Sie sind auf Seite 1von 3

Entstehungsgeschichte der Geographie

1. Carl Ritter (19.Jhd.):


- 1820/25: weltweit erster Lehrstuhl für Geographie gegründet (Uni zu Berlin)
- Carl Ritter als Begründer der Geographie als wissenschaftliche universitäre Disziplin
- erster Geographie-Professor (vorher Hauslehrer)
- vorher: Geographie als wissenschaftlicher Zulieferer für andere Wissenschaften
(Biologie, Soziologie,...)

2. Bis 1870 (Zwischenzeit):


- Geographische Gesellschaften treiben treiben Popularisierung der Geographie an
- Mitglieder: breites Bildungsinteresse (u.a. Verleger, Geschäftsleute, Kartographen,...)
- 1821: erste geographische Gesellschaft in Paris
- 2004: jüngste geographische Gesellschaft in Passau (GeoComPass)
- geographische Fachzeitschriften bis heute existent (z.B. die Erde)
- 1860er: Interesse an Explorationsgeographie
- 1870er: Heimatbewegung
- ab 1871: Universitäre Etablierung von Geographie (Größenwachstum in 30 Jahren -> 23 Lehrstühle)

3. Entdeckungsreisen:
- zunächst protowissenschaftlicher Ansatz (reisen, gucken und beschreiben)
- wissenschaftlich bedeutsam: Reisende Geographen als Materiallieferanten
für entstehende naturwissenschaftliche Disziplinen
- Auseinandersetzung mit Welt-Umwelt-Beziehungen (Wechselwirkung
tierischer Umwelt und menschlicher Anpassung)
- Reiseberichte von Alexander von Humboldt (Vordenker und „erster
Geograph“) -> Geographie als „humboldtian Science“
- Bücher wie die „Vermessung der Welt“, „Die Erfindung der Natur“
- Entdeckungsreisen auch heute noch Studiums relevant (Exkursionen)
- Gesellschaftliche und politische Funktion:
> Kuriositäteninteresse am Einmaligen und Andersartigen („Othering“)
> Geographische und kartographische Informationen wichtig für merkantilische und militärische Interessen (Bedürfnis
nach Wissensbeschaffung für Militär, Ressourcen, Welthandel etc.)
> Informationsbedürfnis über Ressourcenausstattung für die Kolonialinteressen der europäischen Mächte
> Eurozentrisches Bild
- Aufgabe der sehr frühen universitären Geographie: Kenntnisse über die außereuropäischen Erdräume sammeln und
vermitteln (Entdeckungsreisen als wichtiges Mittel dafür)

4. Kolonialisierung:
- v.a. durch Briten vorangetrieben (British Empire)
- 1914: über die Hälfte der Weltbevölkerung unter kolonialem
Einfluss
- Geographie eng mit Kolonialismus verknüpft: Kenntnisse
über Länder elementar für militärische Operationen
(Topographie und Verortung) und Rohstoffausbeutung
(Ressourcenkunde, Frage nach dem landwirtschaftlichen
Potential) -> Geographisches Wissen = Herrschaftswissen
- Geographie als Stützung des kolonialen Systems
- Kolonialismus in Deutschland:
> Geographie zur Kolonialwissenschaft
> viele deutsche Hochschulgeographen Mitbürger der deutschen Kolonialgesellschaft (z.B. Friedrich Ratzel)
> Ziel: Expansive Kolonialpolitik (durch Propagierung)
> Geographisches Wissen trug dazu bei, andere Länder zu entdecken und zu unterwerfen (Kartierungen, koloniale
Stadt- und Raumplanung, willkürliche Grenzziehungen, Um- und Neubenennung geographischer Gegebenheiten)
> Akten geographischer Gewalt: Verortung und gezielte Maßnahmen zur Kontrolle einer Region
> Geographie liefert ideologische und scheinbar wissenschaftliche Legitimierung für die Ausbeutung der
Schutzgebiete
5. Industrialisierung:
- radikale soziale Veränderungen, im Übergang von traditionellen Agrargesellschaften zu modernen urbanen
Industriegesellschaften
- Benno Werlen (Sozialgeograph): Drei Hauptdimensionen der Modernisierung
> Kapitalismus: Arbeiter besitzen keinen Anteil am Produktivkapital (bekommen nur Lohn); Leitidee: Liberalismus;
Entstehung Kapitalmärkte und Kreditwesen; Ausbeutung durch Kapitalisten; Transformation der
Produktions- und Tauschverhältnisse
> Industrialisierung: effektive Fertigungstechniken, Massenproduktion, Freisetzung von Arbeitskraft aus
produzierendem Gewerbe sowie der Landwirtschaft > Arbeiterüberschuss > niedrige Löhne
> Bürokratisierung: Entstehung mächtiger Verwaltungsapparate zur Koordination und Kontrolle menschlicher
Handlungen über große räumliche und zeitliche Distanzen hinweg; Verwaltung, Recht und
Hochsprache bestimmen Volk und Nation
—> neue extreme Ungleichheiten!
- Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft
- dramatische Veränderung der Lebensverhältnisse sowie des
Verhältnisses von Gesellschaft und Raum
Gründe:
> soziale und räumliche Konzentrationsprozesse: Konzentration
auf wenige, mächtige Menschen sowie von Land in Stadt
> Arbeitsteilung und Zunahme sozialer Differenzierung: massive
Vervielfältigung sozialer Positionen, Aufbrechen traditioneller
Gesellschaftsstrukturen
> Intensivierung der Flächennutzung: Geringerer Wert eines
bewirtschafteten Landes > Industrie mit Arbeitern dort mehr Wert
> Verdrängung von Handwerksarbeit > Konzentrationsprozesse
und Ausdifferenzierung sozialer Positionen > Bruch traditioneller
Gesellschaft
> Differenzierter Bodenmarkt: Boden als Tauschware; Größe und
Fruchtbarkeit weniger entscheidend als Lage; Konzentration von
Menschen gleicher sozialer Herkunft in ähnlichen Gegenden
> Segregation!
> Territoriale Kontrolle und Überwachung der Gesellschaft
—> rasante Zunahme sozialer und räumlicher Disparitäten („Ungleichheiten“) > Ungleichheit und ihre brutalen Folgen
wurden ebenso sichtbar wie der moderne Fortschritt sowie der Reichtum einiger weniger
—> soziale Frage drängt sich auf!

6. Wissenschaftsentwicklung:
- spätes 19.Jhd.: Zeitalter des Größenwachstums und disziplinären Ausdifferenzierung an Universitäten
- auch: Geburt der Sozialwissenschaften
- wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Moderne und ihren Folgen („Soziale Frage“)
- Ziel: Bedeutung von Gesellschaft und Wirtschaft offenlegen (gesellschaftliche Umwälzung durch sozialwissenschaftl.
Methoden)
- Idee der Sozialgeographie in Frankreich entstanden
- durch Max Weber, Karl Marx, Emile Durkheim etc.
- sozialphilosophische und sozialwissenschaftliche Diskussion in jene
Debatte eingebunden, die durch die Evolutionstheorie von Charles
Darwin ausgelöst worden war:
> Überleben der Arten mit der besten Anpassung an die Umwelt
> Zentrale sozialwissenschaftliche Frage: „Inwiefern sind Menschheitsgeschichte und verschiedene Kulturen durch
ihre Umwelt bzw. Natur bestimmt?“
> Soziologie: zielt auf Widerlegung des Naturdeterminismus (Indeterminiertheit der Menschheitsgeschichte von
Natur; Suche nach Belegen für determinierende Bedeutung von Wirtschaft und Gesellschaft
> Geographie in DE: Empirisches Material und wichtige Argumente für naturdeterministische These (anti-
soziologische Argumentation)
7. Reichsgründung und Schulerdkunde:
- Reichsgründung (1871) war entscheidend für die Etablierung der Geographie
an deutschen Universitäten
-1871-1906: Explosionsartige Wachstumsphase der Universitätsgeographie:
Einrichtung 23 geographischer Lehrstühle und Extraordinarien an deutschen
Hochschulen
- Hintergrund: Etablierung des Schulfaches „Erdkunde“ im deutschen Schulwesen
- Politisches Ziel der damaligen Schulerdkunde: „Erfindung Deutschlands“;
„Erfindung der deutschen Heimat“; Produktion einer nationalen Identität;
Herstellung eines „soliden Weltbildes aus vaterländisch-nationaler Perspektive“
(> „vaterländische Erziehung der deutschen Jugend“)
- Aufgabe der Universitätsgeographie: Ausbildung der Erdkundelehrer (mit deutsch-nationalem Auftrag)
- Schulerdkunde trägt zur nationalen Selbstfindung bei > staatspolitisch motiviert, nicht aus Kommunikation/
Wissenschaft heraus entstanden (politisch-ideologisches Programm) > „staatspolitischer Oktroi“
- Verdrängung der Erkenntnis
- Inhalt: Positionierung DE ´s in der Welt
- Protest: Professoren fordern eigenen Erkenntnisgegenstand, um sich vom Status „Informationslieferant“ abzusetzen
(Alfred Hettner) > noch heute Grundproblem der Geographie als Wissenschaft

Das könnte Ihnen auch gefallen