären deutschen Verse

stammen aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts.


In ihnen, die aus langen Linien
mit acht Erhebungen bestehen,
dürfen wir wohl das antike Maß
des volkstümlichen Heldenliedes annehmen.

Bis zum 8. und 9. Jahrhundert war das Mittel,


solche Verse zu binden, der Stabreim,
und von da an Endreim.
Zwei lange Zeilen bildeten die älteste Vers-Strophe.

Die Völkerwanderung störte jedoch


die stetige nationale Entwicklung
unserer alten Poesie.
In seinem Aufruhr gerieten die alten Volksmärchen

aus dem Gedächtnis der Germanen.


Die Christianisierung und Verschmelzung
mit den südlichen Ländern pflanzte in die Seelen
unserer Vorfahren die Romantik,

die das alte germanische Heidentum


schnell in den neuen Legenden überwucherte,
die sich während und nach der Völkerwanderung
um herausragende Heldengestalten bildeten.

DRITTER GESANG
KARL DER GROẞE UND DIE OTTONEN

Einheit der abendländischen Christenheit,


ausgehend von der kirchlichen
und politischen Einheit Deutschlands,
das war die Staatsidee Karls.

Ihre mit Umsicht und Energie, mit Weisheit


und Härte angestrebte Verwirklichung
erforderte einerseits eine feste Organisation
des neuen Glaubens,

andererseits eine Umwandlung


der alten germanischen Adelsrepubliken
in die eine unbeschränkte fränkische
Erbmonarchie.

In letzterer Hinsicht traf Karl


die radikalsten Neuregelungen.
Schon seine Vorgänger hatten die Vorteile
eines sorgfältig strukturierten Hofes erkannt.

Karl vergrößerte und verherrlichte ihn,


so dass die Inhaber der hohen Hofämter,
der Kammerherr, der Oberstallmeister,
der Obersekretär, der Obersteuereintreiber,

der oberste Gerichtsrichter


oder pfälzische Richter (Pfalzgraf),
hatten den Vorrang vor dem alten Stammesadel,
den Karl mit allen Mitteln entmachten wollte.

Der Ansturm auf die Hofämter wurde bald sehr groß,


und da Freigelassene, nicht nur Freigeborene,
die Privilegien des Hofdienstes genießen durften,
musste dies dem neuen Königshaus

eine Masse von Anhängern


in den unteren Klassen einbringen.
Ein weiteres Hilfsmittel war die Bildung
des Feudalwesens im monarchischen Sinne.

Aus der Vorstellung, dass seine Macht und Majestät


ein direkter Abfluss göttlicher Macht seien,
leitete der König ein königliches
Übereigentumsrecht über alles Land ab,

das er mit kluger Berechnung


zunächst seinem um ihn versammelten Kriegergefolge
zur Verfügung stellte.
Dem aus der Völkerwanderung hervorgegangenen

neuen Waffenadel
und dem mit der neuen Königswürde
entstandenen Hofadel wurde daher
meist Land auf Lebenszeit zugesprochen

und sie waren im Gegenzug verpflichtet,


dem Lehnsherrn in seinen Privatkriegen
und dem Hof zu dienen,
während die alten Landbesitzer nur

dem kaiserlichen Heer zu dienen hatten.


Karl, der für seine fortwährenden Kriege
starke Heere brauchte,
wusste letzteres Recht zu beseitigen,

indem er die Verpflichtung aller Freien,


der Erbbesitzer wie der Feudalherren, durchsetzte,
in der Armee des Königs zu dienen,
und jede Weigerung, seiner Vorladung Folge zu leisten,

ahndete mit schwerer Strafe.


Die volle Höhe des Wehrdienstes
wurde nach Umfang des Grundbesitzes geregelt,
und da sich jeder Freie drei Monate lang selbst ausstatten

und für seine Verpflegung sorgen musste,


konnten die Ärmeren bald nicht mehr
die volle Leistung erbringen, sie kamen zusammen
in Zweier-, Dreier-, Fünfer- und Sechsergruppen,

um gemeinsam einen Krieger auszustatten


und zu ernähren, und dadurch entwöhnten sich
die besitzlosen Freien nach und nach vom Waffenleben
und wurden so in großer Zahl waffenlos und unterwürfig.

Dazu kam die fromme Knechtschaft unzähliger Freier,


die sich und ihr Vermögen der Kirche gaben
und als Kirchengut zurückerhielten,
um es als Pächter der kirchlichen Klöster zu bewirtschaften.

Auch die Veränderung der Kampfweise,


die die Kriegsführung der Reichsfeinde
der nächsten Jahrhunderte notwendig machte,
trug immens zur Einschränkung der gemeinsamen Freiheit bei.

Denn die neue Kampfweise bestand


hauptsächlich im Reiterdienst,
und dieser erforderte mehr Vermögen
und eine kriegerische Übung,

die mit dem Landbesitz unvereinbar war,


und kam daher immer ausschließlicher
in die Hände des Adels, dessen Stellung
darin privilegierter wurde,

in dem die des Volkes


auf die der Diener reduziert wurde.
Die Art von Königtum, die Karl etablierte,
ist ohne ein reguliertes Finanzsystem undenkbar.

Die königlichen Einnahmen bestanden


aus den Erträgen aus den königlichen Gütern,
die Karl durch Kammerboten verwaltet hatte,
dann aus den feudalen Steuern der Vasallen,

aus den königlichen Zöllen,


mit denen der Handel belastet wurde seit ihren Anfängen,
vom Anteil der Staatskasse an den Geldstrafen
und schließlich vom Erlös des steuerlichen Erbrechts,

das aus den Hinterlassenschaften


kinderloser Freigelassener floss.
Karl verstand es, diese Einkommensquellen
durch das Recht der Macht, das allerhöchste Recht,

erheblich zu steigern.
Wenn er auf Reisen war, zwang er die Gemeinden,
in deren Nähe er sich aufhielt,
zur Versorgung seines Hofstaates, ein Zwang,

der sich in der Folge zu einer Vielzahl


von Lieferungen und Dienstleistungen entwickelte.
Auch reisende königliche Beamte mussten
kostenlos verpflegt werden

und schließlich die gesamte königliche Armee


auf ihren Märschen.
Auch die Einführung von Steuern
verdankt Deutschland seinem ersten Kaiser;

denn Karl verwandelte die freiwillige Gabe


von Vieh und Feldfrüchten, die,
wie uns Tacitus erzählt, die germanischen Stämme

in vorgeschichtlicher Zeit von Zeit zu Zeit


ihren Häuptlingen darbrachten,
in eine jährliche, feste Verpflichtung.
Eine despotische Regierung hat immer und überall versucht,

die Rechtspflege zu unterwerfen.


Auch Karl folgte dieser Maxime,
indem er die Justiz unter direkte königliche Leitung stellte.
Die Richter, denen er den Namen Schöffen gab,

wurden noch von und aus der Versammlung der Freien gewählt;
aber der Einfluss, den die königlichen Beamten
auf die Wahl ausübten,
machte sie zu einer leeren Formalität.

Die Centgrafen, die den Stadtgerichten vorstanden,


die Gauggrafen, die den Gaugerichten vorstanden,
die Boteni, die jedes Quartal in größere Bezirke reisten,
um die Justiz zu überwachen

und Fälle vorzubringen und Entscheidungen,


in denen der Graf die Gerechtigkeit verweigert
oder verzögert hatte, wurden alle vom König ernannt.
Als höchste Instanz galt der Königshof

unter dem Vorsitz des Pfalzgrafen.


Schwurgerichte blieben also weiterhin die Gerichte,
aber sie wurden von der königlichen Macht bevormundet,
die auch die Öffentlichkeit der Rechtspflege,

die stärkste Garantie des Rechtsschutzes,


durch Überbauung der Gerichte
und Auslagerung der Gerichtssitzungen
einzuschränken wusste.

Das Strafrecht dehnte sich außerordentlich aus,


und die Bestrafung von Leib und Leben
oder zumindest der Ehre
trat zunehmend an die Stelle des Geldwertes, auch bei Freien.

Die Zeit wurde immer erfinderischer


im Umgang mit mittelalterlicher Galgen- und Radjustiz,
und Kerkermeister, Folterknechte und Henker
bildeten bald eine zahlreiche Klasse.

Weil Karl neben der Gewalt die Klugheit gelten ließ,


ließ er die Souveränität der Versammlung
des freien Volkes ein Scheinleben führen.
Zweimal im Jahr, im Herbst und Frühjahr,

trafen sich die Landbesitzer noch,


um die Gesetze zu verabschieden und zu bestätigen.
Diese Versammlungen, die schnell
zu den späteren Reichsständen zusammenschrumpften,

standen jedoch unter königlicher Leitung


und waren, wie das gesamte Staatsleben,
von der neuen königlichen Beamtenschaft so eingekreist,
dass ein selbständiges Handeln nicht mehr möglich war.

Sie ähnelten, nur in gröberer Form,


den Kammern des modernen Konstitutionalismus,
die entscheiden dürfen,
was für die Regierungen akzeptabel ist.

Nur die herausragende Persönlichkeit Karls


kann die gewaltige Veränderung
der deutschen Beziehungen erklären,
die er bewirkt hat.

Mit ihm brach auch sein stolzer Königsbau zusammen.


Unter seinen Nachfolgern zeigte sich bald,
dass der Adel, der begonnen hatte,
das Privileg der Steuerbefreiung

mit dem Klerus zu teilen,


und dessen zunehmender Widerstand gegen das Königreich
durch den Bau von Burgen angezeigt wurde,
bereits im 9. Jahrhundert entwuchs der königlichen Macht.

Der feudale Adel begann, den Besitz


seiner Lehen erblich zu machen,
aus königlichen Vasallen wurden Dynastien,
die nach der Herrschaft über das Land strebten

und dem feudalen System eine Ausdehnung bescherten,


die die gemeinsame Freiheit restlos verschlungen hätte,
wenn sie nicht in der allmählichen Blüte der Städte
Zuflucht gefunden hätte.

Die karolingische Königsmacht


hatte in der Kirche eine willige Bundesgenossin,
die sie von allen Seiten unterstützte.
Beide Interessen waren eng miteinander verbunden.

Dem Sieg des Königshauses


über die altgermanische Adelsrepublik
opferte die Kirche ihre religiöse Weihe,
und das Königsschwert verhalf der Kirche

zur Vollendung der Christianisierung Deutschlands.


Die Schenkung von Grund und Boden,
auf denen Kirchen und Klöster gegründet wurden,
sowie die Einrichtung des Zehnten,

der eifriger gepredigt wurde als das Evangelium


und dessen Erfüllung im Frankenreich Staatsrecht war,
bildeten die Grundlagen der weltlichen Besitztümer
der Kirche.

Ihre Würdenträger, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte


wurden mit Land und Volk belehnt
und traten damit in die vorderste Reihe
der Großen des Reiches.

Die geistlichen Stände besaßen Immunität,


waren aber zur Bereitstellung von Heeren verpflichtet.
Der hohe Klerus übte unterdrückerische Macht
über den niederen Klerus aus.

Die Kirche behielt das römische Recht bei,


dessen Eingriffe in das deutsche Recht
im Laufe der Zeit immer deutlicher wurden.
Der hohe Klerus hielt vor dem königlichen Gericht Recht,

aber Geschworene seines Schlages gaben das Urteil ab.


Der niedere Klerus wurde nicht nur in allen geistlichen,
sondern auch in bürgerlichen Angelegenheiten
vom Diözesanbischof gerichtet;

in peinlichen Angelegenheiten,
wo das Verbrechen bewiesen war,
sollte ein aus Geistlichen und Laien
gemischtes Gericht urteilen.

Die Abhängigkeit der deutschen Kirche von Rom


war von Anfang an gegeben und blieb so:
Auf der ersten deutschen Synode
schworen die Bischöfe dem Papst Gehorsam.

Die Bräuche des Klerus zeigten von frühester Zeit an


die größte Brutalität.
Obwohl die Eheschließung der Geistlichen
noch geduldet wurde,

waren Ehebruch und Unzucht


unter ihnen an der Tagesordnung.
Ihr Umgang mit Frauen wurde ausdrücklich
für straflos erklärt, wenn er sich auf eine,

wie man es damals nannte,


bloße Zärtlichkeit beschränkte.
Gesonderte Gesetze legten die Strafe
für die verschiedenen Grade der Trunkenheit fest.

Dem Klerus war es verboten, Waffen zu tragen,


aber Bischöfe und Äbte in Rüstungen
an der Spitze ihrer Diener im Heer reiten

und bei jeder Gelegenheit


mit dem Schwert zuschlagen zu sehen,
war im Mittelalter alltäglich.
Wenn wir also in karolingischer Zeit

Hierarchie und Königtum


zu Lasten der germanischen Freiheit
Hand in Hand gehen sehen, dürfen wir nicht vergessen,
dass sie auch Hand in Hand zum Vorteil der Zivilisation gingen.

Auch wenn das Bemühen, dem kirchlichen Romanismus


und der christlichen Königsmacht
einen vollständigen Sieg
über das heidnische Germanentum zu verschaffen,

eine bedeutende Rolle gespielt haben mag,


so bleibt doch sicher, dass das deutsche Schulwesen,
die gesamte neue deutsche Bildung
in Kaiser Karl ihren Begründer und Förderer ehren muss.
Karl widmete sich eifrig wissenschaftlichen Aktivitäten
und, wie uns sein geheimer Schreiber
und Biograf Eginhard erzählt,
versuchte sogar in seinen späteren Jahren,

die wichtigen Lücken zu füllen,


die seine jugendliche Ausbildung hinterlassen hatte.
Er hielt sich gern im Kreis der Gelehrten auf,
die er an seinem Hof versammelt hatte.

Die Zierden dieses Kreises waren


der angelsächsische Alcuin,
der Bischof Theodulf,
der Abt Adelhard,

der vielseitig begabte Angilbert,


der bereits erwähnte Eginhard
und Paul Diakonus (Warnefried).
Alcuin wurde besonders beauftragt,

die kaiserlichen Kinder zu erziehen,


von denen Karl vierzehn legitime und uneheliche hatte;
aber das Verhalten seiner Schüler,
besonders der weiblichen,

machte seinen Bemühungen wenig Ehre.


Karls Töchter führten ein sehr einfaches Leben.
Von zweien, Berta und Rotrudis, wissen wir ausdrücklich,
dass sie uneheliche Kinder hatten, was schon verrät,

wie es um den kaiserlichen Hof stand,


dessen Oberhaupt selbst hochgradig lüstern war.
Für den Bau und die Ausschmückung
seiner prächtigen Paläste in Aachen und Ingelheim
sowie zur Förderung der Kirchenarchitektur
hatte Karl Baukünstler aus Italien mitgebracht.
Er widmete sich auch Musikern
zur Verbesserung des Kirchengesangs.

Durch diese romanischen Künstler


entstand in Deutschland nach und nach jener Kunststil,
der, als Romanik bezeichnet,
dem germanischen Stil vorausging.

Trotz dieser Förderung des romanischen Charakters


zeigten Karls kulturelle Ambitionen
jedoch deutlich seine deutsche Mentalität.
Dies veranlasste ihn, trotz seiner kirchlichen Abneigung

gegen germanisches Heidentum,


eine Sammlung vorchristlicher Heldenlieder
aus dem Munde des Volkes zu organisieren,
die in England noch im 12. Jahrhundert

in handschriftlicher Form existiert haben soll,


aber seitdem leider spurlos verschwunden ist;
weiter, sie veranlasste ihn, den Unterricht
der deutschen Sprache in den Klosterschulen

gesetzlich vorzuschreiben.
Hier, in den Klosterschulen,
die auf Anregung von Alcuin, der selbst eine Schule
am kaiserlichen Hoflager führte, entstanden,

wurde vor allem die Erziehung


der Karlingerzeit gepflegt.
Freilich war es eine fremde Erziehung,
nicht eine, die als Volksblüte aus dem Volksleben spross,
sondern eine kirchlich-lateinische Erziehung;
aber es war trotzdem eine Erziehung.
Wir haben hier nicht den Platz, näher auf den Ursprung
und die Institution des Mönchtums einzugehen.

Im 4. Jahrhundert von asketischen Enthusiasten


in den Wüsten Ägyptens gegründet,
trat es bereits im 5. Jahrhundert
als kirchliches Institut in Erscheinung.

Der heilige Basilius gab den Klöstern


des Ostens ihre Herrschaft,
während die Klöster des Westens ihre Herrschaft
erst später durch Benedikt von Nursia,

den Gründer des berühmten Benediktinerklosters


Monte Cassino erhielten;
schließlich schlossen sich im Laufe der Zeit
viele andere Mönchs- und Nonnenorden den Benediktinern an.

Die Klöster haben zu ihrer Zeit zweifellos Gutes


und Großes geleistet.
Für das klösterliche System, selbst in seinen Anfängen,
nur rationalistisches Achselzucken zu haben, ist unangemessen.

In der gesamten Geschichte der christlichen Welt


gibt es eine tiefe Zwietracht
zwischen der Idee des Christentums
und der offiziellen Kirche.

Das Mönchtum unternahm auf seine Weise einen Versuch,


diese Dichotomie aufzulösen.
Es war jedoch in seinen Mitteln falsch;
Dennoch waren seine ursprünglichen Bestrebungen gut geeignet,
reine und edle Geister anzuziehen.
Begabte junge Männer, erschrocken
über den ersten harten Zusammenstoß
ihres jugendlichen, hochmütigen Denkens

mit der grausamen Realität, trugen ihre Ideale -


jedes Zeitalter hat seine eigenen - ins Kloster,
um ihnen einen Altar zu bauen,
gegen den sich die religiöse Autorität absicherte

wie vor dem Umsturz


oder vor Verunreinigung durch wilde Horden,
und in Waffen oder Staatsgeschäften gereifte Männer
suchten den Schmerz der Enttäuschung

im klösterlichen Schweigen
mit Beschäftigungen zu lindern,
die ihren Mitmenschen
und der Nachwelt zugute kamen.

Aber auch in früheren Zeiten


enthielt die Masse der Mönche
unter der Kutte nur plumpe Unwissenheit,
verbunden mit den unverschämten Spekulationen

über den Aberglauben des Volkes


und mit der niederträchtigsten Sinnenlust;
aber es gab auch Mönchsgesellschaften,
die ihren zivilisatorischen Auftrag,

wie sie ihn begriffen hatten,


mit ehrlichstem Eifer erfüllten.
Besonders die ältesten deutschen Klöster
und die mit ihnen seit der Karolingerzeit verbundenen
Klosterschulen verdienen Verdienste,
inmitten der schrecklichen Verderbtheit und Grausamkeit,
die auf den ungeheuerlichen Tumult des Kaisers folgte,
die materielle und geistige Kultur

in den germanischen Wäldern begründet


und gefördert zu haben nach der Völkerwanderung.
Das Modell der Klosterschulen,
dem Kaiser Karl am meisten Beachtung schenkte,

war dasjenige, das der eigentliche Begründer


der klösterlichen Gelehrsamkeit in Deutschland,
Hraban Maurus, im Kloster Fulda errichtete
und dem bald folgten St. Gallen,

Hirschau, Reichenau, Weißenburg, Corvey und andere.


Das Hauptfach des Unterrichts in diesen Institutionen
war das Trivium und Quadrivium
der sieben freien Künste

und die Kenntnis der lateinischen Sprache.


Dem Fleiß, mit dem Latein gepflegt wurde,
ist es zu verdanken, dass viele literarische Schätze
der Antike gerettet, publiziert und verbreitet wurden.

Die Stellung der für die Klosterschulen


verantwortlichen Geistlichen bedeutete übrigens,
dass neben Latein
auch die deutsche Sprache gepflegt werden musste.

Nur durch letztere konnten sie auf das Volk einwirken.


Für den Schulunterricht wurden deutsch-lateinische
und lateinisch-deutsche Wörterbücher („Glossare“) erstellt,
für den Kirchenunterricht liturgische und rednerische
Formeln in deutscher Sprache verfasst.
Solche Vokabeln und Formeln,
die zum Teil bis ins 8. Jahrhundert zurückreichen,
gehören zu den ältesten Denkmälern unserer Sprache

und sind daher für ihre Entwicklung von großer Bedeutung.


Aber der Klerus beließ es nicht dabei.
Obwohl sie seit Bonifatius heftig
gegen die heidnische Volksdichtung eiferten,

erkannten sie, dass sie auch auf die poetischen Bedürfnisse


des Volkes Rücksicht nehmen mussten,
ein Bedürfnis, dessen Fortbestehen insbesondere
durch ein königliches Dekret bezeugt wird,

das den Nonnen untersagte,


Wein- und Liebeslieder zu schreiben
und einander mitzuteilen.
Auch wenn das alte nationalheidnische Heldenlied

vor der christlichen Kultur allmählich verstummte,


bewahrten die Menschen insgeheim
eine liebevolle Erinnerung
an die in den alten Liedern lebenden Götter und Helden.

Etwas anderes musste an seine Stelle gesetzt werden,


um die Vorstellungskraft der Menschen
von der Beschäftigung mit den alten Sagen abzureißen,
die für das christliche und monarchische Wesen

gleichermaßen gefährlich war.


Es begann eine christlich-deutsche Dichtung zu entstehen,
die den christlichen Mythos zum Thema machte.
Ab dem 9. Jahrhundert verschwand
die nationale Heldensage
aus unserer Literaturgeschichte,
um drei Jahrhunderte später, wiederbelebt
und natürlich stark christianisiert, wieder aufzutauchen.

Die geistliche Poesie übte sich zunächst


in der Transkription lateinischer Kirchenlieder;
sie übersetzte und paraphrasierte auch Psalmen.
Begleitet man sie auf ihrem Weg

zum eigenständigen Ausdruck, stellt man fest,


dass die Kraft des alten national-heroischen Tons
zumindest anfangs durch die geistige Poesie
noch sehr spürbar ist.

So in dem von einem Geistlichen


anlässlich des Sieges Ludwigs III
mit dem Titel "Heliand" geschriebenen Epos,
das von einem Sachsen

auf Veranlassung Ludwigs des Frommen geschrieben wurde.


Der Name des hervorragenden Dichters ist leider unbekannt.
Ausgehend von den vier Evangelien
erzählt er das Leben Jesu

in wahrhaft episch-naivem und einfachem Geist,


durchaus im alten Volkston.
Es ist sehr bewegend zu sehen,
wie er seinen jüdisch-christlichen Stoff

in die epische Form und Farbe


des altgermanischen Volks- und Heldenlebens gießen
und versenken konnte, wie er wie ein Germane
Christus unter seinen Jüngern
mit der liebenswertesten Naturwahrheit präsentiert
wie Adelinge und Häuptlinge in seinem Gefolge.
Im Heliand erklingt zum letzten Mal der männliche,
volle, naturgetreue Ton altdeutscher Volksdichtung

rein und unverfälscht aus den germanischen Wäldern.


Dagegen ist die als „Krist“ bekannte
oberdeutsche Evangelienharmonie,
die der Benediktinermönch Otfrid

im Kloster Weißenburg verfasste,


ein echtes Produkt christlicher Geistesdichtung.
Otfrids Werk ist nicht nur als Sprachquelle wichtig,
sondern auch aus anderen Gründen,

weil es erstmals in der deutschen Lyrik


die Alliteration durch den Endreim ersetzte,
vor allem aber, weil er in bewusstem Gegensatz zur Volkslyrik
den Weg zur Kunstlyrik öffnete.

Otfrid, der als Christ und Gelehrter


mit Geringschätzung auf die Volksdichtung blickte,
wie er in seinem Vorwort erklärte,
wollte in seinen fünf Büchern

einerseits die christlich-klösterliche Erziehung


seiner Zeit darstellen, und wollte andererseits
moralisieren und belehren.
Er erweist sich daher weit weniger als ein Dichter

als als ein Mann von Verstand,


der sich mit der gelehrten Literatur beschäftigt hat.
Nicht die Erzählung stand für ihn im Vordergrund,
wie es für einen wahren Epiker hätte sein müssen,
sondern die klösterliche Mystik
und die moralische Nützlichkeit,
durch die er seine Leser erbauen wollte,
eine Absicht, mit der er verband in ehrenhafter Weise

das weitere Ziel, die Muttersprache


auch unter den Gebildeten zur Ehre zu bringen.
Eine geistige Kultur, wie die diskutierten Anfänge
der christlich-germanischen Literatur,

wie die wissenschaftlichen und pädagogischen


Bestrebungen eines Hraban in Fulda,
eines Walafrid in Reichenau,
eines Hartmod in St. Gallen,

hat die Grundlage einer gesteigerten


materiellen Zivilisation
als eine unvermeidliche Voraussetzung.
Tatsächlich muss Deutschland im 10. Jahrhundert

schon viel heimeliger ausgesehen haben als in Urzeiten,


als die Eigentumsrechte des Adels
über weite Landstriche eher hinderlich waren
als eine Hilfe zur Entwicklung der Landwirtschaft.

Ab dem 7. Jahrhundert lichtete sich der deutsche Urwald.


Die Bewohner der Klöster schwangen beharrlich die Axt
und den Karst der mittelalterlichen Hinterwäldler,
denn sie sahen sich zunächst abhängig

von den Erträgen der gerodeten Erde


rund um ihre stillen Sitze.
Kaiser Karl selbst widmete der Landbewirtschaftung
größte Sorgfalt, förderte die Rodung der Wälder
und gab denjenigen, die solche Arbeiten durchführten,
einen Teil des neu gewonnenen Landes als Pachtzinsen.
Und er versuchte nicht nur, die Landwirtschaft und Viehzucht
durch Gesetze und Verordnungen zu verbessern,

er selbst ging den Bauern mit gutem Beispiel voran,


indem er auf seinen Gütern Musterhöfe errichtete.
Zwei Jahre vor seinem Tod erließ er eine Verordnung
über die Verwaltung seiner Ländereien,

die sehr willkommene Informationen


über den damaligen Zustand der Landwirtschaft gibt.
Es befasst sich mit der Behandlung der Getreidefelder,
der Wiesen und Wälder, der Viehzucht, der Pflege der Pferde,

der Imkerei und im Detail mit dem Gartenbau.


So erfahren wir von den Blumen und Gemüsen,
denen deutsche Gärtner Sorgfalt widmeten;
wir erfahren, dass Rosen, Lilien

und andere Ziersträucher angebaut wurden,


dass Kümmel, Fenchel, Petersilie, Kresse,
Gurken, Bohnen, Karotten, Zwiebeln, Lauch, Kerbel,
Kohlrabi und anderes Gemüse angebaut wurden.

Auch die Obstkultur wird betont


und die verschiedenen Obstsorten näher besprochen.
Auch der Wein, der Freudenbringer der Römer,
wird nicht vergessen,

und historisch belegt ist auch, dass Karl


zwar nicht die ersten Reben in Deutschland gepflanzt,
aber den Weinbau am Rhein verfeinert und ausgebaut hat.
Schließlich legt die altgermanische Vorliebe
für Leinenkleidung
nicht nur den sorgsamen Anbau von Flachs nahe,
sondern wir haben ein ausdrückliches Zeugnis für die Sorgfalt,
die ihm ständig zuteil wurde,

in der hohen Strafe,


mit der das fränkische Gesetz
den Diebstahl auf dem Flachsfeld ahndete.
Wo sich das Feld verbessert,

verbessert sich auch die Wohnung des Bauern.


Mit dem Fortschritt der Landwirtschaft
verbesserte sich auch die bauliche Ausstattung.
Anstelle der alten deutschen Hütte,

grob aus Baumstämmen gebaut, mit Lehm gedeckt,


mit Rohren gedeckt, ohne Fenster und Treppen,
in der Menschen und Vieh im Winter zusammen lebten,
oder besser gesagt, zusammen eingestallt wurden,

entstanden nach und nach Behausungen,


wie die Entwicklung des Ackerbaus und der Viehzucht
sie notwendig machte, wie eine humanere Existenz
sie wünschenswert machte.

Auch die Behausung der Leibeigenen war


in ein Wohnhaus, eine Scheune
und einen Viehstall aufgeteilt,
während die Gehöfte der Gutsbesitzer

aus einem Herrenhaus, einem Kellerhaus bestanden,


einem Badehaus, einem Getreidespeicher,
einem Stall für Pferde und Rinder,
einem Schafstall und einem Schweinestall.
Außerdem gab es für die Frauen ein eigenes Haus,
in dem sie mit Spindel und Webstuhl beschäftigt waren,
weshalb das Frauenhaus
auch Arbeitshaus oder Weberei genannt wurde.

Hier verbrachten die Frauen die meiste Zeit,


die von der Hausarbeit übrig blieb,
den Rock zwischen den Knien,
die Spindel in der Hand –

Spinnräder gab es erst im 15. Jahrhundert -


waren also mit Arbeiten beschäftigt,
die lange Zeit das Hauptmaterial für die Gewänder
der Frauen und ihrer Männer lieferten,

Arbeiten, denen die Königstochter


nicht weniger unterworfen war
als die Bauersfrau oder die Magd.
Neben der Leinenweberei wurde von deutschen Frauen

schon früh auch die Wollweberei praktiziert,


und der angelsächsische Kirchenhistoriker Beda
bezeugt deren Können auf diesem Gebiet,
wenn er davon berichtet, dass opulente Nonnen

ihre Meisterschaft nutzten des Webens


bereits im 7. Jahrhundert,
um ihren Liebhabern
kostbare Gewänder zu überreichen.

Solange die Tracht von Mann und Frau


im Allgemeinen schlicht und einfach blieb,
also bis weit ins Mittelalter hinein,
bedienten Frauen nicht nur Spindel und Webstuhl,
sondern auch Schere und Nadel,
und in mittelalterlichen Gedichten
wird uns so manche hübsche Szene gezeigt,
in der Prinzessinnen die Kleider schneiden.

Um auf die bäuerliche Architektur zurückzukommen,


stellen wir fest, dass die genannten Gebäude
anfangs meist aus grob behauenem Holz bestanden.
Steine und Ziegel waren selten.

Im Inneren waren die Häuser


ein einziger Hohlraum ohne Trennwand.
In der Mitte dieses Raumes erhob sich eine Säule,
die das Dach trug.

Bald jedoch wurden die Häuser mit Schindeln gedeckt


und Trennwände und Treppen wurden eingeführt.
Unter und nach Kaiser Karl
begann der Bau von Steinhäusern.

Nicht nur die berühmten Kaiserpaläste,


sondern auch viele der Herrenhäuser
auf den Gütern Karls waren bereits
aus Stein gebaut.

In einem davon befanden sich drei Wohnzimmer,


elf Arbeitszimmer, zwei Vorratskammern und ein Keller.
Das ganze Haus war unterkellert
und hatte zwei überdachte Korridore.

Unter dem Hausrat befinden sich


fünf Federbetten mit Matratzen,
zwei Kupfer- und sechs Eisenkessel,
ein eiserner Leuchter, Tischdecken, ein Handtuch,
eisenbeschlagene Kübel, Sicheln, Hacken, Äxte.
Der Preis einer möblierten Wohnung
wurde auf zwölf Schilling geschätzt,
was uns Gelegenheit gibt, hier eine kurze Episode

über die altdeutsche Münzprägung einzuflechten.


Abgesehen von den vielen Veränderungen,
die das deutsche Münzsystem durchmachten,
bei den Sachsen entfielen 12 Schillinge oder Taler

auf ein Pfund Silber,


während bei den Franken, Alemannen und Bayern
20 Gulden auf ein Pfund Silber gezählt wurden.
Der Goldgulden entsprach 40 Silberdenaren,

der Silberschilling 12 Denaren.


Goldgulden wurden 72 zum Pfund Gold gerechnet.
Der fränkische Goldgulden kostete 40 Silberdenare,

der sächsische Silberdenar 12 bis 20.


Der Silbergulden war wie der Golddenar eine ideale Münze,
denn nur der Gulden wurde wirklich in Gold
und nur der Denar in Silber geprägt.

Das Recht, Münzen zu prägen,


war ein königliches Recht,
und sogar Chlodwig ließ Goldgulden
mit seiner Büste prägen.

Das Münzrecht wurde im Laufe der Zeit


von den Königen einzelnen Fürsten, Baronen,
Bischöfen und Äbten,
aber auch Städten verliehen.
Was das Verhältnis des Geldwertes von früher
zu dem der Gegenwart anbelangt,
so hatte das Geld damals mindestens
den fünfzigfachen Wert von heute.

Ein ausgewachsener Ochse war damals


zwei silberne Schillinge wert,
jetzt ist er vierhundert Gulden wert,

so dass ein Schilling damals ungefähr so viel wert war


wie heute zweihundert Gulden.
Geht man aber davon aus, dass ein Silbergulden
nach damaligem Geldwert

nur 50 unserer kaiserlichen Gulden entsprach,


so machten 1000 Silbergulden
nach heutigem Geldwert ein Vermögen
von 50.000 Gulden aus,

und da war ein Goldschilling gleich 3 silbernen,


1000 goldene Schillinge bildeten einen Besitz,
der heute 170.000 Gulden betragen würde.
Welche erheblichen Unterschiede bei Kauf und Vertrag,

bei Strafen, in allen öffentlichen


und privaten Angelegenheiten
die Berechnung nach Gold- oder Silbermünzen
zu rechtfertigen hatten, ist klar.

Das Aufblühen von Gewerbe und Handel


wird erst durch die bürgerliche Freiheit ins Leben gerufen.
Bürgerliche Freiheit existierte jedoch
in der Karlingischen Zeit nicht.

Erst unter dem sächsischen Kaiserhaus


begann sich diese Freiheit
mit der Blüte der Städte zu etablieren,
von der sie untrennbar ist.

Dies bedeutet jedoch nicht,


dass sich Handel und Gewerbe
in karolingischer Zeit
noch nicht entwickelt hätten.

Vor allem sahen sich die Klosterbewohner gezwungen,


sich kaufmännische Fähigkeiten anzueignen,
um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen,
die durch das gesellschaftliche Zusammenleben

bereits über die primitiveren der primitiven


und isolierten Hofbauern hinausgewachsen waren.
Als die kommerzielle Produktion in den Klöstern
und unter ihrem Schutz allmählich zunahm,

waren die klugen Mönche nicht verlegen,


die Verbraucher anzuziehen.
sie nutzten die Tatsache,
dass an den hohen Kirchenfesten

Weihnachten, Ostern, Pfingsten,


Mariä Himmelfahrt - das prächtigste,
das Fronleichnamsfest,
wurde erst im 13. Jahrhundert eingeführt -

sowie an den Festen der Schutzheiligen,


eine Vielzahl von Gläubigen strömte
zu den kirchlichen Klöstern,
um Märkte zu errichten.

Natürlich durfte bei den Feierlichkeiten


auch eine feierliche Messe nicht fehlen,
und da Feste und Märkte
eng miteinander verbunden waren,

gab man letzterem auch den Namen Messe.


Überall dort, wo die katholische Romantik
praktische Lebensaspekte wie den Handel aufgriff,
verstand sie es bald, aus kleinen Anfängen Großes zu machen.

Nachdem die kirchlichen Klöster


Märkte gegründet hatten,
die sie durch den Erwerb von Zoll- und Münzprivilegien
zu einer hervorragenden Einnahmequelle zu machen wussten,

war der Grundstein für eine städtische Gemeinschaft gelegt,


die bald erstarkte und sich ausbreitete.
Für andere städtische Gemeinschaften
waren die Königsschlösser und Landhäuser

viel genutzte Bezugspunkte; denn hier,


unter dem direkten Schutz der königlichen Macht,
konnte sich der kaufmännische Fleiß
mit relativer Sicherheit niederlassen.

Schließlich boten solche Orte,


an denen sich der Handel
mit den Nachbarvölkern konzentrierte,
die natürlichste Gelegenheit für die Stadtentwicklung,

wie der frühe Aufstieg von Magdeburg, Erfurt,


Regensburg und Lorch bezeugte.
Zu den ältesten Handelsplätzen gehörte Köln,
wo der Nordwest- und der Südwestverkehr zusammentrafen.

Wie diese Stadt waren Mainz, Trier, Augsburg


und andere deutsche Städte
aus den Ruinen römischer Kolonien entstanden,
und außerdem finden wir Straßburg, Worms,

Frankfurt, Würzburg, Bamberg, Fürth,


Eichstädt, Schlettstadt, Saalfeld, Forchheim,
Merseburg, Halle, Passau, Linz, Wien, Salzburg,
Zürich, Basel, Chur, Osnabrück,

Minden, Bremen, Hamburg und viele andere


im 8. und 9. Jahrhundert,
von denen die meisten noch im Aufbau sind.
Kaiser Karl selbst leistete dem Handel und Gewerbe

wichtige Dienste durch energisches Vorgehen


gegen Räuber, die die öffentliche Sicherheit beeinträchtigten,
durch die Förderung der Binnenschifffahrt,
durch den Bau von Brücken

und durch Dekrete gegen den Zollbetrug,


an dem sich viele Große schuldig gemacht hatten.
Der Adel wusste sich den aufkeimenden Handel
schon früh zu Eigen zu machen,

indem er einerseits Zollposten an Straßen


und Stegen errichtete
und andererseits reisenden Kaufleuten
im Gegenzug eine bewaffnete Eskorte

von einem Ort zum anderen zur Verfügung stellte


für eine Belohnung.
Letzteres war unvermeidlich notwendig;
denn in einer so wilden, räuberischen Zeit

musste sich die königliche Polizei,


wenn von einer solchen Polizei
überhaupt die Rede sein kann,
als völlig unzureichend erweisen.

Den Handel der damaligen Zeit müssen wir uns


in sehr bescheidener Form vorstellen.
Der Binnenhandel war meist bloßes Hausieren,
der Grenzhandel hauptsächlich Tauschhandel.

Wo es zum Großhandel aufstieg,


war es sicherlich in den Händen der Juden,
deren spekulativer Geist das industrielle
und kommerzielle Leben im Allgemeinen beherrschte.

Die Finanzkunst dieses Volkes war, wie überall,


auch in Deutschland früh aktiv,
zumal das Geld ihnen einen Ersatz
für die erlebte brutale Unterdrückung bieten musste.

Übrigens wussten die großen Deutschen die Nützlichkeit


der Juden im Geldverkehr zu schätzen.
Die Nachkommen Abrahams
standen unter dem Schutz des Königs,

erhielten später den Titel kaiserliche „Kammerdiener“


und wurden oft mit dem Eintreiben von Steuern betraut.
Die von Kaiser Karl begründete
christlich-germanische Kultur

kam in den verheerenden Kriegen,


die seine Nachfolger untereinander führten
und die auch gegen Slawen, Normannen und Magyaren
zu kämpfen hatten, der totalen Zerstörung nahe.

Schon unter Karls Sohn, dem schwachen Ludwig,


der für einen Mönch weitaus besser geeignet war
als für den Herrscher eines so großen Reiches,
ging der karolingische Ruhm rapide zurück.

Die Bruderkriege zwischen Ludwigs Söhnen


führten dann zur Teilung der fränkischen Monarchie,
die durch den berühmten Vertrag
von Verdun begründet wurde.

Lothar erhielt Italien mit Burgund und der Kaiserkrone,


Karl der Kahle Westfranken, das ist Frankreich,
Ludwig Ostfranken. Das ist Deutschland,
weshalb er auch der Deutsche genannt wird.

Mit dem Vertrag von Verdun


begann die eigenständige und nationale
Existenz unseres Landes.
Sie wurde bald von einer beträchtlichen Schwächung

der königlichen Macht begleitet;


denn die Engstirnigkeit und Kraftlosigkeit
der Karolinger ließ sie auf ein Mittel zurückgreifen,
das ihr Ansehen auch in Deutschland

in den drückenden Zeiten


höchst gefährlich machte.
Um das Niveau der Kriegsführung zu erhöhen,
stellten sie die alte germanische Herzogswürde wieder her,

die von Kaiser Karl abgeschafft worden war,


und verliehen den Herzögen
sowie den Markgrafen und anderen großen Männern
die erbliche Macht, die es ihnen ermöglichten,

den Hochadel des Reiches zu etablieren.


Die Karlinger sollten bald lernen,
was dieser Adel bedeutete.
Denn als Karl der Dicke,

der infolge des raschen Todes seiner Brüder


und engsten Verwandten wieder
fast das gesamte Erbe
seines kaiserlichen Ahnherrn in einer Hand vereinte,

erregte er die Verbitterung der deutschen Großen


durch seine Unfähigkeit und Feigheit,
sie begegneten sich am Rhein,
setzten ihn kurzerhand vom Thron ab

und erhoben dann seinen Neffen,


Herzog Arnulf von Kärnten.
Mit Arnulfs kinderlosem Sohn
Ludwig dem Kind erlosch

der karolingische Stamm in Deutschland,


während er mit dem kinderlosen Ludwig
dem Faulen von Frankreich
vollständig ausstarb.

Frankreich bewegte sich dann unter der


von Hugo Kapet gegründeten Königsdynastie
der Kapetinger in Richtung politische Einheit
und Zentralisierung,

aber die deutsche Geschichte nahm einen anderen Verlauf.


Der Hochadel war bereits so mächtig geworden,
dass er den Partikularismus aufrechterhalten konnte.
Da aber das Bedürfnis nach einer staatlichen Einheit,

wenn auch nur einer losen, zu gebieterisch hervortrat,


nahm sich die altgermanische Adelsrepublik,
die in anderen Formen wieder zum Leben
erweckt worden war, die Freiheit,

sich freiwillig einem obersten Reichsoberhaupt


unter zu ordnen. Daraus entstand
das deutsche Wahlkönigtum.
Der Hochadel machte Deutschland zum Wahlkönigreich,

indem er nach dem Aussterben der deutschen


Karolinger Herzog Konrad von Franken
zum deutschen König wählte.
Sein energisches Vorgehen

gegen die alemannischen Grafen


Erchanger und Berchtold, die für ihren Versuch,
ihr Kämmereramt willkürlich zur erblichen Würde
eines Herzogs zu erheben, mit dem Tod sühnen mussten,

zeigt, wie sehr ihm die Förderung der Reichseinheit


und die Hebung des königlichen Ansehens am Herzen lag.
Die Erwähnung dieser Brüder, die in der Geschichte
kurz mit ihren Taufnamen genannt werden,

veranlasst uns, gelegentlich einen Seitenblick


auf das Namenssystem zu werfen.
Zu Beginn des Mittelalters wurden in Deutschland
Epitheta verwendet, um körperliche Merkmale

oder Gemütszustände wie bei Fürsten und Adligen


oder kaufmännische Berufe wie beim einfachen Mann
zu bezeichnen. Dann begann der Hochadel,
Beinamen zu verwenden,

die von ihren angestammten


oder feudalen Sitzen übernommen wurden,
sich aber oft änderten,
bevor sie sich etablierten.

Im niederen Adel setzte sich erst viel später


die Gewohnheit durch, den Gutsnamen
als Familiennamen zu verwenden.
Bei Bürgertum und Bauern tauchten

stehende Geschlechtsnamen erst im 14. Jahrhundert auf


und wurden erst im 15. Jahrhundert üblich.
Conrads Einsicht konnte die Irren und Wirren
seiner Zeit nicht überwinden.

Besser gelang es nur der Stärke


des sächsischen Königshauses,
das durch die Wahl des Sachsenherzogs
Heinrich des Voglers begründet wurde.

Heinrich I. verdiente sich für unser Land


nach außen Verdienste
durch den Schutz Deutschlands
vor den verheerenden Einfällen der Ungarn

und nach innen durch die Festigung


des Städtewesens und des Bürgertums.
Er hat nicht die deutschen Städte geschaffen,
denn es gab viele von ihnen vor ihm,

aber er hat den deutschen Mittelstand geschaffen,


indem er den Einwohnern der Städte,
von denen die meisten aus den Reihen
der Leibeigenen und Sklaven stammten,

die Rechtsfähigkeit verlieh, gewissermaßen


der erste Schritt aus der Knechtschaft
in die bürgerliche Freiheit.
Zwei weitere Leistungen Heinrichs

steigerten die Bedeutung


des aufstrebenden Bürgertums nicht wenig.
Erstens verlieh er den Städten das Recht,
Münzen zu prägen,

und zweitens ordnete er an,


dass die Volksversammlungen und alle großen Feste
in den Städten abgehalten werden sollten.
Inwieweit diese beiden Maßnahmen

die Handels- und Gewerbefähigkeit der Städte


und damit die Selbstverpflegung
und damit das Aufblühen
bürgerlicher Genossenschaften förderten,

bedarf keiner Erklärung. Es zeigt sich auch,


dass das von Heinrich vorgegebene
und bald überall nachgeahmte Beispiel
der Befestigung deutscher Städte

ihnen zu ihrer Blüte verhalf.


Überhaupt muss das sächsische Königshaus
dafür gelobt werden, dass unter seiner Kaiserherrschaft
viel getan wurde, um die starren

kastenartigen Standesunterschiede,
die uns aus urdeutscher Zeit überliefert waren,
zu mildern. Auch der Klerus verdient
einen großen Anteil an diesen Bemühungen.

Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I.


steigerte Glanz und Ruhm seiner Dynastie
und Deutschlands.
Bei seiner Krönung und Salbung in Aachen,

das später seine Würde als Krönungsort


an den Rivalen Frankfurt abtreten musste,
verrichtete der Hochadel erstmals jene Hofdienste,
die später als "Erzämter" bekannt wurden -

der Erzbischof von Mainz als Erzkanzler,


der Herzog von Lothringen als Erzkämmerer,
der Herzog von Franken als Erztruchsess,
der Herzog von Schwaben als Erzmundschenk,

der Herzog von Bayern als Erzmarschall -


zunächst jedoch nur symbolisch-zeremonieller Bedeutung.
Nur Otto verstand es, diesem Akt
sachlich-politische Gültigkeit zu verleihen,

denn er fühlte, dachte und handelte durchweg


als König und Herrscher der Deutschen.
Deshalb war seine Krönung zum Kaiser
des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“,

die ihm Papst Johannes XII. in Rom verlieh,


keine vergebliche Zeremonie.
Bald gab er seinem Krönenden das Gefühl,
dass die souveräne Seele Karls des Großen in ihm

durch die Absetzung des Papstes


und die Unterstellung des Päpstlichen Stuhls
unter die Schirmherrschaft des römisch-deutschen Kaisers
als obersten Lehnsherrn der gesamten Christenheit

in verstärkter Macht wiederbelebt worden war.


Diese kaiserliche Oberhoheit wurde freilich
von den Päpsten nie anerkannt,
und ihre Durchsetzung seitens mächtiger Kaiser

führte zu jenen für Deutschland folgenreichen


Kämpfen zwischen Kaisertum und Papsttum.
Nachdem Karl der Große zunächst versucht hatte,
diesen Traum von der Weltherrschaft zu verwirklichen,

und nachdem Otto der Große versucht hatte,


diese Erkenntnis zu erneuern,
verschwendeten die wichtigsten deutschen Kaiser
ihre besten Kräfte und die der Nation

an der gleichen Absurdität.


Anstatt einen deutschen Staat,
ein geschlossenes Imperium zu Hause zu schaffen –
nämlich durch die unbarmherzige Zerstörung

der ewigen Anarchie des Adels –


stiegen unsere großen mittelalterlichen Ottonen,
Heinrichs und Friedrichs immer wieder über die Alpen,
um das trügerische Gespenst

der römischen Kaiserkrone dort zu jagen.


Die Folgen dieser wahnwitzigen Verfolgungsjagd
durch Ströme von Tränen und Blut waren bekanntlich
für Deutschland und Italien gleichermaßen traurig.

Ab Otto I. wurde das Prinzip der Erbfolge


in der Reichsverfassung
zum Wahlprinzip hinzugefügt.
Die Kaiser setzten sich fortan erfolgreich dafür ein,

die Nachfolge ihrer Söhne im Reich zu sichern,


indem sie sie zu Lebzeiten
von den Fürsten zu deutschen Königen oder,
wie es die spätere Kanzleiform vorsah,

zu römischen Königen wählen ließen.


Ottos Sohn und Enkel Otto II. und Otto III.
konnten die von Otto I. geschaffene Reichsmacht
nicht in vollem Umfang aufrechterhalten,

doch verdienen ihre regen Bildungsbemühungen


besondere Anerkennung.
Geistige und gebildete ausländische Prinzessinnen,
wie Adelheit von Burgund und Theophania von Byzanz,

hatten den Sinn für geistige Bildung


als schönste Mitgift in das ottonische Haus gebracht,
und dieser Sinn konnte um so aktiver sein,
weil zugleich ein neuer Aufschwung

in Industrie und Gewerbe,


hervorgerufen insbesondere durch die Entdeckung
und Ausbeutung der Silberminen des Harzes,
erweckte materielle Kultur.

Zu den römischen Bildungselementen


der karolingischen Zeit gesellten sich
die ottonisch-griechisch-byzantinischen.
Beiden Epochen ist jedoch gemeinsam,

dass der Geist ihrer Erziehung ein fremder,


ein künstlicher war.
Wie am Hofe Karls des Großen
drängten sich ausländische Gelehrte

an den ottonischen Hof


und pfropften ihr fremdes Wissen,
ihren römisch-griechischen Geschmack
auf den deutschen Stamm,

ohne dessen Besonderheiten zu berücksichtigen.


Unter diesen Gelehrten ragte Gerbert heraus,
ein gebürtiger Auvergnat,
der von seinem Schüler und Freund Otto III.

unter dem Namen Sylvester II.


auf den päpstlichen Stuhl gehoben wurde.
Er verfügte über außerordentliche Kenntnisse
in Mathematik, Philosophie und klassischer Literatur,

für die damalige Zeit galt er als Zauberer,


vor allem wegen seiner Erfindung eines Teleskops,
einer Wasserorgel, eines Rechentisches
und verschiedener hydraulischer Maschinen.

Die Inspiration, die er gab,


wurde von praktischen Talenten
wie den Bischöfen Meinwerk von Paderborn
und Bernward von Hildesheim

für die Verbesserung der industriellen Fähigkeiten


sowie für die deutsche Architektur, Malerei,
Bildhauerei und Musik fruchtbar gemacht.
Als besonders kreativ erwies sich das

am ottonischen Hof gepflegte Kunstverständnis


bei der Errichtung und Ausschmückung kirchlicher Bauten,
ganz im Sinne des christlich-katholischen Zeitgeistes.
Der frühchristliche Baustil,

dessen herausragendstes Denkmal diesseits der Alpen


der von Karl dem Großen erbaute Dom zu Aachen ist,
wandelte sich im 10. dem byzantinischen Stil.
Ihr Grundtypus war und blieb der Baustil

der römisch-christlichen Basilika.


Zu diesem Grundelement kam jedoch
der byzantinische Stil hinzu,
der sich durch seine Vorliebe für die Kuppelform auszeichnete,

aber auch Einflüsse des mohammedanischen Stils


machten sich bemerkbar und nicht minder
bereits Anklänge an jenen Baugeist,
der als germanischer später solche tollen Sachen schuf.

Die Details der Romanik,


deren Hauptdenkmäler in Deutschland
die Schlosskirche in Quedlinburg,
die Kirche in Huysburg bei Halberstadt,

das Münster in Konstanz,


die Kathedrale in Schaffhausen,
das Großmünster in Zürich,
die Kirche in Höchst am Main,

die Jakobskirche in Bamberg,


der Dom und die Godehardskirche in Hildesheim,
die Peterskirche in Soest,
die Dome in Mainz, Worms und Speyer sind -

ich kann es mir nicht erlauben, ins Detail zu gehen,


da ich mir den nötigen Raum reservieren muss
für eine kurze Erörterung
sogenannter germanischer Architektur.

Doch während die Baukunst in Deutschland


bereits im 10. und 11. Jahrhundert
prächtige Kirchenbauten schuf,
war die bildende Kunst ebenso bemüht,

die Innenräume dieser Gebäude zu schmücken,


deren Gewölbe und Kuppeln
von den harmonischen Klängen
der Kirchenlieder begleitet wurden,

die sich in ottonischer Zeit erheblich verbessert hatten.


Die deutsche Skulptur der Romanik
tauchte zunächst nur in der Metallverarbeitung
mit einiger Bedeutung auf.

Seine Entwicklung lässt sich deutlich


an den Siegeln nachvollziehen,
die in Metall graviert und in Wachsabdrücken
auf Dokumenten angebracht wurden;

dann in den kirchlichen Geräten und Schmuck


(Altartafeln, Reliquienschreine, Monstranzen, Kelche).
Seit karolingischer Zeit war es üblich,
zumindest den Hauptaltar jeder bedeutenden Kirche

mit einer Tafel mit in Goldblech ziselierten


Reliefs zu schmücken. Auch die Altargeräte
waren aus Edelmetall und oft bizarr geformt.
Es gab Kelche in Löwen- und Drachenform,

Räuchergefäße in Vogelform,
Kronleuchter, die im Ganzen und im Detail
die barocken Ideen einer künstlerischen
Phantasie verkörperten,

die von der edlen Schlichtheit


der klassischen Kunst keine Ahnung hatte.
Besonders reich ausgestattet waren die Dome
von Mainz und Hildesheim.

Der Mainzer Dom besaß neben unzähligen


mit Edelsteinen geschmückten Gold- und Silbergefäßen,
prächtigen Gewändern und kostbaren Teppichen
ein kolossales Kruzifix, dessen Kreuz

mit Goldplättchen bedeckt war,


während die lebensgroße Figur des Gekreuzigten,
dessen Inneres mit juwelenbesetzten Reliquien gefüllt war,
aus purem Gold war,

so dass das Goldgewicht der ganzen Arbeit


600 Pfund betrug. Ein ähnliches,
mit Gold überzogenes, mit feinen Filigranarbeiten verziertes,
mit Perlen und Edelsteinen besetztes Kreuz

wird noch heute in Hildesheim aufbewahrt.


Die ältesten in Deutschland hergestellten Bronzearbeiten
sind die bronzenen Türblätter, die Karl der Große
für den Aachener Dom gießen ließ,

dann die bestehenden, die der Bischof


für den Mainzer Dom anfertigen ließ,
deren Oberflächen jedoch noch keine bildlichen
Darstellungen aufweisen.

Die Bronzetüren des Hildesheimer Doms,


auf denen alt- und neutestamentliche Szenen
abgebildet sind, weisen dagegen bereits solche Bilder auf,
ebenso wie eine Bronzesäule im Domhof derselben Stadt,

deren Schacht achtundzwanzig Reliefbilder


aus der Geschichte Christi
spiralförmig nach oben schraubt.
Diese und viele andere Metallarbeiten,

die in und an alten Kirchen


in Deutschland gefunden wurden, beweisen,
welche Fortschritte die deutsche Goldschmiedekunst
damals schon gemacht hatte.

Auch die Bildhauerei in Elfenbein und Holz


dieser Zeit hat einige schöne Denkmäler hinterlassen,
allen voran ein großes Elfenbeinkruzifix
im Bamberger Dom.

Seltener als die Metallkunstwerke


des romanisch-deutschen Stils
sind die bildhauerischen Arbeiten in Stein,
die erst mit dem 12. Jahrhundert an Zahl und Wert zunahmen

und sich hauptsächlich mit der reliefartigen Ausschmückung


von Kirchenportalen, Chorwänden, Altären,
Kanzeln und Grabdenkmälern befassten.
Die frühe Verwendung der Malerei in Deutschland

wird durch die Beschreibungen des Doms zu Aachen


und der Kaiserpfalz Ingelheim belegt.
Zugegebenermaßen können wir uns kaum eine Vorstellung
von den Gemälden machen,

die sich in diesen beiden Gebäuden befanden,


und da sie von italienischen Künstlern ausgeführt wurden,
hatten sie ohnehin keinen nationalen Wert.
In der ottonischen Zeit entstand die Malerei,

aber wie alle Kunst stand sie im Dienst der Kirche.


Ihre Entwicklung im 10. und 11. Jahrhundert
zeigt sich besonders deutlich
in den Miniaturmalereien,

mit denen Manuskripte verziert wurden.


In jenen Zeiten, in denen Bücher knapp waren
und geschriebene Werke
von Schreibern abgeschrieben werden mussten,

war der Besitz von Manuskripten ein Luxusobjekt.


Die Kirche förderte diesen Luxus,
indem sie schon früh auf den schönen äußeren Schmuck
der im Gottesdienst verwendeten Manuskriptbücher achtete.

Sie wurden auf sorgfältig präpariertes Pergament geschrieben,


ihre Einbände waren mit Edelmetall überzogen
und mit Edelsteinen oder Elfenbeinschnitzereien verziert.
Im Inneren waren die Anfänge und Enden

der Abschnitte sowie die Ränder


mit teils rein dekorativen,
teils illustrativen Malereien geschmückt.
Im 10. Jahrhundert herrschte in dieser Miniaturmalerei

die Konventionalität der byzantinischen Kunst vor,


gleichzeitig aber die ihr eigene feine Technik,
die lebhaft wechselnde Farbgebung,
die Verwendung von Goldornamenten.

Dieses Gemälde ist in mehreren Manuskripten


der Evangelien zu sehen,
die Kaiser Otto II. anfertigen ließ.
Später, im 11. Jahrhundert, emanzipierte sich

die Miniaturmalerei stärker


vom byzantinischen Schematismus,
um in ihrem Schaffen germanische Innerlichkeit
und das Erwachen eines eigenständigen

deutschen Kunstsinns zu bezeugen,


um sich im folgenden Jahrhundert
von den Schöpfungen der Ureinwohner
inspirieren zu lassen.

Die Poesie wagte es allmählich,


in künstlerischer Freiheit
und Unparteilichkeit zu erscheinen.
Auch in Deutschland wurde in ottonischer Zeit

die Wandmalerei eifrig betrieben.


Wir wissen zum Beispiel, dass König Heinrich
seinen großen Sieg über die Ungarn
auf eine Saalwand seines Merseburger Schlosses malen ließ.

Die Tafelmalerei scheint weniger eifrig


gepflegt worden zu sein;
die Denkmäler aus dieser Zeit sind ohne Bedeutung.
Ähnliches gilt für die Mosaikmalerei,

während die Kunst des Einstickens oder Einarbeitens


von bildlichen Darstellungen in Teppiche
nach gesicherten Angaben
schon recht weit fortgeschritten war.

Schließlich ist es wahrscheinlich, dass gegen Ende


des 10. Jahrhunderts in Deutschland
eine völlig neue Kunstgattung,
die Glasmalerei, erfunden oder weiterentwickelt wurde.

Deutsche Meister brachten diese Kunst


in die Nachbarländer.
In der Kirche des bayerischen Klosters Tegernsee
wurden Glasmalereien zum ersten Mal

für den kirchlichen Schmuck verwendet,


da sie bald so wichtig werden sollten.
Wie die Kunst wurden auch Wissenschaft und Literatur
in ottonischer Zeit gepflegt und gefördert.

Die Ottonen erneuerten


die klösterlichen Studienkollegs Kaiser Karls
und gründeten neue, von denen die berühmteste
die von Ottos Bruder Bruno in Köln gegründete war.

Ein Aufschwung der literarischen Tätigkeit


im nationalen Sinne ging jedoch weder vom Hof
noch von den kirchlichen Hochschulen aus.
Die derbe Poesie der Mönche,

wenn sie auf Deutsch zu hören war,


war nicht geeignet, Gebildete
wie die Prinzen und Prinzessinnen
des sächsischen Kaiserhauses anzuziehen,

und der römisch-griechische Geschmack des Hofes


traf dann auch bei den Geistlichen
auf Literaten der Zeit.
Latein war die Sprache des Hofes,

Latein die Sprache der Poesie


und Geschichtsschreibung,
in der sich die berühmten Chronisten
ihrer Zeit betätigten,

während sogar die urgermanische Tiersage


sich mit lateinischem Gewand abfinden musste.
Gelehrte deutsche Mönche des 11. Jahrhunderts
blickten mit Verachtung auf die

als barbarisch bezeichnete Sprache ihres Volkes herab.


So auch etwa beim St. Galler Benediktiner Ekkehart,
dem Vierten des Namens, der um 1060 starb

und die „Geschehnisse von Sankt Gallen“ –


die berühmte Klosterchronik – verfasste,
die zwar sehr willkürlich mit staatlichen
und kirchlichen Tatsachen umgeht,

aber sittengeschichtlich höchst wertvoll ist.


Wo sich klösterliche Gelehrsamkeit weniger ausschließlich
und in vaterländischer Sprache äußerte,
wie in der Übersetzung der Psalmen

durch den St. Galler Mönch Notker Labeo


und in der Überlieferung des Hoheliedes
durch den Ebersberger Abt Williram,
hat sie nur schriftliche Arbeiten zu Tage gebracht,

die rein sprachlichen Wert haben,


und so könnten wir unser Kapitel
hier ohne Weiteres abschließen.
Es wäre nicht unsere Pflicht, dem Leser

die bemerkenswerteste Literatenfigur


der ottonischen Zeit vorzustellen,
die Nonne Roswitha,
die um 980 im Kloster Gandersheim in Braunschweig lebte

und schrieb. Dies ist eine echte und schöne Literatenfrau


des Mittelalters mit einem ziemlich signifikanten
Touch dessen, was die Engländer so treffend
Blaustrumpf nennen. Wie es scheint,

trat sie bereits in jungen Jahren


in das erwähnte Kloster ein,
widmete sich unter der Leitung
der gelehrten Schwester Richardis

und der hochgebildeten Äbtissin Gerberga,


der Nichte Ottos II., den klassischen Studien
und machte sich bald durch ihr schriftstellerisches Talent
so einen Namen, dass sie

die "helle Stimme von Gandersheim" genannt wurde.


Von Gerberga und ihrem kaiserlichen Onkel
dazu herausgefordert, erzählte sie die Taten
Ottos I. in lateinischen Hexametern.

Sie schrieb auch die Geschichte


der Gründung ihres Klosters
sowie mehrere Märtyrerlegenden
in lateinischen Versen.

Am bekanntesten wurde sie jedoch


durch ihre lateinischen Komödien,
in denen sie Terenz nachahmte.
Es gibt viele gute Christen,

die um einer gebildeteren Sprache willen


den eitlen Anspruch heidnischer Bücher
dem Nutzen der Heiligen Schrift vorziehen,
ein Irrtum, von daher können wir uns

nicht ganz freisprechen.


Dann gibt es fleißige Bibelleser, die,
obwohl sie die anderen Schriften
der Heiden verschmähen,

dennoch allzu oft die Gedichte von Terenz lesen


und sich, bestochen durch die Anmut der Rede,
durch Bekanntschaft damit beschmutzen.
In Anbetracht dessen habe ich,

die hell klingende Stimme von Gandersheim,


es nicht verweigert, den vielgelesenen Autor
im Ausdruck nachzuahmen, so dass
in der gleichen Weise, mit der geile Frauen dort,

hier die schmutzigen Laster dargestellt werden,


Die lobenswerte Keuschheit
gottesfürchtiger Jungfrauen sei gepriesen
nach dem Maß meiner geringen Begabung.

Roswithas Absicht beim Schreiben


ihrer sechs kleinen Dramen
war also eine moralisch-asketische,
wie es sich für eine Nonne gehört.

Dennoch hatte sie den Konflikt


zwischen antikem Sensualismus
und christlichem Spiritualismus,
der bei einer klassisch gebildeten Nonne

zwangsläufig entstehen musste,


noch nicht vollständig überwunden.
In ihren Komödien lodert hier und da
das Feuer der Sinnlichkeit auf,

und obwohl die Klosterpoetin ihre Stücke stets


zu einem höchst erbaulichen,
martyrologischen Abschluss führt,
schildert sie doch lieber sehr prekäre Situationen.

In ihren Stücken, wie auch in denen ihres Vorbildes Terenz,


haben wir es meist mit Wüstling und Freier zu tun,
Verführung und Bekehrung
sind ihre wirkungsvollsten Motive.

Wo es komische Züge gibt, sind sie sehr körperlich,


wenn etwa der ausschweifende Statthalter Dulcitius
nachts das Haus der heiligen Jungfrauen
Agape, Chionia und Irene betritt, um sie zu entehren,

beim Betreten aber den Verstand verliert


und Töpfe küsst und schwenkt
anstelle der Mädchen
und verschmiert so sein böses Gesicht.

VIERTER GESANG
DIE SALIER UND DIE HOHENSTAUFEN

Auf den großen Dynastien unseres Landes


lag im Mittelalter ein Fluch,
der ihnen Dauerhaftigkeit versagte.
Das karolingische Haus endete,

was Genie und Macht anbelangt,


mit Karl selbst;
das sächsische Kaisergeschlecht sank mit Otto III.
in ein frühes Grab.

Auch dem salisch-fränkischen


und schließlich dem staufisch-schwäbischen
Kaisergeschlecht war nur
eine relativ kurze Dauer vergönnt.

Es ist, als ob das Schicksal


mit neidischer Eile die Bedeutenden
schnell verschwinden ließ,
während die Elenden und Faulen

lange Jahrhunderte mitgeschleppt wurden.


Nach der zweiundzwanzigjährigen,
unglücklichen Herrschaft
des heiligen Heinrich II.

wurde mit der Königswahl Konrads II.


das salisch-fränkische Kaisergeschlecht begründet,
das von den geistlichen und weltlichen Fürsten
in der Rheinebene bei Oppenheim ausgetragen wurde

und mit dem kinderlosen Heinrich V. ausstarb.


Der herausragendste Mann dieser Familie
war Heinrich III., der nach außen hin
ein wahrer "Multiplikator" des Reiches war,

nach innen hin eine tatkräftige Hand


bei der Gründung einer kaiserlichen Erbmonarchie war
und sich zugleich energisch
gegen die wachsende Macht des Papsttums wandte.

Sein Tod, der im blühenden Mannesalter eintrat,


zerstörte nicht nur seine großartigen Pläne,
sondern hinderte ihn auch daran,
seinen Sohn und Nachfolger Heinrich IV.

zum Erben dieser Pläne zu erziehen.


Die Regierungszeit des vierten Heinrichs
ist eine lange Kette von Fehlverhalten,
Unglück und Schande.

In seiner zarten Jugend


von den uneinigen Großen hin und her gezerrt,
verdorben, verbittert,
brachte der junge König

durch seine arrogante, unkluge Behandlung


der aufmüpfigen Sachsen
einen Riss in das deutsche Reich,
in den der geniale Papst Gregor VII.

sofort seine geistigen Keile trieb.


Dieser große Mann Hildebrand
darf sicher nicht mit den Maßstäben
engstirniger protestantischer Schreiber gemessen werden.

Germanischer Herkunft
und in das Bauernvolk hineingeboren,
stellte er sich der unbarmherzigen
mittelalterlichen Aristokratie

wie ein Rächer des unterdrückten Volkes entgegen;


in einem eisernen Zeitalter
bewies er die Macht des Geistes, des Denkens,
über die materielle Gewalt.

Er errichtete ein geistliches Bauwerk,


das später von Innozenz III. vollendet wurde
und das, obwohl von den Stürmen der Zeit
oft in seinen Grundfesten erschüttert,

immer noch aufrecht steht


und von dessen Zinnen aus das wichtige Banner
der päpstlichen Gedankenmonarchie
immer noch unbesiegt weht.

Gregor war von einem armen Mönch


zum Kardinal aufgestiegen
und hatte als solcher bereits die päpstliche Politik
mit souveräner Genialität geleitet.

Auf seine Anregung hin hatte Papst Nikolaus II.


das Kardinalskollegium ins Leben gerufen
und ihm die Wahl des Papstes übertragen,
die bis dahin dem gesamten römischen Klerus

und Volk vorbehalten war,


so dass der Einfluss des römischen Adels auf diese Wahl
ebenso wie das Bestätigungsrecht
des römisch-deutschen Kaisers entfallen würde.

Nachdem Gregor die Tiara erlangt hatte,


machte er sich sogleich daran, seine Idee
von der Errichtung eines Reiches Gottes auf Erden
in die Tat umzusetzen,

die Statthalterschaft Christi, das Papsttum,


über alle weltliche Macht, über Kaiser,
Könige und Fürsten zu erheben,
den Papst zum Oberherrn

über die gesamte Christenheit zu machen.


Das Fundament, auf dem er baute,
war der römisch-katholische Glaube,
sein Werkzeug die Kirche.

Dieses Werkzeug musste er erst einmal zurechtschneiden


und schleifen. Das tat er mit radikaler Energie.
Er trennte die Kirche durch drei bedeutende Maßnahmen
vollständig vom Staat:

durch das Verbot des Kaufs kirchlicher Ämter (Simonie),


durch das Verbot der Besetzung kirchlicher Ämter
durch souveräne Fürsten,
durch die Verpflichtung des Klerus zum Zölibat.

Dann trieb er das Prinzip der päpstlichen


Autorität und Unfehlbarkeit,
das sich auf die isidorischen Dekrete stützte,
auf die Spitze, indem er verfügte,

dass nur legitime kirchliche Versammlungen (Konzilien),


vom Papst eingesetzte, gültig seien
und dass ihre Verlautbarungen stets
der päpstlichen Autorität untergeordnet seien.

Schließlich verstand er es, Bann und Interdikt


zu hierarchischen Waffen zu machen,
die in jenen Zeiten des starken Glaubens
wie Blitze einschlugen

und eine unermessliche Furchtbarkeit für Einzelne


wie auch für ganze Länder hatten.
So gestärkt im Innern, so gewappnet im Äußeren
steht das Papsttum dem Kaisertum

unter Heinrich IV. feindselig gegenüber.


Von dessen Niederlage zeugt die Szene von Canossa,
wo der deutsche König barfuß, barhäuptig
und mit dem Bußgewand bekleidet

den niedrig geborenen römischen Mönch


um Verzeihung bitten musste,
eine Szene, die, so sehr sie das deutsche Nationalbewusstsein
auch demütigt, doch auf wahrhaft großartige Weise

einen Triumph des Geistes


über die Materie markiert.
Natürlich rächte sich Heinrich später an Gregor;
aber die Macht des päpstlichen Fluchs verfolgte den Kaiser

noch über das Grab hinaus,


und auch wenn sein Nachfolger Heinrich V.
dem Kaiser eine größere Autorität
gegenüber dem Papst einräumte,

behielt das Papsttum dennoch eine Vormachtstellung,


gegen die energische Kaiser zwar ankämpfen,
die sie aber nicht überwinden konnten.
Dass der Kaiser nicht wie Karl und Otto I.

der Schutzherr der Kirche,


sondern nur ihr erster Vasall war,
war zu einem Prinzip geworden,
für dessen Durchsetzung die gesamte Institution

der Hierarchie sorgte.


Die deutschen Erzbischöfe und Bischöfe
waren durch den Lehnseid,
den sie bei ihrer Amtseinführung zu leisten hatten,

an die römische Kurie gebunden,


und der Papst kannte sie
durch seine diplomatischen Gesandten (Legaten),
Der Papst verstand es, sie

durch seine diplomatischen Gesandten (Legaten),


die mit außerordentlichen Befugnissen
zur Überwachung des gesamten
kirchlichen Systems ausgestattet waren,

an ihre Eide und Pflichten zu binden,


so dass die deutschen Prälaten
durch ihre neue kosmopolitisch-hierarchische Stellung
bald ihre Stellung als deutsche Größen vergaßen.

Die Reform des Mönchswesens,


die sich im 10. Jahrhundert
vom burgundischen Kloster Cluny aus
in Deutschland ausbreitete,

schuf auch ein stehendes Heer


für den päpstlichen Stuhl,
dessen geistliche Waffen
die kaiserlichen Lanzen und Schwerter nicht gewachsen waren.

Die neu gegründeten Mönchsorden


der Zisterzienser, Prämonstratenser und Kartäuser
stellten ihre Kontingente für dieses Heer zur Verfügung,
doch die stärksten Truppen stellten die

von Franz von Assisi im 13. Jahrhundert


gegründeten Bettelorden,
aus deren Hauptstamm, dem Franziskanerorden,
später viele Zweige und Ableger hervorgingen,

sowie der zur gleichen Zeit


von dem spanischen Dominikus
gegründete Dominikanerorden.
Die Franziskaner beherrschten als eifrige

und volkstümliche Seelsorger


die Gemüter des Volkes,
dem sie in Freud und Leid nahe standen;
die Dominikaner förderten die Wissenschaft,

wachten über die Reinheit des katholischen Dogmas


und machten ihren Orden als Inquisitoren
und Ketzerverfolger berüchtigt.

In Rom liefen die tausend Fäden


des geistigen Netzes zusammen,
mit dem diese klösterlichen Gesellschaften
die deutsche Nation umspannten.

Die Generäle dieser Klostermiliz


hatten dort ihr Hauptquartier.
Die Ordensmitglieder schuldeten dem General,
der nur den Papst als Herrn hatte, unbedingten Gehorsam.

Sie waren der Jurisdiktion


der Regionalbischöfe entzogen
und direkt der Kurie unterstellt,
ein Umstand, der in Verbindung mit dem Privileg,

überall zu predigen und die Beichte abzunehmen,


dem Mönchtum einen relativ hohen Stellenwert
gegenüber dem weltlichen Klerus
gesichert haben dürfte.

Unter den salisch-fränkischen Kaisern


bildeten sich in Deutschland staatliche Institutionen
in festeren Formen heraus,
auf die hier kurz eingegangen werden soll.

Das von den Großen gewählte Oberhaupt des Reiches


trug den Titel eines deutschen Königs,
den er erst bei seiner Krönung in Rom
gegen den Kaisertitel eintauschte.

Die obersten Normen der Reichsverwaltung,


die Entscheidungen der Reichspolitik
wurden unter Mitwirkung der Reichsfürsten
auf den Reichstagen ausgearbeitet und beschlossen.

Dem König gingen die Reichsprälaten


und Barone voraus, unter denen
die Herzöge an erster Stelle standen,
während unter den ersteren die Inhaber

der Erzbistümer Mainz, Köln und Trier


an Macht und Ansehen herausragten.
Nimmt man zu diesen großen Dynastien
große und kleine, kirchliche und weltliche Herren hinzu,

und fügt man die dritte Klasse,


die Bürger der Städte, hinzu,
die immer entschlossener nach Selbständigkeit strebten,
so ergibt sich ein Staatsorganismus,

der so vielfältig gegliedert


und so lose miteinander verbunden ist,
dass es ein Wunder wäre,
wenn seine schwerfällige Verfassung

der streng einheitlichen Macht


der römischen Hierarchie
gewachsen gewesen wäre.
Die Zeit der fränkischen Heinriche,

wenn die Waffen aufeinanderprallten,


achteten sie besonders auf die Aufstellung des Heeres.
Das kaiserliche Heer war in sieben Herden oder,
wie es hieß, in sieben Heeresschilde unterteilt.

Die ersten vier dieser Schilde


wurden vom Hochadel erhoben:
dem König, den geistlichen Fürsten,
den weltlichen Fürsten, den Grafen und Baronen;

der fünfte von den mittleren Freien,


die dem Hochadel nicht gleichgestellt waren,
aber freie Männer als Vasallen haben konnten;
der sechste von den gemeinen Rittern,

der siebte von allen freien Männern,


allen, die nicht in Unfreiheit
oder unehelich geboren waren.
Über die kulturellen Bemühungen

der salisch-fränkischen Zeit lässt sich nicht viel sagen.


Sie musste sich allenfalls damit begnügen,
das unter den Ottonen Erreichte nicht zu verlieren.
Von den Werken der klösterlichen Gelehrsamkeit

sind Übersetzungen aus der antiken Literatur,


wie die des Organon von Aristoteles,
nicht unbedeutend, da sie beweisen,
dass die literarischen Schätze der Antike

allmählich aus dem Staub


des Vergessens geholt wurden.
Die besten Köpfe pflegten weiterhin
die lateinische Geschichtsschreibung.

Vom zehnten bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts


lag die ursprüngliche Produktion der Klöster völlig brach,
denn die Masse des Klerus hatte weit mehr Neigung
und Lust zu politischen Intrigen,

zur Jagd mit Hunden und Falken,


zu groben Vergnügungen an der Theke,
am Würfelbrett und im Nonnenbett
als zur poetischen Beschäftigung mit der Muttersprache.

Zudem musste die Nation einerseits


die Elemente der neu erworbenen Weltanschauung,
der katholisch-romantischen Kultur, assimilieren
und andererseits bedeutende Anregungen von außen erfahren,

bevor eine neue Poesie in ihrer Mitte erblühen konnte.


Nachdem diese Verarbeitung stattgefunden hatte,
gaben die Kreuzzüge in der Stauferzeit diesen Anstoß.
Die kaiserliche Herrschaft des staufischen Kaisergeschlechts

war die eigentliche Blütezeit


des deutschen mittelalterlichen Kulturlebens.
Aus kleinen Anfängen stieg das Staufergeschlecht
mit außerordentlicher Geschwindigkeit

zu herzoglicher, königlicher und kaiserlicher Größe


und weltgeschichtlicher Bedeutung auf.
Im schwäbischen Dorf Wäschenbeuren
kann der Wanderer noch die Mauern

der bescheidenen Burg sehen,


die die Wiege des berühmten Geschlechts war
(das Wäscherschlößle). Von Beuren
nahm es zunächst seinen Namen an,

bis die kühn aufstrebende Familie


vom benachbarten Berg Hohenstaufen,
wohin sie ihre später im Bauernkrieg
zerstörte Residenz verlegte, einen Familiennamen annahm,

der unsterblich in das Buch


der Geschichte eingeschrieben werden sollte.
Der erste historisch bedeutende Staufer
war der Schwiegersohn eines Kaisers (Heinrich IV.)

und Herzog von Schwaben.


Sein Sohn Konrad, der auf dem Koblenzer Reichstag
zum deutschen König gewählt wurde,
eröffnete die Linie der königlichen

und kaiserlichen Prinzen seines Stammes,


die mit der Ermordung Konrads
auf dem Schafott in Neapel
und mit dem Tod König Enzios

in den Kerkern von Bologna ausstarb,


nachdem sie in den beiden Friedrichs
ihre edelste Blütezeit erlebt hatte.
Die Erinnerung an den mächtigen Herrschergeist

Friedrich Barbarossas lebt unauslöschlich


in den Herzen des deutschen Volkes fort,
dessen Phantasie ihn wie den großen Karl vor ihm
als einen mythischen Helden prägte,

der eines Tages aus seinem magischen Schlaf


im Kyffhäuser erwachen
und den Ruhm des deutschen Reiches
wiederherstellen würde.

Die Gestalt Friedrichs II.


ist von einem eigentümlichen Nimbus umgeben.
In seiner eigenen Person war er ein Mann,
der weit über die Vorurteile

und Beschränkungen seiner Zeit hinausging,


hoch empfänglich für das Schöne
im Leben und in der Kunst,
lebendig für eine freiere Weltsicht,

angetan von der bunten Welt des Südens,


ein kühner Selbstdenker, eine durch und durch
liebenswerte Persönlichkeit, liebenswürdig
auch in seinen Schwächen, groß in seinen Missgeschicken.

Auf die Blütezeit der Staufer folgte der Streit


zwischen den Waiblingen und den Welfen,
der Deutschland und später auch Italien
in zwei große Parteien spaltete.

Das Haus Welfen, mächtig im Besitz


von Sachsen und Bayern,
wandte sich mit Waffengewalt
gegen den Aufstieg der Staufer auf den deutschen Thron.

Bei der Belagerung Weinsbergs


durch König Konrad III. ertönten erstmals
die berühmten Schlachtrufe: Hie Waibling!
und: Hie Welf!, die diesseits und jenseits der Alpen

(Ghibellinen und Guelfen) so lange


die Parolen eines unglücklichen Parteikrieges sein sollten.
Der heroischen Energie Friedrich Rotbarts
und der rücksichtslosen Härte seines Sohnes

wäre es gelungen, die Welfen zu bezwingen,


obwohl die päpstliche Politik mit ihnen verbunden war,
und damit der Zersplitterung des Reiches
durch den Hochadel ein Ende zu setzen.

Aber einerseits waren die Staufer selbst zu hochadelig,


um das geeignetste Mittel zur Errichtung
eines absoluten Einheits-Königtums
in Deutschland anzuwenden,

nämlich sich zum Schutz


und zur Abwehr der Anarchie des Adels
auf das engste mit dem neu aufstrebenden
städtischen Bürgertum, dem damaligen Volk zu verbünden;

andererseits war ihr Geist und ihre Seele


so von der Idee des römischen Kaisertums erfüllt,
dass sie alles auf dessen Verwirklichung setzten.
Während also in Frankreich

durch eine Verständigung des Königtums mit dem Volke


die Aristokratie unterdrückt
und die absolute Monarchie errichtet wurde,
während in England durch eine Verständigung des Adels

mit dem Volke das Königtum eingeschränkt


und die Grundlage für die konstitutionelle Monarchie
gelegt wurde, verschwendeten selbst
unsere mächtigsten deutschen Kaiser

ihre besten Kräfte im Dienste einer Phantasie,


die die bittersten Erfahrungen nicht zu zerstören vermochten.
Statt sich zu deutschen Alleinherrschern zu machen,
irrten sie dem Traumbild einer römischen

kaiserlichen Weltmonarchie nach,


das die immer schärfer werdende Trennung
der verschiedenen Nationalitäten
bereits der Vergangenheit angehören ließ.

Statt das Sinnvollste zu tun,


nämlich einen deutschen Staat im Innern aufzubauen,
wollten sie das Joch der Herrschaft
einem fremden Land, Italien, auferlegen,

das im Innern jeden Augenblick


von einer aufständischen Aristokratie
mit Erschütterung und Umsturz bedroht war.
Daher ihre unangenehme Zwitterstellung

zwischen Deutschland und den Franzosen,


deren republikanische Freiheit der Städte
sie mit blinder aristokratischer Arroganz
mit Füßen traten, eine Arroganz,

die die italienischen Republikaner


in die Arme des Papstes trieb,
der sie dann an ihren Unterdrückern rächte;
eine Arroganz, die um der Illusion

der römischen Kaiserkrone willen


nicht einmal vor einer so schändlichen Entehrung
zurückschreckte wie der Auslieferung
des Reformators Arnold von Brescia

durch Rotbart an seinen päpstlichen Henker.


So zahlreich die Fehler der Staufer auch waren,
so bedauerlich ihre Fehltritte,
so sicher ist, dass die Macht und der Ruhm ihres Regiments

die ganze Romantik des Mittelalters


auf allen Gebieten zur Blüte brachte.
Trotz allen politischen Kalküls
steckte in ihnen ein zutiefst romantischer Hang und Drang,

ein Streben nach idealer heroischer Größe,


nach südlich-sonniger Lebenspracht,
ein brennendes Verlangen nach Ruhm
und Unsterblichkeit.

Eine schwellende Ader der Poesie


pulsiert durch ihre gesamte Geschichte.
Die Machtfülle, zu der vor allem Friedrich I.
das Deutsche Reich erhob,

ermöglichte der Nation einen geistigen Aufschwung,


der auf einem gesteigerten materiellen Wohlstand beruhte
und unsterbliche Werke der Kunst
und Dichtung hervorbrachte.

Schon die römischen Feldzüge der Staufer


sollten den begrenzten Horizont der Deutschen erweitern
und erhellende und wärmende Strahlen
südlicher Schönheit in das triste nördliche Einerlei bringen.

Noch einflussreicher waren die Kreuzzüge,


von denen die Staufer persönlich mehrere anführten.
Die Kreuzzüge, eine umgekehrte Völkerwanderung
brachten die christlich-katholische

romantische Weltanschauung zu ihrem Höhepunkt,


indem sie den Waffen des Abendlandes
eine religiöse Seele einhauchten,
der europäischen Kampfeslust ein ideales Ziel gaben,

die ganze Christenheit


in einem großen Unternehmen vereinigten
und neue Wege für materielle und geistige Kraft
auf allen Seiten eröffneten.

Damals bewies der Orient noch einmal


seine alte Befruchtungskraft,
denn die Nachwirkungen dessen, was die Kreuzfahrer
im Orient gesehen und gehört hatten, waren unermesslich.

Der ganze Reichtum der orientalischen


Phantasie und Symbolik ergoss sich
über das Abendland
und ermöglichte es der Dichtung,

eine Welt der Wunder zu schaffen,


die sich farbenfroh über die harte Wirklichkeit erhob
und in deren Atmosphäre selbst
ein so eisernes materielles Phänomen
wie das germanische Kriegertum

eine poetische Form annahm,


indem es sich als Rittertum idealisierte.
Das Rittertum ist die gesellschaftliche Frucht der Romantik.
Es hat keinen deutschnationalen Ursprung;

denn wenn man das bereits zu Beginn


des 11. Jahrhunderts in Deutschland
entwickelte Reitertum zur Keimzelle
des späteren Rittertums machen will,

muss man darauf hinweisen, dass von dessen Konventionalität


in ersterem keine Spur zu finden ist.
Vor den Kreuzzügen war ein Ritter
im Deutschen Reich jeder, der,

ausgerüstet mit Harnisch und Kragen,


Helm und Schild, mit Schwert und Lanze
auf eigene Kosten, dem Ruf zum königlichen Heer
zu Pferd folgte.

Von einem Rittertum als solchem


war zu dieser Zeit also noch keine Rede,
zumindest nicht in Deutschland.
Die erste Entwicklung des Rittertums

als soziale Institution müssen wir


vor allem in Südfrankreich und Spanien suchen,
wo der häufige Kontakt mit den geselligen
und künstlerisch verfeinerten Morisken

den ersten Anlass gab, das Leben


mit den Reizen höherer Geselligkeit zu schmücken.
Der blühende Zustand jener Gegenden,
die heitere Beweglichkeit ihrer Bewohner,

der reizvolle Einfluss südländischer


weiblicher Schönheit,
die begeisterte Teilnahme an heroischer Verkleidung
und fröhlichem Gesang

riefen bald bestimmte Formen und Gebräuche


edlen Umgangs hervor,
aus denen sich allmählich der Kodex
des ritterlichen Lebens zusammensetzte.

Der Kampf um das Heilige Land


verlieh diesem Kloster eine religiöse Weihe,
die das christliche Mönchtum
und das christliche Kriegertum

in den geistlichen Ritterorden


(Johanniter, Tempelritter, Deutscher Orden)
zu einer Einheit verschmolz.
Die bedeutende Stellung, die diese kirchlichen Ritterorden

bald erlangten, trug dazu bei, dass die Idee


des christlichen Rittertums als idealer Orden,
die in den Kreuzzügen entstanden war,
immer mehr Verbreitung und Geltung fand

und sich auch in Deutschland stark bemerkbar machte,


sobald der Kontakt zwischen dem deutschen Adel
und den Franzosen, der im Ersten
und Zweiten Kreuzzug stattgefunden hatte,

seine natürlichen Auswirkungen zeigte.


Die Kirche versäumte es nicht,
das religiöse Moment zu erkennen,
das die Kreuzzüge dem Rittertum gebracht hatten.

Der Ritterorden sollte die Aufnahme


in den Orden auch formal gewichtig machen,
indem er sie mit kirchlichen Zeremonien umgab.
Der Aufzunehmende musste sich auf den feierlichen Akt

mit Gebet und einer nächtlichen Wache


an einem heiligen Ort
sowie mit Beichte und Kommunion vorbereiten.
In ein weißes Gewand gekleidet wie ein getauftes Kind,

kniete er vor dem Altar


und empfing das Ritterschwert
aus den Händen des Priesters.
Dann legte er in einem Kreis von Rittern und Damen

die ritterlichen Gelübde ab,


die Kirche nach besten Kräften zu ehren und zu verteidigen,
dem Landesherrn treu, gütig und wachsam zu sein,
keine ungerechte Fehde zu führen,

Witwen und Waisen zu schützen und so weiter.


Dann wurde er mit Rüstung, Armschienen, Beinschienen
und Tunika bekleidet,
ihm wurden goldene Sporen umgeschnallt,

seine Taille wurde mit dem Ritterharnisch umgürtet,


und dann erhielt er kniend von einem Ritter den Ritterschlag
durch drei Schläge mit dem blanken Schwert auf die Schulter.
Schließlich wurden ihm Helm, Schild und Lanze ausgehändigt,

man präsentierte ihm sein Pferd,


auf das er sich in voller Rüstung
und ohne Steigbügel schwingen
und verschiedene Drehungen vollführen musste.

Das alles hatte natürlich eine symbolische Bedeutung.


Der Ritterschlag sollte ein Zeichen dafür sein,
dass danach keine Schläge mehr geduldet wurden.
Üblicherweise wurde der Ritterschlag

nur bei großen Hof- und Kirchenfesten


so feierlich verliehen, in einfacherer Form
aber auch vor Beginn einer Schlacht
oder auf einem siegreichen Schlachtfeld.

Voraussetzung für den Ritterschlag


war der Dienst als Knappe (Knabe),
den die jungen Adligen
im Gefolge eines Ritters leisteten.

Eine solche Schule wurde bevorzugt


an Fürstenhöfen eingerichtet,
und dort wurden die Knappen
als Edelknaben (Pagen) bezeichnet,

ein Name, der später mit einem eher höfischen


als kriegerischen Konzept verbunden wurde.
Ab dem 12. Jahrhundert war die adelige Geburt,
die direkte Abstammung von einem Ritter

die Grundvoraussetzung für die Aufnahme in den Ritterstand,


auch wenn schon früh Ausnahmen gemacht wurden.
Politische Rechte, wie sie der Erbadel gewährte,
wurden von der Ritterschaft zunächst nicht verliehen,

und erst später kamen zu den Ehrenrechten


auch bürgerliche Rechte hinzu.
Da aber das Rittertum die Entwicklung des Konzepts
der persönlichen Ehre, des point d'honneur,

außerordentlich begünstigte,
drängte der Adel bald eifrig zum Rittertum,
um an dieser idealen Standesehre teilzuhaben.
Die Entwicklung des point d'honneur

ging Hand in Hand mit der Entwicklung


des ritterlichen Anstands,
dessen Regeln und Vorschriften
in dem Wort courtoisie zusammengefasst wurden.

Ein wesentlicher Bestandteil dieser Höflichkeit


war der Dienst der Frauen,
der natürlich eine religiöse Wurzel
im Kult der Jungfrau Maria hatte,

der durch die Kreuzzüge stark gefördert wurde.


Wenn man bedenkt, wie naiv-sinnlich
dieser Kult konzipiert war,
ist es leicht zu erklären,

dass die Verehrung, die das Rittertum


der Mutter Gottes widmete,
leicht auf das gesamte schöne Geschlecht
übertragen wurde. Der Minnedienst,

der in Deutschland mit besonderer Inbrunst gepflegt wurde,


ist die schönste Seite des Rittertums.
Seine höchste Pracht entfaltete sich in den Turnieren
mit ihren Ahnen- und Schildproben,

aus denen sich Genealogie und Heraldik entwickelten.


Wir werden im folgenden Gesang
auf die Turniere zurückkommen.
Das Rittertum hatte vier Aspekte hatte:

einen religiösen Aspekt (die Beziehung zur Kirche),


einen politischen Aspekt (die Beziehung zum Feudalherrn),
einen moralischen Aspekt (die Beziehung zur eigenen Ehre
und zur Ehre des Ordens)

und einen erotischen und sozialen Aspekt


(die Beziehung zu den Frauen).
Dementsprechend ist das Rittertum
in seiner Blütezeit recht gut

durch den bekannten französischen


Wahlspruch charakterisiert: Gott meine Seele,
mein Leben dem König,
mein Herz der Dame, die Ehre mir!

FÜNFTER GESANG
DIE RITTER

Will man sich den Sitzen


der höfisch-ritterlichen Lebenskreise nähern,
muss man Hügel erklimmen oder durch Täler wandern,
um Buchten oder Flussinseln zu finden.

Denn neben den Höhenburgen


gab es auch Wasserburgen,
und so wie die Abgeschiedenheit
durch Hügel und Felsen die Grundvoraussetzung

für die Rettbarkeit einer Burg war,


so musste sie hier durch einen breiten Graben abgeschlossen sein,
der von einem nahe gelegenen See
oder Fluss gespeist wurde.

Dass sie ihre Besitzer retten konnte,


war der Ausgangspunkt für den Erbauer.
Reicht das Wort Burg aus,
um in den poetischen Köpfen der Jugend

allerlei Bilder von ritterlichem Leben


auf goldenem Grund hervorzurufen,
so weckt es beim Historiker die Erinnerung
an eine eiserne Zeit,

in der die Menschen versuchten,


sich so weit wie möglich voneinander abzuschotten
und zu schützen, und das mit gutem Grund.
Nicht nur die Lage auf den Höhen oder in den Ebenen

unterschied die Rittersitze,


sondern auch ihre größere oder kleinere Größe
sowie ihre einfachere oder reichere Innenausstattung.
Der ärmere Ritteradel musste sich damit begnügen,

eine kleinere Burg, einen sogenannten Burgstall,


zu bauen und zu bewohnen;
die reicheren Dynasten errichteten geräumige Hofburgen,
und weil die Szenen der mittelalterlichen Ritterdichtung

meist in solchen Burgen spielen,


haben sich unserer Phantasie nur prächtige Bilder
dieser Behausungen eingeprägt,
denen die Wirklichkeit nur in den seltensten Fällen entsprach.

Die äußerste Mauer eines stattlichen Schlosses


bildeten die Zingeln.
Zwischen oder neben zwei niedrigen Türmen,
die der Verteidigung dieses Außenwerks dienten,

befand sich die Toreinfahrt.


Hatte man dieses äußere Tor durchschritten,
betrat man den Zwingelhof oder Zwinger,
auch Viehhof genannt,

denn hier befanden sich die Wirtschafts- und Stallgebäude.


Zwischen dem Zwinger und der eigentlichen Burg
befand sich ein tiefer Graben,
der um die Burg herum verlief

und über den eine Zugbrücke oder - bei Wasserburgen -


eine Schiffsbrücke führte.
Diese führte zu einem Tor,
über dem sich eine gekrönte Mauer erhob.

Das Tor hinter der Brücke


führte in einen hallenartigen Gang,
der mit einem Fallgitter verschlossen werden konnte
und sich zum Burghof hin öffnete.

Dieser Innen- oder Ehrenhof


war bei gut gebauten Burgen mit einem Rasen,
einem Brunnen und einer Linde geschmückt,
dem Lieblingsbaum der ritterlichen Romantik

und des deutschen Volkes überhaupt,


wie unser Minnegesang für Ersteres
und unsere Volkslieddichtung
für Letzteres beweist.

Der Innenhof war von den eigentlichen Burggebäuden umgeben,


von denen zwei besonders hervorstachen:
der Palast, auch Herrenhaus genannt,
und ein hoher Wachturm,

der sich von den anderen Gebäuden getrennt


auf der Mauer erhob,
dem Burgwart als Wohnung und Ausguck diente
und den Bewohnern im Falle einer Erstürmung der Burg

eine letzte Zuflucht bot.


Der Wachturm war das Herzstück der gesamten Burg
und galt als so unentbehrlich,
dass es kaum einen Rittersitz
ohne ein solches Wachhaus gab,

während die gesamte Burg oft nur


aus dem Wachturm und einer Ringmauer
mit Einlass und Tor bestand.
Der Palast in größeren Burgen

hatte einen Hauptraum und verschiedene Kammern.


Letzterer war in den Burgen das,
was in modernen Schlössern
der große Empfangssaal ist,

der eigentliche Ort der Feier und der Ehre.


Daher war es wichtig, diesen Raum so komfortabel
und dekorativ wie möglich einzurichten.
Bei festlichen Anlässen wurde er mit Teppichen ausgelegt

und die Wände mit gewirkten Tapeten beklebt.


In der Blütezeit wurde der Boden
auch mit Blumen bestreut,
ansonsten mit Binsen.

An den Wänden befanden sich breite Bänke,


auf denen Matratzen oder Federkissen lagen.
Das vom Palast abgetrennte Frauenhaus
("der frouwen heimliche")

wurde als die Kemenate schlechthin bezeichnet


und enthielt mindestens drei Räume:
eine Stube, die der Schauplatz des intimsten
familiären Verkehrs und zugleich das Schlafgemach

der Hausherrin war,


sodann eine Kammer, in der die Hausfrau
und ihre Dienerinnen weibliche Handarbeit verrichteten,
und schließlich ein Schlafgemach der Magd.

Zu den bisher erwähnten Räumen,


zu denen noch Küche, Keller und Vorratsraum hinzukamen,
durfte in einer richtigen Burg
eine Kapelle nicht fehlen,

und nicht zu vergessen sind schließlich


die hier und da in die dicken Mauern eingelassenen
Lauben und gewölbten Fensternischen
mit steinernen Sitzen.

Wir müssen uns vorstellen,


dass die Haushaltseinrichtung der ritterlichen Behausungen
je nach dem Fortschritt der Zeit
oder dem Reichtum des Burgherrn

und dem Geschmack der Burgherrin


mehr oder weniger vollständig, reich oder karg,
schmuckvoll oder plump war.
Im Allgemeinen waren die Geräte aus hartem Holz

eher haltbar als dekorativ.


Aber wir finden viele fleißige Schnitzereien
an Tischen, Stühlen, Bänken und Wäschetruhen,
die den Platz unserer Kommoden einnahmen.

Es gab auch Sessel und Lehnstühle


aus kostbarem Wurzelholz
mit weichen Polstern,
Ehrensitze für vornehme Gäste.

Große Sorgfalt wurde auf die Betten verwendet.


Eine oder mehrere Stufen führten hinauf
zu dem mächtigen quadratischen Rahmen
des Ehe- oder Gästebettes - oft waren sie ein und dasselbe -

und es war gewöhnlich mit einem "Himmel" gewölbt,


von dessen Rändern Vorhänge herabhingen.
Die Koch- und Essgeräte unterschieden sich
nicht sonderlich von den heutigen;

allerdings musste sich der ritterliche Esser


mit Löffel und Messer begnügen,
denn der Gebrauch von Gabeln kam erst
gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf.

Der Wald und der Fluss, die Felder,


Obst- und Gemüsegärten trugen zur Ernährung bei.
An gewöhnlichen Tagen wurde das Essen
sehr einfach zubereitet und bestand meist

aus gepökeltem und geräuchertem Fleisch,


Hülsenfrüchten und Kraut;
bei festlichen Anlässen zeigte
die mittelalterliche Kochkunst jedoch,

dass sie nicht mehr im Wald beheimatet war.


Die Tische beugten sich über stark gewürzte Köstlichkeiten
und skurril gemischte Brühen,
künstlich geformte Backwaren

und allerlei Eingemachtes.


Während der Mahlzeit wurde der Tisch
mit einem weit über den Rand hängenden Tuch bedeckt,
das Salzfass stand in der Mitte des Tisches,

und Brot in verschiedenen Laibformen


wurde darum herum gelegt.
Bevor man sich zum Essen hinsetzte
wurden Wasser und Handtücher herumgereicht.

Die Geschichte der deutschen "nationalen Neigung"


zum Trinken wurde im Mittelalter
um ein großes Kapitel bereichert.
Die genossenen alkoholischen Getränke waren

Wein, Bier, Met, Apfel- und Birnenmost sowie Branntwein.


Im Spätmittelalter erstreckte sich der Weinbau
über viel größere Gebiete Deutschlands als heute
und wurde auch in den nördlichen

und östlichen Regionen betrieben,


in denen der Weinbau längst verschwunden ist.
Dort war der berühmte "Saurier" zu Hause,
dessen Verwandtschaft zum Essig am engsten ist.

Um in den Genuss der besseren Sorten


der besser gelegenen Weinberge zu kommen,
musste man zu den Reichen gehören;
aber auch in Süddeutschland war der Wein ein beliebtes Getränk.

Alte Weine standen übrigens nicht in hohem Ansehen.


Der Traubensaft wurde in der Regel in seiner Jugend,
in allen Gärungsstadien, und als ein Jahr alter Wein, getrunken.
Soweit es sich um ein Landprodukt handelte,

wurde er selten älter getrunken.


Unter Landweinen verstand man alle einheimischen Weine
im Gegensatz zu denen,
die aus dem Ausland kamen.

Rheinwein und elsässischer Wein


hatten den höchsten Preis.
Im allgemeinsten Sinne wurden
zwei einheimische deutsche Rebsorten unterschieden,

der Frankenwein und der Hunnenwein;


ersterer wurde aus französischen,
letzterer aus ungarischen Reben hergestellt.
In der adligen Gesellschaft waren französische

und italienische Weine beliebt,


aber noch mehr griechische Weine
("Malvasier", "Muskateller", "Romani").
Allerdings wurden diese Weine selten pur getrunken,

sondern mit allerlei Gewürzen vermischt,


und dieser Mischmasch wurde "Lautertrank" genannt.
Auch die Frauen pflegten den Wein
kompromisslos zu trinken.

Was das Bier betrifft, so gehörte das Bierbrauen


im frühen Mittelalter zu den anderen Hausarbeiten,
denn jeder Haushalt bereitete seinen eigenen Bedarf zu,
das Bierbrauen kam zu den anderen Frauenarbeiten hinzu.

Erst später wurde das Bierbrauen


zu einem eigenständigen Gewerbe,
und zwar zunächst in den blühenden Städten.
In den Niederlanden wurde das Braugewerbe

am frühesten eingeführt, aber auch in Köln


blühte es zu Beginn des 13. Jahrhunderts.
Im 14. Jahrhundert betrieben Hamburg,
Lübeck und Bremen bereits einen regen Exporthandel

mit selbst gebrauten Bieren


in die nordischen Länder.
Übrigens wurde Bier im Mittelalter nicht ausschließlich
aus Gerstenmalz und Hopfen hergestellt -

die erste Erwähnung von Hopfen stammt


aus der vorkarolingisch-fränkischen Zeit -
aber auch von Weizen und Hafer.
Apfel- und Birnenmost waren bereits

in der Karolingerzeit in Gebrauch.


In seiner einfachsten Form bestand
der mittelalterliche Met aus verdünntem Honig;
in seiner künstlicheren Form war er eine Art Likör,

gemischt aus Honig, Wein, Bier,


Kräuterextrakten und Gewürzen.
Vom frühen bis zum späten Mittelalter
genossen die Klosterkeller von allen Wein- und Bierkellern

den besten Ruf.


Die Veredelung des vaterländischen Weinbaus
war und blieb ein Hauptanliegen
und Verdienst der deutschen Klöster.

Der Branntwein (aqua vitae) galt lange Zeit


nach seiner Erfindung nur als Medizin;
erst im 15. Jahrhundert trat er in Deutschland
in die Reihe der anderen Spirituosen ein.

In den germanischen Wäldern trank man aus Trinkhörnern.


An ihre Stelle traten grob geformte Becher
aus Holz und Zinn
und in der höfisch-ritterlichen Zeit

in den luxuriösesten Häusern kunstvoll


oder abenteuerlich gestaltete Trinkgefäße
aus Gold, Silber und Kristall.
Die Größe dieser Gefäße, die in der Regel sehr groß waren,

zeugt von den Trinkkünsten der damaligen Zeit.


Die ritterlichen Krüge fassten eineinhalb bis zwei Maß.
Der zunehmende Luxus liebte es,
den Bestand eines guten Hauses an Krügen, Kelchen

und kostbaren Gefäßen aller Art


auf einem gestaffelten Gestell
neben dem Esstisch auszustellen.
Hübsch war der Brauch, den Tisch

mit Blumen zu bestreuen


und Blumen, vor allem Rosen, in Girlanden
über den Esstisch zu hängen.
Auch die Köpfe der Gäste wurden oft

mit Blumenkränzen geschmückt.


Jeden Tag gab es zwei Hauptmahlzeiten,
das Frühmahl und das Spätmahl.
Anfangs wurde der Begriff "Imbiß" für beide verwendet,

später vor allem für die Morgenmahlzeit.


Die Einteilung von Tag und Nacht
wurde durch diese beiden Hauptmahlzeiten bestimmt.
Die Stunden vom Abendbrot bis zur Frühmesse

galten als Nacht, die Stunden


zwischen Früh- und Abendbrot bildeten den Tag,
der den Geschäften, Fehden, der Jagd,
dem Waffentraining der Männer,

der Hausarbeit und den Handarbeiten


der Frauen gewidmet war,
während die Nachtzeit neben dem Schlaf
auch dem Hören von Musik und Poesie,

dem Würfel- und Schachspiel


und dem Tanz gewidmet war.
Vor dem Schlafengehen oder sogar im Bett selbst
nahm man einen Schlummertrunk zu sich.

Verglichen mit unseren heutigen eintönigen Herrenkostümen


und unseren oft halb oder ganz ausgefallenen Damenanzügen
war die Kleidung der höfisch-ritterlichen Gesellschaft,
soweit sie sich vor geschmacklosen Exzessen schützte,

manchmal prächtig, immer farbenfroh.


Die Zeit, in der die Deutschen in ihrer Kleidung
jene urwüchsige Einfachheit zeigten,
wie Tacitus sie beschrieb, war längst vorbei;

dennoch waren aus jener Zeit zwei Hauptteile des Anzugs


in das Zeitalter des Rittertums übergegangen,
der Mantel und der Umhang.
Aber der deutsche Handel dehnte sich

im 11., 12. und 13. Jahrhundert allmählich aus.


Wie überall, wo ein Volk von der wilden Freiheit der Natur
in die bequemere Ordnung der Zivilisation übergeht,
erwachte auch in Deutschland der Sinn für das Schöne

und drückte sich nicht nur in Poesie und Kunst, sondern auch
in der häuslichen Einrichtung und Kleidung aus.
Die für die Kleidung verwendeten Stoffe waren Leinen,
dessen feinste, hochgeschätzte Art, das so genannte Saben,

aus byzantinischen Webereien stammte;


außerdem Wolle verschiedener Farben
sowie Seide verschiedener Art und Farbe,
die oft mit Gold- und Silberfäden verwoben war,

und schließlich Pelze verschiedener Art


(Hermelin, Marder, Biber, Zobel).
Hinzu kamen Edelmetalle und erlesene Steinarbeiten,
aus denen sowohl der Schmuck der Frauen

als auch die Rüstungen der Männer gefertigt wurden.


Beide Geschlechter liebten ein Farbenspiel in ihrer Kleidung,
das nicht selten geradezu regenbogenfarben war
und das die Männer noch zu steigern versuchten,

indem sie ein und dasselbe Kleidungsstück


mit verschiedenen Farben versahen
und einen Ärmel des Mieders grün, den anderen blau trugen,
oder eine Hälfte der Leggings gelb, die andere rot.

Die Wahl der Farben war jedoch nicht völlig


der bizarren Willkür überlassen, sondern erfolgte
in der Regel mit Blick auf die Farbsymbolik.
Die äußere Erscheinung eines Menschen sollte

seine innere Stimmung zum Ausdruck bringen.


Die höfische und ritterliche Gesellschaft hatte
eine sinnvolle Farbensprache entwickelt,
die sich vor allem auf die Minne bezog.

So stand Grün für die ersten Triebe der Liebe,


Weiß für die Hoffnung auf Erhörung,
Rot für das helle Feuer der Liebe
oder die Glut von Ruhm und Ehre,

Blau für unwandelbare Treue,


Gelb für Liebesglück,
Schwarz für Kummer und Trauer.
Ein wahrer höfisch-ritterlicher Liebhaber

hatte also die Möglichkeit, alle Ebenen


seiner Leidenschaft in seinem Anzug zu zeigen.
Diese bunte Verspieltheit wurde schon im 13. Jahrhundert
so weit getrieben, dass der große Prediger Berchtold

der damaligen Modewelt zornig zurief:


Ihr habt noch nicht genug davon,
dass der allmächtige Gott euch die Wahl der Kleider
gegeben hat und gesagt hat: Wollt ihr sie braun,

rot, blau, weiß, grün, gelb, schwarz?


Nein, in eurer großen Erhöhung müssen eure Kleider
in Flicken geschnitten werden, hier das Rote ins Weiße,
dort das Gelbe ins Grüne, das eine verdreht, das andere bemalt,

dieses bunt, jenes braun, hier der Löwe, dort der Adler.
Der letzte Tadel bezieht sich allerdings auf die barocke Mode,
das Familienwappen an verschiedenen Stellen
des Anzugs aufgestickt zu tragen, so dass die Herren

und Damen wie wandelnde Wappenfibeln aussahen.


Bis zum 15. und 16. Jahrhundert,
als die so genannte burgundisch-spanische Tracht aufkam,
bildeten der Wappenrock und der Mantel

die Oberbekleidung beider Geschlechter.


In Deutschland war es schon früh üblich,
unter dem Mieder ein Hemd zu tragen.
Die Männer trugen die von den Deutschen,

einem schamhaften Volk, als Hauptkleidungsstück


für Männer eingeführte Hose,
die mit den Strümpfen ein Ganzes bildete,
aber aus zwei getrennten Oberschenkelteilen bestand

und unter der Tunika an einem


den Körper umschließenden Riemen befestigt war.
In früheren Zeiten mögen an diesen Hosen
befestigte Ledersohlen an die Stelle von Schuhen getreten sein,

doch später wurden Schuhe


zu einem Luxus der buntesten Art,
während auf dem Pferderücken
weit nach oben reichende Reitstiefel getragen wurden.

Das Schwert schmückte die linke Hüfte des Mannes,


während der Dolch ihn auf der rechten Seite
im Gleichgewicht hielt. Die Scheiden
dieser Waffen sowie der Griff waren oft üppig verziert.

In den Zeiten des Niedergangs der ritterlichen Gesellschaft


änderte die Mode den Wappenrock in vielerlei Hinsicht.
Er wurde an der Seite aufgeschnitten
und zu einem Lendenschurz (Wams) verengt und verkürzt.

Dann kamen die so genannten "gezattelten" Kleider


in Gebrauch, die aus vielen Klappen bestanden,
in die die unteren Teile der männlichen Tunika
und die sinnlos weit gewordenen Ärmel

bei beiden Geschlechtern ausliefen.


Später kam der "Schlitz"-Anzug in Mode,
bei dem Hosen und Rockärmel,
ja das ganze Kleidungsstück, so aufgeschnitten wurden,

dass die verschiedenfarbigen Unterstoffe


durch die Schlitze hindurch schienen
und herausgezogen werden konnten.
Diese Mode wandelte sich dann bekanntlich

zur Zeit der Reformation in Haremshosen und Haremsärmel.


In früheren Jahrhunderten scheinen Kopfbedeckungen,
mit Ausnahme von Kapuzen auf Röcken,
bei Männern nicht üblich gewesen zu sein;

zu der Zeit, von der wir sprechen, waren jedoch Hüte


und Barette in den verschiedensten Formen
ein großer Luxus. Sogenannte Schönheitsmittel
waren in der höfisch-ritterlichen Zeit keineswegs unbekannt,

ebenso wenig wie die Künste der Verschönerung.


Wie die Verwendung von Schminke, die bei den Damen
des Ritterstandes sehr verbreitet war, zeigt,
wurde der Hautpflege große Sorgfalt gewidmet.

Nicht minder wichtig war die Pflege der Haare,


in der übrigens die Herren,
die viele Haar- und Bartmoden durchlaufen mussten,
mit den Damen konkurrierten.

Letztere scheitelten ihr Haar und hielten den Scheitel


mit einem Band in Ordnung.
Dann wurden die Haare zu zierlichen Locken gedreht
oder zu Zöpfen geflochten, die man mit Goldfäden

und Goldschnüren durchflocht


und entweder über die Schultern bis zum Busen fallen ließ
oder in verschiedenen Knoten zusammenband.
Am Gürtel trug die höfische Schönheit meist ein Säckchen,

in dem Geld, Riechfläschchen


und allerlei Kleinigkeiten aufbewahrt wurden,
sowie ein oft zum Dolch erweitertes Messer,
aber nicht minder ein Schlüsselbund,

eine Schere und eine Spindel. Reich verzierte


und duftende Handschuhe durften in der Kleidung
einer solchen Dame nicht fehlen. An Exzessen
fehlte es der höfisch-ritterlichen Tracht nicht.

Zu solchen modischen Torheiten des Mittelalters


gehörten insbesondere die Schnabelschuhe
und das Muschelkostüm. Die Schnabelschuhe,
Schuhe mit übermäßig langen,

manchmal nach oben gebogenen


und mit Werg gefüllten Schnäbeln,
wurden wahrscheinlich von einem eitlen Podagisten erfunden.
Sie tauchten bereits im 11. Jahrhundert auf,

und seltsamerweise zog sich diese höchst unbequeme Mode


bis ins 15. Jahrhundert hin. An der Spitze
dieser monströsen Schuhschnäbel wurden nicht selten
Rollmanschetten befestigt, und diese verbreiteten sich

von hier aus auf andere Teile des Anzugs,


so dass die Männer Gürtel, Kniebänder und Armbänder trugen,
die mit Schellen und Glöckchen behängt waren.
Das lauteste Läuten dieser Glocken fand jedoch erst

im 15. Jahrhundert statt, und die Frauen scheinen es


lieber den Männern überlassen zu haben.
Vor allem im Niedergang der höfisch-ritterlichen Gesellschaft
wetteiferten beide Geschlechter redlich

in den Exzessen der Mode. Es mag noch verzeihlich sein,


wenn die Damen auch in früheren Zeiten zuweilen
so dünnen Stoff für ihre Gewänder wählten,
dass Form und Farbe ihrer Reize durchschimmerten;

wenn sie aber später Schultern, Nacken


und Brüste ganz entblößten
und die Männer in der Form ihrer Hosenlaschen
frech nachahmten, was sie damit verdecken sollten,

dann verstehen wir durchaus die Predigten,


die wohlmeinende Männer über unsittliche Moden ausstießen.
Die vielen städtischen Kleiderordnungen,
die bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts erlassen wurden,

zeugen davon, dass unsinnige Prunkkleidung


und unsittliche Moden schon damals vom Adel
auf das Bürgertum übergegangen waren.
Eine Gesellschaft, die das bisher beschriebene Niveau

der materiellen Bildung erreicht hatte, muss natürlich


auch in der geistigen Kultur weit fortgeschritten gewesen sein.
Hier, wo wir uns hauptsächlich auf das gesellschaftliche Leben
der höfisch-ritterlichen Zeit beschränken,

ist es nicht unsere Aufgabe, weiter


auf die geistigen Bestrebungen jener Zeit einzugehen,
und nur über die Bildung haben wir an dieser Stelle
ein Wort zu sagen. Auch wenn nach unseren heutigen Maßstäben

nicht genug getan wurde, so gab es doch


einige nicht unvertretbare Dinge,
die für die Erziehung des jungen Geschlechts getan wurden.
Wenn sich die Jungen nicht dem Klerus widmen sollten,

wurde natürlich nicht auf die Kultur des Geistes geachtet.


Lesen und Schreiben waren pfäffische Künste,
um die sich auch der vollkommenste Ritter
nicht zu kümmern brauchte und die er sogar verachten durfte.

Selbst die größten mittelalterlichen Dichter,


wie Wolfram von Eschenbach, wussten nicht,
wie man diese Künste ausübt.
Hauptziele der Erziehung der männlichen Jugend

waren die Beherrschung der Jagd,


deren ehrenvollste und beliebteste Form
der Reiherbiss mit Falken war, und der Kriegskunst;
außerdem die Beherrschung der Gepflogenheiten

ritterlicher Geselligkeit, der höfischen Umgangssprache


und wohl auch der Umgang mit der Harfe;
denn es ist wiederholt bezeugt, dass bei Gastmählern
Saitenspiel und Gesang nacheinander

unter den Gästen die Runde machten.


Ansonsten wurde es in der Regel dabei belassen,
wenn der junge Mann das Glaubensbekenntnis,
das Paternoster und die Beichtformel,

sowie die Turnierregeln aufsagen konnte.


Die Erziehung der Mädchen zielte vor allem
auf den Erwerb von hauswirtschaftlichen
und handwerklichen Kenntnissen ab.

Die Hausfrau war nicht nur für die Führung


des Haushaltes und die Pflege von Küche
und Keller zuständig, sondern auch für die Pflege
der Garderobe, und gerade diese musste

die weibliche Sorgfalt und Geschicklichkeit ständig anregen.


Fürstentöchter wurden in der Regel einer Gouvernante
anvertraut, und während ihrer Lehrjahre
wurde ihnen eine Gruppe gleichaltriger Mädchen

zur Seite gestellt, die ebenfalls ihren Unterricht genossen.


Diejenigen aus den wohlhabenderen Schichten,
die ihre Töchter nicht am Hof unterbringen konnten,
gaben sie zur Erziehung in die Frauenklöster,

wo sich der Unterricht fast immer


auf die Vermittlung mechanischer Fertigkeiten
im Frauenhandwerk oder die Kenntnis von Gebetsformeln,
einigen biblischen Geschichten

und vielen Heiligenlegenden beschränkte.


Hier und da wurde jedoch in den Frauenklöstern
ein größerer Bildungsdrang und sogar
ein reges wissenschaftliches Streben geweckt.

Dies war der Fall im Kloster Hohenburg im Elsass,


wo die gelehrte Äbtissin Relindis
eine Nachfolgerin auf ihren Lehrstuhl hob,
die wohl als die vielseitigste gebildete Frau

der höfisch-ritterlichen Zeit zu bezeichnen und anzuerkennen ist.


Dies war die 1195 verstorbene Äbtissin
Herrad von Landsberg, Malerin, Dichterin und Lehrerin.
Sie leitete ihr Kloster St. Odilien oder Hohenburg

mit Umsicht und Festigkeit und verfasste


ihren "Lustgarten", eine Art Nonnenlexikon,
in lateinischer Sprache, in dem alles Wissenswerte
über Theologie, Philosophie, Astronomie, Geographie,

Geschichte und Kunst aus der Sicht


der klösterlichen Kultur der damaligen Zeit
zusammengetragen wurde. Kulturgeschichtlich wichtiger
als der Inhalt dieser Zusammenstellung

sind die begleitenden Illustrationen,


die uns einen wertvollen Einblick in den Stand der Bildung
und die Lebensweise im 12. Jahrhundert geben.
Außerdem dürfen wir mit Sicherheit davon ausgehen,

dass in der Blütezeit der mittelalterlichen Romantik


die höhere und verfeinerte weibliche Bildung
keineswegs auf den Kreis der Klosterschwestern
beschränkt war. Immerhin wissen wir,

dass viele Frauen wichtige Gesprächsthemen


fein und geistreich zu behandeln wussten,
dass sie nicht nur die Vokal- und Instrumentalmusik
anmutig auszuüben wussten, sondern auch in der Kunst

des Lesens und Schreibens den Männern überlegen waren


und ein lebendiges und zartes Verständnis
für die Poesie zeigten. Mehrere Dichter jener Zeit
erklärten ausdrücklich, dass sie auf weibliche Leser zählten,

und es ist sicher, dass auf den Putztischen


so mancher Burgfrau Liederbücher
und ritterliche Gedichte in zarten Handschriften
zu finden waren. Da Pergament für den normalen Gebrauch

zu teuer war, schrieb man auf Wachstafeln


mit Griffeln aus Holz, Glas oder Edelmetall.
Eine besondere Kunstfertigkeit entwickelten
die mittelalterlichen Schreiber zweifellos beim Verfassen

von Liebesbriefen, und es ist amüsant zu hören,


wie die Empfänger solcher Briefe diese
tage- und wochenlang ungelesen und unbeantwortet
mit sich herumtragen mussten,

weil sie ihre Schreiber nicht zur Hand hatten,


um den Inhalt zu entziffern und die Antwort zu schreiben.
Die mittelalterliche Freiheit der Gastfreundschaft
bot Frauen häufig Gelegenheit, die Feinheit

ihrer geselligen Umgangsformen unter Beweis zu stellen.


Die Reisenden waren damals gezwungen,
vom Gastrecht ausgiebig Gebrauch zu machen.
Öffentliche Herbergen gab es nur in den Städten,

oder zumindest dort, wo sie auf dem Lande zu finden waren,


waren sie mit ihrem Schmutz und ihrer kargen Verpflegung
nicht sehr einladend für höfische Gäste.
Außerdem war es wegen der geringen Sicherheit

der damaligen Straßen sehr ratsam, wenn möglich


eine befestigte Burg als Nachtquartier zu wählen.
Die Reisen wurden zu Pferd unternommen,
sowohl von Damen als auch von Herren,

und da man nur mit den eigenen Pferden reiste,


konnte man nur kurze Tagesmärsche machen.
Nur sehr vornehme Frauen erscheinen in dieser
und in noch früheren Zeiten auf Reisen mit der Kutsche,

die man sich kaum als schwerfällig genug vorstellen kann.


Ein schnelleres Transportmittel war die winterliche Schlittenfahrt,
aber ob Schlittenfahrten schon vor dem 15. Jahrhundert
ein Vergnügen waren, weiß ich nicht.

Zu der erwähnten Zeit müssen diese Vergnügungen


jedoch sehr unschicklich gewesen sein,
denn in einer amtlichen Verordnung aus dieser Zeit heißt es:
Item sullen fort mehr Manne Jungfrawen und Frawen

bey Naht uff den Slihten nichten faren.


Was jedoch den Empfang und die Bewirtung der Gäste
auf den Ritterburgen betrifft, so hat die höfische Zeit
der alten germanischen Freiheit der Gastfreundschaft

freundliche und misstrauische Formen hinzugefügt.


Wenn der Wächter von der Höhe des Wachturms aus
das Herannahen eines Gastes signalisierte,
bereiteten sich die Burgherren sofort darauf vor,

ihn nach den Regeln der Höflichkeit zu empfangen.


Im Ehrensaal begrüßte die Frau oder die Tochter des Hauses
den Gast, sobald er im Burghof vom Pferd gestiegen war,
legte ihm die schwere Rüstung ab,

die er auf Reisen tragen musste, und versorgte ihn


mit einem frischen, sauberen Gewand aus der Garderobe.
Dann wurde dem Gast ein Getränk und ein Bad angeboten.
Als er aus dem Bad zurückkehrte, begab er sich

in den Kreis der Familie, wo in der Zwischenzeit


das Abendmahl vorbereitet worden war.
Der Gast hatte den Ehrenplatz gegenüber
dem Stuhl des Gastwirts. Die Schlossherrin,

oder in Ermangelung einer solchen,


die älteste Tochter des Hauses, nahm ihren Platz
an der Seite des Gastes ein,
um das Essen zu präsentieren, zu schneiden

und das Getränk zu servieren.


Wenn der Gast sich zur Ruhe begeben wollte,
begleitete ihn die Hausherrin
oder die stellvertretende Tochter in die Kammer,

um zu prüfen, ob das Zimmer in Ordnung war,


was ein nicht ganz unbedenklicher Brauch war,
denn im Mittelalter, vor allem in späterer Zeit,
kletterte man völlig nackt ins Lager.

Einzelne Spuren deuten darauf hin, dass die Gastfreundschaft


in frühester Zeit viel weiter ging, als es heute noch
bei den Barbarenvölkern der Fall ist,
nämlich dass der Gastgeber seine Frau oder Tochter

in gutem Glauben an den Gast band.


Diese Sitte mag aber in Deutschland im allgemeinen
schon früh verloren gegangen sein;
dass sie aber bei deutschen Stämmen hier und da

noch längere Zeit fortlebte, bezeugt ein Zeuge


aus der Zeit der Reformation mit den Worten:
In den Niederlanden ist es Sitte,
wenn der Wirt einen lieben Gast hat,

ihm seine Frau in gutem Glauben zu geben.


Die streng sittlichen häuslichen und ehelichen Verhältnisse
der germanischen Vorzeit, wie wir sie von Tacitus kennen,
gab es in der Blütezeit der ritterlich-romantischen Gesellschaft

nicht mehr. Bequemlichkeit und sogar Frivolität


waren an ihre Stelle getreten. Die Tochter
stand unter der strengen Kontrolle ihres Vaters
oder des nächsten männlichen Verwandten,

der über sie nach Belieben verfügte.


Zwar war der stille Einfluss von Mutter und Tochter
nicht ganz ausgeschlossen, aber es ist sicher,
dass selbst in unserer berechnenden Zeit

Scheinehen häufiger vorkommen als damals.


Der Verlobung musste spätestens ein Jahr
nach der Verlobung die Heirat folgen.
Der kirchliche Segen blieb bis zum Ende des 12. Jahrhunderts

zweitrangig, dann wurde er zur Hauptgarantie


für das Eheglück. Hochzeiten, so nannte man
nicht nur die Hochzeitsfeste, sondern alle wichtigen Feste,
wurden in ritterlichen Kreisen mit großem Pomp gefeiert

und dauerten oft wochenlang. Wenn der Hochzeitstag


in die Nacht überging, wurde die prächtig geschmückte
Braut von ihren Eltern oder Vormündern,
dem Trauzeugen und der Brautjungfer

und meist in Begleitung des gesamten Hochzeitsgefolges


in das Brautgemach geführt, entkleidet
und dem wartenden Bräutigam übergeben,
der mit ihr im Beisein dieses Gefolges

das Hochzeitsbett bestieg.


Sobald eine Decke das Paar bedeckte,
galt die Ehe als vollzogen.
In späteren Zeiten wurde die Verletzung

der jungfräulichen Gefühle,


die dieses erste Lager verursacht haben muss,
zumindest dadurch gemildert, dass sich
die Frischvermählten vollständig bekleidet hinlegten.

Diese Zeremonie war eine Besonderheit,


wenn deutsche Prinzen fremde Prinzessinnen heirateten.
Als der letzte Ritter, der römische König Maximilian I.,
auf diese Weise seine Ehe mit Prinzessin Anna

von der Bretagne einging, lief die Zeremonie wie folgt ab,
wie der altösterreichische Chronist berichtet:
König Maximilian schickte einen seiner Diener,
genannt Herbolo von Polhaim, nach Bretanien,

um die königliche Braut zu empfangen;


er wurde in der Stadt Remis ehrlich empfangen,
und dort befahl der von Polhaim der königlichen Prinzessin,
wie es das Gewissen der Fürsten ist,

dass ihr Sendspotten mit einem Manne,


der nur mit dem rechten Arm
und mit dem rechten Fuß bewaffnet war
und nur mit einem Degen zwischen ihnen,

die fürstliche Prinzessin ergreifen sollte.


So haben es die alten Fürsten gemacht,
und so ist es noch immer Brauch.
Als dies alles geschehen war, wurde der Gottesdienst

mit dem Götterdienst nach der Ordnung der heiligen Kirche


mit gutem Fleiß durchgeführt. Am Morgen
nach einer höfisch-ritterlichen Hochzeitsnacht
überreichte der junge Ehemann seiner Frau

die Morgengabe, die ursprünglich die Bedeutung


eines Dankes für die dem Bräutigam
geschenkte Jungfräulichkeit hatte.
Der Unterschied zwischen der rechtlichen

und der sozialen Stellung der Frau im Mittelalter


war sehr groß. Rechtlich gesehen war das Verhältnis
der Frau zum Mann ein untergeordnetes:
Die Frau war nicht viel mehr als eine Dienerin,

die dem Mann bedingungslos gehorchte,


und selbst im galanten Frankreich gab es
eine königliche Verordnung, die es dem Mann
ausdrücklich erlaubte, die Frau zu schlagen,

wenn es nötig war. Dennoch erlangten die Frauen


de facto eine Stellung und einen Status,
den sie de jure nicht einmal im Entferntesten
anstreben konnten. Die ritterliche Romantik

erhob die Frau zur Krone der Schöpfung,


durchbrach die engen rechtlichen Schranken der Frauenwelt
und führte die Frau als alles beherrschende Herrin
in die Gesellschaft ein; sie zerriss aber auch oft

die Bande der Häuslichkeit, der Sitte


und der guten Erziehung und stellte die Geselligkeit
der Ehe der freien Galanterie gegenüber.
Weibliche Schönheit und Anmut

wurden zunächst in Südfrankreich als Quelle


aller gesellschaftlichen Freude erkannt.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis
hatten die provenzalischen Troubadoure

eine formale Symbolik und Wissenschaft


der Liebe entwickelt. Durch die Vermittlung der Kreuzzüge
war die methodische Galanterie,
der systematische weibliche Dienst,

mit den anderen Formen des Rittertums


auch nach Deutschland gekommen,
wo sie oft den Charakter größerer Intimität annahm,
südliche Übertreibungen aber keineswegs ausschloss.

Da die Mädchen bis zu ihrer Verheiratung


in strenger Disziplin, oft in klösterlicher Abgeschiedenheit,
gehalten wurden und die Ehe kein Hindernis
für das Werben darstellte, wurden vor allem

verheiratete Frauen umworben. Wenn der Ritter


sich eine "Mätresse" ausgesucht hatte,
musste er in der Regel harte Prüfungen
nach den Regeln des Minnekodexes bestehen,

bevor er von der Dame offiziell


als Liebhaber akzeptiert wurde.
Mit dem sozialen Status der Frauen
war jedoch auch ihre Eitelkeit

in entsprechendem Maße gestiegen,


und so wuchsen die Anforderungen an den Freier
manchmal ins Unglaubliche.
Dieser raffinierten Launenhaftigkeit der Frauen

stand die amouröse Verrücktheit der Männer in nichts nach,


und natürlich waren es die ritterlichen Dichter,
die es am schlimmsten trieben. Wir wissen zum Beispiel
von einem provenzalischen Troubadour, Peire Vidal,

dass er, um seiner Geliebten, die Loba (Wölfin) hieß,


zu gefallen, sich in ein Wolfsfell kleidete
und auf allen Vieren heulend durch die Berge kroch,
bis die Schäferhunde ihn elendig zerfleischten,

und dieser verrückte Südländer fand


ein ebenbürtiges Gegenstück in dem deutschen Ritter
und Minnesänger Ulrich von Lichtenstein.
Ein besonders charakteristischer Brauch wurde

vom Verhältnis des Lehnsherrn zum Vasallen


auf das der Mätresse zum Minnesänger übertragen.
So wie der Vasall bei höfischen Festen
seinen Lehnsherrn zum nächtlichen Lager

zu begleiten und zu warten hatte,


bis dieser sich niedergelegt hatte,
so begleitete der Ritter seine Herrin in ihr Schlafgemach,
half ihr beim Entkleiden

und bewachte sie beim Betreten ihres Bettes.


Auch wenn wir nicht annehmen wollen, dass die Dame
bei dieser Zeremonie zuletzt in der bereits erwähnten
mittelalterlichen Schlaftracht erschien,

so setzt ein solcher Brauch doch eine große Intimität


zwischen dem liebenden Paar voraus.
Wir möchten glauben, dass in vielen Fällen
die Beziehungen zwischen Herrin und Minnesänger

so ideal waren und blieben, dass die Dame ihm nie


eine andere Gunst gewährte als den Kuss,
der als ständiger Brauch die Aufnahme des Freiers
in ihre Dienste begleitete; und wir möchten auch glauben,

dass so manche holde Dame Huldigungen nur annahm,


um mit den Anbietern ein Spiel zu spielen.
Aber andererseits waren nicht alle Frauen so spröde
wie die Mätresse des armen Ulrich von Lichtenstein,

und wir dürfen keine allzu hohe Vorstellung


von der Bescheidenheit einer Zeit haben,
in der Frauen dem Genuss stark gewürzter Weine
keineswegs abgeneigt waren, in der Zucker

in den obszönsten Formen


zu festlichen Mahlzeiten gereicht wurde,
in der die laszivsten Gruppen
auf Trinkgefäßen abgebildet waren

und bronzene Frauenstatuetten


der schamlosesten Art auf fürstlichen Tafeln standen.
Will man dies alles unter die vielgepriesene
mittelalterliche Naivität bringen,

so stehen dem die eindeutigsten Zeugnisse entgegen,


dass die sogenannte Naivität oft
in die raffinierteste Lüsternheit umschlug.
Oder ist es etwas anderes als eine solche, wenn wir hören,

dass die Dame dem Liebhaber manchmal eine Nacht


in ihren Armen gewährte, wenn er schwor,
sich gegen ihren Willen nicht mehr
als einen Kuss zu erlauben?

Eine Lektüre der mittelalterlichen ritterlichen Gedichte


muss schnell den Glauben zerstören,
dass in derartigen fesselnden Situationen
immer das bloße Schwert der Disziplin

als Schutz zwischen den Liebenden lag.


In einem der berühmtesten, dem französischen
Roman de la Rose, geschrieben im 12. und 13. Jahrhundert,
wird die Emanzipation des Fleisches gepredigt.

Wenn man einwenden will, dies sei eine französische


Unmoral, so verweise ich auf unsere deutschen
Ritterepopöen. Wenn im jüngeren Titurel
die junge Sigune ihrem geliebten Schionatulander

den Anblick ihrer Schönheit unverhüllt gestattet,


um ihn gleichsam gegen die Reize anderer Frauen zu feien
und ihn zu fesseln, so kann dies noch als ein Akt
erhabener Naivität gelten; was aber soll man sagen,

wenn man in dem ernsten und keuschen


Wolframschen Parzival liest, dass der galante Gawan
bei seiner ersten Begegnung mit der jungfräulichen
Königin Antikonie sofort und ohne Aufhebens

vollen Besitz von ihr ergreifen will,


und dass es keineswegs die Keuschheit der Dame,
sondern nur eine äußere Störung ist,
die sein Vorhaben vereitelt? Und dann die Lieder

unserer Minnesänger! Das schönste aller Lieder


Walter von der Vogelweides schwelgt
am anmutigsten in der Erinnerung
an den vollen Liebesgenuss,

und die sogenannten Tagelieder,


die zu den besten Errungenschaften
unserer Minnesangdichtung gehören, variieren
in den innigsten Tönen den Trennungsschmerz,

der die Liebenden bei Tagesanbruch


nach süßen Liebesnächten plagt.
Wie bewusst höfische Kreise schließlich
die Sphäre der prüden Moral überschritten haben,

zeigen die Disputationen zwischen Rittern und Damen


in den sogenannten Minnegerichten
über die verderblichsten Gegenstände
und Probleme des amourösen Verkehrs.

Um aber die Lichtseite der höfisch-ritterlichen Liebe


in ihrem Glanz erstrahlen zu lassen, verweise ich
auf die köstlichen Minnegespräche,
die Schionatulander und Sigune

in den Fragmenten von Wolframs Titurel führen.


An echter Naturwahrheit und reinster Idealität kommt ihnen
in der Dichtung aller Völker und Zeiten nur wenig gleich.
Die feine Gesellschaft des Mittelalters lebte verstreut

in ihren Palästen und Schlössern. Um sie zu versammeln


und sie in den Genuss der Reize höherer Geselligkeit
kommen zu lassen, mussten häufige Feste
veranstaltet werden. Wenn ein Herrscher zu einem Fest

aufs Land einlud, wurde seine Residenz bald


zu einem lärmenden Schauplatz
verschiedenster Vorbereitungen, aus denen
die Unterbringung und Bewirtung

von Hunderten von Gästen hervorging,


deren Schar oft in die Tausende ging.
Nach der Ankunft und Begrüßung der Gäste
mit Grußworten und Getränken

eröffnete eine feierliche Messe


die Reihe der Unterhaltungen.
Unter Trompeten- und Paukenklängen
bewegte sich die Prozession zur Kirche,

und auf dem Weg dorthin veranstalteten die Reiter


ein Lanzenrennen zu Ehren der Damen,
die in der nach höfischer Etikette gestalteten Prozession
gingen oder ritten. Nach der Rückkehr von der Kirche

gab es einen Morgenimbiss.


Eine kurze Jagd oder ein Turnier füllten dann
die Zwischenzeit, bis Trompeten und Hörner
das Signal für das Hauptmahl gaben.

Wo sich der französische Brauch, dass Männer


und Frauen paarweise zusammensitzen,
in Deutschland nicht durchgesetzt hatte, speisten
die beiden Geschlechter in getrennten Räumen.

Die Mahlzeit war gewürzt mit heiterer,


oft sehr derber Konversation,
verbrämt mit derbem Witz.
Auch Spielmannszüge und Gaukler wurden eingelassen,

oder einer der zahlreichen wandernden Spielleute


trug die neuesten Eingebungen seiner Muse vor,
für die er meist selbst die Melodien erfand,
oder Laute und Gesang machten die Runde.

Wenn es Abend wurde, gingen die Frauen in die Hauskapelle,


um dem Vespergesang beizuwohnen,
und danach versammelte sich die ganze Gesellschaft wieder.
Glücksspieler versuchten ihr Glück und ihre Geschicklichkeit,

Fuhrleute testeten unermüdlich den Keller des Hausherrn,


Verliebte verloren sich in geheimen Lauben
und abgelegenen Gartengängen,
und schließlich versammelte die Freude am Tanzen

vor dem Schlafengehen alle noch einmal zu einem Kreis.


Es wurde zwischen "Tanz und Reigen" unterschieden.
Der höfische Tanz, bei dem der Tänzer

einen oder zwei Tänzer an der Hand nahm,


war ein geselliges Beisammensein im Saal
mit schleppenden Schritten unter dem Klang
von Saiteninstrumenten und Tanzliedern,

die eigens für diesen Zweck komponiert


und vom Vorsänger intoniert wurden.
Der Reigen hingegen wurde im Freien,
auf Straßen und Wiesen getanzt, nicht im Gehen,

sondern im Springen, wobei die Tänzer versuchten,


sich durch möglichst hohe und weite Sprünge auszuzeichnen.
In den Zeiten des Verfalls der höfischen Sitten verkommen
die Tänze zu einem wilden und wüsten Treiben.

Die späteren Moralprediger wurden nicht müde,


eifrig gegen das wilde Herumlaufen,
unzüchtige Drehen, Grapschen und Mundlecken
zu protestieren. Gott bewahre, rief einer von ihnen,

alle sittsamen Gesellen vor solchen Mägden,


die Lust auf abendliche Tänze haben
und sich gern unzüchtig herumdrehen, küssen
und begrapschen lassen; es darf ja nichts Gutes an ihnen sein,

denn die eine stiftet die andere nur zur Unzucht an


und schmückt des Teufels Gewölbe.
Kaisertage, Königskrönungen und andere höfische Feste
boten der höfisch-ritterlichen Gesellschaft

die reichste Gelegenheit, sich in ihrer ganzen Pracht zu zeigen.


Bei solchen Anlässen kam es zu unglaublichen
Menschenansammlungen, und der damit verbundene
Aufwand war für die damalige Zeit enorm.

Ich möchte nur zwei Beispiele für solche Feste anführen.


Als Friedrich der Rotbart seinen Sohn, König Heinrich,
in den Ritterstand erheben wollte,
berief er zu Pfingsten 1182 einen Reichstag nach Mainz ein.

Der gesamte deutsche Hochadel erschien


mit Pracht und Prunk, und allein der Erzbischof von Köln
hatte ein Gefolge von 4.000 Mann in Rüstungen dabei.
Ein Reichstag von 1397 versammelte in Frankfurt

zweiunddreißig Herzöge und Fürsten,


zweihundert Grafen und Barone,
über dreizehnhundert Ritter
und etwa viertausend adlige Diener.

Man kann sich leicht vorstellen, was eine solche Reise


zum Reichstag einen Fürsten kostete, wenn man bedenkt,
dass er es gewohnt war, während der gesamten Dauer
der Versammlung für alle offene Tische zu halten.

Die Pracht der fürstlichen Hochzeiten


nahm mit dem Niedergang des Rittertums zu
und erreichte den Höhepunkt der Extravaganz
im 15 Jahrhundert. So kostete beispielsweise

die Hochzeit von Herzog Georg in Bayern


mit der polnischen Prinzessin Hedwig im Jahr 1418
55.000 Gulden, eine Summe, die aus heutiger Sicht
zwar nicht sehr groß, für die damalige Zeit aber enorm ist.

Der Hauptakt aller ritterlichen Feste war das Turnier,


das in seinen ersten Anfängen wohl
auf die kriegerischen Übungen der alten Germanen
und Gallier zurückgeht. Graf Nithart,

ein Sohn Angilberts von Karls Tochter Berta,


erinnert im dritten Buch seiner Historien
an eine Weiterentwicklung dieser turnerischen Übungen,
indem er erzählt, wie seine Zeitgenossen und Verwandten,

Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle, 842


gemeinsam den Vertrag von Straßburg schlossen.
Danach zogen die beiden Brüder rheinabwärts
und lagerten mit ihren Heeren zwischen Worms und Mainz,

um die Ankunft ihres Bruders Lothar abzuwarten.


Zum Zeitvertreib und zur körperlichen Ertüchtigung
spielten sie oft Kampfspiele.
Zu diesem Zweck versammelten sie sich

auf einem eigens dafür ausgesuchten Platz,


und während sich das Volk ringsum versammelte,
stürzten sich zunächst gleich starke Horden
von Sachsen, Österreichern und Briten

von beiden Seiten wie zum Kampf aufeinander.


Dann wendeten einige von ihnen ihre Pferde
und versuchten, sich mit ihren Schilden zu bedecken,
um sich vor dem Angriff des Feindes zu retten,

indem sie flohen, während dieser die Fliehenden verfolgte.


Schließlich stürmten beide Könige, umgeben
von der ganzen jungen Mannschaft,
in einem gestreckten Pferderennen

mit gekrümmten Lanzen gegeneinander an


und ahmten mit Flucht und Verfolgung
auf der einen und der anderen Seite
den wechselnden Verlauf einer Schlacht nach.

König Heinrich I. entwickelte die Turniere


dann zu Reiterturnieren weiter, in Frankreich
erhielten sie ritterlich-romantische Formen und Zutaten,
unter denen sie vom 12. bis ins 17. Jahrhundert

auch in Deutschland stattfanden.


In der Blütezeit des Rittertums wurden regelmäßig
Turniere veranstaltet. In Deutschland gab es
vier große Turniergesellschaften,

eine schwäbische, fränkische, bayerische und rheinische,


die sich wiederum in kleinere Kreise aufteilten.
Die Fürsten der genannten Länder hatten das Amt
des obersten Turniervogtes inne, dessen Aufgabe es war,

die Turniere anzukündigen, die Turnierplätze herzurichten,


für Geleit und Unterkunft zu sorgen,
die Wappenschau durchzuführen und ganz allgemein
der Turnierpolizei die Abwicklung der Turniere zu überlassen.

Turniere wurden zu Pferd mit Lanze und Schwert


oder zu Fuß mit Streitaxt, Streitkolben, Hecht und Schwert,
sowie in ganzen Gruppen gegeneinander ("Buhurd")
oder im Einzelkampf Mann gegen Mann ausgetragen.

Die beliebteste und häufigste Form des Kampfes


war jedoch das Tjostreiten zu Pferd.
Man unterschied zwischen dem "Schimpfrennen",
bei dem stumpfe Lanzen und Schwerter verwendet wurden

und es nur um Spiel und Übung ging,


und dem "Scharfrennen", bei dem scharfe Waffen
verwendet wurden und der Ernst oft so blutig wurde,
dass bei einem Turnier, das 1241 in Köln stattfand,

zum Beispiel sechzig Ritter tot auf dem Feld liegen blieben.
Daran lässt sich erkennen, dass die feine Gesellschaft
des Mittelalters nicht weniger Lust auf grausame Spiele
und nicht weniger Lust auf den Anblick von Blut hatte

als die feine Gesellschaft des alten Rom.


Die römische Arena und der mittelalterliche Turnierplatz
sind Illustrationen des Märchens, wonach sich
die Menschen als solche lieben. In Wahrheit

haben sie sich seit jeher nicht nur


aus Hass oder Eigennutz, sondern auch
zum bloßen Zeitvertreib gegenseitig umgebracht.
Der sogenannte "Turnierdank" wurde

angesichts des zunehmenden Luxus


zum Gegenstand konkurrierender Erfindungen.
Er bestand nicht mehr in einfachen goldenen Ketten und Kränzen,
Waffen, Stickereien oder Rössern,

sondern in der kostspieligen Verwirklichung


aller möglichen romantischen Vorstellungen.
So finden wir bei einem Turnier des Markgrafen
Heinrich des Erlauchten von Meißen in Nordhausen

einen großen Baum mit goldenen und silbernen Blättern


aufgestellt, und wer seinem Gegner die Lanze brach,
erhielt ein silbernes Blatt, wer ihn aus dem Sattel hob,
ein goldenes Blatt. Der seltsamste aller Turnierpreise aber

wurde bei einem Turnier der Magdeburger Stadtjunker


zu Pfingsten 1229 ausgelobt, zu dem die Patrizierherren
der umliegenden Städte feierlich eingeladen wurden.
Der Dank für das Turnier war ein schönes Mädchen

namens Sophia, vermutlich ein "lüsternes Fräulein".


Dieser Umstand wie auch die gesamte Ausgestaltung
des Festes, die mit Allegorien aus der Gralslegende spielt,
zeigt, dass romantischer Überschwang und Frivolität

bis weit in den deutschen Norden hinein noch in Mode waren.


Ein alter Kaufmann aus Goslar gewann die Schönheit
und führte sie zu einer ehrlichen Ehe.
Mit dem Niedergang des Rittertums

begannen die Kämpfer, miteinander um Geld zu wetten,


und geschickte Reiter und Schwertkämpfer
zogen durch das Land, um überall Herausforderungen
zu stellen und Geldwetten anzubieten.

Zu diesem Symptom des Niedergangs


der höfisch-ritterlichen Gesellschaft gesellten sich
ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts immer mehr.
Diese ganze höfische Kultur in Deutschland

war nicht vom Stamm des nationalen Lebens getragen worden,


und so kam es nach einer kurzen Blütezeit
zu einem raschen Verblühen. Die romantische Bildung,
die nur eingebildet und vorgetäuscht war,

hatte in Geist und Gemüt unseres Volkes


keine feste Grundlage gefunden. Sobald sie
ihrer äußeren Lebensbedingung,
der beherrschenden Weltstellung Deutschlands

unter den Hohenstaufen, beraubt war,


verkümmerte sie und ging unter,
wenigstens in ihren höheren Tendenzen,
ohne Rettung in der furchtbaren, alle Kultur

in Frage stellenden Zeit, die nach dem Tode


Kaiser Friedrichs II. anbricht. Die deutsche Gesellschaft
wurde unsagbar wild, und das Ansehen
des deutschen Rittertums im Ausland

sank von Stufe zu Stufe bis zu jenem Grad der Verachtung,


den ein klassischer Chronist des 14. Jahrhunderts
wiederholt und nachdrücklich bezeugt.
Er nennt die deutschen Ritter plump, ungehobelt und grob,

gefühllos, hart und gierig. Natürlich darf man


nicht übersehen, dass der Chronist
auch den "schwarzen" Fürsten
mit den schrecklichsten Zügen der Unmenschlichkeit

und Grausamkeit beschreibt und ihn dennoch


als Blüte des Rittertums verherrlicht.
Gerade bei diesem ritterlichen Chronisten wird uns ganz klar,
dass ritterliche Tugend nur das bedeutete,

was die Franzosen courtoisie


und die Deutschen Höfischkeit nannten.
Von echter Moral, von echtem Gerechtigkeitssinn
und von echter Menschlichkeit war im Rittertum keine Spur.

Sonst hätte es nicht ins Gewöhnliche, Wilde und Wüste


absinken können, wie es in den deutschen Ländern
von da an geschah. Die Frauen gaben sich
der groben Ausschweifung

oder einer morbiden Frömmigkeit hin, die bekanntlich


immer eng mit der Prostitution verbunden ist.
Die Männer gaben sich der gröbsten Jagd
und Schlägerei hin. Feine Umgangsformen

wurden vergessen oder geradezu verachtet,


stattdessen herrschte der plumpeste, schmutzigste Ton vor.
Infolge der übermäßigen Ausgaben für Essen und Trinken,
Hausrat und Kleidung, Dienerschaft und Pferde,

die sie ausgerechnet bei Turnieren, Reichsversammlungen,


häuslichen und öffentlichen Festen getätigt hatten,
war der Adel oft so verarmt, dass er sich
auf Straßenlager zurückzog, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.

Ein wildes Raubleben zog in die Schlösser ein,


ein Krieg aller gegen alle begann wieder ganz offen
und brachte eine Missachtung aller kirchlichen
und staatlichen Gesetze mit sich,

so dass ein deutscher Fürst


die schändlichen Worte aussprechen durfte:
Gottes Freund und aller Menschen Feind
als ritterliches Credo. Aus den trivialsten Gründen

oder einfach um der Kriegsbeute willen


wurde es zur Gewohnheit des Adels,
Streitigkeiten abzubrechen, besonders gegen die Städte,
die der Adel um ihren Wohlstand beneidete

und deren Bewohner er bei jeder sich bietenden Gelegenheit


mit Mord und Plünderung überfiel. In solchen Fehden
war das ritterliche Ehrgefühl keineswegs immer so stark,
dass der Angreifer den Verteidiger vorher

durch einen "Ablehnungsbrief" oder "Fehdebrief" warnte,


wie es das mittelalterliche Faust- und Fehderecht vorschrieb.
Das materielle Elend und die große Unsittlichkeit,
die sich aus der ausgebrochenen Anarchie

zwangsläufig ergaben, wurden noch verstärkt


durch die schrecklichen Seuchen, die die Pest
("der große Tod", "der schwarze Tod")
im 14. Jahrhundert mit sich brachte.

Sie entvölkerte Städte und blühende Ortschaften,


raffte Hunderttausende von Menschen dahin
und löste alle familiären und sozialen Bindungen.
In diesen brutalen Zeiten verfiel die ritterliche Poesie;

der Dichter sank auf den Status


eines schmarotzenden Meisters
und eines schmarotzenden Geschichtenerzählers herab,
der an den Höfen mit den Berufsnarren, mit den Hofnarren,

um ein mageres Stück Brot kämpfen musste.


An die Stelle des höfischen Vergnügens
mit seiner Freude an köstlicher Rede, Musik und Gesang
traten monströse Saufgelage mit unflätigen Reden,
unsauberen Possen, ruinöser Spielwut und sinnloser Rauferei,

die die ritterliche Institution des Duells entehrten.


So neigte sich alles dem Groben und Schändlichen zu.
Doch viele Formen ritterlicher Romantik
überlebten ihren Geist noch lange,

und vor allem die äußere Pracht ihrer Feste


nahm eher zu als ab, die vor allem
bei fürstlichen Hochzeiten glanzvoll war.
Und nun, zieh dich aus, Muse, und leg dich ins Bett!

SECHSTER GESANG
ROMANTISCHE POESIE

Eine Gesellschaft, wie wir sie im vorangegangenen


Gesang zu beschreiben versucht haben,
war durchaus geeignet, in ihrer Blütezeit
eine reiche Literatur zu schaffen,

die aber, wie die Kreise, in denen sie entstand,


eher fremdländisch als national geprägt sein musste.
Die deutsche Kultur des Mittelalters
war im allgemeinen in weit größerem Maße

eine rezipierende und nachahmende


als eine originäre und vorbildliche Kultur.
Erst mit den zahlreichen und bedeutenden
künstlerischen und mechanischen Erfindungen,

die im 13., 14., 15. und 16. Jahrhundert


in Deutschland gemacht wurden, begann es,
die zahlreichen kulturellen Anleihen zurückzuzahlen,
die es zuvor im Ausland aufgenommen hatte.

Dann wurde Deutschland durch die Reformation


für eine Weile zum geistigen Zentrum Europas;
doch bald begann wieder eine lange Periode
der Nachahmung, die erst der große Aufschwung

der deutschen Dichtung und Wissenschaft


in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beendete,
so dass Deutschland von da an überall
als geistige Weltmacht Einfluss zu nehmen begann.

So wie Frankreich das Bildungszentrum


des Rittertums war, muss es auch als die Heimat
der ritterlichen Dichtung anerkannt werden.
Von Frankreich aus hat die Romantik

ihren Eroberungszug durch das Abendland angetreten.


Der Kern der Romantik ist der christliche Spiritualismus,
das absolute christliche Gefühl
der Abhängigkeit von Gott,

das christliche Gefühl der Sehnsucht nach dem Jenseits,


die christliche Mystik des Glaubens,
die christliche Erinnerung
an ein verlorenes Paradies, mit einem Wort,

die christliche Idee eines unüberbrückbaren Gegensatzes


zwischen Geist und Materie. Sie hätte aber
unmöglich in solcher Einseitigkeit
künstlerisch und gesellschaftlich auftreten können,

wenn sich ihr das Rittertum nicht als Gefäß,


als Körper präsentiert und die sinnlichen
Ansprüche dieses Körpers nicht bereitwillig akzeptiert hätte.
Und so sehr wusste sich die christlich-übernatürliche

Verneinung der Natur gegen sie durchzusetzen,


dass im Christentum selbst, im Katholizismus,
das Heidentum mit all seiner Form- und Farbenschönheit,
seiner Lebensfreude, seiner Leidenschaft

und seinem sinnlichen Genuss wieder siegreich aufstieg.


Der Körper hat sich den Geist völlig unterworfen,
trotz der kühnen Proteste, die letzterer,
um seine Ehre zu retten, hier und da vorbrachte.

Was die ritterlich-romantische Dichtung betrifft,


so muss man vor allem sagen, dass sie ihre Formen
zunächst aus einer unchristlichen Quelle bezog,
nämlich aus der arabischen Dichtung in Spanien.

Von den Arabern, unter denen während der Blütezeit


der Omeijaden eine materielle und geistige Kultur herrschte,
deren Höhe das christliche Europa
in seinen barbarischen Verhältnissen

nicht einmal erahnen konnte, übernahmen


die Spanier und die Provencalen den Geist
und die Technik ihrer ersten poetischen Ausdrucksformen.
Die Beziehungen zwischen den christlichen Kriegern

und den Mauren, die gegen Ende des 11. Jahrhunderts


anlässlich der Belagerung und Einnahme von Toledo
durch König Alfons VI. von Kastilien stattfanden,
scheinen besonders fruchtbar gewesen zu sein.

Als schönste Beute brachten die Sieger


die Keime der fröhlichen Wissenschaft (gaya scienza)
in ihre Heimat zurück, und diese Keime
fanden auf beiden Seiten der Pyrenäen

einen günstigen Boden. Bald ertönten vor allem


in der Provence ritterliche Gesänge. Die Kunst
des Findens und Erfindens war hier die passende
Bezeichnung für die Poesie; der Dichter wurde Finder,

Erfinder, Troubadour genannt, der,


wenn er nicht die Gabe besaß, seine Lieder zu singen,
von einem Minnesänger und Deklamator,
einem Jongleur begleitet wurde. Die Troubadours

schütteten ihre Gefühle und ihren Stoff


in Liedern verschiedenster Art aus,
in fröhlichen und klagenden, in Morgenliedern
und Abendserenaden, in Tanzliedern

und Schimpfliedern, in Streitgedichten,


Hirtenliedern, Legenden, Fabeln, Novellen
und Erzählungen. Liebesleid und Liebesfreuden
und die Verherrlichung der Geliebten

waren und blieben das Hauptthema


der provenzalischen Dichtung, aber nicht ausschließlich;
denn alle Ausdrucksformen eines frischen
und französischen Männerlebens

fanden auch in den Liedern der Troubadours


ein lautes Echo. In ihnen, besonders
in denen von Bertran de Born, glüht
ein wahrhaft arabisches Feuer der Lust, des Zorns

und der Fehde. Wir können nicht umhin,


an die alten arabischen Sänger zu denken,
die sich freuen, wenn sie erzählen,
wie sie ihre Lanzen zum Bluttrinken führten

und den Durst ihrer Schwerter im Herzen


des Feindes löschten, wenn der oben erwähnte
Troubadour ausruft: Nicht solche Freude gibt mir Schlaf,
Speise und Trank, als wenn es von beiden Seiten schallt:

Auf! hinein! und das Wiehern der Pferde


hallt laut aus dem Schatten des Waldes,
und der Hilferuf weckt die Freunde,
und schon bedecken Groß und Klein

dicht die grünen Matten des Grabens,


und manch einer liegt ausgestreckt darin,
den Schaft noch im Busen.
Die Troubadour-Dichtung hatte aber

nicht nur eine persönliche und gesellige Bedeutung,


sie erlangte auch eine politische
und kirchlich-reformatorische Bedeutung
durch die lebendige Pflege

der Lob-, Spott- und Straflieder.


Die Lieder traten an die Stelle der Presse,
und als Dichter von Schimpfliedern
wurden die Troubadours zu Trägern und Lenkern

der öffentlichen Meinung. Aus dem Munde


dieser Dichter kamen also keineswegs
nur melodische Minnesangseufzer,
sondern ihre Zungen entluden sehr oft

die Bolzen der moralischen Empörung


und des heißen Zorns. Aufgrund ihrer kühnen Angriffe
auf den päpstlichen Stuhl und die Korruption
des Klerus gehörten sie zu den einflussreichsten

Wegbereitern der Reformation,


und es ist von großem Interesse zu hören,
mit welcher Freimütigkeit ein Guillem Figueiras
und ein Peire Cardinal zu Beginn

des dreizehnten Jahrhunderts über die Hierarchie sprachen.


Beide geißelten die Priesterschaft bis auf die Knochen.
Sie werden Hirten genannt, sagt der letztere
in einem seiner Lieder, aber sie sind Mörder.

Wenn man nur ihre Kleidung betrachtet,


sind sie voller Heiligkeit; aber sie ähneln dem Wolf,
der, um die Schafherde zu morden und zu verschlingen,
sich in ein Kleid aus Hammelfleisch kleidet.
Mit der Höhe ihres Standes nimmt nur

ihre Schändlichkeit zu, und seit undenklichen Zeiten


hat es niemand so schlecht mit Gott
und den Menschen gemeint wie die Priester.
Zur romantischen Poesie der südfranzösischen

Troubadours fügten die nordfranzösischen


Trouvères eine sehr reiche epische Poesie hinzu,
durch die Frankreich zum Zentrum
der romantischen Poesie wurde.

Aus fränkisch-karlingischen, keltisch-bretonischen


und normannischen Sagen, aus kirchlichen Legenden
und romantisierten antiken Geschichten und Mythen
bildete sich die romantische Heroologie,

die, zum Teil herausgegeben von fähigen Dichtern


wie Chrestien de Troyes und Richard Wace,
in Frankreich enorme Massen an epischen Gedichten,
Ritterromanen, Martyrologien, Allegorien,

Fabliaux und Comtes anhäufte und bald


auch das Ausland, England, Spanien, Italien
und Deutschland mit poetischem Material versorgte.
Die Entstehung der italienischen Literatur zum Beispiel

beruht ganz auf der Inspiration durch die Franzosen;


denn nicht nur die Dichtung Petrarcas
wurzelt in der provenzalischen Poesie,
nicht nur die Fabliaux Nordfrankreichs

lieferten die reichste Quelle für Boccaccios


ungemein einflussreiche Novellen,
sondern auch Dante hatte, wie es sehr wahrscheinlich ist,
die erste Idee für seine Göttliche Komödie

aus einem allegorisch-satirischen Gedicht


des Trouvères Raoul de Houdan geschöpft,
während die späteren italienischen Epiker
von Pulci über Bojardo und Ariosto

bis hin zu Fortiguerra die altfranzösische Sage


von Karl dem Großen als Thema wählten.
Der Weltverkehr, in den die Kreuzzüge
und die staufische Politik Deutschland hineinzogen,

verschaffte dem deutschen Adel Kenntnisse


über die Stoffe und Formen der romantischen Dichtung
aus Frankreich. Ich sage Adel, weil er als Vertreter
der ritterlich-romantischen Kreise auch die Poesie

derselben bevorzugt pflegte. Natürlich dichteten


neben den Rittern auch Geistliche und Bürger,
letztere mit dem Titel "Herr"
im Gegensatz zum Adelstitel "Lord";

aber die eigentliche Heimat der Liedkunst,


der heiteren Wissenschaft, waren die Ritterburgen,
besonders die fürstlichen Burgen, die Hofburgen,
von denen die gesamte Dichtung dieser Zeit

auch den Namen höfisch erhalten hat.


Unsere romantische Ritterepopöe
ist überall als ein echtes Kind der Kreuzzüge zu erkennen.
Diese hatten den christlichen Wunderglauben

auf die Spitze getrieben, und das Wunderbare


ist daher die Atmosphäre, in der die ritterliche Dichtung atmet.
Aventiure, also die phantastisch-willkürliche Verkettung
wundersamer Ereignisse, ist die Muse

dieser epischen Dichter. Sie erhebt sich auf den Schwingen


christlich-romantischer Frömmigkeit zum Himmel
und stürzt sich dann mit üppigen Gesten
und wollüstigen Scherzen wieder in die heißesten

Wellen der Sinnlichkeit. Eingehüllt


in den faltigen Mantel gemütlich ausschweifender Rhapsodie
wird sie nicht müde, von Anbetung und Frauenliebe,
von ritterlicher Tapferkeit und höfischen Sitten,

von skurrilen Liebesgeschichten


und unerhörten Abenteuern zu erzählen,
und wenn sie die Gefahr spürt, sich in den Lappalien
und Unreinheiten des höfischen Geschwätzes

zu verlieren, so kehrt sie doch zu unserer Überraschung


und zum Ausgleich plötzlich mit kräftiger Bruststimme
zu dem großen Thema zurück, das uns damals bewegte,
dem Thema des Kampfes zwischen der christlichen

und der islamischen Welt. Die deutsche


ritterliche Dichtung nahm ihren Stoff so auf,
wie er in Frankreich aufbereitet worden war.
Neben kirchlichen Legenden und antiken Geschichten

bestand sie vor allem aus den fränkischen Sagen


Karls des Großen und seiner Pfälzer,
dann aus den keltisch-bretonischen Legenden
von König Artus, dem Heiligen Gral

und Tristan und Isolde. Wie bereits angedeutet,


wurde Kaiser Karl der Große schon früh
zu einer Lieblingsfigur der mittelalterlichen Dichtung.
Die Idee, die Sarazenen zu bekämpfen und zu bekehren,

wurde von ihm und seinen hervorragendsten Pfalzgrafen,


von denen der prächtigste sein Neffe Roland war,
favorisiert. Seine Taten und die seiner Pfalzgrafen
wurden erstmals in der legendären Chronik

des sagenumwobenen Erzbischofs Turpin


wiedergegeben, die auf der Grundlage
epischer Überlieferungen im 11. Jahrhundert
in Latein niedergeschrieben wurde. Diese Chronik

trieb dann in Frankreich in den Geschichten


vom Untergang Rolands im Tal von Roncesval,
von den vier Söhnen Haimons, vom Zauberer Malagis,
von Huon von Bordeaux, von Flos und Blankflos

eine Reihe epischer Triebe aus,


die auch nach Deutschland verpflanzt wurden,
hier aber im Großen und Ganzen
nicht recht gedeihen wollten.

In der alten britischen Sage von König Artus


ist vieles keltisch und frivol.
Die Artussage hätte in Deutschland
kaum dauerhafte Beachtung gefunden,

wenn zu ihrer frivolen weltlichen Seite


nicht eine tiefere, mystisch-spirituelle hinzugekommen wäre,
die Legende vom Heiligen Gral und seinen Hütern,
die die ritterliche "Massenie der Templeisen" bilden.

Diese aus dem Orient stammende Legende


hat ihre Wurzeln in den ältesten menschlichen Vorstellungen
von paradiesischen Zuständen, die mühelos
die Bedürfnisse des Lebens befriedigen,

in Vorstellungen, an die der Hermesbecher der Griechen,


der Stein der Weisen der späteren Alchemie
und das "Tischlein deck dich" der Kindermärchen
eine Erinnerung bewahrt haben. Die christliche Mythologie

und die romantische Phantasie haben diese Erinnerungen


dann auf ihre eigene Weise geformt.
Der Heilige Gral, ein zu einer Schale gearbeiteter
Edelstein von seltener Größe und wunderbarem Glanz,

befand sich zur Zeit der Passion Christi


im Besitz von Josef von Arimathäa.
Aus dieser Schale reichte der Heiland seinen Jüngern
bei der Einsetzung des letzten Abendmahls

das Brot, und in dieser Schale wurde das Blut


aufgefangen, das Longinus' Speer
aus der Seite des Gekreuzigten zog.
Da der Mythos des christlichen Erlösungswunders

auf diese Weise mit dem Gral verbunden wurde,


war es nur logisch, dass man ihm auch Wunderkräfte zuschrieb.
Der Gral bescherte seinem Besitzer nicht nur
irdisches Glück in Hülle und Fülle,

sondern verlängerte auch sein Leben um Jahrhunderte,


und er belebte sogar die tödlichen Wunden derer,
die ihn ansahen. Sein erster Besitzer, Joseph,
hatte den Schrein in das Abendland gebracht.

Nach ihm war lange Zeit niemand mehr würdig,


ihn zu besitzen, weshalb der Gral von Engeln
in der Luft gehalten wurde. Denn seine Kultivierung
erforderte einen demütigen, reinen Geist,

eine selbstverleugnende, aber weise Gesinnung,


eine geläuterte Treue zu Gott wie zu den Menschen
und schließlich mannhafte Tapferkeit.
Diese Eigenschaften vereinten sich in Titurel,

einem legendären Prinzen Frankreichs.


Er wurde nach Salvaterre in der Biskaya geführt
und gründete dort auf dem unzugänglichen Berg
Montsalvage einen Tempel für den Heiligen Gral

und um ihn herum eine Burg für den Orden


der Hüter des von ihm gegründeten Heiligtums,
"die Templeisen", in der die Idee des Templerordens
noch einmal aufgegriffen und poetisch verklärt wurde.

Mit der Beschreibung des Gralstempels


lieferte die mittelalterliche Romantik ein Schaustück,
das in seiner Pracht meines Erachtens
nur noch an etwas Ähnliches in Dantes Paradiso

heranreicht. Inmitten eines dichten Waldes


erhebt sich der Berg Montsalvage, auf dessen Gipfel
aus dem Zentrum einer hunderttürmigen Burg
das phantasievolle Bauwerk des Tempels in die Höhe ragt.

Auf einem Fundament aus Onyx


wölbte sich eine Rotunde mit einem Durchmesser
von hundert Klafter, die von zweiundsiebzig
achteckigen Kapellen umgeben war. Darüber

erhoben sich sechsunddreißig Türme


mit sechs Stockwerken und je drei Fenstern,
die durch eine von außen sichtbare Wendeltreppe
miteinander verbunden waren. Über der Rotunde

erhob sich ein doppelt so hoher und breiterer Turm,


der auf ehernen Säulen stand. Die Gewölbe
waren aus Saphir, und in der Mitte befand sich
immer ein Smaragd, der das Lamm

mit der Kreuzesfahne in Emaille zeigte.


Generell wurden alle Arten von Edelsteinen
reichlich in den Ornamenten eingesetzt.
Im Gewölbe der Kuppel war die Sonne in Topasen,

der Mond in Diamanten nachgebildet,


so dass das Innere des Tempels auch nachts
in hellem Licht erstrahlte. Die Fenster
waren aus Kristallen, Beryllen, Rubinen

und Amethysten gefertigt,


der Fußboden bestand aus durchsichtigem Kristall,
unter dem alle Tiere des Meeres in Onyx modelliert waren,
als lebten sie in ihrem Element. Die Altartische

waren aus riesigen Saphirsteinen geschnitzt


und mit grünem Samt überzogen.
Auch die Türme waren aus edlem, mit Gold
durchwirktem Stein gefertigt, und Platten

aus rotem Gold, verziert mit blauen Schmelzen,


bildeten ihre Bedachung. Jeder der Türme
wurde von einem Kristallkreuz gekrönt,
auf dessen Spitze ein goldener Adler

mit ausgebreiteten Flügeln saß.


Ein riesiger Karfunkel zierte den Hauptturm als Knopf
und diente, nachts weithin leuchtend,
als Wegweiser zu den Tempeleisen.

Der Heilige Gral selbst wurde in einem Sakramentshaus


aufbewahrt, das den ganzen Bau in Miniatur wiederholte
und unter dem Gewölbe der Hauptkuppel
reich verziert war. In diesem Tempel

und in dieser Burg blühte der Gottesdienst


jahrhundertelang, bis die zunehmende Gottlosigkeit
der abendländischen Christenheit sie unwürdig machte,
das wundersame Heiligtum in ihrer Mitte zu haben,

so dass es von Engeln mitsamt seinem Tempel


emporgehoben und durch die Lüfte nach Osten
in das Land des heiligen Johannes des Priesters
getragen wurde, das im späteren Mittelalter

als die Heimat aller Tugend und allen Glücks galt.


Im zehnten Jahrhundert sahen wir die deutsche Dichtung
in den Händen des Klerus schlummern,
und wir müssen fairerweise sagen, dass sie erst

im zwölften Jahrhundert durch diese Hände


wieder erweckt wurde. Das Studium
des aus dem Ausland eingeführten romantischen
Materials erforderte Kenntnisse, die der Klerus

bereits besaß, während die Ritterschaft


sie sich erst aneignen musste. Dies erklärt,
warum wir schon in der hochtäuferischen Zeit
auf poetische Werke stoßen, in denen

der klösterliche Ton noch stark zu spüren ist.


Es handelt sich dabei um Heiligenlegenden,
Verse aus dem Alten und Neuen Testament.
Zum spirituellen Ton gesellt sich in größerem Maße

der ritterlich-romantische Ton im Rolandslied,


das zwischen 1173-77 von einem Priester, Konrad,
im Dienste Heinrichs des Löwen
nach einer französischen Quelle verfasst wurde

und in dem der Todeskampf Rolands


und seiner Gefährten eindringlich geschildert wird.
Während sich die deutsche Romantik
in diesem Gedicht gleichsam innerhalb

der heimischen vier Pfähle bewegt,


wagt sie in dem kurz darauf entstandenen Alexanderlied
des Priesters Lamprecht die kühnsten
und gewagtesten Flüge in fremde Länder.

Als eine der schillerndsten Gestalten der Geschichte


ist der Makedonier Alexander auch
zu einem Haupthelden der Poesie geworden.
Wie kein anderer vermittelt er zwischen Abendland

und Orient, wo er als Iskander


in persischen Heldenliedern ebenso gefeiert wurde
wie in Europa. Hier und da scheint in der Übergangszeit
des 12. Jahrhunderts ein deutscher Dichter

von nationalem Geist beseelt gewesen zu sein,


wie eine fragmentarische Bearbeitung
der altgermanischen Tierlegende
durch Heinrich den Glicheser vermuten lässt.

Freilich traf solch originelle Waldpoesie


nicht den Geschmack der damaligen Leser,
und Heinrich von Veldeke, der eigentliche Chorführer
der höfischen Dichter, traf ihn umso entschiedener

mit seiner zwischen 1175 und 90 entstandenen „Eneit",


in der sich die antike Aeneas-Sage eine so starke
romantische Übermalung gefallen lassen musste,
dass Vergil seinen Stoff darunter kaum erkannt hätte.

Die Schilderung von Ereignissen tritt bescheiden


hinter die Beschreibung von Herzenszuständen zurück,
und Heinrich blieb das Vorbild für alle deutschen Dichter
des Mittelalters, weil er sich auf sehr liebenswürdige Weise

das romantische Ideal der Liebe


für die deutsche Heldendichtung aneignete.
Er hat unsern deutschen Zungen
den ersten Reis eingeimpft, heißt es in der Lobrede

seiner Nachfolger auf ihn; aus ihm sprossen


die Zweige, aus denen die Blumen kamen,
aus denen der Meister den Sinn
zum schönen Finden nahm.

Heinrichs Eneit erfreute sich lange Zeit


außerordentlicher Beliebtheit, denn sie fasste
alles zusammen, was man damals für die Merkmale
der höchsten poetischen Kunst hielt:

Reinheit der Sprache, Wohlklang und Rhythmus der Reime


und Verse, zierliches höfisches Verhalten
in Wort und Tat, beredte Ausführlichkeit der Erzählung.
Diese Eigenschaften kamen dann auch

bei Hartmann von der Aue in vollem Umfang zur Geltung.


Hartmann galt seinen Zeitgenossen als der sprachlich
und stilistisch zarteste Dichter,
und diese Eigenschaft muss auch die Nachwelt

an ihm anerkennen. Die schroffe Zweiseitigkeit


der Romantik, die schon Hartmanns Gedichte zeigen,
ist bei Wolfram und Gottfried noch entschiedener
und wahrhaft prächtig auf beiden Seiten.

Diese beiden hervorragenden Dichter repräsentieren


zum ersten Mal den großen Gegensatz
zwischen Spiritualismus und Sensualismus,
Geist und Natur, der sich bis heute verfolgen lässt.

Wolfram von Eschenbach, der einem fränkischen


Rittergeschlecht aus der Nähe von Ansbach entstammte,
lebte unter Kaiser Friedrich I.
und starb in der Regierungszeit Friedrichs II.

Er befand sich also tatsächlich auf dem Höhepunkt


des Mittelalters, und seine Werke beweisen, dass er,
obwohl er die mechanischen Fertigkeiten
des Lesens und Schreibens nicht beherrschte,

die Bildung seiner Zeit vollständig vereinte.


Genie und sittliche Mannhaftigkeit
hätten ihn zum Mittelpunkt jenes glänzenden
Dichterkreises machen können,

den die Großzügigkeit des Landgrafen


Hermann von Thüringen Ende des 12.
und Anfang des 13. Jahrhunderts
auf der Wartburg versammelte, eines Dichterkreises,

der der Dichtung späterer Zeiten


als Gegenstand dienen musste
und auf den allerlei Rivalitäten zwischen Wolfram
und dem legendären Heinrich von Ofterdingen,

eines Liederwettstreits auf Leben und Tod,


in dem auch der legendäre Klingsor auftritt,
zurückgeführt werden. Als erster großer Prophet
des deutschen Idealismus

konnte er sich nicht mit der äußerlichen Romantik


zufrieden geben, die von Veldeke
und von der Aue zum Allgemeingut gemacht hatten.
Er hatte ein höheres Ziel vor Augen:

Den Triumph des Geistes über die Sinnenwelt,


wie ihn das Christentum forderte,
wollte er in einem großen Gedicht,
in einem psychologischen Epos, darstellen,

das die Ereignisse einer kämpfenden Seele,


die Taten eines irrenden, weil strebenden Geistes
schildern sollte. Ein wahrhaft großer Plan
für die damalige Zeit, der in seinem Wesen

der Idee von Dantes berühmter Schöpfung


in nichts nachsteht und, wie zu bemerken ist,
früher als letztere erdacht und ausgeführt wurde.
Die Artussage und der Gralsmythos

boten sich Wolframs Gedanken als geeignete Grundlage an;


aber um sie für seinen Zweck dienstbar zu machen,
musste er sie erheblich verändern,
musste er ihnen den Geist der deutschen

Spekulation einhauchen, der in ihm seinen ersten


großen Herold fand. Das soll natürlich nicht heißen,
dass Wolfram sich im freien Denken über seine Zeit erhob.
Seine Weltanschauung bleibt streng im Katholizismus,

seine Philosophie ist romantische Mystik.


Wie Dante, der in seiner Polemik
gegen päpstliche Missbräuche und Sakrilegien
nicht daran dachte, das Dogma anzutasten,

und wie später Calderon, ist er ein


im Wesentlichen katholischer Dichter.
Es ist genuin katholisch, wenn er die weltliche
Artuslegende neben der mystischen Gralslegende

laufen lässt, denn der Katholizismus lehnt


die Rechtfertigung der Sinnlichkeit in der Theorie ab,
erkennt sie aber in der Praxis umso entschiedener an.
Wolframs ethische Absicht, zu zeigen,

wie der Zweifel im Menschen entsteht


und wie er im christlich-katholischen Sinne
durch das Geheimnis der Erlösung des Menschen
durch Christus überwunden werden kann,

wird in einer großen ritterlichen Dichtung


in sechzehn Büchern, dem "Parzival", entfaltet.
Wolframs zweites Hauptwerk, das "Titurel",
wurde vom Dichter entweder nicht vollendet

oder ist der Nachwelt leider nicht


in seiner Gesamtheit erhalten geblieben.
Wir haben nur zwei Fragmente davon,
die in einer sehr melodischen Strophenform geschrieben sind,

die von der höfischen Form der epischen Dichtung


völlig abweicht. Auch der Inhalt
ist dem Gralsmythos entnommen.
Könnte man Wolfram als den Schiller

des Mittelalters bezeichnen, so steht


sein großer Zeitgenosse Gottfried von Straßburg
wie ein mittelalterlicher Vorgriff auf Goethe vor uns.
Im Gegensatz zu Wolframs erhabenem Idealismus

und grüblerischem Mystizismus


finden wir bei diesem Dichter
den freudigsten Sensualismus, die künstlerische Lust
an der menschlichen Leidenschaft.

Wolframs Poesie steigt zum Himmel auf,


Gottfrieds Poesie verklärt die Erde.
In diesem Mann, der mit der Antike so vertraut war,
wie es in Deutschland zu dieser Zeit möglich war,

steckt etwas Hellenisch-Humanistisches,


und das nicht ganz unbewusst, möchte man sagen.
Immerhin hat er in der berühmten, leider
nicht vollendeten Passage seines großen Gedichts

"Tristan und Isolde", in der er von seinen dichterischen


Zeitgenossen spricht, scharf und prägnant
seine Ablehnung jeglicher Mystik zum Ausdruck gebracht
und sich durchweg als entschiedener Realist,

als aufgeklärter Mensch und freier Künstler erwiesen,


unbefleckt von asketischem Dünkel.
Geniale Seelenmalerei, feinste Menschenkenntnis,
phantasievollste Erzählung und höchster Wohlklang

der Form machen ihn darüber hinaus


zu einem wahrhaft großen Dichter,
der auch in den prekärsten Situationen,
wie sie sein Stoff mit sich brachte,

durch den darüber ausgebreiteten Schleier


keuscher Anmut das Recht auf Schönheit
zu sichern vermochte. Wolfram und Gottfried
hatten, jeder auf seine Weise, die höfische Epik

zu ihrem künstlerischen Höhepunkt geführt.


Bei den Nachahmern, die sie fanden,
wie bei Hartmann, ist der Abstieg mal mehr,
mal weniger rasant zu beobachten.
Hartmanns Wege wurden von Wirnt von Grafenberg

in seinem Artussagenkreis-Gedicht "Wigalois"


beschritten. Begabtere Nachahmer,
wie die beiden bürgerlichen Meister
Konrad Flecke und Konrad von Wirzburg,

nahmen sich Gottfried zum Vorbild. Ersterer


behandelte die schöne Liebessage
von Flos und Blankflos recht zart;
letzterer, ein äußerst produktiver Dichter,

schadete der Wirkung seines gigantischen Gedichts


vom Trojanischen Krieg, das 60.000 Verse umfasst,
ebenso wie der seiner gereimten Legenden,
Novellen und Allegorien, indem er sie überspitzte,

indem er sie mit Gottfriedscher Würze würzte,


wenn ich so sagen darf. Die Sagenpoesie
und die poetische Erzählung wurden immer
prestigeträchtiger, je mehr den höfischen Dichtern

der Atem für lange epische Gedichte auszugehen begann.


Dann mischten sich die erhabenen Artus- und Gralssagen
mit den derben Späßen des Volkslebens,
wie die Volksnovelle "Pfaff Amis",

die um 1230 von einem österreichischen Dichter


namens Stricker in Vorwegnahme
der Eulenspiegel-Sagen geschrieben wurde,
lustig genug macht. Diese aus dem wirklichen Leben

gegriffene Dichtung wurde bald sehr populär


und nahm, wie die italienischen Novellen,
vor allem den Klerus aufs Korn.

Mit der Wildheit der ritterlich-romantischen Gesellschaft


wurde auch die höfische Dichtung immer wilder
oder ging unter dem Einfluss der niederländischen
Geschichtsreimer in gereimte Chroniken über.

Rudolf von Ems deutet diesen Übergang


mit seinem "Alexander" und seiner "Weltchronik"
bereits an. Die österreichische und steirische
Reimchronik des Ottokar von Horneck,

die von 1250 bis 1309 reicht,


hat sich einen gewissen Ruf unter den Reimen
dieser Art bewahrt. Bis weit ins 15. Jahrhundert hinein
stoßen wir dann auf Wiederkäuungen von Stoffen

aus der Karls- und Artuslegende,


die allerdings recht ungenießbar, grob und geistlos sind.
Noch etwas später versiegte der Strom
der höfischen Epik im bodenlosen Sand

der allegorischen Ritterdichtung,


die der "Weißkunig", ausgeführt nach einem Entwurf
Kaiser Maximilians I. von Marx Treizsauerwein,
und der "Theuerdank", gereimt von Melchior Pfinzing,

ebenfalls nach den Vorgaben des Kaisers,


vor uns ausbreiten. Beide Werke enthalten
die allegorische Geschichte ihres Autors,
der seine Zeit und seine Gaben

dem tragikomischen Versuch


der Wiederherstellung des Rittertums opferte.
Wir können uns nicht länger
mit diesen gescheiterten epischen Versuchen

des ausklingenden Mittelalters aufhalten,


die uns nur das Bild einer in sich zusammenbrechenden
Gesellschaft vor Augen führen,
sondern wenden uns lieber der hochtäuferischen Zeit zu,

um einem höchst bemerkenswerten nationalen


literarischen Phänomen zu begegnen. Ich meine
die Pflege der deutschen Heldensage,
wie sie sich in den genannten Sagenkreisen

in ihren verschiedenen Gruppen


und Verästelungen darstellt. Der kosmopolitische
deutsche Hang und Drang nach fremden Ländern
drückte sich in der erschöpfendsten Weise aus,

indem er die romantischen Stoffe Frankreichs


in sich aufnahm, aber gleichzeitig wies
das deutsche Heimweh auf die Hebung
heimatlicher Schätze hin, die jahrhundertelang

im Gedächtnis des Volkes gelegen hatten,


von den Gebildeten unbemerkt und verachtet.
Nun, am Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts,
tauchte der nationale Sagenschatz wieder auf,

und künstlerische Dichter machten sich


an dessen Goldbarren zu schaffen.
Wir müssen davon ausgehen, dass die germanische
Heldensage trotz des romantischen Geschmacks

der höheren Schichten von Generation


zu Generation weitergegeben wurde,
vor allem durch die Vermittlung
von fahrenden Volkssängern,

deren unstrukturierte Lieder, die auf Märkten


und in Wirtshäusern zum Lob
der alten Stammeskönige gesungen wurden,
neben den fremden Melodien allmählich

ihren Weg in die Ritterburgen fanden.


Die geschichtliche Grundlage dieses Volksepos
ist die Zeit der Völkerwanderung,
deren gewaltige Umwälzungen sich unauslöschlich

in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt hatten.


Auf dieser Grundlage, in deren Mittelpunkt
der Hunnenkönig Attila oder Etzel steht,
wurde unsere nationale Heldendichtung aufgebaut.

Das Wunderbare, das unter dem Einfluss


der christlich-katholischen Romantik
von der rastlosen Phantasie des Volkes und seiner Sänger
in der Geschichte dieser alten Sagen geformt wurde,

bot den höfisch geschulten Dichtern


einen gern genutzten Ausgangspunkt
für den Umgang mit diesem Stoff.
Sie fassten die einzelnen Rhapsodien

der professionellen Volkssänger


zu größeren Gedichten zusammen
und bearbeiteten sie meist in der volkstümlichen Versform,
in der Strophe, deren vier Zeilen jeweils sechs

bis sieben Hebungen haben


und die gewöhnlich als Nibelungenstrophe
bezeichnet wird. Auf diese Weise unterschied sich
das Volksepos auch formal, nicht nur inhaltlich,

deutlich vom Kunstepos. Freilich ist zu viel


vom Geist des letzteren in das erstere übergegangen.
Die Dichter, die unsere alten Heldensagen schrieben,
ihre Namen sind nicht bekannt,

waren trotz aller Bemühungen guten Willens


ihrer großen Aufgabe nicht ganz gewachsen
und legten in ihren Stoff allzu viel
vom Geschmack, von der Art und Weise

und vom poetischen Stil einer Zeit hinein,


in der ritterliches Flirten mit fremden Ländern
und höfischer Minnesang den Ton angaben.
Sie haben unsere nationale Heldensage romantisiert

und damit ihre volkstümliche Reinheit


und Originalität stark getrübt. Glücklicherweise
widerstanden diese mächtigen Stoffe
den verändernden Händen der höfischen Dichter

so erfolgreich, dass die ursprünglichen Umrisse


immer durch die spätere Übermalung hindurch
zu erkennen waren. Dies veranlasste
die philologischen und ästhetischen Kritiker

unserer Tage, das Verfahren, dem Wolf


und seine Nachfolger die homerischen Gesänge
unterzogen hatten, auch auf die mittelhochdeutsche
Volksepik, insbesondere auf die Nibelungen

und die Gudrun, anzuwenden, diese großen Dichtungen


in ihre angeblich ursprünglichen
und später wesentlichen und zufälligen,
echten und willkürlich hinzugefügten Teile zu zerlegen.

Diesem ganzen Verfahren, das notwendigerweise


in plumpe Willkür abgleiten musste,
lag die übertriebene Vorstellung von der Kraft
und Macht des "poetischen Volksgeistes",

einer epischen Volkslieddichtung zugrunde,


wie es sie nirgends gab, obwohl die Annahme
ihrer Existenz von einem Gedankenlosen
nach dem anderen nachgeplappert wurde.

Das "Volk" fabuliert und lügt manchmal, ja, natürlich;


aber es dichtet nicht, es reimt allenfalls "Schnadahüpfl".
Auf die Idee, dass so große Kunstwerke
wie die Ilias und die Odyssee, die Nibelungen

und die Gudrun von dem abstrakten "Volk"


gleichsam im Traum komponiert wurden,
konnten nur abstruse deutsche Abstrakteure kommen.
Von Anfang an haben nur wirkliche

und professionelle Dichter an diesen Werken gearbeitet,


und die letzten Gestalter dieser Werke
müssen trotz all ihrer Schwächen und Fehler
Dichter und Künstler von hohem Rang gewesen sein.

Diese Ansicht hat sich in letzter Zeit immer mehr


durchgesetzt, und man ist auf Grund tiefgreifender
und umfassender Forschungen bei den Nibelungen
sogar zu der sicheren Annahme gelangt,

dass die gewaltige Dichtung


in der uns überlieferten Form
von dem auch als Minnesänger bekannten
von Kürenberg geschaffen wurde.

Die inhaltlich und formal bedeutendsten Werke


der Volksepik sind zweifellos das "Nibelungenlied"
und die "Gudrun". Im Nibelungenlied
vereinen sich burgundisch-niederrheinische,

hunnische und ostgotische Sagen


zu einem Heldengemälde, das in seiner Erhabenheit
in der mittelalterlichen und neuzeitlichen
europäischen Literatur ohne Beispiel ist.

Die Verwandlung ins Mythische,


die die Siegfriedsage bei ihrer Verpflanzung
nach Skandinavien erfuhr, wird in unserem Epos
durch die Beschwörung der jugendlichen Kämpfe

Siegfrieds gegen Drachen, Riesen und Zwerge


sowie den Nibelungenhort und die Walküre Brunhild,
bezeichnend genug, wenn auch nur episodisch, deutlich.
Das Ganze gliedert sich in zwei große Abschnitte,

von denen der erste bis zur Ermordung Siegfrieds


durch Hagen reicht, der zweite von der Heirat Krimhilds
mit Etzel bis zur Vollendung ihrer grausamen Rache.
Aus diesem zweiten Teil schallt uns das Waffengeklirr

der Völkerwanderung mit der wildesten Energie entgegen,


während im ersten die weichere Hand
des höfischen Schreibers den Stoff
besser zu beherrschen vermochte.

Aber auch hier wächst alles ins Grandiose, Urwüchsige,


sogar der Witz. In der zweiten Hälfte
überwältigt die Gewalt des Stoffes den Redakteur so sehr,
dass der Strom der Erzählung, der anfangs

in angenehmer epischer Breite dahinfloss,


sich in dramatischer Eile sammelt
und so einer Katastrophe entgegeneilt,
die ganz die Wirkung einer Tragödie erzeugt.

Die "Gudrun", die auf der friesisch-dänisch-


normannischen Sage beruht, ist anders. Sie endet
nach schweren Stürmen und harten Kämpfen
mit dem Jubel einer dreifachen Hochzeit.

In diesem Heldenlied sind drei Teile,


die ursprünglich sicher nicht zusammengehörten,
lose miteinander verbunden. Der erste Teil
gehört eindeutig zur Wundersphäre der britischen Legenden,

während die beiden folgenden Teile


auf alten germanischen Traditionen beruhen.
Der dritte Teil ist ein wahrer Triumphgesang
der deutschen Frauentreue, deren Heiligenschein

sich um die jungfräulichen Schläfen


der Heldin Gudrun legt. Die Tatsache,
dass das Gedicht vor der Kulisse des Meeres
mit seinen schönen und schrecklichen Erscheinungen spielt,

verleiht ihm eine zusätzliche Besonderheit.


Der Niedergang der höfischen Heldendichtung
im 14. Jahrhundert erstreckt sich auch auf die Volksdichtung.
Im 15. Jahrhundert flammte jedoch die Teilnahme

an patriotischen Heldensagen wieder auf


und gab Anlass zu verschiedenen epischen
Zusammenstellungen und Überarbeitungen.
So entstand das "Heldenbuch" - im Gegensatz

zum großen (Nibelungenlied und Gudrun)


das "kleine" genannt -, das Kaspar von der Röen
um 1472 zusammenstellte. Es enthält zwölf Heldenlieder,
unter denen das dem burgundisch-ostgotischen

Sagenkreis entnommene "Große Rosengarten"


als das kompetenteste hervorsticht. Seine Hauptfigur
ist der Mönch Ilsan, der mit seiner Kampfeslust
und seinen gigantischen Späßen eine wahre Wanderfigur ist.

Doch so wie sich das höfische Epos ab dem 15. Jahrhundert


in der Prosa des Ritterromans auflöste,
so löste sich das volkstümliche Heldenlied
in der Prosa des Volksromans auf.

An die Stelle des Singens, Erzählens und Zuhörens


trat mehr und mehr das Lesen,
und dem gesteigerten Bedürfnis danach
entsprachen dann die deutschen "Volksbücher",

die unter Verwendung der alten höfischen


und nationalen Sagen und unter Rückgriff
auf neuere Sagen unserem Volk seit Jahrhunderten
die Geschichten vom gehörnten Siegfried,

Herzog Ernst, Tristan, Lancelot, Magelone, Melusine,


Fortunat, Genoveva, Griseldis, Doktor Faust
erzählen und noch nicht ganz
von ihrer Liebe verdrängt worden sind.

Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz dieselbe


Abstufung wie die Geschichte der mittelalterlichen Epik
zeigt die der mittelalterlichen Lyrik.
Sie entstand zur gleichen Zeit wie die höfische Epik,

nahm den Namen "Minnegesang" von ihrem Grundton,


der Minne, an und war zur Zeit ihrer höchsten Blüte
noch ausschließlicher im Besitz des Adels als diese.
Unter seinen Gönnern finden wir eine ganze Reihe

namhafter Fürsten, ja sogar einen Kaiser, Heinrich VI,


wenn der schöne Minnesang, der mit den Worten beginnt:
"Ich grüße mit Gesang die Lieblichkeit" beginnt,
mit Sicherheit diesem Staufer zugeschrieben werden darf.

Das Vorbild für den Minnesang war


die provenzalische Gesangskunst, deren feinere Formen,
Strophen und Reime wurden in Deutschland
erstmals von Heinrich von Veldeke, vielleicht vor 1190,

in die Praxis umgesetzt. Ihm folgten eine Reihe


von ritterlichen Lyrikern, die den Minnegesang
zu einem wesentlichen Bestandteil
des höfischen Gesellschaftslebens machten.

Ihre Hauptaufgaben waren und blieben


die Verherrlichung der Geliebten,
die Pflichten des Minnedienstes,
die Einübung höfischer Disziplin und Umgangsformen

sowie die Pflege des religiösen Gefühls


und der Freude an der Natur. Solche Lieder
wurden von Friedrich von Husen, Heinrich von Rucke,
Heinrich von Morungen, Reinmar dem Alten,

Otto von Bodenlaube, Ulrich von Singenberg,


Christian vom Hamle, Gottfried von Nifen,
Burckhart von Hohenfels, Ulrich von Winterstetten
und vielen anderen gesungen. Das Männliche

hatten die Minnesänger nicht


von ihren provenzalischen Vorbildern mitgenommen,
das stolze Freiheitsgefühl, das kühne Aufbegehren
der Troubadours wird man bei ihnen vergeblich suchen;

dagegen stößt man nur allzu oft auf eine widerliche


Fürstenknechtschaft und Almosensucht.
Aber der Minnegesang hat einen Meister hervorgebracht,
dessen Gesichtskreis umfassender war

und der unter seinen Zeitgenossen wahrhaftig


Achtung genoss, Walter von der Vogelweide,
dem schon Gottfried von Straßburg
das schönste Lob zollte. Walter,

über dessen Heimat sich die Gelehrten bis heute streiten


und wohl auch nie einigen werden -
die einen suchen seinen Geburtsort in Tirol,
die anderen in der Steiermark, die dritten

in Deutschösterreich überhaupt -, gehörte


zur glanzvollsten Periode der Schwabenzeit,
erlebte aber auch deren beginnenden Niedergang,
denn er starb wohl bald nach 1230.

Wir wissen auch, dass er Beziehungen


zum thüringischen Landgrafen Hermann,
zu den österreichischen Herzögen Friedrich und Leopold
sowie zu den Staufern Philipp und Friedrich II. Unterhielt;

genauere Kenntnisse über seine Lebensumstände


haben wir jedoch nicht. Die Sammlung
von Walters Liedern ist sehr reichhaltig.
Er schrieb nicht nur über die Liebe

und den Dienst an der Frau,


sondern auch über viele Aspekte der Gesellschaft
seiner Zeit. Er huldigt auch der Liebe
und singt den Frauen die schönsten Lieder.

"Wie süß und wundersam sind die reinen Frauen!"


ruft er aus. "So etwas Seliges hat man weder
in der Luft noch auf der Erde je gesehen.
Wie durch das frische Gras im Maitau die Lilien

und die Rosen schauen, so ist es nichts


gegen die schönen Frauen. Ihr Anblick
kann das trübe Gemüt erfrischen. Alle Trauer
erlischt in derselben Stunde,

wenn ihr süßer roter Mund in Liebe lacht."


Aber neben solchen minnesamen Klängen
lässt er uns auch die Reden eines männlichen Denkers
und eines hellsichtigen Patrioten hören.

Er beklagt die Zerrüttung Deutschlands


nach dem Tode Heinrichs VI., er verflucht
das schändliche Treiben des Klerus
während des Kreuzzuges Friedrichs II.,

er nennt den Papst einen zweiten Judas,


er prangert die Falschheit, Heuchelei
und Obszönität des Klerus im kernigen Stil
eines päpstlichen Kardinals an, er beklagt

den Verfall der deutschen Zucht, der Sitten


und der Ehre, er ermahnt die Jugend
zu strenger Zügelung und sagt manch offenes Wort
zu den Fürsten. Das schönste Denkmal

für sein Vaterland und für sich selbst


hat er in dem Gedicht errichtet, in dem er Deutschland
lobt: "Ich habe viele Länder gesehen
und überall das Beste gesucht, aber die deutsche

Zucht geht allen voran. Die deutschen Männer


sind wohlerzogen, die Frauen sind ganz wie Engel.
Tugend und reine Liebe, wer sie sucht und liebt,
der komme in unser Land, denn beides gibt es noch."

Der spätere Minnegesang war einerseits


voller Staunen und Extravaganz,
andererseits schlug er den burlesk-parodistischen
Ton der Schweizer Steinmar und Hadlaub,

aber noch entschiedener der bayerisch-österreichischen


Dichter Tanhuser und Nithart an. Letztere
stellten so treffend den Gegenstand bäuerlicher,
heiterer Lebensfreude gegen das erhabene

Gezänk und Geschnörkel eines verfallenden Rittertums.


Im schönen, fruchtbaren Österreich hatten
vor dem Niedergang des goldenen Zeitalters
des Mittelalters Wohlstand und sogar Überfluss

die bäuerliche Bevölkerung in die Lage versetzt,


das Leben auf ihre Weise zu genießen.
Nithart machte sich zum Dichter
dieses bäuerlichen Lebens der Schlemmerei.

Die Geschichten, die er über den Bauern


Engelmar und seine Gesellen erzählt,
bilden oft das Thema seiner Lieder.
Eine dritte Richtung der mittelhochdeutschen Dichtung
war die didaktische, die schon stark

an Walters Lieder erinnerte, aber gegen Ende


des 13. Jahrhunderts, unter den Händen
von Konrad von Wirzburg, Reinmar von Zweter,
Doktor Heinrich zur Meißen, genannt Frauenlob,

und anderen, zu einer regelrechten Gnomendichtung


entwickelt, die sich besonders gern
in überkünstlerischen Rätseln ergeht.
Das Streitgedicht, das dem mythischen Klingsor

und Heinrich von Ofterdingen, Wolfram


und Walter in den Mund gelegt wird
und mit der bereits erwähnten Sage vom Sängerwettstreit
auf der Wartburg verbunden ist,

gehört in den Kreis dieser Spruchdichtung.


Es war damals so in Mode, in Sprichwortgedichten
mit höfisch-gelehrter Spitzfindigkeit
über Inhalt oder Inhaltslosigkeit zu streiten,

dass selbst ein Proletarier, der ehrliche Schmied


Barthel Regenbogen, ihrer Forderung nachkam
und sich mit seinen Zeitgenossen in Zwergen
fröhlich und keineswegs verständnislos stritt.

Manchmal findet sich in dieser sprichwörtlichen


Poesie ein blitzendes Goldkorn
inmitten von viel Wüste. Zum Beispiel
sagt Reinmar von Zweter über die Ehe:

"Ein Herz, ein Leib, ein Mund, ein Mut


und eine Treue und eine Liebe,
wo die Angst flieht und die Scham entweicht
und zwei eins geworden sind, wo Liebe mit Liebe

vereint ist: Ich glaube nicht, dass Silber, Gold


und Edelsteine die Freuden aufwiegen,
die der Glanz der hellen Augen bietet.
Wo zwei Herzen, die durch die Liebe verbunden sind,

sich unter einer Decke befinden,


und wo das eine sich mit dem anderen verbindet,
da kann wohl das Dach des Glücks sein.“
Von einzelnen Sprüchen steigerte sich

diese dichterische Tätigkeit dann zur Produktion


größerer, didaktischer Werke,
die uns das mittelalterliche Leben belehrend,
warnend und strafend von allen Seiten zeigen.

Solche Lehrgedichte aus dem dreizehnten Jahrhundert,


die sich gegen die um sich greifende höfische Lüge
und Unmoral wehrten, sind der "Welsche Gast"
von Thomasin Zerklar, die "Bescheidenheit" von Freidank.

Dann der "Renner" von Hugo von Trimberg


und schließlich die Sprüchesammlung,
die unter dem Namen Winsbecke und Winsbeckin
überliefert ist, und die schon deshalb höchst respektabel ist,

weil hier die ritterliche Frauenverehrung


noch einmal in idealer Schönheit aufleuchtet.
"Sohn, wenn du deinen Körper schmücken willst",
sagte Winsbecke einmal, "damit er für Unheil dankbar ist,

dann liebe und ehre gute Frauen!


Alle Sorgen meiden sie tugendhaft.
Sie sind der glückselige Stamm,
aus dem wir alle geboren sind.

Wer solche Dinge nicht an ihnen preist,


der hat weder Zucht noch rechte Scham,
der ist unter die Narren zu rechnen,
und wenn er Salomos Geist hätte."

Ist das nicht eine schöne Vorwegnahme


von Goethes Worten: "Wenn du genau wissen willst,
was sich gehört, so frage nur edle Frauen"?
Die Didaktik hat sich zu allen Zeiten

die Fabel zu ihrem willigsten Verbündeten gemacht,


die in der deutschen Literatur zuerst als Untergattung
des sogenannten "Bispels" (Beispiel) auftauchte.
Unter Beispielen verstand man ein Sammelsurium

von Erzählungen, Novellen und Tiergeschichten,


und die um 1230 entstandene "Welt" von Stricker
bietet ein solches Sammelsurium.
Erstmals in eigenständiger Form behandelt

wurde die Fabel vom Berner Predigermönch


Ulrich Boner, der in seinem Fabelbuch "Edelstein"
die gesündesten Weisheiten in ansprechender
Umgebung predigt. Am Ende des 14.

und im 15. Jahrhundert verkommt der Minnegesang


trotz der Bemühungen einzelner Dichter
wie Hugo von Montfort und Oswald von Wolkenstein,
den früheren Ton beizubehalten, mehr und mehr

zu plumper Balladendichtung und Bettelgesang


oder, in den Händen von Muskatblüt und Rosenblüt,
zu einem bürgerlichen Meistergesang.
Wir könnten diesen literarischen Gesang

an dieser Stelle abschließen.


Es scheint jedoch angebracht, unseren vielleicht
etwas schwerfälligen literarhistorischen Erörterungen
eine leichte arabeske Zeichnung hinzuzufügen,

die sie vor allem für weibliche Leser


akzeptabler machen soll. Sprechen wir also kurz
über die Schönheit der Frau,
wie sie von den Dichtern

der ritterlich-romantischen Gesellschaft


definiert wurde. Eine Frau, die damals
als schön gelten wollte, musste von mäßiger Größe,
schlank und geschmeidig sein. Die Formen

mussten gleichmäßig und abgerundet sein,


und insbesondere die Hüften mussten zart und voll sein,
die Beine gerade, die Füße klein und gewölbt,
die Arme und Hände weiß und fest,

die Finger lang und glatt, der Hals schlank


und der Busen fest und geschwungen,
aber nicht zu voll. Aus dem rötlich weißen Gesicht
sollen die Wangen rot wie taufrische Rosen erblühen.

Der Mund sollte klein sein, fest geschlossen,


süß atmend, und aus den geschwollenen roten Lippen
sollte das Weiß der Zähne wie "scharlachrotes
Hermelin" hervorleuchten. Ein rundes Kinn

mit Grübchen, weiß wie eine Schlehenblüte,


sollte den Charme des Mundes verstärken.
Die gerade Nase, weder zu lang, noch zu spitz,
noch zu stumpf, sollte aus dem breiten Raum

zwischen den Augen heraustreten.


Beliebt waren schmale, lange, leicht gewölbte Augenbrauen,
deren Farbe etwas mit der des Haares kontrastierte.
Das Auge selbst sollte klar, lauter, herzenswarm sein.

Seine bevorzugte Farbe war blau;


aber noch höher war jene unbestimmte,
wechselnde Farbe, die die Augen
einiger Vogelarten aufweisen.

Schließlich war blondes, goldschmelzendes Haar,


das sich um die schneeweißen, fein geäderten
Schläfen kräuselte, eine Anforderung, die
von den Kennern der weiblichen Schönheit betont wurde.

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