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Weiterentwicklung der orientierungsabbildenden

Rasterelekronenmikroskopie zur Klärung offener Fragen im


Bereich der Martensitbildung und des Herstellens
einkristalliner Nickelbasis-Superlegierungen

Dissertation
zur
Erlangung des Grades
Doktor-Ingenieur

der
Fakultät für Maschinenbau
der Ruhr-Universität Bochum

von

Pascal Thome, M.Sc.

Bochum 2019
Dissertation eingereicht am: 12.11.2019

Tag der mündlichen Prüfung: 18.12.2019

Erstgutachter: Prof. Dr.-Ing. Gunther Eggeler

Zweitgutachter: Prof. Dr.-Ing. Jan Frenzel


Vorwort
Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Forschungsarbeit zwischen 2013
und 2019 am Lehrstuhl für Werkstoffwissenschaft des Instituts für Werkstoffe an
der Ruhr-Universität-Bochum. Ich möchte allen Mitarbeitern des Instituts für die
freundliche Arbeitsatmosphäre und die stets hilfsbereite Mentalität herzlich danken.
Dadurch hat mir die Forschung nicht nur aufgrund der fachlichen Herausforderun-
gen, sondern auch aufgrund der zwischenmenschlichen Aspekte und dem hohen An-
teil an Teamarbeit durchweg sehr viel Freude bereitet. Herrn Prof. Gunther Eggeler
möchte ich ganz besonderen Dank zukommen lassen, da er als geschäftsführender
Leiter des Lehrstuhls die Infrastruktur für Experimente und Forschung bereit gestellt
hat und mich beim Veröffentlichen der Forschungsdaten unterstützt hat. Frau Dr.
Victoria A. Yardley gilt ebenfalls mein Dank dafür, dass sie mir dieses interessante
Forschungsthema zur Verfügung gestellt hat.
Herrn Dr. habil. Jan Frenzel, Herrn Dr. Chrisoph Somsen und Herrn Dr. Klaus
Neuking danke ich für zahlreiche interessante Gespräche bezüglich wissenschaftlicher
Ideen und Ansätze. Für die technische Unterstützung im Laborbetrieb möchte ich
auch einen Dank an Herrn Norbert Lindner, Frau Kornelia Strieso und Frau Susanne
Jordans richten. Mit ihrer Fachkompetenz sorgten sie dafür, dass die Arbeiten im
Labor und an den Mikroskopen für mich und meine Studenten stets sicher, effizient
und erfolgreich verliefen.
Bei meinen HiWis Mahmut Ersanli, Mike Schneider und Setareh Medgalchi be-
danke ich mich für die zuverlässige Arbeit, mit der sie mich bei meiner Forschung
tatkräftig unterstützten.
Abschließend will ich auch meiner gesamten Familie und meinem Freundeskreis
für die Unterstützung im persönlichen Lebensumfeld danken.

i
Executive Summary
The present work uses advanced orientation imaging scanning electron microscopy
to advance two material science fields. It contributes to a better understanding of
crystal mosaicity in single crystal Ni-base superalloys, a technically relevant class of
high temperature materials for gas turbine blades. Moreover, it studies relationships
between the crystal lattices of austenite and martensite in model systems which
undergo a diffusionless martensitic transformation.
In the part of the work, which adresses single crystal Ni-base superalloys, there
was a need to develop a new procedure, which can be used to quantify misorientati-
ons between dendrits which form during directional solidification (ingot processing
route) and during selective electron beam melt (additive manufacturing). For this
purpose a method was developed, which takes conventional orientation imaging mi-
croscopy further. It combines a new cross correlation data treatment method with
a novel type of color coding. This RVB-EBSD-method is documented in the present
works and results, which were obtained with this method, are presented.
In the second part of the work, which considers martnsitic transformations, em-
phasis was placed on model systems, where the martensitic microstructure consists
of plates or laths. The morphology of martensitic microstructures is considered. Most
importantly, the relations between the martensite crystallography and the orienta-
tion of the prior austenite orientation achieved attention. This methodologic part
of the work explores the fact that martensite can form multiple variants which all
result from the transformation of one austenite lattice. The associated relationships
were experimentally obtained from EBSD results. The data provided in this work
allwos to take a new look at the theoretical predictions of the phenomenological
theory of martensite transformations (PTMT).
The results obtained in the present work demonstrate, that it is well worse the
effort to continue working on methodology in the field of orientation imaging scan-
ning electron microscopy, because it allows to obtain new insights into elementary
processes in material science fields.

iii
Inhaltsverzeichnis

Vorwort i

Executive Summary iii

1 Einleitung 1

2 Grundlagen 5
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie………………………..5
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen……………………………………………........17
2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität……………………………………………...27
2.4 Grundlagen des Martensits……………………………………………….........34
2.5 Kristallographie des Martensits…………………………………………..........41

3 Aufgabenstellung 57

4 Experimentelle Methoden 59
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode………………………………………..59
4.2 EBSD-Analysen martensitischer Mikrostrukturen…………………………....84
4.3 Farbkodierung…………………………………………………….……….......90
4.4 Material und Proben……………………………………………………….....100

5 Ergebnisse 115
5.1 Zur Leistungsfähigkeit der RVB-EBSD-Methode…………………………..115
5.2 Analyse ausgewählter RVB-EBSD-Ergebnisse……………………………..123
5.3 Thermisches Umwandlungsverhalten martensitischer Gefüge binärer
Fe-Ni-Legierungen…………………………………………………………..135
5.4 Mikrostrukturelle Untersuchungen martensitischer Gefüge in binären
Fe-Ni-Legierungen…………………………………………………………...140
5.5 Kristallographische Untersuchung binärer Fe-Ni-Legierungen……………..145

iv
6 Diskussion 151
6.1 Allgemeine methodische Gesichtspunkte……………………………………151
6.2 Zur RVB-EBSD-Methode…………………………………………………...153
6.3 Kristallmosaizität in Nickelbasis-Superlegierungen………………………...159
6.4 Martensitisches Umwandlungsverhalten binärer Fe-Ni-Legierungen………162

7. Zusammenfassung 165

Abbildungsverzeichnis 169

Tabellenverzeichnis 179

Literaturverzeichnis 181

Veröffentlichungen 197

Lebenslauf 198

v
1 Einleitung
Weiterentwicklung des EBSD-Verfahrens: Die orientierungsabbildende Ras-
terelektronenmikroskopie, die oft verkürzt als das EBSD-Verfahren bezeichnet wird
(engl.: Electron Back Scatter Diffraction, EBSD), hat die werkstoffwissenschaftli-
che Forschung in den letzten 20 Jahren entscheidend mitgeprägt. Sie erlaubt ei-
ne quantitative Gefügecharakterisierung, die sowohl den Gefügekenngrößen (Korn-
größe, Kornform,..) als auch dem Aufbau von Werkstoffen (Phasenanalyse) und
insbesondere der lokalen Orientierung definierter Mikrostrukturbereiche Rechnung
trägt. Das Standardverfahren wurde ausgiebig in Lehrbüchern [1–3] beschrieben.
EBSD-Systeme mit Hard- und Softwarekomponenten sind heute kommerziell er-
hältlich. Für die Untersuchungen im Rasterelektronenmikroskop wird eine auf 70◦
gekippte Probe verwendet, die mit einem intensiven Elektronenstrahl beaufschlagt
wird. Die Elektronen werden an den Atomkernen des Festkörpers inelastisch ge-
streut. Auf einem hochempfindlichen EBSD-Detektor entstehen Linienmuster, die
durch die Kristallgeometrie bestimmt werden. Diese Beugungsbilder werden auch
als Kikuchi-Pattern bezeichnet [4]. Diese können digitalisiert und per Computer
indiziert werden. Für bestimmte Kornorientierungen erhält man bestimmte Mus-
ter, aus den Mustern in einem Vielkristall kann auf die Kornorientierungen des
Vielkristalls rückgeschlossen werden. Die Entwicklung der EBSD-Methode zu einer
Standardmethode der Werkstoffforschung ist durch eine Erhöhung der Geschwindig-
keit, mit der einzelne Kikuchi-Beugungsbilder aufgnommen und ausgewertet werden
können, vorangetrieben worden. Heute gehören kommerzielle EBSD-Systeme zur
Standardausrüstung von Werkstofflaboren. Man erreicht mit solchen Standardsys-
temen Winkelauflösungen in der Größenordnung von 1◦ . In der vorliegenden Arbeit
soll die EBSD-Methode eingesetzt werden, um materialwissenschaftliche Fragestel-
lungen zu lösen, die sich im Zusammenhang mit der diffusionslosen martensitischen
Umwandlung und der Entstehung von Dendriten beim Erstarren von einkristalli-
nen Nickelbasis-Superlegierungen stellen. Dabei soll das Verfahren weiterentwickelt
werden und zur Lösung offener materialwissenschaftlicher Fragen beitragen. Die vor-

1
liegende Arbeit soll vor allem zeigen, dass es sich lohnt, die Standard-EBSD-Technik
im Bereich der Erfassung und Analyse der Beugungsdaten in verschiedenen Rich-
tungen weiterzuentwicklen. In Kombination mit anderen experimentellen Methoden
(Schmelzmetallurgie, mikrostrukturelle Analyse, Erfassung thermischer und mecha-
nischer Eigenschaften) gestatten solche Weiterentwicklungen, zu einem verbesserten
materialwissenschaftlichen Verständnis in sehr unterschiedlichen Forschungsgebieten
beizutragen, wie zum Beispiel für die Erforschung der Elementarprozesse des Erstar-
rens einkristalliner Superlegierungen und für das Rückschließen auf Ausgangsphasen
von martensitischen Gefügen.

Mosaizität einkristalliner Ni-Basis Superlegierungen: Einkristalline Su-


perlegierungen sind Hochtemperatur-Strukturwerkstoffe, aus denen Turbinenschau-
feln für Gasturbinen hergestellt werden, die in Gaskraftwerken und Flugtriebwerken
eingesetzt werden. Sie werden im Bridgman-Verfahren [5] und heute auch durch
additive Fertigungsverfahren [6] hergestellt, wobei Dendriten gerichtet erstarren.
Die Dendriten eines Gussteils sind so wenig gegeneinander verkippt, dass es kaum
möglich ist, die Orientierungsunterschiede mit Hilfe des klassischen EBSD-Verfahrens
zu bestimmen. XRD-Verfahren (engl.: X-Ray Diffraction, XRD) liefern zwar die
Winkelinformationen, können aber die Mikrostruktur nicht abbilden. Eine Kenntnis
der Verkippung ist notwendig, um die Versetzungsplastizität, die Porenbildung und
das Ermüdungsrisswachstum genauer zu verstehen. Außerdem benötigt man ein
hochauflösendes Verfahren, um elementare Erstarrungsprozesse und insbesondere
das Einwachsen von Defekten beim Erstarren zu verstehen. Vor diesem Hintergrund
wurde in der vorliegenden Arbeit ein korrelatives EBSD-Verfahren entwickelt, mit
dem Winkelunterschiede <0.1◦ aufgelöst werden können. Außerdem wird eine neue
Methode der Farbkodierung vorgeschlagen, die gestattet, die räumliche Orientierung
aller Dendriten vollständig zu beschreiben. Zusätzlich können lokale Orientierungs-
unterschiede auch als geometrische notwendige Versetzungen interpretiert werden.
Die vorliegende Arbeit stellt ein neues Verfahren vor, das in diesen Gebieten neue
Informationen liefern kann.

Martensitische Umwandlung: Bei der martensitischen Umwandlung entsteht


durch atomare Umklappvorgänge aus einer Hochtemperaturphase (Austenit) eine

2
Tieftemperaturphase (Martensit). Ein Wesensmerkmal des Martensits ist, dass er in
verschiedenen Varianten entsteht, die sich in ihrer gitterverzerrenden Wirkung ge-
genseitig kompensieren. Man spricht von einem selbstakkomodierten Martensit [7].
Beim Charakterisieren steht man vor dem Problem, dass eine zunächst einfache mi-
krostrukturelle Ausgangssituation (ein großes Austenitkorn) in ein komplexes Szena-
rio aus vielen kleinen Martensitkristalliten unterschiedlicher Orientierung übergeht.
Dabei sind alle Kristallite zunächst aus dem Ausgangsaustenitgitter entstanden. Dies
eröffnet nun die Möglichkeit, aus dem vielkristallinen feinskaligen Martensitgefüge
auf die Kristallographie der austenitischen Ausgangsmikrostruktur rückzuschließen.
Dieses Feld wird seit etwa 10 Jahren von EBSD-Forschern bearbeitet [8], mit dem
Ziel diesen Rückschluss automatisiert durchführen zu können. In der vorliegenden
Arbeit wird ein neues Konzept implementiert, das erstmals auf reale Fragestellungen
zur martensitischen Gefügen in Modellsystemen mit Latten- und Plattenmartensit
angewendet werden konnte. Dabei wurde sowohl an der Weiterentwicklung des Ver-
fahrens gearbeitet als auch zum Erkenntnisgewinn im Bereich der martensitischen
Umwandlung beigetragen.

3
2 Grundlagen

2.1 Orientierungsabbildende
Rasterelektronenmikroskopie
Die Grundlagen der Rasterelektronenmikroskopie (REM) wurden zum Ende des
19. bzw. zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelegt, als der elektromagnetische Cha-
rakter von Elektronen und deren Bewegungen innerhalb von elektrischen und ma-
gnetischen Feldern unter anderem von Wissenschaftlern wie Thomson und Busch
untersucht wurden [9–11]. 1929 erhielt Louis de Broglie den Nobelpreis für Physik
aufgrund seiner theoretischen Grundlagenforschungen zur Beschreibung des Welle-
Teilchen Dualismus der Elektronen und dem Zusammenhang zwischen derer Energie
und Wellenlänge [12]. Auf diese Erkenntnisse aufbauend schuf Walter Glaser zwi-
schen 1930 und 1940 die praktischen Grundlagen für die Elektronenmikroskopie,
indem er die Wechselwirkung von Elektronenstrahlen mit Materie untersuchte und
dabei ebenfalls die Funktionsweise elektromagnetischer Linsen, sowie auch den Ein-
fluss von Linsenfehlern, erforschte [13, 14]. Nachdem Ruska und Knoll in den 1930er
Jahren zunächst die ersten funktionstüchtigen Transmissionselektronenmikroskope
(TEM) in Betrieb genommen hatten, wurde im Jahre 1938 das erste Konzept eines
Rasterelektronenmikroskops von Ardenne entwickelt [15–17].

Funktionsprinzip des Rasterelektronenmikroskops: Ein REM erzeugt hoch-


auflösende Aufnahmen der Mikrostruktur, indem es mit einem fokussierten Elektro-
nenstrahl die Oberfläche einer Probe im Muster eines Rasters abtastet. Die auf-
treffenden Elektronen erzeugen dabei durch Wechselwirkung verschiedene messbare
Strahlungssignale, welche mit geeigneten Detektoren quantifiziert werden. Durch ei-
ne Rastereinheit wird der Strahl auf einem definiertem Ort auf der Mikrostruktur
positioniert, was einer Pixelposition in der generierten Aufnahme entspricht. Die
von den Detektoren festgestellten Intensitäten werden entsprechend einer Graustu-

5
fenskala an der entsprechenden Position im Bild dargestellt.
Im Folgenden wird näher auf die einzelnen Komponenten des REMs und ihre
genaue Funktionsweise bei der Bildentstehung eingegangen. Eine schematische Dar-
stellung des Aufbaus eines REMs ist in Abbildung 2.1 dargestellt. Ein REM besteht
zum großen Teil aus einer Vakuumkammer, an welcher alle anderen Komponenten
vakuumdicht angebracht werden. Damit der Elektronenstrahl auf dem Weg zur Pro-
be möglichst nicht auf verbleibende Gasmoleküle trifft und so gestreut wird, muss
ein hochreines Vakuum von mindestens 10−7 Pa in der Kammer gewährleistet sein.
Die Elektronenkanone ist mitsamt des zugehörigen Linsen- und Steuerungssystems
an der Kammeroberseite positioniert. Im unteren Bereich befindet sich der Proben-
raum mit einem mechanisch gesteuerten Probentisch. Um die Probe sind spezielle
Detektoren angeordnet, die verschiedene Arten von Signalen erfassen.
Für eine qualitativ hochwertige Aufnahme ist zunächst ein stabiler und gut defi-
nierter Elektronenstrahl entscheidend. Um diesen zu erzeugen, müssen freie Elektro-
nen bereit gestellt werden. Dazu existieren verschiedene Verfahren, wobei das Ab-
dampfen über eine geheizte Wolfram-, oder auch LaB6 -Kathode, wie auch durch hei-
ße oder kalte Feldemissionskathoden zu den technisch etablierten Standards gehören.
Während geheizte Wolfram- oder LaB6 -Kathoden eine kostengünstige Lösung dar-
stellen, zeichnen sich die kostspieligeren Feldemissionsquellen durch verschiedene
Vorteile, wie eine bessere Strahlstabilität, die Koheränz des Elektronenstrahls und
damit auch eine höhere Auflösung bzw. Bildqualität aus. Die höhere Strahlqualität
beim Prinzip der kalten Feldemission kommt durch das besondere Funktionsprinzip
dieser Technologie zustande. Dabei überwinden die Elektronen die Austrittsarbeit
des Kathodenmaterials aufgrund eines äußeren elektrischen Feldes. Zusätzlich weist
die Kathode eine sehr scharfe mikroskopische Spitze auf, wobei die Elektronen am
äußersten Rand dieser Spitze durch das anliegende elektrische Feld die Austritts-
arbeit überwinden können. Im Gegensatz zu den thermisch freigesetzten Elektro-
nen bei der klassischen Erzeugung freier Elektronen über einen Glühfaden, haben
die Elektronen aufgrund der niedrigeren Temperatur eine schmalere Energiever-
teilung, was zu einer höheren Kohärenz und zu einem gleichmäßigen Strahlstrom
führt [18, 19].
Um aus den freien Elektronen einen definierten Elektronenstrahl zu erzeugen,
werden die Elektronen durch ein elektrisches Feld beschleunigt. Die Beschleuni-
gungsspannung kann dabei vom Anwender bestimmt werden und liegt üblicherweise
zwischen 5 kV und 35 kV. Im weiteren Verlauf des Strahlengangs passiert der Elek-

6
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie

Abbildung 2.1: Schematischer Aufbau einer kommerziell erhältlichen Elektronen-


kanone als Elektronenquelle für Rasterelektronenmikroskope von
Zeiss [20].

tronenstrahl ein System aus mehreren elektromagnetischen Linsen und einer Apar-
turblende. Diese Konfiguration erlaubt es, den Strahl auf einen möglichst kleinen
Durchmesser auf der Probenoberfläche zu fokussieren. Korrekturlinsen erlauben es
zusätzlich, den besonders bei ferromagnetischen Proben auftretenden Astigmatis-
mus manuell zu korrigieren. Eine Rastereinheit steuert durch elektrische Felder eine
zweidimensionale Positionierung des Elektronenstrahls. Im Abbildungsmodus (scan-
ning) wird der Strahl dabei in einem rechteckigen Raster über die Probe bewegt.
Jede Position im Raster entspricht dabei einem Pixel in der Abbildung. Da die Pro-
be in unterschiedliche Weisen mit dem Elektronenstrahl wechselwirkt, können mit
geeigneten Detektoren nun ortsgenaue Parameter dieser Wechselwirkung bestimmt
werden. Diese werden abschließend von einer Auswertungssoftware wieder zu ei-
nem Abbild der Mikrostruktur rekonstruiert. Die Vergrößerung wird dabei durch
das Verhältnis der gerasterten Fläche zur Anzeige- bzw. Druckfläche des Bildes be-

7
stimmt [18, 19].

Abbildung 2.2: Schematische Darstellung der unterschiedlichen Wechselwirkun-


gen zwischen Primärstrahl und Probe mit den zugehörigen Ent-
stehungsorten.

Die unterschiedlichen Wechselwirkungen, die zwischen dem Elektronenstrahl und


der Probe auftreten, werden in Abbildung 2.2 schematisch dargestellt. Die beschleu-
nigten Elektronen dringen mit einer charakteristischen Intensitätsverteilung in das
Probenmaterial ein. Aufgrund seiner geometrischen Form wird dieses Probenvolu-
men auch Anregungsbirne genannt. Die verschiedenen physikalisch möglichen Wech-
selwirkungen erzeugen an jeweils unterschiedlichen Orten der Anregungsbirne cha-
rakteristische Signale, welche die Probe wieder verlassen und von Detektoren quan-
tifiziert werden können.
Zu den wichtigsten Signalen für die Kontrasterzeugung sind in erster Linie die
Sekundär- und Rückstreuelektronen zu erwähnen, welche bei den meisten han-
delsüblichen REMs standardmäßig zu den bildgebenden Verfahren gehören. Se-
kundärelektronen (SE) entstehen sehr oberflächennah innerhalb eines relativ ge-
ringen Radius von wenigen nm um den Eintreffpunkt des Strahls. Sie haben mit
1-2eV eine deutlich geringere Energie als der Primärstrahl, was dazu führt, dass nur
sehr oberflächennahe Sekundärelektronen die Probe verlassen können. Daraus resul-
tiert eine hohe örtliche Auflösung und eine hohe Oberflächensensitivität des Signals,
wodurch eine detaillierte Abbildung der Topographie der Oberfläche erzielt werden

8
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie

Abbildung 2.3: Schematische Darstellung der Wechselwirkung zwischen dem Pri-


märstrahl und der Kerne der im Material vorhandenen Atome.

kann. Sekundärelektronen werden in aller Regel entweder von einem Inlense- oder
klassisch von einem Everhart-Thornley-Detektor erfasst. Um die Mikrostruktur einer
Probe besser sichtbar zu machen, wird das Material häufig mit einem materialspe-
zifischen Ätzmittel behandelt. Durch selektive Ätzung bestimmter Merkmale einer
Mikrostruktur entsteht demnach ein topografisches Relief auf der Oberfläche, wel-
ches die entsprechenden Merkmale, z.B. Phasen oder Korngrenzen, als Information
in sich trägt. Diese Struktur kann dann mit hoher Qualität und Auflösung mit-
tels eines geeigneten SE-Detektors als Kontrast erfasst und anschließend dargestellt
werden [21].
Neben den Sekundärelektronen stellen die Rückstreuelektronen (RE) eine weite-
re Möglichkeit der Kontrastgebung dar. Rückstreuelektronen sind Elektronen, die
durch elastische Streuung von den Atomkernen im Material gestreut werden und
nach einem oder mehreren Wechselwirkungsevents mit den Atomenkernen des Kris-
tallgitters die Probe wieder verlassen, siehe Abbildung 2.3. Im Gegensatz zu Se-
kundärelektronen weisen Rückstreuelektronen hohe kinetische Energien auf, die im
Bereich der Elektronen des Primärsstrahls liegen. Dadurch können Rückstreuelek-
tronen die Oberfläche auch noch verlassen, wenn sie in tieferen Regionen unter der
Probenoberfläche zurück gestreut wurden. Entsprechend des Wechselwirkungsvo-
lumens in Abbildung 2.2 entspringen die Informationen aus einem deutlich tiefe-
ren Bereich der Probe. Die erreichbare effektive Auflösung ist im Vergleich zu SE-
Aufnahmen aufgrund des größeren Wechselwirkungsvolumens physikalisch bedingt

9
etwas geringer. RE-Aufnahmen erhalten dennoch wertvolle Informationen über die
Mikrostruktur, welche über eine rein topologische Abbildung hinausgehen. Die Si-
gnalstärke der Rückstreuelektronen hängt sowohl von der chemischen Zusammen-
setzung, als auch von der kristallographischen Orientierung der Probe ab. Im Falle
des chemischen Kontrast, kann man allgemein sagen, dass Probenbereiche mit ei-
nem hohen Anteil schwerer Atome heller dargestellt werden, als Bereiche, in denen
überwiegend leichte Atome vorhanden sind. Die Abhängigkeit des RE-Kontrast von
der Orientierung der Probe lässt sich hingegen nicht pauschal und eindeutig inter-
pretieren. Allerdings können aufgrund der Kontrastdifferenz beispielsweise Körner
und Korngrenzen identifiziert werden. Rückstreuelektronen erzeugen bei geeignetem
Probenaufbau darüber hinaus ein sogenanntes Kikuchi-Beugungsbild. Dieses dient
als Grundlage für die orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie (EBSD).
Bei der Wechselwirkung zwischen Primärstrahl und Kristallgitter wird ebenfalls
Röntgenstrahlung freigesetzt. Dabei ist besonders die charakteristische Röntgen-
strahlung als Singal zur Bildrekonstruktion interessant, da über das Röntgenspektrum
Rückschlüsse auf die chemische Zusammensetzung der Probe an der Position des
Auftreffpunktes gezogen werden können. Charakteristische Röntgenstrahlung ent-
steht, wenn ein gebundenes Elektron im Festkörper durch den Primärstrahl an-
geregt wird und dadurch in ein höheres Energieniveau gelangt. Entsprechend des
quantenmechanischen Schalenmodells besitzt jeder Atomkern verschiedene stabi-
le Anregungszustände seiner Elektronen. Ein durch den Primärstrahl angeregtes
Elektron fällt nach einiger Zeit wieder auf sein ursprüngliches Energieniveau ab.
Dabei gibt es ein Röntgenquant mit exakt der Energie ab, welche der Energiediffe-
renz aus oberem und unterem Energieniveau des Elektrons entspricht. Je nachdem,
welche Orbitale dabei involviert sind, kann ein Element verschiedene charakteristi-
sche Röntgenpeaks erzeugen. Jedes Element verfügt aufgrund seiner einzigartigen
elektronischen Struktur der Elektronenorbitale über ein oder mehrere charakteristi-
sche Emissionspeaks. Wenn die Energieverteilung der entstehenden Röntgenstrah-
lung über einen ausreichend großen Bereich mit hinreichend genauer Präzision ge-
messen wird, kann ein anschließender Vergleich mit hinterlegten Daten aus speziel-
len Datenbanken zu einer quantitativen Bestimmung der chemischen Zusammenset-
zung verwendet werden. Je nach Art des Detektors wird dieses Verfahren entweder
WDX (Wellenlängendispersive Röntgenspektroskopie) oder EDX (Energiedispersive
Röntgenspektroskopie) genannt. WDX-Systeme weisen dabei eine höhere Energie-
auflösung auf, wodurch auch leichtere Elemente noch präzise von einander getrennt

10
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie

werden können. EDX Systeme bieten zwar eine geringere Auflösung bezüglich der
Energieverteilung, jedoch ist das EDX-Verfahren deutlich schneller, weshalb es sich
besonders für großflächige Mappings der chemischen Zusammensetzung eignet, da
die Energieauflösung für schwerere Elemente ausreichend ist [22].

Rückstreuelektronenbeugung (EBSD): Das EBSD-Verfahren (engl.: Elec-


tron BackScatter Diffraction) ist ein fortschrittliches Verfahren, welches am REM
dazu eingesetzt wird, orientierungsabbildende Messungen durchzuführen [1–3, 23] .
Dabei wird die Probe in einem speziellen Probenhalter so in die Probenkammer
eingebaut, dass sie in einem Winkel von 70◦ zum Elektronenstrahl orientiert ist.
Die Verkippung ermöglicht eine hohe Intensitätsausbeute der Rückstreuelektronen,
die von einem zweidimensionalen Flächendetektor aufgenommen ird. Abbildung 2.4
zeigt schematisch den geometrischen Aufbau eines EBSD-Experiments am REM.

Abbildung 2.4: Schematische Darstellung des experimentellen Aufbaus für EBSD


Messungen [24].

Bei einem solchen geometrischen Aufbau entsteht auf dem Detektorschirm ein
charakteristisches Beugungsbild, welches aus sich kreuzenden Linien und Bändern
besteht. Diese Art des Beugungsbilds wird auch als ”Kikuchi Pattern”bezeichnet
[2,4,25]. Die Entstehung eines Kikuchi Patterns basiert auf zwei nacheinander statt-
findenden elementaren Wechselwirkungsprozessen zwischen dem Elektronenstrahl
und dem Kristallgitter. Zunächst werden die Elektronen des einfallenden Strahls

11
entsprechend der Abbildung 2.3 an den Atom der Probe elastisch gestreut. Dadurch
entsteht knapp unter der Probenoberfläche eine Sekundärquelle von Elektronen, die
je nach Art der getroffenen Atomkerne eine spezifische räumliche Verteilung aufweist.
Wichtig ist hierbei, dass einige der Atome auch, wie bereits bei der Entstehung der
Rückstreuelektronen erklärt, in Richtung Probenoberfläche wieder aus der Probe
austreten können. Auf ihrem Weg aus der Probe heraus findet die zweite elemen-
tare Wechselwirkung mit dem Kristallgitter statt. Hierbei handelt es sich um eine
elastische Beugung der austretenden Elektronen an den unterschiedlichen Kristal-
lebenen. Dieser Prozess lässt sich mit dem Doppelspaltexperiment vergleichen und
unterliegt den Gesetzmäßigkeiten, die Bragg für die Beugung an Kristallen gefunden
hat [26]. Dabei kommt es sowohl zu kontruktiver als auch zu destruktiver Interferenz,
wodurch das Kikuchi-Linien-Beugungsbild entsteht. Die Winkelbeziehung zwischen
kristallographischen Netzebenenabständen und der Breite der Beugungslinien un-
terliegt folgender mathematischer Beschreibung [25, 27]:

n · λ = 2 · d · sin(Θ) (2.1)

Dabei beschreibt λ die Wellenlänge der gebeugten Elektronen, d den Netzebe-


nenabstand der beugenden Kristallebenen, Θ den Beugungswinkel für konstruktive
Interferenz und n die ganzzahlige Ordnung des Beugungsreflexes. Die Gleichung 2.1
beschreibt eine Situation, in der zwei an unterschiedlichen Gitterebenen gebeugten
Elektronenwellen einen Gangunterschied aufweisen, der einem ganzzahligen Vielfa-
chen der Wellenlänge entspricht. Dadurch überlagern sich Wellenberge und Täler so,
dass sie sich gegenseitig verstärken. Dies entspricht der Definition einer konstrukti-
ven Interferenz. Da die Entstehung des Kikuchi-Patterns von einer näherungsweise
punktförmigen Sekundärquelle ausgeht, bilden sich durch die oben beschrieben Beu-
gungseffekte so genannte ”Kossel-Cones” [23,25,27]. Dadurch wird jeweils ein Kegel
an jeder Kristallebene mit einem konstanten Winkel orthogonal zum Normalenvek-
tor der Ebene nach oben und nach unten gebeugt. Der Öffnungswinkel zwischen
den beiden Kegeln beträgt 2Θ und liegt in der Größenordnung von 1-2◦ . Treffen
die Beugungskegel auf den planaren EBSD-Detektor, so bilden sie die Form einer
Hyperbel, was auf den Effekt der gnomonischen Verzerrung zurück geführt werden
kann. Aufgrund der kleinen Öffnungswinkel erscheinen die Hyperbeln aber dennoch
als annähernd gerade und parallele Linien auf dem Detektor. Die geometrischen

12
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie

Zusammenhänge beim Vorgang der Kossel-Beugung werden in Abbildung 2.5 sche-


matisch dargestellt [28].

Abbildung 2.5: Schematische Darstellung zur Entstehung der Kossel-Kegel [28].

Wenn die Kossel-Kegel auf die Schirmoberfläche treffen, erzeugen sie dort ein hell
illuminiertes Band, welches von zwei scharfen, dunklen Linien begrenzt wird. Dies
bezeichnet man als Kikuchi-Band. Der Abstand der beiden begrenzenden Linien ent-
spricht dem Beugungswinkel 2Θ der ersten Ordnung (n=1). Da jede reflektionsfähige
Ebene des Kristalls ihr individuelles Kikuchiband erzeugt, ergibt sich daraus ein
komplexes Beugungsbild vieler übereinanderliegender Bänder und Linien, welche
die Winkelabhängigkeiten der reflektierenden Kristallebenen widerspiegeln. Mithil-
fe der Bragg-Gleichung lassen sich nur die begrenzenden scharfen Linien für ver-
schiedene Ordnungszahlen n berechnen. Allerdings gehen aus der Bragg-Gleichung
keine Informationen über die Intensitätsverteilung der Elektronenstrahlung inner-
halb der Bänder hervor. Die Berechnung der gesamten Intensitätsinformation eines
Kikuchi-Patterns stellt bis heute eine Herausforderung dar und kann nur mit Hilfe
dynamischer Simulationen näherungsweise simuliert werden [29–32]. Ein gemessenes
Kikuchi-Beugungsbild einer Nickelbasis-Superlegierung ist in Abbildung 2.6 darge-
stellt. Darauf sind vielzählige Bänder und Linien erkennbar, die mit entsprechenden
Netzebenen des Kristalls korrespondieren. Je höher die Millerschen Indizes der Kris-

13
tallebenen sind, desto enger sind die Kristallebenen gestapelt und desto breiter wird
das entsprechende Kikuchi-Band. Die schmalsten Bänder, z.B. das vertikale Band,
entspricht also einer [100] Ebene des Kristalls.

Abbildung 2.6: Kikuchi-Beugungsbild einer Nickelbasis-Superlegierung.

Um die Informationen des Kikuchi-Beugungsbildes für weitere Operationen zur


Verfügung zu stellen, wird das Kikuchi-Beugungsbild im nächsten Schritt auto-
matisch indiziert. Eine Indizierung bedeutet hier, dass identifiziert wird, welches
Kikuchi-Band mit welcher Kristallebene korrespondiert. Dazu müssen zunächst die
Linieninformationen des Bildes isoliert werden. Hierbei kommt in modernen Syste-
men standardmäßig eine so genannte Hough-Transformation zum Einsatz [2, 4, 29].
Die Hough-Transformation transformiert die Helligkeitswerte jedes einzelnen Pixels
in ein neues Koordinatensystem, wodurch Linien auf Punkte abgebildet werden. Die
Hough-Transformation kann formal wie folgt beschrieben werden [4, 29]:

ρ = x · cos(Θ) + y · sin(Θ) (2.2)

Dabei beschreiben in Gleichung 2.2 die Variablen x und y die Positionen des je-
weiligen Pixels auf dem Detektorschirm. Durch die Koordinatentransformation wird
das Variablenpaar x und y in ein äquivalentes Koordinatenpaar ρ und Θ überführt.
Dabei beschreibt ρ den Abstand des Pixels vom Koordinatenursprung und Θ gibt
den Winkel der Verbindungslinie vom Koordinatenursprung zum jeweiligen (x,y)

14
2.1 Orientierungsabbildende Rasterelektronenmikroskopie

mit der x-Achse an. Auf diese Weise lässt sich ein auf einem regulären spatia-
len (x,y) Grid aufgenommenes Beugungsbild in ein neues (ρ,Θ) Koordinatensys-
tem überführen. In diesem Koordinatensystem tauchen die Kikuchi-Bänder nun als
lokale Maxima (intensives Band) auf, die jeweils oben und unten von zwei Mini-
ma (begrenzende Kikuchi-Linien) umgeben sind. Nach der Hough-Transformation
ist es nun ein Leichtes, die einzelnen Kikuchibänder zu identifizieren. Darüber hin-
aus ist durch den Winkel Θ bereits die räumliche Ausrichtung des Bandes direkt
gegeben. Um nun die identifizierten Kikuchi-Bänder eindeutung den enstprechen-
den Kristallebenen zuzuordnen, wird ein Triplet der gefundenen Bänder herange-
zogen, welches mit einer Datenbank abgeglichen wird. Die Datenbank besteht aus
einer zuvor berechneten Liste, in welcher die Winkelbeziehungen aller Kristallebe-
nen bis zu einem bestimmten Satz Millerscher Indizies gespeichert sind. Da die
Winkelbeziehungen der Ebenen während der Kikuchi-Beugung erhalten bleiben,
müssen nun nur noch die gleichen Winkelbeziehungen in der Datenbank gefunden
werden, die zuvor mittels Hough-Transformation auf dem Beugungsbild ermittelt
wurden. Damit ist das Kikuchi-Beugungsbild vollständig indiziert und die Orien-
tierung des beugenden Kristalls steht fest. Da es aus technischen Gründen bei der
EBSD-Methode zusätzliche Einflussgrößen gibt, wie beispielsweise ein Ausleserau-
schen des Detektors, oder eine nicht optimal präparierte Probenoberfläche, lässt
sich das Kikuchi-Beugungsbild oft nicht eindeutig indizieren. Zu diesem Zweck wur-
de in den Standard-Softwarelösungen ein Rankingsystem eingeführt, welches die
Wahrscheinlichkeit der richtigen Lösung mit Hilfe eines so genannten ”Confidence-
Index” angibt. Dabei werden oft mehrere plausible Lösungen berechnet, von de-
nen dann diejenige ausgewählt wird, welche den höchsten Confidence-Index erzielt.
Die Aufgabe des Mikroskopisten besteht darin, die Paramter des REMs und der
Hough-Transformation so einzustellen, dass eine Indizierung mit möglichst großem
Confidence-Index vorliegt.
Sobald die Kikuchi-Beugungsbilder indiziert wurden, werden die Daten in einem
EBSD-Dateisystem abgelegt. Dabei enthält jeder Messpunkt des EBSD-Versuchs ei-
ne Zeile im Datensatz, in dem die örtlichen Koordinaten des Messpunkts als (x,y)
Koordinatenpaar gespeichert werden. Zusätzlich wird der Confidence-Index und die
”Image Quality” hinterlegt. Bei der Image Quality handelt es sich um einen Para-
meter, der den Bandkontrast und die Schärfe des Kikuchi-Beugungsbildes quanti-
fiziert. Daher der Name ”Quality”. Probenbereiche, die ein hochwertiges und kon-
trastreiches Beugungsbild erzeugen, erhalten einen hohen Image-Quality-Wert (z.B.

15
im Zentrum eines unverformten Kornes) und gestörte Probenbereiche (z.B. in der
Nähe einer Korngrenze, oder in Bereichen mit hoher Versetzungsdichte) erhalten
einen niedrigen Image-Quality-Wert. Zusätzlich wird zu jedem Messpunkt ein Tri-
plet aus Euler-Winkeln abgelegt, welche die Orientierung des jeweiligen Kristallits
beschreiben. Ein EBSD-Datensatz enthält dadurch wesentlich mehr Informationen
als dies in einem normalen Mikroskopbild der Fall wäre. Zusätzlich sind die hin-
terlegten Werte an jedem Pixel mathematisch exakt definiert, wodurch sie für fort-
geschrittene Methoden des Post-Processing zur Verfügung stehen. Die Eulerwinkel
beschreiben eine Drehung des Koordinatensystems. Es wird zunächst ein Referenz-
Koordinatensystem definiert, welches üblicherweise aus den drei Richtungen ND
(z: normal direction), RD (x: rolling direction) und TD (y: transverse direction)
besteht. Die drei Eulerwinkel geben nun die Drehung an, mit welcher das Referenz-
Koordinatensystem auf die jeweiligen Kristallkoordinaten rotiert wird. Schematisch
ist der Informationsgehalt eines EBSD-Datensatzes in Abbildung 2.7 dargestellt [33].

Abbildung 2.7: Schematische Darstellung des Informationsgehalts eines EBSD-


Datensatzes [33].

16
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen

2.2 Nickelbasis-Superlegierungen
Einkristalline Nickelbasis-Superlegierungen stellen eine Schlüsseltechnologie im Be-
reich des Transport- und Energiesektors dar [34]. Aufgrund ihrer hohen Temperatur-
beständigkeit und Kriechfestigkeit werden sie für thermisch und mechanisch hoch be-
lastete Bauteile in der Antriebstechnik verwendet. Zu den wichtigsten Einsatzgebie-
ten gehört ihre Verwendung als Material für Turbinenschaufeln der ersten und zwei-
ten Laufschaufelreihe [35, 36]. Sie befinden sich innerhalb der Turbine direkt hinter
der Brennkammer und müssen dort große Kräfte bei sehr hohen Temperaturen (et-
wa 1000◦ C) aufnehmen. Die Materialklasse der Nickelbasis-Superlegierungen stellt
somit das Rückgrat der modernen Energiegewinnung durch Wärmekraftmaschinen
sowohl im stationären als auch im instationären Betrieb dar. Aufgrund der prinzipi-
ellen Begrenztheit fossiler Rohstoffe, die zur Befeuerung von Gasturbinen verwendet
werden, und der vor dem Hintergrund des Klimawandels steigenden Relevanz von
Klimaschutzmaßnahmen, ist eine Erhöhung der thermischen Effizienz solcher Turbi-
nen eine maßgebliche Zielsetzung in Forschung und Entwicklung [37, 38]. Abbildung
2.8 stellt eine typische Gasturbine dar, wie sie in der industriellen Anwendung zur
Energieerzeugung verwendet wird.

Abbildung 2.8: Industrielle Gasturbine (SGT-800) der Siemens AG [39].

Aufgrund der weiterhin bestehenden Problematik der Speichertechnologien für re-


generative Energiequellen, stellen stationäre Gasturbinen auch in Zukunft eine wich-

17
tige Brückentechnologie dar. Des Weiteren sind instationäre Gasturbinen als Antrie-
be für Flugzeuge bislang alternativlos. Eine Weiterentwicklung der zur Verfügung
stehenden Technologie ist somit entscheidend, um den Energiewandel der Zukunft
zu bewerkstelligen und den damit verbundenen CO2 -Ausstoß zu minimieren. Dabei
steht eine Erhöhung der Energieeffizienz im Zentrum der Forschung. Die Energieeffi-
zienz einer Wärmekraftmaschine, die nach dem Prinzip eines Carnotschen Kreispro-
zesses arbeitet, wird durch den thermischen Wirkungsgrad η angegeben. Der thermi-
sche Wirkungsgrad ist im Intervall [0,1] definiert und berechnet sich nach folgender
Vorschrift [40]:

TA
η =1− (2.3)
TE

Der Zusammenhang in Gleichung 2.3 zeigt, dass der Wirkungsgrad maßgeblich


von den Betriebstemperaturen der Wärmekraftmaschine abhängt. TA bezeichnet
dabei die Austrittstemperatur und TE die Eintrittstemperatur. Es wird ersichtlich,
dass für einen hohen Wirkungsgrad eine große Eintrittstemperatur TE und eine
niedrige Austrittstemperatur TA förderlich sind. Die Austrittstemperatur TA kann
nicht ohne Weiteres modifiziert werden, da sie durch die Umgebungswärme und
die daraus resultierenden begrenzten Möglichkeiten der effizienten Kühlung vorge-
geben ist. Daraus resultiert die Notwendigkeit, die Eintrittstemperatur möglichst
hoch zu dimensionieren [40]. Für die praktische Anwendung einer Turbine bedeutet
dies, dass die fossilen Brennstoffe möglichst heiß verbrannt werden müssen, bevor
der Abgasstrom in den Turbinenteil eintritt. Der limitierende Faktor stellt an die-
ser Stelle das Material dar [34, 36]. Insbesondere die erste Laufschaufelreihe, die
den Abgasstrom direkt hinter der Brennkammer in mechanische Arbeit umwandelt,
ist dadurch hohen thermomechanischen Belastungen ausgesetzt. Die Entwicklung
neuer Materialien, die sowohl hochtemperatur korrosionsbeständig sind, als auch
gute Kriecheigenschaften aufweisen, ist dadurch die zentrale Entwicklungsrichtung,
um den Wirkungsgrad neuartiger Turbinen zu erhöhen. Dies setzt ein tiefgreifendes
und grundlegendes Verständnis der dafür verwendeten Nickelbasis-Superlegierungen
voraus [36].
Der Einsatz von Nickelbasis-Legierungen als Turbinenwerkstoff geht bis Ende der
1940er Jahre zurück [34]. Seitdem wurde die Materialklasse systematisch erforscht
und immer weiter für den Einsatz bei stetig steigenden Temperaturen optimiert [40].

18
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen

Neben der Optimierung der chemischen Legierungszusammensetzung, spielt dabei


der Einsatz neuartiger Herstellungsverfahren eine zentrale Rolle. In Abbildung 2.9
wird die Einsatztemperatur für verschiedene Nickelbasis-Legierungen für eine 1000h
Kriechlebensdauer bei 137MPa dargestellt [41]. Daraus wird ersichtlich, dass die
Einsatztemperaturen im Zeitraum zwischen 1940 und 210 von anfangs etwa 750◦ C
auf über 1100◦ C erhöht werden konnten.

Abbildung 2.9: Verbesserung der Kriechbeständigkeit durch die Weiterentwick-


lung der Legierungszusammensetzung und der Herstellungsverfah-
ren [41].

Bei Betrachtung der Abbildung 2.9 wird deutlich, dass neue Legierungszusam-
mensetzungen die Kriechfestigkeit zwar verbessern können, die wesentlichen Evolu-
tionssprünge konnten aber nur durch den Einsatz neuartiger Herstellungsverfahren
realisiert werden. Der erste wesentliche Sprung in der Entwicklung der Nickelba-
sis Legierungen fand in den 1960 Jahren statt. Dabei wurde das bis dahin übliche
Schmiedeverfahren durch ein Vakuum-Feingussprozess ersetzt. Dies hatte den Vor-
teil, dass durch eine gezielte Wärmebehandlung γ ′ Teilchen ausgeschieden werden
konnten. Daraus resultiert eine seitdem für alle Nickelbasis-Superlegierungen ty-
pische γ / γ ′ Mikrostruktur, die sich dadurch auszeichnet, dass würfelförmige γ ′ -

19
Teilchen in eine γ-Matrix kohärent eingebettet sind. Dies führte zu einer deutlichen
Erhöhung der hochtemperatur Kriechbeständigkeit [35, 36, 42]. Zwischen 1970 und
1980 wurde das Vakuum-Feinguss Verfahren so weiter entwickelt, dass die Legie-
rungen gerichtet erstarrt wurden. Durch die gerichtete Erstarrung wurde die zuvor
verwendete polykristalline Mikrostruktur durch eine längliche, stängelartige Korn-
struktur ersetzt, Abbildung 2.10, Mitte.

Abbildung 2.10: Schematische Darstellung der Mikrostrukturen, die durch unter-


schiedliche Herstellungsverfahren erzielt werden. Links: Polykris-
talline Mikrostruktur durch Vakuum-Feinguss-Verfahren, Mit-
te: Stengelkristalline Mikrostruktur durch gerichtete Erstarrung,
Rechts: Einkristalline Mikrosktruktur durch Bridgman-Prozess
[36].

Der wesentliche Vorteil der gerichtet erstarrten Nickelbasis-Legierungen liegt dar-


in, dass Korngrenzen quer zur Belastungsrichtung eliminiert wurden. Korngrenzen
stellen eine Störung des Kristallgitters dar, wodurch sie zu mechanischen Schwach-
stellen werden, weil beispielsweise Kriechporen entlang der Korngrenzen nukleieren
und wachsen können. Die gerichtete Erstarrung wird technologisch umgesetzt, in-
dem die Abwärme bei der Erstarrung gerichtet in eine Vorzugsrichtung (von oben
nach unten) abgeführt wird. Dies wird beispielsweise dadurch erreicht, dass man
am unteren Ende des Bauteils eine gekühlte Kupferplatte einsetzt, wodurch der

20
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen

Keimbildungsort und die Wachstumsrichtung der Kristallite in die Schmelze hinein


vorgegeben ist.
Der nächste logische Entwicklungsschritt bestand in den 1980er Jahren darin,
auch die längsgerichteten Korngrenzen zu beseitigen. Durch das Bridgman-Verfahren
haben sich seitdem einkristalline Nickelbasis-Superlegierungen als Standard eta-
bliert. Dadurch konnte der schädliche Effekt der Korngrenzen, wie die Ausbildung
von Kriechporen oder auch das Korngrenzengleiten praktisch vollständig eliminiert
werden. Turbinenschaufeln werden seitdem durch eine Kombination von Vakuum-
Feinguss-, Wachsausschmelzverfahren und dem Bridgman-Verfahren als einkristalli-
ne Komponenten hergestellt [35]. Der schematischer Aufbau eines Bridgman-Ofens
ist mit allen wichtigen Komponenten in Abbildung 2.11 dargestellt.
Im Bridgman-Verfahren wird der gerichtete Wärmestrom in den frühen Stadien
der Erstarrung dadurch erzielt, dass eine gekühlte Kupferplatte im unteren Bereich
der Formschale montiert wird, wodurch der Ort der Keimbildung vorgegeben wird.
Anschließend wird die gekühlte Kupferplatte mit der darauf montierten Formschale
langsam nach unten aus dem Ofen heraus gefahren, oder in einem alternativen Auf-
bau der Ofen nach oben abgezogen. Ein Baffle am unteren Ende des Ofens stellt die
thermische Isolation zwischen dem heißen Bereich im Ofen und dem kühleren Be-
reich unterhalb des Ofens sicher. Danach findet der Wärmeaustausch überwiegend
durch Wärmestrahlung derjenigen Bereiche statt, die sich unterhalb des Baffles be-
finden. Die gekühlte Kupferplatte hat dann nur noch einen geringen Einfluss auf die
Wärmestrombilanz. Um eine einkristalline Erstarrung zu gewährleisten, wird auf
zwei verschiedene Verfahren zurückgegriffen. Durch einen helixförmigen Einkristall-
selektor, der über der gekühlten Kupferplatte montiert ist, kann nur ein einzelnes
Korn der zuvor gerichtet erstarrten Schmelze in den Bereich der Formschale wach-
sen. Oberhalb des Einkristallselektors breitet sich dieser einzelne Kristallit dann
quer zur Wachstumsrichtung in der gesamten Formschale aus. Anschließend erfolgt
das Wachstum des Einkristalls längs zum Wärmestrom. Alternativ dazu kann auch
ein einkristalliner Impfkristall verwendet werden, der im unteren Bereich der Ab-
gussform positioniert wird [5]. Dadurch erfolgt die Erstarrung von Beginn an ein-
kristallin, sodass kein zusätzlicher Einkristallselektor benötigt wird. In beiden Fällen
erfolgt die Erstarrung dabei dendritisch in [001] Richtung. Abbildung 2.12 zeigt die
typische Morphologie eines in [001] Richtung erstarrten Dendrits [5].

21
Abbildung 2.11: Schematische Darstellung des Bridgman-Feinguss-Verfahrens
[36].

Neben dem konventionellen Bridgman-Verfahren wurde in den letzten 5 Jahren


ein neues Verfahren entwickelt, mit dem ebenfalls Superlegierungs-Einkristalle her-
gestellt werden können. Dabei handelt es sich um die pulvermetallurgische Technik
der additiven Fertigung. Hierzu wird ein Pulverbett in dünnen Schichten auf einem
Sockel verteilt. Anschließend wird das Pulver entweder mittels eines Lasers (SLM:
Selective Laser Beam Melt) [43,44] oder eines fokussierten Elektronenstrahls (SEBM:
Selective Electron Beam Melt) [45] lokal aufgeschmolzen. Für die Herstellung von
einkristallinen Nickelbasis-Superlegierungen wurden mit dem SEBM-Verfahren be-
reits gute Ergebnisse erzielt, während die Anwendung des SLM-Verfahrens für die
Herstellung einkristalliner Nickelbasis-Superlegierungen derzeit noch nicht ausgereift

22
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen

ist. Bei einigen Verfahren wird vor dem eigentlichen Schmelzverfahren noch eine glo-
bale Vorwärmung des Pulverbetts durchgeführt [46–48]. Die Fertigung erfolgt hier
Schichtweise. Nach jedem Schmelzverfahren wird der Bautisch ein Stück weit nach
unten heraus gefahren, um dann eine neue dünne Schicht Pulver mithilfe eines so
genannten Rakels aufzutragen und die nächste Konturlinie in einem repetitiven Ver-
fahren entsprechend eines dreidimensionalen Modells des Bauteils aufzuschmelzen.
Im Falle des SLM wird die Fertigungskammer üblicherweise mit einer dünnen Schutz-
gasatmosphäre aus Helium befüllt. Das SEBM-Verfahren benötigt ein Hochvakuum
in der Fertigungskammer, da der Elektronenstrahl sonst zu stark von Gasmolekülen
gestreut würde, wodurch sich die im Bauteil eintreffende Leistung signifikant verrin-
gern würde. Zu den Vorteilen dieses Verfahrens gehört, dass dadurch auch komplexe
Bauteilgeometrien hergestellt werden können. Die Erforschung der dabei entstehen-
den Mikrostrukturen und die damit einhergehenden mechanischen Eigenschaften
stellen ein wichtiges Feld in der modernen Werkstoffforschung dar [49, 50]. Zum
besseren Verständnis ist der Aufbau einer SEBM-Anlage in Abbildung 2.13 darge-
stellt [51].

Abbildung 2.12: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme eines Dendrits aus


[001] Richtung [5].

Die Fertigung von Nickelbasis-Superlegierung mittels des SEBM-Verfahrens ist


aufgrund der Neigung zur Poren- und Rissbildung in dieser Materialklasse eine große
Herausforderung, welche auch bei Schweißverfahren zu ähnlichen Hürden führen [52,

23
Abbildung 2.13: Schematischer Aufbau einer SEBM-Anlage [51].

53]. Durch geeignete Prozessstrategien konnten in jüngster Zeit allerdings Fortschrit-


te erzielt werden [54–56]. Eine neue Entwicklung im Bereich der SEBM-Technologie
ermöglicht es, nun sogar einkristalline Mikrostrukturen mit einem geringen Anteil an
Fertigungsfehlern, wie z.B. Poren oder Rissen, direkt aus dem Pulverbett heraus zu
fertigen [6,57,58]. In Abbildung 2.14 ist ein durch das SEBM-Verfahren hergestellter
Nickelbasis-Einkristall abgebildet. Die lichtmikroskopischen Aufnahmen und EBSD-
Messungen zeigen, dass im unteren Bereich der Probe ein polykristalliner Bereich
existiert, der sich durch Kornselektion über die Höhe der Probe zu einem Einkristall
entwickelt.
Unter dem Begriff der Scanstrategie versteht man im Bereich der additiven Fer-
tigung die relevanten Prozessparameter, die definieren, wie die lokale Wärmezufuhr
auf das Pulver appliziert wird [59–61]. Der Strahl wird dabei in aller Regel im
Muster eines regelmäßigen Rasters über das Pulverbett verfahren. Dabei folgt der
Strahl vorgegebenen Linien, die als Scanvektoren bezeichnet werden. Die Ablenkge-
schwindigkeit gibt an, wie schnell der Strahl seine Position entlang des Scanvektors
verändert. Der Abstand zwischen den Scanvektoren wird in diesem Zusammenhang
als Spurabstand bezeichnet. Man unterscheidet zwischen einem unidirektionalen und

24
2.2 Nickelbasis-Superlegierungen

Abbildung 2.14: Durch SEBM hergestelle einkristalline Nickelbasis-


Superlegierungs Probe [6].

bidirektionalen Scanmuster. Zum besseren Verständnis sind die beiden prinzipiellen


Methoden in Abbildung 2.15 dargestellt.
Die Scanstrategie beeinflusst neben der Wahl der Beschleunigungsspannung und
der übertragenen Wärmeleistung maßgeblich, wie sich die Form und Tiefe des so
genannten Schmelzbades entwickelt. Um mittels des SEBM-Verfahren Einkristalle
herstellen zu können, müssen sich die Parameter der Scanstrategie in einem schma-
len Prozessfenster befinden [58]. Insbesondere ist für die Herstellung von Einkris-
tallen eine Vorwärmung des Pulverbetts nötig, um die thermische und elektrische
Leitfähigkeit des Pulvers zu erhöhen. Dadurch wird die Oberflächentemperatur des
Pulvers bei konstanten 1000◦ gehalten, wodurch das anschließende Aufschmelzen
der Kontur durch eine vergleichsweise kleine Anhebung der lokalen Temperatur er-
folgen kann [6]. Um eine einkristalline Erstarrung zu ermöglichen, macht man sich
zu Nutze, dass die Erstarrung von kubischen Kristallen bevorzugt in [001] Richtung
stattfindet, was auf die Anistropie der Grenzflächenergie zurückzuführen ist, die zu
einer maximalen Anlagerungsgeschwindigkeit an der Fest-Flüssig-Grenze in [001]
Richtung führt [62]. Ähnlich wie beim Bridgman-Verfahren liegt auch im Fall der
SEBM-Prozessroute zudem ein gerichteter Wärmestrom vor, der vom oberen Bereich
der Probe, welcher durch den Elektronenstrahl aufgeschmolzen wird, nach unten in
Richtung des Bautisches zeigt. Dadurch wachsen Kristallitte mit ihrer individuellen

25
[001] Richtung bevorzugt parallel von unten nach oben. Diese erste Wachstums-
morphologie wird als columnare Struktur bezeichnet. Dabei ist nur die Wachstums-
richtung in die Kristallrichtung [001] vorgebenen, während die Sekundärrichtung
hier zunächst noch zufällig verteilt ist. Durch eine geeignete Wahl entsprechender
Parameter der Scanstrategien kann die anschließend stattfindende Kornselektion
so beeinflusst werden, dass Körner mit einer bestimmten Vorzugsrichtung präferiert
wachsen und dabei Körner mit ungünstiger Sekundärorientierungen verdrängen. Die
Mechanismen, die im Fall der additiven Fertigung zu dieser Änderung der Wachs-
tumsmorphologie führen, sind Gegenstand aktueller Forschung und werden bisweilen
kontrovers diskutiert [63–66].

Abbildung 2.15: Visualisierung der grundlegenden Parameter unterschiedlicher


Scanstrategien [51].

26
2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität

2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität


Unter dem Begriff der Kristallmosaizität werden mikrostrukturelle Besonderheiten
in technischen Einkristallen verstanden, die auf kleine Fehlorientierungungen inner-
halb des Materials zurück zu führen sind [67]. Zwischen fehlorientierten Kristallitten
bilden sich durch die Misorientierung Kleinwinkelkorngrenzen aus. Die Kristallmo-
saizität ist allen technisch hergestellten Einkristallen inhärent. Sie entsteht schon
im Herstellungsprozess beim Erstarren der Kristallite aus der Schmelze und wird
zu den eingewachsenen Kristalldefekten gezählt. Bei der Erstarrung einkristalliner
Nickelbasis-Superlegierungen finden vielzählige Prozesse statt, die zu einer typischen
skalenübergreifenden Mikrostruktur führen. Um die Entstehung der Kristallmosa-
izität zu beschreiben, müssen zunächst die unterschiedlichen Effekte, die während
der Erstarrung ablaufen, erläutert werden.
Die Erstarrung einkristalliner Nickelbasis-Superlegierungen geht mit klein- und
großskaligen Gefügeheterogenitäten einher. Zu den kleinskaligen Gefügeheterogeni-
täten gehört die Entmischung in die beiden Phasen γ und γ ′ . Dabei handelt es
sich um eine würfelförmige Ausscheidung von γ ′ -Teilchen innerhalb einer γ-Matrix,
die wesentlich zur Kriechbeständigkeit beiträgt [68–73]. Die γ ′ -Partikel besitzen eine
geordnete L12 Struktur und weisen bei einem Volumenanteil von etwa 75% eine Kan-
tenlänge von einigen hundert Nanometern auf. Die umgebende γ-Matrix besteht aus
einem kubisch flächenzentrierten Mischkristall. Insbesondere die kohärenten Grenz-
flächen zwischen γ ′ -Teilchen und γ-Matrix haben durch ihre Wechselwirkung mit
Versetzungen einen großen Einfluss auf das Kriechverhalten. Auf einer größeren Ska-
la finden ebenfalls Seigerungseffekte statt, die zu einer dendritischen Mikrostruktur
führen. Die Größenordnung dieser Heterogenität ist mit mehreren hundert Mikro-
metern (Primärdendritenabstand) um einige Faktoren größer, als die zuvor beschrie-
benen Mikroseigerungen. Die dendritische Erstarrung trägt maßgeblich zur Bildung
der Kristallmosaizität bei. Die typische Dendritenmorphologie, wie sie in Abbildung
2.12 dargestellt ist, entsteht aufgrund der bevorzugten Kristallwachstumsrichtung,
die den kristallographischen [001]-Richtungen entspricht. Daraus resultiert ebenfalls
die vierzählige Drehsymmetrie der Dendriten in [001]-Wachstumsrichtung. In tech-
nischen Applikationen ist eine [001]-Orientierung in Belastungsrichtung gewünscht,
allerdings kommt es zu Abweichungen von bis zu 15◦ zu dieser idealen Orientie-
rung [34, 74, 75].
Die Ausprägung und genaue Morphologie der Fest/Flüssig-Phasengrenze wird

27
durch die Erstarrungsbedingungen, Temparaturgradient G und Erstarrungsgeschwin-
digkeit vs maßgeblich bestimmt. Dabei spielen insbesondere die Parameter der Er-
starrungsfrontgeschwindigkeit vs und des thermischen Gradientens G eine entschei-
dende Rolle. Je nach Kombination dieser beiden Werte entstehen unterschiedli-
che Mikrostrukturen, die von einer polykristallin-globulitischen bis hin zu einer
einkristallin-planaren Morphologie reichen [?]. Der Zusammenhang zwischen diesen
beiden relevanten Parametern und den daraus resultierenden Erstarrungsmorpholo-
gien ist in Abbildung 2.16 schematisch dargestellt.

Abbildung 2.16: Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Er-


starrungsfrontgeschwindigkeit vs und dem thermischen Gradien-
ten G nach Kurz und Fischer [51, 76].

Aus Abbildung 2.16 ist zu entnehmen, dass bei sehr langsamen Erstarrungsfront-
geschwindigkeiten vs und sehr großen thermischen Gradienten G eine planare Er-

28
2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität

starrungsfront entstehen würde. Dies entspricht dem unteren rechten Bereich des
Diagramms. Für den Grenzfall einer unendliche langsamen Abkühlung würde daraus
ein perfekter und homogener Einkristall entstehen. Der andere Extremfall beschreibt
eine sehr schnelle Erstarrungsfrontgeschwindigkeit vs und einen kleinen thermischen
Gradienten G, was im Diagramm an der oberen linken Ecke dargestellt ist. Für
den Grenzfall eines nicht vorhandenen thermischen Gradienten G würde dies einer
normalen polykristallinen Erstarrung entsprechend, wie sie in Standardgießverfah-
ren zu beobachten ist. Der für technische Nickelbasis-Einkristalle relevante Bereich
zeigt sich im mittleren Teil des Diagramms. Da in der realen Welt nur eine begrenzte
Zeit für die Fertigung einkristalliner Bauteile zur Verfügung steht, und längere Pro-
zesszeiten direkt mit höheren Produktionskosten verbunden sind, wählt man das Pa-
rameterpaar aus Erstarrungsfrontgeschwindigkeit vs und thermischen Gradienten G
so aus, dass eine gerichtete dendritische Erstarrungsmorphologie entsteht. Während
man die Parameter im Bridgman-Prozess sorgsam überwachen kann, stellt dies im
Falle der additiven Fertigung mittels SEBM eine größere Herausforderung dar, die
nur durch simulationsbasierte Ansätze der Erstarrung erfasst werden können.
Der Grund für die Entstehung der dendritischen Erstarrungsmorphologie liegt
dem Konzept der konstitutionellen Unterkühlung zu Grunde. Unter dem Begriff
der konstitutionellen Unterkühlung werden Prozesse zusammengefasst, die bei der
Erstarrung von Mehrstoffsystemen zu beobachten sind. Dabei kommt es aufgrund
unterschiedlicher Löslichkeiten der Elemente in den verschiedenen Phasen zu Ent-
mischungseffekten, welche insbesondere an der fest-flüssig Phasengrenze der Erstar-
rung eine besondere Rolle spielen. Nickelbasis-Einkristalle bestehen oft aus einer
hohen Anzahl an chemischen Elementen (>10), wodurch die genauen Entmischungs-
prozesse komplex sind und bis heute Gegenstand aktueller Forschungen darstellen.
Zum Verständnis der konstitutionellen Unterkühlung kann zunächst ein vereinfach-
tes Zweistoffsystem heran gezogen werden, bei dem im Prinzip die gleichen Prozesse
stattfinden. In Abbildung 2.17 wird der Vorgang der konstitutionellen Unterkühlung
an der Erstarrungsfront abgebildet. Dabei ist ein charakteristischer Verlauf des Kon-
zentrationsprofils eines entmischten Elements in Abhängigkeit zum Abstand von
der Erstarrungsfront zu erkennen. Das Element besitzt in dem gewählten Beispiel
eine hohe Löslichkeit im festen Kristall. Die Konzentration nimmt mit zunehmen-
den Abstand zur Erstarrungsfront in der Schmelze ab. Das Verhältnis zwischen der
Konzentration in der festen und der flüssigen Phase wird durch den so genannten
Gleichgewichtsverteilungskoeffizienten k angegeben. Dieser berechnet sich wie folgt:

29
cS
k= (2.4)
cL

Dabei beschreibt cS die Konzentration des betrachteten Elements im erstarrten


Bereich und cL die Konzentration in der flüssigen Phase. Der Grund für die Entmi-
schung liegt in der unterschiedlichen Löslichkeit der verschiedenen Elemente in der
festen Phase. Dies ist in Abbildung 2.17 rechts unten im binären Phasendiagramm
dargestellt.

Abbildung 2.17: Schematische Darstellung des Zusammenhangs zwischen der Er-


starrungsfrontgeschwindigkeit vs und dem thermischen Gradien-
ten G nach Kurz [51, 76].

Die Konzentration cL (=c0 ) beschreibt in diesem Diagramm die Konzentration


in der festen Phase bei Solidustemperatur. Dies ist auch die Temperatur, die sich
genau an der Grenzfläche zwischen der festen und flüssigen Phase einstellt. Im Fal-
le von Nickelbasis-Superlegierungen verhalten sich die hochschmelzenden Elemente

30
2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität

wie Wolfram und Rhenium auf die dargestellte Weise. Die zuerst erstarrten Bereiche
weisen eine hohe Konzentration dieser Elemente auf und bilden in der Erstarrung
zunächst den Dendritenkern aus. Zwischen den Dendritenkernen kommt es dadurch
zu einer Verarmung der hochschmelzenden Elemente [35, 77]. Im weiteren Verlauf
der Erstarrung sinkt die Temperatur im interdendritischen Bereich sukzessive ab,
bis auch die nun mit Elementen eines niedrigen Schmelzpunktes angereicherte Rest-
schmelze erstarrt. Dies führt zu einer hohen Konzentration der Elemente wie z.B.
Aluminium und Titan im interdendritischen Bereich [35, 77]. In erster Näherung
beschreibt die Scheilgleichung eine hypothetische Abkühlung, bei der eine unend-
lich hohe Diffusionsrate in der flüssigen Phase angenommen wird und Diffusion im
Festkörper vollständig abwesend ist. Die Scheilgleichung ergibt sich zu [78]:

cs = k · c0 · (1 − fS )k−1 (2.5)

Dabei ist cS die Konzentration im Festkörper, c0 die mittlere Konzentration, k


der Gleichgewichtsverteilungskoeffizienten und fS der Anteil der festen Phase. Erst
durch die Berücksichtigung der kinetischen Charakteristika, welche die Diffusions-
vorgänge beschreiben, lässt sich die dendritische Abkühlung vollständig erklären.
Da unter realen Bedingungen im Festkörper nur ein endlicher Diffusionskoeffizient
wirkt, bleiben Seigerungen in der festen Phase bestehen und können anders als im
thermodynamischen Gleichgewicht nicht kompensiert werden [78].
Neben den chemischen Seigerungen, die auch im vollständig erstarrten Kristall er-
halten bleiben, spielen die Dendriten auch bei der Ausbildung der Kristallmosaizität
eine wesentliche Rolle. Auf Grund der Tatsache, dass sich die hochschmelzenden Ele-
mente zunächst im Dendritenkern anlagern und dort kristallisieren, wachsen typische
Dendritenstrukturen bei der Erstarrung in die noch flüssige Schmelze hinein. Die
Kristallmosaizität ensteht dadurch, dass nicht alle Dendriten exakt parallel zuein-
ander in die Schmelze einwachsen, sondern dass es aufgrund verschiedener möglicher
Ursachen zu kleinen Verkippungen zwischen einzelnen Dendriten kommt. Zwischen
den fehlorientierten Dendriten bilden sich als Konsequenz Kleinwinkelkorngrenzen
aus [79–81]. Typische Fehlorientierungen zwischen den Kristallitten liegen in der
Größenordnung von beispielsweise weniger als 2◦ . Die genauen Prozesse, die zur
Verkippung einzelner Dendriten führen, sind bisweilen nicht vollständig geklärt. Al-
lerdings herrscht Einigkeit darüber, dass Prozesse auf der Größenskala der Dendriten

31
dafür eine maßgebliche Rolle spielen [76, 82, 83].
Das Vorhandensein der Kristallmosaizität ist bereits seit 1989 bekannt [80] und
wurde seitdem in einigen Studien mit verschiedenen Herangehensweisen genauer un-
tersucht. Dabei wurden sowohl zylindrische Probengeometrien [5, 79, 80] und kom-
plexe Turbinenschaufelgeometrien [84–87] als auch davon abweichende Probengeo-
metrien herangezogen [88–92]. Die Entstehung der Kristallmosaizität wird im We-
sentlichen auf Biegeprozesse einzelner Dendriten oder von Gruppen von Dendriten
zurückgeführt [84, 88, 89, 92–95]. Es werden unterschiedliche Gründe für die Ver-
formung der Dendriten angenommen. Dazu zählen thermische Spannungen und
Schrumpfungsspannungen [84, 96–99], sowie auch Kräfte, die durch Konvektion der
Schmelze verursacht werden [100–102]. Andere Erklärungsmodelle basieren auf der
Wirkung der Gravitation [95], einer Interaktion mit der Formwand [93–95] oder
auch chemische Potentialgefälle, die auf Konzentrationsgradienten um den Dendri-
tenstamm zurückzuführen sind [92].

Abbildung 2.18: Rastelektronenmikroskopische RE-Aufnahme einer typischen


dendritischen Mikrostruktur einer einkristallinen Nickelbasis-
Superlegierung. Die unterschiedlichen Grautstufen verschiede-
ner Gruppen von Dendriten entstehen aufgrund kleiner Orien-
tierungsabweichungen.

In Abbildung 2.18 wird eine RE-REM Aufnahme einer dendritischen Mikrostruk-


tur dargestellt. Der RE-Detektor reagiert sowohl auf die chemische Zusammenset-
zung als auch auf die Orientierung der Kristallite. Es sind sowohl die mit schweren,
hochschmelzenden Elemente angereicherten Dendritenkerne sichtbar, als auch die

32
2.3 Erstarrung und Kristallmosaizität

kleinen Verkippungen, die zu unterschiedlichen Graustufen einzelner Gruppen von


Dendriten führen.

33
2.4 Grundlagen des Martensit
Die martensitische Phasenumwandlung ist insbesondere in Eisenlegierungen von
großer technologischer Relevanz [103]. Die industrielle Revolution zu Beginn des 20.
Jahrhunderts war nur durch die Entwicklung leistungsfähiger Stähle möglich. Dies
lässt sich auf die ausgezeichneten mechanischen Eigenschaften von kohlenstoffle-
gierten Stählen bezüglich ihrer Festigkeit und Verschleißbeständigkeit zurückführen
[103–106].
Aus diesen Gründen hat die Martensitforschung eine lange Tradition in der Ma-
terialwissenschaft. Die Grundlagen der Forschung stellen dabei Arbeiten von Adolf
Martens und Edgar Bain dar [107]. Um die Mechanismen der martensitischen Pha-
senumwandlung auf elementarer Ebene zu untersuchen, war es von Nöten, nicht
nur die in der Industrie verwendeten Kohlenstoffstähle zu untersuchen, sondern sich
auch einfacheren Modellmaterialien zu widmen, bei denen die Elementarprozesse
ähnlich ablaufen, sich allerdings experimentell einfacher erschließen. Als Modell-
material wurde auch schon in frühen Untersuchungen vielfach das Fe-Ni System
herangezogen, auch wenn die technologische Relevanz dieser Werkstoffgruppe, abge-
sehen von so genannten INVAR-Alloys mit einem Wärmeausdehnungskoeffizienten
von annähernd 0, relativ gering ist. Die grundlegenden Prinzipien, welche nachfol-
gend in Bezug zum Fe-Ni-System beschrieben werden, sind allerdings mit denen von
Kohlenstoffstählen in vielen Fällen vergleichbar.
Die mechanisch günstigen Eigenschaften des Martensits lassen sich zunächst auf
die besondere Mikrostruktur der Werkstoffe zurückführen. Martensitische Mikrostruk-
turen zeichnen sich durch ein sehr feinkörniges und teilweise als ”madelartiges” be-
schriebenes Gefüge aus. Die feine Kornstruktur ist aufgrund des Hall-Patch-Effekts
einer der Gründe für die mechanische Belastbarkeit martensitischer Werkstoffe. Das
Erscheinungsbild martensitischer Mikrostrukturen ist sehr vielfältig und detailreich,
was eine übergeordnete Klassifizierung schwierig macht [108]. Sie zeichnen sich durch
ein feines nadelartiges Gefüge aus, welches sich skalenübergreifend durch das Volu-
men zieht. Die Ausprägung der Mikrostruktur martensitischer Gefüge hängt in ers-
ter Linie von der Legierungszusammensetzung und den Umwandlungstemperaturen
des Materials ab [108]. In der Geschichte der Martensitforschung haben diese un-
terschiedlichen Typen des Martensits zu unterschiedlichen Nomenklaturen geführt,
was eine Verwirrung unter vielen beteiligten Forschern ausgelöst hat. Um diesem
Problem zu begegnen, haben Krauss und Marder [108] in einer Übersichtsarbeit die

34
2.4 Grundlagen des Martensit

verschiedenen Morphologien gegenüber gestellt und einen Versuch unternommen,


die Martensittypen auf zwei wesentliche Hauptgruppen zu reduzieren [108].
Die erste Hauptgruppe (Typ 1 Martensit) wird seitdem mit der Terminologie
”Plattenmartensit” und die zweite Hauptgruppe (Typ 2 Martensit) mit der Termino-
logie ”Lattenmartensit” beschrieben. Die beiden Typen unterscheiden sich hinsicht-
lich ihrer morphologischen Erscheinungsform und in Hinsicht der kristallographi-
schen Gegebenheiten, die bei der Entwicklung der Mikrostruktur maßgeblich sind.

Morphologie des Lattenmartensits: Der Lattenmartensit zeichnet sich durch


feine, parallel verlaufende Strukturen aus. Diese bilden auf einer übergeordneten
Skala zusammenhängende Bereiche, die man als Pakete, Blöcke [109,110], oder auch
englisch ”sheaves” bezeichnet [111]. Die kleinsten Untereinheiten dieser parallelen
Anordnung werden entweder als Nadeln [112,113], Zellen [114], Plättchen [115] oder
Latten [112] bezeichnet. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden die kleinsten Un-
tereinheiten des Lattenmartensits nun stringent als Latten bezeichnet. Die Latten
weisen typischerweise eine Breite von etwa 0,1µm bis hin zu einigen µm auf [108].
Außerdem weisen sie sehr hohe Versetzungsdichten im Bereich von 0,3 bis 0,9 ·1012
cm/cm auf [116, 117]. Während die genauen Zusammenhänge und der hierarchische
Aufbau der Mikrostruktur in der Anfangszeit der Martensitforschung noch relativ
unklar waren, haben modernere Methoden auf Basis der orientierungsabbildenden
Rasterelektronenmikroskopie zu einem besseren Verständnis geführt [118]. Mehrere
Latten mit sehr kleinen Misorientierungen zueinander fügen sich zu Sub-Blocks zu-
sammen. Eine Größenordnung darüber bilden zwei Sub-Blocks, die jeweils aus einer
Vielzahl von Latten mit annähernd der gleichen Orientierung bestehen, die nächst
größere Einheit der Blöcke. Jeweils drei unterschiedliche Blöcke bilden dann im Zu-
sammenhang die bereits erwähnten Pakete. Ein ehemaliges Austenitkorn kann in vier
verschiedene Pakete transformieren, wobei die Latten innerhalb der Pakete die glei-
che gemeinsame Habitusebene aufweisen [117]. Lattenmartensit tritt hauptsächlich
in Fe-Legierungen auf, die nur geringe Anteile an Legierungselementen, wie Kohlen-
stoff (C), Stickstoff (N), oder Nickel (Ni) aufweisen [108].

Morphologie des Plattenmartensits: Der Plattenmartensit weist eine von


der lattenmartensitischen Morphologie deutlich abweichende Mikrostruktur auf. Auf

35
der kleinsten Strukturebene spricht man hier von Martensitplatten, die mit einem
Winkel untereinander angeordnet sind und sich somit von der parallelen Erschei-
ungsform des Lattenmartensits deutlich unterscheiden. Die Martensitplatten durch-
spannen dabei das gesamte vorherige Austenitkorn und sind im Gegensatz zum
Latenmartensit nicht in Blöcke und Pakete aufgeteilt. Zwischen den V-förmig an-
geordneten Martensitplatten bleiben häufig ”Restaustenitzwickel” nach der Trans-
formation bestehen. Die Martensitplatten weisen häufig eine feine und definierte
Mittelrippe (engl.: ”midrib”) auf. Die Entstehung des Plattenmartensits verläuft
sprunghaft in mehreren Schüben. Die ersten Martensitplatten durchspannen das vor-
herige Austenitkorn und hinterlassen dabei kleine dreieckige Bereiche, die noch nicht
zum Martensit transformieren konnten und weiterhin in der austenitischen Kristall-
struktur vorliegen. Diese übrigbleibenden Bereiche werden auch ”Austenitzwickel”
genannt. Im späteren Verlauf der Transformation werden nun auch die restlichen
Volumenanteile umgewandelt. Die dabei entstehenden Martensitplatten sind we-
sentlich kleiner, als die Platten der ersten Generation. Aufgrund dieses Mechanis-
mus weist der Plattenmartensit eine große Streuung bezüglich der Kristallitgrößen
der Martensitplatten auf. Weiterhin ist die Umwandlung in Plattenmartensit mit
einer typischen topographischen Änderung an der Oberfläche des Kristalls verbun-
den. Dabei verformt sich die Oberfläche aufgrund der kollektiven Scherbewegung
ganzer Atomebenen und führt so zu einer zerklüfteten Oberfläche, was auch als
”Oberflächenrelief” bezeichnet wird. Die geometrischen Zusammenhänge des Ober-
flächenreliefs sind schematisch in Abbildung 2.19 dargestellt. Plattenmartensit tritt
vorwiegend in Fe-Legierungen mit hohen Anteilen an Legierungselementen auf. Zu
den bekannten Legierungssystemen des Plattenmartensits gehören Fe-C, Fe-N und
Fe-Ni Legierungen mit hohen Anteilen des jeweiligen Legierungselements [108].

36
2.4 Grundlagen des Martensit

Abbildung 2.19: Schematische Darstellung des beim Plattenmartensit auftreten-


den Oberflächenreliefs [119].

In Abbildung 2.20 sind die beiden Hauptgruppen der Martensitmorphologien in


lichtmikroskopischen Aufnahmen dargestellt [108,117]. Die lichtmikroskopische Auf-
nahme in Abbildung 2.20a stammt von einer Stahllegierung mit etwa 3.5 Massen-
prozent Mangan [117]. Die lichtmikroskopische Aufnahme in Abbildung 2.20b zeigt
eine Fe-Ni-Legierung mit 33 Atomprozent Nickel. Die zuvor beschriebenen Prinzipi-
en und Unterschiede zwischen diesen beiden Typen sind deutlich erkennbar.

Abbildung 2.20: Lichtmikroskopische Aufnahmen der unterschiedlichen Marten-


sitmorphologien. (a) Lattenmartensit in einem niedriglegierten
Manganstahl [117]. (b) Plattenmartensit in einer Fe-33Ni Legie-
rung [108].

37
Thermodynamik martensitischer Umwandlungen: Die martensitische Pha-
senumwandlung lässt sich auch auf einer thermodynamischen Basis betrachten, was
unter anderem die Interpretation der Umwandlungstemperaturen ermöglicht [7,120].
Der relevanteste thermodynamische Kennwert einer martenstischen Umwandlung
wird Martensitstart-Temperatur (MS ) genannt. Bei der Martensitstarttemperatur
beginnt die Umwandlung aus der Hochtemperaturphase Austenit in die Tieftempe-
raturphase Martensit. In der Praxis bedeutet dies, dass ein austenitischer Kristall so
lange herunter gekühlt werden muss, bis MS erreicht ist, wodurch dann die thermi-
sche Martensitumwandlung eingeleitet wird. Zur thermodynamischen Beschreibung
dieses Vorgangs wird die Gibbs Energie G herangezogen. Diese setzt sich zu einem
Teil aus einem Enthalpie- (H) und zum anderen Teil aus einem Entropieterm (G)
zusammen. Der formelmäßige Zusammenhang der Gibbs Energie lautet:

G=H −T ·S (2.6)

In Gleichung 2.6 ist zu erkennen, dass der Entropieterm mit der Temperatur T
skaliert. Bei höherer Temperatur ist der Anteil der Entropie also größer, als bei
tiefen Temperaturen. Auf die martensitische Phasenumwandlung bezogen bedeutet
dies, dass die Hochtemperaturphase Austenit eine höhere Entropie aufweist, als die
bei tieferen Temperaturen entstehende Phase Martensit. Da bei der Umwandlung
offensichtlich zwei Phasen beteiligt sind, muss die Gibbs Energie für beide Pha-
sen berücksichtigt werden. Ein zweiphasen System strebt immer den Zustand der
niedrigsten Gibbs Energie an. Um das Verhalten innerhalb des relevanten Tempera-
turbereichs der Umwandlungstemperaturen zu beschreiben, ist es möglich, die Gibbs
Energie näherungsweise linear für beide Phasen zu beschreiben. Der Zusammenhang
zwischen der Gibbs Energie G und der Enthalpie H in Abhänigigkeit zur Temperatur
T ist in Abbildung 2.21 schematisch dargestellt [121].

38
2.4 Grundlagen des Martensit

Abbildung 2.21: Darstellung der Gibbs Energie G in Abhängigkeit der Tempera-


tur T für die beiden Phasen Austenit und Martensit [121].

In Abbildung 2.21 ist im oberen Teil zu erkennen, dass der Enthalpieterm H, so-
wohl für die Austenit- (HA ) als auch für die Martensitphase (HM ) mit steigender
Temperatur zunehmen. Die Gibbs Energie, die zusätzlich den Anteil der Entropie
berücksichtigt, zeichnet sich dadurch aus, dass die G(T) Kurven für die beiden Pha-
sen eine unterschiedliche Steigung aufweisen. Dies liegt an dem höheren SA Wert für
Austenit im Vergleich zum Martensit. Die Gleichgewichtstemperatur T0 bezieht sich
auf diejenige Temperatur, bei welcher die Gibbs Energie für beide Phasen identisch
ist. Hier gilt:

∆G = GA − GM = 0 (2.7)

Oberhalb von T0 weist die Austenitphase die niedrigere Gibbs-Energie auf, wes-
halb sie bei hohen Temperaturen thermodynamisch stabil vorliegt. Unterhalb von T0
wird der Einfluss der Entropie geringer, sodass die Gibbs-Energie der Martensitphase

39
hier niedriger ist, als die der Austenitphase. Da das System Zustände der gerings-
ten Gibbs-Energie anstrebt, ergibt sich unterhalb von T0 eine Triebkraft, welche die
Martensittransformation voran treibt. In realen Systemen stellt sich allerdings nicht
sofort eine Phasentransformation ein, sobald T0 unterschritten wird. Zusätzlich muss
noch die Keimbildungsarbeit der Transformation überwunden werden. Dies wird in
diesem Zusammenhang auch als Unterkühlung bezeichnet. Daraus ergibt sich ein
∆T , also eine Temperaturdifferenz, die mindestens erreicht werden muss, bevor die
Transformation stattfinden kann. Kühlt man eine austenitische Probe immer wei-
ter ab, so muss zunächst die Gleichgewichtstemperatur unterschritten werden. Erst
bei der zuvor erwähnten Martensitstarttemperatur liegt eine ausreichend große Un-
terkühlung vor, damit die Transformation stattfinden kann. Da die Martensitpha-
se an der Temperatur MS bereits eine deutlich niedrigere Enthalpie aufweist, als
die zuvor bestehende Austenitphase, wird die Energiedifferenz ∆HAM in Form von
Wärme frei. Die Martensitumwandlung ist dadurch eine exotherme Reaktion, bei der
ein positiver Wärmestrom q̇ während der Reaktion aus der Probe austritt. Dies ist
im unteren Bereich der Abbildung 2.21 dargestellt. Die Transformation kommt bei
der Martensitfinish-Temperatur (MF ) schließlich zum erliegen. Bei weiterer Kühlung
unterhalb MF findet keine Umwandlung mehr statt. Die exotherme Natur der Mar-
tensitumwandlung kann herangezogen werden, um die Umwandlungstemperaturen
MS und MF experimentell mittels des Differenzkalorimentrie-Verfahrens (engl. Dif-
ferential Scanning Calorimetry: DSC) zu bestimmen. Die genaue Funktionsweise des
DSC-Verfahrens wird in Kapitel 4.4 genauer beschreiben

40
2.5 Kristallographie des Martensits

2.5 Kristallographie des Martensits


Die Besonderheit der martensitischen Phasenumwandlung liegt darin, dass es sich
dabei um eine diffusionslose Umwandlung handelt. Während der Umwandlung be-
halten alle Atome die gleichen Nachbarschaftsverhältnisse und es findet kein Stoff-
transportstrom statt [105]. Stattdessen wird die Umwandlung durch kollektive Scher-
bewegungen entlang spezifischer Kristallebenen realisiert. Dadurch entsteht eine
komplexe Mikrostruktur, die sich durch wiederholende und skalierte Muster entlang
paralleler Linien ausrichtet. Durch diese besondere Art der Umwandlung kommt es
ebenfalls zu strikten Gesetzmäßigkeiten, welche den Zusammenhang zwischen der
Orientierung der Austenitphase und der Martensitphase beschreiben. In diesem Zu-
sammenhang wird unter dem Begriff ”Orientierungsbeziehung” (engl.: Orientation
Relationship, OR) die geometrische Verknüpfung der Austenitorientierung mit den
enstehenden Martensitvarianten verstanden [117, 122, 123]. Unter dem Begriff der
”Martensitvariante” versteht man die kleinste Einheit der polykristallinen Struk-
tur martensitischer Gefüge. Je nach morphologischer Ausprägung entspricht eine
Martensitvariante einer der parallelen Latten im Lattenmartensit, oder aber einer
der zueinander verkippten Platten im Falle des Plattenmartensits. In Fe-Basis Le-
gierungen besitzt die Austenitphase eine kubisch-flächenzentrierte Kristallstruktur,
während die Martensitphase eine tetragonal verzerrte raumzentrierte Kristallstruk-
tur aufweist. Im Falle von Fe-Ni-Legierungen ist die tetragonale Verzerrung so ge-
ring, dass der Martensit annähernd als kubisch-raumzentrierte Phase beschrieben
werden kann. Die Elongation in z-Richtung kann in erster Näherung vernachlässigt
werden, da sie insbesondere mit EBSD-Verfahren nicht aufgelöst werden kann. Zur
kristallographischen Beschreibung der martensitischen Phasenumwandlung im Fe-
Ni-System, zieht man somit vorwiegend eine Umwandlung eines kfz-Gitters in ein
krz-Gitter in Erwägung.
Die ersten Überlegungen zu einer möglichen OR wurde von Bain entwickelt und ist
seitdem als Bain-Mechanismus bekannt. Bain stellte fest, dass ein tetragonal verzerr-
tes krz-Gitter bereits im kfz-Gitter existiert, wenn eine einfache Koordinatentrans-
formation durch eine 45◦ -Drehung um eine der drei Hauptachsen durchgeführt wird.
Ein kfz-Gitter ist somit äquivalent zu einem tetragonal verzerrten krz-Gitter, wobei
eine Unterscheidung nur durch die zuvor definierten Achsen möglich ist. In dieser rein
geometrischen Überlegung kann eine Transformation vom kfz- zum krz-Gitter statt-
finden, indem lediglich eine homogene Stauchung in eine der drei Hauptrichtung und

41
eine Dehnung in die beiden anderen Richtungen stattfindet. Der Bain-Mechanismus
ist schematisch in Abbildung 2.22 dargestellt. Im Abbildungsteil 2.22a sind die drei
möglichen tetragonal verzerrten krz Einheitszellen in einer kfz Umgebung, bestehend
aus zwei Einheitszellen, erkennbar. Es wird deutlich, dass lediglich eine Umdefini-
tion der Achsen nötig ist, um ein kfz-Gitter als tetragonal verzerrtes krz-Gitter
zu beschreiben. Auf der Grundlage dieser geometrischen Betrachtung, würden drei
unterscheidbare Martensitvarianten auftreten, deren Orientierungen in Abbildung
2.22b als rote, grüne und blaue [100] Pole in einer Polfigur abgebildet sind.

Abbildung 2.22: Drei mögliche Martensitvarianten nach Bain. a) Schematische


Darstellung der kristallographischen Zusammenhänge. b) Orien-
tierungsbeziehung dargestellt als Polfigur.

Mathematisch lässt sich die Bain-Beziehung durch parallele Richtungen der beiden
beteiligten Phasen Austenit und Martensit wie folgt beschreiben [107]:

{001}γ k{001}α0 {110}γ k{100}α0 (2.8)

Aus der Gleichung 2.8 geht hervor, dass jeweils eine Hauptachse der ursprünglichen
Austenitphase erhalten bleibt, während die Richtungen des Typs {110} zu den
neuen Hauptachsen des Typs {100} umdefiniert werden. Experimentelle Ergeb-
nisse haben später jedoch gezeigt, dass der von Bain vorgeschlagene Mechanis-
mus nicht mit der tatsächlich gemessenen Orientierungsbeziehung in Fe-Legierungen
übereinstimmt [8,122,124–126]. Stattdessen wurden andere Zusammenhänge mittels
Röntgenbeugung gefunden, die ebenfalls durch niedrig indizierte parallele Richtun-

42
2.5 Kristallographie des Martensits

gen ausgedrückt werden können. Dabei schienen zwei Hauptgruppen der OR für
jeweils unterschiedliche Legierungssysteme zu existieren. Für den Fall des Platten-
martensits wurde die seither so genannte ”Nishiyama-Wassermann” (NW) OR ge-
funden, währende für lattenmartensitische Gefüge die ”Kurdjomov-Sachs” (KS) OR
vorgeschlagen wurde. Diese ORs lassen sich wie folgt mathematisch ausdrücken.
Die Nishiyama-Wassermann OR wird dabei durch folgende parallele Richtungen
ausgedrückt [125, 127]:

{111}γ k{110}α0 {112}γ k{110}α0 (2.9)

Und die Kurdjumov-Sachs OR entspricht folgender Funktionsvorschrift [128]:

{111}γ k{110}α0 {110}γ k{111}α0 (2.10)

Die durch niedrig indizierte parallele Richtungen beschriebenen ORs NW und KS


ergeben eine höhere Anzahl an möglichen Varianten. Im Falle der NW OR ergeben
sich 12 mögliche Martensitvarianten, während die KS OR in 24 kristallographi-
sche Martensitvarianten mündet. Schon zu beginn der Martensitforschung wurden
allerdings bereits kleine Abweichungen von den vorgeschlagenen ORs beobachtet.
Zusätzlich wurde deshalb die ”Greninger-Troiano” (GT) [124] OR vorgeschlagen,
die Nahe an der KS OR liegt, allerdings kleine Abweichungen dazu aufweist. Die
GT OR liegt zwischen den beiden Grenzfällen der NW und KS OR. Dabei ist eine
{111} Richtung des Austenits annähernd parallel zur {110} Richtung des Martensits
und es existiert eine Abweichung von 2.5◦ +- 2◦ zur perfekten Parallelität zwischen
einer {110} Richtung des Austenits und einer {111} Richtung des Martensits. Die
GT-OR kann man sich somit als eine modifzierte Version der KS-OR vorstellen.
Die Orientierungsbeziehungen NW und KS sind in Abbildung 2.23 auf einer {001}-
Polfigur abgebildet. In Abbildungsteil 2.23a sind die 12 möglichen NW Varianten
dargestellt, während Abbildungsteil 2.23b die 24 möglichen Varianten nach KS zeigt.
Die Polfiguren wurden so ausgerichtet, dass die Hauptachsen der vorherigen Austeni-
torientierung mit den Hauptachsen der Polfigur zusammenfallen. Dies bedeutet, dass
die [100]-Richtung des Austenits parallel zur x-Achse, die [010]-Richtung parallel zur
y-Achse und die [001]-Richtung parallel zur z-Achse der Polfigur liegen. Im Vergleich
der in Abbildung 2.22b dargestellten Polfigur der 3 möglichen Bain-Varianten, fällt

43
auf, dass sowohl die NW als auch die KS Varianten nahe am Bain Mechanismus
liegen. Zusätzlich kommt es aber zu kleinen Rotationen aus der Bain-Beziehung
heraus. Da experimentell aber ebenfalls Abweichungen zu den idealen NW-, KS-
und GT-ORs gefunden wurden, wurde mit der PTMT ein phänomenologisches Mo-
dell entwickelt, welches das Spektrum an unterschiedlichen ORs aus geoemtrischen
Überlegungen heraus in Abhängigkeit nur der Gitterparameter der Austenit- und
Martensitphase vorhersagen kann.

Abbildung 2.23: Orientierungsbeziehungen in Fe-Basis-Legierungen. (a)


Nishiyama-Wassermann OR [125, 127]. (b) Kurdjomov-Sachs
OR [128].

Phänomenologische Theorie der martensitischen Phasentransforma-


tion: Die phänomenologische Theorie der martensitischen Phasentransformation
(PTMT) beschreibt eine mathematische Methode, um die kristallographischen Um-
klappvorgänge, welche die martensitische Phasenumwandlung charakterisieren, an-
hand einiger einfacher Grundannahmen zu modellieren. Zu den Grundannahmen
gehört im ersten Schritt die von Bain vorgeschlagene Orientierungsbeziehung mit-
samt der Bainverformungen, die ein kfz-Gitter formal in ein krz-Gitter überführen.
Zusätzlich wird nun aber eine weitere Bedingung aufgestellt, welche beinhaltet, dass
mindestens eine unrotierte und unverformte Ebene während der Transformation er-
halten bleiben muss, die einer kristallographisch passenden Grenzfläche zwischen
Austenit und Martensit entspricht. Diese Ebene wird auch Habitusebene genannt.

44
2.5 Kristallographie des Martensits

Abbildung 2.24: Darstellung der cones of unextended lines bei der Bain-
Transformation (a) Die Bain-Verzerrungen überführen eine Ku-
gelform im kfz-Austenitgitter in einen Ellipsoiden im krz-Gitter
des Martensits. (b) Darstellung der initial und final cones of un-
extended lines auf einer Polfigur. Die (101)-Scherebene schneidet
die cones of unextended lines. (c) Dreidimensionale Darstellung
der Bain-Verzerunngen und der cones of unextended Lines. Der
blau markierte Punkt wird auf den roten Punkt überführt. Dabei
bleibt die Länge seines Ortsvektors während der Transformation
invariant.

Zu den weiteren Bedingungen der PTMT gehört ein Verformungsmechanismus,


der durch Versetzungs- oder Zwillingsplastizität umgesetzt wird und ebenfalls kris-
tallographisch definiert wird. Dabei wird üblicherweise ein Gleit- bzw. Zwillings-

45
system {101}{−101} angenommen. Mithilfe dieser einschränkenden Bedingungen
können nun Transformationsmatrizen gefunden werden, die ein kfz-Gitter in ein
krz-Gitter umwandeln und gleichzeitig die geforderten Bedingungen erfüllen. Im
Folgenden wird auf einige Rechenschritte zur Lösung der PTMT-Gleichungen ein-
gegangen, die aus einem Lehrbuch von Wayman abgeleitet wurden [129].
Ausgangspunkt der Überlegungen stellt der Bain-Mechanismus dar. Dazu gehört
zunächst eine Koordinatentransformation, wie sie bereits in Abbildung 2.22 darge-
stellt ist. Zusätzlich wird nun die Stauchung in eine der drei Hauptrichtungen und
die Dehnung in die anderen beiden Hauptrichtungen berücksichtigt. Dazu stellt man
sich eine unverformte Kugel vor, die das kfz-Gitter der Austenitphase repräsentiert
(blaue Kugel in Abbildung 2.24c) Die Bain-Verformungen überführen diese Kugel
nun in einen Elipsoiden, wie er in Abbildung 2.24c rot dargestellt ist. In Abbil-
dung 2.24a wird die Bain-Verformung in der Seitenansicht gezeigt. Der durch die
Verformung erzeugt Ellipsoid weist eine Schnittlinie mit der ursprünglichen Kugel
auf. Diese ist in Abbildung 2.24a mit den Punkten A′ und B ′ gekennzeichnet. Die
Schnittmenge zwischen der Kugel und dem Ellipsoiden entspricht einem Kegel, für
den die Länge aller Ursprungsvektoren invariant bleibt. So werden die Punkte A
und B auf A′ und B ′ transformiert, wobei ihre Länge unverändert bleibt, sich aber
ihre Ausrichtung im Raum verändert. Der Kegel, der die Punkte A und B beinhal-
tet wird im englischen als ”initial cone of unextended lines” bezeichnet, während
der Kegel, der durch A′ und B ′ definiert ist, als ”final cone of unextended lines”
bezeichnet wird. Unter der Ranbedingung einer (101) Scherebene mit einer (-101)
Scherrichtung, ergeben sich die ausgezeichneten Punkte x1 und x2 für eine invari-
ante Linie und n1 und n2 für eine invariante Ebenennormale. Dies ist in Abbildung
2.24b als Polfigur dargestellt. Abbildung 2.24c zeigt schließlich eine dreidimensiona-
le Darstellung der Ausgangskugel (blau) und des Bain-Ellipsoiden (rot). Die blaue
Kreiskalotte entspricht der initial cone of unextended lines und die rote Kreiskalot-
te die final cone of unextended lines. Ebenfalls sind die Punkte x1 (blau) und x′1
(rot) abgebildet. Dies stellt Vektoren dar, dessen Länge durch die Bain-Verzerrungen
invariant bleiben.
In einer ersten Überlegung wäre es nun möglich, eine erste Bedingung der Marten-
sittransformation zu erfüllen. Durch die Applikation einer Starrkörperrotation ließe
sich der Punkt x′1 wieder auf den Punkt x1 rotieren, Abbildung 2.25.

46
2.5 Kristallographie des Martensits

Abbildung 2.25: Erfüllung der Bedingung einer invarianten Linie für die kfz zu krz
Kristallumwandlung durch Anwendung des Bain-Mechanismus
mit anschließender Starrkörperrotation.

Es ist erkennbar, dass eine geeignete Drehung des Bain-Ellipsoiden den roten
Punkt x′1 wieder auf seine Ausgangsposition x1 zurück transformiert (blauer Punkt
und grüne Raute in Abbildung 2.25). Hier ergibt sich allerdings das Problem, dass
die makroskopische Form des früheren Austenits ebenfalls verändert wird, was ex-
perimentellen Beobachten widerspricht. Abbildung 2.26 zeigt diese Problemematik
in einem schematischen Schaubild. Eine Starrkörperrotation (engl. ridig body rota-
tion, RBR), wie sie in Abbildung 2.25 dargestellt wird, transformiert den Austenit
zwar in die korrekte Kristallstruktur des Martensits, allerdings wird die Invarianz
der makroskopischen Form mit dieser Art der Transformation verletzt. Dieses Pro-
blem wurde im Rahmen der PTMT so gelöst, dass eine zusätzliche inhomogene
Verformung angenommen wird, welche die Kristallstruktur unangetastet lässt, je-
doch die ursprüngliche makroskopische Form wieder herstellt. Im Folgenden werden
die einzelnen Rechenschritte näher erläutert, die zu einer gültigen Transformations-
vorschrift führen. Dabei wird ein ebenfalls eine für diese Arbeit erstellte MATLAB
Implementierung anhand eines konkreten Zahlenbeispiels präsentiert. Die Berech-
nungen beziehen sich auf die Transformation einer Fe-31wt.%Ni-Legierungen und

47
dem Rechenansatz, der von Bowles und Mackenzie vorgeschlagen wurde und in [129]
zusammenfassend beschrieben wird.

Abbildung 2.26: Schematische Darstellung der PTMT. Durch eine zusätzliche in-
homogene Verformung durch ein definiertes Verformungsmodell
kann sowohl die korrekte Gitterstruktur als auch die korrekte
makroskopische Form umgesetzt werden. Die inhomogene Ver-
formung kann durch Versetzungsgleiten, oder durch Zwillingsbil-
dung erfolgen.

Ausgangspunkt der PTMT stellen ebenfalls die Bain-Verformung und die cones of
unextended lines dar, wie sie in Abbildung 2.24 gezeigt werden. Dazu muss zunächst
die Bain-Korrespondenz und die Bain-Verformung als Matrix ausgedrückt werden.
Die Bain-Korrespondenz (bCf ) ergibt sich durch Koordinatentransformation zu:

48
2.5 Kristallographie des Martensits

 
1 −1 0
(bCf ) = 1 1 0 (2.11)
 

0 0 1

Anschließend wird die Bain-Verformung (f Bf ) berechnet. Hierzu werden die Git-


terkonstanten des Austenits und des Martensits heran gezogen. In diesem Beispiel
gehen wir von einer Gitterkonstanten des Austenits von a0 = 3, 591Å und einer
Gitterkonstanten des Martensits von a = 2, 875Å aus. Daraus ergibt sich:


2a
η 1 = η2 = (2.12)
a0
a
η3 = (2.13)
a0
 
η1 0 0
(f Bf ) =  0 η2 0 (2.14)
 

0 0 η3

Für spätere Rechenschritte wird zudem das Quadrat der (f Bf ) Matrix benötigt,
sowie auch die Inverse und das Quadrat der Inversen. Die entsprechenden Rechen-
schritte wurden entsprechend der Abbildung 2.27 in Matlab implementiert. Die Re-
sultate des konkreten Zahlenbeispiels werden jeweils auf der rechten Seite gezeigt,
während der Quelltext zur Berechnung auf der linken Seite abgebildet ist.
Im nächsten Schritt müssen die invarianten Linien xi berechnet werden. Aus der
Wahl des (101)(-101) Systems für die Gitterinvariante Scherung ergibt sich folgendes
Gleichungssystem für xi :

x21 + x22 + x23 = 1 (2.15)


x1 + x3 = 0
(η1 − 1)x21 + (η2 − 1)x22 + (η3 − 1)x23 = 0

49
1 %%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%
2 %% W e c h s l e r −L i e b e r m a n n−Read Method
3 %% ” I n t r o d u c t i o n t o t h e C r y s t a l l o g r a p h y
4 %% o f M a r t e n s i t e T r a n s f o r m a t i o n ”
5 %% From C . M. Wayman
6 %% M a c m i l l a n S e r i e s i n M a t e r i a l s S c i e n c e
7 %% 1 9 6 2
8 %%
9 %% Coded b y P a s c a l Thome , M. Sc .
10 %% Ruhr U n i v e r s i t a e t Bochum , 2 0 1 7
11 %%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%%
12
13 %% S e t t i n g s and I n p u t Data
14 % l a t t i c e parameters f c c & bcc
15 a0 = 3 . 5 9 1 ; % l a t t i c e p a r a m e t e r f c c
16 a = 2 . 8 7 5 ; %l a t t i c e parameter bcc
17 % s p l i p plane & direction
18 splanef = [1 0 1 ] ; % s l i p plane
19 s d i r f = [ −1 0 1 ] ; % slip direction
20
21 %% C a l c u l a t e b C f and f B f
22 % Bain c o r r e s p o n d e n c e m a t r i x
23 bCf = [ 1 , −1, 0 ; . . .
24 1, 1 , 0; . . .
25 0, 0, 1];
26 % C a l c u l a t e Bain d i s t o r t i o n s
27 e t a 1 = s q r t ( 2 ) ∗ a / a0 ;
28 e t a 2 = s q r t ( 2 ) ∗ a / a0 ;
29 e t a 3 = a / a0 ;
30 % I n i t i a l i z e d i s t o r t i o n matrix
31 fBf = [ eta1 , 0, 0; . . .
32 0 , eta2 , 0; . . .
33 0, 0 , eta3 ]
34 % Calc . i n v e r s e & square matrices
35 f B f 2 = f B f ˆ2
36 fBfmin = inv ( f B f )
37 fBfmin2 = inv ( fB f2 )

Abbildung 2.27: Skript zur Berechnung der Variablen


2 −1 −2
(bCf ), (f Bf ), (f Bf ), (f Bf ) und (f Bf ). Die Ausgabe
im Command Window zeigt die Werte für das zu Grunde
liegende Zahlenbeispiel.

Analog dazu kann ein Gleichungssystem für die invarianten Ebenennormalen ni


aufgestellt werden:

n21 + n22 + n23 = 1 (2.16)


n 1 + n3 = 0
     
1 2 1 2 1
2
− 1 x1 + 2
− 1 x1 + 2
− 1 x21 = 0
η1 η2 η3

Der Quellcode zur Lösung der Gleichungssysteme und die konkreten Zahlenwerte
für das hier gewählte Beispiel sind in Abbildung 2.28 abgebildet.

50
2.5 Kristallographie des Martensits

41 %% C a l c u l a t e x 1 & x 2 a n a l y t i c a l l y
42 % i n i t i a l i z e symbolic variables
43 syms x1 x2 x3
44 x i n = [ x1 x2 x3 ] ;
45 % s e t up e q u a t i o n s 1 , 2 , 3 f o r x i
46 eqX1 = norm ( x i n ) == 1 ;
47 eqX2 = d o t ( x i n , s p l a n e f ) == 0 ;
48 eqX3 = ( nu1 ˆ2 −1) ∗ x1 ˆ2 + ( nu2 ˆ2 −1) . . .
49 ∗ x2 ˆ2 + ( nu3 ˆ2 −1) ∗ x3 ˆ2 == 0 ;
50 % solve set of equations
51 r e s X I = s o l v e ( eqX1 , eqX2 , eqX3 ) ;
52 % extract result
53 XI = d o u b l e ( [ r e s X I . x1 r e s X I . x2 . . .
54 r e s X I . x3 ] ’ )
55 % choose s p e c i f i c s o l u t i o n
56 x i = XI ( : , 2 )
57
58 %% C a l c u l a t e n1 & n2 a n a l y t i c a l l y
59 % i n i t i a l i z e symbolic variables
60 syms n1 n2 n3
61 n i n = [ n1 n2 n3 ] ;
62 % s e t up e q u a t i o n s 1 , 2 , 3 f o r n i
63 eqN1 = norm ( n i n ) == 1 ;
64 eqN2 = d o t ( ni n , s d i r f ) == 0 ;
65 eqN3 = ( nu1ˆ−2−1) ∗ n1 ˆ2 + ( nu2ˆ−2−1) . . .
66 ∗ n2 ˆ2 + ( nu3ˆ−2−1) ∗ n3 ˆ2 == 0 ;
67 % solve set of equations
68 r e s N I = s o l v e ( eqN1 , eqN2 , eqN3 ) ;
69 % extract result
70 NI = d o u b l e ( [ r e s N I . n1 r e s N I . n2 . . .
71 r e s N I . n3 ] ’ )
72 % choose s p e c i f i c s o l u t i o n
73 n i = NI ( : , 2 )

Abbildung 2.28: Skript zur Lösung der Gleichungssysteme 2.15 und 2.16. Die Aus-
gabe im Command Window zeigt die Werte für das zu Grunde
liegende Zahlenbeispiel.

Für den nächsten Schritt wird die Scherebene p2 als normierte Ebenennormale
herangezogen. Daraus lassen sich zwei Rotationsmatrizen R1 und R2′ ableiten:

 
R1 = (x1 ) (p2 ) (x1 × p2 ) (2.17)
 
((f Bf )x1 )T
  T 
(p02 (f Bf )−1
 √ 0
 
R2′ =  (2.18)

(p2 (f Bf ) p2
−2 
 T 
(p0 (f Bf )−1
 
x1 √ 20
(p2 (f Bf )
−2 p2

Es folgt die Berechnung der Verzerungsmatrix (iSi) durch Matrixmultiplikation


der zuvor bestimmten Matrizen (f Bf ), R1 und R2′ . Dabei entsteht ein unterdefi-
niertes Gleichungssystem, welches durch einen mathematischen Trick gelöst werden
kann. Dazu werden 4 unbekannte Variablen durch Sinus- und Kosinus-Ausdrücke
in Abhängigkeit eines Winkel β ausgedrückt. Der Winkel β beschreibt den Winkel,
durch den die Ebene mit der Normalen p′2 durch eine später berechnete Verzerrung

51
(f Sf ) rotiert wird. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verzerrungsmatrix
(iSi) die invarianten Ebenennormalen auf sich selbst abbildet, ergibt sich folgendes
Gleichungssystem, welches nach sin(β) und cos(β) aufgelöst werden kann:

 
1 0 0
(iSi) = 0 cos(β) −sin(β) (R2′ )(f Bf )(R1 ) (2.19)
 

0 sin(β) cos(β)
n′1 (iSi) = n′1

Sobald die Werte für sin(β) und cos(β) gefunden wurden, ist die Verzerrungsma-
trix (iSi) vollständig bekannt. Aus (iSi) lässt sich nun durch die Anwendung einer
Ähnlichkeitstransformation die komplette Transformationsmatrix (f Sf ) ermitteln:

(f Sf ) = R1 (iSi)R2′ (2.20)

Aus der finalen Transformationsmatrix (f Sf ) lassen sich nun relevante geome-


trische Kennwerte der Transformation ableiten. So wird im folgenden die Habitu-
sebenennormale (p′1 ), die Richtung (d1 ) und Magnitude (m1 ) der Formänderung und
schließlich die Richtung (d1 ) und der Winkel (α) der invarianten Scherung berech-
net. Dazu wird zusätzlich die Variable d2 benötigt, welche zunächst als normierter
Vektor der Scherrichtung (-1 0 1) definiert wird und dessen Länge anschließend neu
kalkuliert wird. Die Implementierung dieser Rechenschritte und die numerischen
Ergebnisse sind in Abbildung 2.29 dargestellt.

p′2 (f Sf )−1 − p′2


p′1 = (2.21)
|p′2 (f Sf )−1 − p′2 |
(f Sf )d2 − d2
d1 = (2.22)
p′1 d2
m1 = |d1 | (2.23)
T
y = ((010) × p′1 ) (2.24)
y − (f Sf )−1 y
d2 = ′ (2.25)
p1 (f Sf )−1 y
α = arctan(|d2 |) (2.26)

52
2.5 Kristallographie des Martensits

74 % Shear plane 2
75 p2 = normc ( s p l a n e f ’ ) ;
76 v1 = c r o s s ( x i , p2 ) ;
77 % R o t a t i o n M a t r i x R1
78 R1 = [ x i , p2 , v1 ] ;
79 % fBf ∗ xi
80 p 2 = normr ( p2 ’ ∗ ( f B f ˆ−1) ) ’ ;
81 v = c r o s s ( fBf ∗ xi , p2 ) ;
82 R2t = [ ( f B f ∗ x i ) ’ ; . . .
83 p2 ’ ; . . .
84 v’];
85 i S 0 i = R2t ∗ f B f ∗ R1 ;
86 t = R1 ’ ∗ n i ;
87
88 %% i n i t i a l i z e s y m b o l i c v a r i a b l e s
89 syms cosB s i n B
90 rotM = [ 1 , 0, 0; . . .
91 0 , cosB , −s i n B ; . . .
92 0 , sinB , cosB ] ;
93 i S i = rotM ∗ i S 0 i ;
94 iSi (2:3 ,1) = 0;
95 e = t ( : , 1 ) ’ ∗ i S i == t ( : , 1 ) ’ ;
96 E1 = s o l v e ( e , cosB , s i n B ) ;
97 cosB = d o u b l e ( E1 . cosB ) ;
98 s i n B = d o u b l e ( E1 . s i n B ) ;
99 % Evaluate i S i Matrix
100 i S i = eval ( i S i ) ;
101 % C a l c u l a t e Matrix f S f
102 f S f = R1 ∗ i S i ∗ R1 ’
103 % inv ( fSf )
104 % H a b i t p l a n e normal p 1 t
105 p 1 t = normr ( p2 ’ ∗ i n v ( f S f ) − p2 ’ )
106 d2 = s d i r f ’ ;
107 d2 = d2 / norm ( d2 ) ;
108 % Direction of shape deformation
109 d1 = ( f S f ∗ d2 − d2 ) / ( p 1 t ∗ d2 )
110 % Magnitude o f shape deformation
111 m1 = norm ( d1 )
112 y = c r o s s ( [ 0 1 0 ] , p1t ) ’ ;
113 % Lattice invariant shear
114 d2 = ( y − i n v ( f S f ) ∗y ) / ( p2 ’ ∗ i n v ( f S f )
∗ y)
115 % S h e a r a n g l e a l p h a
116 a l p h a = a t a n ( norm ( d2 ) / 2 ) / d e g r e e

Abbildung 2.29: Skript zur Berechnung der vollständigen Transformationsmatrix


(f Sf ) der Habitusebene p1t, der Richtung der homogenen Sche-
rung d1 , der Magnitude der homogenen Scherung m1 , der Rich-
tung der gitterinvarianten Verformung d2 und des Scherwinkels
α. Die Ausgabe im Command Window zeigt die konkreten Zah-
lenwerte für das zu Grunde liegende Zahlenbeispiel.

Zum besseren Verständnis wurden einige ausgewählte Rechenschritte der PTMT


als dreidimensionale Visualisierungen gerendert. In Abbildung 2.30 sind die aus
der PTMT abgeleiteten Verformungstransformationen dargestellt. Durch die Bain-
Verzerrungen (Abbildungen 2.22 und 2.24) wird eine Einheitskugel im Austenitgitter
zunächst auf den Bain-Ellipsoiden abgebildet, roter Ellipsoid in Abbildung 2.24)c.
Dadurch wird der blau markierte Vektor der invarianten Ebenennormalen n1 auf
die rot markierte Raute auf dem Bain-Ellipsoiden transformiert, Abbildung 2.30a.
Die Transformationsmatrix (f Sf ) beschreibt eine homogene Scherung, die den Vek-
tor n1 wieder auf seine ursprüngliche Position transformiert. Dadurch ist die kor-
rekte Kristallstruktur des Martensits erreicht und die Bedingung einer invarianten

53
Ebenennormalen erfüllt. Allerdings ist die makroskopische Form hier nicht invari-
ant, sodass eine zweite, inhomogene Verformung angenommen werden muss, welche
in der Realität entweder durch Versetzungs- oder Zwillingsplastizität akkomodiert
wird. Abbildung 2.30b zeigt das Verzerrungsfeld der inhomogenen Verformung als
schwarzen Ellipsoiden. Es ist zu beachten, dass dieses Verzerrungsfeld nur auf die
makroskopische Form angewendet wird, wobei das Martensitgitter und die Orien-
tierung invariant bleibt.

Abbildung 2.30: Visualisierung der Verformungs- und Schermechanismen, die der


PTMT zu Grunde liegen. (a) Homogene Scherung des Bain-
Ellipsoiden. Der rote Punkt entspricht dem Vektor n1 im Auste-
nit Kristallgitter. Die Bain-Verformungen transformieren n1 auf
die rot markierte Position n′1 auf dem Bain-Ellipsoiden. Die Ma-
trix (f Sf ) schert den Bain-Elipsoiden so, dass n′1 wieder auf n1
abgebildet wird. Die Scherung wird durch das schief liegende Git-
ternetz visualisiert. (b) Zusätzlich zur homogenen Scherung ist
die inhomogene Verformung (f Sf )−1 als Verzerrungsfeld schwarz
abgebildet. Das schwarze Verzerrungsfeld beschreibt eine gitte-
rinvariante Verformung, wodurch die makroskopische Form wie-
derhergestellt wird.

Wenn nun das in Abbildung 2.30b schwarz dargestellte Verzerrungsfeld auf den
grün dargestellten, abgescherten Bain-Ellipsoiden angewendet wird, ergibt sich dar-
aus das finale Resultat der PTMT-Kalkulationen. Abbildung 2.31 zeigt das Ergebnis
aller vorangegangenen Rechenschritte. Der grün dargestellte Ellipsoid aus Abbil-

54
2.5 Kristallographie des Martensits

dung 2.30a und b wird durch das Verzerrungsfeld (schwarzer Ellipsiod in Abbildung
2.30b) wieder auf eine Kugel transformiert. Diese Kugel ist allerdings in Relation zur
vorherigen Austenitorientierung leicht verdreht. Die Verdrehung beschreibt die aus
der PTMT abgeleitete OR. Zur besseren Sichtbarkeit wurden die Bain-Hauptachsen
schwarz dargestellt und die tatsächlichen Achsen des Martensits in blau. Die OR
kann in diesem Fall durch drei Winkel ausgedrückt werden (ξ1 ,ξ2 ,ξ3 ). Dies sind die
Winkel zwischen den Bain-Hauptsachen und den tatsächlichen Hauptachsen des
Martensit-Kristallgitters. Auf die genaue Definition der ξ Winkel wird in Kapitel
4.2 näher eingegangen. Die Berechnung und die Ergebnisse der aus der PTMT ab-
geleiteten OR sind in Abbildung 2.32 dargestellt.

Abbildung 2.31: Finales Resultat der PTMT-Kalkulationen. Die blau dargestell-


te Sphäre entspricht dem Martensit-Kristall, der zunächst den
Bain-Verformungen, dann einer homogenen Scherung und an-
schließend einer inhomogenen Verformung unterworfen wurde.
Im Endergebnis wurde sowohl die korrekte martensitische Kris-
tallstruktur, als auch die makroskopische Form erhalten. Die
Verkippung aus der Bain Korrespondenz (Bain-Hauptachsen
schwarz dargestellt) entspricht der aus der PTMT abgeleiteten
OR.

55
117 %% C a l c u l a t e OR ( k s i v a l u e s )
118 b a i n 1 = [ 1 −1 0 ] ∗ i n v ( f S f ) ;
119 b a i n 2 = [ 1 1 0 ] ∗ i n v ( f S f ) ;
120 b a i n 3 = [ 0 0 1 ] ∗ i n v ( f S f ) ;
121 % D e r i v e k s i v a l u e s
122 k s i ( 1 ) = a n g l e ( v e c t o r 3 d ( b a i n 1 ) ,...
123 v e c t o r 3 d ( [ 1 −1 0 ] ) ) / d e g r e e ;
124 k s i ( 2 ) = a n g l e ( v e c t o r 3 d ( b a i n 2 ) ,...
125 vector3d ( [ 1 1 0 ] ) ) / degree ;
126 k s i ( 3 ) = a n g l e ( v e c t o r 3 d ( b a i n 3 ) ,...
127 vector3d ( [ 0 0 1 ] ) ) / degree

Abbildung 2.32: Skript zur Berechnung der OR, welche durch drei ξ Winkel para-
metrisiert wurde. Rechts sind die konkreten Ergebnisse des Zah-
lenbeispiels zu sehen.

56
3 Aufgabenstellung
In der vorliegenden Arbeit soll gezeigt werden, wie die orientierungsabbildende Ras-
terelektronenmikroskopie ( das EBSD-Verfahren“) eingesetzt und erweitern werden

kann, um zu einem besseren Verständnis von Mikrostrukturen beizutragen. Die Ar-
beiten sollen beispielhaft an zwei unterschiedlichen Werkstoffklassen durchgeführt
werden, den einkristallinen Nickelbasis-Superlegierungen und Fe-Basis Modell-Legie-
rungen, deren Gefüge durch die martensitische Umwandlung geprägt ist. Die erste
Aufgabenstellung steht im Zusammenhang mit Fragen, die sich aus dem Sonderfor-
schungsbereich/Transregio 103 ergeben haben. Die zweite Stoßrichtung greift offene
Fragen auf, die sich auf die Bildung von Martensit in Fe-Basis-Legierungen beziehen
und die den Grundlagen der Stahlforschung zuzurechnen sind.
Im Falle der einkristallinen Superlegierungen geht es darum, die Guss-Struktur
genauer zu beschreiben. Bei Erstarren eines technischen Einkristalls wachsen meh-
rere Dendriten, die im Idealfall die gleiche Orientierung aufweisen. In der Realität
sind diese aber leicht gegeneinander verkippt. Diese Verkippungen sind so klein,
dass man mit der Hough-basierten Standard-EBSD-Methode an die Grenzen der
Auflösung stößt. Hier soll ein neues korrelatives Verfahren entwickelt und erprobt
werden, welches gestattet, auch Verkippungen < 0,1◦ aufzulösen. Dabei soll sowohl
eine neue Art der kristallographischen Analyse als auch eine optimierte farbkodierte
Darstellung der Ergebnisse für die Beschreibung der Kristallmosaizität in einkristal-
linen Superlegierungen entwickelt und erprobt werden.
Bei der martensitischen Umwandlung entsteht eine hierarchische Mikrostruktur.
In einem früheren Austenitkorn bilden sich bei Abwesenheit einer äußeren Spannung
eine Vielzahl von Mikrokörnern, deren Orientierung man einer bekannten Zahl von
Varianten zuordnen kann. Dabei gibt es in der Regel feste kristallographische Bezie-
hungen zwischen der Orientierung eines ursprünglichen Austenitkorns, das z.B. 50
– 100µm groß sein kann, und den darin entstandenen z.B 1µm großen Martensit-
varianten, die wiederum ihrerseits wechselseitige Fehlorientierungen aufweisen. Hier
soll die EBSD-Methode angewendet und erweitert werden, um aus der Verteilung

57
der Orientierungen der feinen martensitischen Kristallite auf die ursprüngliche Ori-
entierung des austenitischen Mutterkorns rückzuschließen. Dabei sollen verschieden
Martensitgefüge, wie man sie in den klassischen Modell-Legierungen der Marten-
sitforschung, den binären Fe-Ni (je nach Ni-Gehalt: Latten- oder Plattenmartensit)
findet, untersucht werden. Die mit der EBSD-Methode ortsaufgelösten Orientie-
rungsdaten sollen einmal den Rückschluss auf die Austenitstruktur ermöglichen und
andererseits offene Fragen zu mit inneren Spannungen in Zusammenhang stehenden
lokalen Phänomenen beantworten helfen.
Die EBSD-Methode steht im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Die Experimente
am Rasterelektronenmikroskop werden aber in enger Abstimmung mit der schmelz-
metallurgischen Herstellung und Wärmebehandlung, der mikroskopischen Untersu-
chung der Materialien mit Hilfe der Licht- und der Elektronenmikroskopie in Kom-
bination mit stereologischen Methoden, der röntgenographischen Analyse und von
DSC-Analysen durchgeführt werden. Ziel der Arbeit ist, zu einer Weiterentwicklung
der EBSD-Methode beizutragen und zu zeigen, wie eine solche Weiterentwicklung
neue Beiträge zum Verständnis der Bildung bei diffusionkontrollierten und diffsui-
onslosen Phasenumwandlungen liefern kann.

58
4 Experimentelle Methoden

4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode


Einkristalline Nickelbasis-Superlegierungen zeichnen sich durch eine komplexe Mi-
krostruktur mit Elementen auf der Meso-, Mikro- und Nanoskala aus, welche unter
anderem als Resultat der konstitutionellen Unterkühlung während der Erstarrung
hervorgeht. Die Eigenschaften der dabei entstehenden dendritischen Mikrostruktur
sind Gegenstand dieser Forschungsarbeit und sollen mit speziell angepassten quan-
titativen Verfahren der Rasterelektronenmikroskopie detailliert untersucht werden.
Einkristalline Turbinenschaufeln werden industriell im Bridgman-Verfahren so ge-
gossen, dass eine mechanisch widerstandsfähige [001]-Kristallrichtung parallel zur
Hauptbelastungsrichtung des Bauteils ausgerichtet ist. Dabei kommt es jedoch zu
kleinen Winkelabweichungen zur gewünschten idealen [001]-Orientierung. Die den-
dritische Erstarrungsfront führt überdies zu einer so genannten ”Kristallmosaizität”,
die sich durch zusammenhängende Bereiche leicht unterschiedlicher Kristallorientie-
rungen und dazwischenliegenden Kleinwinkelkorngrenzen auszeichnet.
Ein orientierungsabbildendes Mikroskopieverfahren, wie es die EBSD-Methode
bereitstellt, ist offensichtlich prädestiniert, die dendritische Mikrostruktur hinsicht-
lich dieser morphologischen Eigenschaften quantitativ zu charakterisieren. In der
praktischen Anwendung treten allerdings folgende Herausforderungen zu Tage:
1) Die Winkelauflösung des Standard-EBSD Verfahrens ist zu gering, um die
kleinen Misorientierungen aufzulösen.
2) Standard-Farbkodierungen sind nicht geeignet, die Mikrostruktur bezüglich
dieser kleinen Misorientierungen darzustellen.
Die in dieser Arbeit entwickelte Rotation-Vector-Baseline-(RVB)-EBSD-Methode
wurde so konzipiert, dass sie diese spezifischen Schwierigkeiten überwindet, indem
sie 1. die Winkelauflösung der Orientierungsbestimmung erhöht und 2. spezielle
Farbkodierungen bereitstellt, welche die hochaufgelösten Ergebnisse adäquat visua-
lisieren. Die RVB-Methode basiert dabei im Kern auf ähnlichen Konzepten, die

59
im Bereich der HR-EBSD-Forschung entwickelt wurden [130–135]. Dabei werden
die Kikuchi-Beugungsbilder nicht wie sonst üblich mittels einer Hough Transfor-
mation indiziert, sondern separat gespeichert und in einer rechenintensiven offline
Prozedur genauer analysiert. Kleinste Verschiebungen zwischen einzelnen Pattern,
welche durch minimale Kristallrotationen hervor gerufen werden, können durch ein
Template-Matching-Ansatz genau bestimmt werden [130–135]. Im Folgenden wird
die RVB-Methode im Detail beschrieben.

Geometrischer Versuchsaufbau und Koordinatensysteme


Für eine genaue Bestimmung der Kristallorientierung ist die Kenntnis der exak-
ten Versuchsgeometrie von größter Bedeutung. Zur Beschreibung der geometrischen
Anordnung innerhalb des REMs werden zunächst zwei verschiedene Koordinaten-
systeme benötigt. Das Probenkoordinatensystem (PKS, Index: P) ist an der Probe
fixiert. Seine relative Position und Ausrichtung innerhalb der REM-Kammer wird
in Abbildung 4.1a dargestellt. Um kleine Verschiebungen zwischen den Beugungs-
bildern verlässlich in korrespondierende Rotationen umzurechnen, ist insbesondere
die Position und räumliche Ausrichtung der Probe relativ zum Detektor maßgeblich.
Hierzu werden zwei relevante Parameter benötigt.

Abbildung 4.1: Schematische Darstellung des REM Aufbaus. (a) Probenkoordi-


natensystem (PKS) xP , yP , zP (b) Detektorkoordinatensystem
(DKS) xD , yD , zD

Der Arbeitsabstand (AA) charakterisiert den Abstand zwischen dem Polschuh und
dem Fokuspunkt des Elektronenstrahls, 4.1a. Wenn die Probenoberfläche genau im

60
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Fokuspunkt liegt, was man im Falle einer gekippten Probe durch einen dynamischen
Fokuspunkt erreichen kann, dann definiert der Arbeitsabstand ebenfalls die Distanz
zwischen dem Polschuh und der Probenoberfläche. Da der Detektor und der Pol-
schuh in einer festen Konfiguration vorliegen, ist der Arbeitsabstand direkt mit dem
so genannten ”Pattern Center” verbunden. Das Pattern Center beschreibt den Aus-
gangspunkt des Kikuchi-Beugungsbilds, welcher dem Eintrittsort des Primärstrahls
entspricht. Um die Berechnungen der Kristallrotationen zu vereinfachen, wurde der
Arbeitsabstand so gewählt, dass das Pattern Center exakt in der Mitte des De-
tektorschirms liegt. Auf diese Weise werden Verzerrungen durch die gnomonische
Projektion [136] minimiert. Alle Messungen in der vorliegenden Arbeit wurden mit
einem Arbeitsabstand AA = 17 mm durchgeführt.
Die Kameralänge (L) definiert den Abstand zwischen der Messstelle und dem
EBSD-Detektor (D), Abbildung 4.1a. Diese Größe hat einen direkten Einfluss auf die
zu bestimmenden Misorientierungswinkel zwischen verschiedenen Kikuchi-Pattern.
Eine größere Kameralänge resultiert in einer höheren Winkelgenauigkeit des Ver-
fahrens, sie führt allerdings aufgrund der mit größerem Abstand abnehmenden In-
tensität zu längeren Messzeiten. Die Standardkonfiguration, welche für die meisten
Messungen in dieser Arbeit verwendet wurde, beträgt L = 27 mm. Einzelne Mes-
sungen wurden mit einem größeren Arbeitsabstand von L = 37 mm durchgeführt.
Abbildung 4.1b zeigt die Orientierung des zweiten Koordinatensystems, welches
als Detektorkoordinatensystem (DKS, Index: D) bezeichnet wird. Es teilt seinen
Ursprung mit dem des Probenkoordinatensystems und ist mit seinen Achsen an den
Elektronenstrahl und der Oberflächennormalen der Detektorfläche fixiert. Aufgrund
der EBSD-typischen Verkippung der Probe, ist das Detektorkoordinatensystem um
20◦ relativ zum Probenkoordinatensystem verkippt.
Um die dendritische Mikrostruktur, welche sich durch die gerichtete Erstarrung
bildet, zielgerichtet untersuchen und visualisieren zu können, sind zwei weitere Ko-
ordinatensysteme notwendig, welche die individuellen Kristallorientierung beschrei-
ben. In Abbildung 4.2a wird die zylindische Bridgman-Probe dargestellt. Einzelne
EBSD-Messproben werden als dünne Scheiben aus dem Zylinder heraus präpariert.
Die zP -Achse des Probenkoordinatensystems ist in dieser Darstellung parallel zur
Längsachse des Zylinders ausgerichtet. Die xP und yp Achsen werden so ausgerich-
tet, dass sie möglichst parallel zu der Ausrichtung der Sekundärdendriten liegen.
Dies ergibt ein definiertes Referenzsystem, zu welchem Orientierungen relativ dar-
gestellt werden können. Jeder RVB-EBSD-Messpunkt wird durch ein eigenes loka-

61
les Koordinatensystem beschrieben. Jedes einzelne lokale Koordinatensystem ist an
dem entsprechenden Pixel der RVB-EBSD-Messung lokalisiert. Somit ist die Anzahl
der lokalen Koordinatensysteme gleich der Anzahl der Messpunkte des RVB-EBSD-
Scans (z.B. 500000). Das lokale Koordinatensystem (LKS, Index:l) ist in Abbildung
4.2b blau dargestellt. Gut zu erkennen ist, dass die lokalen Orientierungen relativ
zum schwarz dargestellten Probenkoordinatensystem betrachtet werden.

Abbildung 4.2: Definition der Verwendeten Koordinatensystem. (a) Zylindrische


Probe mit dem Probenkoordinatensystem PKS. (b) Schnittebe-
ne mit vier schematischen Dendriten, die durch das lokale Koor-
dinatensystem LKS beschrieben werden. (c) Koordinatensystem
der durchschnittlichen Orientierung des betrachteten Scan-Fenster
FKS.

In Abbildung 4.2c wird ein weiteres Koordinatensystem eingeführt, welches der


makroskopischen, durchschnittlichen Orientierung entspricht und als rotes Achsen-
Triplet dargestellt wird. Die Orientierung dieses durchschnittlichen Koordinaten-
systems setzt sich aus den gemittelten Achsen aller lokalen Koordinatensysteme des
Bildfensters zusammen. Es trägt deshalb die Bezeichnung Fensterkoordinatensys-
tem (FKS). Mithilfe des FKS lässt sich die absolute Abweichung der realen [001]-
Wachstumsrichtung zur angestrebten perfekten [001]-Orientierung angeben. Eben-
falls können lokale Orientierungen der LKS auch relativ zum FKS dargestellt wer-
den, um kleinste Abweichungen von der mittleren Orientierung darzustellen. Diese
Vorgehensweise wird im Kapitel 4.3 genauer beschrieben.

62
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Vorbereitung und Filterung der EBSD-Beugungsbilder


Um eine hochpräzise Orientierungsbestimmung zu gewährleisten, ist eine standar-
disierte Vorbereitung der EBSD-Beugungsbilder unumgänglich. Da es sich bei den
Beugungsbildern um einzelne zweidimensionale Messwerte handelt, ergibt sich auf-
grund der hohen Anzahl der Messpunkte eine natürliche Streuung des Beugungs-
kontrasts. Dazu gehören sowohl Helligkeits- und Kontrastunterschiede zwischen ein-
zelnen Beugungsbildern, als auch Gradienten innerhalb eines einzelnen Beugungs-
bildes. Darüber hinaus existiert bei jeder realen Messung prinzipiell ein Rauschen,
welches sich bei den Beugungsbildern als Variation der Helligkeit auf der Pixelebe-
ne ausprägt. Ebenfalls existieren langwellige Helligskeitsunterschiede innerhalb ei-
nes Patterns, welche von chemischen Eigenschaften des Interaktionsvolums herrührt
und auch von den lokalen Parametern der Oberfläche beeinflusst werden. Um eine
möglichst effiziente Korrelation zwischen den Beugungsbildern zu gewährleisten, ist
es also wichtig, diese intrinsischen Fehlerquellen möglichst stark zu minimieren. Auf
diese Weise ergibt die Korrelation zwischen zwei Beugungsbildern Informationen,
die idealerweise nur von der Änderung der Kristallorientierung abhängen und von
anderen Einflussgrößen nicht negativ beeinflusst werden.
Die RVB-EBSD-Methode verwendet zum Erreichen dieses Ziels einen speziell an-
gepassten Gaußschen Bandpassfilter mit einer anschließenden Normalisierung der
Kontrastverhältnisse. Abbildung 4.3a,b zeigt den Effekt des Filterprozesses. Die
Rohdaten der EBSD-Messung sind in Abbildung 4.3a dargestellt. Zur besseren Ori-
entierung wurden zwei Ebenen des Typs (100) und eine Ebene des Typs (110) blau
hervorgehoben. Das Resultat des Filterprozesses, Abbildung 4.3b, zeigt einen ver-
größerten und quadratisch zugeschnittenen Bereich des zuvor kreisförmigen Messsi-
gnals. Da auch das Pixelraster quadratisch ausgerichtet ist und Computeralgorith-
men generell effizienter auf quadratische Formen anzuwenden sind, ist das Zuschnei-
den ein elementarer und effizienzsteigernder Schritt. Ebenfalls ist in Abbildung4.3a
zu erkennen, dass das Beugungssignal im Randbereich deutlich weniger Kontrast
aufweist als in der Detektormitte.

63
Abbildung 4.3: Datenfilterung der EBSD-Beugungsbilder. (a) Experimentel-
les Beugungsbild. (b) Zugeschnittenes und gefiltertes EBSD-
Beugungsbild. (c) Darstellung des Beugungsbildes im Frequenz-
raum nach Applikation einer zweidimensionalen Fouriertransfor-
mation. (d) Fensterfunktion des Gaußschen Bandpass-Filters. (d)
Gefilterter Frequenzbereich des EBSD-Beugungsbildes.

Das Zuschneiden sichert also auch ab, dass die gefilterten Bilder, welche für spätere
Prozessschritte verwendet werden, keine unnötigen Bereiche enthalten, die keine
nutzbaren Informationen repräsentierten. Auf diese Weise wird der Speicherbedarf
der Methode auf ein Minimum reduziert. Es ist deutlich zu erkennen, dass das
gefilterte Beugungsbild in Abbildung 4.3b einen deutlich stärkeren und zugleich
gleichmäßigeren Kontrast aufweist als die ungefilterten Rohdaten in Abbildung 4.3a.
Dadurch sind zuverlässige Ergebnisse der später durchgeführten Kreuzkorrelationen
sichergestellt. Abbildung 4.3b enthält ringförmig angeordnete Punkte (Pl,p ), welche
als so genannte ”Regions of Interest”(ROIs) bezeichnet werden. Die Punkte sind in
zwei symmetrischen Ringen um das Zentrum des Detektors angeordnet. Der äußere

64
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Ring besteht aus n1 =32 Punkten und der innere Ring aus n2 =16 Punkten. Im
weiteren Verlauf des Verfahrens wird an jedem dieser Punkte eine Kreuzkorrelation
ausgeführt. Die Notation der Indizes bedeutet l = lokale Punktmessung (jedem
Bildpunkt des EBSD-Scans ist ein l Index zugeordnet. Jeder l Index korrespondiert
mit einem eigenen Beugungsbild), und p = Punkt der ROI (jeder Index p beschreibt
einen Punkt auf dem äußeren oder auf dem inneren Ring). Als Beispiel betrachten
wir den Punkt P45234,32 . Entsprechend der Notation wäre das der 32te Punkt auf
dem 45234ten Beugungsbild. Die Punkte tragen die Koordinaten (xl,p , yl,p L).
Der eigentliche Filterprozess besteht aus insgesamt vier aufeinander folgenden
Schritten. Zunächst wird das Kikuchi-Beugungsbild im ersten Schritt per schnel-
ler Fourier-Transformation (Fast-Fourier-Transfort, FFT) [137] in den Frequenz-
bereich transformiert, Abbildung 4.3c. Das so genannte Powerspektrum wird im
zweiten Schritt mit einer vordefinierten Fensterfunktion, welche in Abbildung 4.3d
dargestellt ist, multipliziert. Die Fensterfunktion besteht aus zwei zweidimensiona-
len Gaußkurven, wobei die größere Gaußkurve einen Tiefpass-Filter repräsentiert
und die mit negativem Vorzeichen versehene kleine Gaußkurve einen Hochpass-
Filter. Der Vorteil einer Gaußförmigen Bandpass-Fensterfunktion liegt darin, dass
die Gaußfunktion aufgrund ihrer mathematischen Eigenschaften besonders gut für
einen Bildfilter geeignet ist. Die Gaußfunktion verhält sich zur Fouriertransformation
invariant. Dadurch ergeben sich spezielle Eigenschaften, wie z.B. dass die Gaußsche
Fensterfunktion den steilsten Flankenanstieg bei Sprungsignalen beibehält. Dadurch
wird das Bild nicht übermäßig geglättet. Außerdem führt die Gauß-Fensterfunktion
nicht zum so genannten ”Ringing-Effekt”, der bei einer Filterung mit anderen Fens-
terfunktionen auftreten kann [138]. Aus der Multiplikation des ursprünglichen Po-
werspektrums und der beschriebenen Fensterfunktion resultiert eine neue zweidi-
mensionale Intensitätsverteilung (Abbildung 4.3e), welche man sich als eine Überla-
gerung des Powerspektrums (Abbildung 4.3c) und der Fensterfunktion (Abbildung
4.3d) vorstellen kann. Im dritten Schritt wird das so gewonnene neue Powerspek-
trum (Abbildung 4.3e) per inverser schneller Fouriertransformation (iFFT) zurück
in den Bildbereich transformiert. Im vierten und letzten Schritt werden die Graustu-
fen des so optimierten Beugungsbild noch auf das Intervall [0,1] normiert. Dadurch
erhält man letztlich einen Datensatz, in dem alle Beugungsbilder ähnliche Kontrast
und Helligkeitswerte aufweisen. Der Einsatz des Bandpassfilter stellt darüber hinaus
sicher, dass sowohl kurz- als auch langreichweitige Helligkeitsfluktuationen kompen-
siert werden, siehe Abbildung 4.3b.

65
Der Zusammenhang zwischen Patternverschiebungen und
Kristallorientierungen
Die RVB-EBSD-Methode erzielt ihre hohe Winkelauflösung durch die genaue Aus-
wertung kleiner Verschiebungen zwischen zwei Kikuchi-Beugungsbildern. Dabei dient
eines der Beugungsbilder als Referenz. Wenn das zweite Beugungsbild von einem
Kristallit ausgeht, welcher relativ zum Referenz-Kristalliten verkippt ist, führt dies
zu einer Verschiebung des Beugungsbildes. Umgekehrt können kleine Verschiebun-
gen zwischen zwei Pattern auf eine Verkippung, im Bereich der Kristallographie
auch ”Misorientierung”(deutsch: Fehlorientierung) genannt, zurück geführt werden.
Nachfolgend werden die Prinzipien und mathematischen Grundlagen dieser Vorge-
hensweise näher erläutert.
Abbildung 4.4 zeigt einen vergrößerten Bereich zweier Kikuchi-Beugungsbilder,
welche durch ein lokales Beugungsevent aus zwei zueinander fehlorientierten Kris-
talliten entstanden sind. Das erste Beugungsbild (Index l=1) in Abbildung 4.4a
entspricht dem rechteckig hervorgehobenen Bereich aus Abbildung 4.3b. Die roten
Kreuze markieren die Mittelpunkte der einzelnen ROIs (Index p=1...48). Zur besse-
ren Sichtbarmachung der Verschiebung zwischen den Pattern sind dreiecke Marker
auf dem Beugungsbild gelb und hellblau markiert. Außerdem dient eine grüne Ver-
bindungslinie zwischen dem gelb hervorgehobenen Feature und der oberen rechten
Ecke des Bildausschnittes eine Orientierungshilfe für den Leser. Für alle nachfol-
genden Betrachtungen wird das erste Pattern (Index l=1) nun als Referenz-Pattern
betrachtet. Alle Messungen beziehen sich also relativ auf diese Referenz. Im allge-
meinen Fall einer EBSD-Messung wird ein Referenz-Pattern manuell so ausgewählt,
dass es möglichst im Zentrum der Messfläche liegt und eine hohe Bildqualität auf-
weist. Alle anderen lokalen Beugungsbilder (Index l=1...500000) werden dann mit
diesem Referenz-Beugungsbild verglichen. Abbildung 4.4b zeigt das Beugungsbild
eines relativ zum ersten Kristalliten leicht fehlorientierten Kristallbereichs. Die ro-
ten Kreuze markieren die ursprünglichen Positionen auf dem ersten Beugungsbild,
welche nun den Index l=ref tragen. Die Fehlorientierung der beiden Kristallite führt
dazu, dass alle Mittelpunkte P der ROIs ihre Position ändern. Die neue Position

wird nun als Pl,p bezeichnet. Weiße Pfeile markieren jeweils den Verschiebungsweg
jedes einzelnen Referenzpunktes.
Eine Kristallrotation lässt sich entsprechend der obigen Ausführungen als Trans-

formation der Referenzpunkte Pl,p zu den verschobenen Punkten Pl,p verstehen. Die

66
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode


neuen Positionen Pl,p werden mittels einer Kreuzkorrelation bestimmt. Dazu wird
ein quadratischer Bildbereich des Referenz-Beugungsbild um jeden ROI Punkt Pref,p
herum selektiert und mit einem kleineren quadratischen Ausschnitt um jeden Punkt
Pl,p eines jeden zu messenden Beugungsbilds kreuzkorreliert. Die Kreuzkorrelati-
on ergibt eine zweidimensionale diskrete Intensitätsverteilung, welche die Auflösung
und Pixelmaße des Referenz-Messbereichs übernimmt. Das Maximum dieser zwei-
dimensionalen Intensitätsverteilung ergibt die neuen xD ,yD -Koordinaten des kreuz-
korrelierten Bildbereichs.

Abbildung 4.4: Darstellung der Beugungsbild-Verschiebung, die durch eine Mis-


orientierung zwischen Referenz- und Mess-Pattern hervorgerufen
wird. (a) Referenz-Pattern mit rot markierten Messpunkten Pl,p .
(b) Verschobenes Mess-Pattern, dessen beugender Kristall relativ
zum beugenden Kristall des Referenz-Patterns fehlorientiert ist.
Die weißen Pfeile markieren die Verschiebungsvektoren zwischen
den ursprünglichen und späteren Positionen der Messpunkte.

Abbildung 4.5 fasst die Vorgehensweise zur Bestimmung der kleinen Verschiebun-
gen zwischen dem Referenz-Beugungsbild und einem lokal gemessenen Beugungsbild
zusammen. In Abbildung 4.5a ist der Messbereich des Referenz-Beugungsbilds ab-
gebildet. Die Verschiebung soll mit einem Bildbereich um den zentralen Punkt Pref,p
erfolgen. Dazu wird ein kleinerer Bildausschnitt aus dem Referenzpattern herausge-
schnitten (grünes Quadrat in Abbildung 4.5a). Dieser ausgeschnittene Bildbereich
wird dann mit dem verschobenen Beugungsbild am lokalen Messpunkt kreuzkor-
reliert, 4.5b. Die Kreuzkorrelation lässt sich als ”Moving-Window” Verfahren in-
terpretieren. Der ausgeschnittene Bildbereich wird über die gesamte Fläche des zu
messenden Beugungsbilds verfahren. Entsprechend der Formel der Kreuzkorrelation
ergibt sich daraus eine zweidimensionale Intensitätsverteilung, welche in Abbildung
4.5c dargestellt ist. Die Position des Maximums dieser Funktion ergibt die lokalen

67
xD ,yD Koordinaten, an denen die größte Korrelation zwischen dem ausgeschnitte-
nen Bildbereich und dem lokalen Beugungsbild besteht. Das Resultat der Verschie-
bungsanalyse ist in Abbildung 4.5d dargestellt. Der grün ausgeschnittene Bereich
aus Abbildung 4.5a hat den maximalen Kreuzkorrelations Wert an der neu markier-
ten Stelle. Der weiße Pfeil zeigt den Verschiebungsvektor, der den ursprünglichen
Bildbereich aus Abbildung an der Position Pref,p 4.5a zu seinen neuen Koordinaten

P1,p verschiebt.

Abbildung 4.5: Darstellung der Funktionsweise der Kreuzkorrelation. (a) Ver-


größerter Bereich des Referenz-Patterns. Um den mittleren rot
markierte Messpunkt wird ein kleines Fenster ausgeschnitten
(grün markiert). (b) Das grün markierte Fenster wird über den
Messbereich des Mess-Patterns verschoben. (c) Zweidimensionale
Darstellung des Kreuzkorrelationswertes. Das Maximum markiert
die Position mit der höchsten Übereinstimmung. (d) Das grüne
Referenz-Fenster weist an der neu markierten stelle die maximale
Übereinstimmung mit dem Messpattern auf.

Die ermittelten Verschiebungsvektoren werden im nächsten Schritt in entsprechen-

68
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

de Kristall-Fehlorientierungen umgerechnet. Dazu sollen zunächst einfache Rotation


des Kristalls um spezifische Achsen diskutiert werden. Hierzu sind zwei Kristallro-
tationen schematisch in Abbildung 4.6 abgebildet. Die Abbildung 4.6a zeigt die
Winkelabhängigkeiten bei einer reinen Rotation um die xD -Achse. Eine solche Ro-
tation führt auf dem Detektorschirm mit dem Abstand L von dem Interaktionsvo-
lumen zu einer reinen yD Verschiebung. Dabei wird der Punkt Pref,p auf den neuen

Punkt P1,p abgebildet. Anstatt an dieser Stelle den Verschiebungsvektor zwischen

Pref,p und P1,p zu betrachten, wie dies bei anderen Kreuz-Korrelations-Verfahren
üblich ist, betrachten wir die Winkelabhängigkeiten, die mit dieser Verschiebung
im Zusammenhang stehen. Man kann sich einen positiven Drehsinn um die in die
Bildebene eintauchende xD -Achse so vorstellen, dass jeder beliebige Punkt auf dem
Detektorschirm einen Winkel alpha zugeordnet bekommt. Dies gilt sowohl für den

ursprünglichen Punkt Pref,p , als auch für den rotierten Punkt P1,p , die jeweils die

Winkel αref,p bezeihungsweise αl,p zugeordnet bekommen. Darüber hinaus kann man
sich eine ”Winkeldistanz” zwischen diesen beiden Punkten vorstellen, die wir nun
als ∆αl,p definieren, siehe Abbildung 4.6a. Analog dazu kann man einen Winkel
∆βl,p definieren, der über den positiven Drehsinn um die y-Achse definiert wird und
zu horizontalen Verschiebungsvektoren entlang der xD -Achse führt. Es gilt dabei zu
beachten, dass es sich bei diesen Winkel um projizierte Winkel handelt, wodurch
eine spätere Korrektur durch eine vordefinierte Baseline-Funktion nötig wird.

69
Abbildung 4.6: Schematische Darstellung der elementaren Rotation um die De-
tektorachsen. (a) Geometrischer Zusammenhang zwischen einer
Rotation des Winkels ∆α um die xD -Achse. (b) Geometrischer
Zusammenhang zwischen einer Rotation des Winkels ∆γ um die
zD -Achse.

Die mathematische Beschreibung der genannten projizierten Winkel ergibt sich


wie folgt:


yD,l,p
 y   
D,ref,p
∆αl,p = − arctan − arctan (4.1)
L L

x′D,l,p
 x   
D,ref,p
∆βl,p = arctan − arctan (4.2)
L L

Um eine Kristallrotation vollständig beschreiben zu können, ist es notwendig auch


die Anteile der Drehung um die zD -Achse zu berücksichtigen. Dies wird in Abbil-
dung 4.6b dargestellt. Für die korrekte Beschreibung einer Rotation um die zD -Achse
werden jeweils zwei Referenzpunkte benötigt, dessen Verschiebungen gemeinsam
betrachtet werden müssen. Zwischen zwei sich gegenüberliegenden Referenzpunk-
ten Pref,p und Pref,k existiert eine Verbindungslinie, die durch den Ursprung des
Detektorkoordinatensystems verläuft. Der Index k ist so gewählt, dass sich der ent-
sprechende Punkt genau gegenüber des Punktes mit dem Index i befindet. Eine

70
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Kristallrotation um die zD -Achse führt nun dazu, dass bei beiden Punkten eine Ver-
schiebung stattfindet. Der Punkt Pref,p wird auf den Punkt P1,p und der Punkt Pref,k

auf den Punkt P1,k verschoben. Analog zu dem Beispiel einer Rotation um die xD -
und yD -Achsen lassen sich nun Winkelabhängigkeiten herleiten, die sich nun auf die
Verbindungslinien zwischen den beiden Punkten beziehen. Diese sind in Abbildung
4.6b als dunkel blaue Linien dargestellt. Die ursprüngliche Linie ist fett dargestellt
und die rotierte Linie dünn. Auch hier lassen sich jeweils zwei Winkel definieren,
die den Zustand vor und nach der Rotation charakterisieren. Dabei handelt es sich
einerseits um den Winkel γref,pk , welcher den Winkel zwischen der xD -Achse und
der erwähnten Verbindungslinie definiert. Die Richtung des positiven Drehsinns ist
in Abbildung 4.6b mit einem geschwungenen schwarzen Pfeil und der Bezeichnung
gamma dargestellt. Die neue Orientierung der dünnen blauen Verbindungslinie, die

sich durch eine Kristallrotation einstellt, bekommt den Winkel γref,pk zugeordnet.
Nun lässt sich ebenfalls eine Art ”Winkeldistanz” festlegen, indem man den Win-
kel zwischen den beiden Verbindungslinien betrachtet. Dieser trägt die Bezeichnung
∆γ1,pk .
Die Verbindungslinien zwischen den gegenüberliegenden Punkten wird durch die
Steigung der geraden wie folgt definiert:

yD,ref,p − yD,ref,k
sref,pk = (4.3)
xD,ref,p − xD,ref,k

′ ′
yD,l,p − yD,l,k
s′l,pk = ′ (4.4)
xD,l,p − x′D,l,k

Daraus berechnen sich die zu jedem Beugungsbild zugehörigen deltagamma Win-


kel wie folgt:

!
sref,pk − s′l,pk
∆γl,pk = arctan (4.5)
1 + sref,pk · s′l,pk

Entsprechend der oben genannten Vorgehensweise werden nun also für jeden
Punkt auf dem Detektorschirm jeweils drei charakteristische Winkel berechnet. Im
nächsten Schritt werden werden alle berechneten Winkel entsprechend folgender

71
Vorschrift gemittelt:

1 +n2
nX
1
∆αl = ∆αl,p (4.6)
n1 + n2 p=1

1 +n2
nX
1
∆βl = ∆βl,p (4.7)
n1 + n2 p=1

n1
2
2 X
∆γl = ∆γl,pk (4.8)
n1 pk=1

Dadurch ergibt sich ein konkreter Satz von drei gemittelten charakteristischen
Winkel, welche die mittlere Rotation aus den Verschiebungen der Beugungsbilder
darstellen. Diese drei Winkel werden zu einem Rotationsvektor zusammengestellt:

 
∆αl
~ appr,D,l
R =  ∆βl 
 
(4.9)
∆γl

Dieser Rotationsvektor beschreibt die Kristallrotation zwischen einem Referenz-


Beugungsbild und einem gemessenen Beugungsbild. Dabei gibt die Richtung des
Rotationsvektors die Drehachse an und der absolute Betrag den Drehwinkel. Es ist
zu beachten, dass der Rotationsvektor zu diesem Punkt nur eine Näherungslösung
darstellt, was durch den Index: appr. verdeutlicht wird. Dies liegt darin begründet,
dass die Komponenten des Rotationsvektors aus projizierten Winkeln zusammen-
gesetzt werden, was zu kleinen Abweichungen zur korrekten Misorientierung führt,
welche nachfolgend mittels einer Baseline-Funktion korrigiert werden. Es ist jedoch
festzuhalten, dass der genäherte Rotationsvektor auch in dieser Form schon eine
sehr gute Quantifzierung der Misorientierung bietet.
Um die Näherungsfehler weiter zu quantifizieren wurden Beugungsverschiebungen
simuliert. Dabei wurden die Verschiebungsvektoren, die sich für die Messpunkte auf
dem Schirm ergeben für eine Vielzahl von möglichen Rotationsvektoren berechnet.
Es wurden zunächst die Verbidungslinien zwischen dem Wechselwirkungsvolumen

72
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

und allen Messpunkten P auf dem Schirm als Vektor interpretiert. Diese Vektoren
entsprechen im Wesentlichen den blauen Linien in Abbildung 4.6a. Diese wurden
mittels einer geeigneten Rotationsmatrix auf die neuen Punkte P ′ transformiert.
Anschließend wurden die drei charakteristischen Winkel gemäß obiger Beschreibung
berechnet und daraus ein approximierter Rotationsvektor generiert. Die Ergebnisse
dieser Berechnungen werden zusammenfassend in Abbildung 4.7 dargestellt.

Abbildung 4.7: Charakterisierung der Approximationsfehler. (a) Abhängigkeit


des Approximationsfehlers von der Misorientierung ω zwischen
Referenz- und Mess-Pattern für ausgewählte Rotationsachsen. (b)
Darstellung des Approximationsfehlers für ein fixiertes ω=5◦ an-
hand des Parameters δOrientation . (b)Darstellung des Approxima-
tionsfehlers für ein fixiertes ω=5◦ anhand des Parameters δAngle .
(d) Darstellung des Approximationsfehlers für ein fixiertes ω=5◦
anhand des Parameters δAxis .

Abbildung 4.7a zeigt die Abhängigkeit des Approximationsfehlers von der Mi-
sorientierungsachse und dem absoluten Winkel der Misorientierung. Der Winkel

73
ω bezeichnet hier die Misorientierung zwischen einem Referenz- und einem Test-
beugungsbild. δOrientation gibt den Approximationsfehler für verschiedene Rotations-
achsen an. Zunächst gilt es zu beachten, dass favorisierte Achsen existieren, die
nur mit einem kleinen Näherungsfehler behaftet sind und nicht favorisierte Ach-
sen, die mit einem größeren Näherungsfehler behaftet sind. Für Rotationen um die
Detektorkoordinaten-Achsen stellt der approximative Rotationsvektor unabhängig
vom absoluten Wert des Drehwinkels eine exakte Lösung dar. Dies liegt an der zu-
vor beschriebenen Herleitung des Rotationsvektors, die auf projizierte Drehungen
um die Detektorachsen basiert. Der approximierte Rotationsvektor stellt also für
alle Drehungen um die [100]D , [010]D und [001]D Achse eine exakte Lösung dar. Für
Drehachsen mit zusammengesetzten Komponenten stellt der approximative Rota-
tionsvektor nur eine Näherung dar. Dabei gilt zu beachten, dass die Näherung für
kleine Drehwinkel sehr gut ist und bei steigendem Misorientierungswinkel ω schlech-
ter wird. Zu den problematischen Achsen zählt beispielsweise die [111]D Achse, wel-
che die höchste Abweichung zwischen approximativen Rotationsvektor und exakter
Lösung aufzeigt. Allerdings ist auch hier der Näherungsfehler noch sehr klein und
steigt bei einem Misorientierungswinkel von ω=5◦ bis auf maximal ca. 0.1◦ an.
Abbildungen 4.7b-c zeigen den Approximationsfehler für einen festgelegten Misori-
entierungswinkel ω=5◦ innerhalb einer farbkodierten Polfigur. Jeder Punkt auf die-
sen Polfiguren beschreibt die Richtung eines konkreten Rotationsvektor. Die Farbs-
kala beschreibt den Näherungsfehler für diesen konkreten Rotationsvektor. Der Ap-
proximationsfehler wurde mithilfe dreier verschiedener Parameter charakterisiert.
In Abbildung Abbildungen 4.7b wird der Approximationsfehler mithilfe des Para-
meters δOrientation charakterisiert. δOrientation gibt die Misorientierung zwischen der
präzisen und der approximierten Orientierung einer Messung an. Es wird ersichtlich,
dass der Approximationsfehler für Rotationsachsen, die parallel zu den Detektorko-
ordinatenachsen liegen, gleich Null ist. Für diese Rotationsachsen entspricht die
Näherungslösung der exakten Lösung. Für Rotationsachsen mit mehreren Kompo-
nenten steigt der Approximationsfehler bis auf ca. 0.1◦ an. Um den Approximati-
onsfehler genauer zu charakterisieren wurden zwei weitere Parameter herangezogen.
δAngle beschreibt die Längendifferenz zwischen präzisem und approximiertem Ro-
tationsvektor, Abbildungen 4.7c. Die Länge des Rotationsvektors entspricht dem
Drehwinkel zwischen dem Referenz und dem gemessenen Beugungsbild. Es wird
deutlich, dass der Drehwinkel für Rotationsvektoren parallel zu den Detektorkoor-
dinatenachsen ebenfalls präzise berechnet wird. Die maximale Abweichung zwischen

74
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

präzisem und approximierten Drehwinkel liegt bei etwa 6 · 10−3 ◦ für [110]D Rota-
tionsachsen. Der dritte Parameter δAxis beschreibt den Winkel zwischen exaktem
und approximierten Rotationsvektor. Dies wird in Abbildung 4.7d dargestellt. Der
Approximationsfehler δAxis folgt dem selben Trend wie die gesamte Misorientierung
aus Abbildung 4.7b. Dadurch wird deutlich, dass der Approximationsfehler zum
größten Teil darauf basiert, dass die Richtung des Approximationsvektors weniger
präzise bestimmt werden kann, als der Drehwinkel. Für ungünstige Achsen kann
die Abweichung zwischen präzisem und approximierten Rotationsvektor bis zu 1,2◦
betragen.

Abbildung 4.8: Erwartete Präzision der RVB-EBSD-Methode vor (a,b) und nach
(c,d) Korrektur mithilfe der Baseline-Funktion. (a) Abhängigkeit
der Präzision vom Misorientierungswinkel ω. (b) Abhängigkeit der
Präzision bei einem fixierten ω = 5◦ von verschiedenen Rotations-
achsen. (c) Abhängigkeit der Präzision vom Misorientierungswin-
kel ω nach Baseline-Korrektur. (d) Abhängigkeit der Präzision bei
einem fixierten ω = 5◦ von verschiedenen Rotationsachsen nach
Baseline-Korrektur.

75
Um die Präzision des beschriebenen Approximationsverfahrens unter realistischen
Bedingungen näher zu charakterisieren, wurden weitere Berechnungen angestellt.
Ausgangspunkt der Überlegung stellt die Annahme dar, dass die in Abbildung 4.5
dargestellt Kreuzkorrelationsmethode die neuen Positionen P’ nicht vollkommen pi-
xelgenau bestimmen kann, sondern dass die gemessenen Positionen entsprechend
einer Gaußverteilung um die exakte neue Position streuen. Analog zu dem zuvor
beschriebenen mathematischen Vorgehen, werden nun zu jedem möglichen Rotati-
onsvektor mit einem Winkelbereich von ω=0...5◦ die Punktverschiebungen auf dem
Detektorschirm neu berechnet. Allerdings wird nun eine gaußverteilte Wahrschein-
lichkeit überlagert, sodass alle Punkte P’ eine statistische Gaußverteilung um die
exakte neue Position aufweisen. Die Gaußverteilung wurde mit einer Halbbreite
von einer Pixelbreite angenommen. Die Ergebnisse dieser Berechnungen sind in Ab-
bildung 4.8 dargestellt. Mithilfe des Parameters δOrientation wird die zu erwartende
Präzision in Abhängigkeit des absoluten Misorientierungswinkels ω beschrieben. Ab-
bildung 4.8a zeigt die über alle Rotationsachsen gemittelte Präzision. Die schwarze
Linie markiert den durchschnittlichen Approximationsfehler. Der dunkelgraue Be-
reich markiert die die 1σ Quantile und der hellgraue Bereich die 2σ Quantile. Die
durchschnittliche Präzision liegt bei kleinen Misorientierungswinkel ω <2◦ relativ
konstant bei etwa 0.0125◦ . Die 2σ Quantile liegt bei etwa 0.03◦ . Für größere Mis-
orientierungswinkel 2< ω <5◦ steigen die Approximationsfehler bis auf etwa 0.075◦
für die durchschnittliche und auf über 0.11◦ für die 2σ Quantile an. Die Polfigur in
Abbildung 4.8b zeigt eine ähnliche Achsenabhängigkeit, wie zuvor beschrieben. Die
Ergebnisse der Berechnungen zeigen, dass das Approximationsverfahren für kleine
Misorientierungswinkel vonω <2◦ hinreichend genau ist und ohne weitere Korrek-
tur angewendet werden kann. Denn bereits ohne Korrektur stellt dies eine deutli-
che Verbesserung der Winkelauflösung gegenüber der Standard-EBSD-Methode dar,
die eine Winkelauflösung von etwa 0.5◦ aufweist. Für viele Anwendungsfälle ist die
bislang beschriebene Methode ausreichend, um relevante materialwissenschaftliche
Zusammenhänge der Mikrostruktur zu erfassen. Dennoch wird nun im Folgenden be-
schrieben, wie die Präzision weiter erhöht werden kann, indem die Näherungsfehler
durch eine im Vorfeld berechnete Baseline-Funktion korrigiert werden. Abbildung
4.8c und d zeigen die zu erwartende Präzision nach der Anwendung der Baseline-
Funktion. Es ist zu erkennen, dass die Baseline-Funktion dazu führt, das über den
gesamten Winkelbereich von ω=0...5◦ mit einer konstanten Präzision gemessen wer-
den kann. Ebenfalls zeigt Abbildung 4.8d, dass die Baseline-Funktion effektiv die

76
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Achsenabhänigkeit der Präzision aufhebt. Es können also Misorientierungen für al-


le Drehachsen und alle Drehwinkel mit einer konstanten Präzision von etwa 0.03◦
gemessen werden.

Berechnung und Anwendung der Baseline Funktion


Die Berechnung der Baseline-Funktion basiert auf den zuvor beschriebenen Über-
legungen bezüglich der Charakterisierung der Approximationsfehler. Wie bereits
erwähnt, werden die Verschiebungsvektoren der Messpunkte P zu den neuen Punk-
ten P’ per Rotationsmatrix für jeden Rotationsvektor berechnet. Für diese Operation
muss zunächst eine geeignete Funktion m(R) beschrieben werden, mit Hilfe derer
Rotationsvektoren in Rotationmatrizen umgewandelt werden können. Die dazu not-
wendigen Rechenoperationen werden folgend aufgelistet:

~ D| =
p
ωD = |R ∆α2 + ∆β 2 + ∆γ 2 (4.10)

 
ux
~D
R
~
UD = =  uy 
 
(4.11)
~ D|
|R
uz

 
~ D = cos(ωD )I + sin(ωD )[U
m R ~ D ]× + (1 − cos(ωD ))(U
~D ⊗ U
~ D) (4.12)

Um die Rotationsvektoren in Rotationsmatrizen umzurechnen, werden die Rotati-


onsvektoren zunächst in zwei unabhängige Größen zerlegt. Der absolute Drehwinkel
ω ist über die Länge des Rotationsvektors definiert. Die Drehachse wird als nor-
malisierter Vektor U ausgedrückt. Damit wird die im Rotationsvektor kombinierte
Information in die bekannte ”Axis/Angle”-Parametrisierung umgerechnet. Aus der
”Axis/Angle”-Parametrisierung lassen sich die Rotationsmatrizen leicht über eine
Standarddefinition berechnen. Die Transformationsfunktion m(R) stellt die Grund-
lage aller weiteren Überlegungen dar. Zunächst wird ein regelmäßiges Raster al-
ler möglichen (präzisen) Rotationsvektoren Rprec,D,l erzeugt. Der Index l gibt da-
bei die Nummer des Rotationsvektors innerhalb einer Array-Datenstruktur an. Alle
präzisen Rotationsvektoren werden anschließend in präzise Rotationsmatrizen trans-

77
formiert. Formal wird diese Operation wie folgt ausgedrückt:

 
Mprec,D,l ~ prec,D,l
=m R (4.13)

Somit erhält man einen gleichmäßig aufgelöstes Grid an präzisen Rotationsma-


trizen, für welche der präzise Rotationsvektor bekannt ist. Die Rotationsmatrizen
werden nun genutzt, um die mit jedem präzisem Rprec. einhergehenden Punktver-
schiebungen auf dem Detektorschirm zu simulieren. Dazu werden die Punktkoor-
dinaten aller Punkte P mithilfe der zuvor berechneten Rotationsmatrizen auf die
neuen Positionen P’ transformiert. Dabei müssen die Prinzipien der gnomonischen
Projektion berücksichtigt werden. Die geschieht hier einfach durch eine Normalisie-
rung der z Komponenten auf die Kamerallänge L.

p~′ prec,D,l = Mprec,D,l P~ref,D,l (4.14)

L
P~ ′ prec,D,l = p~′ prec,D,l (4.15)
zprec,D,l

Die nun zur Verfügung stehenden präzisen neuen Positionen Pprec,D,l werden ver-
wendet, um die in den obigen Absätzen beschriebene Näherungslösung Rappr.,D,l zu
berechnen. Es sind also sowohl die präzisen als auch die genäherten Rotationsvek-
toren bekannt. Im nächsten Schritt werden die approximierten Rotationsvektoren
Rappr.,D,l ebenfalls in approximierte Rotationsmatrizen umgewandelt:

 
Mappr,D,l = m R~ appr,D,l (4.16)

Es stehen nun sowohl die präzisen Rotationsmatrizen als auch die approximierten
Rotationsmatrizen zur Verfügung. Zwischen präzisen und approximierten Rotation-
matrizen besteht aufgrund der Approximationsfehler eine Differenz, die durch eine
Misorientierung ebenfalls als Rotationsmatrix beschrieben werden kann.

−1
Mmis,D,l = Mprec,D,l · Mappr,D,l (4.17)

78
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Abbildung 4.9: Darstellung der Baseline-Funktion als dreidimensionales Vek-


torfeld. (a) Baseline-Funktion für den Standard-Aufbau für
EBSD-Messungen. (b) Vergrößerter Ausschnitt aus der Baseline-
Funktion mit einem isoliert dargestellten Funktionswert. (c) Zwei-
dimensionaler Schnitt durch die Baseline-Funktion. (d) Baseline-
Funktion für einen alternativen geometrischen Aufbau mit ver-
mindertem Arbeitsabstand und dadurch verschobenes Pattern-
Center.

Analog dazu wird nun die Baseline so definiert, dass sie die aus dem Approxi-
mationsverfahren resultierende Abweichung korrigiert. Dadurch können die appro-
ximierten Lösungen durch eine Korrekturfunktion in präzise Lösungen überführt
werden:

79
~ appr,D,l ) · Mappr,D,l
Mprec,D,l = fBL (R (4.18)

 −1
~ ~
fBL (Rappr,D,l ) = Mprec,D,l · m Rappr,D,l (4.19)

Mit diesen Schritten ist die Berechnung der Baseline-Funktion abgeschlossen. In


Abbildung 4.9 wird die Baseline-Funktion auf verschiedene Arten visualisiert. Es
gilt zu beachten, dass für jeden geometrischen Versuchsaufbau eine neue Baseline-
Funktion berechnet werden muss, da diese auf der Simulation von zu erwarten-
den Beugungsbildverschiebungen basiert. Solange der experimentelle Aufbau un-
verändert bleibt, lassen sich mit ein und derselben Baseline-Funktion auch meh-
rere Messungen an verschiedenen Proben durchführen. Abbildung 4.9a zeigt die
Baseline-Funktion für eine optimale geometrische Versuchsanordnung entsprechend
der schematischen Zeichnung in Abbildung 4.2. Die Funktionswerte werden auf ei-
nem sphärischen Schnitt als Rotationsvektor dargestellt. Jeder schwarze Punkt auf
der Kugeloberfläche entspricht dabei einem approximierten Rotationsvektor Rappr.
mit einem fixierten Rotationswinkel von ω = 5◦ . Die farbkodierten Linien, deren
Ausgangspunkt den Koordinaten von Rappr.,D,l entsprechen, zeigen dabei die nötige
Korrekturrotation, die ebenfalls als Rotationsvektor dargestellt wird. Hier gilt es
zu beachten, dass es sich bei der Baseline-Funktion nicht um ein klassisches Vek-
torfeld handelt, sondern dass sowohl die Funktionswerte als auch die Koordinaten
der Baseline-Funktion Rotationsabbildungen beschreiben. Lediglich zur Visualisie-
rung wurden die Rotationen als Vektor dargestellt. Es ist zu erkennen, dass die
Baseline-Funktion an ihren Schnittpunkten mit den Detektorachsen keine Korrektur
vorsieht. Wie bereits erwähnt, stellt unser Approximationsverfahren hier eine exakte
Lösung dar. Die Korrekturfaktoren werden umso größer, je größer die Distanz zu den
Schnittpunkten mit den Detektorachsen wird. In Abbildung 4.9b ist ein vergrößerter
Ausschnit der Baseline-Funktion dargestellt. Zur Verdeutlichung wird nur ein ein-
zelner Wert der Baseline-Funktion ausgewählt. Die Baseline-Funktion ist in dieser
Darstellung in den Koordinaten ∆α, ∆β und ∆γ eingebettet. Die Verbindungsli-
nie zwischen dem Koordinatenursprung (∆α=∆β=∆γ=0◦ ) und jedem berechneten
Raumpunkt stellt eine Rotation zwischen Referenz- und Messbeugungsbild dar, die
als Rotationsvektor dargestellt ist. Anschaulich kann man sich dies als eine Drehung

80
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

um den in Abbildung 4.9b blau dargestellten Vektor vorstellen. Dabei gilt es den
rechtshändigen positiven Drehsinn zu beachten, wobei die absolute Länge des Vek-
tors als Drehwinkel interpretiert werden muss (in diesem Fall ω = 5◦ ). Der rot dar-
gestellt Vektor stellt den Funktionswert der Baseline-Funktion für den blau darge-
stellten approximierten Rotationsvektor dar. Auch der Funktionswert Der Baseline-
Funktion stellt eine Rotationsabbildung dar. Die Baseline-Funktion ist somit im
SO(3) Raum definiert und wird lediglich zur Visualisierung durch Rotationsvektoren
beschrieben. Der Prozess zur Orientierungsbestimmung besteht demnach aus zwei
nacheinander durchgeführten Rotationen. Zuerst wird eine approximierte Rotati-
on entsprechend des genäherten Rotationsvektors Rappr. durchgeführt. Anschließend
folgt eine kleine Korrekturrotation, um die systematischen Approximationsfehler zu
kompensieren. Abbildung 4.9c zeigt einen alternativen Schnitt durch die Baseline-
Funktion. In diesem Fall wurde der Parameter ∆α = 0 fixiert. Dadurch ergibt sich ein
ebener Schnitt durch die Baseline-Funktion auf dem die Funktionswerte für verschie-
dene Misorientierungswinkel ω (Länge des Rotationsvektors) sichtbar werden. Auch
hier ist zu erkennen, dass die Baseline-Funktion entlang der Detektorachsen keine
Korrekturen vorsieht. Für Rotationsvektoren mit zusammengesetzten Komponen-
ten zeigt sich, dass die Korrekturrotationen mit steigendem Misorientierungswinkel
ω ebenfalls ansteigen. Die Werte der Baseline-Funktion hängen also sowohl von der
Misorientierungsachse als auch vom absoluten Winkel der Misorientierung ab. Da-
bei existieren günstige und ungünstige Achsen. Für ungünstige Achsen wächst der
Korrekturterm mit steigendem Misorientierungswinkel ω. Daraus lässt sich erken-
nen, dass die hier beschriebene RVB-EBSD-Methode ihre Vorzüge insbesondere für
kleine Misorientierungswinkel zeigt.
In Abbildung 4.9d wird deutlich, dass die Baseline-Funktion für verschiedene geo-
metrische Konfigurationen unterschiedliche Formen annimmt. Exemplarisch wurde
für die Baseline-Funktion in Abbildung 4.9d ein verkürzter Arbeitsabstand von AA
= 14mm angenommen. Dadurch liegt das Pattern-Center nicht mehr im Ursprung
des Detektorkoordinatensystems. Es ist deutlich erkennbar, dass die Korrekturro-
tationen dadurch größere Drehwinkel annehmen und auch ihre Achsen anders im
Raum ausgerichtet sind. Ebenfalls stellen Rotationen um die Detektorkoordinaten-
achsen nun auch keine exakte Lösung mehr dar. Dies liegt daran, dass die Herleitung
des approximativen Rotationsvektors von einem idealen Versuchsaufbau ausgeht,
bei welchem das Pattern-Center auch im Zentrum des Detektorkoordinatensystems
liegt. Die Baseline-Funktion ist dennoch in der Lage auch in solchen Fällen präzise

81
Messungen zu ermöglichen. Da die Korrekturrotationen hier aber größere Werte
annehmen, ist ein solcher Aufbau nicht empfehlenswert.

Berechnung der geometrisch notwendigen Versetzungsdichte


Das Konzept der geometrisch notwendigen Versetzungen (engl. geometrically ne-
cessary dislocations, GNDs) stellt eine nützliche Charakterisierungsmethode dar,
mit Hilfe derer plastische Verformungen von Metallen quantitativ beschrieben wer-
den können [139, 140]. GNDs eignen sich insbesondere dafür, Kristallverformungen
auf kleinen Skalen lokal zu charakterisieren [141]. Plastische Verformung geht mit
einer Krümmung des Kristallgitters einher. Kleine Krümmungen des Kristallgitters
können elastisch akkomodiert werden, während stärkere Krümmungen durch Ver-
setzungen akkomodiert werden müssen. Der Ansatz der GNDs macht sich diesen
Zusammenhang zu Nutze. Auf Basis der von Pantleon [142] entwickelten Metho-
de lassen sich GND-Dichten aus EBSD-Messungen ableiten. Dafür sind hochpräzise
EBSD-Daten erforderlich, um zunächst die Kristallkrümmungen quantativ zu erfas-
sen. Anschließend lassen sich die Kristallkrümmungen durch Tensorrechnung in Ver-
setzungsdichten überführen, welche die jeweiligen Krümmungsradien in verschiedene
Richtungen ermöglichen. Zur Berechnung der GND Dichte folgen wir den von Pant-
leon vorgeschlagenen Rechenschritten [142]. Zunächst wird ein Krümmungstensor
αij aus den EBSD-Daten abgeleitet. Dies wird durch eine diskrete Differenzierung
der Orientierungsmatrizen umgesetzt. Es handelt sich bei dem Krümmungstensor
um die erste Ableitung der Orientierungsdaten in xP KS - und yP KS -Richtung. Der
Krümmungstensor (Gleichung 6 in [142]) kann mit dem Nye-Tensor [139] in Verbin-
dungen gebracht werden, was in Pantleons Arbeit [142]) der Gleichung 17 entspricht.
Der Nye Tensor enthält Informationen über die Dichte der geometrisch notwendi-
gen Versetzungen für jedes angenommene Gleitsystem. Wir haben 18 unterschied-
liche Gleitsysteme angenommen, darin enthalten sind 12 Stufenversetzungen und 6
Schraubenversetzungen mit jeweils einem Burgersvektor von a0/2 (1-11). Da mit
dem RVB-EBSD Verfahren nur zweidimensional aufgelöste Orientierungsdaten ge-
neriert werden können, sind die Krümmungskomponenten in zP KS Richtung nicht
verfügbar. Dadurch lässt sich der Nye Tensor nicht vollständig lösen, denn das Glei-
chungssystem ist aufgrund der fehlenden Komponenten unspezifiziert. Entsprechend
Pantleons Vorschlag, lässt sich die fehlende Information durch ein Minimierungsver-
fahren näherungsweise vervollständigen. Für diese Vorgehensweise haben wir eine
lineare L1-Energieminimierung gewählt. Mit Hilfe dieser Methodik lässt sich die

82
4.1 Grundlagen der RVB-EBSD-Methode

Dichte der geometrisch notwendigen Versetzungen lokal auflösen und darstellen. Da-
zu wird die Summe aller Versetzungdichten der verschiedenen Gleitsysteme aufsum-
miert, um einen örtlich aufgelösten eindimensionalen Parameter zu erhalten. Dieser
lässt sich schlussendlich durch ein farbkodiertes Mapping darstellen. Im Zusammen-
hang mit der Mikrostruktur einkristalliner Nickelbasis-Superlegierungen kann man
die Versetzungdichten vor dem Hintergrund der Kristallmosaizität interpretieren.
Kristallmosaizität ist durch leicht abweichende Wachstumsrichtungen der einzelnen
Dendriten bestimmt. Zwischen den Dendriten formen sich dadurch Kleinwinkelkorn-
grenzen, die sich durch hohe lokale Gitterkrümmungen auszeichnen. Folglich sind
dies auch Orte, an denen man hohe Versetzungsdichten erwarten kann. Die Verset-
zungen erfüllen hier die Funktion, die Misorientierungen zwischen den Kristalliten
zu akkomodieren.

83
4.2 EBSD-Analysen martensitischer Mikrostrukturen
Die mathematischen Grundlagen der in dieser Arbeit durchgeführten EBSD-Analysen
martensitischer Mikrostrukturen sind eng an die in Kapitel 2.5 beschriebenen Mecha-
nismen der PTMT angelehnt. Ein grundlegendes Element der durchgeführten Un-
tersuchungen stellt die kontinuierliche Beschreibung der ORs zwischen der früheren
Austenitorientierung und den Orientierungen der einzelnen Martensitvarianten dar.
Zu diesem Zweck wurde eine neuartige Parametrisierung der OR herangezogen, wel-
che die OR mithilfe dreier voneinander abhängiger Winkel kontinuierlich beschreiben
kann. Dabei handelt es sich um die Winkel ξ1 , ξ2 und ξ3 . Diese Winkel beschreiben
eine Starrkörperrotation und geben eine Misorientierung zwischen der Bain-Korres-
pondenz und den tatsächlichen Orientierungen der Martensitvarianten an. EBSD-
Messungen von martensitischen Mikrostrukturen enthalten nur Informationen über
die Orientierungen der jeweiligen Varianten. Sie enthalten jedoch keine Informatio-
nen über die zugrunde liegenden Scher- und Verformungsmechanismen. Aus diesen
Gründen musste zunächst eine allgemeingültige Funktionsvorschrift entwickelt wer-
den, mit derer Hilfe der Zusammenhang zwischen der vorherigen Austenit- und den
entstehenden Martensitorientierungen beschrieben werden kann. Die Grundlagen
dieses Ansatzes wurden von V. Yardley und E. Payton entwickeln. Einige grundle-
gende Elemente wurden in [143] veröffentlicht.
Für EBSD-Daten martensitischer Mikrostrukturen kann folgende Gleichung zur
Beschreibung des Zusammenhangs zwischen der Austenitorientierung und der ver-
schiedenen Variantenorientierungen des Martensits herangezogen werden:

DM ΘM (v, s) = ΩM (s)ΞBΓΩA (v)DA ΘA (4.20)

Dabei beschreiben DM und DA die Gitterparameter der Austenit bzw. Martensit-


phase. ΘM (v, s) entspricht den Martensitorientierungen. Die Laufvariable v=1,...,24
gibt die Nummer der im allgemeinen Fall 24 möglichen Martensitvarianten an. Die
Laufvariable s=1,...,24 beschreibt 24 symmetrisch äquivalenten Koordinatensyste-
me, um ein und dieselbe Variantenorientierung zu beschreiben. ΩM (s) beinhaltet al-
le 24 symmetrisch äquivalenten Matrixnotationen eines martensitischen krz-Gitters.
Ξ entspricht der Starrkörperrotation, welche die nächste Bain-Korrespondenz auf
die tatsächliche Martensitorientierung transformiert. Die Variable B beschreibt die
Bain-Verzerrungen, die ein tetragonal raumzentriertes Gitter in ein kubisch raum-

84
4.2 EBSD-Analysen martensitischer Mikrostrukturen

zentriertes Gitter überführen. Γ entspricht der Bain-Korrespondenz. ΩA (v) bein-


haltet alle 24 symmetrisch äquivalente Matrixnotationen eines austenitischen kfz-
Gitters. Die 24 symmetrisch äquivalenten Beschreibungsmöglichkeiten ein und der-
selben Austenitorientierungen werden durch die Transformation in 24 mögliche Mar-
tensitvarianten überführt. ΘA beschreibt schließlich die vorherige Austenitorientie-
rung in Matrixnotation.
Zum Besseren Verständnis der Gleichung 4.20 wurden einige Operatoren in Ab-
bildung 4.10 graphisch visualisiert.

Abbildung 4.10: Visualisierung der Variablen aus Gleichung 4.20. (a) Bain-Kor-
respondenz. (b) Bain-Verzerrungen. (c) Starrkörperrotation pa-
rametetrisiert durch ξ-Winkel. (c) ξ-Winkel dargestellt auf einer
Polfigur.

Abbildung 4.10a zeigt die Bain-Korrespondenz. Dabei handelt es sich um eine


simple Neudefinition der grundlegenden Achsen. Die Bain-Korrespondenz entspricht

85
der Variablen Γ in Gleichung 4.20 und der Matrix (bCf ) aus Kapitel 2.5. Die ro-
ten bzw. blauen Pfeile in Abbildung 4.10b visualisieren die Bain-Verzerrungen. Die
roten Pfeile entsprechen einer Stauchung in [001]-Richtung und die blauen Pfeile
visualisieren eine Streckung in die [100]- und [010]-Richtungen. Damit entspricht die
Visualisierung in Abbildung 4.10b der Matrix B aus Gleichung 4.20 und gleichzei-
tig der Matrix (f Bf ) aus Kapitel 2.5. In den Abbildungsteilen 4.10c und d wird
schließlich die Starrkörperrotation dargestellt, welche die Bain-Orientierung schließ-
lich auf die tatsächliche Variantenorientierung einer Martensitvariante rotiert. Die-
se Starrkörperrotation wird in Gleichung 4.20 durch die Variable Ξ ausgedrückt.
Die Kosinus Werte der Elemente der Hauptdiagonalen entsprechen den einzelnen ξ
Winkeln. Im Vergleich mit Abbildung 2.31 fällt auf, dass das finale Ergebnis der
PTMT Berechnungen aus Kapitel 2.5 die gleiche mathematische Basis besitzt, wie
die formale Beschreibung der Martensittransformation für EBSD Daten. In beiden
Fällen ist das Endresultat eine Starrkörperrotation relativ zur Bain-Korrespondenz.
Auf diese Weise ist es nun möglich, die OR einerseits theoretisch aus der PTMT
abzuleiten und andererseits direkt aus EBSD Daten zu bestimmen. Die Parametri-
sierung durch die drei charakteristischen ξ-Winkel ermöglicht zum einen sowohl eine
kontinuierliche Beschreibung der OR, als auch einen direkten Vergleich zwischen
theoretisch hergeleiteten ORs aus der PTMT und tatsächlich gemessenen ORs aus
EBSD-Datensätzen. Abbildung 4.10d zeigt schließlich die Definition der ξ Winkel
nochmals auf einer Polfigur.
Mithilfe der Transformationsvorschrift aus Gleichung 4.20 ist es nun möglich, alle
24 möglichen Variantenorientierungen des Martensits in Abhängigkeit der Austenit-
orientierung zu berechnen. Allerdings kann die Gleichung 4.20 nicht direkt Verwen-
dung finden, da zu Beginn der Messung weder die vorherige Austenitorientierung
noch die tatsächlich vorliegende OR bekannt ist. Aus diesem Grund müssen mehre-
re iterative Schritte der Datenanalyse durchgeführt werden, bevor die tatsächliche
OR und die vorherige Austenitorientierung berechnet werden können. Dazu ist es
zunächst nötig, eine inverse Transformationsvorschrift zu entwickeln, welche als
Rückwärtstransformation von Martensit zurück zum Austenit interpretiert werden
kann. Dies lässt sich Dank der Matrixnotation nun durch einfaches Invertieren er-
reichen. Daraus ergibt sich für die inverse Transformationsvorschrift:

−1 −1 −1
ΘA (v, s)k = DA ΩA (v) Γ−1 B −1 Ξ−1 ΩM (s) DM ΘkM (4.21)

86
4.2 EBSD-Analysen martensitischer Mikrostrukturen

Die benötigten Variablen entsprechen dabei der selben Definition wie zuvor. Zu-
sätzlich existiert nun aber eine Laufvariable k. Diese zählt die Anzahl der Pixel einer
EBSD-Messung. Bei einer Messung mit z.B. 500000 Messpunkten würde die Lauf-
variable die Werte k=1,...,500.000 durchlaufen. Mithilfe der inversen Transformati-
onsvorschrift lassen sich aus jeder Martensitorientierung 24 mögliche frühere Auste-
nitorientierungen berechnen, die mit jeweils 24 äquivalenten Orientierungsmatrizen
beschrieben werden können. Dadurch ist die Austenitorientierung ΘA (v, s)k von den
Laufvariablen v und s abhängig, da jede einzelne Punktmessung einer Martensitori-
entierung v=24 mögliche Austenitorientierungen besitzt, die auf s=24 äquivalente
Weisen beschrieben werden können. Somit existieren für jeden martensitischen Mess-
punkt des EBSD Datensatzes 576 potentielle Orientierungsmatrizen für die vorherige
Austenitorientierung. Darüber hinaus besitzt natürlich jeder individuelle Messpunkt
k seine indivuellen 576 potentiellen Austenitorientierungen. Um aus dieser großen
Anzahl potentieller früheren Austenitorientierungen die richtige zu isolieren, wurde
ein statistischer Ansatz gewählt. Dazu wird aus allen v · s · k möglichen Austenit-
orientierungen eine Orientierungsdichtefunktion (ODF) erstellt. Sofern mehrere Va-
rianten eines einzigen früheren Austenitkorns in der Messung erhalten sind, ergibt
die Überlagerung aller möglichen früheren Austenitorientierungen ein eindeutiges
Maximum. Die Orientierung mit der höchsten Dichte aus der ODF wird extrahiert
und entspricht nun der tatsächlichen Orientierung des früheren Austenitkorns.
Mathematisch lässt sich dies wie folgt ausdrücken:

* +
X
ΘA = ΘA (v, s)k (4.22)
k

Die Berechnung der vorherigen Austenitorientierung stellt den ersten Schritt der
Datenanalyse dar. Dazu werden die Gleichungen 4.21 und 4.22 unter Annahme einer
vermuteten OR Ξass herangezogen. Es folgen 6 weitere Schritte der Datenanalyse, die
benötigt werden, um die martensitische Mikrostruktur vollständig zu beschreiben.
Zum Besseren Verständnis werden einige ausgewählte Berechnungsschritte anhand
eines konkreten Beispiels erläutert und in Abbildung 4.11 dargestellt.

87
Abbildung 4.11: Rechenschritte zur Analyse martensitischer Gefüge am Bei-
spiel einer Fe-27,5Ni Legierung. (a) IPF(ND) Map des EBSD-
Datensatzes. (b) ODF aller möglichen früheren Austenitorientie-
rungen. (c) Polfigur der Variantenorientierungen des Martensits
(graue Punktwolke) und berechnete frühere Austenitorientierung
(rote Punkte). (d) Rückorientierung des EBSD-Datensatzes, so-
dass die Austenitachsen mit denen der Polfigur übereinstimmen.
(e) ODF der repräsentativen Variante des Datensatzes. (f) Ein-
orientierte Polfigur aller Variantenorientierungen des Marten-
sits (graue Punktwolke) mit überlagerten Varianten, die aus der
durchschnittlichen OR abgeleitet wurden.

88
4.2 EBSD-Analysen martensitischer Mikrostrukturen

In Abbildung 4.11a ist ein Standard-IPF(ND) farbkodiertes EBSD-Bild einer Fe-


27.5Ni Legierung dargestellt. Im ersten Schritt wird eine ODF aller möglichen vor-
herigen Austenitorientierungen unter Zuhilfenahme der Gleichungen 4.21 und 4.22
und einer angenommen Orientierungsbeziehzung Ξass erstellt. Die Orientierung mit
der maximalen Dichte entspricht der vorherigen Austenitorientierung die auf der
(001) Polfigur in Abbildung 4.11c rot dargestellt ist. Die feinen grauen Punkte in
Abbildung 4.11c entsprechen den vielzähligen Martensitorientierungen. Im nächsten
−1
Schritt wird der gesamte EBSD-Datensatz um ΘA rotiert. Dadurch werden die
Hauptachsen der früheren Austenitorientierung parallel zu den Hauptachsen der
Polfigur ausgerichtet, wie es in Abbildung 4.11d dargestellt ist. Anschließend wer-
den die Symmetrieoperatoren ΩM (s) und ΩA (v) verwendet, um die Symmetrie der
24 Martensitvarianten so zu reduzieren, dass sie als eine repräsentative Variante be-
schrieben werden können. Nachdem die repräsentative Variante zusätzlich mit Hilfe
der Bain-Korrespondenz Γ−1 zurück rotiert wurde, wird nun eine weitere ODF der
repräsentativen Variante berechnet. Es gilt zu beachten, dass jeder einzelne Mess-
punkt auf eine symmetriereduzierte repräsentative Variante zurück geführt werden
kann, wodurch insgesamt k Orientierungen einer repräsentativen Variante vorliegen.
Aus dieser Vielzahl aus Orientierungen wird abermals eine ODF erstellt, wie sie in
Abbildung 4.11e dargestellt wird. Auch hier wird die Orientierung der maximalen
Dichte extrahiert, die fortan als durchschnittliche repräsentative Variante betrachtet
wird. Aus dieser durchschnittlichen repräsentativen Variante wird nun die Matrix
Ξ berechnet, aus der die individuellen ξ-Winkel abgeleitet werden können. Damit
wurde nun Ξ entsprechend der konkreten Messdaten des zugrunde liegenden EBSD-
Datensatzen bestimmt. Dies entspricht der gemessenen durchschnittlichen OR der
Fe-27,5Ni Legierung. Die nun experimentell bestimmte Matrix Ξ wird anschließend
in Gleichung 4.20 eingesetzt, um daraus die Orientierung aller 24 möglichen Mar-
tensitvarianten zu berechnen. Abschließend zeigt Abbildung 4.11f die Polfigur der
einorientierten Martensitorientierungen als graue Punktwolke, auf welche die nun
berechneten Varianten der durchschnittlichen OR als schwarze Kreuze überlagert
dargestellt werden. Die Abbildungen 4.11c und f zeigen, dass es mit der hier vor-
gestellten Methode möglich ist, sowohl die frühere Austenitorientierung aus den
Variantenorientierungen des Martensits abzuleiten, als auch eine durchschnittliche
OR zu berechnen, welche einen guten Fit an die einzelnen Messpunkte aufweist.

89
4.3 Farbkodierung
Die in dieser Arbeit entwickelten hoch-spezialisierten Analysemethoden machen es
erforderlich, dass ebenfalls spezialisierte Visualisierungsmethoden entwickelt werden
mussten, um die kristallographischen Zusammenhänge der jeweiligen Mikrostruktu-
ren sichtbar zu machen. Dazu wurden neuartige Farbkodierungen entwickelt, wobei
sowohl die Wahl eines geeigneten Farbraums, als auch die zu Grunde liegenden Re-
ferenzsysteme berücksichtigt wurden. Insbesondere für EBSD-Analysen stellt eine
optisch ansprechende und mathematisch sinnvolle Wahl der Farbkodierung eine we-
sentliche Komponente aller Untersuchungen dar [144]. Für Standardanwendungen
des EBSD-Verfahrens kommen in aller Regel so genannte IPF (engl.: inverse pole
figure) Farbkodierungen zum Einsatz. Dabei wird die Orientierung auf die funda-
mentale Zone der entsprechenden Kristallsymmetrie reduziert und anschließend die
zu einer Referenzrichtung parallele Ebene entsprechend einer Farbkodierung auf der
fundamentalen Zone eingefärbt. Diese Art der Farbkodierung ist für die in dieser
Arbeit durchgeführten Analysen jedoch nicht hinreichend, da sie einerseits nicht
die vollständige kristallographische Ausrichtung der Kristallitte abbildet und ande-
rerseits auch von der kristallographischen Orientierung des früheren Austenitkorns
abhängt. Nachfolgend werden die hier entwickelten und applizierten Farbkodierun-
gen für die Analyse der einkristallinen Nickelbasis-Superlegierungen und der mar-
tensitischen Gefüge näher erläutert.

Farbkodierung für einkristalliner Nickelbasis-Superlegierungen: Die Farb-


kodierungen für einkristalline Nickelbasis-Superlegierungen verwenden als Referenz-
systeme die bereits beschriebenen Koordinatensysteme PKS (Probenkoordinaten-
system) und FKS (Fensterkoordinatensystem), Abbildungen 4.1 und 4.2. Die Grund-
lage aller Farbkodierungen, die in dieser Arbeit für einkristalline Nickelbasis-Super-
legierungen eingesetzt werden, stellt im ersten Schritt eine Reduktion der Symmetrie
dar. In einkristlalinen Nickelbasis-Superlegierungen liegt sowohl die γ als auch die
γ ′ Phase in einer kubischen Symmetrie vor. Eine kubische Symmetrie bedeutet, dass
beispielsweise alle h001i-Richtungen äquivalent sind und sich nicht voneinander un-
terscheiden lassen. Aufgrund der Wachstumsbedingungen im Bridgman-Prozess ist
es nun allerdings durchaus möglich, die einzelnen h001i unter Einfluss zusätzlichen
äußeren Wissens von einander zu trennen. In der Praxis bedeutet dies, dass die

90
4.3 Farbkodierung

makroskopische Probe eine Anisotropie aufweist, die von der kubischen Symmetrie
abweicht. So lässt sich beispielsweise die Wachstumsrichtung der Dendriten in die
entsprechende kristallographische [001] von den anderen beiden Hauptrichtungen
[100] und [010] unterscheiden. Diese Überlegung stellt die Grundlage der nachfol-
genden Farbkodierungen dar. Für die mathematische Beschreibung der EBSD-Daten
bedeutet dies, dass zunächst alle Orientierungen auf eine fundamentale Beschreibung
innerhalb des Standarddreiecks reduziert werden. Anschließend wird die Symmetrie
des gesamten Datensatzes aufgelöst, indem jeweils eine 360◦ -Rotationssymmetrie für
alle Achsen angenommen wird. Dies entspricht der mathematisch allgemeingültigen
Definition eines rechtshändigen Koordinatensystems, ohne zusätzliche Symmetrie-
operationen. Dadurch lassen sich nun die einzelnen h001i-Richtungen voneinander
trennen, und werden folgend nicht mehr als äquivalente Richtungen interpretiert.
Auf Grundlage dieser Symmetriereduktion ist es nun möglich, die [001]-Wachs-
tumsrichtung in absoluten Koordinaten relativ zum PKS anzugeben. Dazu wird die
jeweilige lokale [001]-Richtung eines jeden Messpunkts isoliert. Dadurch ergibt sich
eine Vielzahl an Vektoren, die den blauen Vektoren cl in Abbildung 4.2b und c
entsprechen. All diese Vektoren liegen Nahe an der zP -Richtung, weisen allerdings
kleine Abweichungen von der idealen [001]P -Richtung auf. Folgend werden die kar-
tesischen Koordinaten der individuellen cl -Vektoren per Koordinatentransformation
in Kugelkoordinaten überführt. Dadurch lässt sich die Ausrichtung der einzelnen cl
Richtungen mithilfe zweier Winkel Ψl (Polarwinkel) und φl (Azimuthwinkel) para-
metrisieren und relativ zum PKS darstellen. In Abbildung 4.12a sind die Wachs-
tumsrichtungen cl der vier Beispieldendriten aus Abbildung 4.2b und c auf einer
Polfigur dargestellt. Zusätzlich sind die beiden Parameter Ψ und ϕ mitsamt des
positiven Drehsinns von ϕ indiziert. Es wird deutlich, dass die individuellen Wachs-
tumsrichtungen cl (blaue Kreuze) alle im unteren linken Quadranten der Polfigur
liegen. Das Zentrum der Polfigur entspricht mit zP der z-Koordinaten des PKS, also
der Längsachse der zylindischen Probe. Die Position der blauen Kreuze innerhalb
der in Abbildung 4.12b gezeigten Farbkodierung bedeutet, dass die vier Beispiel-
dendriten alle in einem violetten bis blauen Farbton abgebildet werden, wie dies in
Abbildung 4.2b und c bereits dargestellt wurde.
Um die gesamte Polfigur entsprechend eines kontinuierlichen und eindeutigen
Farbschemas einzufärben, wurde auf den hsv-Farbraum zurückgegriffen. Der hsv-
Farbraum ermöglicht eine mathematische Beschreibung aller darstellbaren Farben
auf der Grundlage dreier unabhängiger Parameter h (hue), s (saturation) und v (va-

91
lue). Der hsv-Farbraum entspricht einer äquivalenten Beschreibung des additiven rgb
Farbraums, wobei er die menschliche Wahrnehmung von Farbtönen, Farbsättigung
und Helligkeit mit berücksichtigt [145]. Der h-Wert entspricht dabei dem Farbton.
Dieser wird proportional zum Azimuthwinkel ϕ angewendet. Die beiden Parameter
s und v werden entsprechend einer Sinusfunktion mit dem Polarwinkel Ψ verknüpft.
Je nachdem, wie groß die Abweichung von der idealen [001]P ausfällt, wird ein ma-
ximaler Wert Ψmax ausgewählt. In diesem Beispiel wurde Ψmax = 15◦ gewählt.
Der genaue mathematische Zusammenhang zwischen den Polarwinkel Ψ und ϕ
ergibt sich wie folgt:

 π
 ϕl + 2 ; ϕl ≤ 3π
2π 2
hl (ϕl ) : [0, 2π] → R : ϕl 7→ (4.23)
 ϕl − 3π2 ; ϕl ≥ 3π
2π 2

  
sin Ψl π
2Ψmax
; Ψl ≤ Ψmax
sl (Ψl ) : [0, π] → R : Ψl 7→ (4.24)
1 ; Ψl > Ψmax

  
sin π + Ψl π
2 2Ψmax
; Ψl ≤ Ψmax
vl (Ψl ) : [0, π] → R : Ψl 7→ (4.25)
0 ; Ψl > Ψmax

Die Gleichungen 4.23 bis 4.25 beschreiben die Berechnung der hsv-Farbwerte in
Abhängigkeit der beiden Parameter Ψ und ϕ im Bogenmaß. Der Definitionsbereich
des Azimuthwinkels ϕ liegt zwischen 0 und 2π, also zwischen 0◦ und 360◦ . Entspre-
chend der Funktion in Gleichung 4.23 werden Winkel aus diesem Definitionsbereich
auf das Invervall [0,l] linear transformiert. Der Definitionsbereich des Polarwinkels Ψ
liegt im Bogenmaß zwischen 0 und π, also zwischen 0◦ und 180◦ . Mithilfe einer Fall-
unterscheidung wird der Farbraum allerdings nur bis zum gewählten Maximalwinkel
Ψmax dynamisch berechnet. Zum besseren Verständnis wurden die Gleichungen 4.24
und 4.25 als Funktion in Abbildung 4.12c dargestellt. Die blaue Kurve zeigt die
Abhängigkeit zwischen s und Ψ. Die rot dargestellt Kurve zeigt den Zusammenhang
zwischen v und Ψ. Zusätzlich wurde in schwarz das Produkt aus s·v dargestellt. Dies
lässt sich als wahrgenommene Farbintensität interpretieren. Das Produkt aus s und
v beginnt bei Ψ = 0◦ mit einem Funktionswert von 0. Hier liegt keine wahrgenom-

92
4.3 Farbkodierung

mene Farbintensität vor. Da die Helligkeit v hier den maximalen Wert 1 einnimmt,
erscheinen solche Orientierungen entsprechend der Farbkodierung weiß. Dies ent-
spricht dem Zentrum der Polfigur in Abbildung 4.12b.

Abbildung 4.12: Darstellung der entwickelten Farbkodierung anhand der Beispiel-


dendriten aus Abbildung 4.2b und c. (a) cl -Wachstumsrichtungen
(blaue Kreuze) der vier Beispieldendriten relativ zum PKS. Das
rote Kreuz markiert die durchschnittliche Wachstumsrichtung
und damit ebenfalls die cF -Richtung des FKS. (b) Vollständige
Farbkodierung des gewählten Ausschnitts der Polfigur. (c) Zu-
sammenhang zwischen den h-,s- und v-Farbwerten und den Po-
larkoordinaten Ψ und φ. (d) Ausgewählte Farbverläufe für jeweils
einen fixierten φ-Wertes und variierenden Ψ-Werten. (d) Farbko-
dierte Mikrostruktur relativ zum PKS.

93
Anschließend durchläuft das Produkt bei Ψmax /2 ein Maximum. An dieser Stelle
wird die maximale Farbintensität wahrgenommen. Schließlich fällt das Produkt bei
Ψmax auf 0 ab. Auch hier wird keine Farbintensität wahrgenommen. Die Helligkeit
v hat an dieser Stelle den Wert 0. Orientierungen, die einen Polarwinkel größer oder
gleich des gewählten maximalen Polarwinkels beschreiben, werden folglich schwarz
dargestellt. Dies entspricht dem Randbereich der in Abbildung 4.12b dargestellten
Farbkodierung.
Abbildung 4.12d zeigt eine Auswahl an verschiedenen Farbtönen für jeweils einen
fixierten ϕ-Wert. Bei einem konstanten ϕ Wert bleibt der Farbton ebenfalls kon-
stant. Die Farbintensität wird zusätzlich durch den Ψ-Wert moduliert und deckt
die Farbintensität des jeweiligen Farbtons zwischen weiß und schwarz ab. In Ab-
bildung 4.12e ist schließlich ein exemplarischer RVB-EBSD-Datensatz gezeigt, der
relativ zum PKS mit der hier beschriebenen Farbkodierung dargestellt wurde. Es
ist zu erkennen, dass alle Orientierungen leicht unterhalb des Zentrums der Polfi-
gur (zP ) liegen und folglich alle in einem Rotton dargestellt werden. Dies entspricht
der absoluten Abweichung der tatsächlichen Wachstumsrichtung der Dendriten von
der angestrebten perfekten Wachstumsrichtung entlang der Längsachse der zylindri-
schen Probe (zP ).
Um auch feinere Orientierungsunterscheide zwischen den einzelnen Dendriten
sichtbar zu machen, wurde eine weitere Art der Farbkodierung entwickelt. Diese Art
der Farbkodierung, die in Abbildung 4.13 dargestellt ist, wird analog zu der oben be-
schriebenen Vorgehensweise erzeugt. Allerdings wird der gesamte EBSD-Datensatz
zuvor so einorientiert, dass die mittlere Wachstumsrichtung des betrachteten Scan-
fensters ins Zentrum der Polfigur rotiert wird, Abbildung 4.13a. Dadurch verteilen
sich die individuellen Wachstumsrichtungen cl nun gleichmäßig in alle Quadranten
der Polfigur, wodurch der Maximalwinkel Ψmax nun wesentlich kleiner gewählt wer-
den kann. In diesem Beispiel kann der Wert Ψmax nach der Einorientierung auf 5◦
reduziert werden. Eine Reduktion von Ψmax bedeutet eine höhere Sensitivität der
Farbwerte, wodurch schon kleine Orientierungsunterschiede mit einem klaren Farb-
kontrast dargestellt werden. Die neue Positionen der individuellen cl -Richtungen
werden in Abbildung 4.13b auf einem vergrößerten Ausschnitt der Polfigur als blaue
Kreuze dargestellt. Es ist zu erkennen, dass die mittlere Wachstumsrichtung cF nun
im Zentrum der Polfigur liegt. Abbildung 4.13c zeigt, dass die individuellen Orien-
tierungen der Dendriten durch diese Operation farblich eindeutiger separiert werden
können.

94
4.3 Farbkodierung

Abbildung 4.13: Darstellung der Farbkodierung nach Einorientierung in das FKS.


(a) Die mittlere Wachstumsrichtung cF wurde per Rotation auf
das Zentrum der Polfigur verschoben. (b) Vergrößerte Farbko-
dierung der Polfigur mit Ψmax = 5◦ . (c) Resultierende Farbdar-
stellung der vier Beispieldendriten aus Abbildung 4.2b und c.

Die bisher beschriebenen Verfahren der Farbkodierung beziehen sich bislang ledig-
lich auf die Wachstumsrichtung der einzelnen Dendriten. Dies stellt im Zusammen-
hang des Wachstumswettbewerbs einzelner Dendriten zwar das Hauptaugenmerkt
der vorliegenden Arbeit dar, jedoch bedarf es einer weiteren Art der Farbkodie-
rung, um die Orientierungen der einzelnen Dendriten vollständig zu beschreiben.
Nachdem die Wachstumsrichtungen nun also mathematisch mithilfe von Polarkoor-
dinaten beschrieben wurden, folgt anschließend die Beschreibung der Orientierung
der Sekundärrichtungen [100] und [010]. Auch in diesem Fall wird das FKS als Re-
ferenzsystem herangezogen. Zusätzlich zur Wachstumsrichtung kann man sich eine
zusätzliche Rotation um die jeweilige Längsachse eines jeden Dendritens (cl ) vorstel-
len, wodurch die Orientierung eines jeden Kristallits vollständig beschrieben werden
kann. In Abbildung 4.14a wird diese Rotation in einem vereinfachten Fallbeispiel
schematisch dargestellt. Der weiße Dendrit in Abbildung 4.14a besitzt eine Orien-
tierung, die exakt parallel zum FKS liegt. Seine Wachstumsrichtung (cl ) entspricht
cF und seine jeweiligen Sekundärrichtungen (al und bl ) entsprechen ebenfalls den
Achsen aF und bF des FKS. Dieser Dendrit wird somit weiß dargestellt, da seine
Orientierung mit dem Referenzsystem deckungsgleich ist. Nun kann man sich zwei
weitere Fallbeispiele vorstellen, bei denen die Dendriten um die eigene Längsachse
etwas nach links bzw. nach rechts verdreht sind. Diese werden in Abbildung 4.14a
rot bzw. blau dargestellt. Die Verdrehung um die eigene Längsachse wird durch
den Winkel τ beschrieben. Dieser entspricht dem Winkel zwischen der aF -Achse des
FKS und dem auf die von aF und bf aufgespannte Ebene projizierten al Vektors.

95
Da die Wachstumsrichtungen einzelner Dendriten im allgemeinen Fall nicht parallel
sind, muss die Orientierung zunächst in zwei aufeinander folgende Rotationsopera-
tionen zerlegt werden, um eine allgemein gültige Beschreibung von τ zu erhalten.
Dies geschieht wie folgt.
Wir betrachten nun zunächst die Rotationsmatrix MF l , welche das FKS auf das
jeweilige LKS eines jeden Messpunktes rotiert. Ziel der folgenden Rechenoperatio-
nen ist es, MF l in zwei aufeinanderfolgende Rotationen M1 und M2 zu zerlegen,
sodass M1 zunächst nur die mittlere Wachstumsrichtung cF auf die individuelle
Wachstumsrichtung cl eines jeden Messpunkts abbildet. Dies geschieht durch eine
Rotation, deren Rotationsachse in der von aF und bf aufgespannten Ebene liegt.
Die Rotationsachse von M1 ergibt sich zu:

c~F × c~l
ax
~1= (4.26)
|c~F × c~l |

Der dazugehörige Rotationswinkel berechnet sich zu:

an1 = arccos(an1 · ax
~ 1) (4.27)

Daraus ergibt sich die Rotationsmatrix M1 zu:

M1 = mR~ (an1 · ax
~ 1) (4.28)

Die Rotationsmatrix rotiert das FKS auf ein Übergangskoordinatensystem UKS


mit den Koordinaten aU , bU und cU = cl . Dadurch wurde zunächst nur die Wachs-
tumsrichtung an die korrekte Position rotiert, ohne dabei die zusätzliche Verdrehung
entlang der individuellen Wachstumsrichtung zu berücksichtigen. Somit ist nun eine
zweite Rotation (M2 ) notwendig, welche die Sekundärachsen der Dendriten in die
korrekte Ausrichtung überführt. Die Rotation M2 wird immer durch die Rotations-
achse cl definiert. Dies entspricht der cl -Achse eines jeden Messpunktes. Der Winkel
der zweiten Rotation entspricht gerade dem Parameter τ . Daraus folgt:

|τ | = arccos(a~U · a~l ) (4.29)

96
4.3 Farbkodierung

Der korrekte Drehsinn von τ wird durch eine Fallunterscheidung definiert:


+|τ | ; a~U ·a~l = c~
|a~U ·a~l | l
τ= (4.30)
a~ ·a~
−|τ | ; U l = −~
|a~U ·a~l |
cl

Daraus ergibt sich die Rotationsmatrix M2 zu:

M2 = mR~ (τ · ~c1 ) (4.31)

Sodass die Gesamtrotation MF L durch zwei aufeinander folgende Rotationsope-


ratoren ausgedrückt werden kann:

MF L = M2 × M 1 (4.32)

Die Ergebnisse der beschriebenen Berechnungen können im letzten Schritt durch


eine kontinuierliche binäre Farbkodierung visualisiert werden. Dazu wird ein Maxi-
malwinkel τmax gewählt, der einer maximalen Farbsättigung entspricht (in diesem
Fall τmax = 20◦ . Je kleiner der absolute Wert von τ desto schwächer ist die entspre-
chende Farbintensität. Im Grenzfall τ = 0 wird der entsprechende Messpunkt weiß
dargestellt. Positive τ -Winkel werden rot und negative blau dargestellt. Je größer τ
ist, desto farblich intensiver erscheint der jeweilige Messpunkt in der Farbkodierung
entsprechend Abbildung 4.14b. Das Resultat der hier beschriebenen Vorgehensweise
ist in Abbildung 4.14c für die vier Beispieldendriten dargestellt.

97
Abbildung 4.14: Darstellung der τ Komponente zur vollständigen Beschreibung
der Orientierung. (a) Vereinfachte Darstellung durch drei Den-
driten, die jeweils eine Wachstumsrichtung von cl aufweisen, sich
jedoch in ihrer Sekundärrichtung unterscheiden. (b) Farbkodie-
rung des τ Winkels. (c) Vier Beispieldendriten entsprechend der
τ Farbkodierung eingefärbt.

Varianten-Farbkodierung für martensitische Gefüge: Die Farbkodierung


der martensitischen Mikrostrukturen bezieht sich auf die in Kapitel 4.3 beschriebe-
nen Methoden der EBSD-Datenanalyse. Aus den Berechnungen des Kapitels 4.3 geht
eine gemessene durschchnittliche OR hervor, aus der ebenfalls ein Satz von 24 durch-
schnittlichen Variantenorientierungen des Martensits generiert werden können. Im
Falle martensitischer Mikrostrukturen ist es sinnvoll, die Standard-IPF-Farbkodierung
zu ersetzen, da diese beispielsweise durch die Orientierung des früheren Auste-
nitkorns maßgeblich beeinflusst wird. Demzufolge ist es schwierig aus Standard-
IPF-Maps Regelmäßigkeiten des martensitischen Gefüges abzuleiten. Um diesem
Problem zu begegnen, wurde in der vorliegenden Arbeit eine Farbkodierung ver-
wendet, welche als ”Varianten-Farbkodierung” interpretiert werden kann. Varianten
des gleichen Typs sollen mit der gleichen Farbe dargestellt werden, wobei unter-
schiedliche Varianten klar voneinander getrennt werden sollen. Dieses Ziel wurde
dadurch erreicht, dass jede einzelne Punktmessung mit den Variantenorientierungen
der durchschnittlichen OR verglichen wurde. Anschließend wurde die Fehlorientie-
rung zwischen jeder einzelnen Punktmessung und jeder möglichen durchschnittlichen
Variantenorientierung berechnet. Jedem Messpunkt wurde diejenige durchschnittli-
che Variantenorientierung zugeordnet, zu welcher eine minimale Fehlorientierung
besteht. Das Farbschema der Varianten-Farbkodierung ist in Abbildung 4.15 darge-
stellt.

98
4.3 Farbkodierung

Abbildung 4.15: Darstellung der Varianten-Farbkodierung auf einer (001)-


Polfigur.

Jede der 24 möglichen Varianten werden entsprechen der Varianten-Farbkodierung


aus Abbildung 4.15 mit einer einheitlichen Farbe dargestellt. Dazu wird zunächst die
mittlere OR berechnet, wie es in Kapitel 4.3 beschrieben ist. Daraus wird ein Satz
an 24 durchschnittlichen Varianten generiert. Anschließend wird jeder Messpunkt
des EBSD-Datensatzes mit allen 24 durchschnittlichen Variantenorientierungen ver-
glichen. Jeder Messpunkt wird derjenigen Variante zugeordnet, zu der die kleinste
Fehlorientierung besteht. Zusätzlich wird ebenfalls die Fehlorientierung zwischen
den tatsächlichen Messpunkten und der nächsten durchschnittlichen Variantenori-
entierung berechnet und abgespeichert. Die Abweichung zur mittleren OR kann
anschließend ebenfalls als Mapping abgebildet werden, wobei eine standard Heat-
map Farbkodierung verwendet wird. Auf diese Weise lassen sich zwei wesentliche
Komponenten martensitischer Mikrostrukturen von einander trennen. Zum einen
werden entsprechend der Varianten-Farbkodierung aus Abbildung 4.15 nur die Vari-
anten dargestellt, aus denen Rückschlüsse auf die Variantenselektion gezogen werden
können. Zum anderen können mithilfe der Abweichung von der mittleren OR loka-
le Gitterrotationen identifiziert werden, die auf plastische Verformungen in diesen
Probenbereiche schließen lassen.

99
4.4 Material und Proben
Einkristalline Nickelbasis-Superlegierung:
Die in dieser Arbeit untersuchten Nickelbasis-Superlegierungen wurden ”klassisch”
am Institut für Werkstoffe der RUB in einem Bridgman-Ofen hergestellt. Die additiv
gefertigten einkristallinen Nickelbasis-Superlegierungen wurden von der Forscher-
gruppe von Professorin C. Körner von der Universität Erlangen-Nürnberg bereitge-
stellt. Abbildung 4.16 zeigt den Ofen, mit dem die in dieser Arbeit charakterisierten
Proben erschmolzen wurden. Die genauen Spezifikationen der Anlage sind in [5]
angegeben.

Abbildung 4.16: Bridgman Ofen der Ruhr-Universität-Bochum [5]

Die nominelle Legierungszusammensetzung der hier verwendeten Proben entspricht


den Spezifikationen der einkristallinen Nickelbasis-Superlegierung ERBO1, welche
im Rahmen des SFB/TR 103 als Referenzlegierung dient und die gleiche chemische
Zusammensetzung wie die in der Industrie verbreitete Legierung CMSX-4 aufweist.
Die mittlere Zusammensetzung der Legierung ist in Tabelle ?? angegeben.
Beim Schmelzvorgang wurde ein zuvor mittels Laue-Verfahren einorientierter ein-

100
4.4 Material und Proben

Element Co Ta Cr W Al Re Ti Mo Hf Ni
Gewichts% 9,5 6,5 6,4 6,4 5,6 3,0 1,0 0,6 0,1 Rest

Tabelle 4.1: Mittlere chemische Zusammensetzung der ERBO1 Legierung.

kristalliner Impfkristall verwendet, welcher im unteren Bereich des Ingots positio-


niert wurde. Die Parameter des Schmelzvorgangs sind in Tabelle 4.2 zusammenge-
fasst. Weitere Details zum Herstellungsverfahren sind in [5] angegeben.

Parameter Ofen- Haltezeit Erstarrungs- Temperatur-


temperatur T geschwindigkeit vw gradient G
Wert 1550/◦ C 30/min 180 mm
h
K
14/ mm

Tabelle 4.2: Herstellungsparameter der untersuchten Probe.

Der hier verwendete Bridman-Ofen produziert zylindrische Proben eines Durch-


messers von etwa 12mm und einer Höhe von etwa 120mm. Die EBSD-Proben wurden
senkrecht zur Wachstumsrichtung als 1mm dicke Scheiben mittels Funkenerosion
aus dem Zylinder herausgetrennt. Die Proben wurden anschließend zwecks besserer
Handhabung leitend eingebettet. Es folgte eine Probenpräparation, die zunächst aus
drei Schleifprozessen bestand. Dabei kam SiC-Schleifpapiert mit den Mesh-Zahlen
500, 100 und 2500 sukzessive zum Einsatz. Im nächsten Schritt wurden die Proben
mit einer Diamantsuspension poliert. Es wurden insgesamt drei Polierschritte appli-
ziert, wobei die Partikelgröße schrittweise von 6µm auf 3µm und schließlich auf 1µm
verringert wurde. Jeder Poliervorgang wurde für 15 Minuten ausgeführt. Im letzten
Präparationsschritt wurde eine Vibropolitur angewendet. Dabei wurde eine Vibro-
politursuspension des Typs MasterMet 2 eingesetzt, die eine mittlere Korngröße von
0.02µm und einen pH-Wert von 10.5 aufweist. Während der Virbopolitur wurden
die Proben mit jeweils zwei Zusatzgewichten von je 200g beschwert. Zwischen al-
len Schleif- und Polierschritten wurden die Proben in einem Ethanol-Ultraschallbad
gereinigt, um eventuelle Rückstände von Abrasionspartikeln zu minimieren.
Für die Präparation der mittels SEBM additiv hergestellten einkristallinen Nickel-
basis-Superlegierungen wurde die selbe, oben aufgeführte, Präparationsroute ver-
wendet. Das Basismaterial wurde von der Forschergruppe von Professorin C. Körner
von der Universität Erlangen-Nürnberg bereitgestellt. Die Herstellungsparameter für
die additive Fertigung sind in [146] genauer beschreiben. Es kam ein CMSX-4 Pul-
ver mit einer Partikelgröße von 45-105µm zum Einsatz. Der Fertigungsprozess wurde
mit einer Maschine des Typs ARCAMA 2 EBM bei einer Beschleunigungsspannung

101
von 60kV durchgeführt. Die Fertigungskammer wurde mit einer Heliumatmosphäre
und einem Druck von 10−3 mBar geflutet. Die chemische Zusammensetzung des
verwendeten Pulvers ist in Tabelle 4.3 zusammengefasst.
Element Co Ta Cr W Al Re Ti Mo Hf Ni
Gewichts% 9,93 6,57 6,60 6,44 6,15 2,91 1,08 0,65 0,085 Rest

Tabelle 4.3: Mittlere chemische Zusammensetzung des verwendeten Pulvers der


additiv gefertigten CMSX-4-Probe [146]

Die additiv hergestellten Proben weisen ebenfalls eine zylindrische Geometrie auf.
Ihr Durchmesser betrug etwa 12mm bei einer Länge von 55mm. Es wurden 3mm
dicke Scheiben mittels einer Feintrennmaschine senkrecht zur Wachstumsrichtung
heraus getrennt. Die Proben wurden anschließend eingebettet und der oben be-
schriebenen Präparationsprozedur unterzogen.

Binäre Fe-Ni-Modelllegierungen:
Die in dieser Arbeit untersuchten binären Fe-Ni-Legierungen wurden mittels eines
Vakuum-Lichtbogenofens aus den puren Legierungselementen erschmolzen. Um die
martensitischen Umwandlungscharakteristika in Abhängigkeit der Legierungszusam-
mensetzungen zu untersuchen, wurden insgesamt elf verschiedene Legierungen aus
dem binären Legierungssystem Fe-Ni hergestellt. Die nominelle chemische Zusam-
mensetzung der hergestellten und untersuchten binären Legierungen wird in Tabelle
4.4 aufgelistet.
Der verwendete Vakuum-Lichtbogenofen wird schematisch in Abbildung 4.20 dar-
gestellt. Der Aufbau besteht aus einer luftdichten und Vakuum-geeigneten Kammer,
die über ein Pumpensystem evakuiert werden kann. Außerdem ist die Kammer an
eine Argon-Gasquelle angeschlossen. Durch einen solchen Aufbau ist es möglich, in
der Kammer zunächst ein Vakuum mit einem Restdruck von etwa 3 ∗ 10−3 bar zu
erzeugen und sie anschließend mit Argon bis zu einem Druck von 0.6 bar zu fluten.
Dieser Vorgang wird insgesamt drei mal wiederholt, um eine möglichst sauerstoffar-
me Umgebungsatmosphäre zu gewährleisten. Vor dem eigentlichen Schmelzvorgang
wird zusätzlich ein Titangetter für etwa 60 s aufgeschmolzen, welcher aufgrund sei-
ner hohen chemischen Aktivität verbleibende Sauerstoffmoleküle abbindet. Dadurch
kann eine Oxidation der Legierungen während des Schmelzvorgangs weitestgehend

102
4.4 Material und Proben

Abbildung 4.17: Schematische Darstellung zur Funktionsweise des Lichtboge-


nofens (Arc-Melter)

vermieden werden, wodurch Ingots mit hohen chemischen Reinheiten erzeugt werden
können.
Die Wärmezufuhr, die zum Aufschmelzen des Materials benötigt wird, erfolgt
über einen elektrischen Lichtbogen. Dabei wird eine elektrische Potentialdifferenz
zwischen einer Wolframkathode und dem Schmelzmaterial, welches als Anode dient,
angelegt. Durch die elektrische Spannung wird das Arbeitsgas, in diesem Fall Argon,
zwischen Kathode und Anode ionisiert. Durch die Trennung der Ladungsträger, wird
das Arbeitsgas zu einem elektrischen Leiter, sodass ein Strom zwischen Kathode und
Anode fließen kann. Der Lichtbogen erhält sich dabei selbst und erreicht Tempera-
turen von über 4000◦ C. Ein großer Teil der Energie wird in das zu schmelzende
Material eingebracht, wodurch es erhitzt und letztlich aufgeschmolzen wird.
Die zu schmelzenden Materialien werden in einer Vertiefung einer wassergekühlten
Kupferplatte positioniert. Bei der Schmelzroutine wird aus den Ausgangselementen
zunächst ein Knopf-Ingot erschmolzen. Um eine möglichst hohe chemische Homo-
genität zu gewährleisten, wurde der Knopf-Ingot insgesamt 12 mal aufgeschmolzen,
wobei der Ingot vor jedem Schmelzvorgang um 180◦ gedreht wurde. Anschließend
wurde der Ingot über einer Kupferkokille positioniert. Bei dem letzten Aufschmelz-

103
Probe Legierung Ni / at.% Fe / at.%
B1 Fe-15.0Ni 15.0 85.0
B2 Fe-20.0Ni 20.0 80.0
B3 Fe-22.5Ni 22.5 77,5
B4 Fe-25.0Ni 25.0 75.0
B5 Fe-27.5Ni 27.5 72.5
B6 Fe-28.0Ni 28.0 72.0
B7 Fe-28.5Ni 28.5 71.5
B8 Fe-29.0Ni 29.0 71.0
B9 Fe-29.5Ni 29.5 70.5
B10 Fe-30.0Ni 30.0 70.0
B11 Fe-32.5Ni 32.5 67.5

Tabelle 4.4: Nominelle chemische Zusammensetzung der hergestellten und unter-


suchten binären Fe-Ni-Legierungen.

vorgang konnte die Schmelze durch eine Öffnung aus dem Schmelztiegel in die dar-
unter befindliche Dropcast-Kupferkokille abfließen. Da die Proben nach der Herstel-
lung noch einer Warm- und Kaltwalzprozedur unterzogen wurden, wurde eine flache
Geometrie der Kokille gewählt. Der in dieser Arbeit verwendete Lichtbogenofen ist
zur Herstellung kleinerer Proben im Labormaßstab mit einer Masse von etwa 50 g
geeignet. Ein abgegossener Ingot wird exemplarisch in Abbildung 4.19 gezeigt.

104
4.4 Material und Proben

Abbildung 4.18: Lichtbogenofen der Ruhr-Universität-Bochum.

Abbildung 4.19: a) Rohmaterial (reines Fe und Ni) b) Dropcast-Ingot c) Einge-


kapseltes gewalztes Blech vor der Homogenisierung.

105
Wärmebehandlung und Walzen: Die Wärmebehandlung bestand aus einer
kombinierten Austenitisierungs- und Homogenisierungsglühung für 72h bei 1200◦ C.
Vor der eigentlichen Wärmebehandlung wurden die Proben zunächst bei 800◦ C
warmgewalzt. Die Bleche wurden anschließend bis auf eine Dicke von etwa 2,5 mm
kaltgewalzt, um einen Verformungsgrad zwischen etwa 50 - 60% einzustellen. Durch
die plastische Verformung sollte sichergestellt werden, dass genügend Kristallisati-
onskeime bei der Austenitisierung zur Verfügung stehen. Der genaue Ablauf der
thermomechanischen Behandlung kann der Tabelle 4.5 entnommen werden.

Methode Temperatur Walzschritte h0 h1 Umformgrad Dauer


Warmwalzen 800◦ C 6 8,0 mm 4,5 mm – –
Kaltwalzen RT 8 4,5 mm 2,5 mm 58,8% –%

Tabelle 4.5: Thermomechanische Behandlung der untersuchten binären Fe-Ni-Le-


gierungen.

Chemische Analysen: Um die chemische Zusammensetzung der erschmolzenen


Legierungen zu kontrollieren, kamen zwei Verfahren zum Einsatz. Für die erste Legie-
rungsreihe, bei welcher der Nickelgehalt angefangen bei 20at.% sukzessive in Schrit-
ten von 2,5at.% erhöht wurde, kam zur chemischen Analyse das EDX-Verfahren
(engl.: Energy Dispersive X-Ray, EDX) zum Einsatz. Die Messungen wurden an ei-
nem Rasterelektronenmikroskop der Firme JEOL des Typs JSM 840 A eingesetzt.
Die Beschleunigungsspannung betrug 30kV. Die ermittelten Nickelgehalte sind in
Tabelle 4.6 zusammengestellt.
Da sich in ersten Untersuchungen gezeigt hat, dass sich die Morphologie des Mar-
tensits zwischen den Legierungen mit einem Nickelgehalt von 27,5 und 30At.% von
einer lattenmartensitischen Mikrostruktur zum Plattenmartensit ändert, wurde in
diesem Zusammensetzungsbereich eine weitere Legierungsreihe angefertigt, wobei
der Nickelgehalt nun um jeweils 0,5At.% gesteigert wurde. Zur Unterstützung der
EDX-Messungen wurde der Nickelgehalt für diese Legierungsreihe zusätzlich mittels
Funkenspektroskopie (engl.: Optical Emission Spectometry, OES) verifiziert. Tabelle
4.7 zeigt die Legierungszusammensetzung der zweiten Legierungsreihe der binären
Fe-Ni-Legierungen.

106
4.4 Material und Proben

Legierung Ni-Gehalt /At.%


Fe-15Ni 15,21
Fe-20Ni 19,54
Fe-22,5Ni 22,66
Fe-25Ni 24,97
Fe-27,5Ni 27,58
Fe-30Ni 29,89
Fe-32,5Ni 32,65

Tabelle 4.6: Chemische Zusammensetzung der ersten Legierungsreihe des binären


Legierungssystems Fe-Ni. Quantitative EDX-Messung.

Verfahren: EDX OES


Legierung Ni-Gehalt /at.% Ni-Gehalt /at.%
Fe-27,5Ni 27,38 27,54
Fe-28Ni 27,96 28,00
Fe-28,5Ni 28,21 28.63
Fe-29Ni 28,77 28,89
Fe-29,5Ni 29,26 29.50
Fe-30Ni 29,65 30,00

Tabelle 4.7: Chemische Zusammensetzung der zweiten Legierungsreihe des binären


Legierungssystems Fe-Ni. Quantitative EDX-und OEF-Messung.

Es ist zu erkennen, dass die Messungen, die mittels EDX durchgeführt wurden,
leicht von den OES Ergebnissen abweichen. Da das EDX-Verfahren mit etwa 0.5at.%
eine niedrigere Auflösung besitzt, als das OEM-Verfahren, werden folgend nur die
OEM Ergebnisse herangezogen. Insgesamt zeigen die Messungen der chemischen
Zusammensetzung, dass die gewünschten Legierungszusammensetzungen mit hoher
Genauigkeit hergestellt werden konnten.

Thermische Analysen: Um die Phasenumwandlungstemperaturen (PUTen)


der untersuchten Legierungen zu bestimmen, wurde das Verfahren der Wärmestrom-
Differenzkalorimetrie (engl.: Differential Scanning Calorimetry, DSC) angewendet.
Dabei werden zwei baugleiche Probentiegel in einer thermisch von der Außenwelt
isolierten Probenkammer mit einer konstanten Heiz- bzw. Kühlrate beaufschlagt.
Die beiden Probentiegel liegen auf einer thermoelektrischen Konstantanplatte auf
und können unter Anlegen einer Heizspannung gleichmäßig erhitzt werden. Durch
eine geregelte Zufuhr von Flüssigstickstoff können die Tiegel definiert bis etwas

107
oberhalb der Siedetemperatur des flüssigen Stickstoffs (-197◦ C) herunter gekühlt
werden. Darüber hinaus kann die Probenkammer während der Messung mit einem
inerten Schutzgas, wie etwa Ar oder He, gespült werden, um eine Oxidation der
Probe zu vermeiden. Die in dieser Arbeit durchgeführten Untersuchungen fanden
unter Ar Atmosphäre statt. Der Aufbau der DSC-Probenkammer ist schematisch in
Abbildung 4.20 dargestellt.

Abbildung 4.20: Schematische Darstellung des DSC-Verfahrens.

Um den Wärmestrom einer Legierung, der während des Heizens bzw. Kühlens in
die Probe ein- bzw. aus dieser abfließt, zu messen, dient ein leerer Probentiegel als
Referenz. Der andere Probentiegel wird mit der zu messenden Legierung beladen.
Über zwei Thermoelemente wird nun die Temperatur beider Tiegel genau ermit-
telt. Da beide Tiegel den gleichen Außenbedingungen ausgesetzt sind, würden sie
im Falle zweier leerer Referenztiegel zu jedem Zeitpunkt die gleiche Temperatur auf-
weisen. Da nun aber eines der beiden Tiegel mit der Probe, welche aufgrund ihrer
Wärmekapazität eine thermische Trägheit in das System einbringt, beladen ist, exis-
tiert eine Temperaturdifferenz zwischen dem Referenztiegel und dem Probentiegel.
Diese Temperaturdifferenz kann nun dazu verwendet werden den Wärmestrom in
die Probe zu ermitteln.
Solange die Probe keine Phasenumwandlung durchläuft, besteht eine konstante
Temperaturdifferenz zwischen Referenz- und Messtiegel, welche nur von der Wärme-
kapazität der Probe abhängt und sich ebenfalls in einem konstanten Wärmestrom
äußert. Sobald aber eine Phasenumwandlung im Material stattfindet, läuft diese
entsprechend der themodynamischen Bedingungen der Phasenumwandlung entweder

108
4.4 Material und Proben

Exo- oder Endotherm ab. Dies macht sich folglich als charakteristischer Peak im
Wärmestrom über Temperatur Diagramm bemerkbar.
Im Falle der martensitischen Phasenumwandlung liegt eine exotherme Reakti-
on bei der Umwandlung der Hochtemperaturphase Austenit in die Niedertempera-
turphase Martensit vor. Um die PUTen zu bestimmen, muss die Probe also von
einer hohen zu einer niedrigen Temperatur abgekühlt werden. Solange sich die Pro-
be noch in der Austenitphase befindet, weißt die Probe beim Herunterkühlen der
Probenkammer aufgrund ihrer Wärmekapazität eine positive Temperaturdifferenz
zum Referenztiegel auf. Sobald die Martensit-Starttemperatur (MS ) überschritten
wird, setzt die exotherme Phasenumwandlung ein und führt zu einer Erhöhung der
Probentemperatur und damit ebenfalls zu einem Anstieg der Temperaturdifferenz
und des daraus abgeleiteten Wärmestroms. Im Wärmestrom-Temperatur-Diagramm
zeichnet sich die martensitische Phasenumwandlung durch ein charakteristisches
Maximum des Wärmestroms aus, welches durch die Martensit-Start- und Finis-
htemperatur begrenzt wird. Um die genauen numerischen Werte von MS und MF
zu ermitteln wurde das Tangentenverfahren angewendet. Eine charakterischte DSC
Kurve einer martensitischen Phasenumwandlung wird mit dem Tangentenverfahren
in Abbildung 4.21 gezeigt.

109
Abbildung 4.21: DSC Messung der Legierung Fe-27,5Ni als Wärmestrom-
Temperatur-Diagramm. Bestimmung der PUTen MS und MF
mittels Tangentverfahren.

Die Probenpräparation für die DSC Untersuchungen bestand im ersten Schritt


darin schmale Streifen aus den hergestellten Blechen heraus zu trennen. Dabei
kamen zwei verschiedene Feintrennmaschinen (”Brillant 221”des Herstellers ATM
und ÏsoMet-Low Speed Saw”von Bühler) zum Einsatz. Die grob zugeschnittenen
Proben-Plättchen wurden anschließend mit einem SiC Schleifpapier der Körnung
320 in einem iterativen Prozess so lange auf die Endkontur geschliffen, bis die Probe
vollständig in den Probentiegel passt und die Probe den Tiegel lediglich mit der Un-
terseite berührt. Um eine möglichst gute Wärmeleitung zwischen Tiegel und Probe
zu gewährleisten, wurde die flache untere Seite der Proben mit Hilfe eines Schleif-
Stempels planparallel geschliffen. Dies erfolgte in drei Schritten mit SiC Schleifpapier
und den jeweiligen Körnungen 320, 500 und 1000. Nach dieser mechanischen Pro-
benpräparation wiesen alle Proben ein Gewicht zwischen 40 mg und 50 mg auf, was
mit einer Feinwaage des Typs ”Analytical Balance A200S” vom Hersteller Sartorius
überprüft wurde.
Die Proben wurden vor jeder DSC Messung für 10 min in einem Ethanol-Ultra-
schallbad gereinigt, um etwaige Verunreinigungen oder Schleifrückstände zu beseiti-
gen. Es wurden in dieser Arbeit 3 unterschiedliche Temperaturprofile mit verschie-

110
4.4 Material und Proben

denen Abkühlraten von jeweils 10 K/min, 5 K/min und 1 K/min getestet. Alle
Temperaturprofile beginnen mit dem Erhitzen der Probe auf 597◦ C und einem iso-
thermen Halten von 10 min bei 597◦ C, um eine homogene Temperaturverteilung und
eine vollständige Austenitisierung in der Probe sicherzustellen. Anschließend wurden
die Proben mit den oben definierten Abkühlraten bis auf -185◦ C heruntergekühlt.
Die Messungen mit einer Abkühlrate von 10 K/min dienen als Referenzmessung und
wurden für alle Legierungen drei mal wiederholt. Anschließend wurde der Mittelwert
und die mittlere Abweichung der PUTen berechnet.
Für einige ausgewählte Legierungszusammensetzungen wurden zusätzlich DSC
Messungen mit Abkühlraten von 5 K/min bzw. 1 K/min durchgeführt. Um den
Zeitaufwand der 1 K/min Messungen im Rahmen zu halten, wurde die Probe bis
knapp vor ihre MS Temperatur ebenfalls mit 10 K/min abgekühlt und anschließend
die niedrige Abkühlrate von 1 K/min nur für das kritische Temperaturintervall der
Phasenumwandlung eingestellt. [147]
Alle DSC Untersuchungen wurden mit einem Gerät des Typs ß”DSC 204 F1 Phoe-
nixv̈om Hersteller Netzsch durchgeführt. Die DSC Messkurven wurden mit der Soft-
ware ”Netzsch Proteus” analysiert, wobei die PUTen per Doppeltangentenmethode
ermittelt wurden.

Kristallographische Analysen: Da zur Berechnung der ORs im Rahmen der


PTMT die Gitterparameter der Austenit- und Martensitphase benötigt werden, wur-
den diese mit Hilfe der Röntgenbeugung (engl.: X-Ray Difraction, XRD) bestimmt.
Es wurden dafür 4 Legierungszusammensetzungen aus der zweiten Legierungsreihe
ausgewählt, von denen zwei ein lattenmartensitisches und zwei ein plattenmartensi-
tisches Gefüge aufweisen. Bei den beiden ausgewählten Legierungen mit lattenmar-
tensitischem Gefüge handelt es sich um die Fe-27,5Ni und Fe-28,5Ni Legierungen.
Für die beiden plattenmartensitischen Legierungen wurden die Proben Fe-29Ni und
Fe-30Ni herangezogen. Der Übergang zwischen Latten- und Plattenmartensit erfolgt
zwischen den Legierungen Fe-28,5Ni und Fe-29Ni, die nur um 0.5At.%Ni voneinan-
der abweichen. Die XRD Messungen wurden zudem in einer in-situ Kühlkammer
durchgeführt. Die Temperaturen, bei denen die Gitterparameter bestimmt wurden,
wurden für jede Probe individuell entsprechend der jeweiligen Umwandlungstem-
peraturen ausgewählt. Die Gitterparameter einer jeden Probe wurden bei jeweils
5 Temperaturen gemessen. Die erste Messung erfolgte bei Raumtemperatur. Der

111
zweite Messpunkt wurde jeweils etwa 10K oberhalb der jeweiligen MS Temperatur
gewählt. Der dritte Messpunkt wurde knapp oberhalb der MS Temperatur und der
vierte Messpunkt knapp unterhalb MF festgelegt. Der vierte und letzte Messpunkt
erfolgte schließlich bei einer Temperatur von etwa 10K unterhalb der MF Tempe-
ratur.
Die XRD Messungen wurden mit einem Panalytical X’Pert Pro Multipurpose
Diffractometer durchgeführt, dargestellt in Abbildung 4.22a. Das Diffraktometer
ist mit einer Röntgenröhre des Typs Philips PW3040/60 ausgestattet, welches mit
einer Beschleunigungsspannung von 40kV und einem Strom von 40mA betrieben
wurde. Es kam ein Detektor des Typs X’Celerator zum Einsatz, der aufgrund der
”Real Time Multiple Strip” Technologie qualitativ hochwertige Beugungsbilder in
sehr kurzen Messzeiten aufnehmen kann. Die Gitterparameter wurden mithilfe von
Cu-Kα Strahlung mit einer Wellenlänge von 1.5418Å bestimmt. Der Strahlgang des
Panalytical X’Pert Pro Multipurpose Diffractometer ist schematisch in Abbildung
4.22b dargestellt. Die Versuchsanordnung entspricht einer Bragg-Brentano Geome-
trie, wie sie in Abbildung 4.22c dargestellt ist. Die kühlbare Probenkammer war
vom Typ Anton Paar TTK 450. Die Kühlung erfolgte durch flüssigen Stickstoff, was
einen Temperaturbereich von -193C◦ bis 450C◦ ermöglicht.

Abbildung 4.22: (a) Panalytical X’Pert Pro Multipurpose Diffractometer. (b)


Schematische Darstellung des Strahlgangs. (c) Probenkammer
nach der Bragg-Brentano-Geometrie.

Die Datenauswertung erfolgte mit Hilfe des Softwareprodukts MAUD [148]. Dieses

112
4.4 Material und Proben

basiert auf der RITA/RISTA Methodik, wie sie von H.R. Wenk, S. Matthies und L.
Lutterotti vorgeschlagen wurde [149]. Bei der Auswertung wurden Kristallstruktur-
daten entsprechend der Kristallographie des Austenits und Martensits erstellt und
in das Programm geladen. In einem iterativen Prozess wurde das Backgroundsignal
herausgefiltert und die Beugungsreflexe durch Variation der Gitterparameter gefit-
tet, sodass die Abweichung zwischen einem auf Basis der Gitterparamter simulierten
Spektrums und des tatsächlich gemessenen Spektrums minimiert wurde.

113
5 Ergebnisse

5.1 Zur Leistungsfähigkeit der RVB-EBSD-Methode


In diesem ersten Teil der Ergebnisse soll zunächst das Potential und die Leis-
tungsfähigkeit der in dieser Arbeit entwickelten RVB-EBSD-Methode erörtert wer-
den. Die RVB-EBSD-Methode wurde entwickelt, um kleinste Orientierungsunter-
schiede in einkristallinen Nickelbasis-Superlegierungen zu charakterisieren. Um die
Qualität der mittels RVB-EBSD erzeugten Daten abzuschätzen, eignet sich ein Ver-
gleich mit der Standard-EBSD-Methode. Ein solcher Vergleich ist in Abbildung 5.1
dargestellt. In Abbildungen 5.1 werden außerdem einige Entwicklungsschritte dar-
gestellt, die auf dem Weg zur Fertigstellung der RVB-EBSD-Methode beschritten
wurden.
Abbildung 5.1a zeigt einen Standard-EBSD-Scan einer mittels Bridgman-Ver-
fahrens hergestellten einkristallinen Nickelbasis-Superlegierung, der mittels einer
Standard-IPF(ND)-Farbkodierung dargestellt wurde. Dabei erscheint der gesam-
te Scanbereich nahezu einheitlich rot. Daraus wird ersichtlich, dass es sich bei
dem vorliegenden Material offensichtlich um einen Einkristall handelt, dessen ND-
Richtung einer kristallographischen [001]-Richtung entspricht. Ein Scan, der mittels
der Standard-EBSD-Methode generiert wurde, eignet sich somit zur Überprüfung
des Schmelzverfahrens. Daraus lässt sich ableiten, dass das erschmolzene Mate-
rial sowohl einkristallin ist, als auch, dass die angestrebte Zielorientierung einer
[001]-Wachstumsrichtung erreicht wurde. Aus der Standard-EBSD-Methode lassen
sich darüber hinaus allerdings kaum weitere Struktureigenschaften der Mikrostruk-
tur charakterisieren. Bei genauerer Betrachtung lassen sich in Abbildung 5.1a be-
reits minimale Schattierungen erkennen, die auf leichte Fehlorientierungen hinwei-
sen können. Ebenfalls sind einige schlecht indizierte Messpunkte als schwarze Pixel
erkennbar, die sich scheinbar systematisch entlang mikrostruktureller Bereiche ver-
teilen.

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Abbildung 5.1: Schrittweise Entwicklung des RVB-EBSD-Verfahrens und Ge-
genüberstellung zwischen Standard-EBSD- und RVB-EBSD-
Verfahren. (a) Standard-EBSD-Datensatz mit Standard-
IPF(ND)-Farbkodierung. (b) Standard-EBSD-Datensatz mit
modifizierter IPF(ND)-Farbkodierung. (c) Standard-EBSD-
Datensatz mit Polfigur-Farbkodierung auf Basis des PKS. (d)
RVB-EBSD-Datensatz mit Polfigur-Farbodierung auf Basis des
FKS. (d) und (e) Vergrößerter Teilausschnitt mit verkleinertem
Farbradius. (d) Standard-EBSD-Datensatz. (f) RVB-EBSD-
Datensatz.

Um den Informationsgehalt einer Standard-EBSD-Messung detaillierter sichtbar


zu machen, wurde im nächsten Schritt eine angepasste Farbkodierung verwendet.
Mit diesem primitiven Ansatz wurde der Farbraum der IPF(ND)-Farbkodierung

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