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GRUNDLAGEN DER ANGLISTIK UND AMERIKANISTIK Einfuhl-ung in die


Herausgegeben von Rüdiger Ahrens und Edgar W. Schneider Kultlll'WiSSEIlSChaft

Band 27

Grundbegriffe, Themen,
Fragestellungen

2., neu bearbeitete Auflage

von

Aleida Assmann

ERICH SCHMIDT VERLAG


SM

Vorwort zur zweiten Auflage


Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über dnb.ddb.de abrufbar.
Der Verlag hat mir mit der Neuauflage dieses Buches die Gelegenheit zur Nach-
Weitere Informationen zu diesem Titel finden Sie im Internet unter besserung gegeben und die Kriterien dafür auch gleich vorgegeben. Das neue For-
ESV.info/3 503 09849 1 mat passt sich an die Optik und das Layout anderer Einführungsbände des Erich
Schmidt Verlags an. In diesem Sinne wurden Schlüsselbegriffe, wichtige Formeln
und Formulierungen im Schriftbild hervorgehoben; Listen, Diagramme und Über-
sichtstabellen heben Zusammenhänge visuell klarer hervor; Zusammenfassun-
gen am Ende der Kapitel bieten einen verdichteten Überblick über die jeweilige
Thematik an. Zur Nachbesserung gehört auch die Beseitigung einer Reihe von
Druckfehlern. Ich danke meinen Lesern, die mir beim Unkrautjäten geholfen ha-
ben: meiner Tochter Corinna und vor allem Till Kinzel, der mir freundlicherweise
seine Errata-Liste zugeschickt hat. Ebenso danke ich Nina Fischer und meinen
Hilfskräften für ihre effektive Unterstützung bei der Umformatierung des Buches.
Ich möchte hier noch einmal betonen, dass diese Einführung in die Kulturwissen-
schaft nicht vordringlich als eine Darstellung von Theorien konzipiert ist. Dieje-
nigen, die vordringlich daran interessiert sind, kann ich auf zwei Neuerscheinun-
gen verweisen: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den
Kulturwissenschaften (2006) und Wolfgang Iser, How to do Theory (2007). Da der
1. Auflage 2006 Markt auf diesem Gebiet vieles anzubieten hat, verfolge ich mit dieser Einfiihrung
2. Auflage 2008 ein anderes Ziel. In einer Zeit, in der das Literatur-Studium immer mehr auf Ge-
schwindigkeit und Effizienz getrimmt ist, sind neugierige Streifziige im großen
Garten der Literatur kaum noch denkbar. Dieser Tendenz möchte die Einfithrung
etwas entgegenstellen. Sie ist gedacht als ein Keil, der den Horizont iiber die ge-
rade gingigen Theorien hinaus weitet und Anregungen bietet, sich in der Litera-
turgeschichte selbsténdig auf Entdeckungsreisen zu begeben. Mit dem Vorwurf,
ISBN 978 3 503 09849 1 den eine Rezension gemacht hat, ich hitte zuviel kanonische Literatur älterer
Epochen in meine Darstellung eingeflochten, kann ich also gut leben.
Alle Rechte vorbehalten Konstanz, im Februar 2008 Aleida Assmann
© Erich Schmidt Verlag GmbH & Co., Berlin 2008
www.ESV.info

Dieses Papier erfüllt die Frankfurter Forderungen


der Deutschen Bibliothek und der Gesellschaft für das Buch
bezüglich der Alterungsbeständigkeit
und entspricht sowohl den strengen Bestimmungen der US Norm
Ansi/Niso Z 39.48-1992 als auch der ISO-Norm 9706.
Satz, Druck und Bindung: Danuvia Druckhaus, Neuburg a.d. Donau
Inhaltsverzeichnis

Vorwort

N T E

1. ZEICHEN . .
11 Zeichengebrauch als anthropologische Grundlage .
1.1.1 Sprachskepsis und Jlinguistic turn‘ um 1900 .
1.1.2 Die Grund-Struktur des Zeichens: aliquid stat pro aliquo .
1.1.3 Zeichenfunktionen
1.2 Literarische Kommunikationsstérungen .
13 Zeichentypen..............
1.3.1 Performative Sprache
1.3.2 Drei Zeichentypen: symbolisch, ikonisch, indexikalisch
14 Sprache, Kultur, Gewalt

2. MEDIEN ..
21
2.1.1 Aufrasterung des kompakten Medienbegriffs
22 Miindlichkeit und Schriftlichkeit
2.2.1 Speichertechniken: Sicherungsformen der Wiederholung
und der Dauer. ..
2.2.2 Miindliche Dichtung - schriftliche Literatur
2.2.3 Text als wiederholbare Mitteilung
2.24 Schrifttrager und Buchformate .
23 Schrift und Autorschaft im Spiegel der Medlenges(hl(hte.
2.3.1 Die Stabilisierung des Textes in Schrift und Druck .
23.2 Schwache Autorschaft .
2.3.3 Starke Autorschaft. ..
2.3.4 Der Tod des Autors und der Triumph der Schrift .
24 Text und Bild
2.4.1 Der iconic turn‘ um 2000
2.4.2 Bilder im Text .
2.4.3 Neue Medien ..

3. KORPER ..
31
3.1.1 Die Hierarchie der Sinne .
3.2 Körper, Sexualitat und Gender
3.2.1 Korper, Seele, Geist ..
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis

3.2.2 Körperliche Tabus und Exzesse . 6.1.3 Episodisches und semantisches Gedéchtnis . . . 186
3.2.3 Sexualität als literarisches Thema 6.1.4 Verkdrpertes und ausgelagertes Gedichtnis 188
3.2.4 Gender ... r 108 6.1.5 Individuelles und kollektives Gedachtnis . 190
3.3 Menschenbilder - Histori (he Anthropologi 109 6.1.6 Trauma . 192
3.3.1 Die Materialität des Körpers . 110 6.2 Gedichtnisformen in Shakespeares Hamlet . „ 193
3.3.2 Künstliche und symbolische Körper 111 6.2.1 Historisches Gedächtnis - das (unvollständige) Wi:
3.3.3 Körpertechniken, Körpergeschichten, Verhaltenslehren der Vergangenheit .. .. 194
3.3.4 Körperschriften ... 6.2.2 Erinnern wider das Vergessen - Trauer und Melancholie .... 195
3.3.5 Exkarnierte und inkarnie: rte Kultur . 6.2.3 Traumatisches Gedächtnis - die verwirrenden Botschaften
3.4 Körper-Inszenierungen des Geistes. , 197
6.2.4 Semantisches Ge 200
6.2.5 Episodisches Gedächtnis - Aufblitzen einer Kindheitserinne-
4.1 Kulturelle Grundlagen des Zeiterlebens. 125 rung.... . 201
4.1.1 Zur Ambivalenz der Zeit . 125 6.2.6 Memento Mori - dle emblemauiche Erinnerung des Iudes 202
4.1.2 Lebenszeit 127
6.2.7 Das Gedéchtnis des Zeugen- Ethik und Therapie der Erinne-
4.1.3 ‚Kalte‘ und ‚heiße‘ Kulturen 130 204
4.1.4 Das Verhiltnis der Generationen .
4.1.5 Zeitbeschleunigung 7. IDENTITAT 209
4.2 Literarische Inszenierungen von Gegenwart . 7.1 Individuelle Identität 210
4.2.1 Fragmentierung der Wahrnehmung .. 7.1.1 Person..
4.2.2 Apotheosen des Augenblicks . 7.1.2 Subjekt .
4.2.3 Epiphanien ... 7.1.3 Geschlecht
4.3 Der Alptraum der Gest 7.1.4 Inklusions-Identitit und Exklusions-Identitét
4.3.1 Zeit-Transzendenz: Eliots Four Quartets 7.1.5 Doppelginger und multiple Identititen .
4.3.2 Im Zugder Zeit ... 7.2 Kollektive Identitat - Ethnie, Nation, Kultur 223
7.3 Der Kampf um den Kanon - Identitétspolitil
5. RAUM . ratur . . 226
731 Kanblsche Erfahrungen mit dem westlichen Kanon - Jamalca
5.1 London DasLahynnth der Großstadt. .
5.1.1 London als Erlebnisraum — Thomas De Qumcey Kincaid .
7.4 Wanderer zwischen den Kulturen
5.1.2 Die anonyme Masse der Großstadt - John Gay, E. A. Poe und
7.41 Mary Antin .
Virginia Woolf
7.4.2 Joseph Conrad
5.2 Zentrum und Peripherie - F. J. Turner und Joseph Conrad .
7.43 Salman Rushdie . 232
5.2.1 Kolonisierung, Eroberung, Kolonialismus .
5.2.2 Grenze und Schwelle - Frederick Jackson Turners Mythos der
Literaturverzeichnis . 239
JFrontier
5.2.3 Die Krise des Empire - Jos Sachregister . 251
(1902) ..
5.3 Mythische Landschaft - Le:

6. GEDACHTNIS..
6.1 Grundbegriffe der Geda(htmsforsthung
6.1.1 Gedichtnis und Erinnerung. .
6.1.2 Aktives und passives Gedächtnis
Einleitung

Ziel und Aufbau dieses Bandes


Im Jahre 2002 stellte der Anglistenverband eine Erklärung ins Netz, in der er be-
stätigte, dass sich „innerhalb der Anglistik eine Kulturwissenschaft etabliert“ hat,
die die „traditionellen Grenzen fachspezifischer Disziplinen“ hinter sich lässt und
uns „auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ vorbereitet.! Vor diesem
Hintergrund folgte im Jahr 2003 ein Fachkongress zum Thema „Kulturwissen-
schaften in der Anglistik. Eine Standortbestimmung‘, dessen Ergebnisse als Netz-
publikation erschienen sind.? Kein Zweifel: die Kulturwissenschaften haben in-
nerhalb der deutschsprachigen Anglistik Fuß gefasst. Die Phase des Aufbruchs
und der Erneuerung ist abgeschlossen, programmatische Studien zum Umbau
des Fachs liegen in großer Zahl vor.* Die Aufgabe des vorliegenden Bandes kann es
deshalb nicht sein, diese Schritte noch einmal zu rekapitulieren und zu
bekräftigen. Angesichts der vielen Einführungs- und Sammelbände zum Thema
wird hier nicht noch einmal ein Uberblick über unterschiedliche kulturwissen-
schaftliche Forschungsansatze und Methoden geboten. Von den enzyklopadisch
und handbuchartig organisierten Bänden, die einen Uberblick iiber Namen,
Richtungen und Entwicklungen anbieten, setzt sich diese Einfiihrung deshalb
bewusst ab. Ihr Ziel ist es, einige Grundthemen zu identifizieren, in denen sich
kulturwissenschaftliche Fragen verdichten, und diese mit literarischen Texten
und Lektiiren zu verbinden. Das kann natiirlich nur sehr selektiv und exem-

1 wwwanglistenverband.de/at002.html.
2 Berhard Klein/Jiirgen Kramer (2004): www.ruhr-uni-bochum.de/britcult/DOTagung
Inhalt.htm.
3 Hier nur eine kleine Auswahl aus einer bereits unabsehbar werdenden Liste von Ver-
Ööffentlichungen:
During, Simon (2005) Cultural Studies. A Critical Introduction. London: Routledge; Hör-
ning, Karl H. / Winter, Rainer (1999) Widerspenstige Kulturen: Cultural Studies als Her-
ausforderung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp; Friedrich Jaeger et al., Hgg. (2004) Handbuch
der Kulturwissenschaften, Bd. 1-3, Stuttgart: Metzler; List, Elisabeth / Fiala, Erwin,
Hgg. (2004) Grundlagen der Kulturwissenschaft. Interdisziplinäre Kulturstudien. Tübin-
gen, Basel: Francke; Leistyna, Pepi (2005) Cultural Studies, From Theory to Action. Mal-
den, Mass.: Blackwell; Nünning, Ansgar, Hg. (1998) Metzler Lexikon Literatur- und Kul-
turtheorie, Stuttgart: Metzler; Nünning, Ansgar / Nünning, Vera, Hgg. (2003) Konzepte
der Kulturwissenschaften, Theoretische Grundlagen, Ansätze, Perspektiven, Stuttgart:
Metzler; Nünning, Ansgar / Sommer, Roy, Hgg. (2004), Kulturwissenschaftliche Litera-
turwissenschaft. Disziplinäre Ansätze - Theoretische Positionen - Transdisziplinäre Per-
spektiven. Tübingen: Gunter Narr; (Diese Bände sind, obwohl von Anglisten um Nün-
ning herausgegeben, nicht auf Anglistik eingeschränkt); Stierstorfer, Klaus / Volkman,
Laurenz, Hgg. (2005) Kulturwissenschaft interdisziplinär. Tübingen: Gunter Narr.
11
Einleitung Kulturbegriffe

plarisch geschehen. Dieses Buch möchte neugierig machen auf interessante Kulturbegriffe
Fragestellungen und möglichst voraussetzungslose Einstiege in, komplexere
Zusammenhänge ermöglichen. Gleichzeitig sollen Begriffe veranschaulicht und Der Begriff Kultur ist in sehr unterschiedlichen Verwendungen im Umlauf, die
literarische Grundkenntnisse vermittelt werden. Dieser Band versteht sich als ein hier einleitend kurz charakterisiert werden sollen. Wir können drei wertfreie und
studienbegleitendes Hilfsmittel für die Erforschung des Zusammenhangs von drei werthaltige Verwendungen des Begriffs unterscheiden. Das Wort kommt von
Literatur und wichtigen Grundfragen der Kultur. Jateinisch ,colere;, das soviel wie ,pflegen’ bedeutet. Diese Pflege galt urspriinglich
dem Erdboden, woran noch heute das engl. Wort ,agriculture’ erinnert. Es kann
Die Einfithrung in kulturwissenschaftliche Theorien und Methoden soll so eng sich aber auch auf Korperpflege im Allgemeinen beziehen, worauf noch das deut-
wie möglich mit einer Einführung in die englische und amerikanische Literatur sche Wort Kulturbeutel® (für Wasch- und Rasierzeug) hindeutet, oder auf gere-
unterschiedlicher Epochen verkniipft werden, wobei auch gelegentliche Ausgriffe gelte Wachstumsbedingungen im Labor, wo Bakterien-Kulturen' angelegt wer-
über den anglo-amerikanischen Sprach- und Kulturraum hinaus notwendig sind, den. In fortschreitender Ausdiinnung dieser Grundbedeutung lisst sich das Wort
um allgemeinere Beziige herzustellen. Die Mischung ilterer und neuerer Textbei- Kultur inzwischen als Suffix an jedwede mit einer gewissen Systematik verfolgte
spiele ist dabei Prinzip, geleitet von dem Grundgedanken, dass eine kulturwissen- ‘menschliche Titigkeit anhängen, wobei es so gut wie alles bezeichnen kann, was
schaftliche Orientierung nicht erst in der Pop- und Gegenwartskunst ihre Erfül- einen gewissen Grad an entwickelter Vielfalt und innerer Ausdifferenzierung auf-
lung findet, sondern auch riickwirkend ein neues Licht auf die Literaturgeschichte zuweisen hat wie z. B. in Gesangskultur, Kasekultur, Fitnesskultur, Partykultur,
wirft. Miillkultur oder neuerdings Sicherheitskultur.
Der vorliegende Band stellt in sieben Kapiteln ebenso viele thematische Felder In einer génzlich anderen Bedeutung bezieht sich Kultur auf geographische und
vor, in denen methodische Grundbegriffe, theoretische Ansätze und Lektiiren lite- politische GroBgebilde wie Nationen mit unterschiedlichen historischen Entwick-
rarischer Texte zusammengefiihrt werden. Unter dem Stichwort ,Zeichen’ geht es Iungen, deren Einheit durch bestimmte Sprachen, Mentalitdten, Kunst- und Le-
um die kleinste Einheit kultureller Semantik, auf welcher alle Prozesse der Sinn- bensformen verbiirgt ist. Das, was das große Ganze jeweils zusammenhalt, wird in
bildung, Versténdigung und Deutung aufruhen. Das anschliefende Kapitel ‚Me- dem Allgemeinbegriff Kultur ausgedriickt. In diesem Sinne sprechen wir von einer
dien’ baut darauf auf und fragt nach den materiellen Présentationsformen, in de- deutschen, französischen, amerikanischen, chinesischen oder auch westlichen
nen Zeichen iibermittelt werden, sowie nach der Geschichte dieser Medien und Kultur, wobei es jeweils das Prinzip der Abgrenzung ist, das Ganzheiten dieser Art
ihrer konstruktiven Bedeutung als Erméglichungsbedingung kiinstlerischer Aus- begriindet. Als Einheit mit einer unbestimmt-bestimmten Eigenart werden solche
drucksformen. Im Kapitel ‚Körper‘ geht es um die physiologischen Grundlagen Gebilde in der Regel eher von aufien wahrgenommen; wer genauer hinsieht oder
der Kultur einerseits und um den Storfaktor andererseits, der alle abstrahieren- selber drinsteckt, dem wird sich ein anderes Bild auftun. Dieser Einheits- und
den, idealisierenden und virtualisierenden Darstellungen unterléuft und in Frage Ganzheitsbegriff von Kulturen ist in den letzten Jahren zurecht kritisch in Frage ge-
stellt. Die Dimensionen ,Zeit’ und ,Raum’, denen je ein Kapitel gewidmet ist, bil- _stellt und als eine Fiktion bzw. als Essentialisierung durch Zuschreibung eines We-
den ihrerseits physische Grundlagen menschlicher Existenz, die in Gestalt gesell- _ sens’ dekonstruiert worden. Diese Einsicht kann allerdings nicht bedeuten, dass
schaftlicher und politischer Orientierungsrahmen menschliche Lebens- und wir auf diesen Kulturbegriff im Sinne einer Grundorientierung ganz verzichten
Handlungsformen bestimmen. Unter dem Stichwort ‚Gedächtnis‘ geht es um ver- kénnten. Trotz ihrer manifesten Inhomogenitét, Hybriditit und Offenheit bezie-
schiedene Formen und Strategien, mit denen aus individueller wie kollektiver Per- hen wir uns in der Praxis weiterhin auf Kulturen als einheitliche Groigebilde.
spektive auf Vergangenes zuriickgegriffen und Abwesendes in die Gegenwart zu-
riickgeholt wird. Dieses Kapitel leitet über zum Thema Identitét, worunter Neben Pflege und nationaler Eigenart gibt es einen weiteren wertfreien Begriff von
Formen individueller und kollektiver Selbstdeutung und Selbstdarstellung ver- Kultur, der in den beiden letzten Jahrzehnten immer stirker hervorgetreten ist. In
standen werden, die je nach kulturellen Voraussetzungen als Einheit im Wandel, diesem Sinne ist Kultur alles, was im Zusammenleben von Menschen der Fall ist.
Der Philosoph Bernhard Waldenfels schreibt, dass sich unter Kultur all das fassen
als ein multiples Selbst oder als ethnisch-kulturelle Eigenart gegeniiber dem An-
deren und Fremden zur Geltung gebracht werden. Einige Stichworte mag man in lasst, was Menschen aus sich und den Dingen machen und was ihnen dabei wider-
fährt; darin eingeschlossen sind symbolische Deutungen, kollektive Rituale, Kunst-
dieser Liste vermissen, wie zum Beispiel das Thema ,Gender". Dieses Thema, das
eigentlich einen eigenen Band erfordert, ist hier auf verschiedene Kapitel verteilt: stile oder soziale Einrichtungen, sowie die stindig wachsende Zwischenwelt aus
Technik und Medien. Die Kultur ist - &hnlich der Seele bei Aristoteles - ,auf ge-
unter ,Medien, Korper' und ‚Identität‘ wird man fiindig.
Wwisse Weise alles"* Was immer Menschen tun und anriihren oder anschauen ist

4 Waldenfels (2001), 98.

12 13
Einleitung Kulturbegriffe

bereits Kultur, wie für den legendären König Midas alles, was er anrührte, zu Gold tion des dsthetisch Anspruchsvollen wie um Abgrenzung gegeniiber anderen sozi-
wurde. Das gilt in diesem inklusiven Sinne auch für die Natur und sogar die Natur- ~alen Schichten, wobei in einer soziologisierenden Interpretation dieses Sachver-
wissenschaften, die die Natur ja durch kulturelle technische Geräte hindurch und halts das eine auch als Mittel zum anderen interpretiert werden kann. Es ist keine
von einem immer schon kulturell motivierten Interesse aus untersuchen. Wenn al- Frage, dass die elitäre Hochkultur des Biirgertums ihren Begriff von Kunst in einer
les Kultur ist, dann besteht der positive methodische Ertrag dieser neuen Perspek- Weise kanonisiert hat, dass er für AuSenseiter, die nicht die entsprechenden Bil-
tive darin, dass alle Bereiche menschlichen Lebens und Erfahrens zum Gegenstand dungsprivilegien genossen haben, unzuginglich wurde und zur Immunisierung
kultureller Forschung werden können - von Spielautomaten über Radiergummis gegen sozialen Wandel beitrug. Kultur als elitdres Gut und Mittel- bzw. Ober-
bis zur Ausscheidung. Dieser inklusive und zugleich relativierende Blick wertet das schichten-Privileg ist seit den 1960er-Jahren auf dem Riickzug. Es waren nicht zu-
bis dahin Nebensächliche und Unbedeutende plötzlich mit neuem Interesse auf. Es Jetzt die cultural studies, die zum Abbau der konstituierenden Differenz von oben
ist der ethnographische Blick, der dabei von der Untersuchung exotisch fremder versus unten beigetragen haben. Weder die starre Wertungsskala noch die soziale
Kulturen auf das Eigene zurückgelenkt wird und dieses produktiv verfremdet. Die Grenze ließ sich in einer dynamischen Gesellschaft mit hoher Immigrationsrate
extreme Erweiterung des Kulturbegriffs hat aber auch eine negative Seite. Mit der und sozialer Mobilität aufrechterhalten. In England waren die aus den Kolonien
totalen Entgrenzung des Gegenstandsfeldes und der Relativierung von Haupt- und einreisenden Immigranten an der Erosion dieses hierarchischen Kulturbegriffs
Nebensachen entsteht die Gefahr der Beliebigkeit und Indifferenz.5 Wenn alles beteiligt, in den USA war es der Feminismus und die Selbstbehauptung ethnischer
Kultur ist, löst sich die Bedeutung dieses Begriffs von selber auf; ohne Gegenbegriff Minderheiten, in Deutschlaid-war es die 68er-Revolte, die mit bürgefl%chen Tradi-
verkommt er zu einer tautologischen Schablone. tionen brach und mit neuen Werten und Lebensformen experimentierte.
Die Bedeutungen von Kultur als Pflege, als nationale Eigenart und als Universal- Ein weiterer normativer Kulturbegriff bezieht sich auf das, was den Menschen
begriff unterscheiden sich von den folgenden Kulturbegriffen durch ihre Wertfrei- vom Zustand der Wildheit trennt und allererst zum Menschen macht. Mensch ist
heit. Sobald Werte ins Spiel kommen, ist Kultur nicht mehr alles, sondern etwas der Mensch in dieser Sicht nicht eo ipso, sondern erst aufgrund einer ‚kultivieren-
sehr Spezielles, das in einem (oft polemisch dramatisierten) Oppositionsverhalt- den’ und korrektiven Arbeit an sich selbst. Der Schlüssel zu diesem Kulturbegriff
nis zu etwas anderem steht. Werthaltige Kulturbegriffe sind in der Regel Kampf- ist die Selbstdisziplin, die Beherrschung der Triebnatur, die als eine anthropologi-
begriffe; sie setzen aber nicht voraus, dass Kultur unbedingt immer etwas Gutes sche Grundstruktur vorausgesetzt wird. Gegenbegriffe zu diesem Kulturbegriff
ist; sie kann, wie wir gleich sehen werden, auch als etwas Schlechtes angespro- sind Wildheit, Barbarei und der vor-kulturelle Zustand der so genannten ‚Primiti-
chen werden. Gut und schlecht sind gleichermafen Wertbegriffe. Die entschei- ven, von denen angenommen wird, dass sie mit dem Prozess der Selbstformung
dende Prämisse, die den folgenden Kulturbegriffen unterliegt, ist die, dass Kultur noch nicht begonnen haben.® Primitive in diesem Sinne gibt es aber nicht nur in
als ein gesellschaftlicher und politischer Schauplatz von Wertzuschreibung unc fremden Stimmen, sondern auch in der eigenen Geschichte. Der Soziologe Nor-
Wertentzug, ja als ein Kampfplatz zwischen guten, minderwertigen und schlech- bert Elias z. B. erzéhlt in zwei faszinierenden Bänden, wie mühsam die Europäer
ten, bzw. zwischen guten und bosen Kräften in Erscheinung tritt. der frithen Neuzeit jene Umgangsformen erlernen mussten, die heute zum Erzie-
hungsprogramm der 3-5-Jéhrigen gehéren: mit Messer und Gabel essen, Körperge-
Ein normativer Kulturbegriff, der durchs 19. Jahrhundert hindurch bis in die Mitte
des 20. Jahrhunderts hinein in Geltung war, ist der von der Hochkultur. Träger die-
räusche unterdriicken, Naseputzen usw. Der Schliisselbegriff fiir dieses Erzie-
hungsprogramm heifit ,Zivilisation’, worunter die langfristige disziplinierende
ser Hochkultur war das Biirgertum, das seit dem 18. Jahrhundert den neuen siku-
laren Wert des ,Asthetischen’ im Sinne einer Kultivierung und Sublimierung der Arbeit am menschlichen Korper, bzw. die Naturbeherrschung am Menschen' (Ru-
Sinne entdeckte und sich damit polemisch von der Unterhaltungsindustrie der
dolf zur Lippe, 1987) verstanden wird. Trotz einer Jahrhunderte währenden Ge-
Unterschichten absetzte. Hochkultur impliziert eine vertikale Struktur und bean-
schichte der Disziplinierung ist Zivilisation fiir Elias keine stabile Errungenschaft,
sondern bleibt ein immer nur schwaches Korrektiv gegen die ungebremsten Af-
sprucht Höhe im doppelten Sinne als soziale Verortung in der Gesellschaft und als
dsthetische Wertung kiinstlerischer Spitzenleistungen. Die beiden Formen von
Höhe vereinigen sich im Begriff des Elitéren; es geht gleichermaBen um Affirma-
6 Diese Sicht unterliegt z. B. dem Roman von Joseph Conrad, Heart of Darkness, auf
den wir im Kapitel iiber Raum zuriickkommen werden. Eine Generation vor Conrad
gab es jedoch schon eine Widerlegung dieser Sichtweise. Sie ist in der Studie eines
5 Diese Kritik hat auch Bill Readings (1998) vorgebracht: ,Culture ceases to mean Ethnologen der ersten Stunde, Edward Burnett Tylor, niedergelegt. Er provozierte
anything as such; it is dereferentialized. (...) If culture is everything, then the invoca- seine Leser mit dem programmatischen Titel Primitive Culture, in dem er zwei Worte
tion of culture cannot have redemptive force, cannot lend meaning (unity and direc- zusammenbrachte, die sich nach damaliger Meinung gegenseitig ausschlossen. Ty-
tion) to symbolic life“ (99) ler (1871) gilt als der Begriinder eines relativistisch deskriptiven Kulturbegriffs.

14 15
Einleitung Warum Kulturwissenschaften?

fekte, eine dünne Eisschicht gewissermaßen, auf der wir uns bewegen.” Das war aus Deutschland und dann aus dem nationalsozialistisch besetzten Frankreich
auch die These von Sigmund Freud in seiner Studie über Das Unbehagen in der fliehen musste, ist anders als Freud, Elias und Adorno der Weg in die Freiheit und
Kultur® Zur Zeit eines sich verschärfenden Antisemitismus erkannte Freud, der Emigration nicht gelungen. Die schärfste und grundsätzlichste Form der Kultur-
sich nur noch durch Auswanderung retten konnte, dass die Disziplinierungs- kritik ist in seinen Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ enthalten, die er 1940
geschichte des individuellen Menschen kein gesichertes Gut ist und jederzeit in auf der Flucht verfasst hat.'? Benjamins Kritik gilt nicht nur den Produkten der
Reaktionsbildungen einer kollektiven Triebentfesselung umschlagen kann. Massenkultur, sondern auch der bürgerlich liberalen Hochkultur, die im Angesicht
des Faschismus versagt hat. Gegen eine Kultur der Sieger nimmt er im Namen ei-
Als ein dritt&r normativer Kulturbegriff kann der emphatische Kulturbegriff der ner ethischen Verantwortung für die Unterdrückten der Geschichte Stellung. Aus
Kulturkritiker angeführt werden. Wenn die Namen Freud und Elias für einen zivili- dieser Perspektive, die die Geschichte gegen den Strich bürstet, betrachtet er alle
satorischen Kulturbegriff stehen, stehen die Namen Theodor W. Adorno und Walter Kulturgüter mit einem grundsätzlichen Misstrauen. Was geschaffen und weiter-
Benjamin für einen kritischen Kulturbegriff. Adorno vereinigt den emphatischen gegeben wird, ist für ihn „niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein sol-
Begriff von Hochkultur mit dem Begriff der Zivilisierung, einschließlich dessen pes-
ches der Barbarei zu sein:“!®
simistischer Einfärbung. Auch er ist als Jude (ebenso wie Freud, Elias und Benja-
min) sensibel für das empfindliche Gleichgewicht der Zivilisation, das ständig von
Rückschlägen bedroht ist; in seiner Sprache ist es die Dialektik der Aufklärung; die Sechs Kulturbegriffe
von Anfang an von mythisch-irrationalen Gegenbewegungen durchkreuzt wird. Ad- — Pflege im Sinne von Verbesserung und Aufwertung einer Sache (z.B.: Fitness-
orno interessiert sich für Kultur als Ensemble der anspruchsvollen Höchstleistun- kultur)
gen künstlerischer Ausdrucksformen; seine Wertschätzung verleiht den Werken — geographische und politische Großgebilde (z.B.: die französische Kultur, die
bestimmter Dichter, Künstler und Musiker einen quasi-religiösen Status. Kultur ist westliche Kultur)
für ihn eine Form von Transzendenz; sie ist wie die Religion das ganz Andere, das — inklusiver Begriff für alles, was Menschen tun und mit ihnen zusammenhéngt
uns aus einer anderen Welt anrührt, sie ist „Luft von anderem Planeten’, wie es Her- (ethnographischer Begriff)
bert Marcuse einmal formuliert hat.? Diese auratische Kultur steht in einem schrof- — elitérer Begriff von Hochkultur
fen Gegensatz zu den weltlichen Produkten der Kulturindustrie, die die Massen un- - Beherrschung der Triebnatur (Zivilisation)
terhält. Das andere der Kultur ist für Adorno die Kulturindustrie, in der Kunst die — Kritische bzw. auratische Gegenwelt zur Realitit (Frankfurter Schule)
Form der Ware annimmt. Die Produkte der Kultur- bzw. Unterhaltungsindustrie
sind durch einen Abgrund von dem Ernst und der quasi-religiösen Aura echter
Kunst getrennt. Der kulturkritische Diskurs der ‚Frankfurter Schule‘ ist in dieser Ge- Warum Kulturwissenschaften?
gensatzbildung verankert und durch einen melancholischen Ton angesichts des
unaufhaltsamen Siegeszugs der populären Massenkultur geprägt.!® Vor knapp 200 Jahren, am Anfang des 19 Jahrhunderts und der industriellen Revo-
Iution in England, hat der englische Dichter P B. Shelley folgende Analyse der
Der Begriff ‚Aura‘ geht auf Walter Benjamin zurück; er steht für eine religiöse An- geistigen Situation seiner Zeit gegeben:
mutungsqualität großer Kunst, die im Zeitalter massenhafter technischer Repro-
our calculations have outrun conception; we have eaten more than we can digest.
duzierbarkeit unwiederbringlich verloren geht.!! Walter Benjamin, der zunächst The cultivation of those sciences which have enlarged the limits of the empire of
man over the external world, has, for want of the poetical faculty, proportionally cir-
cumscribed those of the internal world; and man, having enslaved the elements, re-
Elias (1977/8). mains himself a slave,*
Freud (1992).
o

Marcuse (1964), 61. „Ich fühle luft von anderem planeten“ lautet der erste Vers eines Shelley spricht nicht von Kultur, sondern von Kultivierung und bezieht sich damit
Gedichts von Stefan George, das Arnold Schönberg in seinem 2. Streichquartett ver- auf die Grundbedeutung von Pflege’ Entwicklung' und systematischem Ausbau.
tont hat. Durch diese Wiederaufnahme gewann die Formel in der (u. a. von Adorno Die Kultivierung der Naturwissenschaften, so seine These, hat sich als eine Gefahr
vertretenen) ‚Frankfurter Schule‘ eine besondere Bedeutung. fiir die Kultur erwiesen. Denn der einseitige Ausbau der rationalen Fihigkeiten
10 Ein anderer Vertreter dieser Kulturtheorie ist der Literaturkritiker George Steiner
(1997), der ebenfalls eine gnostische (im Sinne von: einer falschen Welt sich entge-
gensetzende) Auffassung von Kunst hat und große Kunstwerke deshalb auch als ‚Ge- 12 Benjamin (1980).
gen-Schöpfungen‘ bezeichnet. 13 Benjamin (1980), 696.
11 Benjamin (1963). 14 Shelley (1968), 249.

16 17
Einleitung Warum Kulturwissenschaften?

des Menschen habe zwar seine Macht über die Natur in enormer Weise ausge- Kultur wahrgenommen, was sie in Bezug setzt zu politischen, wirtschaftlichen, his-
dehnt, dabei aber andere Fähigkeiten verkümmern lassen. Der Mensch, so konsta- torischen, gesellschaftlichen Bedingungen und Entwicklungen. In diesem Sinne
tiert Shelley, ist mit seiner Vernunft nicht mitgewachsen, weshalb er nun seiner hatte der Kunsthistoriker Aby Warburg bereits 1912 die ,grenzpolizeiliche Befan-
eigenen Vernunft immer weniger gewachsen ist.'> genheit” seines Faches beklagt und sich fiir eine Kunstgeschichte im Dienst einer
Shelley reagierte 1821 auf einen dramatischen Wandel von Welt- und Menschenbilc ganzheitlichen Kulturwissenschaft eingesetzt.!” Die Deutung von Bildern und
Texten kann deshalb nicht mehr an der Werkgrenze halt machen, sondern muss
durch die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelt. Er sah da-
mals wissenschaftliche Rationalitit und poetische Imagination in einen unversshn- auch auf ihre Kontexte Bezug nehmen, womit jedoch keineswegs ihr dsthetischer
Status aberkannt wird. Durch den Impuls zur Kontextualisierung werden Anleihen
lichen Gegensatz gestellt. Auf diesen einfachen Gegensatz können wir das Problem,
bei Nachbardisziplinen unumgénglich; die Kunstwissenschaftler zum Beispiel
das er angesprochen hat, heute nicht mehr bringen, denn Wissenschaft und Technik
entdecken Sprache, Schrift und Text als Ergéinzung ihres Gegenstandes, wihrend in
sind für uns ein ebenso selbstverstindlicher Teil der Kultur geworden wie Dichtung
der Literaturwissenschaft gleichzeitig Fragen der Bildlichkeit und Medialitit
und Imagination. Doch Shelleys Alarmsignal ist heute nicht weniger aktuell als da-
immer wichtiger werden. Die Durchléssigkeit der Fichergrenzen darf jedoch nicht
mals. Wir erleben gegenwartig nicht weniger dramatische Revolutionen in der Phy-
verwechselt werden mit ihrer Aufhebung. Die in besonderen Wissenschaftstradi-
sik und den Biowissenschaften, deren neue Erkenntnisse über die Struktur der
tionen begriindete Differenz der Perspektiven darf im Zuge der kulturwissen-
Atome und des Genoms zu einem gewaltigen Motor der Verénderung unserer Kul-
tur werden. Nicht weniger einschneidend sind die Konsequenzen des technischen
schaftlichen Umstrukturierung keinesfalls verloren gehen. Die einzelnen
geisteswissenschaftlichen Féicher diirfen aber auch nicht mehr in selbstbeziigliche
Wandels, der die elektronischen Medien hervorgebracht und mit einem Netz von
hermetische Diskurse eingeschlossen bleiben. Die Uberschreitung von Disziplinen-
Kommunikationskanélen den Erdball iiberzogen und den Weltraum durchkreuzt
grenzen erfordert eine gemeinsame Sprache, die iiber die Fichergrenzen hinweg
hat. Neben naturwissenschaftlichen und technischen gibt es soziale Motoren des
verstandlich ist und es ermoglicht, Anschlussstellen zu bilden und die Einsichten
Wandels wie zum Beispiel die Neubestimmung des Geschlechterverhiltnisses, das
und Ergebnisse anderer Fächer produktiv in die eigene Arbeit aufzunehmen.
die Grundlagen westlicher Gesellschaften innerhalb von ein bis zwei Generationen
tiefgreifend veréindert hat. Und natiirlich nicht zu vergessen die historischen und Es gibt Stimmen, die in dieser grenziiberschreitenden Perspektive die Gefahr einer
politischen Motoren kulturellen Wandels: wir leben in einer Welt der Spatfolgen grenzenlosen Ausweitung des Gegenstandsbereichs sehen. Die Kulturwissenschaf-
historischer Traumatisierungen, gewaltsamer Vertreibungen, postkolonialer Identi- ten, das ist ihre Chance und ihr Problem, haben keinen klar zu definierenden Gegen-
titssuche und, in Europa, neuer transnationaler Organisationsstrukturen. stand. Sie beschiftigen sich mit Kultur. Kultur ist alles, was von Menschen gemacht
ist. Dazu gehoren, wie Terry Eagleton sarkastisch angemerkt hat, Haartrachten
Meine These ist, dass die Kulturwissenschaften nicht aus einer neuen M(eth)ode
ebenso wie Trinkgewohnheiten, Anredeformen, die Lebensweise tiirkischer Psycho-
oder theoretischen Wende entstanden, sondern eine Antwort sind auf diesen tief-
therapeuten, ein Streichquartett von Brahms und die gottliche Komödie.!8 So diffus
greifenden Wandel der Gesellschaft und unserer Welt(un)ordnung, Das erklärt
sie in ihrem Gegenstandsbereich sind, so Klar sind dagegen die Perspektiven und
zum einen, warum sich Kulturwissenschaften an verschiedenen Orten der Wel:
Fragestellungen der Kulturwissenschaften. Sie interessieren sich dafiir, wie das vom
entwickelten und zum anderen, warum sie kein einheitliches Forschungspara-
Menschen Gemachte, die Kultur, gemacht ist, d. h. unter welchen Voraussetzungen,
digma hervorgebracht haben. Nicht die Ausbreitung einer theoretischen Schule,
mit welchen Verfahren, Funktionen und Konsequenzen. Diese Perspektive der
nicht der Siegeszug einer neuen Methode ist für ihre Entstehung verantwortlich,
Kulturalisierung' hat am Ende des 20. Jahrhunderts eine ähnlich relativistische Sicht
sondern der Wandel der Kulturen selbst und die neuen Fragen und Herausforde-
erzeugt wie die Historisierung' in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich nach
rungen, die sich aus diesem Wandel auch fiir die Literaturwissenschaft ergeben.
Ansicht ihres schirfsten Kritikers Nietzsche ebenfalls für viel zu vieles interessierte
Was éndert sich im Zeichen der Kulturwissenschaften für die einzelnen Ficher? Im und dabei alle Kriterien des Wertes und Maßstäbe der Relevanz verlor. Die auch von
Vordergrund steht ein Durchldssigwerden der Disziplinengrenzen. Der Kulturwis- dem marxistischen Literaturkritiker Terry Eagleton vorgebrachte Kritik an
senschaftler Raymond Williams schreibt iiber seine Arbeit: ,The work which this Postmoderner Beliebigkeit trifft sicher einen gewissen Prozentsatz uninspirierter
book records has been done in an area where several disciplines converge but in ge- Studien, die unter der Flagge des neuen Forschungsparadigmas mitsegeln, jedoch
neral do not meet:'® Kunst und Literatur werden als ein Teil der übergreifenden keineswegs Konzept und Intention kulturwissenschaftlicher Forschung selber, der

15 Der Roman seiner Frau, Mary Shelleys Frankenstein, kann durchaus als eine Varia-
tion dieses Themas gelesen werden; vgl. auch Kapitel 7. 17 Warburg (1980), 185.
16 Williams (1976), 15. 18 Zur Inflation des Kulturbegriffs Eagleton (2001), Kap. 2.

18 19
L —

Einleitung Cultural Studies und Kulturwissenschaften - zwei Entstehungsgeschichten

es immer um eine die Gegenwart erhellende reflexive, bzw. um eine die Gegenwart nach Birmingham ab und erfanden einen neuen Kulturbegrif, der mit dem ihres
verändernde politische oder pragmatische Perspektive geht. Lehrers nichts mehr zu tun hatte. Leavis war der Papst einer sakralisierenden Ka-
nonpolitik gewesen, die das Fundament der Humanities bildete; sein Hauptwerk
Cultural Studies und Kulturwissenschaften — mit dem sprechenden Titel The Great Tradition hatte den verbindlichen Kanon für
zwei Entstehungsgeschichten die englische Literatur des 19, Jahrhunderts gerade neu festgesetzt. In einer Zeit
wachsender Rationalisierung und Technisierung kämpfte Leavis für Kultur als eine
Die Kulturwissenschaften besitzen als akademisches Fach weder einen klar ab- unverzichtbare Energiequelle menschlichen Lebens. Sein kulturpadagogisches
grenzbaren Gegenstand noch eine einheitliche Gestalt, weil sie sich aus ganz ver- Modell beruhte dabei auf einer klaren Opposition zwischen der dumpfen und tri-
schiedenen Orientierungen heraus entwickelt haben. Das hängt vor allem mit den gen Masse der Gesellschaft einerseits und den Wenigen andererseits, die berufen
spezifischen historischen und sozio-kulturellen Bedingungen zusammen, aus de- sind, bewusste Träger von Kultur zu sein. Kultur war für ihn Sache einer schmalen
nen sie hervorgegangen sind. Die deutschsprachigen Kulturwissenschaften’ z. B. Elite, deren Bildungsauftrag darin bestand, ,die Kraft der Kultur und des kulturel-
haben eine andere Genealogie als die ,cultural studies, beide sind ein Teil jener len Lebens aufrechtzuerhalten’?' Von diesem engen und elitären Kulturbegriff
Kulturen, aus denen sie erwachsen sind. Deshalb soll hier ein Wort iiber den Un- setzte sich die Birmingham-Schule radikal ab und wandte sich ihrerseits dem Stu-
terschied zwischen den englischen ,cultural studies' und den deutschen ‚Kultur- dium der industriellen Massenkultur zu. Fiir diese neue Generation, die wie Wil-
wissenschaften’ gesagt werden. Erst dann können wir besser verstehen, warum liams ihre Ausbildung nicht nur in Oxford, sondern auch im Zweiten Weltkrieg be-
kommen und spéter von Marx, Foucault und Gramsci gelernt hatte, war Kultur
unterschiedliche lokale und historische Entstehungsbedingungen zu unter-
nicht das einbalsamierte Erbe einer nationalen Tradition, sondern der Schauplatz
schiedlichen Fragestellungen, Themen und Methoden geführt haben.
von Kämpfen um Macht, Geld, Anerkennung und Prestige. Dieser Impuls der Bir-
Cultural Studies mingham-Schule, der auf eine Ausweitung des Kulturbegriffs von Hochkultur auf
Popularkultur gerichtet war, wurde in den 1970er und 1980er-Jahren von all denen
Die cultural studies, die nicht erst seit den 1980er-Jahren in den USA, sondern be- begeistert aufgegriffen, die sich in einer biirgerlich elitiren Definition von Kultur
reits seit der Mitte der 1950er-Jahre in der englischen Industriestadt Birmingham nicht wiederfanden wie Migranten, Feministinnen und andere soziale Minderhei-
entwickelt wurden, entstanden aus einer Krise der ,Humanities’. wie die Geistes- ten. Der Kanon, die Idee einer verbindlichen gemeinsamen kulturellen Uberliefe-
wissenschaften an englischen Universitéten genannt werden. So jedenfalls fasst es rung, so hat es Stuart Hall zusammengefasst, ,was blown apart by world migration,
der Titel eines Aufsatzes von Stuart Hall zusammen, der maßgeblich an der Reori- by fragmentation, by the rise of margins, by the struggle of the margins to come
entierung beteiligt war: The Emergence of Cultural Studies and the Crisis of the Hu- into representation, by the contestation of the margins for cultural power, by the
manities. Zusammen mit Raymond Williams®, Edward Thompson und Richard pluralization of ethnicity itself in English society:*
Hoggart gehorte er zu einer Gruppe von jungen marxistisch inspirierten Literatur-
wissenschaftlern, die bei dem beriihmten Literaturprofessor F. R. Leavis studiert Die innerhalb der Birmingham-Schule entwickelten cultural studies verstanden
hatten. Dieser Lehrer verkorperte ein elitires Konzept von biirgerlicher Hochkul- sich als eine unmittelbare Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Verinderungen.”
tur, in dem die jiingere Generation, die wie Hall aus den ehemaligen Kolonien oder Thre neue Vision hat Hall im Riickblick folgendermaßen skizziert: „The vocation of
wie Williams aus einer Walliser Arbeiterfamilie stammten, ihre eigenen Interessen cultural studies has been to enable people to understand what is going on, and es-
und Erfahrungen nicht wieder finden konnten. Sie setzten sich von Cambridge pecially to provide ways of thinking, strategies for survival, and resources for re-
sistance to all those who are now - in economic, political, and cultural terms - ex-
cluded from anything that could be called access to the national culture of the
19 Hall (1990), 11-23. national community‘”“ Dieses Konzept der cultural studies, das Kultur und Politik
20 In seinem Buch Culture and Society von 1958 hat Williams mit Begriffen wie class,
‚industry‘ und democracy’ die soziale Dimension in den Kulturbegriff eingeführt.
Dass dieses Buch kulturwissenschaftlich avant la lettre ist, 148t sich bereits daran
ablesen, dass es unter so verschiedenen Kategorien wie cultural history; historical 21 FR. Leavis (1948), 13-14. Neben Leavis sind Matthew Arnold (1869) und T. S. Eliot
semantics, history of ideas, ,social criticism literary history‘ und ‚sociology‘ rezi- (1962) als Vertreter der Position von Kunst als elitére Hochkultur' zu nennen.
piert wurde. Mit seiner Nicht-Zuordenbarkeit unterlief es die herrschenden diszipli-
22 Hall (1990), 21.
néren Grenzen. Dass der Begriff Kultur sowohl Kunst als auch Gesellschaft um- 23 »They are themselves focused by, organized through and constitute responses to, the
spannt, scheint auch heute noch kein allgemein anerkannter Sachverhalt zu sein. In immediate pressures of the time and society in which they arose” schreibt Stuart
dem instruktiven und verdienstvollen Aufsatz von Ute Daniel (1993) wird auf Kunst Hall in ,Cultural Studies: Two Paradigms’, in: Richard Collins (1986), 32-48; hier: 34.
als eine Komponente von Kultur mit keiner Silbe eingegangen. 24 Hall (1990), 22.

20 21
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Einleitung Cultural Studies und Kulturwissenschaften - zwei Entstehungsgeschichten

aufs Engste verkoppelt und eine Strategie für soziale und ethnische Minderheiten den 1970er-Jahren hat sich eine feministische Bewegung an den Universitäten eta-
entwirft, hat in Einwanderungsgesellschaften wie den Vereinigten Staaten oder bliert, der ethnische und post-koloniale Bewegungen folgten, die u. a. neue india-
Kanada ebenfalls eine große Wirkung entfaltet. Mit ihrem Impuls soll derzeit in nisch.a_merikanische. afrikanisch-amerikanische und jüdisch-amerikanische Iden-
Gesellschaften mit kolonialen Unterdrückungsgeschichten der ethnischen Viel- titäten, Traditionen und Literaturen begründeten. In der Folge dieser neuen Orien-
falt zu multikultureller Anerkennung und Chancengleichheit verholfen werden.* tierungen ging es um ein Bewusstmachen von Grenzen und Differenzen, an die
Thre wichtigsten Themen sind Jugend- und Arbeiterkultur, alte und neue Medien, Fiedler nicht gedacht hatte, und die nicht so einfach eingeebnet werden können,
Frauen und ethnische Minderheiten. weil sie Teil der kulturellen Dynamik und des gesellschaftlichen Machtgefüges
Ein wichtiger Aspekt der Birminghamschen cultural studies war die Ausweitung sind: die Grenze zwischen den Geschlechtern und die Grenze zwischen ethnischen
des Kulturbegriffs, verbunden mit einer programmatischen Nivellierung der Grenze Gruppen in der Gesellschaft. Hier galt die Prämisse, dass der Wunsch einer weißen
ménnlichen Machtelite, diese Grenzen zum Verschwinden zu bringen, von der Ab-
zwischen kanonischer Literatur und industrieller Massenkultur. Eine Bestétigung
dieser Forderung kam Ende der 1960er-Jahre von postmodernen Theoretikern und sicht geleitet sein konnte, sie unbewusst zu halten, um ihr Strungspotential ein-
zudämmen. Die 1980er und 1990er-Jahre waren unruhige Jahre, in denen die natio-
Kritikern aus den Vereinigten Staaten. Hier ist Leslie Fiedler zu nennen, der mit sei-
nale Einheitsfiktion hinterfragt und neue Binnengrenzen etabliert wurden.
nem Slogan ,Cross the Border, Close the Gap!” besonders in Deutschland beriihmt
wurde.2 Er gehort zu denen, die das Ende der modernen Literatur verkiindeten. Weniger aktivistisch und stérker akademisch eingestellt ist ein anderer amerikani-
Damit meinte er weniger das Ende der Bedeutung der großen Texte von Proust, scher Zweig der cultural studies, der eine eigene Zeitschrift griindete und in vielen
Eliot und Joyce als das Ende der Herrschaft eines von Kritikern konservierten Publikationen regelmäßig sein Programm thematisiert hat. Die Rede ist vom ,New
repressiven asthetischen Wertsystems, das an diesen Werken geschult war und sich Historicism’, der als eine Initiative von Geisteswissenschaftlern um die Zeitschrift
immer mehr zu einer Abwehr-Waffe gegeniiber neuen kiinstlerischen Bewegungen Representations an der Berkeley Universität entstand. Der beriihmteste Name dieser
entwickelte. Sein Aufruf richtete sich an die Professoren und Kritiker, die sich auf Schule, die immer wieder abstreitet, eine solche zu sein, ist Stephen Greenblatt, des-
eine neue Ara einstellen sollten, in der die tiefe Kluft zwischen hoher Literatur und sen Forschungsgebiet Shakespeare und die englische Renaissance ist. Er hat sich ins-
Popkultur iiberwunden war und eine flexible Mischung aus E- und U-Kultur, aus besondere von dem Ethnologen Clifford Geertz inspirieren lassen, der Kulturen als
ernsthaften und trivialen Elementen zum neuen Standard gehérte. Texte begriff. Als teilnehmender Beobachter und Feldforscher hat Geertz selbst Kul-
turen vertextet, indem er seine eigene Form der ,dichten Beschreibung’ für spezifi-
Wenn man sich die weitere Geschichte der Kulturentwicklung in den Vereinigten sche kulturelle Praktiken entwickelte”” Die Neuen Historiker erweiterten drastisch
Staaten anschaut, muss man feststellen, dass sich Fiedlers Aufruf zur Grenziiber- die Textbasis ihres Faches. Die Texte, die sie in die Literaturwissenschaft einfiihren,
schreitung und einer Ausgleichung von Differenzen auf anderen Ebenen nicht nur
stammen aus den historischen Archiven, in denen sie ein Schattendasein fithrten.
nicht bewahrheitet hat, sondern dass das genaue Gegenteil eingetreten ist. Seit
Thre Provokation besteht darin, dass sie die traditionellen literaturwissenschaft-
lichen Wertkriterien nivellieren und diesen Archiv-Texten ebenso viel Aufmerk-
25 Derjenige, der in den USA den Ansatz der Birmingham-Schule in der zweiten Gene- samkeit und methodische Sorgfalt entgegen bringen wie den Kanon-Texten der
ration am konsequentesten fortsetzt, ist Lawrence Grossberg, der selbst ein Schiiler großen Literatur. Wenn Kultur wirklich in Text geronnen und manifestiert ist, dann
von Stuart Hall ist. Seine Form der Cultural Studies ist konsequent marxistisch aus- haben alle Texte einen gleichen Anspruch auf Deutung und Analyse. Das Interesse
gerichtet und auf die Analyse von Kulturen als Rahmen wirtschaftlichen und politi- des New Historicism richtet sich darauf, die ‚Aura‘ der literarischen Texte aufzulö-
schen Handelns konzentriert. Es gibt allerdings auch Stimmen, die diesen Theorie- sen, die ihnen in der biirgerlichen Rezeption zugesprochen wurde. Durch Einbettung
Ansatz bereits historisieren: ,Altbewahrte Gegensatzpaare von Zentrum und Rand, literarischer Werke in den historischen Kontext ihrer Entstehung sollen die Effekte
von Macht und Widerstand, von Mainstream und Subkultur, von Hegemonie und
Subversion, die sich unter anderem in der Rezeption der britischen Cultural Studies
der Kanonisierung wieder riickgingig gemacht werden. Dabei soll zugleich dem
etabliert haben, werden weiterhin ins Feld gefiihrt, als hitte sich seit den sechziger
Marginalisierten zur Aufmerksamkeit verholfen und das gewiirdigt werden, was der
Jahren gesellschaftlich und kulturell in Deutschland nichts verdndert.” Mayer, Ruth Missachtung oder Verdréingung zum Opfer gefallen war. Die Neuen Historiker sind
(1999), 231-243; hier: 235. sich bewusst, dass dieses Forschungsprogramm mit einem Risiko verbunden ist, das
26 Leslie Fiedler hat in Freiburg im Jahre 1968 einen Stegreif-Vortrag gehalten, der kurz sie aber nicht nur in Kauf nehmen, sondern in dem sie eine echte Chance sehen:
darauf zum ersten Mal in der Zeitschrift Christ und Welt veroffentlicht wurde, bevor The risk, from a culturally conservative point of view, is that we will lose sight of
er im folgenden Jahr auch in englischer Sprache im Playboy Magazin erschien. Fied- what is uniquely precious about high art: new historicism, in this account, fosters
ler wird im Online Oxford English Dictionary als derjenige genannt, der 1965 den bis
dahin nur in der Architektur eingefiihrten Begriff der Postmoderne zum ersten Mal
auf die Literatur angewendet hat. Der Text ist abgedruckt in: Welsch (1988), 57-74. 27 Geertz (1999).

22 23
Einleitung Kulturwissenschaften

the weakening of the aesthetic object. (...) When the literary text ceases to be a
materiellen AuBerungsformen zwar niederschlug und an diesen abzulesen,
sacred, self-enclosed, and self-justifying miracle, when in the sceptical mood we fos- jedUCh mit äußerlichen Konkretisierungen niemals gleichzusetzen war.
ter it begins to lose at least some of the special power ascribed to it its boundaries
begin to seem less secure and it loses exclusive rights to the experience of wonder.** Zu den wissenschafts-strategischen Implikationen des Kulturbegriffs, der im Zen-
trum von Kulturwissenschaft steht, gehört vor allem, dass er die oben genannten
Kulturwissenschaften Leitoppositionen des 19. Jahrhunderts, die bis in die 1970er-Jahre bestimmend wa-
ren, unterläuft. Während der Begriff ‚Geist‘ darauf gerichtet war, einen emphatisch
In Deutschland haben die Kulturwissenschaften eine Entstehungsgeschichte, die ‚menschlichen Faktor des Kulturprozesses zu identifizieren, zu isolieren und zu af-
bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zuriickreicht. Damals begannen einzelne firmieren, verlagert die Kulturwissenschaft ihr Augenmerk auf Strukturen, Prozesse
Wissenschaftler wie Georg Simmel, Karl Lamprecht, Aby Warburg, Walter Benja- und Praktiken in einem Umfeld, das von vornherein als technomorph gedacht wird.
min und Ernst Cassirer aus den methodologischen Bahnen der etablierten geis- Im Mittelpunkt dieses neuen Paradigmas steht das Axiom von der Konstruktivität
tes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen auszuscheren und neue Fragestel- der Medien, die nicht mehr als Darstellungsformen, sondern als genuine Weisen
lungen, Wahrnehmungsformen und Arbeitsweisen zu entwickeln. Diese einzel- der Welterzeugung verstanden werden. Der Philosoph Ernst Cassirer begriindete
giingerischen Vorstöße vorwiegend jiidischer Wissenschaftler konnten sich da- seine Philosophie der Kultur auf der Basis einer Theorie der symbolischen Formen,
mals jedoch nicht gegen die institutionellen diszipliniren Strukturen behaupten die er in so unterschiedlichen Dimensionen wie Mythos, Kunst, Wissenschaft, Tech-
und wurden im Gegenteil in den 30er-Jahren durch Verfolgung und Vertreibung nik, Religion und Recht als eine elementare kognitive und gestalterische Grundkraft
aus dem NS-Staat gewaltsam ausgeschlossen. Die Wiederankniipfung an diese ab- am Werke sah. Für Cassirer waren die Begriffe ‚Symbol‘ und ,Medium' noch aus-
gebrochenen und verlorenen Impulse geschah nicht sofort nach dem Zweiten tauschbar. Seine zentrale These war die Unhintergehbarkeit von ‚Symbol‘ und ‚Me-
Weltkrieg, sondern setzte erst allmahlich in den 1970er und 80er-Jahren ein. Seit dium, mit der er den Schwerpunkt kulturwissenschaftlicher Forschung von der
den 1990er-Jahren standen diese Autoren Pate bei der Grundlegung der Kultur- Blackbox des Geistes hin zu Formen der Darstellung und Présentation verlagerte.®
wissenschaften an ost- und westdeutschen Universitaten. Im Zuge solcher Umorientierung vom geistigen Sein zum medialen Dasein sind
Hier kann nur in groben Ziigen skizziert werden, welche gedanklichen Umorien- nicht zuletzt die technischen Medien verstirkt in den Fokus der Aufmerksamkeit
tierungen diese Institutionalisierung der Kulturwissenschaften in Deutschland im getreten, die immer weniger als Mittler aufgefasst werden und immer mehr als ge-
einzelnen vorbereitet haben. Die Umriistung der traditionellen Geisteswissen- nuine Organisationsformen menschlicher Welterfahrung. Diese Organisationsfor-
schaften zu Kulturwissenschaften schlägt sich sinnfillig in der Ersetzung des men, die auch als eine ,zweite Natur‘ bezeichnet werden, haben indes ihre Ge-
Schliisselbegriffs ‚Geist‘ durch neue Leitbegriffe wie ,Symbol’, ,Medium’ und ,Kul- schichte. Es ist der Blick auf die Geschichte der Medien, die uns deren Plastizitit
tur’ nieder. Fiir das Paradigma der Geisteswissenschaften waren Namen wie Wil- und Kontingenz vor Augen fithrt und uns davor bewahrt, sie zu verdinglichen
helm Dilthey, Heinrich Rickert und Hans-Georg Gadamer bestimmend. Dieses Pa- oder zu naturalisieren.
radigma beruhte auf gewissen Leitoppositionen wie Geist und Materie, Subjekt An dieser Umriistung der Geisteswissenschaften zu Kulturwissenschaften hat der
und Objekt, Geschichte und Natur, Erklären und Verstehen, die simtlich die Germanist Friedrich Kittler einen entscheidenden Anteil, von dem 1980 ein Buch
Sphäre des Menschlichen gleichsetzten mit lebendigem Bewusstsein, subjektiver mit dem provokanten Titel Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften
Intentionalitit und historischen Ausdrucksformen, um sie sauber und geschlos- erschien ! Wohlgemerkt: es hieß nicht ,Die Austreibung ..“ sondern ,Austreibung
sen von Sphéren des Nicht-Menschlichen wie Materie, Natur oder Technik abzu- -« hier wurde nichts aus der Distanz beschrieben und konstatiert, sondern hier
grenzen. In dieser Rahmenkonstruktion galt es vor allem nachzuweisen, ,wie aller wurde gehandelt; der Titel ist selbst Programm und damit als performative
Inhalt der Kultur (...) eine urspriingliche Tat des Geistes zur Voraussetzung hat"* Sprache (vgl. Kapitel 1) zu verstehen. In der Einleitung macht der Autor sein
Der Zentralbegriff Geist blieb allerdings ein Arcanum, weil er nur als ein reines Anliegen deutlich: es besteht darin, den Geist der Geisteswissenschaften zu
Innen, als eine geheimnisvolle spirituelle Energie wirksam war, die sich in -exerzieren' wie einen bosen Damon. Dieser Geist, so Kittler, sei selbst eine
datierbare kulturelle Konstruktion; sie gehe auf die Jahre 1770-1800 zuriick, die
Yon dem Historiker Reinhart Koselleck als wichtige Gelenkstelle abendlandischer
28 Gallagher/Greenblatt (2000), 11, 12. Weitere Schwerpunkte des New Historicism Geschichte identifiziert und mit dem Namen ‚Sattelzeit‘ versehen worden sind. In
sind: die Bedeutung des Körpers und die Grenzen seiner Vertextungs- und Darstell-
barkeit, die Formen und Medien der Darstellung und ihr Verhltnis zu Handlungen
und Ereignissen, sowie eine Hinwendung zum Partikularen in der Vorliebe für selek-
tive Fallstudien mit weniger exemplarischem als anekdotischem Charakter. 30 Cassirer (1983), 176.
29 Cassirer (1988), Bd.1, 11. 31 Kittler/Turk/Nassen
(1980).

24 25
Einleitung Kulturwissenschaften

diesem Zeitraum wurden drei neue Begriffe erschaffen, die die Grundlage der mündlich verfasste altgriechische Kultur und beschrieb, wie sich die Formen des
Geisteswissenschaften bildeten, und jede dieser Ideen entstand auf die gleiche Denkens und der gesamten Kultur mit diesem Medienwandel veréinderten.* Die
Weise: durch Singularisierung vorgängiger Vielheiten. An die Stelle der Geister zentrale These dieser kulturwissenschaftlichen Medienforschung lautet: Kulturen
trat der Geist, an die Stelle der Geschichten trat die Geschichte, an die Stelle der sind durch die Kapazitat ihrer Medien, d. h. ihrer Aufzeichnungs-, Speicherungs-
Menschen trat der Mensch. Hier ist noch hinzuzufügen: an die Stelle der Künste und Ubertragungstechnologien definiert. Mit dieser These riickten bislang neben-
trat die Kunst. Diese neu geschaffenen Kollektiv-Singulare, so Kittler weiter, sichliche Dinge wie Schriftsysteme, Kommunikationsformen, Transmissionska-
bildeten das Fundament für neue Disziplinen, die „das 19. Jahrhundert erstmals néle von Nachrichten sowie die Speicherungstechniken von Wissen in den Mittel-
auf Lehrstühle setzte”: Geschichte, Literaturgeschichte, Asthetik, Anthropologie, unkt der Aufmerksamkeit.*! Diese Perspektive auf die Medienbestimmtheit der
Sprachwissenschaft, Kunstgeschichte. Zusammengefasst bilden diese Disziplinen Kultur hat in einer Zeit rasant beschleunigter technologischer Evolution ihre Bri-
bis heute unter dem Dach des ‚Geistes‘ den Kern der Geisteswissenschaften und sanz offenbart. Aus diesen Untersuchungen ist die kulturelle Gedéchtnisfor-
damit eine eigene Wissenschaftskultur in Distinktion zu den unter dem Begriff schung hervorgegangen, die ebenfalls historisch ausgerichtet ist und gerade auch
‚Natur‘ zusammmengefassten Naturwissenschaften. antike und aufSereuropdische Kulturen mit einbezieht. In diesem Forschungsan-
satz wird die Medienfrage mit der Frage nach dem kulturellen Gedéchtnis ver-
An die Stelle des exorzierten Geistes setzte Kittler einen Begriff, der nur im Plural kniipft, dessen Bedeutung als ein zentraler Aspekt von Identitétskonstruktionen
sinnvoll gebraucht werden kann und seinem 1985 erschienenen Buch den Titel gab: und der Selbstthematisierung von Gesellschaften bis in die Gegenwart hinein im-
Aufschreibesysteme. Statt ‚Aufschreibesysteme‘ können wir auch ‚Medien‘ sagen, mer deutlicher hervorgetreten ist und gegenwirtig einen neuen, sich rapide aus-
ein Wort, das ebenfalls sinnvollerweise nur im Plural zu gebrauchen ist. Unter Kitt- weitenden Zweig internationaler Kulturwissenschaften ausmacht.3
lers Einfluss entstand eine Forschungsrichtung innerhalb der Kulturwissenschaf-
ten, die sich auf die harte Technikgeschichte der Kommunikation konzentrierte Während im England der 1950er-Jahre die cultural studies aus einer Krise der Hu-
und Literaturwissenschaft in die Nähe einer Ingenieurswissenschaft brachte. manities entstanden, gingen in Deutschland Anfang der 1990er-Jahre die Kultur-
wissenschaften aus einer Krise der Geisteswissenschaften hervor. Diese Krise hat
Als eine stärker philosophische aber nichtsdestoweniger medienbewusste For- der Philosoph Jiirgen Mittelstraß im Jahre 1995 noch einmal wortgewaltig be-
schungsrichtung wäre die poststrukturalistische Schriftphilosophie französischer schworen. Er war der Meinung, dass die Geisteswissenschaften diese Krise durch
Provenienz zu nennen, die sich mit den Namen Foucault, Lacan und vor allem esoterische Selbstbeziiglichkeit und Fragmentierung von Forschungszusammen-
Derrida verbindet und ebenfalls eine wichtige Wirkung auf die deutschen Kultur- hängen selbst verschuldet hatten.* Wihrend die Natur- und Technikwissenschaf-
wissenschaften gehabt hat. Auch hier setzte die Umorientierung mit einer tief- ten sich auf der Hohe der Zeit befinden und unsere moderne Welt aktiv umgestal-
greifenden Kritik am Geist-Begriff an, diesmal in Gestalt des Wortes ‚Logos‘, das teten, erwiesen sich die Geisteswissenschaften als Verlierer dieses Moderni-
sich ebenfalls jeglicher Materialisierung entzieht. Derridas Analysen kreisen um sierungsprozesses. Statt an Gestaltung und Formung unserer Welt und der Zukunft
das Phantasma der Ursprünglichkeit, Unmittelbarkeit und reinen Gegenwart, auf teilzuhaben, hitten sie sich durch konservative Riickwértsgewandtheit und wei-
das er die philosophische Orientierung des Abendlands gegründet sieht. Dieser che Werte selbst ins Abseits manévriert, wo sie allenfalls noch eine kompensatori-
Medienvergessenheit stellt er seine Analysen von Schrift, Differenz und Aufschub sche Funktion iibernehmen könnten. Mittelstraß rief die Geisteswissenschaften
entgegen, die allenthalben die irreduzible Dynamik von Verzögerungen, Vermitt- dazu auf, die alten Zopfe des Subjektivismus, Historismus, der Textfixierung und
lungen und Verschiebungen herausstellen. Hermeneutik abzuschneiden und sich um einen objektiven Standard der Wahrheit
Mit einer stirker historischen und vergleichenden Perspektive hat sich eine me- und echte Probleme zu kiimmern. Sie sollten endlich zu ihrem eigentlichen Auf-
dienorientierte Kulturwissenschaft entwickelt, die an internationale Forschungen trag einer normativen sozi lagogischen ,Bildungsfunktion’ stehen. Dann und
der 1960er-Jahre ankniipft. Hier sind die Forschungen zu Miindlichkeit und nur dann kénnten die Geisteswissenschaften neben den von ihm so genannten
Schriftlichkeit der Toronto-Schule in Kanada hervorzuheben, die sich mit Namen
wie Harold Innis, Eric Havelock und Marshall McLuhan verbindet. Eric Havelock
2. B,, Altphilologe und Erforscher der Kulturrevolution des Alphabets, verstand :3 Havelock (1986); Havelock (1990).
sein Werk als Fortsetzung einer empirischen Oralitats-Forschung, die die Kompo- 4 Assmann, A. / Assmann, J. / Hardtmeier (1991). Dieser Arbeitskreis hat inzwischen
sitionsgesetze miindlicher Epik an lebendigen Traditionen auf dem Balkan stu- zehn weitere Publikationen hervorgebracht.
dierte.® Havelock untersuchte den dramatischen Einbruch des Alphabets in die
g: Assmann, Jan (1997); Assmann, Aleida (1999a).
Mittelstraß (1996). Mit den Thesen von MittelstraR habe ich mich in einem Brief-
Wechsel auseinandergesetzt, der als Anhang abgedruckt ist in: Aleida Assmann
32 Havelock (1982). (2004), 29-37.

26 27
Einleitung Kulturwissenschaften

‚Verfügungswissenschaften‘ (gemeint sind die Naturwissenschaften und Technik)


ab, die so schwer auf den Schultern der Geisteswissenschaften gelegen hatte. Die
eine Rolle als ‚Orientierungswissenschaften‘ übernehmen, und sie wären endlich Preisfrage nach der moralischen Funktion beantwortete Steiner negativ. Angesichts
in der Lage, einen aktiven Beitrag zur Gestaltung der modernen Welt zu leisten.? der wachsenden Moralisierung, Politisierung und Fundamentalisierung der cultural
Mittelstraß empfahl den Geisteswissenschaften, ihr notorisches Legitimationsdefizit studies in anglophonen Diskursen sah er darin eher einen Teil des Problems als
durch einen emphatischen normativen Impuls zu überwinden. Eine derartige grund- dessen Überwindung, Kulturwissenschaften hätten nicht die Aufgabe, Orientierung
legende Richtungsänderung, die mit allen historischen Traditionen der Geisteswis- und stabile Werte in das normative Vakuum einer Gesellschaft zu injizieren; das
senschaften bricht, ist leicht zu verkünden, aber (glücklicherweise) schwer durchzu könne nicht die Aufgabe einer Wissenschaft sein, sondern müsse anderen
setzen. Viel leichter durchzusetzen ist ein Wandel der Nomenklatur. So erstand aus Institutionen überlassen bleiben. Ihre Kompetenzen seien kritisch reflektierend
der Asche der krisengeschüttelten Geisteswissenschaften fast wie von selbst der und explorativ, aber nicht fundierend. Sie hatten im Gegenteil dafiir zu sorgen,
strahlende Phoenix der Kulturwissenschaften. Ging es hier nur um einen Etiketten- dass das Gleichgewicht der modernen Gesellschaft zwischen Méglichkeit und
schwindel oder doch tatsächlich um so etwas wie einen Paradigma-Wechsel? In ‘wirklichkeit, zwischen Potential und Realisierung erhalten bleibt und nicht durch
einem Essay von 1997 hat der Germanist Uwe Steiner diesen Wandel genauer analy- partikulare Wertsetzungen und autoritére Diskurs-Begrenzungen gestort wird.
siert.® Er hatte auf die Preisfrage einer renommierten germanistischen Zeitschrift In dieser Selbstdarstellung der deutschen Kulturwissenschaften wird noch einmal
geantwortet, die sich mit der Mittelstraßschen Forderung nach Orientierungswissen der Unterschied zwischen deutschen und anglo-amerikanischen Traditionen
auseinander setzte. Diese Frage lautete: „Können die Kulturwissenschaften eine deutlich. Verallgemeinernd diirfen wir festhalten, dass es in den cultural studies
neue moralische Funktion beanspruchen?“ Steiner beginnt seinen Essay mit der vorrangig um die Abschaffung des elitären Begriffs von Hochkultur und einen
Auswechslung des Begriffs ‚Geist‘ durch Kultur' Während der Einheitsbegriff ‚Geist‘ neuen Zugang zur Popkultur, sowie um eine Neuordnung des literarischen Kan-
empirischer Erforschung unzugänglich ist, ist das Wort ‚Kultur‘ immer schon ein ons geht, an dem soziale und kulturelle Minderheiten verstarkte Rechte der Teil-
pluralistischer Differenzbegriff, der neue Fragestellungen erlaubt. Steiner analysiert habe einklagen. Die cultural studies verstehen Kultur als einen Kampfplatz der
Kulturen als sich selbst organisierende Symbolsysteme. Er setzt sich damit von der Wertungen, Umwertungen und Identitétspolitik, auf dem sie selbst agieren.
Krisenrhetorik ab, die er im Anschluss an die Systemtheorie Niklas Luhmanns durch Demgegeniiber bleibt fiir die Kulturwissenschaften Kultur primér ein Forschungs-
eine konstruktivistische Sprache und Begrifflichkeit ersetzt. In einer Welt von gegenstand. Ihr primäres Anliegen ist es, diesen Forschungsgegenstand zu kon-
Wandel, Kontingenz und Flüchtigkeit haben Kulturen die Aufgabe, wiedererkenn- textualisieren, d. h. die kanonisierten (und damit automatisch entkontextual
bare Gestalten auszubilden und gleichzeitig elastisch auf solchen Wandel zu erten) Texte und Artefakte in jene groferen kulturellen Zusammenhinge
reagieren. In dieser Perspektive spielen symbolische Prozesse die Hauptrolle. War die zuriickzubetten, in denen sie entstanden sind. Dabei spielen gerade auch die an-
Diskussion über die Geisteswissenschaften als eine Diskussion der (mangelnden) thropologischen Wurzeln des Kulturbegriffs, wie sie den Zivilisationstheorien
Werte eingeleitet worden, so konterte Steiner mit einem Diskurs über die Bedeutung zugrunde liegen, sowie historische und ethnographische Traditionen, die den
von Symbolen. Kulturwissenschaften beanspruchen nach Uwe Steiner keine Blick auf das Fremde im Anderen und im Eigenen lenken, eine wichtige Rolle.*?
Orientierungsfunktion, wohl aber eine besondere Kompetenz für Symbole - in Der wichtigste Unterschied zwischen cultural studies und Kulturwissenschaften
Bezug auf ihre irreduzible Kraft, ihre Struktur und Funktionsmechanismen, sowie besteht wohl darin, dass letztere ausschlieflich in akademischen Institutionen
ihre Wirkungen im Bereich von Alltag und Politik, von Kommunikation und Iden- Vverankert sind, wihrend erstere gleichzeitig Teil einer sozialen Bewegung und kul-
titätsbildung, von Macht und Konflikt. Mit ihrem neuen Anspruch auf Symbolkom- turellen Praxis sind. Das erklirt vielleicht auch, warum in den Kulturwissen-
petenz werfen die Kulturwissenschaften mit einem Schlag die Bürde der Apologetik schaften eher eine reflexive und kritische als eine aktivistisch kimpferische
Haltung im Vordergrund steht.

37 Das ist auch das Fazit einer Gedenkschrift ‚Geisteswissenschaften heute; in der eine
Forschungskommission den Rahmen für die neuen Kulturwissenschaften absteckte.
Diese sollten „als Instrument interkultureller Bildung und anthropologischer Er
kenntnis ihren genuinen Beitrag zum Problem einer Reintegration der technologi-
schen Zivilisation in die gesellschaftliche Kultur der Zukunft leisten.“ Frühwald
(1991), 11. Dieser Formulierung liegt offensichtlich der alte Gegensatz vom Sonder:-
weg deutscher besinnlicher Kultur versus französischer moderner Zivilisation zu
grunde. Vgl. dazu Elias (1978), 1-42.
38 Steiner (1997), 5-38. 39 Assmann, Aleida u. a., Hg. (2004a).
28 29
Einleitung

Cultural Studies Kulturwissenschaften 1. ZEICHEN


Kultur als Kampfplatz der Identi- * Kultur als Forschungsgegenstand
tatspolitik
Ausweitung des Kulturbegriffs Historische (Re-)Kontextualisie-

.
von Hochkultur auf Populérkultur rung von Kunst | 1.1 Zeichengebrauch als anthropologische Grundlage
Neuordnung des literarischen Ka- Interesse an einem kulturellen Ge- Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat den Menschen definiert als ein Tier, das
nons dächtnis sich zu erinnern vermag. Mit dieser Fahigkeit positioniert sich der Mensch in der
. Forderung Reflexive und kritische Analyse von | Zeit, blickt zuriick und schaut planend voraus. Er ist nicht der Gegenwart ausge-
nach verstärkter Teil-
habe sozialer und kultureller Min- symbolischen Repräsentationen Jiefert, sondern schafft sich selbst einen Zeithorizont, in dem er sich bewegen, er-
derheiten innern, Erwartungen aufbauen und Ziele setzen kann. Dieser Zeithorizont jedoch
wäre nicht méglich ohne den Gebrauch von Zeichen und Symbolen, weshalb eine
kulturwissenschaftliche Studie sinnvollerweise mit einer Klärung dieser Grund-
Zitierte Literatur begriffe einzusetzen hat.
Conrad, Joseph (1994) Heart of Darkness. Harmondsworth: Penguin. Freud, Sigmund Die anthropologische Bedeutung von Symbolen lässt sich anhand einer Beobach-
(1992) „Das Unbehagen in der Kultur“, in: Abriss der Psychoanalyse. Frankfurt a. M. tung erldutern, die der amerikanische Literaturtheoretiker Kenneth Burke ge-
Fischer. Shelley, Mary (1965) Frankenstein, or, the Modern Prometheus. London: Dent. macht hat. In einem Essay mit dem Titel The Definition of Man hat er verschiedene
Shelley, P. B.,A Defence of Poetry‘, in: Enright, D. J. / de Chickera, Ernest, Hgg. (1968). Merkmale aufgelistet, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden.!
English Critical Texts, London OUP. An erster Stelle wird der Mensch als ein Tier bestimmt, das Symbole benutzt
Weiterführende Literatur (symbol-using animal). Sein Beispiel ist eine Amsel, der er beim Nisten und
Collins, Richard, Hg. (1986) Media, Culture and Society. A Critical Reader. Londor, Be Briiten zugeschaut hat. Er beobachtete dabei, dass alle jungen Vogel flügge
verly Hills, Newbury Park, New Dehli: Sage Publications. During, Simon (2005) Cultu- wurden und das Nest verlieen bis auf einen, der den unheimlichen Moment des
ral Studies. A Critical Introduction. London: Routledge. Fiske, John (1989) Understan- ersten Flugs vor sich her schob und schliefilich als einziger im Nest zuriickblieb.
ding Popular Culture. Boston: Unwin Hyman. Gallagher, Jane / Greenblatt, Stephen Für diesen erfand die Amselmutter einen besonderen Trick: Sie brachte ihm einen
(2000) Practising New Historicism. Chicago, London: University of Chicago Press. Ge- Wurm und verweilte flatternd mit ihrer Beute so weit außerhalb des Nests, dass
ertz, Clifford (1999) Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. sich der junge Vogel weit hinauslehnen musste, um den Bissen zu erhaschen. In
Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hall, Stuart (1990) „The Emergence of Cultural Studies ‘ diesem Augenblick zuckte die Amsel zuriick und der Vogel purzelte aus dem Nest,
and the Crisis of the Humanities‘, in: October, Art, Theory, Criticism, Politics, Val. 53, worauf er spontan die Fliigel 6ffnete und auf und davon flog. An diesem Punkt
11-23. Hörning, Karl H. / Winter, Rainer (1999) Widerspenstige Kulturen: Cultural Stu setzt Burkes Reflexion ein. Er gratuliert der Amselmutter zu ihrer genialen
dies als Herausforderung. Frankfurt a. M. Suhrkamp. Jaeger, Friedrich et al., Hgg. Erfindung, bedauert aber zugleich, dass eine solche Erfindung in der Vogelwelt
(2004) Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 1-3, Stuttgart: Metzler. Leistyna, Pepi
Elisa- f_\l(‘-ht Schule machen könne, weil die Amsel ja nicht in der Lage sei, ein Handbuch
(2005) Cultural Studies. From Theory to Action. Malden, Mass.: Blackwell. List,
beth / Fiala, Erwin, Hgg. (2004) Grundlagen der Kulturwissenschafl. Interdisziplinre iiber die [Entnestung junger Vogel' zu schreiben. In der Vogelwelt kénnen
Kulturstudien. Tiibingen, Basel: Francke. Niinning, Ansgar, Hg. (1998) Metzler Lexikon Erfahrungen und Erfindungen allenfalls mimetisch durch Vor- und Nachmachen
Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart: Metzler. Niinning, Ansgar / Niinning, Vera, Weitergegeben und von anderen genutzt werden. Es kann jedoch nichts weiter-
Hgg. (2003) Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen, Ansitzc S:«gjb_en werden, was diese unmittelbare Kommunikationssituation über-
Perspektiven. Stuttgart: Metzler. Niinning, Ansgar / Sommer, Roy, Hgg. (2004) Kultur 3 eitet, wen_l es keinen symbolischen Code gibt, in dem dergleichen Wissen für
wissenschaftliche Literaturwissenschaft. Disziplindre Ansätze — Theoretische Positione! ndere vergleichbare Fälle und nachfolgende Generationen aufgezeichnet werden
— Transdisziplindre Perspektiven. Tibingen: Gunter Narr. Stierstorfer, Klaus / Volk- auch-]ede Vogelgeneration muss wieder von vorn anfangen. Dazu sind die Tiere
mann, Laurenz, Hgg. (2005) Kulturwissenschaft interdisziplindr. Tiibingen: Gunter ol sehr_wohl "fah\g. weil sie mit dem in ihren Genen einprogrammierten
Narr. Williams, Raymond (1958) Culture and Society. Harmondsworth: Penguin Books tinkt-Wissen fiir das, was ihnen bevorsteht, hinreichend gerüstet sind. Nicht so

1 Burke (1966), 2-24.

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