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Axel Pichler

Philosophie als Text – Zur Darstellungsform der Götzen-Dämmerung


Monographien und Texte
zur Nietzsche-Forschung

Herausgegeben von
Günter Abel (Berlin) und Werner Stegmaier (Greifswald)
Begründet von
Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter
und Heinz Wenzel

Band 67
Axel Pichler
Philosophie als Text –
Zur Darstellungsform der
Götzen-Dämmerung
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung.

ISBN 978-3-11-036314-2
e-ISBN 978-3-11-036423-1

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© 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston


Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen
Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany

www.degruyter.com
para vos
Vorwort
Vor vier Jahren äußerte ich im Vorwort meiner ersten Nietzsche-Monographie die
Hoffnung, in dieser aus Platzgründen nicht mehr ausführlich Dargestelltes sobald als
möglich nachzureichen. Das vorliegende Buch zeigt, dass diese Hoffnung nicht ver-
geblich war.
In der Zwischenzeit hatten sich jedoch sowohl mein Philosophieverständnis als
auch mein Umgang mit Nietzsches Schriften verändert: Versuchte sich die leicht
adaptierte Fassung meiner Doktorarbeit noch an einer Rekonstruktion der Denkbewe-
gung des späten Nietzsche und zollte dabei dem ästhetischen Charakter sowie der
spezifischen Textualität seiner Schriften en détail kaum bis wenig Aufmerksamkeit,
hat sich mir in den darauffolgenden Jahren die fundamentale Bedeutung eben dieser
Phänomene nicht nur bei Nietzsche, sondern in der abendländischen Philosophie
überhaupt immer mehr herausgestellt. Philosophisches Denken erfolgt primär auf
Basis der Verwendung von Feder, Schreibmaschine oder Laptoptastatur. Sowohl
diese Praxis als auch die von ihr realisierten Schreibweisen sind den Resultaten dieses
Denkens nicht äußerlich. In Anbetracht dieser Annahmen lag es nahe, sie an einem
Text jenes Denkers zu überprüfen, mit dem ich mich schon zuvor eingehend beschäf-
tigt hatte und dessen Werk bereits zu dessen Lebzeiten als literarisches wahrgenom-
men worden ist. Die Resultate dieser Überprüfung lege ich mit diesem Buch dem
Publikum vor. Trotz der im Vergleich zu meiner ersten Studie anderen Zugangsweise
versteht sich dieser Text, wie man mit JGB 24 sagen könnte, ‚nicht als deren Gegen-
satz, sondern als deren Verfeinerung‘. Eine solche Verfeinerung führt zur steten
Erweiterung der eigenen Wahrnehmung der Komplexität des untersuchten Gegen-
standes: zuvor einseitig Auflösbares wird mehrdeutig, neue Kontexte öffnen sich, alte
Reduktionsverfahren greifen nicht mehr. Nicht zuletzt dieser Vervielfältigung der
Deutungsangebote ist die Form dieser Schrift geschuldet, die eben nicht eindeutig
Mehrdeutiges zwanghaft in Monosemien überführen möchte, sondern versucht, sich
ihrem Gegenstand so nahe wie möglich anzunähern. Dass letztendlich auch eine
derartige Annäherung den komplexen Verweisungszusammenhang eines dyna-
mischen Textgeschehens durch ihren temporären Fokus stillstellt, bildete die un-
umgehbare Grenze auch dieser Studie. Möglichkeiten einer erneuten Verflüssigung
des in ihr Dargestellten habe ich in den Fußnoten durch die Erwähnung im Lauftext
nicht verhandelter Kontexte bereitzustellen versucht. Sie aufzunehmen und weiter-
zuverfolgen obliegt dem geneigten Leser.

Zuallererst möchte ich mich bedanken: bei der Fritz-Thyssen-Stiftung, die mir durch
ein einjähriges Forschungsstipendium die Umsetzung dieses Projektes ermöglichte
und auch den Druck dieses Bandes unterstützte; bei meinen Großeltern, Helmut und
Isolde Hammer, sowie meinen Eltern, die mir nach Beendigung des Stipendiums
finanziell unter die Arme griffen und so den Abschluss dieses Buches überhaupt erst
erlaubten; bei Andreas Urs Sommer für die Bereitschaft, mir das Druckmanuskript des
VIII Vorwort

Nietzsche-Kommentars zur Götzen-Dämmerung vor dessen eigentlichem Abschluss zur


Verfügung zu stellen; bei Beat Röllin für die so kenntnisreichen Hinweise zur Text-
genese der Götzen-Dämmerung; bei den Teilnehmern der Arbeitsgruppe „Textologie
der Literatur und Wissenschaften“ an der FU Berlin, vor allem jedoch bei Martin
Endres und Claus Zittel, für die kritischen Anregungen, durch die insbesondere der im
Folgenden vorgestellte Textbegriff seine hier gegebene Form angenommen hat; bei
Marcus Andreas Born, Helmut Heit, Anthony Jensen und Enrico Müller für die meist
fern der Universität abgehaltenen Nietzsche-Symposia; bei Horacio und Laura Here-
dia, in deren Haus die Erstfassung des Kapitels „Autodeixis, Schleife und Selbst-
parodie: Nietzsches subvertierende Schrift“ während eines Aufenthaltes in Buenos
Aires im Dezember 2012 verfasst wurde, für die Gastfreundschaft und ihr Bemühen,
mir eine möglichst produktive Arbeitsatmosphäre zu schaffen; bei Eric Ehrhardt, Peter
Lankes und Corinna Schubert für das Lektorat ausgewählter Kapitel dieser Studie; bei
Lorena Poblete, in deren Wohnung in Palermo Hollywood die letzten Korrekturen am
Manuskript im Rahmen eines weiteren Argentinienaufenthaltes erfolgten; bei den
Herausgebern der Monographien und Texte der Nietzscheforschung, insbesondere
Werner Stegmaier, für die konstruktive Kritik an einer Zwischenfassung dieser Studie;
bei Christoph Schirmer vom De Gruyter Verlag für die umsichtige und freundschaftli-
che Betreuung während des gesamten Realisierungsprozesses dieses Buches; bei
Marcus Andreas Born für (stil)kritische Bemerkungen; bei der Klassik Stiftung Wei-
mar, insbesondere dem Goethe- und Schiller-Archiv, für die freundliche Betreuung
vor Ort sowie für die Erlaubnis, Auszüge aus dem Druckmanuskript sowie der Erst-
ausgabe der Götzen-Dämmerung am Ende dieses Bandes abzudrucken. Mein besonde-
rer Dank gilt Jakob Dellinger, der die Entstehung dieser Arbeit von Anfang an mit
kritischen Kommentaren begleitet hat und dem ich zahlreiche Anregungen zur Kor-
rektur der Erstfassung verdanke, und Eliana, für ihre Geduld und Unterstützung sowie
ihre Heiterkeit, die mir stets mehr als bloße Genesung von meiner „Aufgabe“ war…

Buenos Aires,
im März 2014
Inhaltsverzeichnis
Vorwort  VII

Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen  XIII

0. Einleitung  1

1. Teil: Philosophie als Text

1.1. Terminologische Grundlagen: Text, Werk, Literarizität und ästhetische


Darstellungsform  13
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen
Schreibens  39

2. Teil: Nietzsche

2.1. Voraussetzungen oder warum wie zu lesen sei  55


2.1.1. Voraussetzungen I: Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches
Philosophie  55
2.1.2. Voraussetzungen II: Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext
seines späten (Sprach-)Denkens  77
2.1.2.1. Zur Problematik der Verabsolutierung von Nietzsches früher
Sprachauffassung: Paul de Mans Nietzsche-Interpretation  77
a.) Paul de Mans Lektüre von W II 6, S. 61/59  80
b.) De Mans ‚blinder Fleck‘ – Nietzsches spätes
Sprachdenken  83
c.) Das Verschwinden des Textes unter de Mans
Interpretation  89
2.1.2.2. Ziele und Reichweite von Nietzsches poeseologischen
Reflexionen  94
a.) Stil als Mittel der Leserauswahl  95
b.) Bedeutungserweiterung durch Rhythmisierung  98
c.) Von der Metareflexion zur intratextuellen
Autoprofilierung  100
2.1.2.3. Charakteristika von Nietzsches philosophischen Schreibweisen  108
a.) Form als sedimentierter Inhalt  108
b.) Orientierung an der gesprochenen Sprache  109
c.) Graphematische Irritationspraxis  109
d.) Performative Brüche  111
X Inhaltsverzeichnis

e.) Musikalisierung/Rhythmisierung  112


f.) Personalisierung  112
g.) Typisierung  115
h.) Rhetorische Figuren und Tropen  116
j.) Die Gattungsfrage  117
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven
Lesens  123
2.2. Die Götzen-Dämmerung  142
2.2.1. Entstehungs- und editionsgeschichtliche Hintergründe der Götzen-
Dämmerung  142
2.2.2. „Meine[ ] wesentlichsten philosophischen H e t e r o d o x i e n “.
Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-
Dämmerung  145
2.2.2.1. Methoden und Leitmotive I: Heterodoxes Denken  145
2.2.2.2. Methoden und Leitmotive II: Heuristik in Tropen (GD Vorwort)  152
a.) Telos und Darstellungsmodus – Erholung von der Aufgabe der
Umwertung durch Stiftung von Heiterkeit  154
b.) Krieg als heuristische Methode  156
c.) Der Untersuchungsgegenstand – Fall und Götze  163
d.) Hammer und Stimmgabel als Instrumente psychologischer
Kritik  163
e.) Motivverknüpfung – Kriegserklärung an die ewigen
Götzen  168
2.2.2.3. Methoden und Leitmotive III: Der Fall Sokrates (GD Sokrates)  170
a.) Symptomatologie als Kritik  171
b.) Vom Symptom zum Zeichen – der sprachphilosophische
Hintergrund  174
c.) Der Gegenstand der Kritik – die décadence  180
d.) Die ‚Instinkte‘ – der physiologische Hintergrund  185
e.) Ausbruch als Rückkopplung – Sokrates’ Missverständnis  188
f.) Zusammenfassung – Philosophie als Erzählung und
Figurenrede  191
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“  195
2.2.3.1. GD Vernunft 1  195
2.2.3.2. GD Vernunft 2  210
2.2.3.3. GD Vernunft 3  217
2.2.3.4. GD Vernunft 4  223
2.2.3.5. GD Vernunft 5  230
2.2.3.6. GD Vernunft 6  249
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende
Schrift  266
2.2.4.1. Stand der Forschung  266
Inhaltsverzeichnis XI

2.2.4.2. Autodeiktische Schleife (GD Sokrates, GD Vernunft)  281


2.2.4.3. Ernste Selbstparodie (GD Moral)  288
2.2.4.4. Performative Schleife (GD Verbesserer)  300
2.2.4.5. Selbstbezüglichkeitsfiguren in der GD (Überblick)  305
2.2.5. Das Dionysische als physio-ästhetisches Mythopoem und
poeseologische Metapher  306

3. Teil: Text, Konstellation und (Selbst-)Reflexion: Die ästhetischen


Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung und ihre
Folgen für Philosophie und Literaturtheorie

3.1. Der Status der Darstellungsform in aktuellen literaturtheoretischen und


philosophischen Diskursen  329
3.1.1. Erkenntnis und Darstellung, eine Frage der Zuständigkeit? Zum
Verhältnis von Philosophie und Literatur  330
3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs  334
3.1.3. Der philosophische Diskurs  343
Exkurs: Die Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung im Lichte der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ von Walter Benjamins Ursprung des
deutschen Trauerspiels  348
3.2. Philosophie als ästhetischer Text: Epistemische und epistemologische
Konsequenzen der Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung  366

4. Literaturverzeichnis  377

5. Abbildungen  392
5.1. Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass  392
5.2. Druckmanuskript  413
5.3. Erstausgabe 1889  418
Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen

1 Werkausgaben

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, ab Abt. IX/
4 von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi.
Berlin/New York: De Gruyter 1967ff.

KGB Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, weitergeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Berlin/New York:
De Gruyter 1975ff.

KSA Werke. Kritische Studienausgabe. 15 Bände. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino
Montinari. 2. durchges. Aufl. München/Berlin/New York: dtv/De Gruyter 1999.

2 Götzen-Dämmerung

Der Text der Götzen-Dämmerung wird zitiert nach der Erstausgabe mit der Sigle EA
und darauffolgender Seitenangabe: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Ham-
mer philosophirt. Leipzig: C.G. Naumann 1889.
Die einzelnen Kapitel der Götzen-Dämmerung werden mit folgenden Siglen aus-
gewiesen:

GD Alten Was ich den Alten verdanke


GD Deutschen Was den Deutschen abgeht
GD Fabel Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde
GD Hammer Der Hammer redet
GD Irrthümer Die vier grossen Irrthümer
GD Moral Moral als Widernatur
GD Sokrates Das Problem des Sokrates
GD Sprüche Sprüche und Pfeile
GD Streifzüge Streifzüge eines Unzeitgemässen
GD Verbesserer Die „Verbesserer“ der Menschheit
GD Vernunft Die „Vernunft“ in der Philosophie
GD Vorwort Vorwort
XIV Verzeichnis der Siglen und textkritischen Zeichen

3 Siglen einzelner Werke

AC Der Antichrist
CV Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
DD Dionysos-Dithyramben
DS David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrach-
tungen 1)
DW Die dionysische Weltanschauung
EH Ecce homo
FW Die fröhliche Wissenschaft
GD Götzen-Dämmerung
GM Zur Genealogie der Moral
GMD Das griechische Musikdrama
GT Die Geburt der Tragödie
HL Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrach-
tungen 2)
JGB Jenseits von Gut und Böse
M Morgenröthe
MA Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
NL Nachgelassene Aufzeichnungen und Entwürfe
NW Nietzsche contra Wagner
PHG Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
SE Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3)
SGT Sokrates und die griechische Tragödie
ST Sokrates und die Tragödie
UB Unzeitgemäße Betrachtungen
VM Vermischte Meinungen und Sprüche
WA Der Fall Wagner
WB Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4)
WL Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
WM1 „Der Wille zur Macht“. In: Großoktav-Ausgabe, Bd. XV, Leipzig 1901.
WM2 „Der Wille zur Macht“. In: Großoktav-Ausgabe, Bde. XV/XVI, Leipzig 1911.
WS Der Wanderer und sein Schatten
Za Also sprach Zarathustra
5 Textkritische Zeichen XV

4 Verzeichnis der verwendeten Hefte und Notizbücher aus der


KGW IX

N VII 1, N VII 2, N VII 3 KGW IX/1–3. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Michael Kohlen-
bach. Bearb. v. Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und
Johannes Neininger. Berlin/New York: De Gruyter 2001.
W I 4, W I 6 KGW IX/4. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Nicolas Füzesi, Marie-Luise Haase, Thomas Riebe,
Beat Röllin, René Stockmar, Jochen Strobl, Franziska Trenkle.
Unter Mitarbeit v. Falko Heimer. Berlin/New York: De Gruyter
2004.
WI8 KGW IX/5. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René
Stockmar, Jochen Strobl, Franziska Trenkle. Unter Mitarbeit v.
Falko Heimer. Berlin/New York: De Gruyter 2005.
W II 1, W II 2 KGW IX/6. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René
Stockmar, Franziska Trenkle. Unter Mitarbeit v. Falko Heimer.
Berlin/New York: De Gruyter 2006.
W II 3 KGW IX/7. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René
Stockmar, Franziska Trenkle, Daniel Weißbrodt. Unter Mit-
arbeit v. Karoline Weber. Berlin/New York: De Gruyter 2008.
W II 5 KGW IX/8. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René
Stockmar, Franziska Trenkle, Daniel Weißbrodt. Unter Mit-
arbeit v. Karoline Weber. Berlin/New York: De Gruyter 2009.
W II 6, W II 7 KGW IX/9. Hrsg. v. Marie-Luise Haase und Martin Stingelin.
Bearb. v. Marie-Luise Haase, Thomas Riebe, Beat Röllin, René
Stockmar, Franziska Trenkle, Daniel Weißbrodt. Unter Mit-
arbeit v. Karoline Weber. Berlin/Boston: De Gruyter 2012.

5 Textkritische Zeichen

Handschrift Darstellung KGW IX Transkription im vorliegenden


Band
Erste Niederschrift Text Text
Einfügungen und Zusätze Text {Text}
Streichung Text Text
0. Einleitung
Rhetorik vertritt in der Philosophie, was anders als in der Sprache nicht gedacht
werden kann […]. Die Allergie der gesamten approbierten philosophischen Überliefe-
rung gegen den Ausdruck, von Platon bis zu den Semantikern, ist konform dem Zug
aller Aufklärung, das Undisziplinierte der Gebärde noch bis in die Logik hinein zu
ahnden, einem Abwehrmechanismus des verdinglichten Bewußtseins.
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik

Bereits seit der Antike, spätestens jedoch seit der Erfindung des Buchdrucks werden
philosophisches Wissen und die Praktiken, die dieses Wissen generieren, vorwiegend
in Form von Texten überliefert. In Anbetracht des ebenfalls in der Antike erstmals von
der Philosophie erhobenen universellen Wissensanspruchs sowie der Vielzahl der ihn
zu erfüllen trachtenden philosophischen Texte kann es gerade wegen dieses All-
gemeinheitsanspruchs der Philosophie nur verwundern, welches Schattendasein die
Textualität des philosophischen Denkens, die diesen ganzen Prozess insgeheim trägt,
seit damals in der mit dieser Wissensproduktion einhergehenden Reflexion über die
Bedingungen und Möglichkeiten des Wissens selbst gespielt hat. Spätestens seit
Friedrich Nietzsches Invektiven gegen den Platonismus und dessen literarisches
Sprachrohr Sokrates ist jedoch auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, dass man
in den Dialogen Platons jene Ausschlussgeste finden kann, die das abendländische
Denken bis in die Gegenwart geprägt hat. Insbesondere in drei platonischen
Schriften – den frühen Dialogen Gorgias und Kratylos sowie dem späten Phaidros –
finden sich jene Angriffe auf Schriftlichkeit, Rhetorik und Literatur, die bis heute dem
philosophischen Denken insgeheim die Richtung vorgegeben haben und verhinder-
ten, sowohl den ‚Text‘, verstanden als ein komplexes semantisches Beziehungs-
geflecht, als auch die diesen prägenden Darstellungsformen angemessen denken zu
können.1 Diesem Philosophieverständnis ist jedoch ebenfalls seit der Antike ebenso
entschieden widersprochen worden. Im Rahmen dieses Widerstreits entwickelten sich
sowohl in den auf Textkritik basierenden Zweigen der Philologie als auch in der
Philosophie selbst alternative Deutungstraditionen, die von Heraklit über die Sophis-
ten, Hamann und Nietzsche bis zum französischen Neostrukturalismus reichen und
sich durch einen Fokus auf jene das Denken bedingenden Elemente kennzeichnen,
die von den vom Platonismus inaugurierten Denktraditionen konsequent vernach-
lässigt und ausgeschlossen worden waren.
In Opposition zu dieser impliziten Ausschlussgeste versucht die vorliegende
Studie durch die temporäre Suspendierung des häufig unreflektiert präsupponierten

1 Jan Urbich weist die in Platons Rhetorik- und Schriftkritik implizite Zurückweisung der episte-
mischen Dimension von Literatur bzw. von sich literarischer Darstellungsformen bedienender Texte
als eines von drei die abendländische Geistesgeschichte kennzeichnenden philosophischen Narrativen
aus und bezeichnet es als den metaphysischen Vorbehalt vom ontologischen Defizit der Literatur (vgl.
Urbich 2010, S. 28–32).
2 0. Einleitung

Primärstatus der Proposition die textinternen Prozesse, welche die Heuristik und
Argumentation philosophischer Texte tragen und vorantreiben, durch die Lektüre
eines von der Tradition eindeutig als philosophisch ausgewiesenen Textes mit Hilfe
alternativer deskriptiver Methoden zu erfassen, um solcherart erneut textnah die
Frage nach der Valenz von Materialität und Darstellungsform für die Philosophie zu
stellen. Die Wahl fiel dabei auf ein Buch Friedrich Nietzsches, das, obwohl zahlreiche
Schriften seines Verfassers schon sehr früh als philosophische Dichtungen rezipiert
und diffamiert wurden sowie die Verwobenheit von Form und Inhalt in seinen ver-
öffentlichten Schriften mittlerweile zu einem „Gemeinplatz“ der Forschung zählt,2 als
einzelnes Werk noch bis in die jüngste Gegenwart relativ wenig Beachtung gefunden
hat: die Götzen-Dämmerung.
Diese ‚Geringschätzung‘ des von Nietzsche selbst 1888 zum Abschluss gebrach-
ten, jedoch erst nach dem Ausbruch seiner Krankheit 1889 veröffentlichten Buches
mag auf den ersten Blick verwundern, hat es doch sein Verfasser in einem Brief an
Carl Fuchs vom 9. September 1888 als eine „vollkommene Gesammt-Einführung in
meine Philosophie“ (KGB III/5, Bf. 1104) bezeichnet. So überraschend in Anbetracht
einer derartigen Selbstäußerung der bisherige Umgang der Forschung mit dem Buch
ist, so einfach ist dafür eine Erklärung gefunden: Die bisherige Zurückhaltung der
Forschung gegenüber der Götzen-Dämmerung resultiert wohl aus der bejahenden
Beantwortung jener Frage, die auch Aaron Ridley in der Einleitung der Herausgeber
einer englischen Neuübersetzung sämtlicher 1888 abgeschlossenen Prosawerke Nietz-
sches stellt: „Are the philosophical works that Nietzsche produced in this final year
[…] the products of an already-deranged mind?“3
Ridley selbst weist die Bejahung dieser lange Zeit tatsächlich mit leichten Ein-
schränkungen positiv beantworteten Frage – man denke diesbezüglich nur an das
immer noch den sechsten Band der KSA beschließende Nachwort von Giorgio Colli4 –
entschieden zurück, wenn er konstatiert: „Twilight represents a pinnacle of aphoristic
economy and wit, an example of Nietzsche’s mature style at its very best. And this is
hard to square with the suspicion of mental decline.“5
Trotz einer eindeutigen Zunahme derartig positiver Äußerungen über die litera-
risch-philosophische Qualität von Nietzsches Schriften aus dem Jahr 1888 im All-
gemeinen und die Götzen-Dämmerung im Besonderen steht eine monographische

2 Siehe dazu einführend Born/Pichler 2013a/b sowie die dort gelistete weiterführende Literatur.
3 Ridley 2005, S. VIII.
4 Siehe dazu KSA 6, S. 447–458.
5 Ridley 2005, S. VIII. – Trotz dieses Lobes spielt die Götzen-Dämmerung in dem von Ridley im Rahmen
seiner Einleitung vollzogenen Durchgang durch Nietzsches Schriften aus dem Jahr 1888 nur eine
Nebenrolle, was seinem Fokus auf das Motiv des ‚Werdens, was man ist‘ in diesen Schriften geschuldet
ist. Eine Ausnahme bildet der kurze Abschnitt zur Dekadenz, in welchem sich Ridleys Argumentation
fast ausschließlich auf die Götzen-Dämmerung stützt. Vgl. Ridley 2005, S. XXVI–XXIX.
0. Einleitung 3

Beschäftigung,6 wie sie insbesondere der Geburt der Tragödie, Also sprach Zarathustra
und Jenseits von Gut und Böse beinahe im Jahresrhythmus gewidmet wird, noch aus.7
Eine solche wird allerdings auch die vorliegende Arbeit nicht liefern, da sie sich
nicht ausschließlich als Beitrag zur Nietzscheforschung versteht, sondern sich einem
weitläufigeren Problemfeld widmet. Bei der damit angesprochenen ‚textologischen‘
Fragestellung handelt es sich um ein relativ junges Forschungsfeld, dessen zentrale
Problemkonstellationen im Wesentlichen auf Diskussionen innerhalb der 2011 am
Institut für deutsche und niederländische Philologie der FU Berlin gegründeten
Arbeitsgruppe „Textologie der Literatur und Wissenschaften“ zurückgehen. Ziel die-
ser Forschungsgruppe ist es, „im Zuge einer kritischen Revision überkommener Kon-
zepte und Vorstellungen den ‚Text‘-Begriff so zu fassen, dass mit ihm die Entste-
hungsbedingungen, materiale Logik und Organisation des Textes eingeholt und
transparent gemacht werden“8 können. Dementsprechend wird sich diese Studie
nicht primär der werkimmanenten Exegese der Götzen-Dämmerung zuwenden, son-
dern anhand dieses kanonischen Textes der abendländischen Philosophiegeschichte
exemplarisch die Bedeutung und Funktion der Materialität und der ästhetischen
Darstellungsform(en) für die Philosophie untersuchen. Dass eine solche exemplari-
sche Untersuchung letztendlich in einer textnahen Lektüre zu kulminieren hat, wird
im Folgenden ersichtlich werden.
Leitende Hypothese dieser Studie ist, dass auch den in philosophischen Texten zu
findenden ästhetischen Darstellungsformen und der Materialität des diese tragenden
Mediums nicht bloß eine sekundäre, dekorative Rolle zukommt, sondern dass diese
wesentlich an der Generierung und Rechtfertigung philosophischen Wissens teilha-
ben. Daraus folgt, dass eine Deskription und Analyse der ästhetischen Mittel der
Wissensgenerierung sich nicht nur auf die Darstellungsformen selbst konzentrieren
darf, sondern auch deren explizite Schriftlichkeit sowie den diese konstituierenden
Verschriftlichungsprozess zu berücksichtigen hat. Ein solcherart geprägter Blick auf
die mediale Bedingtheit des philosophischen Denkens und die sich in diesem mani-

6 Siehe dazu den „Überblickskommentar“ in Sommer 2012, S. 197–210. Sommer kehrt dort die frühe-
ren Kritiken an dem Werk regelrecht um, wenn er am Anfang des Abschnitts „Konzeption und
Struktur“ feststellt: „GD ist ein Text, der durch seine chamäleonhafte Vielgestaltigkeit sowohl in
formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht die Leser herausfordert.“ (Sommer 2012, S. 203)
7 Auch jenseits der monographischen Beschäftigung führt die Götzen-Dämmerung in der Nietzsche-
forschung ein Schattendasein. Offensichtlich wird dieser Sachverhalt anhand des Literaturverzeich-
nisses des jüngst erschienenen Nietzsche-Kommentars. Das Literaturverzeichnis des die Götzen-
Dämmerung kommentierenden und von Andreas Urs Sommer verfassten Bandes 6.1. enthält mit Aus-
nahme der in der Nietzscheforschung 16 veröffentlichten Beiträge der Nietzsche-Werkstatt 2009, die sich
ausschließlich diesem Werk widmete, nur zwei weitere Beiträge der deutschsprachigen Forschungs-
literatur – einen Aufsatz von Mazzino Montinari aus dem Jahre 1984 (vgl. Montinari 1984) und einen
weiteren Aufsatz von Andreas Urs Sommer selbst (vgl. Sommer 2009) –, die den 1889 veröffentlichten
Text in ihrem Titel führen. Vgl. Sommer 2012, S. 620–666.
8 www.textologie.eu, zuletzt aufgerufen am 30.01.2014.
4 0. Einleitung

festierende literarisch-ästhetische Vermittlung desselben führt notwendig zu einer


‚Philologisierung‘ der Philosophie, welche sich einerseits so nahe wie möglich am
Textgeschehen des untersuchten Buches zu bewegen hat und sich dabei andererseits
selbst auf ein umfangreiches Korpus philosophischer und philologischer Präsupposi-
tionen stützt, die vor ihrer Applikation auf den jeweiligen Text ihrer theoretischen
Klärung bedürfen.
Diesem Sachverhalt versucht die vorliegende Studie sowohl in ihrem Aufbau als
auch in der Auswahl ihres Lektüregegenstandes gerecht zu werden. So ist es aufgrund
des in der Gegenwartsphilosophie eher ungewohnten ‚textologischen‘ Blicks auf
einen philosophischen Text notwendig, vor der eigentlichen Lektüre desselben die
philosophischen Prämissen und Konsequenzen einer solchen Perspektive offen zu
legen. Dafür bedarf es einer theoretischen Reflexion der leitenden Präsuppositionen
und Termini, was, nicht zuletzt aufgrund der offensichtlichen Unterreflektiertheit
besagter Begriffe in Teilen der Gegenwartsphilosophie, zu einer weitaus umfangrei-
cheren Autoreflexion der vorliegenden Arbeit führt, als es in sich auf ein konkretes
philosophisches Werk konzentrierenden Studien üblich ist. Während derartige Studi-
en ansonsten meist direkt an gegebene Diskurse anknüpfen oder in diese eingreifen,
muss die vorliegende Arbeit sich ihren zwar nicht eigentlich schaffen, jedoch nach-
drücklich zeigen, inwieweit es sich bei diesem eindeutig um einen philosophischen
handelt sowie welche Konsequenzen dessen häufige Ausblendung in der Gegenwarts-
philosophie zeitigt. Dieser Aufgabe werden sich sowohl der erste Teil als auch, mit
spezifischem Fokus auf Nietzsche, die erste Hälfte des zweiten Teils der vorliegenden
Studie widmen. Dabei wird von den allgemeinen Grundlagen allmählich zum Beson-
deren, den Schriften Friedrich Nietzsches, insbesondere dessen Götzen-Dämmerung,
fortgeschritten werden.
Konkret bedeutet das, dass das erste Kapitel des ersten Teils dieser Studie nach
einem kurzen synoptischen Durchlauf durch drei Texte, die paradigmatisch für die
linguistische Wende der abendländischen Philosophie im zwanzigsten Jahrhundert
stehen – Freges Aufsatz „Sinn und Bedeutung“ sowie zwei Texte von Richard Rorty –,
in Opposition zu dem sich in diesen Arbeiten manifestierenden philosophischen
Schweigen vom ‚Text‘ die terminologischen Grundlagen der vorliegenden Studie, das
sind vor allem die Begriffe Text, Werk, Literarizität und ästhetische Darstellungsform,
offen legen wird. Dabei wird an jüngere Entwicklungen in der Literaturtheorie und
Editionsphilologie angeknüpft und so ein Textbegriff entwickelt, der allen weiteren
Ausführungen dieser Arbeit zugrunde liegt. Bei diesem handelt es sich nicht um ein
philosophisch überdeterminiertes und materialfernes Textverständnis, wie es ins-
besondere in Anknüpfung an Jacques Derridas ‚Schrift-Philosophie‘ der Grammatolo-
gie Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgekommen ist, sondern um
ein philologisches. Zwar versteht sich auch Derridas Philosophie in dessen Frühwerk
und dort vor allem in der Grammatologie als ‚Wissenschaft‘ von der Schrift, fußt dabei
jedoch auf einem Schrift-Verständnis, das diese Studie nicht teilt, obwohl sie Derrida
in seiner Kritik an der Vernachlässigung der Schriftlichkeit des philosophischen
0. Einleitung 5

Denkens folgt. Derridas Schriftverständnis unterscheidet sich von dem im Folgenden


entwickelten Textbegriff dadurch, dass in ihm, wie bereits von zahlreichen Interpre-
ten festgestellt wurde,9 ‚Termini‘ wie die Schrift zu einem regelrechten Transzendental
werden und damit zu einem jener Zauberworte geraten, gegen den von solchen
zumeist artikulierten Traum, endlich ein allumfassendes und abgeschlossenes Vo-
kabular gefunden zu haben,10 sich gerade Derridas eigenes frühes Denken wendet.
Dies geht soweit, dass in Derridas frühen Arbeiten die ‚transzendentale‘ Unter-
suchung der Schrift die Unmöglichkeit ihrer eigenen Transzendentalität mitdenkt und
sie, indem sie sie durchstreicht, erst eigentlich erreicht, wie die folgende Stelle über
die Ur-Spur aus der Grammatologie belegt:

Der Begriff der Ur-Spur muß sowohl dieser Notwendigkeit als auch dieser Durchstreichung
gerecht werden. Nach den Gesetzen der Identitätslogik ist er widersprüchlich und unzulässig. Die
Spur ist nicht nur das Verschwinden des Ursprungs, sondern besagt hier […], daß der Ursprung
nicht einmal verschwunden ist, daß die Spur immer nur im Rückgang auf einen Nicht-Ursprung
sich konstituiert hat und damit zum Ursprung des Ursprungs gerät. Folglich muß man, um den
Begriff der Spur dem klassischen Schema zu entreißen, welches ihn aus einer Präsenz oder einer
ursprünglichen Nicht-Spur ableitete und ihn zu einem empirischen Datum abstempelte, von
einer ursprünglichen Spur oder Ur-Spur sprechen. Und doch ist uns bewußt, daß dieser Begriff
seinen eigenen Namen zerstört und daß es, selbst wenn alles mit der Spur beginnt, eine
ursprüngliche Spur nicht geben kann.11

Letztendlich ist es jedoch nicht der Fokus auf etwaige Selbstbezüglichkeiten, wie sie
in dem soeben dargelegten Verständnis der Ur-Spur zutage treten, die die vorliegende
Studie vom Ansatz Derridas trennen, sondern die sich aus dem obigen Zitat ergebende
Theoriebeladenheit seines Denkens, welche einen Rückgriff auf dieses im Zuge des
hier intendierten lesenden Nachvollzugs des Sinngeschehens eines philosophischen
Textes im Wege stehen.
Diese Theoriebeladenheit zeigt sich in den konkreten Lektüren Derridas. So
reflektieren diese selten bis gar nicht den Status ihrer eigenen Textgrundlagen – ein
gutes Beispiel dafür ist die Rousseaulektüre in der Grammatologie, die auf der von der
Erstausgabe stark abweichenden Pléiade-Ausgabe fußt – und nähern sich dabei
besagten philologisch durchweg fragwürdigen ‚Texten‘ häufig aus einer von starken
Vorannahmen geprägten Perspektive: Meist sind es die ‚Ränder‘ der Texte, denen in
Derridas Lektüren zentrale Aufmerksamkeit geschenkt wird, um ausgehend von die-
sen die Widersprüche zwischen den theoretisch-thetischen Aussagen und deren
implizierter Fundierung sowie konkret stilistischer Umsetzung innerhalb dieser Texte
freizulegen.

9 Siehe dazu zum Beispiel Rorty 1993 [1984], insbesondere S. 119–123.


10 Vgl. Rorty 1993 [1984], insbesondere S. 109–118.
11 Derrida 1983 [1967], S. 107f.
6 0. Einleitung

Im Gegensatz zu diesem Vorgehen und dem ihm zugrundeliegenden Textver-


ständnis intendiert die vorliegende Arbeit die Entwicklung eines philologisch reflek-
tierten Textbegriffes, der es erlaubt, die Interaktion semantischer und nicht-semanti-
scher Momente eines Textes wie dessen Materialität und graphische Gestalt für das
sich solcherart auf diesem Textträger realisierende Sinngeschehen nachzuvollziehen.
Dabei wird auch den sich derartig konstituierenden vermeintlichen Widersprüchen
die ihnen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt und zugleich versucht, diese nicht
auf ein vorgefertigtes Deutungsraster zurückzuführen.
In direktem Anschluss an die Etablierung dieses Textbegriffes werden die Kon-
sequenzen desselben für die Beschäftigung mit dem Werk eines einzelnen Philoso-
phen im Kapitel 1.2. in den Blick genommen: Geht man von einer semantisch-kogniti-
ven Valenz der Materialität eines philosophischen Textträgers und den auf diesem
sich manifestierenden Darstellungsformen aus, fordert dies auch für die erste Annä-
herung an denselben ein Vorgehen, das eben diese Spezifika berücksichtigt. Dabei ist
insbesondere die Tatsache zu beachten, dass im Textgeschehen komplexer schriftli-
cher Äußerungen, wie sie mit philosophischen Werken vorliegen, die Sinnstiftung
nicht wie im alltäglichen Gespräch notwendig auf einen univoken Sinn hinausläuft,
den man nach dem Kommunikationsmodell von Roman Jakobson als Folge der
Dominanz einer der sechs von ihm herausgearbeiteten Sprachfunktionen deuten
kann. An die Stelle einer unter anderem über den konkreten Gesprächskontext häufig
semantisch eindeutig festlegbaren Botschaft tritt in philosophischen Texten oft die
Interaktion unterschiedlicher Sprachfunktionen, als deren Resultat nicht notwendig
ein eindeutiger Sinn gestiftet werden muss. Hinzu kommt, dass gerade philosophi-
sche Texte häufig ihre eignen sprachphilosophischen und ästhetischen Grundannah-
men metareflexiv verhandeln und so die semantischen und ästhetischen Rahmenbe-
dingungen für das in ihnen Geäußerte selbst festlegen. Genau diese Charakteristika
philosophischer Texte will sich die im Kapitel 1.2. entwickelte Lektüremethode zu
Nutze machen. Aufgrund des sich daraus ergebenden Fokus auf zentrale metareferen-
tielle Passagen des jeweils untersuchten Werkes, welche man in Analogie zu literari-
schen Texten auch als deren poeseologische Äußerungen bezeichnen kann, sowie in
Anbetracht der Bedeutung, die bei der Untersuchung solcher Stellen deren Textualität
spielt, wird dieses Procedere im Folgenden als ‚Poeseologie des philosophischen
Schreibens‘ bezeichnet werden. Dieses unterscheidet sich in seinem konkreten Vor-
gehen durchweg von anderen ein ähnliches Procedere propagierenden Lektüreansät-
zen wie zum Beispiel der in der Nietzscheforschung bereits bekannten „Genealogie
des Schreibens“.12 Im Zuge der Entwicklung besagter Methode im Kapitel 1.2. werden
daher auch die Differenzen zu auf den ersten Blick analogen Ansätzen eingehend
erörtert.

12 Zur Genealogie des Schreibens siehe das Kap. 1.2.


0. Einleitung 7

Verhandelt der erste Teil der vorliegenden Studie methodologische Fragestel-


lungen aus einer ‚textologischen‘ Perspektive und legt deren Bedeutung auch für
philosophische Texte offen, führt die erste Hälfte des zweiten Teils diese Überlegun-
gen mit dem Spätwerk Nietzsches und der einschlägigen Forschungsliteratur zusam-
men. Dies ist notwendig, da es in der Nietzscheforschung, trotz der dieser im Gegen-
satz zu anderen autorfokussierten Forschungsbereichen der Philosophie eignenden
Philologie-Affinität, bis dato noch nicht zu einer derartig stark auf der Textualität von
dessen Philosophie aufbauenden Auseinandersetzung mit Nietzsches Denkbewegung
gekommen ist. Im Zuge dieser Zusammenführung, die auch bereits Bekanntes aus
einer ‚textologischen‘ Perspektive neu in den Blick nehmen wird, um so die Kon-
sequenzen derselben ersichtlich werden zu lassen, kommt es zur Umsetzung der im
Kapitel 1.2. entwickelten Lektüremethode.13 Mit deren Hilfe werden sowohl repräsen-
tative metareflexive Stellen zu Nietzsches eigenem Text- und Schreibverständnis
(Kap. 2.1.1.) als auch zu dessen später Sprachphilosophie und ästhetischen Darstel-
lungsform (Kap. 2.1.2.) einer Re-Lektüre unterzogen und die Resultate derselben mit
den bisherigen Deutungen der Forschung konfrontiert. Das sich im Zuge dieser
Beschäftigung herauskristallisierende Vorverständnis von Nietzsches später Philoso-
phie wird im Kapitel 2.1.3. schließlich noch einmal mit den zentralen Vorannahmen
der vorliegenden Studie sowie gängigen Lektüreansätzen der Nietzscheforschung
zusammengeführt, um so im Zuge einer weiteren Methodenreflexion das Procedere
für die sich der textnahen Lektüre der Götzen-Dämmerung widmenden Abschnitte zu
bestimmen. Die dabei entwickelte Methode des autoreflexiven Lesens erlaubt es auf-
grund der ihr eignenden beständigen Markierung des eigenen Vorgehens auch poten-
tiell ästhetische und dementsprechend potentiell polyseme sprachliche Gebilde in
ihrer Komplexität zu erfassen, ohne diese autoritär auf einen einzigen philosophi-
schen Sinn festzuschreiben.14
Im Zuge der Reflexion dieser Methode wird auch ausführlich erläutert, warum die
vorliegende Arbeit, obwohl sie eine Gesamtinterpretation der Bedeutung und Funk-
tion von Textualität und ästhetischer Darstellungsform in der Götzen-Dämmerung
anstrebt, bei der konkreten Untersuchung dieser Fragen ein ausgewähltes Kapitel,
„Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“, einer detaillierteren, an manchen Stellen bis zur
Satz-für-Satz-Lektüre reichenden Analyse unterzieht als die restlichen Kapitel des
Buches. Primär ist diese Einschränkung dem enormen Aufwand und Raum geschul-

13 Eine direkte Folge dieser Konfrontation ist, dass in den Fußnoten der zum Teil 2.1. „Vorausset-
zungen oder Warum wie zu lesen sei“ gehörenden Abschnitte auch zahlreiche ältere Nietzsche-
interpretationen aus der Perspektive der vorliegenden Studie erneut verhandelt werden. Diejenigen
Leser und Leserinnen, welche nicht einer sich solcherart vollziehenden Positionierung der vorliegen-
den Studie in der bisherigen Nietzscheforschung bedürfen, um so die Spezifika dieser Arbeit sowie die
von ihr teilweise ausgeblendeten Kontexte wahrzunehmen, können auf die Lektüre besagter Fuß-
noten, zumindest bei der Erstlektüre, getrost verzichten.
14 Ein erster Entwurf dieser Methode findet sich in Pichler 2012c.
8 0. Einleitung

det, den derartige Lektüren beanspruchen. Für die Auswahl von „Die ‚Vernunft‘ in der
Philosophie“ spricht, dass gerade dieser Abschnitt in zahlreichen die Darstellungs-
form von Nietzsches Denken meist konsequent missachtenden Arbeiten gerne als
Ausdruck von Nietzsches finaler erkenntnistheoretischer Position gelesen wird.15
Abgesehen von den genannten Gründen gibt es jedoch noch weitere dafür, den Fokus
auf dieses Kapitel zu legen. Diese Gründe können erst auf dem Hintergrund der in den
Kapiteln 2.1.1. und 2.1.2. gewonnen Einsichten voll entfaltet werden. Für die Darle-
gung derselben sei daher auf das Kapitel 2.1.3. verwiesen.
Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Götzen-Dämmerung setzt in der zwei-
ten Hälfte des zweiten Teils mit einer synoptischen Darstellung der Entstehungs- und
Editionsgeschichte des 1889 erstmals veröffentlichten Buches ein (Kapitel 2.2.1.). An
diese schließt ein Abschnitt an, in welchem die philosophischen und denkstilisti-
schen Leitmotive der Götzen-Dämmerung durch die Lektüre des „Vorwortes“ und des
Kapitels „Das Problem des Sokrates“ sowie von für deren Deutung relevanter Intra-
und Intertexte herausgearbeitet werden. Hierbei können die Lektüremethoden einer
„Poeseologie des philosophischen Schreibens“ mit derjenigen eines „autoreflexiven
Lesens“ verbunden werden (Kapitel 2.2.2.), was es erlaubt, im Kapitel 2.2.3. die bereits
angesprochene Analyse des Kapitels „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ in Angriff zu
nehmen. Die dort durchgeführte Lektüre legt unter anderem die in der gegenwärtigen
Forschung immer noch gerne marginalisierte bzw. durch an Nietzsches Texte von
außen herangetragene Deutungsverfahren von ihrem subversiven philosophischen
Potential ‚befreite‘ Bedeutung der im Textgeschehen seiner späten Schriften omni-
präsenten Selbstbezüglichkeitsfiguren frei. Der Untersuchung von deren verschiede-
nen darstellerischen Modi sowie philosophischen Funktionen in der Götzen-Dämme-
rung widmet sich das Kapitel 2.2.4. Dabei werden auch bis zu diesem Punkt noch
nicht eingehender analysierte Passagen aus den Kapiteln „Moral als Widernatur“ und
„Die ‚Verbesserer‘ der Menschheit“ einer genauen Lektüre unterzogen. Die solcherart
freigelegten formalästhetischen und philosophischen Spezifika von Nietzsches spä-

15 Paradigmatisch für diese Deutungsrichtung steht Kevin Hills 2003 publizierte Studie Nietzsche’s
Critiques. The Kantian Foundations of his Thought, die Kants Philosophie zur Folie für ihre Nietzsche-
lektüre macht. Im Zuge der Beschäftigung mit Nietzsches Stellung zur Metaphysik widmet sich diese
Studie auch in extenso GD Vernunft und tut dies aus folgenden, das diesbezügliche Kapitel zugleich
eröffnenden Gründen: „Though there is a profusion of material in Nietzsche on the critique of
metaphysics, both published and unpublished, much of it is repetitive and opaque. Fortunately, he
crafted what appears to be a synopsis of his final view in Twilight of the Idols, which has the advantage
of being clear, concise, very late (1888), and published“ (Hill 2003, S. 175).
Neben Hill dient auch Clark 1990 GD Vernunft als zentraler Beleg dafür, dass der späte Nietzsche
seine nach Clark unhaltbare „falsification-thesis“ fallen lässt und sich einem stark szientifischen
Empirismus annähert (vgl. insbesondere Clark 1990, S. 103–117). Die Wirkungsmächtigkeit dieser
Arbeit, insbesondere im angelsächsischen Raum, ist nicht zu unterschätzen und manifestiert sich
nicht zuletzt darin, dass auch jüngere, durchweg mit der deutschen Debatte vertraute Studien sich
weiterhin an ihr abarbeiten. Siehe dazu exemplarisch Meyer 2014.
0. Einleitung 9

tem Denken im Allgemeinen und der Götzen-Dämmerung im Besonderen zeitigen


auch Folgen für das diese insgeheim mitbestimmende Dionysos-Motiv. Auf der Folie
des zuvor Herausgearbeiteten offenbart sich dieses Motiv in der Götzen-Dämmerung
als ein physio-ästhetisches Mythopoem, das Nietzsches Kritik an der philosophischen
Tradition sowie die diese tragenden Darstellungsformen in sich vereinigt. Dessen
ausführlicher Darstellung und philosophischer Deutung im Werkkontext der Götzen-
Dämmerung ist das Kapitel 2.2.5. gewidmet, das den zweiten Abschnitt dieser Arbeit
abschließt, mit dem auch die textnahe Beschäftigung mit der Götzen-Dämmerung
endet.
Die Konsequenzen der Resultate dieser Auseinandersetzung mit der Götzen-Däm-
merung für aktuelle philosophische und literaturwissenschaftliche Debatten stehen
im Zentrum des dritten und letzten Abschnittes der vorliegenden Studie. Um eine
Grundlage für die Konfrontation der Lektüreresultate des zweiten Teils mit aktuellen
Debatten zu schaffen, werden im Kapitel 3.1. zentrale Fragestellungen und deren
Beantwortung in so unterschiedlichen Forschungsfeldern wie der Diskussion der
Bedeutung ästhetischer Darstellungsformen in der Philosophie, der Debatte über den
Gattungsunterschied von Philosophie und Literatur sowie dem an der Grenze von
Kultur- und Literaturwissenschaften zu verortendem Feld des „Literatur und Wissen“-
Diskurses in einer kurzen Synopse dargestellt. Im Anschluss daran wird in einem
Exkurs das im zweiten Teil freigelegte Darstellungsverfahren der Götzen-Dämmerung
den erkenntnistheoretischen und ästhetischen Reflexionen der Vorrede von Walter
Benjamins Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels gegenübergestellt, um so die
philosophische Valenz sowie die Spezifika der Darstellungsform der Götzen-Dämme-
rung noch weiter zu profilieren. Benjamins Studie bietet sich für eine derartige Gegen-
überstellung an, da in ihr dem Begriff der ‚Darstellung‘ nicht nur eine zentrale Rolle
zukommt, sondern auch in indirekter Anknüpfung an Nietzsche in eine Theorie des
konstellativen Denkens und Schreibens mündet,16 die vom Text selbst umgesetzt wird
und zahlreiche Parallelen zur Darstellungsform der Götzen-Dämmerung besitzt. Die
eigentliche Zusammenführung der Lektüreresultate aus dem zweiten Teil mit aktuel-
len Debatten erfolgt im diese Studie abschließenden Kapitel 3.2. Dort wird unter
anderem gezeigt, dass die Darstellungsform der Götzen-Dämmerung nicht nur eine
direkte Reaktion auf die vom Text selbst und den dessen Denkbewegung vorantrei-
benden Figuren artikulierten und vorgeführten philosophischen Probleme ist, son-
dern parallel dazu eine Form ästhetischer Vernunftkritik praktiziert, die auch für die
Gegenwart noch von höchster Relevanz ist.

16 Bei der hier angesprochenen indirekten Anbindung an Nietzsche handelt es sich um die Tatsache,
dass das für die Vorrede von Benjamins Studie zentrale Verständnis einer mosaikhaften Schreibweise
auf Ernst Bertrams Deutung der Darstellungsform von Nietzsches Philosophie zurückgeht. Wie unter
anderem Detlev Schöttker gezeigt hat, handelt es sich bei den diesbezüglichen Passagen in Benjamins
Schrift um beinahe wortwörtliche Übernahmen aus Bertrams 1918 erschienener Studie Nietzsche,
Versuch einer Mythologie (vgl. Schöttker 1999, S. 43f.).
1. Teil: Philosophie als Text
1.1. Terminologische Grundlagen: Text, Werk,
Literarizität und ästhetische Darstellungsform

In vielen Teilen der Gegenwartsphilosophie ist es Usus, die materiellen Grundlagen


sowie die von diesen getragenen spezifischen Darstellungsformen des Denkens aus
diesem auszublenden. Zu diesem Ausschluss und dem mit ihm einhergehenden phi-
losophischen Schweigen über den ‚Text‘ und die sein Sinngeschehen potentiell be-
stimmenden Schreibweisen hat im letzten Jahrhundert nicht zuletzt jene philosophi-
sche Disziplin beigetragen, die man gemeinhin als die Subdisziplin erachten würde,
die neben der Erkenntnistheorie für Fragen nach der Bedeutung und Funktion von
Textualität und literarisch-ästhetischer Darstellungsform für die Philosophie eigent-
lich zuständig sei: die Sprachphilosophie.
Dieser Ausschluss findet sich bereits implizit in einem der Begründungstexte der
später unter das Schlagwort des linguistic turn gebrachten sprachphilosophischen
Neuorientierung des abendländischen Denkens. Die Rede ist hier von Gottlob Freges
1892 publiziertem Artikel „Über Sinn und Bedeutung“. In diesem entwickelt Frege
seine vom gegenwärtigen Sprachgebrauch stark abweichende Unterscheidung zwi-
schen Sinn und Bedeutung von Zeichen bzw. Wörtern. Unter ‚Bedeutung‘ versteht er
dabei das Bezeichnete bzw. einen „sinnlich wahrnehmbare[n] Gegenstand“17, unter
‚Sinn‘ hingegen die „Art des Gegebenseins eines Bezeichneten“18. Zugleich setzt
Frege von der nach ihm objektiv gegebenen Bedeutung und dem intersubjektiv
gültigen Sinn die bloß subjektive Vorstellung ab und stellt im Anschluss daran fest,
dass man auf der Grundlage dieser Differenzierung „nun drei Stufen der Verschieden-
heit von Wörtern, Ausdrücken und ganzen Sätzen erkennen“19 könne. Nach einer
Auseinandersetzung mit ‚Sätzen‘, verstanden als einen Sinnzusammenhang stiftende
Satzfolgen, oder gar ‚Texten‘, verstanden als „eine schriftlich fixierte, zusammen-
hängende, meist eben literarisierte Rede“20, sucht man in Freges Artikel hingegen

17 Frege 2008 [1892], S. 26.


18 Frege 2008 [1892], S. 24. – In der gegenwärtigen Sprachphilosophie spricht man hinsichtlich Freges
‚Bedeutung‘ meist von ‚Referenz‘ oder ‚Extension‘, im Falle des ‚Sinns‘ von ‚Bedeutung‘ oder ‚Inten-
sion‘. Die vorliegende Studie folgt diesem aktuellen Gebrauch und verwendet dementsprechend den
Begriff des ‚Sinns‘ bzw. ‚Sinngeschehens‘ zur Bezeichnung jenes in komplexen Texten auf der eigent-
lichen Bedeutung eines Wortes oder Satzes aufbauenden sowie aus dessen intratextuellem Verweis-
ungszusammenhang resultierenden semantischen ‚Mehrwertes‘ desselben.
19 Frege 2008 [1892], S. 27f.
20 Frank 1989, S. 125. – Erst recht nicht ist bei Frege von ‚Text‘, verstanden als einem komplexen auf
einem materiellen Zeichenträger überlieferten und potentiell von literarisch-ästhetischen Darstel-
lungsformen geprägten Sinngeschehen, die Rede. Dennoch widmet sich auch er in einem kurzen
Exkurs jenen Phänomenen, die für dieses hier später ausführlich dargestellte Textverständnis von
Relevanz sind: „Zu den hier noch möglichen Unterschieden gehören die Färbungen und Beleuchtun-
gen, welche die Dichtkunst [und] Beredsamkeit dem Sinne zu geben suchen. Diese Färbungen und
14 1.1. Terminologische Grundlagen

vergeblich. Genau der sich solcherart ergebende Fokus der Sprachphilosophie auf
den einzelnen – meist gar nur gesprochenen – Satz ist einer der Gründe, warum die
Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts den Text nicht ‚denken‘ konnte.21 Ein wei-
terer liegt darin, dass sie – zumindest in ihrer Anfangsphase – vor allem am Wahr-
heitswert des einzelnen Satzes interessiert war. Auch dieser Fokus wird bereits in
Freges Artikel ersichtlich, in welchem auf der Grundlage des für sein Denken zen-
tralen Kompositions- und Substitutionsprinzips der Sinn eines Satzes als dessen
Gedanke und seine Bedeutung als dessen Wahrheitswert bestimmt werden: „Jeder
Behauptungssatz, in dem es auf die Bedeutung der Wörter ankommt, ist also als
Eigenname aufzufassen, und zwar ist seine Bedeutung, falls sie vorhanden ist,
entweder das Wahre oder das Falsche.“22
Folgt man Richard Rortys 75 Jahre nach Freges Artikel publizierter Einleitung zur
Aufsatzsammlung The Linguistic Turn, die der sprachphilosophischen Bewegung des
20. Jahrhunderts endgültig ihren Namen gegeben hat,23 scheint sich in der besagten
Zeitspanne an dem bereits bei Frege nachweisbaren Fokus der Sprachphilosophie auf
den einzelnen Satz und dessen Wahrheitswert nicht viel geändert zu haben.24 Rortys

Beleuchtungen sind nicht objektiv, sondern jeder Hörer und Leser muß sie sich selbst nach den Winken
des Dichters oder Redners hinzuschaffen. Ohne eine Verwandtschaft des menschlichen Vorstellens
wäre freilich die Kunst nicht möglich; wieweit aber den Absichten des Dichters entsprochen wird, kann
nie genau ermittelt werden.“ (Frege 2008 [1892], S. 28)
Im Hintergrund dieses Ausschlusses der semantisch nicht mehr kontrollierbaren literarischen
Rede steht genau jenes Wissenschaftsideal, das bereits kurz angedeutet wurde. Auffällig an dem
soeben zitierten Passus ist insofern insbesondere, dass Frege zum Ausschluss besagter Darstellungs-
weisen selbst auf diese zurückgreift, werden doch die Ausdrücke „Färbung“ und „Beleuchtung“ hier
eindeutig als Metaphern verwendet, was zeigt, dass anscheinend sogar streng szientifischen Kriterien
folgende Texte nicht auf poetische ‚Sprech-‘ bzw. ‚Schreibweisen‘ verzichten können.
21 Selbstverständlich kam es im Laufe von deren weiterer Entwicklung auch zur Auseinandersetzung
mit Satzgefügen, ohne welche man nicht einmal das rudimentärste Argument in den Blick bekommen
könnte. Außerdem existieren auch semantische Theorien, die bereits in ihren Grundannahmen über
den einzelnen Satz hinausgehen. Dies gilt zum Beispiel für sämtliche Formen des semantischen
Holismus. Die Mehrheit dieser Ansätze basiert allerdings auf einem Verständnis von Sprache als einem
dem Sprechen vorausgehenden System, was eine Beschäftigung mit dem Text im oben definierten
Sinne ausschließt. Paradigmatisch für diese sprachphilosophischen Theorien stehen die Ansätze von
de Saussure und Chomsky.
22 Frege 2008 [1892], S. 30.
23 Wie Rorty selbst klarstellt, stammt die Formulierung linguistic turn nicht von ihm selbst, sondern
von Gustav Bergmann (vgl. Rorty 1992 [1967], S. 9, Fußnote 10).
24 Rortys Introduction gibt nicht den damaligen akademischen Konsens über die Entwicklung der
Sprachphilosophie wieder, sondern nimmt ausschließlich aus der Perspektive der analytischen
Sprachphilosophie in manchen Punkten seine eigenen (meta)philosophischen Positionen, die er dann
dreizehn Jahre später in Philosophy and the Mirror of Nature ausformuliert hat, vorweg.
Insofern dient die im Lauftext gelieferte Rekonstruktion von Rortys ‚Genealogie‘ nur dazu, selbst
eine ‚Mini-Genealogie‘ zu liefern, warum die Philosophie bis dato fast durchgehend auf die Beachtung
des Textes als konstitutives Moment ihres eigenen Tuns verzichtet hat, stellt jedoch jenseits der
1.1. Terminologische Grundlagen 15

eigentlich „Metaphilosophical Difficulties of Linguistic Philosophy“ betitelter Text


setzt ein mit der Feststellung, dass sämtliche bisherigen Versuche einer Weiterent-
wicklung der Philosophie auf „revolts against the practices of previous philosophers
and […] attempts to transform philosophy into a science“25 beruht hätten und immer
wieder aufgrund des folgenden Sachverhalts gescheitert seien: „Every philosophical
rebel has tried to be ‚presuppositionsless,‘ but non has succeded.“26 Die Freilegung
der versteckten Vorannahmen der Vorgänger wird von Rorty schließlich als der
eigentliche Innovationsmotor der Philosophie ausgewiesen.27 Erst im Anschluss an
diese metaphilosophischen Reflexionen wendet sich der Text der linguistic philosophy
zu und bestimmt diese als „the view that philosophical problems are problems which
may be solved (or dissolved) either by reforming language, or by understanding more
about the language we presently use“28. Diese Definition schließt die Beschäftigung
mit Sätzen nicht aus, die einen komplexen Sinnzusammenhang bilden. Der in ihr trotz
allem gegebene Fokus auf ‚jene Sprache, die wir gegenwärtig verwenden‘, scheint
jedoch weder auf eine Beschäftigung mit den medialen Grundlagen dieser Sprache,
zu denen für die geschriebene Sprache eben ihre Textualität gehört, noch auf die
Berücksichtigung literarisch-ästhetischer Darstellungsformen hinauszulaufen. Dies
bestätigt auch die tatsächliche Rekonstruktion des damaligen Status quo der Sprach-
philosophie, welche sich im Übrigen ausschließlich den im angelsächsischen Raum
dominierenden zwei Varianten der Sprachphilosophie – der „Ideal Language Phi-
losophy“ und der „Ordinary Language Philosophy“ – widmet. Bereits am Anfang
dieses Rekonstruktionsversuches verweist Rorty auf jenen in den Abgrenzungskämp-
fen besagter sprachphilosophischer Richtungen häufig vorgebrachten Einwand, nach
dem sich diese letztendlich nur in der Beantwortung der Frage unterscheiden, welche
Sprache eigentlich ideal sei,29 um im Anschluss daran diesen Sachverhalt präziser
auszuformulieren:

So far, I have been emphasizing the common ground shared by Ideal Language Philosophy and
Ordinary Language Philosophy. I have tried to show that their programs are alternative means to
the same ends, and that neither presupposes the sort of substantive philosophical theses to which
their critics claim linguistic philosophy is committed. I have argued that those presuppositions
which they do make boil down to a single, plausible claim: that we should not ask questions
unless we can offer criteria for satisfactory answers to those questions.30

Konstruktion besagten Narrativs keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Eine diesen Anspruch erfüllen-
de Studie stellt allerdings ein dringendes Desiderat der Forschung dar.
25 Rorty 1992 [1967], S. 1.
26 Rorty 1992 [1967], S. 1.
27 Vgl. Rorty 1992 [1967], S. 2.
28 Rorty 1992 [1967], S. 3.
29 Vgl. Rorty 1992 [1967], S. 12.
30 Rorty 1992 [1967], S. 14.
16 1.1. Terminologische Grundlagen

Ausgehend von der hier im letzten Satz geäußerten These, auf deren reduktionistisch-
simplifizierenden Status Rorty übrigens selbst hinweist,31 entwickelt dieser zwölf
Jahre später eine weitere Ausdifferenzierung der aktuellen sprachphilosophischen
Debatten in einen Zweig ‚reiner Sprachphilosophie‘, der „weder einen erkenntnistheo-
retischen parti pris kennt noch für die meisten der traditionellen Anliegen moderner
Philosophie von irgendeiner Bedeutung ist“, und den Zweig einer ‚unreinen Sprach-
philosophie‘, deren Telos in der Entwicklung genau jener im Zitat aus der Einleitung
zu The Linguistic Turn als plausibel ausgewiesenen Kriterien bestehe, „der Forschung
in Gestalt einer Theorie der Erkenntnis ein beständiges ahistorisches Begriffs-
system“32 bereitzustellen. Allein die Liste der von Rorty als Repräsentanten der ersten
Richtung angeführten Philosophen – er nennt Frege, Carnap und den frühen
Wittgenstein – zeigt, dass auch von dieser kein Interesse an der die vorliegende Studie
dominierende Frage nach der epistemischen Bedeutung und Funktion von Textualität
und literarisch-ästhetischer Darstellungsform zu erwarten war bzw. ist. Dasselbe gilt
für die ‚unreine Sprachphilosophie‘, schließt doch deren Telos notwendig die Be-
schäftigung mit dem stets hoch kontextualisierten Sinngeschehen von Texten aus.
Dieses hat, das sollte dieser kurze Exkurs in die Geschichte des linguistic turn bestätigt
haben, in der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts anscheinend keinen Platz.
Möchte man in Opposition zu diesem philosophischen Schweigen vom ‚Text‘ die
Bedeutung und Funktion der Materialität und der in der Auseinandersetzung mit dem
Widerstand derselben eingesetzten literarisch-ästhetischen Mittel für die Heuristik
und Argumentation des hier später gelesenen philosophischen Werkes untersuchen,
ist es notwendig, die dafür zentralen Termini einer Klärung zu unterziehen und ihnen
im Zuge dessen eine der hier leitenden Fragestellung adäquate Bedeutung ein-
zuschreiben. Dabei sind grundlegende Begriffe wie ‚Text‘, ‚Werk‘‚ Medium‘, ‚Schrift‘,
‚Literarizität‘ und ‚ästhetische Darstellungsform‘ zu erörtern.
Bei einem solchen Unternehmen ist von Anfang an zu bedenken, dass die Phi-
losophie aufgrund des zuvor referierten Narrativs die für die hier intendierte Analyse
notwendigen begrifflichen Grundlagen nur eingeschränkt zur Verfügung stellt, was
dazu führt, dass man sie aus anderen Disziplinen importieren muss. Im Rahmen
dieses Reimports ist es notwendig, die besagten Begriffe konsequent auf die Faktizität
des ausgewählten ‚Textes‘ hin zu entwickeln. Insofern folgen die nun einsetzenden
Begriffsklärungen ausschließlich der Notwendigkeit für die hier in Angriff genom-
mene Aufgabe trotz des auf den ersten Blick problematischen terminologischen
Synkretismus, der sich potentiell aus der Ein- und Zusammenführung von Terminolo-
gien verschiedenen Ursprungs in die Philosophie einstellen mag, diesen durch die
Fügung und Rekontextualisierung der zu klärenden Termini zu überwinden und so
die Werkzeuge für die später zu leistende Lektüre bereitzustellen. Das Ziel dieses

31 Rorty 1992 [1967], S. 14.


32 Rorty 1981 [1979], S. 283f.
1.1. Terminologische Grundlagen 17

Subkapitels besteht also nicht darin, eine in sich abgeschlossene text- und
interpretationstheoretische Grundlage für philosophische ‚Texte‘ zu entwickeln, die
sich umstandslos auf jeden philosophischen ‚Text‘ anwenden ließe. Im Gegenteil: Der
hier und in den Folgeabschnitten entwickelte Interpretationsapparat wird vor der
eigentlichen textnahen Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsches Götzen-Dämme-
rung durch die Konfrontation mit dem vorliegenden Textmaterial sowie dem Stand
der gegenwärtigen Nietzscheforschung noch einmal auf seine Tauglichkeit überprüft
und, falls dies notwendig ist, adaptiert werden. Dennoch ist eine Erörterung des
Interpretationsapparates in diesem frühen Stadium der vorliegenden Studie notwen-
dig, weil nur auf dieser Grundlage die Selbstbestimmung und -reflexion der dieser
Studie zugrunde liegenden philosophischen Präsuppositionen gewährleistet werden
kann.
Diese Reflexion wird sich insbesondere mit der Tatsache auseinandersetzen müs-
sen, dass das, was ein ‚Text‘ ist, stets nur im Dialog mit dem vorliegenden Sprach-
material sowie aus den an dieses gestellten Fragen zu begreifen ist. Es stellt sich also
bereits auf dieser fundamentalen Ebene jenes Phänomen ein, das einem auch bei der
Beschäftigung mit der konkreten Lektüremethode wieder begegnen wird, nämlich die
Tatsache, dass Letztere ihren Gegenstand stets formt, bei dieser Formung jedoch der
Phänomenalität des Gegenstandes zu folgen scheint.
Wendet man sich nun eingedenk der leitenden Fragestellung dieser Unter-
suchung an diejenigen Disziplinen, die für die Klärung der zentralen Termini ‚Text‘,
‚Werk‘, ‚Medium‘, ‚Schrift‘, ‚Literarizität‘ und ‚ästhetische Darstellungsform‘ Hilfe
versprechen – d.s. insbesondere die Medien-, Literatur- und Editionstheorie –, zeigt
sich sofort, dass in diesen alles andere als Einigkeit herrscht. Als Beispiel dafür sei
hier ein Absatz aus Susanne Horstmanns Beitrag zum „Text“ im Reallexikon der
deutschen Literaturwissenschaft zitiert, welcher mit einem Hinweis auf diese Proble-
matik endet. Horstmann stellt nach ihrem Durchlauf durch die gegenwärtig geläu-
figen Textbegriffe fest:

Parameter aus den beschriebenen Kriteriengruppen ermöglichen, nach dem je eigenen Analyse-
bedarf, die begründete Erstellung unterschiedlicher Text-Definitionen sowie die Bestimmung von
Textsorten. Jenseits davon gibt es keine verbindlichen, unumstößlichen, ‚objektiven‘ Kriterien
darüber, was ein Text ist – und was keiner: Bei der Beurteilung von Texten oder Nicht-Texten
müssen die jeweils angewendeten Kriterien offengelegt werden.33

In Anbetracht der diese Studien leitenden Kriterien – nämlich der Tatsache, dass sie
eines Textbegriffes bedarf, der sowohl die Materialität als auch die auf diesen fußen-
den ästhetischen Darstellungsformen sowie deren Interaktion zu erfassen vermag –
erweisen sich viele der traditionellen Textbegriffe als unzulänglich. Das gilt insbeson-
dere für das weitverbreitete Verständnis von Text als „geordnete Menge von Elementen

33 Horstmann 2007, S. 596.


18 1.1. Terminologische Grundlagen

und als höchste Sinneinheit von sprachlichen Äußerungen“34. Dieser Textbegriff, der
sich laut der soeben zitierten „Einleitung“ zu einer Sammlung von einschlägigen
Aufsätzen zur Texttheorie von Stephan Kammer und Roger Lüdeke von der Antike
über die Hermeneutik bis in die Textlinguistik und den Strukturalismus finden lässt,
besitzt, neben der per se schon problematischen Exklusion der Materialität des Text-
trägers, ein weiteres Manko, das hier kurz anhand des Textbegriffes von Manfred
Frank offengelegt werden soll.35
Franks bereits zuvor zitierte, sich in unmittelbarer Nähe des alltäglichen Sprach-
gebrauchs bewegende Auffassung von ‚Text‘ als „eine schriftlich fixierte, zusammen-
hängende, meist eben literarisierte Rede“36 war einem 1989 erschienen Aufsatz
entnommen worden. In diesem Aufsatz, der den Titel „Was ist ein literarischer Text,
und was heißt es ihn zu verstehen?“ trägt, versucht sich Frank dezidiert an einer
hermeneutischen Interpretationstheorie. Dabei bemüht er sich, sein Text- und
Interpretationskonzept durch die behutsame, teilweise bis zur Übernahme reichende
Auseinandersetzung mit den zu diesem Zeitpunkt noch verhältnismäßig jungen
strukturalistischen und neostrukturalistischen Text- und Auslegungstheorien von
diesen abzusetzen.
Ausgehend von seiner Eingangsdefinition des ‚Textes‘ gelangt Frank zu einer
ersten Unterscheidung desselben vom Sprechakt bzw. der Rede. Im Gegensatz zu
diesen sei der ‚Text‘ durch seine Situationsabstraktheit und aufgrund seiner Schrift-
lichkeit durch seine partielle Unabhängigkeit von der Autorintention gekennzeich-
net.37 Bereits an dieser Unterscheidung wird deutlich, dass Frank sich entgegen seiner
expliziten Anerkennung von Schleiermachers methodischem Zweifel nicht genötigt
sieht, diesen auf die Fundamente, – sprich den eigentlichen Gegenstand seiner
Auslegungstheorie – eben den ‚Text‘, auszuweiten. Frank geht schlichtweg von der
„Abgeschlossenheit des Textformulars“38 aus. Dies zeigt sich auch in der auf dem
Textbegriff fußenden Definition des ‚Werkes‘, mit welcher Frank direkt an Schleierma-
cher anknüpft. Nach diesem kennzeichne sich ein ‚Werk‘ als „Tat-sache“ durch drei
Merkmale: der aus der sinnstiftenden Tat eines Individuums hervorgegangenen
Strukturiertheit, der solcherart erfolgenden Unterwerfung unter ein konventionalisier-
tes ‚Muster‘ (‚Gattung‘ bzw. ‚Genre‘) sowie den „mehr oder weniger ausgeprägten

34 Kammer/Lüdeke 2005, S. 11.


35 Franks Aufsatz bietet sich als Ausgangspunkt für die Schaffung eines dem Analyseziel dieser
Studie entsprechenden Begriffsapparats in ausgezeichneter Weise an, da er einerseits sehr stark auf
Schleiermacher, d.h. den Anfang der deutschen Hermeneutik, rekurriert, anderseits diesen Rekurs
durch die Auseinandersetzung mit alternativen Text- und Literaturtheorien, deren Grundannahmen
auch im folgenden Kapitel eine Rolle spielen werden, konterkariert. Diese unmittelbare Nähe in der
Distanz erlaubt es, den eigenen Ansatz noch stärker zu konturieren.
36 Frank 1989, S. 125.
37 Vgl. Frank 1989, S. 127ff.
38 Vgl. Frank 1989, S. 159.
1.1. Terminologische Grundlagen 19

Spuren einer individuellen Komposition“39 (Stil). Frank setzt also auch im Falle des
‚Werkes‘, bei dem es sich für ihn eben um eine ‚Tatsächlichkeit‘ handelt, die Gegeben-
heit desselben unreflektiert voraus.
Gerade diese Gegebenheit des ‚Textes‘ bzw. ‚Werkes‘ ist allerdings nicht bei jedem
philosophischen Klassiker so einfach vorauszusetzen. Man denke nur an Ludwig
Wittgensteins Philosophische Untersuchungen oder Theodor W. Adornos Ästhetische
Theorie. Zwar werden diese beiden ‚Bücher‘ vom gegenwärtigen kulturellen Gedächt-
nis als ‚Werke‘ erachtet. Der bloße Blick in die Kritisch-genetische Edition40 von Witt-
gensteins ‚Spätwerk‘ sowie den überlieferten Typoskriptbestand von Adornos Ästheti-
scher Theorie41 genügt allerdings, um diese Auffassung ihrer Naivität zu überführen.
Im Falle dieser beiden ‚Texte‘ zeigt eine Beschäftigung mit ihrer Entstehungsgeschich-
te, dass es sich bei den aus dieser hervorgegangenen Büchern nicht eigentlich um
‚Werke‘ ihrer Verfasser handelt, sondern um von ihren Nachlassverwaltern konstitu-
ierte ‚Texte‘. Genau diese Konstitutionsleistungen der Herausgeber, die auch häufig
von den Autoren selbst publizierte und autorisierte Bücher durch deren weitere
Tradierung in Werkausgaben betreffen, kann das hermeneutische Textverständnis
von Frank nicht erfassen.
Dasselbe Problem findet sich auch im zweiten von Kammer und Lüdeke rekon-
struierten Paradigma texttheoretischer Ansätze, nämlich der im Strukturalismus und
Neostrukturalismus aus der Kritik an traditionelleren Textbegriffen hervorgegange-
nen Auffassung, die ‚Text‘ als „bedeutungsgenerative[n] Verweisungszusammen-
hang“42 begreift. Auch dieser Textbegriff, der paradigmatisch in den Arbeiten von
Roland Barthes und Julia Kristeva zu finden ist,43 kann die Gemachtheit des Textes
nicht denken, da er diesen, wie Roland Reuß treffend in einer kritischen Auseinander-
setzung mit Barthes Aufsatz „Vom Werk zum Text“ gezeigt hat, den Text „nicht etwa
als Antwort auf eine Frage [begreift …], sondern in Analogie zur Sprache; und d.h. für
Barthes: der Text ist zwar ein strukturiertes Objekt, aber er kennt kein Zentrum und
keine Abschließung“44. So sehr ein derartiger Textbegriff in der Lage ist, die auch hier

39 Frank 1989, S. 161.


40 Vgl. Wittgenstein 2001.
41 Deren Originale sind im Frankfurter Adorno Archiv aufbewahrt. Kopien in Schwarzweiß sind auch
im Berliner Walter Benjamin Archiv einsehbar.
42 Kammer/Lüdeke 2005, S. 13.
43 Siehe dazu einleitend Kammer/Lüdeke 2005, S. 13ff. sowie Jannidis/Lauer/Winko 2009, nach
denen gerade in dem von besagten Autoren propagierten Textbegriff die Grenzen des Literarischen
nicht nur fragwürdig, sondern aufgehoben werden: „Prinzipiell können die Identitätsbedingungen von
Texten nicht angegeben werden, und es lässt sich nicht begründen, was zu einem Text gehört und
welche Beziehungen über ihn hinausgehen. Festlegungen von Textgrenzen sind immer Setzungen,
ergeben sich mithin nicht aus den Texten selbst. Als gegeben angenommen wird allein ein
universaler – verborgen sinnstiftender – textueller Zusammenhang.“ (Jannidis/Lauer/Winko 2009,
S. 9)
44 Reuß 2005, S. 2f.
20 1.1. Terminologische Grundlagen

später noch zu verhandelnde Dynamizität sich ästhetischer Mittel bedienender


sprachlicher Gebilde in den Blick zu bekommen, so wenig erlaubt er, die Konstituiert-
heit eines solchen Gebildes zu beachten. Obwohl insbesondere das im Anschluss an
Julia Kristevas Arbeiten entwickelte kultursemiotische Textverständnis den engen
Rahmen traditioneller Textauffassungen durch ihr Verständnis des „Einzeltextes als
Geflecht von unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kodes“45 aufbricht und somit
potentiell die Möglichkeit bietet, Phänomene wie die Materialität oder den Einsatz
literarisch-ästhetischer Mittel als derartige Kodes zu verstehen und zu analysieren,
läuft diese Konzeption Gefahr, durch einen Textbegriff, „in dem die Komplexität der
sich in einem Text überschneidenden, teilweise widerstreitenden Kodes und Inter-
texte zu einer unüberschaubaren, teilweise inkommensurablen Vielfalt an Deutungs-
möglichkeiten führt“46, zu explodieren. Es ist daher ohne größeren Adaptionsauf-
wand für die hier angestrebte Textanalyse nicht geeignet.
Der zuvor gefallene Name Roland Reuß weist hingegen in Richtung jenes For-
schungsfeldes, das sich immer schon mit der Konstitution von Texten auseinander-
gesetzt hat: die Editionstheorie. Insbesondere in Deutschland haben Editionstheoreti-
ker wie Hans Zeller47, Siegfried Scheibe48, Gunter Martens oder eben der bereits
zitierte Reuß in den letzten Jahrzehnten ausgehend von der die Philologie seit An-
beginn beschäftigenden Frage nach der Bedeutung des Editors bei der Textkonstituti-
on neue Textbegriffe entwickelt, die die Kriterien dieser Studie – d.s. die Beachtung
der Textkonstitution sowie das Zusammenspiel von Materialität und ästhetischer
Darstellungsform bei der Sinnkonstitution der Lektüre eines Textformulars –, wenn
nicht ganz erfüllen, so doch zumindest beachten. So hat zum Beispiel Reuß in einem
editionstheoretischen Aufsatz mit dem Titel „Text, Entwurf, Werk“ schlüssig an
Kafka- und Hölderlin-Manuskripten demonstriert, dass Texte nicht einfach vorliegen,
und dabei insbesondere auf die Unzahl an soziokulturellen und publikationsbeding-
ten Filtern bei der Textkonstitution hingewiesen.49 Dementsprechend deutlich fällt
sein Urteil über eine diese Filter missachtende Literaturwissenschaft aus:

Eine Literaturwissenschaft, die sich über diese Filterungsmechanismen nicht im klaren ist und –
Augen zu – drauflos interpretiert, von werkimmanent bis (sagen wir ruhig:) dekonstruktivistisch,
ist in dem Maße, in dem sie es verschmäht, sich einer eingehenden Analyse ihrer materialen
Grundlagen zu unterziehen, unwissenschaftlich.50

45 Lindemann 2009, S. 270.


46 Lindemann 2009, S. 270.
47 Vgl. Zeller 1971.
48 Vgl. Scheibe 1991.
49 Vgl. Reuß 2005.
50 Reuß 2005, S. 5.
1.1. Terminologische Grundlagen 21

Ausgehend von den hier angesprochenen materiellen Grundlagen haben sich die
zuvor erwähnten Editionstheoretiker seit Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts an die Erarbeitung einer neuen editionsphilologischen und texttheoreti-
schen Begrifflichkeit gemacht, durch welche es zu einem Paradigmenwechsel in der
deutschsprachigen Editionstheorie und -praxis gekommen ist. Ziel der editorischen
Bemühungen war dabei nicht mehr das Werk als ἔργον respektive höchste Sinneinheit
von gedruckten sprachlichen Äußerungen, sondern der Text „in seinem konkreten,
materiell-medialen Objektstatus […], der als Erweiterung der genuin sprachlichen
Zeichenstruktur und ihrer bedeutungsgenerativen Aspekte“51 verstanden wird. An die
Resultate dieser Bemühungen wird die vorliegende Studie anknüpfen und so ver-
suchen, einen ersten Schritt zu machen, die durch die in der philosophischen Editi-
ons- und Lektürepraxis fast durchgehende Missachtung dieser Errungenschaften der
Textkritik entstandene Lücke zu füllen und ein für die gegebene Fragestellung adä-
quates Textverständnis zu stiften. Dabei kann sie bei der eigentlichen Lektüre bereits
auf jene Edition zurückgreifen, die eine rühmliche Ausnahme in der ansonsten der
Editionsphilologie nicht gerade freundlich gesinnten Gegenwartsphilosophie bildet.
Die Rede ist hier von der Neuedition von Nietzsches spätem Nachlass, die den zuvor
angesprochenen Paradigmenwechsel auf mehr als überzeugende Weise nicht nur
mitvollzogen, sondern sogar mitgeprägt hat.
Vor der ersten Skizzierung eines sprachliche Gebilde wie Nietzsches späten Nach-
lass erfassenden Textbegriffes im Rahmen einer synoptischen Rekonstruktion der
jüngeren editionsphilologischen Debatten ist eingangs darauf hinzuweisen, dass die
zuvor genannten Autoren selbstverständlich weder die einzigen Repräsentanten des
besagten Paradigmenwechsels sind, noch zu sich vollständig deckenden Theorien
gelangt sind. Neben der deutschsprachigen Neuphilologie wurden insbesondere in
der amerikanischen Mediävistik und in der französischen Editions- und Literatur-
wissenschaft ähnliche Modelle entwickelt wie die im Folgenden besprochenen. Vor
allem die französische critique génétique weist zahlreiche Parallelen zu den deutsch-
sprachigen Theorieentwürfen auf. So wenn sie „anhand der überlieferten Schreibspu-
ren den schriftlichen Entstehungsprozess literarischer Werke zu rekonstruieren
sucht“52 oder wenn sie auf die zentrale Rolle des ‚Genetikers‘ bei der Textkonstitution
und die sich daraus ergebende Unmöglichkeit eines Abschlusses derselben hin-
weist.53 Ein zentraler Unterschied zu den deutschsprachigen Ansätzen besteht hin-
gegen darin, dass ein der critique génétique folgender Herausgeber/Interpret immer
auch um die Freilegung der Autorintention, die sich in besagten Schreibprozeesen
vermeintlich realisiert, bemühen wird.54

51 Kammer/Lüdeke 2005, S. 15.


52 Grésillon 2010 [1996], S. 290; siehe dazu auch Hay 2005.
53 Grésillon 2010 [1996], S. 292f.
54 Siehe zum Beispiel Grésillon 2010 [1996], S. 293 sowie das Kap. 1.2.
22 1.1. Terminologische Grundlagen

Einen derartig starken Hang zur ‚Divination‘ sucht man vor allem in den Arbeiten
von Reuß vergeblich. Gunter Martens, dessen Text- und Werkbegriff am ehesten die
für diese Studie gültigen Kriterien erfüllt, und dessen Textbegriff nun mit dem durch-
weg als radikal zu bezeichnenden von Roland Reuß verglichen werden soll, scheint
der ‚Divination‘ hingegen nicht vollständig abgeneigt zu sein, ordnet ihr jedoch eine
stark eingeschränkte Rolle zu, wenn er im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit
Siegfried Scheibes Textbegriff schreibt: „Dennoch prägt für Scheibe […] der Autor
gerade die Historizität eines Werkes und bleibt aus dieser Sicht immer Bezugspunkt
jeder wissenschaftlichen Edition“55.
In dieser minimalen Anerkennung der Bedeutung des Autors, bei der man eigent-
lich nicht mehr von ‚Divination‘ sprechen kann, besteht nicht der einzige Unterschied
zwischen Martens Textbegriff, wie er ihn insbesondere in seinem Aufsatz „Was ist –
aus editorischer Sicht – ein Text?“ im Anschluss an Scheibe und die osteuropäischen
Textologen entwickelt hat, und dem von Roland Reuß in „Text, Entwurf, Werk“
präsentierten. Ausgangspunkt von Martens mehr als eineinhalb Jahrzehnte vor dem
Erscheinen von Reuß Beitrag auf einer Konferenz in (Ost-)Berlin vorgetragenen Über-
legungen ist eine Unterscheidung zwischen zwei zu diesem Zeitpunkt dominierenden
und kontrovers diskutierten Textbegriffen.
Dabei handelt es sich auf der einen Seite um das eher traditionelle Verständnis
von Text „als einheitliches, in sich abgeschlossenes Sprachgebilde“56. Nach dieser
Auffassung, deren Nähe zum Textverständnis der Hermeneutik unübersehbar ist,
gehören ‚Varianten‘, d.h. „Abweichungen in und zwischen autorisierten Zeugen bzw.
zwischen diesen Zeugen und dem Edierten [sic] Text“57, nicht zum Text. Dem steht ein
Textbegriff gegenüber, nach welchem „Text als Komplex aller zu einem Werk gehö-
renden Fassungen und Abweichungen verstanden“58 wird. Laut Martens, der prima
facie der zweiten Auffassung zu folgen scheint, geht diese davon aus, „daß der Prozeß
des Lesens nicht – wie in Begriff (1) – dem Text äußerlich“59 sei.
Der solcherart erfolgenden Inklusion der ‚Varianten‘ in das dynamische Text-
ganze stellt Reuß sein Konzept des ‚Entwurfs‘ – d.s. eigenhändige Handschriften,
die nicht mit der Reinschrift identisch sind – entgegen und konstatiert: „Ein Entwurf
ist keineswegs selbst schon ein Text“60. Dieses kontraintuitive Verständnis beruht
auf der Auffassung von Reuß, dass ein zentrales Kriterium von Textualität in der
„strikten Linearität der Zeichen- und Buchstabenfolgen“61 besteht. Letztendlich löst

55 Martens 1991, S. 152.


56 Martens 1991, S. 136.
57 Martens 1991, S. 151. – Martens folgt hier wortwörtlich Siegfried Scheibe und zitiert aus dessen
„Editorischen Grundmodellen“ von 1991.
58 Martens 1991, S. 136.
59 Martens 1991, S. 137.
60 Reuß 2005, S. 7.
61 Reuß 1999, S. 14.
1.1. Terminologische Grundlagen 23

Reuß den Text gänzlich von jeglicher faktischen Materialität ab, wenn er feststellt:
„Jeder Text enthält (aktualisiert oder nicht) einen Rückbezug auf den mündlichen
Vortrag. Und eben darum kann man jeden Text von der spezifischen Materialität, die
ihn transportiert, ablösen, und er bleibt – in schroffem Gegensatz zum Spezifischen
eines Entwurfs – immer noch derselbe (der Inhalt einer Word-Datei in Open Of-
fice).“62
Diese Loslösung des Textes von seiner Materialität, die es zugleich erlaubt, die
materielle Eigenart eines Entwurfes noch stärker zu betonen, führt zum eigentlich
zentralen Unterschied zwischen Martens und Reuß Textbegriff. Während nämlich
Reuß diesen in Absetzung zum traditionellen Werkbegriff,63 auf dessen Ursprung in
Aristoteles Politika er auch explizit hinweist, entwickelt, bindet Martens den seinigen
an die angelsächsische Semiotik des 20. Jahrhunderts, um so den Text „als ein
literarisches Zeichen“64 zu definieren. Diese Rückbindung an die Zeichentheorie hat
weitreichende Folgen. Sie erlaubt es Martens, insbesondere die von ihm am Anfang
seines Aufsatzes entwickelte Dichotomie zweier Textbegriffe aufzuheben, indem er
deren beiden Pole dialektisch zusammenführt: „Text ist als ein komplexes Zeichen,
als […] dynamischer Strukturzusammenhang von Zeichenträger, Interpretant und
Zeichenobjekt (Peirce), immer in Bewegung, ist aus der Sicht des bedeutungssetzen-
den Rezipienten niemals fixierbar“65. Durch diese Bestimmung gelingt es Martens,
die zentrale Rolle des Herausgebers/Lesers im Textbegriff selbst zu verankern.66
Darin folgt ihm auch Reuß, wenn er feststellt: „[E]rst das Produkt d[ ]er kritischen
Tätigkeit verdient den Namen ‚Text‘. Text ist daher immer schon konstituierter
Text“67.
Diese Übereinstimmung kann jedoch nicht die bereits erwähnte Kluft zwischen
dem Textverständnis von Martens und Reuß überbrücken, die durch deren divergie-
rende Auffassungen im Umgang mit Varianten bzw. Entwürfen aufgerissen wird.
Gerade auf den durch Martens Textbegriff möglichen Einbezug der Textgenese bei der

62 Reuß 2005, S. 8.
63 Dies führt letztendlich dazu, dass der Werkbegriff bei Reuß zum Resultat variabler diskursiver
Praktiken wird: „Werk ist dasjenige Produkt der literarästhetischen Wirklichkeit, in das hinein sich die
Produktion und Rezeption der Texte und Entwürfe wirkend auslegen. Werk und Wirkungsgeschichte
bringen sich wechselseitig allererst im Verlauf der Geschichte hervor.“ (Reuß 2005, S. 10)
64 Martens 1991, S. 141.
65 Martens 1991, S. 142.
66 Martens wird nicht müde, diese zentrale Rolle des Editors regelmäßig zu betonen. Reuß geht auch
in diesem Punkt einen Schritt weiter. Auf der Grundlage seines Text- und Werkbegriffes nimmt der
Herausgeber schon beinahe die Züge eines Ideologiekritikers an: „Ein wesentlicher Punkt der editori-
schen Arbeit und Textkritik wird demgegenüber gerade darin bestehen, zu jeder Form von Wirkungs-
geschichte in Distanz zu kommen – in der spezifischen Absicht, deren Basis (Text, Entwurf) angemes-
sen zur Darstellung zu bringen. Für das bisherige Werk kann (nicht: muß) dieser distanzierende
Darstellungsprozeß durchaus desaströse Folgen haben.“ (Reuß 2005, S. 11)
67 Reuß 2005, S. 9.
24 1.1. Terminologische Grundlagen

Analyse der Bedeutungs- und Sinnkonstitution des ‚finalen‘ Textes möchte allerdings
auch die vorliegende Studie nicht verzichten. In der Nietzscheforschung haben sich
derartige textgenetische Analysen als sehr fruchtbar erwiesen, insbesondere bei Text-
stellen, die ohne Kenntnis der Textgenese leicht in einen philosophischen Kontext
überführt werden, dem sie nicht entstammen. Jenseits dieser noch durchweg herme-
neutischen Erklärungshilfe erlaubt es der Vergleich verschiedener Fassungen, die
Dynamizität von Texten auch auf der paradigmatischen Ebene stärker zu konturieren:

Der Entwicklungsprozeß des Textes wird vom Textologen bestimmt, indem er nicht nur das
Syntagma eines einzelnen Textzustandes, zu dem sich einzelne „Buchstaben und Zeichen“ auf
dem Blatt zusammenschließen, sondern auch das „paradigmatische“ Nach- und Zueinander der
Varianten, die räumliche Konstellation und die chronologische Folge der sich verändernden
Fassungen desselben Textes auf de[n] Zeugen wahrnimmt.68

Eine derartige Instrumentalisierung textgenetischer Ansätze ist von Roland Reuß


heftig kritisiert worden. In „Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift.
Notizen zur Textgenese“69 stellt Reuß im Zuge seiner kritischen Auseinandersetzung
mit Beißners Hölderlin-Edition fest:

Es sollte aber klar sein, daß die Darstellung der ‚Textgenese‘ für die Interpretation objektiv
mehrdeutiger Passagen publizierter (oder in Reinschrift vorliegender) Texte prinzipiell keine
Hilfestellung gibt. […] Zur ästhetischen Wertschätzung oder wissenschaftlichen Explikation einer
Passage benötigt niemand die Kenntnis ihrer Vorstufe. Zudem gilt (und dies wiegt schwerer), daß
jede bestimmte Stelle eines poetischen Textes sich nicht nur negativ gegenüber der betreffenden
Stelle einer letztlich kontingenten Vorstufe, sondern schlechthin (sagen wir das ruhig: absolut)
negativ gegenüber allen anderen Möglichkeiten sprachlicher Artikulation verhält.70

Das Argument von Reuß, bei dem es sich um ein klassisches Enthymem handelt, ist
nur gültig, wenn man drei zentralen, von ihm jedoch erst im weiteren Verlauf seines
Aufsatzes explizierten Prämissen folgt. Diese sind: (1) Ein Text, d.h. also jenes sprach-
liche Etwas,71 das unabhängig von seiner Materialität eine semantische Einheit bildet,
ist ein an seinen Wortlaut, nicht jedoch dessen materielle Darstellung gebundenes,
potentiell problemlos Vorlesbares und somit strukturell in sich geschlossenes Gan-
zes.72 (2) Dieses in sich geschlossene Ganze ist als solches erfassbar, ohne durch
irgendwelche semantischen Interferenzen gestört zu werden. (3) Ein Text ist poetisch
genau dann, wenn er polyseme Elemente enthält.73

68 Martens 1991, S. 143.


69 Vgl. Reuß 1999.
70 Reuß 1999, S. 4f.
71 Vgl. Reuß 2005, S. 8.
72 Vgl. Reuß 1999, S. 14ff.
73 Vgl. Reuß 1999, S. 3.
1.1. Terminologische Grundlagen 25

Die Unterschiede dieser von Reuß in seinem Aufsatz erst sehr spät eindeutig
artikulierten Prämissen zu dem hier in Anknüpfung an Gunter Martens entwickelten
Textbegriff liegen auf der Hand: Dieser folgt weder dem zentralen Nebensatz der
Prämisse (1), also der These, dass ein Text jenes sprachliche Etwas sei, das unabhän-
gig von seiner Materialität eine semantische Einheit bilde, noch der sprachphiloso-
phisch absurden Prämisse (2), welche einen Text als semantische Singularität ohne
jedwelchen Bezug zu anderen semantischen Kontexten derselben Sprache begreift,
sondern ersetzt diese beiden Prämissen durch eine Textauffassung, die diesen als ein
dynamisches Ganzes samt der ihm eingeschriebenen produktionslogischen Teleolo-
gie auf ein Werk hin versteht, wobei die materielle Grundlage dieser Textauffassung
von Seiten des Editors/Interpreten einer – stets Kontextwissen miteinbringenden –
Konstitutionsleistung bedarf. Daraus folgt dann, dass Varianten (bzw. ‚Vorstufen‘)
eindeutig semantische Valenz für die Analyse des Gesamtsinns des Textes zukommt,
da sie einen materialiter vorliegenden Schritt in diesem teleologischen Produktions-
prozess ausmachen und derartig in einem intratextuellen Verhältnis zu anderen –
eben den ‚finalen‘ – Fassungen stehen. Insofern erlaubt gerade die von Reuß gegen
textgenetische Ansätze zum Tragen gebrachte ‚absolute Negativität‘ einer aus-
gewählten Textfassung zu ihren Vorläufern und Nachfolgern durch die kontrastie-
rende Gegenüberstellung derselben die semantische Profilierung einzelner Fassun-
gen, wie im weiteren Verlauf dieser Studie noch gezeigt werden wird. Dass
letztendlich auch die vermeintlich ‚finalen‘ Fassungen ein zwar notwendiger, jedoch
ebenso kontingenter Akt sind, hat Martens im Gegensatz zu Reuß stets betont:

Der in sich abgeschlossene, einzeln zum Druck gebrachte Text ist ein herausgehobener Zustand
aus einem quasi ins Unendliche verlaufenden Bewegungsablauf, ein Fest-Stellen auf der Grund-
lage einer bestimmten Sinngebung – durch den Herausgeber oder auch, wie wir noch sehen
werden, durch den Autor selbst – ein zweifellos notwendiger, wenn auch immer unbefriedigen-
der Akt.74

Deswegen bietet sich besagter Akt auch als idealer Ausgangspunkt für die textana-
lytische Arbeit an. Dabei ist es primär gleichgültig, ob dieser wie im Falle der Götzen-
Dämmerung vom Autor selbst oder wie im Falle der Philosophischen Untersuchungen
oder der Ästhetischen Theorie von den Herausgebern vollzogen wurde, da eine der-
artig temporäre Stillstellung des Schreibprozesses durch die Kontrastierung mit sei-
nen früheren Fassungen eine erneute Dynamisierung erfahren kann.
Ob besagter Produktionsprozess letztendlich auf die Schaffung eines poetischen
Textes im Sinne von Reuß, also die Stiftung von Polysemie, oder doch auf einen
eindeutigen Sinn abzielt, kann gerade bei dem später untersuchten philosophischen
‚Werk‘ nicht schlichtweg vorausgesetzt werden – wie dies Reuß apodiktisch bei
seinen Hölderlinbeispielen tut –, sondern stellt bestenfalls selbst ein Resultat der

74 Martens 1991, S. 142.


26 1.1. Terminologische Grundlagen

Lektüre dar, d.h. also des Nachvollzuges des poetologisch-philosophischen Procede-


res des zu analysierenden Textmaterials.75
Martens – im Gegensatz zu Reuß gerade für die hier angestrebte Analyse der
Bedeutung und Funktion der materiellen und literarisch-ästhetischen Elemente in
dem hier später untersuchten philosophischen ‚Text‘, dem im kulturellen Gedächtnis
der Gegenwart eindeutig Werkstatus zukommt, praktikablerer – Ansatz ist von diesem
2008 durch einen Definitionsversuch des ‚Werkes‘ erweitert worden.76 Ausgehend von
der Zielsetzung, einen Werkbegriff zu entwickeln, der den Anschauungen des Werk-
verständnisses der Leser und der Literaturwissenschaft entgegenkommt, bestimmt
Martens in diesem Aufsatz in Anknüpfung an die Begriffsgeschichte des Terminus
‚Werk‘ dieses primär sowohl „als etwas Grenzensetzendes und selbst Begrenztes“ als
auch als „Endpunkt und Ergebnis einer schöpferischen Tätigkeit“77. Im Werk kommt
somit die für Martens Verständnis des Textes so zentrale Dynamis zumindest materia-
liter zum Stillstand. Dementsprechend setzt er das Werk auch eindeutig von seinen
Vor- und Zwischenstufen ab:

Ein Bruchstück, ein Entwurf, ein Fragment gebliebener Text ist selbst kein Werk. So verführerisch
es für einen für die Textgenetik eintretenden Philologen auch erscheinen mag, den Entstehungs-
prozeß in den Werkbegriff einzubinden, so sehr würde eine solche Wortbedeutung von dem, was
allgemein unter Werk verstanden wird, abführen. Und in der Tat ist der Prozeßcharakter eines
Werkes, seine prinzipielle Unabgeschlossenheit, nicht in seiner Genese beschlossen. Die Dyna-
mik und Offenheit des Werks – ich sage hier bewußt: Werk und nicht Text – sind begründet in der
eigenen Dialektik, daß nämlich aus dem Geschaffensein des Werkes eine neue schöpferische
Tätigkeit hervorgeht, aus seiner formalen Begrenztheit zugleich die Sprengung der eigenen
Grenzen.78

75 Jenseits dieser aus unterschiedlichen Textbegriffen folgenden Zurückweisung der Prämissen (1)
und (2) von Reuß ist jedoch darauf hinzuweisen, dass auch dieser selbst an von ihm eigentlich
verworfene Denktraditionen anknüpft, indem er insgeheim der durch die Lektüre immer nur hypothe-
tisch zu rekonstruierenden Produktionslogik und mit dieser der verborgenen ‚Autorität‘ des Verfassers
folgt, da die Unterscheidung zwischen ‚kontingentem Entwurf‘ und ‚Text‘ ebenfalls auf einer Auto-
ritätsentscheidung, der Imprimatur, beruht. Das aus dem daraus hervorgehenden Textbegriff von Reuß
folgende Verbot, jene Sprachgebilde, die die Schwelle zum Text nach der Auffassung von Reuß noch
nicht überschritten haben, wie einen Text zu interpretieren, führt zum Ausschluss zahlreicher bedeu-
tender sprachlicher Gebilde aus dem Feld der Textinterpretation. So finden sich zum Beispiel im
Nachlass Nietzsches ‚Entwürfe‘, die, obwohl es sich bei ihnen eben nicht um Druckmanuskripte
handelt, die von Reuß aufgestellten Kriterien für einen Text mit Ausnahme der Imprimatur erfüllen. Ein
gutes Beispiel dafür ist Nietzsches sogenannter Lenzer-Heide-Entwurf, der so gut wie keine Über-
arbeitungsspuren aufweist (vgl. N VII 3, S. 13–24). Derartige ‚Texte‘ wären nach Reuß rigorosem
Verständnis keine Texte im strengen Sinn. Dies bestätigt, dass auch Reuß Textkonzept eindeutig eines
auktorialen Aktes des Verfassers bedarf. Erst nach diesem greifen die von ihm aufgestellten Kriterien.
76 Vgl. Martens 2008.
77 Martens 2008, S. 177.
78 Martens 2008, S. 178. – Die Konsequenzen dieses Werkbegriffes für den deutenden Umgang mit
den Dokumenten seiner Genese werde ich in den Kapiteln 1.2. und 2.1.3. auf der Grundlage des dort
1.1. Terminologische Grundlagen 27

Letztendlich greift auch Martens bei der eigentlichen Bestimmung des Werkes auf die
Autorintention zurück: „Ein Werk ist eine Textfassung, die der Autor selbst veröffent-
licht hat oder die er für eine Veröffentlichung vorgesehen hat.“79 Formuliert man
diese Definition in Hinblick auf die Materialität eines Werkes um, kann als ein solches
jener Text bezeichnet werden, der in einer vom Autor autorisierten Ausgabe zwischen
ihren Buchdeckeln zu finden ist.
Martens Begriffsapparat stellt nicht nur durch die Hervorhebung der Bedeutung
des Editors bei der Textkonstitution ein Novum in der deutschsprachigen Textkritik
dar. Dazu trägt auch die bereits erwähnte Integration der Errungenschaften der
Semiotik bei. Insbesondere die Aufnahme der paradigmatischen Ebene in die Text-
theorie bringt jegliches statisch-essentialistisches Textkonzept endgültig zum Ein-
sturz.
Wichtig ist außerdem, dass Martens Text- und Werkbegriffe, denen diese Studie
primär folgen wird, auch die ästhetische Dimension von Texten berücksichtigt. Wie
Martens in seinem Aufsatz von 1991 vermerkt, vermag sein zwischen Dynamis und
Stasis changierender Textbegriff, „der das Zusammenwirken von Festgefügtheit und
entgrenzender Bewegung, von syntagmatischer Geschlossenheit und paradigmati-
scher Polyvalenz faßt, […] dem Kunstcharakter eines Textes gerecht zu werden“80.
Die Betonung des Kunstcharakters weist nicht nur auf die hier später noch
erfolgende Auseinandersetzung mit den Begriffen der ‚Literarizität‘ und der ‚Darstel-
lungsform‘ voraus, sondern zeigt auch einige Parallelen zur Ästhetikkonzeption von
Theodor W. Adorno. Dies verdeutlicht ein Blick in dessen Ästhetische Theorie, deren
Beschreibung des Kunstwerks zahlreiche Übereinstimmungen mit dem soeben nach-
gezeichneten Textbegriff enthält. Diese scheinen auch jenseits der in diese Studie

entwickelten Lektüreansatzes eingehender behandeln. Martens selbst bezeichnet eine derartige


Gruppe von mit einem Werk genetisch zusammenhängenden Texten als Werkzusammenhang: „Ein
Werkzusammenhang ist eine Gruppe von Texten, die in einem genetischen Zusammenhang mit einem
Werk stehen. Einem Werkzusammenhang können Texte verschiedener Art zugehören: Stichwort-
notizen, Vorentwürfe, Entwürfe, Reinschriften und auch selbst wiederum mehrere Werke.“ (Martens
2008, S. 181)
Wie schon beim Text sind auch für dessen Konstitution die editorischen Entscheidungen des
Herausgebers existenzbestimmend, denn die „Konstituierung eines Werkzusammenhangs“ ist laut
Martens „stets ein Akt des Herausgebers; sie ist Ergebnis seines kritischen und organisierenden
Umgangs mit einem Text“ (Martens 2008, S. 186).
79 Martens 2008, S. 179. – Aus diesem Werkverständnis ergibt sich folgendes Verhältnis zwischen
Werk und Text: „Das Werk ist, so könnte man pointiert formulieren, Grenze, setzt in seinem Begrenzt-
Sein uns als Interpreten und Editoren Grenzen. Das Text-Sein ist demgegenüber nicht in dieser Weise
determiniert, ist in seinen Konturen fließend, soweit nicht wir selbst Grenzen ziehen, indem wir es
deuten und herausgeben. Es ist nicht einmal auf die syntagmatische Achse beschränkt, wie es die
Textlinguisten gern sähen; denn es kann durchaus auch eine paradigmatische (genetische) Achse der
Textverflechtung geben; sie konstituiert den Werkzusammenhang, der in einer Textgenese dokumen-
tiert ist.“ (Martens 2008, S. 185)
80 Martens 1991, S. 147.
28 1.1. Terminologische Grundlagen

kaum integrierbaren alethischen und negativ-dialektischen Grundannahmen von


Adornos fragmentum magnum zur Erhellung der Bedeutung der Textualität in philo-
sophischen Schriften beitragen zu können und offenbaren außerdem einen wesentli-
chen Mangel des Textbegriffes von Martens, den es in Hinblick auf die leitende
Fragestellung der vorliegenden Studie zu beheben gilt. Dabei ist wohl nicht eigens
darauf hinzuweisen, dass die philosophische Valenz der ästhetischen Momente der
Kunstwerke alles andere als unumstritten ist. Nicht so bei Adorno. Wie allgemein
bekannt, stellen gerade diese nach Adornos später Auffassung den exklusiven Ort
dar, aus der sonst in seinen Arbeiten omnipräsenten Negativität qua bestimmter
Negation auszubrechen: „Die Kunstwerke sagen, was mehr ist als das Seiende, einzig,
indem sie zur Konstellation bringen, wie es ist, ‚Comment c’est‘“81.
Diese Möglichkeit der Kunstwerke, etwas zur Konstellation zu bringen – ein Akt,
der bei Adorno stets erkenntnistheoretisch zu verstehen ist82 –, spiegelt sich auch in
deren eigentlichem Charakter wieder. Adornos Definition desselben erscheint bei
näherem Hinsehen wie der große – ‚ästhetische‘ – Bruder von Martens Textbegriff:

Prozeß ist das Kunstwerk wesentlich im Verhältnis von Ganzem und Teilen. Weder auf das eine
noch auf das andere Moment abzuziehen, ist dies Verhältnis seinerseits ein Werden. Was irgend
am Kunstwerk Totalität heißen darf, ist nicht das all seine Teile integrierende Gefüge. Es bleibt
auch in seiner Objektivation ein vermöge der in ihm wirksamen Tendenzen erst sich Herstellen-
des. Umgekehrt sind die Teile nicht, als was sie durch Analyse fast unvermeidlich verkannt
werden, Gegebenheiten: eher Kraftzentren, die zum Ganzen treiben, freilich aus Not, von jenem
auch präformiert sind. Der Strudel dieser Dialektik verschlingt schließlich den Begriff des Sinnes.
Wo, nach dem Verdikt der Geschichte, die Einheit von Prozeß und Resultat nicht mehr gerät, wo
zumal die Einzelmomente sich weigern, der wie immer auch latent vorgedachten Totalität sich
anzubilden, zerreißt die aufklaffende Divergenz den Sinn.83

Das Zitat zeigt, dass trotz der Parallelen in der Auffassung vom Objektstatus des
Textes bzw. des (Kunst-)Werkes bei Martens und Adorno auch gewichtige Unterschie-
de zwischen ihren Theorien bestehen: Während nämlich für Adorno der exklusive
Status des Kunstwerkes gerade darin liegt, dass es die Destruktion eines eindeutigen
Sinns nachdrücklich offenbart, betont Martens die Notwendigkeit und Bedeutung des
Herausgebers/Rezipienten für die Schaffung eines solcherart selbstverständlich stets
kontingenten Sinns.84 Abgesehen von diesem zentralen Unterschied macht Adornos
Beschreibung des Kunstwerkes allerdings auch noch auf ein entscheidendes Manko

81 Adorno 1973, S. 200f.


82 Vgl. Adorno 2003b [1966], S. 164–168.
83 Adorno 1973, S. 266.
84 So wird für Martens die Erfassung des Textsinns überhaupt zur conditio sine qua non für den Editor,
wenn er feststellt: „[O]hne Sinnentwurf können die einzelnen ‚Buchstaben und Zeichen‘ auf dem Blatt
nicht gelesen und – vor allem – nicht als zugehörig zu einem (alle Einzelzeichen in sich vereinigenden)
Text festgestellt werden. Lesen als ein Wahrnehmen des Textes ist – aus der Sicht des Rezipienten –
nichts anderes als Sinnzuweisung“ (Martens 1991, S. 143).
1.1. Terminologische Grundlagen 29

von Martens Definition des Textes als komplexes und niemals fixierbares Zeichen
sowie seines daran anknüpfenden Werkbegriffes aufmerksam. In Martens Text- und
Werkverständnis scheint aufgrund der alles verschlingenden Dynamis insgeheim die
seine textkritischen Reflexionen anfänglich katalysierende Bedeutung der materiellen
Seite des Textträgers verloren zu gehen. Adorno hat diese Problematik auf den Punkt
gebracht: „Wortschrift und Notenschrift, einmal von außen gesehen, befremden
durch die Paradoxie eines Daseienden, das seinem Sinn nach Werden ist.“85 Wie ist
diese „Paradoxie“ für einen Ansatz wie den hiesigen, der für seine Textanalysen auch
die Materialität der den Text in seiner Dynamis konstituierenden Zeichen mitberück-
sichtigen möchte, aufzulösen? Die Art und Weise, in der diese Frage formuliert wurde,
verweist bereits auf deren Beantwortung: Zur Auflösung besagter „Paradoxie“ bedarf
es eines Textverständnisses, das aus rein heuristischen Gründen zwischen Text als
komplexem Zeichen und den materiellen Zeichenträgern unterscheidet. Ein solches
Textverständnis findet sich in den Arbeiten von Christian Stetter, die nun zur Ergän-
zung des von Martens übernommenen Text- und Werkbegriffes herangezogen werden
sollen.
Stetter entwickelt im Rahmen seiner Analyse des Verhältnisses von Sprache und
Schrift ein ‚Text‘-Modell, das sich einerseits problemlos in die Definition von Martens
integrieren lässt, andererseits jedoch die Möglichkeit bietet, die auch in Martens
Definition des Textes durch die Beachtung der paradigmatischen Ebene zwar präsen-
te, durch die Überbetonung der Dynamis jedoch ein wenig zurückgedrängte materiel-
le Dimension des Textes zu berücksichtigen. Im Zentrum von Stetters Studie steht die
Einsicht, dass „[e]rst die[ ] rekurisve Deutung der Sprache von der Schrift her […] den
Mythos erzeugt [hat], die Alphabetschrift repräsentiere den siginifiant, die Bilder- und
Figurenschrift dagegen den signifié“86. Dieser Mythos habe bis dato ein eingehende-
res Verständnis „für grundlegende Differenzen von sprachlichem und schriftlichem
Handeln“87 verhindert.
Im Zuge von Stetters Versuch der Revision dieses Mythos gelangt dieser in
Anknüpfung an die für seinen Ansatz grundlegende Differenz zwischen Sprechen und
Schreiben88 zur Unterscheidung von ‚Text‘ und ‚Textur‘: „Schreiben hat stets die Form

Zu den Unterschieden zwischen hermeneutischen Theorien der Sinnerfassung eines Kunstwerkes und
Adornos Negativitätsästhetik siehe Menke 2012 [1991].
85 Adorno 1973, S. 274.
86 Stetter 1999, S. 281.
87 Stetter 1999, S. 282.
88 Mit dieser für seine Studie zentralen Differenz beschäftigt sich Stetter bereits in ihrem ersten
Kapitel: Der wesentliche Unterschied zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort besteht für ihn
in der Tatsache, dass die beiden dem sie handhabenden Subjekt unterschiedliche Handlungsmodi
eröffnen (vgl. Stetter 1999, S. 27ff.): „Orale Kommunikation ist konstitutiv daran gebunden, daß
Sprecher und Hörer sich in ihr zugleich mit dem Gesagten über die Gelingensbedingungen dieses
Handelns verständigen.“ (Stetter 1999, S. 29) Diese Eigenheit der oralen Kommunikation führt zugleich
dazu, dass in einer von Sender und Empfänger gemeinsam gesprochenen Sprache „jede mögliche
30 1.1. Terminologische Grundlagen

der Konstruktion eines Textes, und diese besteht in der Verknüpfung von
Elementen – Wörtern, Sätzen, sonstigen Zeichen – zu einer Textur. Text ist dasjenige,
was geschrieben und verstanden wird, die Textur das, was geschrieben ist und
gelesen wird.“89
Durch die Einführung dieser Begrifflichkeit wird es möglich, eindeutig zwischen
der textuellen Ebene des primär syntagmatisch zu ermittelnden Sinns – also der aus
dem Text durch das Verstehen der sinnkonstituierenden Zeichen zu erfassenden
Bedeutung(en) – und des diesen tragenden Mediums zu unterscheiden. Zugleich
erlaubt die Textur eines Textes, die an ihr vollzogenen Handlungen nachzuvollziehen:
„Eine Fülle verschiedenartigster Schreibhandlungen werden zu diesem Zweck an oder
‚über‘ ihr [= der Textur; A.P.] vollzogen: durchstreichen, umstellen, korrigieren,
ergänzen, alles Operationen, die in der Arbeit an den einzelnen ‚Formen‘ die spezi-
fische Gestalt herstellen.“90
Durch den Blick auf die am Überlieferungsträger vollzogenen Überarbeitungs-
prozesse ermöglicht die Textur qua Kontrastierung der aus dem Schreibprozess
herauslösbaren unterschiedlichen Textstufen den Nachvollzug jener paradigmati-
schen Polyvalenz, von der auch bei Martens die Rede ist. Wichtig ist nun aber fest-
zustellen, dass es sich bei der soeben erfolgten Differenzierung zwischen ‚Text‘ und
‚Textur‘ um eine bloß heuristische handelt: Wie nicht zuletzt die jüngere Medien-
theorie regelmäßig betont hat,91 kommt es zu fundamentalen semantischen Synergien

perspektivische Differenz in der Auffassung des Artikulierten hinfällig [werde]. […] Zeichen gelungener
Verständigung kann je nur sein, daß beide darin übereinkommen, daß nichts anderes als das und das
gemeint und verstanden worden war“ (Stetter 1999, S. 35). Dies ändere sich alles mit und in der Schrift:
„Die Distanz zwischen der Person und ihrem Wort, in oraler Kommunikation nur als besondere Form
und in begrenzter Weise herstellbar, wird zum universellen Modus der Kommunikation“ (Stetter 1999,
S. 41).
89 Stetter 1999, S. 294. – Aus dieser insbesondere in Bezug auf den Text etwas unglücklichen
Definition – Stetter hätte besser nur ‚Text ist dasjenige, was verstanden wird‘ geschrieben – geht
hervor, dass er Text ähnlich wie Reuß versteht, also als die von ihrer jeweiligen Materialität unabhän-
gige Sinnebene eines Sprachgebildes.
90 Stetter 1999, S. 296.
91 Wie bei einem derartig aktuellen und omnipräsenten Forschungsfeld wie der Medientheorie und
Medienphilosophie nicht anders zu erwarten, ist die soeben wiedergegebene Auffassung vom Medium
als dem die von ihm vermittelte Information bedingt beeinflussenden Träger nicht unumstritten. Dieser
These, die laut Stefan Münker bereits in Nietzsches berühmtem Satzkolon „unser Schreibzeug arbeitet
mit an unseren Gedanken“ (KGB III/1, Bf. 202; vgl. auch Münker 2008, S. 329f., insbesondere Fuß-
note 26) reflektiert wird und auch von anderen diskurslenkenden Autoren wie z.B. Marshall McLuhan
vertreten wird, ist ebenso häufig von anderen, ebenfalls nicht minder diskurslenkenden Repräsentan-
ten (Michel Serres, Régis Debray) der Medienwissenschaften widersprochen worden. Münker geht in
dem soeben zitierten Aufsatz sogar soweit, festzustellen, dass jenseits der trivialen Bestimmung eines
Mediums als dasjenige etwas, welches „im Zuge der Informationsübermittlung zwei in ihrer Funktion
voneinander unterschiedene Pole miteinander in Beziehung“ (Münker 2008, S. 323) setzt, „jeder
Konsens auf[höre]“ (Münker 2008, S. 323). Einen Ordnungsversuch der verschiedenen medientheoreti-
schen Ansätze bietet Sybille Krämers Beitrag im selben Band (vgl. Krämer 2008, S. 65–90).
1.1. Terminologische Grundlagen 31

zwischen dem Medium und der von ihm transportierten Botschaft, wobei – im Falle
des Buches – die Textur als ein zentraler Bestandteil dieser Medialität regelrecht als
Bedingung der Möglichkeit des Textes verstanden werden kann. Sie spielt bei der
eigentlichen Sinnkonstitution, die selbst immer erst im Akt des Lesens erfolgt, eine
ebenso wichtige Rolle wie die in ihr vorliegenden, nach einem konventionellen
Schema deutbaren Schriftzeichen. Insofern ist der zuvor von Gunter Martens über-
nommene Textbegriff durch die Übernahme des Stetter’schen Begriffs der Textur
folgendermaßen zu erweitern: Text ist ein komplexes Zeichen, ein dynamischer
Strukturzusammenhang von Zeichenträger(n), Interpretant (Textur) und Zeichen-
objekt (Sinn), dessen dynamischer Charakter nur temporär durch den autoritär(-inter-
pretativ)en Eingriff des Verfassers, Editors oder Rezipienten zum Stillstand gebracht
werden kann.
Des Weiteren ist zu beachten, dass im Falle eines Buches dessen Medialität nicht
nur in der Materialität der Textur besteht. Zu dieser zählen ebenso die Beschaffenheit
des sie speichernden Papiers sowie sämtliche weiteren materiellen Eigenschaften wie
Einband, Bindung, verwendete Typographie usf. Dieser Sachverhalt soll hier mit Hilfe
eines medientheoretischen Beitrages von Uwe Wirth eingehender erläutert werden.
Dieser zeigt in seinem „Die Frage nach dem Medium als Frage nach der Vermitt-
lung“ betitelten Aufsatz ausgehend vom Vorwort des Kursbuch Medienkultur, dass in
der Medientheorie die Frage nach dem Wesen des Mediums zunehmend durch die
Frage nach dessen Funktion ersetzt wird.92 Dabei referiert er auch die häufig vor-
gebrachte These, „dass Medien im Akt der Übertragung dasjenige, was sie übertragen,
zugleich mitbedingen und prägen“93.
Über das in der Medientheorie weitverbreitete Briefbeispiel gelangt Wirth zu
seiner Beschreibung des sogenannten postalischen Dispositivs, verstanden „als ein
für Sender, Empfänger und Briefträger gemeinsames Wissen um die Rahmenbedin-

Die medientheoretische Debatte spiegelt zugleich in ihrer Grundsatzentscheidung, ob das Medium die
Botschaft beeinflusst oder nicht, die beiden grundlegenden Positionen der gegenwärtigen Philosophie
des Geistes wieder, wie man im Anschluss an einen Aufsatz von Ludwig Jäger (vgl. Jäger 2004) zeigen
kann. Dieser unterscheidet in Betreff der beiden Positionen zur Medien- bzw. – um das für die
Philosophie Geistes relevante Medium zu nennen – Sprachabhängigkeit unseres Denkens bzw. des
Mentalen zwischen einer semiotischen Position, welche eine derartige Abhängigkeit verneint, und
einer semiologischen Position, welche das Gegenteil behauptet: „Die kommunikativ/semiotische Kon-
zeption beschränkt das Zeichen auf den Zeichenausdruck, den Signifikanten, der ausschließlich der
sekundären Repräsentation präsprachlicher Inhalte dient, wobei diese vom Prozeß der Semiose
unabhängig sind, während die kognitiv/semiologische Zeichenidee das Zeichen als das Ganze von
Inhalt und Ausdruck derart auffaßt, daß auch der Inhalt eine Funktion des Ausdrucks darstellt“ (Jäger
2004, S. 21).
92 Vgl. Wirth 2008, S. 222f. sowie das Kursbuch Medienkultur selbst: Engell/Fahle/Neitzel/Pias/Vogl
1999.
93 Wirth 2008, S. 223.
32 1.1. Terminologische Grundlagen

gungen der Briefkommunikation, das sowohl den Prozess der Übertragung als auch
den Prozess der Entstehung dessen, was übertragen wird, prägt“94.
Dieses Medienverständnis, bei dem es zu einer Gleichsetzung von Medien- und
Kommunikationsprozess kommt,95 wird von Wirth im nächsten Schritt alternativen
Medienauffassungen – von Autoren wie Fritz Heider, Niklas Luhmann und Marshall
McLuhan – gegenübergestellt. Durch die Auseinandersetzung mit Heider gelangt
Wirth schließlich über eine Beschäftigung mit jenem eigentümlichen ‚Zwischen‘ – to
metaxy96, das zwischen Zeichenträger als Vermittler und dem auf diesem entstehen-
den Vermittelten entsteht – zu folgender Zwischenkonklusion:

Hier offenbart sich eine bemerkenswerte Differenz zwischen der Materialität der Vermittlung und
der Materialität des Vermittelten. Die Materialität der Vermittlung wirkt sich auf die Bewegung
der prägenden Übertragung aus und wirkt dergestalt als prägende Kraft im Prozess der Über-
tragung auf das Vermittelte ein. Die Materialität des Vermittelten prägt dagegen bereits die
Entstehung des Vermittelten – und wirkt von dort ausgehend auf den Prozess der Vermittlung
ein.97

Wirth beschreibt hier aus einer medientheoretischen Perspektive genau jene reziproke
Interaktion zwischen Medium und Mediation, deren Auswirkung auf die philo-
sophische Argumentation auch diese Studie überprüfen möchte. Folgt man Wirth in
seinen Ausführungen und führt diese mit dem bisher entwickelten Textbegriff zusam-
men, bedeutet dies, dass die semantische Dimension eines Textes, verstanden als
komplexes dynamisches Zeichen, folgendermaßen konstituiert wird: einerseits durch
die den jeweiligen Text konstituierenden Medien, also dem Buch bzw. die die Varian-
ten (‚Vorstufen‘) zu diesem beinhaltenden Autographen, sowie durch die für diese
Medien charakteristischen Konstitutions-, Bearbeitungs- und Distributionsbedingun-
gen, welche sich direkt auf ihre Textur auswirken, andererseits durch das Sinnpoten-
tial der auf diesem Medium transportierten konventionellen Schriftzeichen. Wirth
drückt dies im Rückgriff auf Peirce folgendermaßen aus: „Die mediale Modulation
betrifft den zwischen Objekt und Zeichen gelegenen Raum der Vermittlung (Medium),
der als gemeinsamer Grund durch ein tonales Dispositiv konfiguriert ist und im Voll-

94 Wirth 2008, S. 224.


95 Vgl. Wirth 2008, S. 225.
96 Zum Begriff ‚Metaxy‘ (gr. τὸ μεταξύ), den Aristoteles von Demokrit entlehnt hat und der in etwa als
„das (Da)Zwischenliegende“ zu übersetzen ist, siehe Hagen 2008, S. 13–29. Hagen folgt in diesem
Aufsatz den Ursprüngen des Medienbegriffs und zeigt im Anschluss an Arbeiten von Leo Spitzer und
Walter Seitter, dass es sich bei diesem Terminus um eine Interpolation von Thomas von Aquin in jener
Übersetzung handelt, die er 1267/1268 von Aristoteles Peri psyches (De Anima) erstellt hat. Dort kommt
der Begriff in der Bedeutung, die ihm Thomas von Aquin gegeben hat, gar nicht vor, sondern wird von
Aristoteles sogar tunlichst vermieden – er spricht explizit vom anonymon. Hagen schließt daraus:
„Genauer besehen erweist sich der Begriff ‚Medium‘ somit als ein wahres Großkonzept der Durch-
setzung christlich-abendländischer Metaphysik“ (Hagen 2008, S. 28).
97 Wirth 2008, S. 227.
1.1. Terminologische Grundlagen 33

zug seiner interpretativen Vermittlung (Mediation) eine rekonfigurierende Modulation


erfährt.“98
Nachdem nun ein heuristisches Textverständnis, das auch die Materialität des
diesen tragenden Mediums berücksichtigt, gestiftet wurde, gilt es sich jener zweiten
Dimension zuzuwenden, die in der Stetter’schen Differenzierung zwischen Textur und
Text zu finden ist: die, ebenfalls nur heuristisch fixierbare, Ebene des eigentlichen
Sinngeschehens. In Hinblick auf diese Textebene, die in dieser Studie stets in ihrem
Bezug auf die Textur bzw. das Medium bedacht werden wird, gilt es zwei weitere
Begriffe zu klären. Dabei handelt es sich um die Termini ‚Literarizität‘ und ‚Darstel-
lungsform‘, welche in der diese Studie leitenden Fragestellung nach Bedeutung und
Funktion materiell-textueller und ästhetisch-literarischer Mittel im philosophischen
Denken eine zentrale Rolle spielen.
Diejenigen Leser, die bereits an diesem Punkt eine Auseinandersetzung mit der
brisanten Frage nach dem (Gattungs-)Unterschied von ‚Philosophie‘ und ‚Literatur‘
erwarten, werden wohl verwundert sein, wenn hier darauf noch verzichtet wird.99
Umso größer mag diese Verwunderung sein, wenn man bedenkt, dass in der Fra-
gestellung dieser Arbeit die Existenz besagten Unterschiedes einerseits in einem
ersten Schritt schlichtweg vorausgesetzt zu werden scheint, um andererseits im
nächsten Schritt indirekt wieder unterlaufen zu werden. Fragt man nämlich nach der
philosophischen Bedeutung literarisch-ästhetischer Mittel in philosophischen Studi-
en, heißt dies ja, dass es 1.) eine Forschungsrichtung (bzw. Schreibgattung) gibt, die
den Namen Philosophie trägt, und diese Gattung sich 2.) normalerweise nicht litera-
risch-ästhetischer Darstellungsformen bedient.100
Der Grund, warum hier dennoch auf einen Eingriff in die seit Platon regelmäßig
wiederkehrende Debatte um den vermeintlichen Gattungsunterschied von Philoso-
phie und Literatur verzichtet wird, ist folgender: Im Hintergrund der sich in dieser
Fragestellung manifestierenden später noch eingehender reflektierten Präsuppositio-
nen steht die von der bisherigen abendländischen Geistesgeschichte gestützte Ver-
mutung, dass es eine finale – sprich: essentialistische – Unterscheidung zwischen

98 Wirth stellt dies in seinem Aufsatz jedoch nicht als gesicherten Sachverhalt dar, sondern als eine
noch zu überprüfende Forschungsaufgabe, die sich an folgender Frage orientiert: „Wie transformiert
[…] der interpretative Prozess der Mediation die physikalische Konfiguration des Mediums?“ (Wirth
2008, S. 233)
99 Siehe dazu jedoch das Kapitel 3.1.
100 Aus der soeben erfolgten Verwendung des Begriffes der Darstellungsform lässt sich auch eine
erste ‚Definition‘ desselben ableiten. Der Begriff wird hier und im Folgenden in Analogie zur ‚Schreib-
weise‘ verwendet und bezeichnet die Präsentationsform eines Textes, also die formale Organisation
seines (Sprach-)Materials, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Folgen für das von einem Text
realisierte Sinngeschehen zeitigt. Literarisch-ästhetische Darstellung bzw. Darstellungsform wird dem-
entsprechend nicht im Sinne von Nachahmung als Mimesis verstanden. Zur Begriffsgeschichte von
‚Darstellung‘ und ‚Darstellungsform‘ siehe einführend Schlenstedt 2010 und Urbich 2012, S. 401–454.
34 1.1. Terminologische Grundlagen

den Schreibgattungen ‚Philosophie‘ und ‚Literatur‘ nicht gibt.101 Dies ist jedoch nicht
als eine Zustimmung zu der von so manchen Philosophen so gefürchteten Einebnung
des Gattungsunterschiedes von Philosophie und Literatur zu verstehen. Deren allein
in der Existenz von philologischen und philosophischen Seminaren innerweltlich
offensichtlich werdende Differenz scheint eher das historisch kontingente Resultat
komplexer diskursiver Praktiken zu sein als die Folge der Existenz zweier seit jeher
gegebener, vollständig ineinander unübersetzbarer Schreibweisen. Diese diskursiven
Praktiken bestimmen sowohl den Produktionsprozess als auch das Rezeptionsverhal-
ten der Leser. Aus dieser Auffassung folgt, dass die Unterscheidung zwischen den
beiden Gattungen in verschiedenen historischen Epochen nach pragmatischen Krite-
rien erfolgt, die sich mit diesen verändern,102 was jedoch nicht dazu führen muss,
dass eine Schreibpraxis, die in einer bestimmten Epoche als charakteristisch für die
eine Gattung erachtet wird, in der selben Epoche nicht auch in anderen Gattung
Verwendung finden kann. Genau dieses Vorgehen, d.h. der Einsatz eigentlich gat-
tungsfremder Methoden, soll im Rahmen dieser Studie freigelegt und textnah in
Hinblick auf seine philosophische Funktion und Bedeutung analysiert werden.
Was bedeutet das für den hier zu bestimmenden Begriff der ‚Literatur‘ bzw. der
‚Literarizität‘? Anstatt sich an die mühselige Arbeit der Rekonstruktion der gegen-
wärtig gültigen pragmatischen Kriterien der ‚Literarizität‘ zu machen, werden im

101 Dies scheint auch das Resultat der jüngeren Diskussion über das Verhältnis von Philosophie und
Literatur zu sein, deren letzter Höhepunkt durch die Auseinandersetzung von Jürgen Habermas mit
dem französischen Neostrukturalismus und der US-amerikanischen ‚dekonstruktivistischen‘ Literatur-
kritik katalysiert wurde (vgl. Habermas 2001 [1985], S. 219–247). Eine präzise Synopse dieser Debatte
bietet Christoph Demmerling im einleitenden Kapitel eines Aufsatzes zu Richard Rortys Verständnis
von Philosophie als eine literarische Kultur (vgl. Demmerling 2001, S. 328–333). Dort zeigt er, dass es
weder den Befürwortern noch den Gegnern einer Einebnung des Gattungsunterschiedes von Philo-
sophie und Literatur gelungen ist, dafür allgemeingültige Kriterien zu finden oder gar die Gleichwertig-
keit der beiden Schreibweisen zu beweisen. Laut Demmerling stellen die erarbeiteten Differenzierun-
gen ausschließlich Kriterien zur Verfügung, welche es erlauben, bestimmte Fälle von literarischen
Texten von bestimmten Fällen philosophischer Texte zu unterscheiden. Das gilt für die bereits klassi-
sche Unterscheidung durch den Begriff der Fiktionalität, die Differenzierung durch das grammatische
Gegensatzpaar Satz/Text, nach dem Ersterer ein Primat in der Philosophie, Letzterer hingegen ein
Primat in der Literatur innehabe, sowie für die von der Sprechakttheorie geschaffene Unterscheidung
von Texten durch die Differenzierung in eine Gruppe mit tatsächlichen und eine andere Gruppe mit
bloß virtuellen Wahrheits- und Geltungsansprüchen.
Einen hervorragenden Einstieg in die aktuellen Debatten über den ‚Literatur‘-Begriff, der letzt-
endlich auch in einem pragmatischen Verständnis desselben mündet, bietet Janis/Lauer/Fontanidis
2009. Bereits im Rahmen des Nachvollzugs der Begriffsgeschichte wird dabei die allgemeine Tendenz
betont, dass „[d]er Literaturbegriff […] meist nicht mehr unter Rekurs auf spezifische Texteigenschaf-
ten oder rein semiotische Operationen erläutert [werde], sondern mit Bezug auf Funktionen, situative
Kontexte oder Praktiken, in denen die Texte verwendet werden“ (Janis/Lauer/Fontanidis 2009, S. 11).
Letztendlich folgt auch die vorliegende Studie in ihrer Bestimmung literarisch-ästhetischer Dar-
stellungsformen einem pragmatischen Literaturverständnis.
102 Vgl. Searle 1982, S. 81; Demmerling 2001 und Krah 2006, S. 34f.
1.1. Terminologische Grundlagen 35

Rahmen dieser Untersuchung diejenigen Darstellungsmittel als literarisch-ästhetische


Elemente bezeichnet, die seit jeher von dominierenden Denkrichtungen der abend-
ländischen Philosophie aus dieser zu verbannen versucht worden sind.103
Dazu zählt als Erstes der Einsatz rhetorischer Figuren und Tropen. Seit Platons
Zurückweisung der Rhetorik im Zuge seiner moralisch bedingten Sophistenkritik in
den Dialogen Gorgias und Phaidros ist immer wieder versucht worden, Rhetorik und
Philosophie gegeneinander auszuspielen. So lautet die weitverbreitete Standardlektü-
re von Platons Gorgias, dass nach diesem Dialog die Rhetorik „keine wirkliche Kunst
[sei], da sie nicht auf wissenschaftlicher Theorie, dem Erkennen des Wahren beruhe,
sondern nur auf empirischer Beobachtung“104. Der daraus folgende Ausschluss der
Rhetorik aus der Philosophie ist in der abendländischen Geistesgeschichte ebenso oft
bestätigt wie unterlaufen worden. Bekannt sind insbesondere neo- und poststruk-
turalistische Verabsolutierungen wie Paul de Mans Feststellung, dass „Rhetorik die
radikale Suspendierung der Logik [sei] und [….] schwindelerregende Möglichkeiten
referentieller Verirrung“105 eröffne.
Ohne an dieser Stelle bereits in diesen jahrtausendealten Konflikt einzugreifen,
werden im Rahmen dieser Studie im untersuchten Text nachgewiesene rhetorische
Figuren und Tropen in ihrem jeweiligen Kontext auf ihre dort gegebene Funktion hin
zu überprüfen sein.
Für ein literarisches Schreiben nicht minder bedeutsam als der Einsatz von Kunst-
griffen der Rhetorik sind die sogenannten Auto- oder Selbstreferenzen, die seit der
Romantik unter dem Begriff der Potenzierung zusammengefasst werden und spätes-
tens seit Russells Typentheorie zum großen Ärgernis logisch-empirischer Ansätze in
der Philosophie geworden sind.106 Die formale Vielfalt derartiger Potenzierungen

103 In der hier nun folgenden ersten Darstellung besagter literarisch-ästhetischer Elemente werden
diese primär nur aufgelistet, nicht jedoch in ihrer Funktion bestimmt. Die Funktionsbestimmung
derselben wird jedes Mal anhand ihrer individuellen Verwendung in einem ebenso individuellen Text
unter Einbeziehung von dessen materieller Grundlage und medialer Struktur sowie der von ihm selbst
nahegelegten relevanten Kontexte erfolgen. Zu einer Erweiterung des hier gelieferten Verständnisses
der literarisch-ästhetischen Darstellungsform im Zuge der Beschäftigung mit den hier noch vernach-
lässigten aktuellen Debatten kommt es im 3. Teil der vorliegenden Studie.
104 Vgl. Groddeck 2008 [1995], S. 35. – Groddeck verweist dort mit Nachdruck auf die „Vereinfachung
geistesgeschichtlicher Konstellationen“ durch die Gegenüberstellung von platonischer Philosophie
und sophistischer Rhetorik durch den „Gegensatz von Wahrheitsethos und Wahrscheinlichkeitsoppor-
tunismus“ (Groddeck 2008 [1995], S. 35).
105 De Man 1988b [1979], S. 40.
106 Bei Russells Typentheorie handelt es sich um die Auflösung einer mengentheoretischen Antino-
mie, die auch eine zentrale Rolle für Wittgensteins Unterscheidung von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ im
Tractatus spielt, nämlich um das Problem, dass die Klasse aller Klassen sich selbst als Element enthält.
Russells Lösung bestand in der Einführung einer beschränkten Syntax, nach der eine Klasse stets von
einer höheren Stufe als die in ihr enthaltenen Elemente zu sein habe.
Siehe dazu auch Jean-Françios Lyotards Exkurs zu Protagoras und dem Paradoxon in: Lyotard
1989, S. 21–24. Lyotard schreibt dort über das Paradoxon im Allgemeinen und Russells Typentheorie
36 1.1. Terminologische Grundlagen

spiegelt sich nicht zuletzt in der bis heute noch sehr indifferenten Bezeichnung
besagter Selbstbezüglichkeiten wieder. So trifft man in der Forschung neben den
bereits erwähnten Termini ‚Auto-‘ und ‚Selbstreferenz‘ auch noch auf die Ausdrücke
‚Rekursivität‘, ‚Iteration‘, ‚Mise en abyme‘ und ‚Metareferenz‘. Folgt man Harald Fri-
ckes Artikel zur ‚Potenzierung‘ im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaften,
können die verschiedenartigen Fälle auf zumindest zwei Hauptarten der Potenzierung
zurückgeführt werden. Dazu zählt (1) die ‚gestufte Iteration‘, von der man spricht,
wenn „eine Zeichenrelation auf höherer Stufe gleichartig oder ähnlich wiederholt
wird“107. Die zweite Art ist die sogenannte ‚paradoxe Iteration‘, bei der „[u]nter Ver-
letzung der logischen ‚Typentheorie‘ […] eine Zeichenrelation auf höherer Stufe
gleichartig oder ähnlich auf dieselbe Stufe zurückprojiziert“108 wird.
Formallogisch handelt es sich bei der letztgenannten Form um einen klassischen
Selbstwiderspruch, welchen die zweiwertige Logik als die Konjunktion eines Aussage-
satzes mit seiner eigenen Negation definiert und dessen klassisches Beispiel das
berühmte Lügnerparadox des Eubulides ist.
Um die begriffliche Verwirrung nicht noch weiter zu vermehren, wird diese Studie
ausschließlich jenem Begriffsapparat folgen, den Werner Wolf 2007 in einem „Metai-
sierung als transgenerisches und transmediales Phänomen: Ein Systematisierungs-
versuch metareferentieller Formen und Begriffe in Literatur und anderen Medien“
betitelten Aufsatz entwickelt hat und ansonsten, d.h. im Falle noch nicht eindeutig
definierter Fälle von Selbstbezügen, schlichtweg von Selbstbezüglichkeit sprechen.
Wolf unterscheidet in seinem Aufsatz zwischen drei Arten der Metaisierung109: Deren
gängigste Form ist die ‚Selbstreferenz‘, d.i. der „Bezug eines semiotischen Elements
(oder Systems) auf sich selbst oder zu einem anderen (ähnlichen oder identischen)
innerhalb desselben Systems“110. Diese Form der Selbstreferenz ist weiter zu differen-
zieren in die Formen des ‚selbstreferentiellen Verweisens‘ und ‚selbstreferentiellen

im Besonderen: „Der Satz, dessen Referent alle Sätze ist, darf nicht Teil seines Referenten sein. Sonst
ist er ‚schlecht‘ gebildet und wird vom Logiker zurückgewiesen. […] Das russellsche Typen-Axiom ist
eine Regel zu Bildung logischer Sätze (Propositionen). Es umschreibt eine Diskursart, die Logik,
mittels deren Zweckbestimmung: nämlich die Wahrheit eines Satzes zu entscheiden. Das [… Parado-
xon] ist in der Logik nicht akzeptabel, da es einem diese Entscheidung versagt. Ist es in einer anderen
Diskursart akzeptabel?“ (Lyotard 1989, S. 22f.)
Eine Diskursform bei der von Anschluss nicht die Rede sein kann – die also zugleich als eine
Antwort auf Lyotards wohl bloß rhetorische Frage gesehen werden kann –, ist die Literatur, in welcher
neben dem rhetorischen Paradox auch das logische Paradox regelmäßig Verwendung findet.
107 Fricke 2007c, S. 144.
108 Fricke 2007c, S. 144.
109 Metaisierung selbst bedeutet laut Wolf „im Kontext der Literatur und anderer Medien das
Einziehen einer Metaebene in ein Werk, eine Gattung oder ein Medium, von der aus metareferentiell
auf Elemente oder Aspekte eben dieses Werkes, dieser Gattung oder dieses Mediums als solches
rekurriert wird“ (Wolf 2007, S. 31). Bei derartigen Metaisierungen kann es sowohl zu Formen der
gestuften als auch der paradoxen Iteration kommen.
110 Wolf 2007, S. 39.
1.1. Terminologische Grundlagen 37

Bedeutens (= Selbstreflexivität)‘. Zum selbstreferentiellen Verweisen zählen so gängi-


ge Phänomene wie die Selbstbezüglichkeit von Reflexivpronomen aber auch Ver-
fahren, die Roman Jakobson unter den Begriff der ‚poetischen Funktion‘ subsumiert
hat wie die Repetition von Reimen oder das sogenannte ‚foregrounding‘.111 Im Gegen-
satz dazu spricht man von selbstreferentiellem Bedeuten bzw. Selbstreflexivität im
Falle einer „Selbstreferenz, bei der Elemente eines Systems über andere desselben
Systems oder das System insgesamt oder Aspekte desselben eine Aussage enthalten
und die Rezipienten zu entsprechender Reflexion veranlassen“112. Einen Spezialfall
der Selbstreflexivität bildet die Metareferenz,

bei der innerhalb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen […] über dieses
System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden. Dergleichen
Metaaussagen setzen das Bewußtsein von der Natur des Aussageobjektes […] als (Teil) eines
semiotischen Systems voraus. Bei medialen Systemen bedeutet dies, dass sich die Metareferenz
regelmäßig auf deren ‚Fiktionalität‘ im Sinne des medialen Artefaktcharakters […] bezieht113.

In Anknüpfung an seinen 1993 erfolgten Versuch der Binnendifferenzierung der


Metafiktion114 – so der Name für Metareferenzen in Erzähltexten – unterscheidet Wolf
folgende vier Unterformen der Metareferenz, die Oppositionspaare bilden:
– werkinterne vs. werkexterne Metareferenz
– explizite vs. implizite Metareferenz
– Fictio- vs. Fictum-Metareferenz115
– kritische vs. nichtkritische Metareferenz

111 Vgl. Wolf 2007, S. 32f.


112 Wolf 2007, S. 39.
113 Wolf 2007, S. 38f.
114 Vgl. Wolf 1993 und Wolf 2008, S. 487f., wo Wolf die Metafiktion bestimmt als den „(Teil) einer
Erzählung, die von Metafiktionalität, einer Sonderform von Metatextualität und damit von literar.
Selbstreferentialität […] geprägt ist. Metafiktional sind selbstreflexive Aussagen und Elemente einer
Erzählung, die nicht auf Inhaltliches als scheinbare Wirklichkeit zielen, sondern zur Reflexion ver-
anlassen über Textualität und ‚Fiktionalität‘“.
115 Während die Nomenklatur der anderen drei Formen der Metareferenz für sich selbst spricht,
handelt es sich bei der Unterscheidung von Fictio- und Fictum-Metareferenz um zwei von Wolf selbst
geprägte Termini. Bei der Fictum-Metareferenz ist der Inhalt der Referenz diese selbst, während bei der
Fictio-Metareferenz „sonstige mit der Medialität bzw. Gemachtheit des Werkes oder einer Werkgruppe
zusammenhängende Aspekte“ (Wolf 2007, S. 45) Gegenstand der Referenz sind. Ein anschauliches
Beispiel für den direkten Übergang von Fictio- zur Fictum-Metareferenz bieten die berühmten Sätze aus
dem Kapitel „Von den Dichtern“ im zweiten Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra. Dort liest man
folgende Figurenrede des titelgebenden Protagonisten: „Doch was sagte dir einst Zarathustra? Dass die
Dichter zuviel lügen? – Aber auch Zarathustra ist ein Dichter.“ (ZA II Dichtern, KGW VI/1, S. 159) Das
Beispiel zeigt zugleich die Problematik der ‚Meta-‘Vorsilbe im Begriff der Metareferenz: Ob an einer
Stelle wie der soeben zitierten tatsächlich verschiedene Ebenen – wenn auch nur heuristisch – rekon-
struierbar sind, erscheint mehr als fragwürdig. Eindeutig handelt es sich hier hingegen um einen Fall
des performativen Widerspruchs, der eintritt, „wenn eine konstative Sprachhandlung ‚Kp‘ auf nicht-
38 1.1. Terminologische Grundlagen

In Anbetracht der sprachphilosophischen Grundannahmen der hier später verhandel-


ten Götzen-Dämmerung wird zu überprüfen sein, ob derartige Metareferenzen in
besagtem Buch überhaupt möglich sind, oder ob die von Wolf beschriebenen Unter-
formen ohne die heuristische Konstruktion einer Ebenendifferenz, d.h. also als Unter-
formen der Selbstreflexion, zu bestimmen sein werden. Außerdem ist darauf hin-
zuweisen, dass das Meta-Präfix im Folgenden primär bloß in einem narratologisch-
deskriptven nicht jedoch in einem kognitiven Sinne zur Beschreibung intratextueller
Phänomene der Selbstbezüglichkeit verwendet wird. Welcher kognitive Status diesen
Phänomenen im Textgeschehen der Götzen-Dämmerung zukommt, wird erst am Ende
diese Studie erörtert werden (vgl. Kap. 3.2.). Die Tatsache, dass der von Wolf weiter
ausdifferenzierte Begriffsapparat seinen Ursprung in der Erzähltextanalyse bzw. der
Narratologie hat, die sich selbst wiederum primär aus der Beschäftigung mit Texten
aus dem späten 19. Jahrhundert entwickelt hat, legt die Vermutung nahe, dass er bei
der Analyse von ‚Metaisierungs‘-Phänomenen in philosophischen Texten nicht un-
eingeschränkt greifen wird. Ob dies tatsächlich so ist, kann jedoch erst die eigentliche
Textanalyse zeigen.
Abschließend möchte ich die soeben erfolgte Begriffsarbeit noch einmal zusam-
menfassen. Dafür bietet sich die Einführung eines Oberbegriffes für das mit diesen
Begriffen zu bearbeitende Feld an. Aufgrund der zentralen Stellung, die innerhalb des
skizzierten Untersuchungsfeldes die Textualität innehat, bietet sich dafür der bereits
in der Einleitung eingeführte Terminus ‚Textologie‘ an. Dieser stammt ursprünglich
aus der osteuropäischen Editionstheorie und bezeichnete dort jene Richtung, die im
Rahmen ihrer editorischen Bemühungen einen eindeutigen Fokus auf die Entste-
hungsbedingungen eines Textes bzw. Werkes gelegt hat. In Erweiterung dieser ur-
sprünglichen Bedeutung sowie in Anknüpfung an die Überlegungen der Arbeitsgrup-
pe „Textologie“ verstehe ich hier unter ‚Textologie‘ eine Forschungsrichtung, die sich
der Analyse verschiedener Texte – verstanden als komplexe und dynamische
Zeichen – sowie der Bedeutungsgenerierung innerhalb dieser Texte unter besonderer
Berücksichtigung von deren Materialität und der von dieser getragenen und im Zu-
sammenspiel von Medium (Textur) und Mediation generierten literarisch-ästheti-
schen Darstellungsformen, d.s. insbesondere die Verwendung rhetorischer Tropen
und Figuren sowie der strategische Einsatz von Metaisierungen, widmet. ‚Textologie‘
bezeichnet hier also nur das Untersuchungsfeld bzw. die Blickrichtung auf einen
bestimmten, von diesem Blick mitkonstituierten Text, nicht jedoch die zur eigentli-
chen Analyse herangezogene Lektüremethode. Diese ist stets aufs Neue im kritischen
Dialog mit dem Untersuchungsgegenstand sowie unter Einbezug der in diesem Dialog
geschaffenen philosophischen Präsuppositionen zu entwickeln.

kontingenten Voraussetzungen beruht, deren propositionaler Gehalt der Aussage ‚p‘ widerspricht“
(Habermas 2002 [1983], S. 163).
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des
philosophischen Schreibens

Das im vorigen Kapitel ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte Phänomen der
Textualität entbehrt in seiner Weitläufigkeit jeglichen Fingerzeiges auf eine konkrete
texthermeneutische Methode, mit deren Hilfe man sich adäquat der Frage nach der
Bedeutung derselben sowie der ästhetischen Darstellungsform(en) in einem philoso-
phischen Text zuwenden könnte, da sich ein solcher in seiner Textualität primär von
keiner anderen der geläufigen Textsorten unterscheidet. Dennoch führt der Fokus auf
dieselbe zu einer nicht zu unterschätzenden Einschränkung des deutenden Zugriffs:
Der Textualität eine Bedeutung für das philosophische Denken zuzugestehen, impli-
ziert bereits eine erste gewichtige texthermeneutische Entscheidung im Umgang mit
philosophischen Texten. Dieser Fokus verweist auf die Annahme, dass der Gehalt
dieser Texte primär an die in ihrer Textur materialisierte Zeichenfolge gebunden ist,
woraus folgt, dass man versuchen wird, diesen zuallererst über den lesenden Nach-
vollzug derselben zu erfassen. Texthermeneutisch bedeutet das eine Bevorzugung des
einzelnen Textes bzw. Werkes gegenüber sämtlichen für dessen Sinngeschehen po-
tentiell aufschlussreichen Kontexten wie der Autorintention, der Geistes-, Kultur- oder
Philosophiegeschichte.
Diesem Fokus liegt somit zugleich die Annahme zugrunde, dass ein Text bzw.
Werk sämtliche der für ihren semantischen Gehalt relevanten Indikatoren in sich
tragen. Diese Annahme mag zunächst wie ein Rückfall in ein in den aktuellen Kultur-
und Literaturwissenschaften überwundenes Text-, Semantik- und Literaturver-
ständnis wirken, scheint sie doch jenes Autonomiepostulat zu reaktualisieren, das
gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstmals ausformuliert worden ist und seinen letzten
literaturwissenschaftlichen Höhepunkt im Ansatz der Werkimmanenz gefeiert hat.116

116 Die Werkimmanenz partizipiert derartig an jenem Autonomieverständnis der modernen Ästhetik,
das, wie jüngst Jan Urbich gezeigt hat (vgl. Urbich 2010, S. 40–43), zur Ausformulierung eines weiteren
Vorbehaltes gegen die epistemische Funktion von Literatur geführt hat: Ausgehend von einem Begriff
des Kunstwerkes, nach welchem dieses sich durch „reine Selbstbezüglichkeit, innere Abgeschlossen-
heit und fundamentale Individualität“ von allem ihm Äußerlichen abgrenze, kam es auf Basis dieses
Autonomieverständnisses zu dem Vorwurf, dass die epistemische Beanspruchung der Literatur diese
mit ihr wesensfremden Ansprüchen belaste (vgl. Urbich 2010, S. 41).
Wie dieses Kapitel zeigt, folgt die vorliegende Studie bezüglich dieses Vorbehaltes in ihren
Grundannahmen Urbich in seiner Zurückweisung desselben: „Einerseits ist zwar mit guten Gründen
anzunehmen, dass die Basisstrukturen der Bedeutungsgebung insofern ‚autonomistisch‘ gedacht und
ausbuchstabiert werden müssen, als sie nicht allgemein und unabhängig vom Einzelwerk getrennt
vorliegen, sondern in dessen besondere formensprachliche Formation gegossen sind […]. Andererseits
ist damit keinesfalls der hohen Kontextsensibilität literarischer Darstellung widersprochen, die in
formaler (Gattungssystem, Motivkomplexe etc.) wie inhaltlicher Weise Literatur zum besonders offe-
nen und besonders verdichteten Ereignisraum der ‚polythematischen‘ Wirklichkeit werden lässt und
40 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

Letztere ging höchst emphatisch von einem Verständnis des Textes als autonomes
Kunstwerk aus und postulierte, dass selbiges aus sich selbst ohne Berücksichtigung
seines ‚Umfeldes‘ zu verstehen sei. Wie zahlreiche Studien, die diesem Ansatz ver-
meintlich gefolgt sind, belegen, ist ein derartig ausschließlicher Fokus auf den einzel-
nen Text nicht durchhaltbar. Gegen einen solchen Ansatz spricht insbesondere die
Tatsache, dass die primäre Bedeutung der auf einem Textdokument zu findenden
Zeichenfolge nicht von diesem bestimmt wird, sondern von der Bedeutung dieser
Zeichen im Rahmen der allgemeinen Sprachpraxis abhängt. Dennoch partizipieren an
diesem Ansatz so unterschiedliche Literaturtheorien wie der russische Formalismus,
der osteuropäische und französische Strukturalismus sowie die in Deutschland
wirkungsmächtige Hermeneutik Gadamer’scher Prägung.
In Anbetracht dieser Vielfalt an werkimmanenten Ansätzen bietet es sich an, das
diese Studie leitende Verständnis der Sinnkonstitution eines Textes sowie der aus
diesem abzuleitenden Lektüremethode durch die kritische Auseinandersetzung mit
einem exemplarischen Vertreter der zuvor genannten Literaturtheorien zu entwickeln.
Ausgangspunkt bleibt dabei das von Günter Martens übernommene Verständnis von
Text als einem komplexen dynamischen Zeichen, dessen Dynamizität sich nicht bloß
auf die Textgenese beschränkt, sondern sich auch in abgeschlossenen und veröffent-
lichten Textdokumenten, sprich Werken, in der komplexen Interaktion zwischen den
einzelnen Teilmomenten desselben realisiert und auf diesem Wege ausgehend von
den Primärbedeutungen der verwendeten (Sprach-)Zeichen zur Sinnkonstitution oder
-destruktion beiträgt.
Da in Martens Textbegriff dem Zeichen eine zentrale Rolle zukommt, soll aus den
zuvor angesprochenen Literaturtheorien eine ausgewählt werden, die sowohl dem
Zeichenbegriff eine bedeutende Rolle zugesteht als auch Raum für die Untersuchung
ästhetischer Darstellungsformen bietet. Diese Kriterien werden von Roman Jakobsons
linguistischer Poetik in hervorragender Art und Weise erfüllt, die als einer der wirk-
mächtigsten strukturalistischen Versuche der Bestimmung von ‚Literarizität‘ bzw.
‚Poetizität‘ gilt. Daher soll im Folgenden das diese Studie leitende Verständnis der
Sinnkonstitution eines komplexen – im gegebenen Falle: philosophischen – Textes
im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Modell literarischer Kommuni-
kation, welche Roman Jakobson in seinem für die linguistisch-strukturalistische
Poetik bahnbrechenden Aufsatz „Linguistik und Poetik“ dargelegt hat, entwickelt
werden.117

die historisch rekonstruiert werden muss, um sich angemessen verstehend dem Einzelwerk nähern zu
können.“ (Urbich 2010, S. 43)
Zu Urbichs Verständnis der „Formensprachlichkeit“, bei der es sich um eine Weiterentwicklung
der hier im Folgenden präsentierten ‚poetischen Funktion‘ Roman Jakobsons handelt, siehe das
Kapitel 3.1.
117 Ich werde mich im Folgenden auf die Kernaussagen des besagten Aufsatzes beschränken und
mich nicht auf eine umfangreichere kritische Auseinandersetzung mit den Grundannahmen von
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 41

Ein surplus dieses Textes besteht darin, dass in ihm zwar explizit nach der
poetischen Funktion und damit der Bedeutung literarisch-ästhetischer Darstellungs-
formen für die Konstitution des Gehaltes eines Textes gefragt wird, diese jedoch nicht
allein im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern im Kontext eines umfangreiche-
ren Kommunikationsmodells verhandelt wird.118 Bei diesem Kommunikationsmodell
handelt es sich um eine Weiterentwicklung des Sender-Empfänger-Modells von Karl
Bühler. In Jakobsons Beschreibung desselben zeigt sich der Fokus seines Ansatzes auf
die unterschiedlichen sprachlichen Funktionen innerhalb eines Kommunikations-
aktes:

Die Skizzierung dieser Funktionen verlangt eine kurze Übersicht der konstitutiven Faktoren in
jedem Sprechereignis, in jedem verbalen Kommunikationsakt. Der SENDER macht den EMPFÄN-
GER eine MITTEILUNG. Um wirksam zu sein, bedarf die Mitteilung eines KONTEXTES, auf den sie
sich bezieht (Referenz in einer anderen, etwas mehrdeutigen Nomenklatur), erfaßbar für den
Empfänger und verbal oder verbalisierbar; erforderlich ist ferner ein KODE, der ganz oder
zumindest teilweise dem Sender und dem Empfänger (oder m.a.W. dem Kodierer und dem
Dekodierer der Mitteilung) gemeinsam ist; schließlich bedarf es auch noch eines KONTAKTS,
eines physischen Kanals oder einer psychologischen Verbindung zwischen Sender und Empfän-
ger, der es beiden ermöglicht, in Kommunikation zu treten und zu bleiben.119

Aus diesem Kommunikationsmodell entwickelt Jakobson sechs sprachliche Funktio-


nen, die jeweils an eine der sechs Seiten des soeben zitierten Schemas gebunden
sind.120 Dabei betont Jakobson, dass „[d]ie jeweils dominierende Funktion […] die
Struktur der Mitteilung“ bestimmt. Als Erste dieser sechs Funktionen definiert er die
sogenannte referentielle Funktion, welche den Bezug auf einen außer- oder inner-
sprachlichen Kontext festlegt. Die Haltung des Senders kommt in der emotiven, die
auf den Empfänger ausgerichtete in der konativen Funktion zum Ausdruck. Daneben
existiert noch eine phatische Funktion, welche auf den Kontakt fokussiert und der
Aufrechterhaltung der Kommunikation dient, sowie eine metasprachliche Funktion,
welche sich der Verhandlung des von beiden Gesprächspartnern benutzten Kodes
widmet. Als sechste und letzte Funktion bestimmt Jakobson die poetische: „Die

Jakobsons linguistischer Poetik einlassen. Ein derartig beschränkter Zugang scheint in Anbetracht der
Tatsache gerechtfertigt, dass Jakobsons Poetik hier nur als Ausgangspunkt zur Entwicklung der text-
semantischen Grundannahmen dieser Studie herangezogen wird.
Einen guten Einstieg in die kritische Beschäftigung mit Jakobsons linguistischer Poetik aus einer
sprachphilosophischen Perspektive bietet Bertram/Lauer/Liptow/Seel 2008, S. 110–119.
118 Dieser Sachverhalt wird von Jakobson im Text mehrfach betont, zum Beispiel wenn es in diesem
heißt: „Die poetische Funktion stellt nicht die einzige Funktion der Wortkunst dar, sondern nur eine
vorherrschende und strukturbestimmende und spielt in allen andern sprachlichen Tätigkeiten eine
untergeordnete, zusätzliche, konstitutive Rolle.“ (Jakobson 1979 [1960], S. 92)
119 Jakobson 1979 [1960], S. 88.
120 Dieser Absatz folgt Jakobson 1979 [1960], S. 88–92.
42 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

Einstellung auf die BOTSCHAFT als solche, die Ausrichtung auf die Botschaft um ihrer
selbst willen, stellt die POETISCHE Funktion der Sprache dar.“121
In Anbetracht der leitenden Fragestellungen der vorliegenden Studie, deren
Fokus auf den einzelnen Text bzw. das einzelne Werk durch den höchst problemati-
schen Sachverhalt motiviert ist, dass insbesondere philosophische Texte in der gegen-
wärtigen Forschung fast ausschließlich aus bestimmten philosophischen Perspekti-
ven in den Blick genommen werden, was zugleich soviel bedeutet wie, dass im Zuge
ihrer Lektüre der Weg derselben immer schon von Anfang an durch die Präsuppositio-
nen besagter Perspektiven vorbestimmt ist, lassen sich diejenigen Momente von
Jakobsons Modell, von welchen die vorliegende Studie abweicht, leicht isolieren.122
Dazu gehört zuallererst dessen Ausrichtung am verbalen Kommunikationsakt. Im
Gegensatz zu dieser Orientierung geht die vorliegende Studie von einem nicht zu
vernachlässigenden Unterschied zwischen dem alltäglich-konventionellen Gebrauch
sprachlicher Zeichen und deren Gebrauch in einem komplexen, potentiell literarisch-
ästhetisch überformten Text aus. Dieser Unterschied folgt aus der Verschiebung und
teilweisen Suspendierung der einen solchen Gebrauch bestimmenden pragmatischen
Kontexte. Zwar kommen auch in Texten den sprachlichen Zeichen primär jene Bedeu-
tungen zu, die sie auch im alltäglichen Gespräch innehaben, sie beschränken sich
aber nicht auf diese. Im Gegensatz zum alltäglichen Gespräch ist ein Text stets aus
seinem ursprünglichen kommunikativen Kontext herausgelöst, ja besitzt eigentlich
nicht einmal einen solchen, da nur in sehr wenigen Fällen neben dem Text und
seinem Leser auch der Sender, sprich Autor, präsent ist. Aufgrund dieses fehlenden
Kontextes ist davon auszugehen, dass ein komplexer Text nicht ausschließlich zielge-
richtet jene Informationen vermittelt, welche ihm intentional der Sender eingeschrie-
ben hat, sondern dass sich der semantische Gehalt eines solchen Textes gerade
aufgrund der für dessen Bestimmung relevanten, zahlreichen sprachlichen Funktio-
nen sowie aufgrund der diese mitbestimmenden und bloß partiell in ihm selbst
artikulierten Kontexte nicht eindeutig auf einen solchen Sinn festlegen lässt. Anstelle
der von einem Sender während eines Gesprächs versandten univoken Mitteilung tritt
in einem komplexen und als dynamisch-literarisches Zeichen verstandenen Text die

121 Jakobson 1979 [1960], S. 92. – Jakobson geht in der Bestimmung besagter Funktion noch weiter,
wenn er kurz darauf feststellt: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der
Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.“ (Jakobson 1979 [1960], S. 94)
122 Selbstverständlich garantiert auch das diese Studie leitende Forschungsinteresse sowie die aus
ihm folgenden texthermeneutischen Grundannahmen keinen unverfälschten Blick auf den untersuch-
ten Text, sondern sind bereits selbst Ausdruck eines interpretativen Zugriffs samt der einem solchen
eignenden Präsuppositionen. Dem stets zum Scheitern verurteilten Versuch, diese vollständig frei-
zulegen, wird im Folgenden allerdings nicht explizit nachgegangen, sondern stattdessen versucht,
durch die möglichst exakte Markierung der eigenen Grundannahmen die Möglichkeit einer derartigen
Rekonstruktion der versteckten Präsuppositionen dieser Studie dem Leser offenzulassen.
Zur texthermeneutischen Problematik der autoreflexiven Durchdringung sämtlicher einen wis-
senschaftlichen Text bestimmenden Präsuppositionen siehe: Pichler 2010, S. 57ff.
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 43

hochkomplexe Interaktion verschiedener sprachlicher Funktionen, die potentiell ei-


nen einfachen Sinn stiften können, sich jedoch auch häufig gegenseitig ergänzen
oder – wie es zum Beispiel in zahlreichen Texten der literarischen Moderne zu
geschehen pflegt – sich gar unterlaufen und gegenseitig aufheben. Zur Bestimmung
dieses semantischen Gehaltes bedarf es primär des Nachvollzuges der im Text selbst
metasprachlich und referentiell festgelegten Kodes und Kontexte, wobei zu beachten
ist, dass diese durchweg von den Standardreferenzen eines alltäglichen Gesprächs
abweichen können. Dies gilt nicht nur für Texte, die dem Genre der phantastischen
Literatur oder ähnlichen Gattungen angehören, sondern – man denke zum Beispiel an
Putnams berühmtes Gedankenexperiment der Gehirne im Tank – auch für philo-
sophische Texte. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen häufig das
Referenzverhältnis kritisch aufgerollt und über komplexe metasprachliche Operatio-
nen neu bestimmt wird.
Ausgehend von diesem Textverständnis mit seinem Fokus auf die Bedeutung der
Textualität und der Annahme des Vorranges des semantischen Potentials in einem
abgeschlossenen Text vor sämtlichen intertextuellen Kontexten kann nun die eigent-
liche Entwicklung einer diesen Grundannahmen entsprechenden Lektüremethode
einsetzen. Eine erste direkte Folge des soeben dargelegten Verständnisses der Sinn-
konstitution eines komplexen Textes ist, dass für den Nachvollzug derselben auf die
Berücksichtigung des Senders, d.h. des empirisch-historischen Autors, jenseits seiner
Funktion als Stifter eines Werkzusammenhanges verzichtet wird. Das bedeutet primär
nichts anderes, als dass textexterne Informationen wie zum Beispiel die Biographie
oder Erlebnisgeschichte des Autors für die Deutung des Textgeschehens nicht berück-
sichtigt werden.123
Bei philosophischen Texten handelt es sich neben der ‚schönen Literatur‘ des
Weiteren um diejenige Textsorte, die am intensivsten ihre eigenen inhaltlichen,
sprachlichen und formalen Grundvoraussetzungen und die aus diesen hervorgehen-
den Grundannahmen in einem komplexen Zusammenspiel zwischen der metasprach-
lichen und der referentiellen Sprachfunktion verhandelt, gilt doch die Frage nach den
Bedingungen der Möglichkeit seit Immanuel Kant als eine der genuinsten philosophi-

123 Zum konkreten Umgang mit der Autorfrage bzw. der diese Studie leitenden Deutung und Be-
achtung der ‚Stimmen im Text‘ siehe das Kapitel 2.1.3.
Tendenziell folgt die vorliegende Studie in ihrer Missachtung der ein Schriftstück über den
‚Umweg‘ seines historisch-empirischen Autors potentiell mitbedingenden textexternen Einflüsse einer
Einsicht Jacques Derridas, welche dieser unter anderem in „Signatur Ereignis Kontext“ ausformuliert
hat: „Schreiben heißt, ein Zeichen (marque) produzieren, das eine Art ihrerseits nun produzierende
Maschine konstituiert, die durch mein zukünftiges Verschwinden prinzipiell nicht daran gehindert
wird, zu funktionieren und sich lesen und nachschreiben zu lassen.“ (Derrida 1999 [1971], S. 334)
Bei dem hier von Derrida als Maschine bezeichneten Etwas handelt es sich um eine gelungene
Metapher für den Text, der eben auch ohne die Präsenz seines Senders für einen kompetenten
Empfänger Sinn produziert.
44 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

schen Fragen des Abendlandes. Derartige Metareflexionen bilden den idealen Ein-
stiegspunkt für das hier verhandelte exegetische Unterfangen.
Auch dieses kommt letztendlich nicht ohne den Einbezug von werkexternen
Kontexten aus. Im Gegenteil: Die eigentliche Auseinandersetzung mit der Götzen-
Dämmerung nähert sich dieser über den Umweg von Nietzsches Spätwerk und der
Deutung desselben durch die gegenwärtige Nietzscheforschung an. Diesem Vor-
gehen liegt die These zugrunde, dass philosophische Texte – genauso wie komplexe
literarische Texte – ihre eigene Beschaffenheit sowie die Bedingungen derselben
stets selbst reflektieren. Dementsprechend wird bei denjenigen Werksegmenten aus
Nietzsches Spätwerk angesetzt, in welchen potentiell auf Nietzsches Gesamtwerk
abzielende Metareferenzen auf die textuelle und ästhetische Gestaltung desselben zu
finden sind. Im Zuge der Lektüren dieser Werksegmente wird das zentrale Augen-
merk insbesondere auf deren tatsächliche metareflexive Reichweite und deren phi-
losophische Implikationen gelegt werden. Auf diesem Wege ist es möglich, ein
Vorverständnis zu schaffen, dessen Ursprung bereits in unmittelbarer Nähe des
eigentlich zu lesenden Werkes verortet werden kann.124
Ähnlich verhält es sich bei der Lektüre der Götzen-Dämmerung selbst, die im
Anschluss an die ersten Kontexte zu ihrer Deutung bereitstellenden Beschäftigung mit
Nietzsches Spätwerk einsetzen wird. Auch diese wird ein besonderes Augenmerk auf
jene Textsegmente werfen, welche die zentralen metasprachlichen und -referentiellen
Annahmen des 1889 publizierten Werkes verhandeln, sich jedoch nicht nur auf diese
beschränken. Nur aus dem Nachvollzug des Zusammenspiels besagter Metareflexio-
nen mit dem weiteren Textgeschehen ist es möglich, adäquate Relevanzkriterien für
die das eigentliche Sinngeschehen im untersuchten Text mitbestimmenden Kontexte
zu entwickeln. Auch in diesem Falle entscheidet das konkrete Textgeschehen des
Buches selbst, welche Intertexte für das Verständnis des Werkes selbst plausibel sind.
Lektüremethodologisch handelt es sich bei diesem Vorgehen um eine Freilegung
jener Regeln, die seit der Antike insbesondere bei der Schaffung von ‚schöner Litera-
tur‘ angewandt worden sind und deren Grundlagen die berühmten Regelwerke der
Dichtkunst vermittelt haben: die Poetiken. Von Aristoteles Poetik bis zu Christoph
Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen manifestierten sich
in diesen Regelwerken normative Poetiken, d.h. „ein explizit normierendes System
poetischer Regeln, das in geschlossener Form (z.B. als Lehrgedicht oder als gelehrte
Abhandlung) schriftlich niedergelegt“125 wurde. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wur-
den die normativen Poetiken allmählich von der philosophischen Ästhetik ver-
drängt.126 Dies führte dazu, dass spätestens seit dem 20. Jahrhundert die Existenz

124 In diesem Fokus auf das Spätwerk Nietzsches findet sich eine der wenigen methodologischen
Entscheidungen der vorliegenden Studie, für welche der historisch-empirische Autor die Grundlage
bildet. Zur weiteren Rechtfertigung dieses Vorgehens siehe das Kap. 2.1.3.
125 Fricke 2007b, S. 101.
126 Jung 2007, S. 355.
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 45

sogenannter impliziter Poetiken stark zugenommen hat. Hinter dem Aufkommen


derselben steht die aus den modernen Ästhetiken hervorgegangene Auffassung „daß
Poetik (a) etwas Individuelles, nicht normativ oder auch nur gesetzmäßig Verall-
gemeinerbares sei – und damit (b) Sache des einzelnen Dichters“127. Als Folge des
Aufkommens derartiger impliziter Poetiken wurde schließlich auch die „rein deskrip-
tive, also theoretisch analysierende, philosophisch systematisierende oder auch his-
torisch typologisierende Beschäftigung mit […] Grundsätzen, Regeln, Verfahrenswei-
sen beim Schreiben“128 als Poetik bezeichnet. In der deutschsprachigen Kultur- und
Geisteswissenschaft dominiert allerdings zur Selbstbezeichnung derartig rekonstruk-
tiver Tätigkeiten in jüngster Zeit der Begriff der Poetologie.129 Auf die Problematik
dieses Terminus hat 2005 Wilfried Barner hingewiesen und im Zuge der Kritik an
demselben einen morphologisch adäquateren Alternativbegriff vorgeschlagen:130

Die Theorie von der Dichtung oder die ‚Literaturtheorie‘ wird nach dem Muster ‚phráisis‘, gen.
‚phráiseös‘ folglich (‚posesis‘, gen. ‚poieseos‘, lat. ‚poesis‘) ‚poeseologisch‘ genannt werden
sollen.131

Diesem Vorschlag folgend soll die Lektüremethode der Rekonstruktion der in Nietz-
sches Spätwerk sowie der Götzen-Dämmerung selbst sowohl expliziten als auch im-
pliziten Grundannahmen der philosophischen sowie literarisch-ästhetischen Verfah-
rungsweisen seiner späten Werke, die im ersten Abschnitt des zweiten Teils der
vorliegenden Studie insbesondere über die Lektüre metareferentieller Werksegmente
rekonstruiert wird, als ‚Poeseologie des philosophischen Schreibens‘ bezeichnet wer-
den. Durch das Genitivattribut, das dem eigentlich die Methode bezeichnenden Ter-
minus zugeordnet ist, soll mit dem Begriff des ‚Schreibens‘ noch einmal der Fokus der
vorliegenden Studie auf die Textualität philosophischer Texte markiert werden. Zu-

127 Fricke 2007b, S. 102.


128 Fricke 2007b, S. 100.
129 So legt zum Beispiel Fricke in seinem Artikel zur Poetik aus dem Reallexikon der deutschen
Literaturwissenschaft nahe, zur Abgrenzung des deskriptiv-rekonstruktiven Vorgehens der jüngeren
Forschung von den Regelwerken der Vergangenheit auf eben diesen Begriff zurückzugreifen, wenn er
schreibt: „Zur Vermeidung von Missverständnissen könnte hier in den meisten Fällen klarer von
Poetologie die Rede sein“ (Fricke 2007b, S. 100).
130 Neben der Kritik an der morphologischen und kategorialen Begriffsbildung – Poetologie bedeutet
nach Barner eigentlich die ‚Lehre vom Dichter‘ – weist Barner insbesondere darauf hin, dass neben der
durchweg produktiven Abgrenzung von der ‚älteren‘, d.h. meist normativen, Poetik in der Geschichte
des literaturwissenschaftlichen Gebrauchs des Poetologie-Begriffes bald Spekulationen zu dominieren
begannen, „denen in der Regel jene historischen Spezifikationen fehlen und die den neuen Hyper-
begriff als Entität eigener Art setzen“ (Barner 2005, S. 394). Problematisch an diesem Hyperbegriff sei
vor allem, dass dort, „[w]o bisher von ‚Theorie des … ‘, ‚Konzeption des … ‘ die Rede gewesen wäre,
immer häufiger ‚Poetologie‘ ein[trete; A.P.] – oft auch, ohne daß der Bezug auf genuin ‚Poetisches‘
erkennbar wäre“ (Barner 2005, S. 394).
131 Barner 2005, S. 398f.
46 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

gleich deutet das Genitivattribut auch darauf hin, dass sich besagte Methode nicht
nur auf die Lektüre einzelner Werksegmente beschränken wird, sondern diese auch –
im Sinne des bereits entwickelten Textbegriffes – mit ihrer Genese konfrontieren
wird.132
Dabei wird es zu partiellen Unterschieden zur Schreibprozessforschung und zur
Textgenese als den beiden gegenwärtig dominierenden Methoden der deutsch-
sprachigen Literaturwissenschaft im Umgang mit der Entstehungsgeschichte eines
Textes kommen.133 Beide haben eine ihrer gemeinsamen Wurzeln in der in den
siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts am Pariser Institut des textes et manuscrits
modernes (ITEM) erarbeiteten critique génétique.134 Diese entwickelte ausgehend vom
Studium verschiedenster Autorenhandschriften in kritisch-produktiver Auseinander-
setzung mit den damals ebenfalls blühenden strukturalistischen und neostrukturalis-
tischen Ansätzen einen Textbegriff, der sich von jenem klassischen Verständnis
absetzte, nach welchem ein Text klar und eindeutig sowie „inkommensurabel und
konträr zu all dem [sei], was er nicht selbst ist“135. Ausgangspunkt dieser Überlegun-
gen war die stets höchst individuelle Autorenhandschrift.
Almuth Grésillon bezeichnet die critique génétique als „eine Forschungsrichtung,
die anhand der überlieferten Schreibspuren den schriftlichen Entstehungsprozess
literarischer Werke zu rekonstruieren sucht“136, und setzt sie im Anschluss daran
eindeutig von der Philologie ab: Ginge es Letzterer um die Konstitution von Texten,
beschäftige sich die critique génétique vorwiegend mit dem sogenannten ‚avant-texte‘,
d.s. „alle[ ] handschriftlich oder maschinenschriftlich überlieferten Vorstufen“137 ei-
nes Textes sowie den auf diesen dokumentierten Schreibprozessen:138 „Endziel ist
nicht der Text, sondern das Herausstellen der zahllosen Möglichkeiten, die die Eigen-

132 Das Genetivattribut ‚des philosophischen Schreibens‘ verweist dementsprechend primär nicht auf
die „psycho-motorische Technik des Aneinanderreihens von Buchstaben zu Wörtern und von Wörtern
zu Sätzen“, sondern darauf, dass auch ‚philosophische‘ Texte das von einem Autor oder einem anderen
Textkonstituenten gestiftete Resultat eines hochkomplexen Produktionsprozesses sind, der „in einen
größeren Handlungszusammenhang [eingebettet ist], der von der Konzeption bis zur Publikation
reicht“ (Stingelin 2007, S. 387).
133 Einen einführenden Überblick der zentralen Forschungsbeiträge und Forschungsrichtungen der
Schreibprozessforschung bietet Thüring 2008, S. 125, Fußnote 10.
134 Eine gute Zusammenfassung von deren Grundannahmen sowie eine Verortung derselben inner-
halb der jüngeren Diskussionen um das Verhältnis von Poetologie und Textgenese bietet Gellhaus
1994, insbesondere S. 316–319.
Siehe zu diesen auch Grésillon 2010 [1996].
135 Hay 2005 [1985], S. 78.
136 Grésillon 2010 [1996], S. 290.
137 Grésillon 2010 [1996], S. 291.
138 So heißt es im Text: „Philologie und Editionswissenschaft sind auf die Herstellung des (‚richti-
gen‘!) Textes ausgerichtet, während es der ‚critique génétique‘ um die Eigendynamik des ‚avant-texte‘,
d.h. aller handschriftlich oder maschinenschriftlich überlieferten Vorstufen, geht.“ (Grésillon 2010
[1996], S. 291) – Genau in dieser Abgrenzung zur Philologie besteht einer der zentralen Unterschiede
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 47

dynamik der Schrift im Lauf der Genese geöffnet, teilweise weitergeführt, teilweise
verworfen, zunächst wieder vergessen und dann später aufgegriffen hat.“139
Kennzeichnend für die Untersuchung dieser Möglichkeiten ist, dass sie trotz ihres
Fokus auf die Materialität des jeweiligen Textdokumentes nicht bei dieser stehen
bleibt, sondern zudem versucht, Hypothesen über die materiell nicht überlieferten
psychologischen und kognitiven Aktivitäten der Schreiber aufzustellen. Diese Aus-
einandersetzung mit dem Autor geht so weit, dass nach Grésillon der Textgenetiker
„immer versucht sein [wird], sich dem lebendigen Originalzustand des erloschenen
Schreibprozesses so gut wie möglich anzunähern, ja sogar, sich womöglich zeitweise
mit dem schreibenden Subjekt zu identifizieren.“140
Dies führt zu einem Textbegriff, der über den im Kapitel 1.1. entwickelten hinaus-
geht, da er nicht nur in seinem Autorverständnis, sondern auch in seiner Adaption
von jüngeren Vorstellungen des ‚Hypertextes‘ den diese Studie leitenden intratextuel-
len Rahmen überschreitet:

Texte sind in diesem Sinn offene Gebilde, die man sich jeweils in einer Art Hypertext vorstellen
kann. Alles, was zum Performance-Akt der Textwerdung dazugehört, hat seinen Platz im Netz-
werk des entsprechenden Hypertextes. Der Drucktext gehört genauso dazu wie jede seiner Vor-
stufen.141

Neben dieser Berücksichtigung textexterner Phänomene für den Schreibprozess las-


sen sich zwei weitere Differenzen zu den texttheoretischen und -exegetischen Grund-
annahmen der vorliegenden Studie und ihrem Umgang mit dem Schreibprozess fest-
machen.
Die erste Differenz betrifft die Ursache für die Hinwendung zum Entstehungs-
prozess eines Textes. Während die critique génétique sich den Entstehungs- und
Schreibprozessen aus einem ‚reinen‘ Interesse an denselben zuwendet, sind diese für
die vorliegende Studie aus zwei Gründen bedeutsam: Erstens ermöglichen sie es, die
Bedeutung der Textualität anhand von sich materialiter unterscheidenden Textträ-

zwischen der critique génétique und der Schreibprozessforschung in der deutschsprachigen Literatur-
wissenschaft. Siehe dazu abermals Gellhaus 1994.
139 Grésillon 2010 [1996], S. 296.
140 Grésillon 2010 [1996], S. 293. – Weitaus vorsichtiger wird dieser identifikatorische Umgang samt
der ihn begleitenden Divinationsakte in Grésillon 2012 beschrieben (vgl. Grésillon 2012 [1995], S. 153).
Jedoch wird auch dort die Hypothese eines starken „neo-kartesianischen [sic]“ (Grésillon 2012 [1995],
S. 159) Autorsubjektes letztendlich aufrechterhalten und diesem zumindest im Falle der von der
critique genétique bevorzugt behandelten Textbestände der kanonisierten ‚schönen Literatur‘ explizit
ein Genie-Status zugeschrieben (vgl. Grésillon 2012 [1995], S. 170).
141 Grésillon 2010 [1996], S. 304. – Diese Offenheit und potentielle Unabschließbarkeit des Schreib-
prozesses bedingt in Grésillon 2012 auch die dort vorgetragene Kritik an anderen Formen der Schreib-
forschung, denen vorgeworfen wird, sich an einem „‚Problemlösemodell‘“ zu orientieren und dadurch
die gerade im literarischen Schreiben weitverbreitete Praxis des „planlosen Schreibens“ aus den Augen
zu verlieren. Vgl. Grésillon 2012 [1995] und dort insbesondere S. 183–186.
48 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

gern wie Manuskript, Typoskript und gedrucktem Buch in den Blick zu nehmen.
Zweitens handelt es sich bei den überlieferten Dokumenten, welche den Entstehungs-
prozess eines Werkes dokumentieren und die schließlich zusammen mit demselben
einen Werkzusammenhang im Sinne von Gunter Martens bilden, um denjenigen Kon-
text eines Werkes, der mit diesem am unmittelbarsten in Zusammenhang steht. Einge-
denk des zuvor entwickelten Plausibilitätskriteriums zur Überprüfung potentiell deu-
tungsrelevanter Kontexte sollten die Dokumente der Werkgenese bei der Lektüre
eines bestimmten Werkes nicht unberücksichtigt bleiben.
Der zweite zentrale Unterschied der critique génétique zur vorliegenden Studie
besteht in deren Umgang mit dem Autor. Eine Untersuchung wie die vorliegende,
welche einen Text in seinem individuellen, materiell-medialen Objektstatus im Zu-
sammenhang mit seiner dynamischen und komplexen Zeichenstruktur und ihrer
sinnstiftenden Aspekte untersucht, kann nicht auf die stets nur auf höchst spekulati-
vem Wege rekonstruierbaren Intentionen des historisch-empirischen Autors abzielen.
Überhaupt liegt einem solchen Ansatz die in den Texten von Grésillon häufig gegebe-
ne, höchst emphatische Erhebung des Autorsubjektes zum Genie mehr als fern. Nicht
dessen potentielles ingenium, sondern die konkreten materiell auf einem Textträger
überlieferten sprachlichen Zeichen und das von diesen konstituierte Sinngeschehen
stehen hier im Mittelpunkt des Interesses.
Insofern bewegt sich das Vorgehen der vorliegenden Studie weitaus näher an der
sogenannten „Genealogie des Schreibens“142, einem Forschungszweig der deutsch-
sprachigen Schreibprozessforschung, der an die critique génétique anschließt, ohne
sich mit ihr zu decken. Die „Genealogie des Schreibens“ unterscheidet sich von ihrem
französischen Vorgänger dadurch, dass sie nicht einen Schreibprozess als Ganzen
anhand der Genese eines Textes nachvollzieht und ihn dabei für sich in den Blick
nimmt, sondern stets bei sogenannten ‚Schreibszenen‘ einsetzt und diese nicht nur in
ihrer Materialität, sondern auch ausgehend von der in ihnen häufig anzutreffenden
Selbstthematisierungen des Schreibens in Hinblick auf ihre poeseologische Relevanz
und Reichweite untersucht.143 Grundlegend für diese Forschungsrichtung ist ein von

142 Siehe zu dieser Stingelin 2000c und 2004.


143 Siehe zu diesen Differenzen auch Stingelin 2000c, S. 84f., wo sich dieser expressis verbis sowohl
von der sprachwissenschaftlich geprägten Schreibprozessforschung als auch der critique génétique
abgrenzt: „Ich möchte im Gegenteil aus der Schreibszene einen spezifischen Zug in seiner ganzen
Heterogenität herausstreichen und in seiner leichthin übersehenen Bedeutung für den schöpferischen
Produktionsprozess problematisieren – den unmittelbaren Griff zum Schreibgerät und die Geste, mit
der es geführt wird.“ (Stingelin 2000c, S. 84)
Bereits vor dieser Festlegung des Untersuchungsfeldes weist Stingelin darauf hin, dass „[d]iese
Genealogie des Schreibens als körperliche Überwältigung der Schreibwerkzeuge […] nicht von der
poetologischen Reflexion absehen [kann], in denen Schriftsteller selbst ihr Ringen mit den technologi-
schen Möglichkeitsbedingungen des schöpferischen Produktionsprozesses thematisieren“ (Stingelin
2000c, S. 84).
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 49

Rüdiger Campe 1991 erstmals veröffentlichter Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel
„Die Schreibszene, Schreiben“.144
An die in diesem Aufsatz entwickelten Überlegungen hat Martin Stingelin mit
dem Forschungsprojekt Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der
Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart angeknüpft. Dabei rückte er
von den drei nach Campe die ‚Schreib-Szene‘ konstituierenden Aspekten145 durch die
Zusammenschau des Umganges eines Schriftstellers mit seinen Schreibwerkzeugen –
Stingelin spricht von der körperlichen Überwältigung derselben – mit seinen poeseo-
logischen Reflexionen insbesondere den technologischen Rahmen des Schreibprozes-
ses in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Im Zuge dieses Ansatzes werden
dementsprechend folgende drei Aspekte analysiert:

[D]as Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen, allen voran Feder und Tinte, Bleistift, Schreibmaschi-
ne und Papier, und ihre Auswirkungen auf die Schreibökonomie, wie sie insbesondere an der
Schreibgeschwindigkeit, aber auch am Aufwand bei der späteren Relektüre des Geschriebenen
ablesbar sind; das Verhältnis zur Schrift, das sich aus dem Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen
ergibt, und zwar unmittelbar zur Handschrift, mittelbar zur Druckschrift; und die poetologische
Selbstreflexion des Schreibens.146

Entscheidend für Stingelins Ansatz ist nun, dass sich im Rahmen der Untersuchung
besagter Verhältnisse „die Körperlichkeit und die Instrumentalität des Schreibaktes
als Quelle von Widerständen“147 deuten lassen. Der sich an diesen Widerständen
abarbeitende Schreibprozess manifestiert sich materialiter unter anderem in „vier
rhetorischen Änderungskategorien“, welche von Stingelin allerdings nicht nur in

144 Vgl. Campe 2012 [1991], der dort ausgehend von Roland Barthes Verständnis der ‚écriture‘ den
Begriff der ‚Schreib-Szene‘ entwickelt, unter welcher er ein aus drei Aspekten bestehendes Schema zur
Beschreibung der heterogenen Faktoren des Schreibens begreift (vgl. Zanetti 2012, S. 20f.): „Auch und
gerade wenn die ‚Schreib-Szene‘ keine selbstevidente Rahmung der Szene, sondern ein nicht-stabiles
Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste bezeichnet, kann sie dennoch das Unternehmen
der Literatur als dieses problematische Ensemble, diese schwierige Rahmung kennzeichnen.“ (Campe
2102 [1991], S. 271)
145 Diese sind nach Zanetti 2012, S. 21: „Sprachlichkeit/Semiotik, Instrumentalität/Technologie und
Körperlichkeit/Gestik“. Siehe auch die Definition der ‚Schreib-Szene‘ in Stingelin 2004, nach welcher
diese „die historisch und individuell […] veränderliche Konstellation des Schreibens [bezeichnet –
A.P.], die sich innerhalb des von der Sprache (Semantik des Schreibens), der Instrumentalität (Tech-
nologie des Schreibens) und der Geste (Körperlichkeit des Schreibens) gemeinsam gebildeten Rahmens
abspielt, ohne daß sich diese Faktoren selbst als Gegen- oder Widerstand problematisch würden“
(Stingelin 2004, S. 15).
Zur Unterscheidung zwischen ‚Schreibszene‘ als Untersuchungsrahmen der Gesamtbedingungen
des Schreibens und ‚Schreib-Szene‘ als Einschränkung dieser Untersuchungsperspektive auf die im
Akt des Schreibens stets präsenten Widerstandsmomente siehe Giuriato 2012 [2005].
146 Stingelin 2000c, S. 89.
147 Stingelin 2004, S. 12.
50 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

ihrer Materialität, sondern auch in ihrer Figürlichkeit in den Blick genommen werden:
Hinzufügungen, Streichungen, Ersetzungen und Umstellungen.148
Anhand dieser vier Kategorien lassen sich die Unterschiede zwischen der „Genea-
logie des Schreibens“ und dem vorliegenden Forschungsprojekt festmachen. Auch
dieses setzt mit einer Untersuchung der Metareferenzen und Metareflexionen des zu
analysierenden Textes ein, beschränkt sich bei dieser Untersuchung jedoch nicht auf
jene ‚poetologischen Reflexionen‘ – so bezeichnet Stingelin die potentiell poeseologi-
schen Metareflexionen –, welche den Schreibakt selbst thematisieren, sondern be-
rücksichtigt diese im komplex-dynamischen Kontext sämtlicher für die philosophi-
schen Grundannahmen und das darstellerische Procedere des untersuchten Textes
relevanten Metareferenzen/-reflexionen. Ziel dieses Ansatzes ist des Weiteren nicht
bloß die Re-Konstruktion der von Stingelin in den Vordergrund gerückten Verhält-
nisse,149 sondern der Nachvollzug des hochkomplexen, sich potentiell selbst aus-
streichenden und auf der Textur dokumentierten Sinngeschehens eines philosophi-
schen Textes. Einen zentralen Bestandteil der material-medialen Grundlage dieses
Sinngeschehens bilden dementsprechend auch aus der Perspektive der vorliegenden
Studie die vier von Stingelin hervorgehobenen Änderungsprozesse, welche hier aber
eben nicht ausschließlich in ihrer Bedeutung für die Überwindung schreibpraktischer
Widerstände, sondern auch jenseits dieser Widerstände in ihrer Auswirkung auf die
Konstitution des semantischen Gehalts eines philosophischen Textes untersucht wer-
den sollen.150

148 Vgl. Stingelin 2004, S. 16.


149 Dass es sich bei der Beschreibung derselben ausgehend vom jeweiligen Textfall stets bloß um
einen Rekonstruktionsversuch handeln kann, betont Stingelin im Zuge der Reformulierung derselben
in Stingelin 2004, S. 18: „In diesem Sinn [d.h. im Sinne der aus den besagten drei Verhältnissen
konstituierten ‚Schreib-Szene‘; A.P.] kann die Praxis des Schreibens, zumal als literarische Tätigkeit,
nicht allgemein definiert, sondern nur historisch und philologisch im Einzelfall nachträglich re-kon-
struiert werden.“
150 Insofern konzentriert sich die vorliegende Studie trotz ihrer Berücksichtigung der Materialität des
Textes zwar eindeutig auf den semantischen Gehalt besagten Textes, versteht diesen aber aus der
Konstellation jener heterogenen Faktoren des Schreibaktes, welche Vilém Flusser 1991 folgenderma-
ßen zusammengefasst hat: „Um schreiben zu können, benötigen wir – unter anderen – die folgenden
Faktoren: eine Oberfläche (Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention
(Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System
der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft
(Ideen) und das Schreiben.“ (Flusser 2012 [1991], S. 261f.)
Stingelin, der ebenfalls besagte Passage aus Flussers Aufsatz in seiner für das Verständnis der
„Genealogie des Schreibens“ verfassten Einleitung zum ersten Band der gleichnamigen Reihe zitiert,
dabei jedoch das Zitat auch noch um die Folgesätze – „Die Komplexität liegt nicht so sehr in der
Vielzahl der unerläßlichen Faktoren als in deren Heterogenität. Die Füllfeder liegt auf einer anderen
Wirklichkeitsebene als etwa die Grammatik, die Ideen oder das Motiv zum Schreiben.“ (Flusser 2012
[1991], S. 262) – fortführt, betont ebenfalls die Bedeutung des Ensembles besagter Faktoren (vgl.
Stingelin 2004, S. 14).
1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens 51

Was bedeutet der soeben dargelegte Umgang mit dem Schreibprozess nun aber
letztendlich für den Umgang der vorliegenden Studie mit der – im Falle Nietzsches
sehr gut dokumentierten – Textgenese? Wie bereits im vorigen Kapitel gezeigt wurde,
stellen sowohl die Konstitution als auch die auf dieser aufbauende Auswahl einer
bestimmten Textschicht zur späteren textanalytischen Beschäftigung mit dem auf
dieser Grundlage nachvollziehbaren Textgeschehen bereits einen interpretativen Akt
dar. Dieser basiert nicht nur auf editions- und texttheoretischen Grundsatzentschei-
dungen, sondern wird wesentlich von den texthermeneutischen Implikationen der
leitenden Fragestellungen einer sich der Textlektüre widmenden Studie mit-
bestimmt.151 Dementsprechend liegt es nahe, für eine Studie wie die vorliegende,
welche die Untersuchung der Bedeutung und Funktion der literarisch-ästhetischen
Darstellungsformen von Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung unter Berücksichti-
gung ihrer individuellen Textualität zu beantworten trachtet, die Klärung des Um-
gangs mit dem Entstehungsprozess dieses Werkes der eigentlichen Auseinanderset-
zung mit dem semantischen Geschehen auf diesem/n Text(en) vorzulagern und dabei
nicht in einer bloß editions- und texttheoretischen Perspektive zu verharren. Vor der
eigentlichen Festlegung des Umgangs mit der Genese der Götzen-Dämmerung ist dem-
entsprechend zu klären, worin die Spezifika von Nietzsches Schreibprozess und der
aus diesem resultierenden Textualität seiner Schriften bestehen und wie sich diese
zur leitenden Fragestellung der vorliegenden Studie verhalten. Erst im Anschluss
daran kann entschieden werden, ob im Falle des Werkzusammenhangs der Götzen-
Dämmerung dessen Deutung bei den frühesten Fassungen derselben oder doch beim
letztendlich publizierten Text anzusetzen hat. Der Untersuchung dieser Fragen, deren
Beantwortung vom höchst individuellen Charakter der nietzscheschen Texte abhängt,
werden sich die ersten Kapitel des zweiten Teils dieser Studie widmen (siehe ins-
besondere Kap. 2.1.1.).
Erst im Anschluss daran erfolgt, wie auch schon in der Einleitung angekündigt,
die eigentlich poeseologische Lektüre von Nietzsches Spätwerk (vgl. Kap. 2.1.2). Die
Resultate dieser sowohl für die Stiftung einer die individuelle Textualität von Nietz-
sches philosophischem Schreiben als auch die ebenso individuellen Kontexte des
Spätwerks adäquat erfassenden Lektüremethode unabdingbaren Auseinanderset-
zung werden dann im Kapitel 2.1.3. noch einmal methodologisch reflektiert und
zugleich mit in der Nietzscheforschung bereits etablierten Methoden konfrontiert.
Nach dieser finalen Explikation der diese Studie leitenden Methode setzt die eigentli-
che Lektüre von Nietzsches Götzen-Dämmerung ein. In Anbetracht der zuvor ent-

151 Darauf verweist – neben den im Kapitel 1.1. behandelten Editionstheoretikern – auch Gellhaus,
wenn er mit Blick auf neuere deutschsprachige Editionen feststellt, dass es sich „unter Beweis gestellt
[habe], daß eine historisch-kritische Ausgabe auf editorischen Vorurteilen und Vorentscheidungen,
theoretischen Einstellungen, kurz auf dem je vorausgesetzten Begriff von Dichtung und ihrer Ent-
stehung beruht und damit selbst ein Moment des hermeneutischen Verstehensprozesses ist und nicht
schlicht dessen positive Grundlage“ (Gellhaus 1994, S. 313).
52 1.2. Methodenreflexion I: Poeseologie des philosophischen Schreibens

wickelten textologischen Annahmen wird sich diese in ihrer Beschäftigung mit dem
Kapitel „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ von der in den Kapiteln des Teils 2.1. sowie
im die Auseinandersetzung mit der Götzen-Dämmerung eröffnenden Kapitel 2.2.
durchgeführten ‚Poeseologie des philosophischen Schreibens‘ in ihrer Textnähe gra-
vierend unterscheiden, da mit ihrem Einsetzen eben nicht mehr die Schärfung der
eigenen Lektüremethode qua Konkretisierung des eigenen Textbegriffes an den kon-
kreten Textdokumenten sowie der Bereitstellung deutungsrelevanter Kontexte im
Mittelpunkt des Interesses steht, sondern der konkrete Nachvollzug der Sinnkonstitu-
tion des Textgeschehens in einem ausgewählten Kapitel jenes komplex-dynamischen
Zeichens, das den Namen Götzen-Dämmerung trägt.
2. Teil: Nietzsche
2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei
2.1.1. Voraussetzungen I: Zur Bedeutung der Textualität von
Nietzsches Philosophie

Im Gegensatz zu anderen Klassikern der Philosophie ist im Falle Nietzsches die Frage
nach dem Textstatus seiner Schriften sowie nach der Bedeutung der Textualität für
sein Philosophieren spätestens seit Beginn der 1894 einsetzenden Arbeit an der
Großoktavausgabe zu einem der zentralen Gegenstände der Nietzscheforschung ge-
worden. Zahlreiche der öffentlichkeitswirksamsten Debatten entsprangen primär
philologischen und editionspraktischen Grundsatzfragen. Das gilt insbesondere für
die bis zum Erscheinen der Colli/Montinari-Ausgabe regelmäßig wiederkehrende Dis-
kussion um den Text- und Werk-Status jenes 1901 erstmals veröffentlichten Buches,
das den Titel Der Wille zur Macht trug.152 In Anbetracht dieser bereits über hundert
Jahre andauernden Auseinandersetzung verwundert es kaum, dass das Selbst-
Bewusstsein der (deutschsprachigen) Nietzscheforschung im Umgang mit derartigen
Fragestellungen mittlerweile soweit reicht, dass Christian Benne im abschließenden
Kapitel seiner viel beachteten Studie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie
feststellen konnte: „In der Nietzscheforschung ist die Philologie, ganz im Gegenteil zu
den Mainstream-Literaturwissenschaften, wieder zur Avantgarde geworden.“153
Im Folgenden soll ein kurzer Abriss jenes Teils der forschungsinternen Debatten
referiert und wieder aufgegriffen werden, die auch gegenwärtig noch für Brisanz sorgen
und zugleich für das Telos der vorliegenden Studie von höchster Relevanz sind.
Bereits bei einem sporadischen Blick auf die erst mit dem Erscheinen der KGW IX zu
einem – wohl mehr als bloß temporären – Ende gekommenen philologisch-ideologi-
schen Auseinandersetzungen um Nietzsches nachgelassenen Textkorpus fällt auf, dass
in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz der umfangreichen editorischen Tätigkeit
des von Nietzsches Schwester geleiteten Nietzsche-Archivs und der daran anknüpfen-
den Debatten über den philologischen Status der vom Archiv herausgegebenen Nach-
lassbände die Beschäftigung mit dem Text-Status seiner Schriften in der philosophi-
schen Diskussion nur eine geringe Rolle spielte. Die Philosophie fokussierte sich auf die
Suche nach Nietzsches zentralen Lehren, was nur beiläufig zu letztendlich folgenrei-
chen Überlegungen zum Verhältnis von Nachlass und veröffentlichten Schriften führte.

152 Vgl. WM1 und WM2 – Zu den Grundlagen der Auseinandersetzung mit Nietzsches Nachlass im
Allgemeinen und dem Willen zur Macht im Besonderen siehe neben den im weiteren Verlauf dieses
Kapitels verhandelten Studien auch Montinari 1982, S. 92–119; Montinari 1991, 95–129; KSA 14, S. 7–17
und S. 383–400 sowie Müller-Lauter 1995, Fornari 2000 und Röllin 2012.
Eine die textuellen Spezifika von Nietzsches Notaten berücksichtigende sowie die in diesen
gegebenen Überlegungen und Entwürfe zum Willen zur Macht vollständig ausschöpfende Handschrif-
ten-Lektüre von Nietzsches spätem Nachlass steht bis heute noch aus.
153 Benne 2005, S. 358.
56 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Paradigmatisch für diese Praxis steht das berühmte Diktum Martin Heideggers – „Was
Nietzsche zeit seines Schaffens selbst veröffentlicht hat, ist immer Vordergrund. Die
eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß‘ zurück.“154 –, das noch in den sechziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts auf weite Resonanz stieß.155 Insofern überrascht es
nicht, dass in den fünfziger Jahren die von Karl Schlechta herausgegebene Ausgabe der
Werke in drei Bänden, welche erstmals auf die Aufnahme eines Buches mit dem Titel Der
Wille zur Macht verzichtete, um im Zuge dessen das identische, zuvor in besagtem
Kompendium veröffentlichte Textmaterial unter dem Titel „Aus dem Nachlaß der Acht-
ziger Jahre“ zu publizieren, auf harsche Kritik stieß, und zwar nicht, weil es sich dabei
fast um dieselben ‚Texte‘ wie im „Willen zur Macht“ handelte, sondern weil diese
‚Texte‘ nun nicht mehr den altbekannten Titel trugen. Es war letztendlich das Verdienst
der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari herausgegebenen und seit 1967 erschei-
nenden Kritischen Gesamtausgabe der Werke, dass die Diskussion um das Buchprojekt
„Der Wille zur Macht“ endgültig ad acta gelegt werden konnte. Infolgedessen fokussier-
te sich insbesondere die literaturwissenschaftlich ausgerichtete Nietzscheforschung
immer mehr auf die offensichtlichen Differenzen der Schreibweisen zwischen Nietz-
sches von ihm selbst veröffentlichten oder zu Veröffentlichung vorgesehenen Texten
und dem Nachlass, sodass Ernst Behler 1988 konstatieren konnte: „Während sich Nietz-
sches gedruckt erscheinenden Schriften gewöhnlich apodiktischer Festlegung entzie-
hen, fehlt in seinen handschriftlichen Aufzeichnungen meist die zweite, durchkreuzen-
de oder gegenwirkende Schreibweise.“156
Derartige Auffassungen verbreiteten sich – nicht zuletzt auf dem Umweg über
Frankreich und dank des von dort kommenden und in den US-amerikanischen Litera-
turinstituten stark rezipierten Poststrukturalismus – auch in der vielfach sehr philolo-
gie-resistenten angelsächsischen Nietzscheforschung. So gelangte auch ein aus Bernd
Magnus, Stanely Stewart und Jean-Pierre Mileur gebildetes Autorenkollektiv zu einer
ähnlichen Konklusion wie Behler, wenn es im Rahmen der Zweiteilung der Nietzschef-
orschung in ‚lumpers‘ und ‚splitters‘ als zentrales Unterscheidungskriterium zwischen
den diesen beiden Gruppen eignenden Lektüreansätzen den Umgang mit Nietzsches
Nachlass bestimmte.157 Die zweite Gruppe – die ‚splitters‘ –, denen sich das Kollektiv
selbst zurechnete, kennzeichne sich durch die Auffassung „that Nietzsche’s philoso-
phy cannot be divorced from his style“158, was aus den selben Gründen wie bei Behler
zu einer interpretativen Bevorzugung des veröffentlichten Werkes führte.

154 Heidegger 1998, S. 6f.


155 Die gegenwärtige angloamerikanische Nietzscheforschung scheint die von Heidegger zum Aus-
druck gebrachte Position noch immer nicht vollständig überwunden zu haben, was sich nicht zuletzt
in der weiterhin weitverbreiteten Praxis auch jüngerer Forschungsarbeiten auf Übersetzungen des
Willens zur Macht zurückzugreifen, manifestiert.
156 Behler 1988, S. 24.
157 Vgl. Magnus/Stewart/Mileur 1993, S. 35–47.
158 Magnus/Stewart/Mileur 1993, S. 37.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 57

Die umfangreichste Ausformulierung der Differenzen von Nachlass und ver-


öffentlichtem Werk stammt von Claus Zittel. Dieser konstatiert in seinem Nietzsche-
Handbuch-Artikel zum Nachlass 1880–1885, ohne dabei auf Behler und das
US-amerikanische Autorenkollektiv Bezug zu nehmen, jedoch zugleich deren Unter-
scheidungsmerkmale weiter ausdifferenzierend:

[G]rundsätzlich ist festzustellen, dass N. seine Gedanken im Nachlaß thetischer formuliert, was
viele Interpreten dazu verleitet, aus den isolierten Notizen ‚letzte Lehren‘ zu rekonstruieren und
zu Dogmen zu verdinglichen. Im publizierten Werk kommen diese vermeintlichen Lehren, wenn
überhaupt, ästhetisch kontextualisiert vor und werden dadurch zumeist auf vielfältige Weise
ironisiert, gebrochen und unterlaufen […] N. formuliert hier hypothetisch, doppelbödig und
vielschichtig; er operiert mit zahlreichen Anspielungen und Verweisungen, durch welche die
einzelnen Gedanken in einem komplexen Beziehungsgeflecht situiert werden […]. Den veröffent-
lichten Schriften eignet somit qua Form ein Reflexionsgrad mehr als den nachgelassenen Auf-
zeichnungen.159

Während diese Auseinandersetzungen jedoch nur die seit Platons Dichterkritik in der
Politeia eröffnete Debatte über die Valenz ästhetischer Darstellungsformen in der
Philosophie nietzscheforschungsintern prolongierte, kam es Anfang der neunziger
Jahre zu einer Erweiterung des Diskussionsrahmens: Sowohl von Seiten der semio-
tisch gefärbten und damals noch jungen Medienphilosophie als auch von Seiten der
Editionsphilologie wurde auf Grundlage der neuen Edition von Nietzsches Schriften
und in Anknüpfung an poststrukturalistische Nietzsche-Exegesen abermals die Frage
nach der Bedeutung der Textualität von Nietzsches ‚Philosophie‘ gestellt.
So widmete Rudolf Fietz seine 1992 veröffentlichte Bonner Dissertation, welche
den vielsagenden Titel Medienphilosophie trägt, der Untersuchung der Bedeutung und
des Zusammenspiels von Musik, Sprache und Schrift bei Nietzsche. Fietz’ methodolo-
gisch hochreflektierte Studie geht von der auch von Behler, Magnus und Zittel ver-
tretenen Auffassung aus, dass „Nietzsches textuelle Strategien als solche wahrgenom-
men, […] als konstitutiv für die mitzuteilenden ‚Inhalte‘ angesehen“160 werden
müssen, um sich dann ausgehend von dieser Hypothese explizit die Frage zu stellen,
welche Rolle eigentlich Sprache und Schrift in Nietzsches Philosophie spielen, ins-
besondere „wie weit sie Einfluß auf die ‚Mittelung‘ selbst“161 haben.

159 Zittel 2000b, S. 138f.


160 Fietz 1992, S. 5. – Trotz der solcherart gegebenen Betonung der bedeutungsstiftenden Funktion
der jeweiligen Materialität eines nietzscheschen Textes und trotz der daraus resultierenden Nähe von
Fietz eigenem Verständnis textueller ‚Kontexte‘ zu demjenigen von Jacques Derrida (vgl. Derrida 1999
[1971]) folgt seine Studie in ihrem eigenen Vorgehen recht naiv jener in der Nietzscheforschung immer
noch sehr weit verbreiteten Praxis einzelne Sätze oder gar Satzkola je nach Bedarf und ohne Beachtung
des sie umgebenden Sprachmaterials zu zitieren.
161 Fietz 1992, S. 8.
58 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Zur Beantwortung dieser Frage wendet Fietz sich allerdings nicht, wie es nahe-
liegen würde, sofort Nietzsches eigenen sprach- und schrifttheoretischen Überlegun-
gen zu, sondern nimmt unter Rückgriff auf jüngere Zeichenmodelle aus der deut-
schen Zeichenphilosophie und dem französischen (Post-)Strukturalismus Nietzsches
Sprachdenken im Lichte seiner musiktheoretischen Überlegungen aus einer semioti-
schen Perspektive in den Blick. Diesem Zugang liegt die von Fietz im Verlauf seiner
Studie überzeugend belegte These zugrunde, dass „Musik, Sprache und Schrift […]
von Nietzsche als verschiedene Arten der Zeichenorganisation“162 verstanden wer-
den, wobei sich die Musik von anderen Zeichensystemen dadurch unterschiedet,
dass sie „als syntaktisches Beziehungsgefüge aus Elementen ohne kodifizierte se-
mantische Dimension“163 beschrieben werden kann. Über die in dieser Einsicht
kulminierende Auseinandersetzung mit Nietzsches frühen Musikreflexionen sowie
der in dieser zugleich offensichtlich werdenden Problematik einer zeichentheoreti-
schen Rekonstruktion derselben – wenn Musik bloß dichte Zeichenfolge ist und
damit einen anti-repräsentationalistischen Charakter besitzt, kann ihr nicht mehr
die für das Sprachzeichen meist als zentral erachtete denotative Funktion zu-
kommen164 – gelangt Fietz schließlich zur These, dass in Nietzsches Texten der
„Versuch gemacht wird, die Sprache nach dem Vorbild der Musik zu interpretieren,
[… d.h.] die Sprache vom (musikalischen) Signifikanten und nicht vom Signifikat
her“165 zu denken:

Nietzsches Interpretation der Sprache […] macht deutlich, daß die Zeit auch in der Sprache ein
bedeutungsstabilisierendes Moment ist, daß die starren Zuordnungen von Signifikant und Sig-
nifikat jederzeit gefährdet sind, da die Signifikanten mit der Zeit in Bewegung geraten und die
Signifikate (insofern beide eben nicht rein voneinander zu trennen sind) mitreißen.166

Dieses musiktheoretisch bedingte und sprachphilosophisch untermauerte Sprachver-


ständnis mündet laut Fietz letztendlich in Nietzsches Versuch, in dem seinem Denken
eignenden Medium – der Schrift – musikästhetische Einsichten umzusetzen, d.h. sein
Schreiben zu musikalisieren, was notwendigerweise eine Betonung der Signifikanten
gegenüber den Signifikaten mit sich bringe. Derartig wende sich Nietzsche auch
gegen jene Sprachvorstellung, die Wittgenstein ein halbes Jahrhundert später – sie
dabei stark schematisierend – als das ‚Augustinische Bild der Sprache‘ bezeichnet

162 Fietz 1992, S. 14.


163 Fietz 1992, S. 39.
164 Zum Verständnis der Musik als ‚dichte Zeichenfolge‘ siehe insbesondere das zweite Kapitel
„Musik ‚als die wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht‘“ von Fietz’ Studie (Fietz 1992,
S. 35–58); zu den sich daraus ergebenden Problemen für die Erfassung der Musik mit Hilfe traditionel-
ler Zeichentheorien das Kapitel „Semiotik der Musik? Einiges zum Problem des musikalischen Zei-
chens“ (Fietz 1992, S. 82–94).
165 Fietz 1992, S. 90.
166 Fietz 1992, S. 93.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 59

hat.167 Bei diesem handelt es sich um jene Sprachauffassung, die sprachliche und
graphematische Zeichen stets von einem ihnen zugrundeliegenden unveränderlichen
Gegenstand her denkt: ihrer Bedeutung.168
Um seine Leser zu einer alternativen Einstellung zur Sprache bzw. Schrift zu
nötigen, sprich: um sie zur Einsicht in die „für alles Bedeuten unabdingbare[ ] Media-
lität materialer Signifikanz“169 zu bringen, bediene sich Nietzsche hingegen zweier
Strategien: Einerseits kommentieren Nietzsches Texte regelmäßig den Zusammen-
hang zwischen ihrer Schriftlichkeit und dem diese konstituierenden Schreibprozess
und reflektieren zugleich die für ein solches Schreiben ‚adäquaten‘ Lektüreprakti-
ken.170 Andererseits charakterisieren sich seine Schriften durch den gezielten Einsatz
einer „ästhetischen Graphie“171, welche, ebenso wie die regelmäßige Auseinander-
setzung mit dem Lesen und der Schrift, eine Irritation gewohnter Rezeptionsprozesse
anstrebe: „Es sind dies gewissermaßen p e r f o r m a t i v e Z e i c h e n , graphische Supra-
segmentalia, die die materiale Schriftsubstanz in den Vordergrund spielen, die Kom-
plexität der Graphie erhöhen und so die Signifikanz als Signifikanz auszeichnen“172.
Diese Performationszeichen, von denen Fietz den Gedankenstrich und das Anfüh-
rungszeichen hervorhebt, entsprechen, da sie nicht aus der Zeichenkette hinauswei-
sen, sondern das horizontale Geflecht der Kette betonen, die „nicht kodierbaren
Suprasegmentalia der tonalen Sprache“173.
Im abschließenden Kapitel seiner Studie führt Fietz seine medienphilosophischen
Überlegungen im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Nietzsches Philologie- und
Interpretationsbegriff in einen Entwurf einer allgemeinen Textauslegungstheorie zu-
sammen.174 Im Zuge dieser sich sehr stark an Nietzsches Originaltexte haltenden
literaturtheoretischen Reflexionen wendet sich Fietz gegen eine in der Nietzsche-

167 Vgl. Wittgenstein 2001, §§ 1–27 und Baker/Hacker 2005, S. 1–28.


168 Bedeutung ist hier im Sinne Freges, d.h. als Referenz oder Intension, zu verstehen.
169 Fietz 1992, S. 371.
170 Fietz kommentiert diese Praxis wie folgt: „Der literale Schematismus ist damit keineswegs
überwunden – und doch bleibt nicht einfach alles beim alten. Das Paradoxon ist potenziert, aber
gerade in der Potenz zeigt sich etwas Neues. Wer bei der Lektüre Nietzschescher Texte permanent liest,
daß die gewohnte Art des Schreibens und Lesens so selbstverständlich nicht ist, der wird, auch wenn
er das wieder auf die gewohnte Art und Weise liest, vielleicht doch verunsichert.“ (Fietz 1992, S. 374f.)
171 Fietz 1992, S. 377.
172 Fietz 1992, S. 378.
173 Fietz 1992, S. 378.
174 Die von Fietz in diesem „Über ‚Philologie als Ephexis in der Interpretation‘“ betitelten Kapitel
entwickelten Überlegungen zu Nietzsches Philologie- und Interpretationsverständnis wurden 2005 von
Christian Benne – ohne expliziten Bezug auf Fietz – erneut aufgegriffen und systematisch ausgear-
beitet. Benne weist in dieser Arbeit den lebenslangen Einfluss der Bonner Schule der Klassischen
Philologie auf Nietzsches Denken im Ganzen – d.h. also auch auf seine Spätphilosophie – nach. Nach
Benne bezeichnete Philologie in diesem Kontext „die Herstellung, Reinhaltung und Erklärung der
Texte, d.h. die seit den Zeiten der alexandrinischen Bibliothekare praktizierte Kombination aus
(genealogischer) Textkritik und behutsam deutendem Kommentar“ (Benne 2005, S. 354).
60 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

forschung immer noch anzutreffende Deutungstradition, welche die Auffassung ver-


tritt, dass Nietzsche noch zwischen einer ‚wahren‘ und einer ‚falschen‘ Interpretation
von Texten unterscheide. Als Alternative zu dieser meist korrespondenztheoretisch
verstandenen Opposition entwickle Nietzsche ein alternatives Angemessenheitskrite-
rium, das nicht mehr den in Nietzsches Sprachdenken bereits suspendierten eindeuti-
gen Sachbezug, sondern die Textangemessenheit qua Feinheit der Lektüre, d.h. also
qua Nachvollzug des Zeichenflusses, setzt:

Gerade im definitiven Bezug des Textes auf eine atextuale Sache sieht Nietzsche die grobe
Fälschung am Werk, insofern die Textur des Textes dabei übersehen wird. Der Text ist die primäre
Sekundarität, es geht ihm keine Sache voraus, auf die hin er zurückgelesen werden muß. Die
Faktizität des Textes ist seine Textualität175.

Mit diesem aus Nietzsches eigenem Philologie- und Interpretationsbegriff abgeleite-


ten Fokus auf die Bedeutung der Faktizität des Textes weist Fietz semiotisch-medien-
philosophische Studie auf jene Problemkonstellation, die Anfang der neunziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts ins Zentrum der Aufmerksamkeit der eigentlichen Nietz-
sche-Philologie gerückt ist. Auch diese widmete sich erneut einer kritischen Unter-
suchung der Textualität von Nietzsches Textkorpus, wie es in der damals – wie auch
heute noch – nicht abgeschlossenen Colli/Montinari-Ausgabe vorlag. Im Zuge dessen
wurde besagte Ausgabe und die ihr zugrundliegenden Editionskriterien auf der Basis
jüngerer editionstheoretischer und -praktischer Entwicklungen einer folgenreichen
Kritik unterzogen.
Losgetreten wurde die abermalige Auseinandersetzung mit der Frage nach dem
Textstatus von Nietzsches Schriften und Aufzeichnungen, die durch Collis und Monti-
naris Publikation des späten Nachlasses in seiner vermeintlich authentischen Gestalt
bereits temporär als obsolet erachtet worden war, 1991 durch einen kurzen Aufsatz
von Wolfram Groddeck.176 Groddeck zeigte dort, dass die bis damals in der KGW
praktizierte editorische Trennung des nachgelassenen Materials in ‚Vorstufe‘ und

Zu Bennes Nietzsche-Deutung und deren Einfluss auf die Lektüremethode dieser Studie siehe auch
das Kapitel 2.1.3.
175 Fietz 1992, S. 416.
176 Diesbezüglich schreibt Montinari am Ende des textkritischen Kapitels von Nietzsche lesen: „Uns
bleibt neben seinen Schriften und Werken sein Nachlaß. Dieser Nachlaß ist im wahrsten Sinne des
Wortes ein verpflichtendes Erbe, da Nietzsches Fragestellungen, sei es in seinen Werken, sei es in
seinen fragmentarischen Aufzeichnungen – beides als Ganzes betrachtet –, auch heute noch bestehen
bleiben. Im Sinne dieser Verpflichtung aber soll der handschriftliche Nachlaß Nietzsches in seiner
authentischen Gestalt bekannt werden. Was den ‚Willen zur Macht‘ betrifft, so ist nach der philologi-
schen Erschließung des Nachlasses von 1885 bis 1888 der Streit um das angebliche Hauptwerk gegen-
standslos geworden: die Nietzsche-Forschung kann hier zur eigentlichen Tagesordnung übergehen.“
(Montinari 1982, S. 118f.)
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 61

‚Fragment‘ einem zwar analytisch korrekten, „wenn auch viel zu abstrakten Sinn“177
besaßen:178

Sie [= die editorischen Kategorien ‚Fragment‘ und ‚Vorstufe‘; A.P.] lassen sich nämlich nach
strukturalistischem Modell als editorische Umsetzung der ‚beiden Achsen der Sprache‘ begreifen:
der Begriff der ‚nachgelassenen Fragmente‘ erweist sich […] als darstellerischer Reflex auf die
syntagmatischen Zusammenhänge, die sich in der Kontiguität der einzelnen Notate als Nieder-
schriftsreihen in den Manuskripten manifestiert. Der Begriff ‚Vorstufe‘ läßt sich dagegen auf die
paradigmatische Achse beziehen, er ignoriert die synchronen Kontextzusammenhänge der Nie-
derschriften, weil er auf einen späteren Text diachron perspektiviert wird.179

Groddeck wies allerdings auch nach, dass insbesondere die durch diese Editions-
praxis zu weiter Verbreitung gelangte Bezeichnung des als einzelne kurze ‚Texte‘
veröffentlichten nachgelassenen Materials als ‚Fragmente‘ problematisch war, da sie
einerseits den gleichen Namen trugen, wie eine spezifische literarische Gattung,
nämlich das spätestens seit der Romantik in seiner Funktion poeseologisch mehr oder
weniger eindeutig bestimmte ‚Fragment‘. Andererseits war, wie das obige Zitat belegt,
die Unterscheidung selbst eine rein analytische, die auf keiner differentia specifica
beruhte, sondern – wie Groddeck anhand des Textmaterials zu ZA Tugend demon-
striert – auf jedwelches Textstück, je nachdem, ob man eine diachrone oder eine
synchrone Perspektive einnimmt, angewendet werden konnte.180
Diese erste noch recht milde Kritik, welche gar mit einem Hinweis auf die text-
genetische Nutzbarmachung des in der KGW bis dato publizierten Materials endete,181
wurde von Groddeck 1995 in einem zusammen mit Michael Kohlenbach verfassten

177 Groddeck 1991b, S. 173.


178 In den „Editorischen Grundsätzen zur Kritischen Studienausgabe“, welche denjenigen der KGW
folgen, führen Colli und Montinari folgende Kriterien zur Begründung an, ob ein Text als linearisiertes
‚Fragment‘ in den eigentlichen Nachlassbänden, oder als ‚Vorstufe‘ in den Nachberichtsbänden ver-
öffentlicht wurde: „Von den Vorstufen und Vorarbeiten zu allem, was sich in den von Nietzsche selbst
veröffentlichten Werken oder auch im Nachlaß in einer ausgearbeiteten Form überhaupt vorfindet,
wurden diejenigen ausgeschlossen, die sich von der späteren Fassung rein formal unterscheiden“ (KSA
14, S. 19).
179 Groddeck 1991b, S. 173.
180 Vgl. Groddeck 1991b, S. 168ff.
181 Groddeck geht dabei so weit, den später auch von ihm hinterfragten Status der Authentizität der
Darstellung in der Colli/Montinari-Edition zumindest unter Anführungszeichen noch gelten zu lassen,
wenn er schreibt: „Es mag sich trivial anhören, aber letztendlich ist die Authentizität dieser Ausgabe
abhängig von der Fähigkeit des Lesers, damit richtig umzugehen. Er darf nicht ‚Texte‘ suchen, wo gar
keine überliefert sind.“ (Groddeck 1991b, S. 175)
Wie ein Blick in die einflussreichsten Interpretationen der deutschsprachigen Nietzsche-
forschung der letzten zwei Jahrzehnte zeigt, waren die Leser des adäquaten Umgangs mit der KGW III-
VI weitaus weniger fähig als von Groddeck erhofft. Die Mehrheit der herausragendsten Studien
bediente sich auch in den neunziger Jahren noch des Nachlasses wie eines unerschöpflichen Fundus,
der dazu bereitzustehen schien, etwaige argumentative Lücken der eigenen Auslegung zu stopfen.
62 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Aufsatz erneut aufgegriffen und vertieft. Auf dem Hintergrund der Weiterentwicklung
der Editionswissenschaften in den letzten Jahrzehnten erwiesen sich insbesondere
folgende editorischen Entscheidungen von Colli und Montinari als problematisch:182
1.) Die Aufteilung des Textbestandes in Text- und Apparatbände: Laut Groddeck
und Kohlenbach stellt eine derartige Unterscheidung „unwillkürlich zugleich lektüre-
und interpretationssteuernde Weichen“183. Insbesondere bei den ‚Nachgelassenen
Fragmenten‘ führte diese Editionspraxis dazu, dass man glaubte, die vollständige und
manuskriptgetreue Edition des Nachlasses vorliegen zu haben. Beat Röllin und René
Stockmar haben die für die Nietzscheforschung fatalen Konsequenzen dieser den
Anschein der Authentizität erweckenden Editionspraxis lakonisch zusammengefasst:
„Durchnummeriert, in einer streng chronologischen Wiedergabe haben sich die Nach-
gelassenen Fragmente als eigener widerstandslos zitierfähiger Komplex etabliert, und
dies mit aller Autorität des Drucks“184.
2.) Die chronologische Ordnung des ‚Text‘-Bestandes/der ‚Nachgelassenen Frag-
mente‘: Diese erweckte fälschlicherweise den Eindruck einer zeitlichen Genauigkeit,
„die nicht für alle Fälle mit gleicher Evidenz begründet werden kann“185. So verwendete
Nietzsche häufig in einem kurzen Zeitraum unterschiedliche Hefte, die er dann aber
auch über verschiedene Arbeitsphasen hinweg in Verwendung haben konnte: „Die
Anordnung, mit der im edierten Nachlaß Notat auf Notat erscheint, behauptet eine
kontextstiftende Sukzessivität, die oft nur arbiträr unterstellt worden ist.“186
3.) Die lineare Darstellung der Aufzeichnungen und Notate:187 Entgegen der mitt-
lerweile gängigen Unterscheidung von Reinschriften/gedrucktem Text und hand-
schriftlichen Entwürfen bzw. Aufzeichnungen in der Editionstheorie und -praxis

Dabei wurde der problematische Textstatus der vermeintlichen ‚Fragmente‘ fast durchgehend miss-
achtet.
182 Die im Anschluss erfolgende Dreiteilung der Unzulänglichkeiten der Edition des Nachlasses in
der KGW III-VIII wurde bereits 2007 von Beat Röllin und René Stockmar unternommen. Meine
Darstellung ist dementsprechend deren Aufsatz – insbesondere Röllin/Stockmar 2007, S. 23 – in
diesem Punkte verpflichtet.
Siehe zu den folgenden drei Absätzen auch: Endres/Pichler 2013, S. 94–96.
183 Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 27.
184 Röllin/Stockmar 2007, S. 24.
185 Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 28.
186 Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 28. – Hinzu kommt, dass Nietzsche seine Hefte auch nicht undirek-
tional beschriftet hat, sondern häufig von hinten nach vorne, teilweise aber auch innerhalb eines
Heftes gesprungen ist. Groddeck und Kohlenbach schließen daraus konsequent: „Das editorische
Prinzip der chronologischen Abfolge der einzelnen ‚Fragmente‘ in der Ausgabe kommt also schnell an
eine darstellerische Grenze, sobald sich innerhalb der einzelnen Hefte die einfache chronologische
Ordnung der Aufzeichnungen aufgelöst hat. Deren Zusammenhang ist nur – wenn überhaupt – unter
textgenetischen Gesichtspunkten zu erfassen.“ (Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 36)
187 Vgl. Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 34ff. – Im Folgenden werden im Zuge dieser Studie die
Termini ‚Aufzeichnung‘ und ‚Notat‘ synonym als Oberbegriffe für das in Nietzsches Nachlass über-
lieferte handschriftliche Textmaterial verwendet.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 63

wagten sich Colli und Montinari wie damals noch üblich an die ebenfalls eine falsche
Eindeutigkeit suggerierende Erstellung von Textfassungen aus handschriftlichen Auf-
zeichnungen. Diese Praxis führte dazu, dass – so Groddeck/Kohlenbach – „mehr
‚Nietzsche-Texte‘ publiziert worden sind als Nietzsche je geschrieben hat“188.
Summa summarum förderte das editorische Vorgehen von Colli und Montinari
den Glauben, dass die bisherige Edition der Werke und Aufzeichnungen Nietzsches
vollständig und authentisch sei. Gerade in Betreff der Authentizität haben sich al-
lerdings die Bestimmungskriterien in der deutschsprachigen Editionspraxis gegen-
über den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gravierend verändert. So stellen
Davide Giuriato und Sandro Zanetti in einem zwischen Rezension der KGW IX und
Handschriftenlektüre changierenden Aufsatz aus dem Jahr 2003 den gegenwärtigen
Umgang mit besagter Problematik zuspitzend fest, dass „Authentizität nur als Forde-
rung nach Offenlegung der Darstellungsprinzipien und möglichst genauer Dokumen-
tation des jeweils vorliegenden Materials Sinn“189 mache.
Genau diese Forderung erfüllen die Herausgeber der seit 2001 erscheinenden
KGW IX, indem sie dort in differenzierter Transkription eine integrale Wiedergabe der
Aufzeichnungen aus Nietzsches spätem Nachlass liefern und so den typischen Notat-
charakter des vorhandenen Textmaterials aufrechterhalten:190

Indem KGW IX den späten Nachlaß in der beschriebenen Weise dokumentiert, werden Aufzeich-
nungen und Schreibprozesse nicht als linearer Lesetext konstituiert, sondern bleiben unmittelbar
anschaulich; die Komplexität und die Kontextualität der Aufzeichnungen werden evident.191

Welche Konsequenzen diese Editionspraxis für das im ersten Teil dieser Studie ent-
wickelte Textverständnis und die Textlektüre mit sich bringen, soll im Folgenden kurz
demonstriert werden. Dabei bietet es sich an, sich auf eine Aufzeichnung zu konzen-
trieren, die einerseits selbst ihren Status als Text verhandelt und dadurch einen Ein-
blick in die „Genealogien von Nietzsches Schreiben“ sowie das in diesem Schreiben
nicht nur propositional, sondern auch prozessual zum Ausdruck kommende Textver-
ständnis gewährt.192 In Anbetracht der Tatsache, dass diese Studie sich primär einem

188 Groddeck/Kohlenbach 1995, S. 32.


189 Giuriato/Zanetti 2003, S. 92.
190 Vgl. Röllin/Haase/Stockmar/Trenkle 2008, S. 104.
191 Röllin/Stockmar 2007, S. 26. – Wie ein Blick in die „Editorischen Vorbemerkungen“ der KGW IX
zeigt, folgen deren Herausgeber somit dem minimalen Grundkonsens der ansonsten an zahlreichen
Punkten stark divergierenden und im Kapitel 1.1. dieser Studie bereits ausführlich erläuterten jüngeren
Editionstheorien in der Ansicht, dass „[d]ie Wiedergabe von Handschrift im typographischen Satz auch
bei einer auch noch so differenzierten Druckgestaltung nicht als Abbildung (‚mimesis‘), sondern eher
als Resultat einer Übersetzung (‚interpretatio‘) von einem polymorphen in ein stereotypes Schreib-
system zu verstehen“ (KGW IX/1, S. XV) ist.
192 Eine Hypothese für das Auftauchen der sich insbesondere durch Schreibstörungen verstärkenden
Selbstthematisierung des Schreibens in der Moderne liefert Thüring 2008 auf der Folie des den
modernen Schriftsteller seit Ende des 19. Jahrhunderts immer stärker beeinflussenden Technisierungs-
64 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

von Nietzsche autorisierten und dementsprechend gedruckten Text widmen wird, liegt
es andererseits nahe, eine Aufzeichnung auszuwählen, die auch in einem offensicht-
lichen textgenetischen Zusammenhang mit einem später veröffentlichten ‚Aphoris-
mus‘193 steht.
Mit Hilfe einer Aufzeichnung, welche die soeben gelisteten Kriterien erfüllt, kann
nicht nur ein erster sporadischer Einblick in Nietzsches Schreibprozesse geliefert wer-
den, sondern auch die in diesen laut Fietz sich regelmäßig ereignende Meta- bzw.
Autoreflexion dieses Prozesses genauer untersucht werden. Zudem erlaubt eine solche
Aufzeichnung, die im Kapitel 1.1. bereits ausgiebig verhandelten Differenzen zwischen
Handschriften und gedruckten Texten an einem konkreten Beispiel in den Blick zu
nehmen und so wichtige Vorarbeiten für die Schaffung einer auch textgenetische Mo-
mente in sich aufzunehmen gedenkenden und im Kapitel 2.1.3. in Hinblick auf die hier
später zu deutende Götzen-Dämmerung zu entwickelnde Lektüremethode zu liefern.
Bereits das erste im Rahmen der Neuedition von Nietzsches spätem Nachlass in der
KGW IX publizierte Notizheft liefert zahlreiche ‚Texte‘, die die genannten Kriterien
erfüllen. Beispielhaft für diese Aufzeichnungen ist die obere Hälfte der Seite 82 des
Arbeitsheftes N VII 1, das Nietzsche von April bis Juni 1885 verwendete, wobei er Anfang
Sommer 1885 zahlreiche Texte für die zwischen dem 8. Juni und dem 6. Juli 1885
erfolgten Diktate an Louise Röder-Wiederhold redigierte.194 Das auf dieser Seite zu
findende Textmaterial besitzt sogar noch einen zusätzlichen heuristischen Wert, denn
es erfüllt nicht nur die zuvor entwickelten Kriterien, sondern widmet sich im Rahmen
einer Metareflexion einem der beiden von Rudolf Fietz aus der Vielzahl der bei Nietz-
sche existierenden, hervorgehobenen Performationszeichen: den Anführungszeichen.
Teile des sich somit hervorragend für das leitende Erkenntnisinteresse dieser
Studie eignenden Notates sind nach einem umfangreichen Überarbeitungsprozess,
der hier in Ansätzen nachvollzogen werden soll, in den ‚Aphorismus‘ 289 von Jenseits
von Gut und Böse eingegangen.195 Unter diesen Umständen verwundert es nicht, dass

und Ökonomisierungsprozess: „Je enger Schreiben und Leben miteinander verflochten sind, desto
prekärer muss der Schreibende auch die vermeintlichen Stockungen in jenem Prozess empfinden, der
Schreiben und Leben zur organischen Existenzform verschmelzen soll.“ (Thüring 2008, S. 126)
193 Aufgrund der literaturwissenschaftlich nicht unproblematischen Bezeichnung der in Nietzsches
Schriften zumeist durch einen Absatz und/oder eine Nummerierung bzw. einen Titel von den voraus-
gehenden und nachfolgenden Textsegmenten getrennten Texteinheiten als ‚Aphorismen‘ wird in
dieser Studie der Terminus ‚Aphorismus‘ entweder zwischen einfachen Anführungszeichen geführt
oder durch den gattungsneutralen Ausdruck ‚Werksegment‘ ersetzt.
Ausführlich behandelt wird die hier angesprochene Problematik im Kapitel 2.1.2.3.
194 Zur Datierung und Heftbeschreibung siehe die in Hinblick auf den noch nicht abgeschlossenen
Nachbericht der KGW IX um eine Ausdifferenzierung der Beschriftungsebenen erweiterte Manu-
skriptbeschreibung in Röllin 2012, S. 48f.
195 Stark schematisch reduziert liegen im Falle von JGB 289 folgende Querverweise vor: N VII 1, S. 82,
Z. 2–20 & N VII 1, S. 102, Z. 2–13 → W I 6, S. 34, Z. 9–20 und W I 6, S. 35, Z. 28–44 & N VII 2, S. 11, Z. 2–10
→ DM JGB 289 → JGB 289.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 65

die Nietzscheforschung sich bereits sowohl in Einzelstudien als auch im Rahmen ihrer
Beschäftigung mit Nietzsches Schreibweisen im Allgemeinen diesem ‚Text‘ gewidmet
hat.196
Die mit brauner Tinte verfasste Grundschicht dieser bis zum Erscheinen des ersten
Bandes der KGW IX nicht veröffentlichten Aufzeichnung lautet (vgl. Abb. 1a/b):

Wer so viel mit sich allein war, wie ich, u Tagsüber sich fast lauter Dinge durch den Kopf laufen
läßt, die er nicht mittheilen würde, selbst wenn er Gesellschaft und feine tapfere Gesellen um sich
hätte! ein Solcher giebt zuletzt jedem Begriff u jedem Worte einen eigenen engeren Geruch; und
seine Philosophie, wenn sie selbst mit einer Löwenklaue geschrieben wäre, würde doch zuletzt
eine Philosophie der „Gänsefüßchen“ – um der deutschen Einfalt zu Liebe einem Wortspiel
auszuspielen (N VII 1, S. 82, Z. 2–20)

Ausgangspunkt des Notates ist die Beschreibung der Kommunikationssituation und


-praxis eines isolierten ‚Ich‘. Wie der erste Satz durch die Verwendung des Präteritums
belegt, handelt es sich bei der Einsamkeit dieses Sprecher-Ichs um einen nicht nur
sporadisch und erst seit kurzem auftretenden Zustand, sondern einen bereits seit
längerem gegebenen Status. Dem ‚Sprecher‘ wird, wie die Verwendung des Konjunk-
tives zeigt, rein hypothetisch eine bestimmte Kommunikationspraxis zugeschrieben:
er würde seine Gedanken „nicht mittheilen […], selbst wenn er Gesellschaft und feine
tapfere Gesellen um sich hätte“ (N VII 1, S. 82, Z. 6, 8 & 10). Indem der Satz nun diese
Tatsache selbst schriftlich konstatiert, bestätigt er einerseits performativ die Einsam-
keit des ihn Schreibenden, unterläuft dabei allerdings auch die von ihm bloß im
Potentialis ausgedrückte Tendenz, sich nicht „mit[…]theilen“ zu wollen, ist er doch
als geschriebener Satz offensichtlich eine potentielle Mitteilung. Im darauffolgenden
zweiten Satz wird die im ersten Satz gesetzte Mitteilungsverweigerung abermals sub-
vertiert, indem der ‚Text‘ dem sich eigentlich nicht kommunizieren-wollenden Spre-
cher-Ich eine spezifische Kommunikationspraxis zuschreibt, welche sich gerade da-
durch charakterisiert, dass auch im Falle, dass besagtes ‚Ich‘ sich mitteilen würde –

196 Neben der bereits ausführlich besprochenen Studie von Rudolf Fietz (vgl. Fietz 1992, S. 383f.)
widmen sich unter anderem folgende Arbeiten dem besagten Aufzeichnungskomplex: Simson 1995,
Giuriato/Zanetti 2003, Bourquin 2009 und Stegmaier 2012, S. 291f.
Mit Ausnahme von Giuriato/Zanetti geht jedoch keine dieser Studien auf die Bedeutung der
Materialität und des Textstatus der verhandelten Notate sowie deren textgenetisches Verhältnis
zueinander näher ein. Allerdings stand auch den beiden Autoren beim Verfassen ihres Aufsatzes noch
nicht die überarbeitete Fassung – das ist die Diktatversion aus dem Heft W I 6 – in der diplomatischen
Transkription der KGW IX zur Verfügung.
Im Rest der aufgelisteten Arbeiten steht hingegen von Anfang an die Bedeutung und Funktion
von Nietzsches Verwendung von Gänsefüßchen im Allgemeinen und nicht die Lektüre der hier im
Folgenden in den Fokus gerückten Notate im Mittelpunkt des Interesses. Dabei wird mit Ausnahme
der Arbeit von Bourquin jedoch kaum auf ein bereits von Fietz hervorgehobenes Charakteristikum von
Anführungszeichen – laut Letzterem sind sie „die graphischen Selbstreferenzzeichen (die ästhetischen
Schriftzeichen) par excellence“ (Fietz 1992, S. 382) – genauer eingegangen.
66 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

wie es in dem vorliegenden Notat ja gerade geschieht –, das derartig Mitgeteilte


problematisch werden würde: „ein Solcher giebt zuletzt jedem Begriff u jedem Worte
einen eigenen engeren Geruch“ (N VII 1, S. 82, Z. 10 & 12).
Dieses Bild – d.h. die eindeutig als bewusster Akt ausgedrückte Praxis eines
Sprachgebrauchs, der sich mehr der Kommunikation verweigert, als dass er sie stiften
würde, könnten doch die potentiellen Kommunikationspartner aufgrund besagten
hochindividuellen Sprechens den anderen ‚nicht riechen‘ – ist von höchster poeseolo-
gischer Relevanz für den weiteren Verlauf des Notates, faltet es dieses doch auf sich
selbst zurück: In Anbetracht des Ausgedrückten stellt sich nämlich dem Leser – der
als Leser automatisch die Rolle des Kommunikationspartners des intratextuellen Ichs
einnimmt – sofort die Frage, ob er denn die richtige Nase für den dort gegebenen
„eigenen engeren Geruch“ des Geschriebenen besitzt. Infolgedessen wird auch der
nach dem Semikolon einsetzende Halbsatz – „und seine Philosophie, wenn sie selbst
mit einer Löwenklaue geschrieben wäre, würde doch zuletzt eine Philosophie der
‚Gänsefüßchen‘“ – der auf den ersten Blick eine eindeutige Metareferenz über die hier
beschriebene Schreibpraxis zu liefern scheint, gebrochen und selbst sowohl faktisch
als auch metaphorisch in Anführungszeichen gesetzt:197 Eine Philosophie, die von
einem Sprecher-Ich artikuliert wird, welches seine eigene Sprech- und Schreibweise
derartig stark überindividualisiert, sodass dessen Leser nie wissen kann, ob er sie in
eben dieser Individualität erfasst, ist letztendlich auch in ihrem Schreiben über diese
Schreibweise – wenn überhaupt – nicht leicht zu fassen. Das Notat öffnet sich so einer
potentiell unendlichen Schleife, die nur mehr temporär still gestellt werden kann und
aufgrund derer selbst die Äußerung, dass es sich bei der in ihm ausgedrückten
Philosophie um eine „Philosophie der ‚Gänsefüßchen‘“ handelt, bereits selbst zwi-
schen Anführungszeichen zu lesen ist.198 Welche philosophischen Konsequenzen ein
derartig rekursives und sich in sich-selbst-hineinfaltendes Schreiben zeitigt, wird

197 Auf die Tatsache, dass die Gänsefüßchen selbst zwischen Anführungszeichen stehen, hat unter
anderem schon Christophe Bourquin hingewiesen und dabei die folgenden sprachphilosophischen
Konsequenzen herausgearbeitet: „Zum einen wird dem sprachtheoretischen Konzept eine Absage
erteilt, das auf die Differenz von sprachlicher ‚Eigen-‘ und ‚Uneigentlichkeit‘ abstellt. Zum anderen, im
Gleich- und doch im Gegenzug, wird ersichtlich, dass über Übertragen nur im Modus des Übertragens
gesprochen werden kann.“ (Bourquin 2009, S. 192)
Wie durch das Referat von Rudolf Fietz Medienphilosophie bereits angedeutet wurde und im Zuge
der Auseinandersetzung mit Nietzsches spätem Sprachdenken noch ausführlicher gezeigt werden
wird (vgl. Kap. 2.1.2.), kann im Falle von Nietzsches Spätwerk nicht global von einer Abschaffung der
Differenz zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen bzw. Schreiben gesprochen werden.
Insbesondere in den Post-Zarathustra-Schriften herrscht sowohl im Schreiben selbst als auch in der
sprachphilosophischen Reflexion eine eklatante Spannung zwischen einem Sprachmodus, der den
gängigen und gültigen (Sprech-)Konventionen einer gewissen Epoche folgt und dessen Brechung
durch ein poetisch-innovatives, musikalisiertes und damit hoch individualisiertes ‚Kommunizieren‘.
198 Zur hier zur Beschreibung einer bestimmten Form der Selbstbezüglichkeit herangezogenen Meta-
pher der ‚Schleife‘ sowie deren Verhältnis zu anderen in der Nietzscheforschung zur Beschreibung
derartiger Autoreferenzen herangezogenen ‚Termini‘ siehe das Kapitel 2.2.4., in welchem aufbauend
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 67

mich gegen Ende dieser Studie noch eingehender beschäftigen.199 Offensichtlich wird
jedoch bereits an diesem Punkt, dass es im Falle der Handschrift zu einer kaum
aufzulösenden Spannung zwischen dem empirischen Textmaterial und dem von
diesem ‚artikulierten‘ Textsinn kommt. Diese Spannung kommt auch im weiteren
Überarbeitungsprozess der Aufzeichnung zum Ausdruck, aufgrund dessen das, was
Nietzsche „schreibt“ (N VII 1, S. 82, Z. 13 – violette Tinte), weitere Deutungen ein-
fordert.
Im Notat finden sich potentiell drei Überarbeitungsschichten, deren Chronologie
nur spekulativ über die verwendeten Schreibwerkzeuge zu ermitteln ist. Noch in
brauner Tinte sind über dem ersten Satz „u Jahraus Jahrein“, „allerhand Gedanken,
Bedenken u. Bedenkliches“, „immer“ sowie „zwar“ eingefügt (vgl. Abb. 1a/b), was zu
folgender, grammatikalisch partiell inkorrekten Variante führt: „Wer so viel mit sich
allein war, wie ich, u Tagsüber u Jahraus Jahrein sich fast lauter allerhand Gedanken,
Bedenken u. Bedenkliches, Dinge durch den Kopf laufen läßt, die er nicht mittheilen
würde, selbst wenn er Gesellschaft und zwar feine tapfere Gesellen um sich hätte!“ (N
VII 1, S. 82, Z. 2–10)
Diese Überarbeitungen bedingen einerseits eine Verstärkung der Dimension der
Einsamkeit gegenüber der Grundschicht, da diese nun durch die Einfügung von „u
Jahraus Jahrein“ zeitlich noch weiter ausgedehnt wird. Andererseits kommt es sowohl
in Betreff der Kommunikationspraxis durch den eingefügten Zusatz von „immer“
sowie in der Bestimmung der potentiellen Gesellschaft durch das „zwar“ zu in der
Grundschicht nicht gegebenen Präzisierungen: Im Gegensatz zu der in der Grund-

auf die textnahe Lektüre von GD Vernunft der Versuch einer erneuten Ausdifferenzierung besagter
autoreferentieller ‚Schreibpraktiken‘ Nietzsches unternommen wird.
199 Ohne das im Lauftext behandelte Notat aus dem Heft N VII 1 zu berücksichtigen, hat sich auch
Hubert Thüring anhand von anderen Aufzeichnungen Nietzsches der in besagtem Notat verhandelten
Kommunikationsproblematik aus einer Nietzsches Schreibprozesse untersuchenden Perspektive zuge-
wandt und dabei die soeben freigelegte Spannung von Schreiben, ‚Text‘ und Ausdruck primär darauf
zurückgeführt, „dass Nietzsche eine Schreiben und Text verbindende Denkmethode fehlte“ (Thüring
2008, S. 135).
Letztendlich gelangt auch Thürings Aufsatz zur Freilegung eines Selbstbezüglichkeitsphäno-
mens, das der im Lauftext rekonstruierten Spannung zwischen Textbewegung und Schreiprozess in N
VII 1, S. 82 ähnelt. Dies ist der Fall, wenn er im Zuge einer konzisen Lektüre von JGB 230, welche auch
die in N VII 1, S. 21 und W I 6, S. 33 dokumentierten ‚Vorstufen‘ besagten ‚Aphorismus‘ berücksichtigt,
die Spannung zwischen dem dort im Zentrum stehenden „Grundtext homo natura“ und dem ebenfalls
in besagtem ‚Aphorismus‘ eine zentrale Rolle innehabenden, jedoch potentiell selbst aus dem ‚Grund-
text‘ entspringenden „Hang zur Erkenntnis“ (vgl. JGB 230, KSA 5, S. 167–170) nachzeichnet und im
Anschluss daran feststellt: „Auf diese Weise [= durch die innige Verschränkung des ‚Grundtextes
homo natura‘ mit dem ‚Hang zur Erkenntnis‘; A.P.] beugt sich der Text auf sich selbst zurück als
Offenbarung des Grundtextes und erscheint damit selbst als der Grundtext, der er nicht sein und den
es nicht geben kann: Es gibt nur Gekritzel über und neben einer Schrift, die selbst schon Gekritzel über
und neben einer anderen Schrift ist…“ (Thüring 2008, S. 138)
Zu JGB 230 und den interpretatorischen Folgen von dessen Genese siehe auch Brusotti 2013.
68 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

schicht beinahe apodiktischen Kommunikationsverweigerung, wird diese nun als


eine Verweigerung gegenüber eindeutig definierten Gesprächspartnern – „und zwar
feine tapfere Gesellen“ – spezifiziert. Des Weiteren bekommen die Gedanken des
Sprecher-Ichs, die in ihrer Bezeichnung als „Dinge“ in der Grundsicht noch unbe-
stimmt sind, eine anrüchig, subversive Dimension, indem sie nun als „Gedanken,
Bedenken u. Bedenkliches“ ausgewiesen werden. Der bereits in der Grundschicht
herausgearbeitete inversive Charakter des Notates wird hingegen durch die Über-
arbeitungen nicht berührt.
Dies geschieht auch nicht durch die zweite Überarbeitung, die, da sie mit violetter
Tinte vollzogen wurde, sich dank der Nachlasslektüren von Beat Röllin ziemlich
genau auf Anfang/Mitte Juni 1885 datieren lässt. Hier kommt es zu einer weiteren
Unterstreichung des individuellen Charakters des im Zentrum des Notates stehenden
Sprecher-Ichs und seiner a-kommunikativen Kommunikationspraktiken, da aus der
„Gesellschaft und zwar feine tapfere Gesellen“ „Geister seiner Art u ausgelassene
tapfere Kameraden“ geworden sind. Durch diese Überarbeitung und die mit ihr
erfolgende im Vergleich zur früheren Fassung weitaus größere Nähe der potentiellen
Gesprächspartner zum Sprecher-Ich verweist die neue Fassung noch nachdrücklicher
auf das Scheitern von dessen so und so mehrheitlich verweigerter Kommunikation.
Dieses Scheitern wird nun aber nicht nur mehr als Folge von dessen in seiner Ein-
samkeit bedingten Idiosynkrasie, d.h. als willkürlicher Akt, sondern als unvermeidbar
dargestellt, wie die aus den Überarbeitungen hervorgegangene Variante des zweiten
Satzes belegt: „ein Solcher giebt zuletzt jedem Begriff u jedem Worte einen eigenen
Geruch; der unm nicht mehr mit theilbar ist – er schreibt endlich, u wenn er es auch
nicht wollte, allein für sich.“ (N VII 1, 82, Z. 10–15)
Hier ist die Einsamkeit nun endgültig zur nicht mehr überwindbaren Bedingung
des Scheiterns jeglichen Mitteilungsversuches und – wie im Notat selbst expliziert –
des Schreibens geworden. Wie bereits Davide Giuriato und Sandro Zanetti in ihrer
Deutung dieser Aufzeichnung hervorgehoben haben, führt besagtes Scheitern der
Kommunikation – Giuriato/Zanetti lesen dieses, wie das folgende Zitat belegt, noch
fälschlicherweise als einen willkürlichen Akt – zur Reflexion des dieses verhandeln-
den Schreibprozesses:

Hier ist es so, daß das Schreiben in dem Maße thematisch wird, wie dieser Dialog nicht zustande
kommt, wie die eingestandene Unwilligkeit, etwas mitzuteilen, exponiert wird. Schreiben wird in
dem Maße thematisch, wie sich in ihm etwas nicht mitteilen läßt. Wer sich an demjenigen, was
geschrieben steht, „reibt“ – wie die überschriebene Streichung nahelegt –, dem lenkt sich die
Aufmerksamkeit auf die Materialität des Geschriebenen.200

Jenseits der von den beiden Autoren in den Fokus gerückten Bedeutung der materia-
len Dimension, in welcher das Scheitern der Kommunikation durch die Streichung

200 Giuriato/Zanetti 2003, S. 99.


2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 69

des „sch“ in „schreibt“ nochmals gespiegelt wird, bestätigt die zweite Überarbeitung
der Aufzeichnung einen anderen Autokommentar Nietzsches, der sich am Anfang des
insbesondere 1888 verwendeten Heftes W II 1 findet. Dort liest man: „Ich achte die
Leser nicht mehr: wie könnte ich für die Leser schreiben? .. Aber ich notire mich, für
mich.“ (W II 1, S. 1, Z. 40–42)
Diese zwei Sätze, die in der deutschsprachigen Nietzscheforschung bereits einige
Bekanntheit erlangt haben – geht auf sie doch die Bezeichnung ‚Notat‘ für Nietzsches
Aufzeichnungen aus dem Nachlass zurück –, vereinigen in sich paradigmatisch jene
paradoxen Eigenschaften, welche auch die Aufzeichnung auf der oberen Hälfte der
Seite 82 des Notizheftes N VII 1 prägen, entbehren dabei jedoch der Intensität des
autosubversiven Gehalts, den die Lektüre desselben freigelegt hat: Auch in den
beiden Sätzen aus W II 1 schreibt ein intratextuelles Ich von seiner Kommunikations-
verweigerung gegenüber einem potentiellen Lesepublikum und bietet sich als der-
artig Verschriftlichtes indirekt eben dieser verweigerten Kommunikation qua Lektüre
an. Dabei reflektiert die Aufzeichnung allerdings nicht, wie dies in N VII 1, S. 82 der
Fall ist, die aus dieser Verweigerung folgenden Konsequenzen für die sich gerade
vollziehende Schreibweise, sondern versucht sich gegenüber der Außenwelt in einem
Akt reinster Autoreferenz, zugleich Ausdruck einer bloß skriptoralen Selbstkonstituti-
on, zu verschließen: „Aber ich notire mich für mich.“ Mazzino Montinari hat in
Anbetracht von Äußerungen wie der eben zitierten Nietzsches späten Nachlass als
„intellektuelles Tagebuch“201 bezeichnet. Von der traditionellen Variante eines sol-
chen unterscheiden sich Nietzsches Aufzeichnungen allerdings dadurch, dass sie an
manchen Stellen eindeutig in Richtung ‚Werk‘-Gestaltung tendieren. Dies zeigt sich
unter anderem an der überarbeiteten Fassung des zuvor behandelten Notates N VII 1,
S. 82, die sich im Gegensatz zur Erstfassung durch einige Umstellungen und Änderun-
gen kennzeichnet, die wohl nicht zuletzt dem es umgebenden Kontext geschuldet
sind, handelt es sich bei dieser Weiterverarbeitung doch um eine jener Niederschrif-
ten, welche Nietzsche Louise Röder-Wiederhold im Sommer 1885 in Sils-Maria diktiert
hat.202 Allerdings ging auch dieses Notat nicht in der Diktatfassung in ein von Nietz-
sche publiziertes Werk ein.

201 Montinari 1982, S. 100.


202 Auf die Bedeutung derartiger Kontextualisierungen im Nachlass hat bereits 1991 Wolfram Grod-
deck hingewiesen. Im Zuge seiner Kritik an der editorischen Unterscheidung von ‚Fragment‘ und
‚Vorstufe‘ betont er, dass auch Nietzsches Nachlass nicht einfach aus ‚Texten‘ bestehe, die entweder
verworfen wurden oder in die publizierten Schriften eingingen, sondern auch für sich eine Struktur
bilden: „Wollte man sich von dieser Struktur ein Bild machen, so ließe sie sich als eine alternierende
Bewegung von Niederschriften und Abschriften veranschaulichen, welche sich oft gegenläufig durch
die Manuskripte zieht. Die Schreibbewegung ist nicht einsinnig auf ein Ziel ausgerichtet […], sondern
ist ebensosehr flächig zu denken: die einzelnen Notate treten in neue Konstellationen, in einem Prozeß
von Relektüre und Neuformulierung verschwinden sie und tauchen auch unvermittelt wieder auf. Man
könnte das, wenn man sich in diesen Schreibprozeß vertieft, eine Choreographie schreibenden Den-
kens nennen.“ (Groddeck 1991b, S. 173)
70 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Bereits die Grundschicht der im Arbeitsheft W I 6 auf der Seite 35 in der Hand von
Louise Röder-Widerhold verfassten Aufzeichnung weist gravierende Unterschiede zur
früheren Fassung auf:

In Aphorismen-Büchern gleich den meinigen stehen zwischen und hinter kurzen Aphorismen
lauter verbotene lange Dinge und Gedanken-Ketten; und Manches darunter, das für Oedipus und
seine Sphinx fragwürdig genug sein mag. Abhandlungen schreibe ich nicht: die sind für Esel und
Zeitschriften-Leser. Ebenso wenig Reden. Meine unzeitgemäßen Betrachtungen richtete ich als
junger Mensch an junge Menschen, welchen ich von meinen Erlebnissen sprach um sie zu
meinen Gelöbnissen zu verführen. Damals schämte ich mich noch nicht „beredt“ zu sein; heute
könnte ich es vielleicht nicht mehr. Wer soviel mit sich allein war wie ich, und Tagsüber und
Jahraus Jahrein sich allerhand Gedanken, Be=denken und Bedenkliches durch den Kopf laufen
läßt, das er nicht immer mittheilen würde, selbst wenn er Geister seiner Art und ausgelassene
tapfere Kameraden um sich hätte: ein solcher gibt zuletzt jedem Begriff und jedem Worte einen
eigenen engeren Geruch der nicht mehr mittheilbar ist: und seine Philosophie, wenn sie selbst
mit einer Löwen=klaue geschrieben wäre, würde doch wie eine Philosophie der „Gänsefüßchen“
aussehen. (W I 6, S. 35, Z. 12–44; vgl. Abb. 2a/b)

Durch die Zusammenführung der Aufzeichnung N VII 1, S. 82 mit einem Teil eines
anderen im selben Notizheft zu findenden Notates (vgl. N VII 1, S. 102, Z. 2–13)203
kommt es erneut zu nicht unbedeutenden Verschiebungen im ‚Text‘-Sinn: An die

203 In Anbetracht der Tatsache, dass Nietzsche das Notizheft N VII 1 von hinten nach vorne beschrie-
ben hat (vgl. Röllin 2012, S. 48), ist davon auszugehen, dass besagter Teil vor dem ‚Gänsefüßchen‘-
Abschnitt verfasst wurde.
Die mit brauner Tinte verfasste Grundschicht dieser Aufzeichnung lautet in der Transkription der
KGW IX: „In Aphorismen-Büchern gleich den meinigen, stehen zwischen den Aphorismen lauter
verbo=tene Dinge. Abhandlungen sind für Esel als Leser. Meine ‚Unzeitgemäßen B.‘ richteten sich an
junge Menschen, welchen ich von meinen Erleb-nissen u. von meinen Gelöbnissen sprach“ (N VII 1,
S. 102, Z. 2–12).
Dieser Entwurf wurde zumindest dreimal überarbeitet, wie man anhand der Einfügungen und
Streichungen mit Bleistift, schwarzer und violetter Tinte erkennen kann. Berücksichtigt man diese
Umarbeitung, lässt sich folgende Lesart als Ausgangsmaterial für W I 6, S. 35 rekonstruieren: „In
Aphorismen-Büchern gleich den meinigen, stehen zwischen u hinter kurzen Aphorismen lauter
verbo=tene lange Dinge u Gedanken-Ketten: etwas das für Oedipus u seine Sphinx gut genug sein
mag. Abhandlungen aber schreibe ich nicht: die sind für Esel und Zeitschriften-Leser. Meine ‚Un-
zeitgemäßen B.‘ richteten sich als junger Mensch an junge Menschen, welchen ich von meinen Erleb-
nissen sprach u. zu Gelöbnissen verführen wollte: Damals schämte ich mich noch nicht, ‚beredt‘ zu
sein; heute könnte ich es vielleicht nicht mehr.“ (N VII 1, S. 102, Z. 2–13)
Wie man sieht, beschränken sich die Änderungen in W I 6, S. 35 gegenüber dieser letzten Fassung
neben der Ausschreibung der Konjunktionen und der Änderung nichtalphabetischer Zeichen („:“ wird
zu „;“; Streichung der Gänsefüßchen bei den „unzeitgemäßen Betrachtungen“) auf den Einschub von
„Ebenso wenig Reden.“ (W I 6, S. 35, Z. 20). Insofern ist davon auszugehen, dass die letzte konstituier-
bare Fassung von N VII 1, S. 102, Z. 2–13 Nietzsche tatsächlich als Vorlage für das Diktat gedient hat
und das Kolon im Zuge desselben spontan eingefügt wurde. Offen bleibt die Frage, auf wen die
Veränderungen bei den nichtalphabetischen Zeichen tatsächlich zurückgehen – Nietzsche selbst oder
die eigentlich schreibende Louise Röder-Wiederhold?
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 71

Stelle der in N VII 1, S. 82 gegebenen, partiell paradoxen Autoreflexion der Ursachen


und Formen des eigenen Denk- qua Schreibprozesses ist ein ‚Text‘ entstanden, der
aufgrund seiner Reichweite den Rahmen bloßer Selbstreferenz sprengt und sich einer
Lektüre als poeseologische Metareflexion von Nietzsches Gesamtwerk anbietet. Da-
bei wird der aus N VII 1, S. 82 bereits bekannte Teil – der diesen Part übernehmende
Teil von W I 6, S. 35, Z. 28–44 folgt mit einigen kleinen Änderungen der letzten auf N
VII 1, S. 82 rekonstruierbaren Fassung204 – in eine umfangreichere Autosymptomato-
logie205 der eigenen Schreib- und Publikationspraxis inkludiert, welche tendenziell

204 Diese Unterschiede beschränken sich im ersten Satz auf die Ausmerzung der grammatikalischen
Inkongruenz in der letzten Aufzeichnungsschicht von N VII 1, S. 82, d.h. der Streichung von „Dinge“
nach „Gedanken, Bedenken u Bedenkliches“. Im zweiten im Diktat aus N VII 1, S. 82 übernommenen
Satz der Diktatniederschrift fehlt hingegen das zuvor im letzten Überarbeitungsgang hinzugefügte „er
schreibt endlich, u wenn er es auch nicht wollte, allein für sich“. Dadurch erscheint in der Grund-
schicht von W I 6, S. 35 die Unmöglichkeit der Mitteilung des einsam Durchdachten weitaus weniger
apodiktisch als in der letzten Fassung von N VII 1, S. 82.
205 In Teilen der deutschsprachigen Nietzscheforschung hat sich in den letzten Jahren zur Bezeich-
nung von Nietzsches späten mit Elementen der traditionellen Autobiographie arbeitenden Schriften –
insbesondere jedoch zur Kennzeichnung von Ecce homo – der von Enrico Müller in Anknüpfung an
grundlegende Überlegungen von Werner Stegmaier (vgl. Stegmaier 1992a, insbesondere S. 168) ent-
wickelte Begriff der „Autogenealogie“ (vgl. Müller/Sommer 2005) etabliert und wurde dabei von
anderen potentiellen Kennzeichnungen für das Textgeschehen von Ecce homo wie der von Andreas Urs
Sommer bevorzugten Nomenklatur der „Autohagiographie“ (Müller/Sommer 2005, S. 128) abgegrenzt.
Die beiden Autoren knüpfen mit diesem Terminus an die spätestens seit Foucaults 1971 publiziertem
Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“ (vgl. Foucault 2002 [1971], S. 166–191) habitualisierte
Verwendung des aus der Ahnenforschung stammenden Begriffs der ‚Genealogie‘ (vgl. Brockhaus
1894–1896, Bd. 7, S. 764) zur systematischen Rekonstruktion von Nietzsches ab 1885 bevorzugt einge-
setzter, stark erkenntniskritisch ausgerichteten Methode der ‚Geschichtsschreibung‘ an und übertra-
gen sie auf Nietzsches späte ‚Selbst-Erzählung(en)‘. In Nietzsches Schriften findet sich jedoch keine
explizite methodologische Reflexion des ‚Genealogie‘-Begriffs. Der 1871 erstmals in seinen Aufzeich-
nungen verwendete Terminus (vgl. NL 1871, KSA 7, 14[27]) taucht im ganzen Werkkorpus inklusive der
Briefe nur in 34 Textsegmenten auf und wird dort mehrheitlich – nämlich in 19 der 34 Textstellen – in
der auch im Titel der GM zu findenden Konstruktion einer ‚Genealogie der Moral‘, meist sogar als Zitat
desselben, sowie zweimal in der dazu analogen Formulierung einer „Moral-Genealogie“ (vgl. GM I 2
und GM I 4) verwendet. Auch die Mehrheit der restlichen 11 Verwendungen spielt direkt auf das von
Nietzsche 1887 publizierte Buch an oder gebraucht in den wenigen Fällen, in welchen das nicht
geschieht, den Begriff derartig unterbestimmt, dass diese Verwendungen kaum für eine Ausformulie-
rung der von besagtem Terminus vermeintlich ausgedrückten Methode hinreichen. Siehe zu Letzterem
zum Beispiel eine der wenigen nicht auf das Werk verweisenden Verwendungen in einem Notat, die
sich eindeutig innerhalb des zu Nietzsches Lebzeiten traditionellen Bedeutungsrahmen bewegt: „Heva
ist die Schlange: sie steht an der Spitze der bibl Genealogie (wie die Schlange auch als Eigenname bei
den Hebräern gern vorkommt)“ (W II 3, S. 88, Z. 18–20).
Im veröffentlichten Werk wird die mit dem Begriff der ‚Genealogie‘ vermeintlich einhergehende
Methode dementsprechend nicht in Verbindung mit dem Terminus selbst, sondern über eine Aus-
einandersetzung mit dem ‚flüssigen Sinn‘ (vgl. GM II 12 und GM II 13) reflektiert. Insofern erscheint es
sinnvoll, im Falle von Nietzsches eigenen vermeintlichen ‚Auto-Narrativen‘ aus dem Jahr 1888 auf
jenen Begriff zurückzugreifen, dem in diesen Schriften eindeutig ein methodologischer Status zu-
72 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

die klassische Buchform und die in dieser gegebenen Kommunikationsmaximen


unterläuft:206 Die Aufzeichnung erzeugt eine Spannung zwischen den frühen
Texten – „[m]eine[n] unzeitgemäßen Betrachtungen“ –, die in ihrer Beredtheit noch
den konventionellen Kommunikationsmaximen gefolgt sind, und den danach ent-
standenen Aphorismen-Büchern, welche sich aufgrund ihres Entstehungsprozesses
und des in diesem manifest werdenden Prozesses der Verbergung des eigentlich
Gedachten, von der traditionellen gelehrten Kommunikationsform – eben der Ab-
handlung, welche etwas „für Esel und Zeitschriften-Leser“ sei – absetzen. Diese
eingangs gegebene Kontextualisierung der darauffolgenden Autoreflexion des eige-
nen Schreibens ist der vorherrschenden Thematik der Diktatniederschrift geschuldet,
welche sich primär der Beschreibung der Entstehung einer neuen Gattung von Phi-
losophen widmet.207 Diese unterscheidet sich von der Tradition, wie der gerade
behandelte Abschnitt zeigt, eben nicht nur durch ihren Anti-Dogmatismus (vgl. W I
6, S. 3), sondern auch durch eine diesen Anti-Dogmatismus literarisch umsetzende
Schreib- und Publikationspraxis.
An diesem Punkt wird es evident, dass im Falle Nietzsches die jeweilige textuelle
Gestaltung auch in den einen gewissen Willen zum Werk ausdrückenden Nachlas-
spassagen nicht bloß manieristische Willkür ist, sondern in einem innigen Verhältnis
zu ihren Denkinhalten steht. Deren radikale Konsequenzen offenbart der zweite,
zuvor bereits in der Fassung von N VII 1, S. 82 behandelte Teil der Aufzeichnung (vgl.
W I 6, S. 35, Z. 28–44): Hier kommt es aufgrund der zuvor ausführlich erläuterten
Unmöglichkeit der Mitteilung des individuell Gedachten zur Ausbildung jener reflexi-
ven Schleife, die letztendlich auch deren Beschreibung in ihren eigenen subversiven
Sog zieht. Auf diesem Hintergrund wird auch die zuvor noch potentiell als bewusst

kommt: der Symptomatologie. Dieser ist ein ausführlicher Abschnitt im Kapitel 2.2.2. dieser Studie
gewidmet.
Trotz allem ist es in Anbetracht der in der Forschung weiterhin stark verbreiteten Praxis zur
Beschreibung von Nietzsches später historisch-erkenntniskritischer Methode auf den Begriff der
‚Genealogie‘ zurückzugreifen, nicht notwendig auf diesen vollständig zu verzichten. Um ihn als einen
bei Nietzsche selbst nicht eindeutig methodologisch markierten Terminus auszuweisen und somit
seinen Ursprung in der rekonstruktiv-philosophischen Nietzscheforschung zu markieren, wird er in
dieser Studie stets zwischen einfachen Anführungszeichen geführt.
Jüngere Versuche Nietzsches Methode der ‚Genealogie‘ zu rekonstruieren, bieten unter anderem
Stegmaier 1994, Saar 2007 und Born 2010.
206 Vgl. Sommer 2009, S. 51.
207 Vgl. dazu die Eröffnung des Diktats, zugleich eine frühere Fassung von JGB 42: „Eine neue
Gattung von Philosophen kommt herauf: ich wage es sie auf nicht ungefährlichen Namen zu taufen.
Sowie ich sie kenne, sowie ich mich selber kenne – denn ich gehöre zu diesen Kommenden – werden
diese Philosophen der Zukunft aus vielen Gründen, auch aus manchem unaussprechbaren Grunde,
damit zufrieden sein, als Versucher bezeichnet zu werden. Dieser Name selber ist zuletzt nur ein
Versuch und, wenn man will, eine Versuchung.“ (W I 6, S. 3, Z. 2–14)
Zu Nietzsches Werkplänen im Sommer 1885 im Allgemeinen und den Diktatniederschriften im
Besonderen siehe: Röllin 2012.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 73

verbergend lesbare Praxis des Verfassens von ‚Aphorismen-Büchern‘ samt der hinter
diesen liegenden „verbotene[n] lange[n] Dinge und Gedanken-Ketten“ zum Resultat
eines vom einsamen Autorsubjekt aufgrund eben dieser Einsamkeit zuletzt nicht mehr
kontrollierbaren Individualisierungsprozesses des Mitgeteilten. Eine solche ‚Kom-
munikationspraxis‘ endet letztendlich, gleichgültig in welcher medialen Gestalt sie
materialiter vorliegt, notwendigerweise in einer „Philosophie der ‚Gänsefüßchen‘“.
Analog entspringt auch die Beschreibung der Genese einer solchen Philosophie
bereits der in ihr zum Ausdruck kommenden Individualisierungstendenz und lässt
somit den mit ihr konfrontierten Leser in einem Zustand höchster Irritation zurück, da
er an diesem Punkt nicht mehr entscheiden kann, ob er überhaupt in der Lage ist, ein
solches Schreiben aus der Einklammerung durch die es stets umgebenden „‚Gänse-
füßchen‘“ verstehend zu befreien.
Dieses Kommunikations- und Verständnisproblem wird in der überarbeiteten
Fassung von W I 6, S. 35 noch verstärkt, da es in der aus diesen Überarbeitungen
konstituierbaren Fassung des Schlussteils der Aufzeichnung von der Ich-Perspektive
der früheren Fassung durch deren Überführung in die dritte Person regelrecht ver-
allgemeinert wird. Das alternative, sich aus dem Einbezug der in brauner Tinte voll-
zogenen Überarbeitungen ergebende Ende lautet:

Wer Tags u. Nachts u Jahrein Jahraus im Zwielicht mit seiner Seele in vertraulichstem Zwiste u.
Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle – es kann ein Labyrinth u. auch ein
Goldschacht sein – zum Höhlenbär oder Schatzgräber wurde wie ich, und Tagsüber und Jahraus
Jahrein sich allerhand Gedanken, Bedenken und Bedenkliches durch den Kopf über das Herz
laufen ließ und läßt, das er nicht immer mittheilen würde, selbst wenn er Geister seiner Art und
ausgelassene tapfere Kameraden um sich hätte: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine
eigene Zwielicht-Farbe, einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders; etwas ebenso Be-
stimmtes u Eigenes Unmittheilsames u. Widerwilliges an dem nur, welches jeden Neugierigen
kalt anbläst: – und eine Einsiedler-Philosophie, wenn sie selbst mit einer Löwenklaue geschrie-
ben wäre, würde doch immer wie eine Philosophie der „Gänsefüßchen“ aussehen. (W I 6, S. 35, Z.
27-46; vgl. Abb. 2a/b)208

208 An diesem Notat lassen sich auch sehr gut die zuvor bereits theoretisch erörterten Probleme der
Edition des späten Nachlasses durch Colli und Montinari veranschaulichen. Diese haben die ver-
meintlich letzte Fassung der Aufzeichnung auf der unteren Hälfte der Seite 35 des Arbeitsheftes W I 6
als das ‚Fragment‘ 37[5] im dritten Band der KGW VII (= NL 1885, 37[5], KSA 11, S. 579f.) abgedruckt, die
beiden älteren Fassungen, die auf den Seiten 102 und 82 des Notizheftes N VII 1 zu finden sind, getreu
ihrer Editionsprinzipien aufgrund ihres Vorstufencharakters allerdings erst in den Nachberichtsbän-
den publiziert und dabei nur N VII 1, S. 102, Z. 2-12 jedoch nicht N VII 1, S. 82, Z. 2-20 als Vorstufe von W
I 6, S. 35 ausgewiesen (vgl. KGW VII/4.2, S. 428).
Gravierender als dieses Versäumnis ist allerdings die in der KGW trotz des Verweises auf die
früheren Fassungen von W I 6, S. 35 im Nachbericht nicht vollständig durchsichtige Textkonstitution
des ‚Fragments‘ 37[5]: In besagtem Fragment wurde nämlich der auf der Handschrift und in der
diplomatischen Transkription der KGW IX nicht durchgestrichene Satzteil unter der ersten Einfügung
in brauner Tinte – „wie ich, und Tagsüber und Jahraus Jahrein sich allerhand Gedanken, Be=denken
und Bedenkliches“ (W I 6, S. 35, Z. 30 & 32) – folgendermaßen transkribiert: „wer wie ich sich
74 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Hier kommt es zu einer weiteren, wohl kaum mehr überbietbaren Steigerung des
paradox-subversiven Potentials der Aufzeichnung. Deren Ende tendiert nun in ihrem
Changieren zwischen der ersten und der dritten Person zu einer Verallgemeinerung,
deren Möglichkeit vom Text selbst gerade in Frage gestellt wird, ist doch jenes
„Unmitteihlsame[ ] u[nd] Widerwillige[ ], welches jeden Neugierigen kalt anbläst“
gerade eine Folge der höchst individuellen Genese der solcherart zu einer „Einsiedler-
Philosophie“ gerinnenden Denkbewegung.
Zugleich wird hier durch die Streichung von „Geruch der nicht mehr mittheilbar
ist“ vor dem Semikolon, das in einem Überarbeitungsgang mit violetter Tinte noch
unterstrichen worden war, der in den früheren Fassungen noch präsente apodiktische
Charakter der Unmöglichkeit der Kommunikation jener Einsiedler-Gedanken wieder
in Richtung eines willkürlichen Aktes von Seiten des vermeintlich als Verfasser
figurierenden Sprecher-Ichs abgeschwächt, wobei diese Abschwächung jedoch bei
weitem nicht zu einem souveränen Akt von Seiten des als vermeintlicher Autor des
‚Textes‘ auftretenden intratextuellen Ichs wird, wie aus der in dem neu eingefügten
Vordersatz – „dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigene Zwielicht-Farbe,
einen Geruch ebensosehr der Tiefe als des Moders“ – offensichtlich werdenden
Passivität desselben bei diesem Prozess hervorgeht.
Wiederholt sich hier also noch einmal – nun allerdings erweitert um die Span-
nung zwischen individuellem Einsiedler-Denken und dessen beinahe allgemeingülti-
ger Präsentation – die bereits in der Grundschicht von N VII 1, S. 82 nachgewiesene,
das gesamte Notat potentiell subvertierende reflexive Schleife, fällt genau die diese
Schleife auf den Begriff zu bringen versuchende Bezeichnung „Philosophie der ‚Gän-

allerhand Gedanken, Bedenken und Bedenkliches durch den Kopf über das Herz laufen ließ und läßt“
(NL 1885, 37[5], KSA 11, S. 579). Die nicht ausgewiesene Emendation von „und Tagsüber und Jahraus
Jahrein“ mag zwar in Anbetracht der im Zusatz abermals erfolgenden Zeitangaben „Tag und Nachts u
Jahrein Jahraus“ durchweg sinnvoll erscheinen, ist aber im Notat selbst nirgendwo so vermerkt.
Genauso verhält es sich mit der dreifachen Setzung des „Wer“ im Fragment 37[5] am Anfang der
jeweiligen Satzkola, welche die Handschrift nur zweimal verzeichnet. Aus der Topologie der Hand-
schrift selbst geht außerdem nicht eindeutig hervor, wohin das „wie ich“ der Zeile 30 zuzuordnen ist.
In Anbetracht derselben liegt es jedoch näher, dieses ans Ende des Einschubes zu setzen – wie dies
hier in der Lesart im Lauftext geschehen ist – und nicht an den Anfang des letzten Satzkolons, wie dies
Colli und Montinari getan haben.
Die Frage nach der Stellung des „wie ich“ innerhalb der Aufzeichnung geht weit über den
philologischen Topos etwaiger ‚authentischer‘ Textwiedergabe hinaus, handelt es sich dabei doch um
die einzige Verwendung des Personalpronomens ‚Ich‘ in der letzten Fassung der Aufzeichnung. Das
„wie ich“ ist somit für die Spannung zwischen Personalisierung und Verallgemeinerungstendenz im
Notat verantwortlich. Diese ist in der räumlichen ‚Ordnung‘ der Handschrift sowie in der diplomati-
schen Transkription noch eindeutig nachvollziehbar, steht doch die Überarbeitung in brauner Tinte
direkt über dem von Nietzsche eben nicht gestrichenen Satzkolon, das mit dem „wie ich“ eröffnet. In
der auf konventionelle Sinnstiftung ausgerichteten, von Colli/Montinari konstituierten linearen Ver-
sion ist die sich daraus ergebende Spannung durch die Verschiebung des „wie ich“ nicht mehr
erfassbar.
2.1.1. Zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie 75

sefüßchen‘“ bzw. der ganze diese Metapher beinhaltende Satz einem weiteren Über-
arbeitungsschritt zum Opfer. Die letztendlich als ‚Aphorismus‘ 289 in Jenseits von Gut
und Böse publizierte Fassung lautet:

Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas
von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an; aus seinen stärksten
Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens,
Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im
vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zusammengesessen hat, wer in seiner Höhle — sie kann
ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein — zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatz-
wächter und Drachen wurde: dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne Zwielicht-Farbe,
einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges,
das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein
Philosoph — gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war — seine eigentlichen
und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe: schreibt man nicht gerade Bücher, um zu
verbergen, was man bei sich birgt? — ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph „letzte und eigentliche“
Meinungen überhaupt haben k ö n n e , ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle
liege, liegen müsse — eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein
Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder „Begründung“. Jede Philosophie ist eine Vorder-
grunds-Philosophie — das ist ein Einsiedler-Urtheil: „es ist etwas Willkürliches daran, dass er hier
stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er h i e r nicht mehr tiefer grub und den Spaten
weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran.“ Jede Philosophie v e r b i r g t auch eine
Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. (JGB 289)

Der aus der Zusammenführung und Überarbeitung der zuvor besprochenen Aufzeich-
nungen sowie des Druckmanuskriptes hervorgegangene und in der Erstausgabe von
1886 publizierte ‚Aphorismus‘ geht durch die ihn in den Kontext des Buches integrie-
renden Adaptionen letztendlich vollständig im Werk auf: Nicht nur ist die „Philoso-
phie der ‚Gänsefüßchen‘“ durch die ein zentrales Leitmotiv in Jenseits von Gut und
Böse bildende Masken-Thematik ersetzt worden,209 auch die in der Aufzeichnung
W I 6, S. 35 noch potentiell auf das Gesamtwerk beziehbare poeseologische Meta-
referenz besitzt in JGB 289 nicht mehr die in der Nachlassnotiz noch so eindeutige
werkumspannende Reichweite. Eröffnete nämlich W I 6, S. 35 mit den Worten
„In Aphorismen-Büchern gleich den meinigen“, heißt es nun im publizierten ‚Apho-
rismus‘: „Man hört den Schriften eines Einsiedlers“. Die damit gegebene Verallgemei-
nerung entzieht – trotz des dem Nietzsche-kundigen Lesers bekannten Einsamkeits-
Topos – dem ‚Text‘ den unmittelbaren metareferentiellen Status, an dessen Stelle ein
für Nietzsches späte Schriften charakteristisches Spiel mit Autoreferenzen getreten ist,

209 Dieser leitmotivische Charakter der Masken-Thematik ist nicht zuletzt eine Folge der Tatsache,
dass Nietzsche für lange Zeit ein eigenes Hauptstück zur „Maske“ in Jenseits von Gut und Böse geplant
hatte und dieses auch ausgearbeitet hat. Erst kurz vor der Veröffentlichung des Buches wurde dieses
Hauptstück aufgelöst und die es bildenden ‚Aphorismen‘ auf das ganze Buch verteilt. Zu weiteren
Details dieses Umstellungsprozesses sowie zur Werkgenese von JGB im Ganzen siehe Röllin 2013.
76 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

und bewegt sich letztendlich durch den sentenziösen Schlusssatz des ‚Aphorismus‘ in
Richtung eines apodiktischen Metakommentars über die Philosophie als solche.
Sehr komplex gestalten sich die semantischen Verschiebungen, die durch die
Kontextualisierung des ‚Aphorismus‘ in Jenseits von Gut und Böse und die Ersetzung
der „Philosophie der ‚Gänsefüßchen‘“ durch die Masken-Thematik gegenüber den
früheren Fassungen entstanden sind. Ein Blick auf die hier sporadisch vollzogene
Textgenese lässt diese Unterschiede noch deutlicher hervortreten. Während nämlich
in den früheren Fassungen die reflexive Schleife an die Unmöglichkeit der Mitteil-
barkeit alles einsam Erdachten gebunden ist und in die dieses Faktum aufgrund ihres
sprachlich-statischen – um eine Metapher Jacques Derridas zu verwenden –, hinken-
den Charakters niemals vollständig ausdrücken könnende Formel der „Philosophie
der ‚Gänsefüßchen‘“ gerinnt, kommt es durch den Masken-Begriff zu einer alternati-
ven Ausgestaltung dieses Themenkreises. Einerseits wird in die Masken-Thematik
durch die Übernahme der Zeilen 27–40 des Notates aus W I 6, S. 35 die Mitteilungs-
problematik des einsamen Denkers aufgenommen, andererseits erfährt diese durch
die darauffolgenden Sätze eine semantische Erweiterung, die in den früheren Fassun-
gen so noch nicht gegeben ist. Während in den ‚Vorstufen‘ der Topos dominiert, dass
einsam Gedachtes nicht mehr adäquat vermittelbar sei, wird dieser Topos im publi-
zierten ‚Aphorismus‘ zu der ebenso selbstbezüglichen philosophischen Hypothese
ausgeweitet, dass der Einsiedler-Philosoph zweifeln wird, „ob ein Philosoph ‚letzte
und eigentliche‘ Meinungen überhaupt haben k ö n n e , ob bei ihm nicht hinter jeder
Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse“.210 Diese sich selbst untergraben-
de Hypothese wird dabei eindeutig an die Perspektive des Einsiedler-Philosophen
gebunden. Insofern scheint der publizierte Text seine eigene Genese zu kommentie-
ren, wenn es in ihm in direkter Rede heißt: „es ist etwas Willkürliches daran,
dass er hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er h i e r nicht mehr
tiefer grub und den Spaten weglegte, — es ist auch etwas Misstrauisches daran.“ (JGB
289, KSA 5, S. 234)
Genau in diesem Akt des Stillstehens besteht ein weiterer zentraler – in diesem
Falle textologischer – Unterschied zwischen dem veröffentlichten ‚Aphorismus‘ und
den ihm vorausgehenden handschriftlichen ‚Vorstufen‘. Nur im gedruckten Text
kommt der dynamische und stets offene (Schreib-)Prozess temporär zum Stillstand.
Dieser hat – wie es im ‚Aphorismus‘ selbst heißt – stets „etwas Willkürliches“, ist dabei
jedoch materialiter ebenso offensichtlich wie nachvollziehbar. Während sich nämlich
in Nietzsches Aufzeichnungen und Notizen der Schreibprozess bis an die Blattränder
ausdehnt, die – so glaubt man zumindest, wenn man einen Blick in die Manuskripte
Nietzsches wirft – ihm eine unüberschreitbare materiale Grenze setzten, ist er im Druck-
text notgedrungen stillgestellt. Für die hier später erfolgende Lektüre der Götzen-
Dämmerung ist außerdem bedeutend, dass die verschiedenen Fassungen durchweg in

210 Siehe dazu Dellinger 2012f.


2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 77

ihrem Inhalt und in ihrer Gestaltungsform voneinander abweichen. Dabei zeigt sich,
dass der letztendlich veröffentlichte Text nicht teleologisch in den früheren Fassungen
angelegt ist, sondern, wie JGB 289 selbst reflektiert, einen durchweg willkürlichen
Abbruch des in den verschiedenen Varianten als denkmöglich Angelegten darstellt.
Dennoch stellt die publizierte Fassung, zumindest im Falle von JGB 289, nicht nur
sprachlich, sondern auch thematisch die komplexeste Variante dar, ist diese doch
vollständig in die Werkkomposition und die diese durchziehenden Themengeflechte
integriert.
In Hinblick auf den Umgang mit der Textualität von Nietzsches Schriften liegt es
in Anbetracht dieser Phänomene nahe, die publizierte Fassung zum Ausgangspunkt
der eigenen Lektüre zu machen und diese dann in einem zweiten Schritt durch die
Kontrastierung mit den früheren Versionen zu dynamisieren. Ein derartiges Procedere
fügt sich umstandslos in den im Kapitel 1.1. entwickelten Textbegriff, folgt sie doch
der auch in diesem hervorgehobenen Materialität der sich in ihren verschiedenen
Fassungen semantisch dynamisierenden komplexen Zeichen.
Welche weiteren Besonderheiten des Zeichengebrauchs man bei Nietzsche zu
erwarten hat, wird das folgende Kapitel klären. Dieses nimmt Nietzsches Schreibweise
dafür im Kontext von seinem späten Sprachdenken in den Blick und wird im Zuge
dessen auch noch einmal aus dieser Perspektive die bereits zuvor im Rahmen der
Textgenese von JGB 289 behandelte Kommunikations-Problematik verhandeln und
weiter vertiefen.

2.1.2. Voraussetzungen II: Nietzsches schriftstellerische


Methoden im Kontext seines späten (Sprach-)Denkens
2.1.2.1. Zur Problematik der Verabsolutierung von Nietzsches früher
Sprachauffassung: Paul de Mans Nietzsche-Interpretation

Es ist aber nicht schwer zu beweisen, daß was man, als Mittel bewußter Kunst „rhetorisch“
nennt, als Mittel unbewußter Kunst in der Sprache u. deren Werden thätig waren, ja daß die
Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des
Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische „Natürlichkeit“ der Sprache, an die man appelliren
könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten (KGW II/4, S. 425).

Sätze wie diese, obwohl selbst von höchster intertextueller Dependenz,211 haben im
Zuge der linguistischen und rhetorischen Wende am Anfang der siebziger Jahre des

211 Der Status und die Bedeutung von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst als zentralem Intertext
sowohl für Nietzsches Rhetorikvorlesung als auch für den auf dieser aufbauenden nachgelassenen
Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ sind mittlerweile sehr gut erforscht. Zu
78 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

vorigen Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der internationalen Forschungsgemein-


schaft auf die Bedeutung und Funktion von Nietzsches aus der Beschäftigung mit der
antiken Rhetorik entspringende Sprachkritik gelenkt. Spätestens seit der Nietzsche-
Konferenz von Cérisy-la-Salle war es eine conditio sine qua non, sich mit Nietzsches
sprachphilosophischen Texten und Entwürfen zu beschäftigen, um sich zur Avantgar-
de der gerade eine Renaissance erlebenden Nietzscheforschung zu zählen. In diesem
Zeitraum erschienen so bekannte Arbeiten wie Sarah Kofmans Nietzsche et la méta-
phore212, Philippe Lacoue-Labarthes „Le Détour“ und Jacques Derridas „Sporen. Die
Stile Nietzsches“, die Nietzsches Philosophie im Allgemeinen und seine Erkenntnis-
kritik im Besonderen aus einer sprachphilosophischen Perspektive analysierten. Wie
allein schon die Titel der damals publizierten Studien und Aufsätze belegen, stand
dabei Nietzsches vermeintliche ‚Theorie‘ der Metapher im Zentrum des Forschungs-
interesses.
Auffällig bei diesen Deutungen, die noch bis heute das Vorgehen mancher
sprachphilosophisch orientierter Nietzsche-Interpretationen bestimmen, ist dreierlei:
1.) Fokussieren sich – abgesehen von Derridas „Sporen“-Aufsatz – fast sämtliche
derartige Studien auf Nietzsches frühes und frühestes Schaffen, d.h. insbesondere die
Basler Rhetorikvorlesungen und den von Nietzsche selbst nicht veröffentlichten Auf-
satz „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“. Dieser Fokus kulminiert
in der für lange Zeit diskutierten These von Philippe Lacoue-Labarthe, dass „[v]on
1875 an […] die Rhetorik kein privilegiertes Instrument [Nietzsches] mehr [ist]. Man
könnte fast sagen, daß Nietzsche ihr sämtliche Rechte entzieht, daß sie praktisch
aufhört, ein Problem zu sein“213. Erst seit Anfang der neunziger Jahre des vorigen
Jahrhunderts wird auch vermehrt der Entwicklung und den durch diese bedingten
Verschiebungen und Konstanten von Nietzsches Sprachdenken in der Forschung die
ihr gebührende Beachtung geschenkt.214

den diesbezüglichen intertextuellen Relationen siehe unter anderem Meijers/Stingelin 1988 sowie
Bornmann 1997.
212 Kofman 1993 [1972]. – Zu Kofmans Nietzsche-Deutung siehe einführend: Reckermann 2003,
S. 52–56.
213 Lacoue-Labarthe 2007 [1971], S. 126.
214 So hat zum Beispiel 1994 Benjamin Biebuyck auf die Bedeutung von Nietzsches spätem Sprach-
denken hingewiesen und in Opposition zu der damals noch vorherrschenden Forschungsmeinung
behauptet, „daß im Vergleich zu den vielbesprochenen, aber bescheidenen sprachphilosophischen
Phantasien des frühen Nietzsche geradezu spektakuläre Verwandlungen in den reiferen Schriften
festgestellt und belegt werden können“ (Biebuyck 1994, S. 122). Die späte Sprachauffassung Nietzsches
charakterisiere sich laut Biebuyck durch eine Zurückweisung der christlich-reaktiven Kommunikati-
onspraxis, die auf einem regulierten und regulativen System fuße, dessen Konventionalismus dem
Sprecher mit Hilfe subtiler Gewalt jegliche Individualität raube (vgl. Biebuyck 1994, insbesondere
S. 122–132). Dieser Kommunikationspraxis stelle Nietzsche sein eigenes figuratives Sprechen entgegen,
das den Deutlichkeits-Imperativ der gängigen Kommunikationspraxis suspendiere und solcher Art
diese sowie an manchen Punkten sich selbst unterlaufe (vgl. Biebuyck 1994, S. 144–151).
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 79

2.) Bei der Mehrzahl der seit damals vorgelegten Lektüren von Nietzsches (früher)
Sprachphilosophie standen für lange Zeit fast ausschließlich deren theoretische Kon-
sequenzen, insbesondere die erkenntnistheoretischen Implikationen, im Vorder-
grund. Dies verhinderte, dass die in Nietzsches Schriften offensichtlichen schriftstel-
lerischen Umsetzungen besagter Ansichten eingehender untersucht wurden und so
dem für seine veröffentlichten Schriften konstitutiven, performativen Vollzug einzel-
ner (Hypo-)‚Thesen‘ die ihm gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wurde.215
3.) In den wenigen Fällen, in denen von rein erkenntnis- und metatheoretischen
Reflexionen abgesehen wurde, um sich der auf und in Nietzsches Texturen realisier-
ten schriftstellerischen Praxis zuzuwenden, geschah dies vorwiegend auf der Basis
eigener sprachphilosophischer Prämissen, die dem Nachvollzug des sich im Text
Ereignenden oftmals im Wege standen.

Die sich so ergebende Figurationstheorie erinnert stark an die von Richard Rorty aus seiner Lesart von
Donald Davidsons Metaphern-Begriff in Koppelung mit Harald Blooms Konzept der „strong poets“
gewonnene Auffassung vom Philosophen als Schöpfer neuer Vokabulare sowie der auf diesen fußen-
den kontingenten und somit post-metaphysischen Erzählungen. In Kontingenz, Ironie und Solidarität
grenzt Rorty das dort entworfene Nietzschebild insbesondere von denjenigen dekonstruktivistischer
Interpretationen ab, indem er behauptet, dass Nietzsche durch die Praxis seiner ästhetisch-rhetori-
schen „Selbstneubeschreibung“ (Rorty 1992b, S. 167) ein neues Vokabular entwickelt habe, das nicht
mehr in der Lage sei, der von Autoren wie Paul de Man rekonstruierten Autodestruktion anheim-
zufallen.
Rortys These, dass eine gewisse sprachliche Praxis ihre eigene Metaphorizität nicht demons-
trieren kann, ohne dabei die Sprache selbst wieder konventionell zu verwenden, schließt allerdings
nicht aus, dass es im Rahmen der „vertraute[n] Verwendung eines vertrauten Terminus“ (Rorty 1992b,
S. 30) zu Auto- und Selbstreferenzen kommt, welche bei Nietzsche – wie bereits bei der ‚textgeneti-
schen‘ Lektüre von JGB 289 gezeigt worden ist – häufig die Funktion der Einklammerung oder Selbst-
zurücknahme der im Text artikulierten ‚Thesen‘ und somit potentiell der Selbstaufhebung eigener
innovativer Erzählungen innehaben. Zu Rortys Nietzschelektüre siehe auch Ellrich 1994b, S. 242–247
sowie Sedgwick 2000.
Im Jahr 2000 hat schließlich Werner Stegmaier den ab 1880 ins Zentrum von Nietzsches Sprach-
und Kommunikationsdenken rückenden ‚Begriff‘ des Zeichens einer ausführlichen Analyse unterzo-
gen, dabei aber ebenfalls auf eine explizite Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen
Nietzsches frühen und späten Sprachauffassungen verzichtet (vgl. Stegmaier 2000b sowie die dort
gegebenen wenigen Hinweise auf eine Verschiebung in Nietzsches Sprachdenken auf der S. 49f.).
Zu Nietzsches Zeichenbegriff siehe auch Simon 2000, Fietz 1992, Abel 2010 sowie anknüpfend an
diese Arbeiten, jedoch besagte Verschiebungen und deren Konsequenzen konkret in den Blick
nehmend Pichler 2010, S. 115–131.
215 In der Zwischenzeit scheint die These, dass das performative Moment Nietzsches Denken nicht
äußerlich sei, in der Forschung die ihr gebührende Beachtung und Anerkennung zu finden. Zur
Performativität des Schreibens bei Nietzsche siehe: Bräutigam 1977, Magnus/Stewart/Milieur 1993,
Schärf 1999, van Tongeren 2000, Simonis 2002, Langer 2005, Born/Pichler 2013b.
Vorläufig bezeichnet die vorliegende Studie jene Momente eines Textes als ‚performativ‘, in
welchen ein Text in ihm selbst gesetzte poeseologische oder (hypo-)thetische Grundannahmen struk-
turell einholt, umsetzt bzw. unterläuft. Eine Präzisierung dieser Begrifflichkeit unter Einbezug der
aktuellen Forschung zur textuellen Performativität erfolgt im Kapitel 2.2.4.1.
80 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Welche Konsequenzen ein derartiges Vorgehen für die Lektüre zeitigt, soll an-
hand eines Beispiels demonstriert werden. Dabei liegt es nahe, sich mit einem Ansatz
zu beschäftigen, der einerseits zu den wirkungsmächtigsten dieser Deutungstradition
zählt und auf welchen andererseits die soeben aufgelisteten Charakteristika zutreffen.
Dies ist in ausgezeichneter Weise bei Paul de Mans Nietzsche-Lektüren der Fall, deren
spekulativem Potential sich auch der zeitgenössische Leser nur schwer entziehen
kann. Paradigmatisch für de Mans Lektürepraxis steht der 1979 im Sammelband
Allegorien des Lesens veröffentlichte Aufsatz „Rhetorik der Tropen“.
a.) Paul de Mans Lektüre von W II 6, S. 61/59: De Man schließt in diesem Text an
die Studien von Lacoue-Labarthe und Sarah Kofman an, um zu zeigen, dass die von
besagten Autoren herausgearbeiteten philosophischen Implikationen sowie die sie
katalysierende Sprachtheorie in Nietzsches Schriften „von mehr als lokaler Bedeu-
tung“216 sind: Ausgehend von der bereits zitierten Passage aus Nietzsches Basler
Rhetorik Vorlesung (KGW II/4, S. 425) versucht de Man zu demonstrieren, dass die
darin artikulierte These, dass „[d]ie Trope […] keine abgeleitete, marginale oder
anormale Form der Sprache, sondern das linguistische Paradigma par excellence“217
sei, auch im Spätwerk Nietzsches Gültigkeit besitzt. Zur Bestätigung dieser Hypothese
greift de Man auf eine Aufzeichnung aus dem Nachlass von 1888 zurück und weist
dabei vor seiner eigentlichen Deutung derselben mit Nachdruck darauf hin, dass er
„nicht primär an seiner These interessiert [sei], sondern eher an der Form in der sie
vorgetragen wird“218. Methodologische Äußerungen wie diese legen nahe, dass be-
reits de Man aus der zuvor beschriebenen Interpretationspraxis, Nietzsches Sprach-
auffassung ausschließlich in ihren theoretischen Implikationen zu untersuchen, aus-
zubrechen versucht und sich tatsächlich dem Textgeschehen von Nietzsches
Aufzeichnung zuwendet.
Bevor diese Vermutung durch den Nachvollzug von de Mans eigentlicher Lektüre
überprüft werden soll, ist auf ein diese zwar wesentlich mitbestimmendes, für de Man
zum Zeitpunkt der Abfassung seines Aufsatzes jedoch kaum zu umgehendes Problem
hinzuweisen: die editionsphilologisch unzureichende Textgrundlage seiner Interpre-
tation. De Man folgt bei seiner Lektüre des später von Colli/Montinari mit der Nummer
15[90] versehenen Notates NL 1888, KSA 13, 15[90] noch der Nietzsche-Ausgabe Karl
Schlechtas, die von Nietzsches Nachlass fast ausschließlich diejenigen Aufzeichnun-
gen wiedergibt, die zuvor in der auf Anregung von Nietzsches Schwester erstellten,
korrupten Ausgabe des Willens zur Macht erschienen waren. Obwohl in diesem Punkt
de Man selbst keine direkte Schuld trifft, ist dennoch festzuhalten, dass er einem nicht
von Nietzsche, sondern von dessen Nachlassverwaltern und Herausgebern konstitu-
ierten ‚Text‘ folgt, einem ‚Text‘, dessen eigentliche Textur durch die Konstitutions-

216 De Man 1988a [1979], S. 147.


217 De Man 1988a [1979], S. 148.
218 De Man 1988a [1979], S. 150.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 81

leistung der Herausgeber entstellt worden ist, wie man anhand des Faksimiles sowie
der diplomatischen Transkription dieser Aufzeichnung in der KGW IX feststellen kann
(siehe Abb. 3a/b). Dort, d.h. auf den Seiten 61 und 59 des Arbeitsheftes W II 6, findet
man eine Aufzeichnung, die durch vielfältige Überarbeitungen gekennzeichnet ist
und die insofern nur schwer den Textstatus für sich beanspruchen kann, den ihr de
Man unreflektiert zugesteht.
Bedeutsamer, da nicht so sehr von historischen Kontingenzen abhängig wie die
Textgrundlage, ist die Tatsache, dass de Man bei der Lektüre selbst nur siebzehn219
der in der von Colli und Montinari konstituierten Lesart der KSA 58 Zeilen umfassen-
den Aufzeichnung für seine Interpretation heranzieht und damit einem Procedere
folgt, das auch in der gegenwärtigen Nietzscheforschung nach wie vor verbreitet ist.
Dies hat weitreichende Konsequenzen für seine anhand dieser Passagen aufgestellte
These, dass der das gesamte Notat charakterisierende „Prozeß von Substitution und
Verkehrung“ der traditionellen Polarität von Ursache und Wirkung „von Nietzsche […]
als ein sprachliches Ereignis verstanden“220 wird.
De Man macht diese These insbesondere an folgender Stelle der mit dem Titel
„Der Phänomenalism der ‚inneren Welt‘“ (W II 6, S. 61, Z. 24) versehenen Aufzeich-
nung fest:

„innere Erfahrung“ tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das
Individuum versteht… d.h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände – „ver-
stehen“ das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem,
Bekanntem (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 460, Z. 1–6 siehe auch Abb. 3a/b).221

Laut de Man wird die Sprache in diesem Passus zu jenem „Medium, in dem das in
diesem Abschnitt beschriebene Spiel von Verkehrungen und Substitutionen statt-
findet“222. Versteht man Nietzsches spätes Sprachdenken im Kontext des anhand der
Textgenese von JGB 289 bereits thematisierten Konventionalismus (vgl. Kap. 2.1.1.),
d.h. also im Sinne der Auffassung, dass ein durch Konventionen geregelter Kommuni-

219 Das sind die Zeilen 22–28 (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 458), 1–4 (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 459)
und 1–6 (NL 1888, 15[90], KSA 13, S. 460) in der Zeilenzählung von Colli und Montinari. Im Gegensatz
zu diesen zählt die KGW IX in Zweierschritten, um so auch eventuelle Einfügungen im Druckbild
standgenau ausweisen zu können. Insofern zitiert de Man die Zeilen 24–42 der Seite 61 sowie die Zeilen
26–34 der Seite 59 der diplomatischen Transkription des Heftes W II 6 (vgl. Abb. 3a/b).
220 De Man 1988a [1979], S. 151.
221 Die zweite von de Man aus dieser Aufzeichnung zitierte Stelle lautet: „die chronologische Umdre-
hung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wirkung. wir haben gelernt, daß der
Schmerz an eine Stelle des Leibes projicirt wird, ohne dort seinen Sitz zu haben wir haben gelernt, daß
die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die
Innenwelt bedingt ist: daß jede eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft… Das Stück
Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung die von außen auf uns geübt ist, ist
nachträglich projicirt als deren ‚Ursache‘…“ (NL 1888, 15[90], S. 458 Z. 22–28 bis S. 459, Z. 1–4)
222 De Man 1988a [1979], S. 151.
82 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

kationsprozess den semantischen Rahmen des Sagbaren festlegt, ist de Man an


diesem Punkt bedingt zuzustimmen: Auf Basis dieser Grundannahmen wird es un-
möglich, individuelles Empfinden sprachlich zu artikulieren, ja gar wahrzunehmen,
da dessen Wahrnehmung und Artikulation an die Sprachkonventionen gebunden
sind, auf denen auch das Bewusstsein fußt. Bewusstsein ist beim späten Nietzsche
phylogenetisch stets Folge des sprachlichen Konventionalismus, nicht dessen Ursa-
che.223 Insofern kommt es tatsächlich zu einer Umkehrung in der Chronologie von
Ursache und Wirkung, wenn man davon ausgeht, dass es trotz dieses Konventionalis-
mus immer noch so etwas wie eine der Sprache und dem auf dieser aufbauenden
Bewusstsein vorausgehende „‚innere Erfahrung‘“ gibt. Die Existenz einer solchen
Erfahrung scheint die Aufzeichnung durch die mehrfache Verwendung des Begriffes
„‚innere Erfahrung‘“ auch eindeutig zu belegen: Der sprachlich – d.h. also im Rahmen
der Konventionen – vollzogenen ‚Wahrnehmung‘ gehen potentiell eine oder mehrere
sprachlich nicht wahrnehmbare Bedingungen voraus, die durch die konventionell
und somit simplifizierenden sprachlichen Festlegungen inadäquat in die Außenwelt
projiziert werden. Die ‚eigentlichen‘ Bedingungen dieses dann sprachlich artikulier-
ten Prozesses sind also nicht erfassbar oder – wie es in der Grundschicht am Anfang
der Aufzeichnung heißt:

wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindungen, welche es als Folge einer Außenwelt-Wirkung
giebt, vielmehr die Wirkung {Folge} einer Innenwelt=Wirkung ist: kurz: daß immer die eigentl.
Aktion u. Reaktion von Draußen u. drinnen unbewußt verläuft … (W II 6, S. 61, Z. 34 und 36 – vgl.
Abb. 3a/b).

Andererseits – und auch das belegt der ‚Text‘ durch die Tatsache, dass die „‚innere
Erfahrung‘“ durchgehend zwischen Gänsefüßchen steht – ist diese eigentliche Erfah-
rung, deren Umkehrung laut de Man angeblich sprachlich bedingt sei, durch den
ganzen Text hindurch reine Hypothese. Nietzsches Aufzeichnung nimmt hier Witt-
gensteins Privatsprachen-Argument vorweg, dessen Pointe darin besteht, dass im
Kontext einer von Konventionen geregelten Sprechpraxis ein dieser Praxis fernes
individuelles Erleben im Sprechen nicht mehr artikulierbar ist. Das Notat geht aller-
dings über das später von Wittgenstein entwickelte Argument hinaus, indem es die
Möglichkeit einer solchen „‚innere[n] Erfahrung‘“ nicht notorisch ausschließt. Den-
noch erscheint es höchst problematisch, wie de Man, von der „Verkehrung“ von etwas
zu sprechen, das eigentlich nicht – oder bestenfalls verkürzt – artikulierbar ist. Dies
lässt eine „Verkehrung“ unmöglich werden, die den ‚vollständigen Gehalt‘ des in
ihrem Vollzug ‚Verkehrten‘ voraussetzt, um zum Tragen zu kommen.
Noch problematischer verhält es sich mit den weiteren Thesen, die de Man aus-
gehend von der soeben kritisierten Deutung entwickelt. So behauptet er, dass es sich

223 Siehe dazu Bertino 2010 und 2011.


2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 83

bei dieser Verkehrung eindeutig um eine kritische Anwendung von Nietzsches früher
Sprachtheorie auf das Bewusstsein handelt:

Legitimerweise können wir deshalb behaupten, daß der Schlüssel zu Nietzsches Kritik der
Metaphysik – die vielleicht irreführend als eine bloße Umkehrung der Metaphysik oder des
Platonismus beschrieben worden ist – im rhetorischen Modell der Trope liegt oder, anders gesagt,
in der Literatur als der am ausdrücklichsten in Rhetorik gegründeten Sprache.224

Diese Feststellung mag auf den ersten Blick unter Vernachlässigung des Textgesche-
hens des gesamten Notates sowie der in de Mans Aufsatz letztlich uneindeutigen
Unterscheidung von Philosophie und Literatur im gegebenen ‚Text‘-Fall zutreffen.225
Sie steht jedoch im Widerspruch zu den sich in Nietzsches Schriften ab 1880 voll-
ziehenden, gravierenden und in der zuvor gelieferten kritischen Auseinandersetzung
mit de Mans Nietzsche-Lektüre bereits partiell eingebrachten terminologischen und
inhaltlichen Verschiebungen in Nietzsches späten, explizit artikulierten sprachtheo-
retischen Grundauffassungen: In diesen tritt an die Stelle der bis dahin die Sprach-
reflexionen dominierenden Metapher das über den konventionellen Sprachgebrauch
in seiner Bedeutung bestimmte Zeichen, was weitreichende Folgen für Nietzsches
Philosophie im Ganzen zeitigt.
b.) De Mans ‚blinder Fleck‘ – Nietzsches spätes Sprachdenken: Wie von mir an
anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt worden ist, übernimmt der Zeichen-
begriff in Nietzsches spätem Philosophieren zwar die zentralen erkenntnis- und
sprachkritischen Funktionen, welche in den Frühschriften der Metapher eignen,
entbehrt jedoch der Problematik zweier in den Frühschriften explizit vertretener und
eng miteinander verwobener Thesen. Es handelt sich dabei einerseits um die auch
von de Man unterstrichene essentialistische These „Sprache ist Rhetorik“ (KGW II/4,
S. 426) und andererseits um die in der Forschung immer wieder betonte und an
einigen isolierten aber zentralen Stellen von „Über Wahrheit und Lüge im aussermo-

224 De Man 1988a [1979], S. 151.


225 Für de Man charakterisiert sich Literarizität eindeutig durch Rhetorizität. Da Letztere bei ihm zum
Inbegriff der Sprachlichkeit wird und auch die Philosophie sich des Mediums der Sprache bedient,
müsste es sich bei dieser eigentlich um Literatur handeln. Darauf scheint de Mans Argumentation auch
hinauszulaufen. Dennoch hält er in seinen Texten an der Verwendung der beiden Gattungsbegriffe
fest.
Lutz Ellrich hat deswegen die in Rhetorik der Tropen aufgeworfene Frage, ob es Nietzsche in WL
gelingt, aus dem rein rhetorischen Sprechen der Literatur auszubrechen, um so den Boden der
Tatsachen und Wissenschaft zu betreten, als die ironische Inszenierung einer rhetorischen Frage
bezeichnet (vgl. Ellrich 1994a, S. 207). Die Ironie resultiert dabei aus der bereits aus de Mans erster
Aufsatzsammlung Blindness and Insight bekannten Auffassung, dass jeder Text als literarisch gelte,
„der implizit oder explizit seine rhetorische Beschaffenheit anzeigt und die eigene Miß- oder Unver-
ständlichkeit als das Korrelat seines rhetorischen Charakters kenntlich macht“ (Ellrich 1994a, S. 206).
Da für de Man jede sprachliche Äußerung rhetorischer Natur ist, erübrigt sich die Frage nach dem
Ausbruch aus dieser Rhetorizität.
84 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

ralischen Sinne“226 nachweisbare Auffassung von der universellen Verfälschung all


unserer Erkenntnisse aufgrund besagter Rhetorizität.227
Das im Spätwerk die Metapher ersetzende Zeichen entgeht der Problematik dieser
beiden Thesen, indem es in seinen wenigen eindeutig sprachphilosophischen Passa-
gen die in Nietzsches späten Schriften weit verbreiteten anti-essentialistischen und
anti-repräsentationalistischen Tendenzen in einer anderen Form als im Frühwerk in
sich vereinigt. So schreibt Nietzsche in einem Notat vom Herbst 1880: „Der Gedanke
ist ebensowohl wie das Wort, nur ein Zeichen: von irgend einer Congruenz des
Gedankens und des Wirklichen kann nicht die Rede sein“ (NL 1880, 6[253], KSA 9,
S. 263). Ergänzt wird die solcherart als universeller Abkürzungsprozess lesbare Semio-
tik durch die insbesondere in Jenseits von Gut und Böse stark gemachte Idee einer
‚Philosophie der Grammatik‘, welche dort für die „unbewusste[ ] Herrschaft und
Führung durch gleiche grammatische Funktionen“ (JGB 20, KSA 5, S. 34) verantwort-
lich gemacht wird.
Diese Problemkonstellationen finden sich auch in einer der vermeintlich umfang-
reichsten sprachtheoretischen Reflexionen von Jenseits von Gut und Böse. Es handelt
sich dabei um JGB 268. Auch hier begegnet einem die in Nietzsches späten Text-
monumenten omnipräsente Spannung zwischen individuellem Fühlen und kollekti-
vem Sprachgebrauch. Bereits der Anfang dieses Textes offenbart, dass sich das darin
manifestierende Sprachverständnis jenseits der Vorstellung Wittgensteins von durch
Befolgen konventioneller Regeln bestimmten Sprachspielen bewegt. Der Text eröffnet
mit der Frage „Was ist zuletzt die Gemeinheit?“, auf welche er nach einer durch einen
Geviertstrich markierten Pause antwortet:

226 So zum Beispiel in der berühmten Bestimmung der Sprache als ein „bewegliches Heer von
Metaphern, Metonymien“ und der im Zuge derselben erfolgenden Feststellung, dass „die Wahrheiten
[…] Illusionen [seien; A.P.], von denen man vergessen hat, dass sie welche sind“ (WL, KSA 1, S. 881).
227 Siehe dazu insbesondere: Clark 1990, Tietz 2002 und Diéguez 2008 sowie deren Kritik in Pichler
2010, S. 115–131. – Die dort durchgeführte Zurückweisung der „falsification thesis“ erfolgte in Über-
einstimmung mit der aktualisierenden Ausrichtung besagter Studie sowie auf der Grundlage eines
zeitgenössischen Verständnisses des in Nietzsches Post-Zarathustra-Schriften, insbesondere im Nach-
lass dieser Zeit, sehr häufig anzutreffenden ‚Zeichens‘. Aus einer stärker philologischen Perspektive ist
dieser Zeichen-Begriff nicht aufrechtzuerhalten, da – wie Martin Stingelin gezeigt hat (vgl. Stingelin
1993 und 1996) – in Nietzsches Spätwerk der Gebrauch des Begriffs ‚Zeichen‘ „zwischen der neueren
und der älteren Bedeutung des Wortes oszilliert“ (Stingelin 1993, S. 29). Siehe dazu auch das Kapi-
tel 2.2.2.3.
Wie ich in Pichler 2012d zu zeigen versucht habe, ändert sich auch im Falle eines philologischen
Zugangs zu Nietzsches späten Texten, der die Komplexität des dort anzutreffenden Zeichenbegriffes
berücksichtigt, nichts an der Notwendigkeit, die beiden im Lauftext angeführten Thesen zurückwei-
sen, da es auch aus dieser Perspektive nur durch eine die Komplexität von Nietzsches späten Schreib-
weisen reduzierende Ausklammerung der autosubversiven Elemente in Nietzsches späten Schriften
möglich wird, in besagten Texten vermeintliche den Anspruch auf Allgemeingültig erhebende Thesen,
wie zum Beispiel die von de Man so stark betonte Auffassung ‚Sprache ist Rhetorik‘, zu isolieren.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 85

Worte sind Tonzeichen für Begriffe; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen
für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfindungen, für Empfindungs-Gruppen. Es
genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht: man
muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss
zuletzt seine Erfahrung mit einander g e m e i n haben. (JGB 268, KSA 5, S. 221)

In der soeben zitierten Passage kommt es zu einer Übertragung des in Nietzsches


frühem Sprachdenken noch metaphorologisch gedeuteten „Ueberspringen[s] der
Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ (WL 1, KSA 1, S. 879), in seine
semiotisch geprägte späte Sprachphilosophie. Verlief dieser Prozess in „Über Wahr-
heit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ noch vom Nervenreiz über das Bild zum
Laut und von diesem schließlich zum Begriff, bewegt man sich nun in einem innerse-
miotischen Verweisungsprozess, der von Empfindungsgruppen über Bildzeichen zu
den Begriffen/Tonzeichen führt.228
Von zentraler Bedeutung für die in JGB 268 sich offenbarende Spannung zwi-
schen individueller Empfindung und allgemeingültiger Kommunikationspraxis ist die
Tatsache, dass hier ‚sprachgenealogisch‘ „Empfindungen“ bzw. „Empfindungsgrup-
pen“ als den Bildzeichen, welche im Kommunikationsakt mit Hilfe von Tonzeichen
vermittelt werden, vorausgehend gesetzt werden. Die Textstelle behauptet aber nicht
nur die Existenz solcher Empfindung(sgrupp)en, sondern, indem sie darauf verweist,
dass nicht einmal der gemeinsame Gebrauch der „selben Worte“ ausreicht, sich
miteinander zu verstehen, sondern dass man dafür „zuletzt seine Erfahrung mit
einander g e m e i n haben“ müsse, auch, dass diese Empfindungen letztendlich die
Bedeutung der verwendeten Wortzeichen bestimmen.
Die Texteröffnung von JGB 268 folgt derartig der noch bei Russell und dem frühen
Wittgenstein propagierten These, dass Bedeutungen private Erfahrungen seien, und
scheint so in Konflikt mit der ebenfalls in Nietzsches späten Schriften weit verbreite-
ten Auffassung zu stehen, dass unser Sprechen und damit auch unser Denken eine
Folge der in unserer Grammatik sedimentierten Sprechgewohnheiten einer bestimm-
ten Gemeinschaft seien (vgl. JGB 20). Im Gegensatz zum zuvor behandelten Notat 15
[90], wo die „‚innere Erfahrung‘“ durchgehend zwischen Anführungszeichen steht,
wird sie in JGB 268 zumindest in dessen Texteröffnung offensichtlich als faktisch
gegeben gesetzt. Wenn jedoch alles Denken sprachabhängig ist (vgl. N VII 3, S. 165
und Abb. 4a/b) und die Sprache selbst nichts anderes als Handeln nach allgemein-
gültigen Konventionen, sollte ein solch individuelles Denken und Fühlen eigentlich
nicht mehr wahrnehmbar, insbesondere nicht mehr artikulierbar sein. Wie kann unter
diesen Voraussetzungen noch ein individuelles Fühlen und Empfinden behauptet
werden? Handelt es sich dabei gar um einen performativen Widerspruch, den der
gewissenhafte Nietzsche-Leser durch die Zusammenführung verschiedenster Textseg-

228 Vgl. Pichler 2010, S. 125.


86 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

mente aus Nietzsches späten Schriften in dem dort artikulierten Sprachdenken kon-
sequenterweise aufdeckt?
Eine Antwort auf diese Fragen liefert JGB 268 selbst: Es handelt sich bei dem Text
nämlich um eine ‚Genealogie‘ der gängigen kommunikativen Praktiken. ‚Genealo-
gien‘ sind bei Nietzsche keine historischen Studien mit objektivem Wahrheits-
anspruch, sondern kritische Narrativa, die im Rahmen ihrer Deutung Ursprungshypo-
thesen liefern. Diese ‚genealogische‘ Gesamtanlage des Textes färbt auch ab auf die in
ihm auf den ersten Blick potentiell als apodiktische These erscheinenden Eingangs-
sätze. Diese verlieren jedoch im Gesamtkontext des ‚Aphorismus‘ ihren thetisch-all-
gemeingültigen Status.
Für den Rezipienten bedeutet diese ‚sprachgenealogische‘ Anlage des gesamten
Textes, dass er die in ihr gelieferten sprachphilosophischen ‚Thesen‘ als Momente
einer „Philosophie der ‚Gänsefüßchen‘“ – d.h. zwischen Anführungszeichen – zu
lesen hat. Die von JGB 268 im Anschluss an besagte sprachphilosophische ‚Thesen‘
präsentierte ‚Genealogie‘ ist die folgende:

Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige ver-
schiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen; oder vielmehr, wenn
Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima’s, des Bodens, der Gefahr, der Bedürf-
nisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so e n t s t e h t daraus Etwas, das „sich versteht“, ein
Volk. In allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand
gewonnen über seltner kommende: auf sie hin versteht man sich, schnell und immer schneller —
die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses —; auf dies schnelle
Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so
grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut, übereinzukommen; sich in
der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings
nicht entbehren können. (JGB 268, KSA 5, S. 221)

Die Konventionalisierung des Sprachgebrauchs wird hier als eine Reaktion auf das
Bedürfnis gedeutet, in der Not schnell und effizient verstanden zu werden. Im Text
selbst wird diese Hypothese später noch einmal artikuliert:

Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit
ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich
im Ganzen, dass die leichte M i t t h e i l b a r k e i t der Noth, dass heisst im letzten Grunde das
Erleben von nur durchschnittlichen und g e m e i n e n Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche
über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. (JGB 268, KSA 5,
S. 221)

Auffällig an dieser Passage ist, dass im Gegensatz zur Texteröffnung, wo noch von der
Notwendigkeit gesprochen wird, „die selben Worte […] für die selbe Gattung innerer
Erlebnisse“ zu gebrauchen, um sich zu verstehen, nun der Gebrauch von „ähnlichen
Zeichen“ für „ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse“ nur mehr zur Annäherung –
nicht dem Verständnis – der Menschen führt. Während bereits diese Verschiebung auf
eine prinzipielle Kommunikationsskepsis hinzuweisen scheint, geht der Text noch
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 87

einen Schritt weiter, indem er durch die Betonung der phylogenetischen Relevanz der
„leichte[n] M i t t h e i l b a r k e i t der Noth“ diese und die mit ihr einhergehende Ver-
gemeinerung der an ihr teilhabenden Menschen zur ‚gewaltigsten Gewalt‘, welche
über den Menschen bisher verfügt hat, stilisiert. Für den sich am Ende dieses Evoluti-
onsprozesses befindenden zeitgenössischen Menschen kann das nur bedeuten, dass
er, sobald er spricht, sich dieser Gemeinheit anheimgibt. So schreibt Andrea Bertino
in seiner Deutung von JGB 268: „Die Feststellung von Bedeutungen zugunsten der
Selbsterhaltung und Unterhaltung ist für Nietzsche gleichbedeutend mit der Nivellie-
rung des Individuums, da es nur durch die standardisierte Sprache der Gemeinschaft
sein eigenes inneres Leben erfassen kann“229.
Trotz dieser von Bertino zu Recht betonten Konsequenz finden sich in Nietzsches
späten Texten zahlreiche Passagen, die auf einem sich jenseits dieser Gemeinheit
bewegenden Empfinden beharren, ja dieses zum Ausgangspunkt (im)moralischer
Gegenpositionen machen. Auch die soeben nachgezeichnete Sprachursprungshypo-
these aus JGB 268 scheint bei einer ersten Lektüre nicht dazu auszureichen, den
Widerspruch zwischen dem in Nietzsches Spätwerk belegten konventionellen Sprach-
schematismus und der trotz diesem ebenso in zahlreichen anderen publizierten
Texten sowie manchen Notaten konstatierten Wahrnehmung und Artikulation der
„‚innere[n] Erfahrung‘“ aufzuheben. Blickt man genauer auf den besagten ‚Aphoris-
mus‘ selbst, entdeckt man allerdings einen Ausweg aus diesem Dilemma, der zwar
hartgesottene Wittgensteinianer kaum befriedigen wird, dem man jedoch prinzipiell
seine Plausibilität nicht absprechen kann: In JGB 268 wird nämlich – mit Ausnahme
der schon ausführlich besprochenen Eingangssätze – nirgendwo behauptet, dass die
einzelne Empfindung die Bedeutung der für sie stehenden Tonzeichen letztendlich
bestimmt, sondern nur ausgehend von dieser These ‚genealogisch‘ gezeigt, dass eine
solche Sprachauffassung unter den im Text ausgeführten evolutionären Bedingungen
zur allgemeinen Verflachung und Vergemeinerung der an ihr partizipierenden Men-
schen führt. Nirgendwo im Text steht allerdings, dass es trotz dieser Entwicklung
auch den Zeitgenossen noch möglich sei, ein sich jenseits der von einer solcherart
entstandenen Sprache abgedeckten Gefühle bewegendes Empfinden sprachlich aus-
drücken zu können. Im Gegenteil, der ‚Aphorismus‘ gibt derartigen Versuchen kaum
Erfolgschancen: „Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind
immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständli-
chen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und
pflanzen sich selten fort.“ (JGB 268, KSA 5, S. 222) Nur implizit, und zwar im letzten
Satz, schwingt die Möglichkeit eines anderen, primär wohl unverständlichen Spre-
chens noch mit: „Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen,
allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche,

229 Bertino 2011, S. 146.


88 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte — in’s G e m e i n e ! — zu kreuzen.“


(JGB 268, KSA 5, S. 222)
Insofern fügt sich auch JGB 268 in die bereits in der ‚Textgenese‘ von JGB 289
aufgezeigte Problematik des Ausbruchs aus dem konventionellen Sprachschematis-
mus, dessen Entstehung vom Text selbst in nur auf den ersten Blick den anderen
ebenfalls in Jenseits von Gut und Böse artikulierten Sprachauffassungen kontradiktori-
schen Ausgangshypothesen im Zuge eines ‚genealogischen‘ Narrativs nachgezeichnet
wird. So sehr davon auszugehen ist, dass in Nietzsches spätem Sprachdenken die
Idee, dass die Bedeutung von Zeichen Resultat der sie begleitenden Empfindungen
ist, insgeheim eine bedeutende Rolle spielt, so vergeblich sucht man nach einer
explizit thetischen Ausformulierung dieser Auffassung in den späten veröffentlichten
Schriften. Nur ex negativo – durch den Verweis auf das Scheitern der Kommunikation
zwischen aufgrund dieses Scheiterns potentiell anders Empfindenden (vgl. die ‚Text-
genese‘ zu JGB 289) – wird auf diese Möglichkeit verwiesen. In diesem Sinne schloss
noch eine frühere Fassung des in JGB letztendlich veröffentlichten ‚Aphorismus‘ mit
folgenden selbstbezüglichen Sätzen:

Dies ist gesagt, um zu erklären, warum es schwer ist, solche Schriften wie diese zu verstehen: die
inneren Erlebnisse, Werthschätzungen u. Bedürfnisse sind bei mir anders. Ich habe Jahre lang
mit M. Verkehr gehabt und die Entsagung u. Höf=lichkeit so weit getrieben, nie von Din=gen zu
reden, die mir am Herzen lagen. Ja ich habe fast nur so mit M. gelebt.– (N VII 1, S. 138, Z. 14–32)

Diese Passage ist – und das ist bezeichnend – nicht in den gedruckten Text auf-
genommen worden.
Auch der an JGB 268 anknüpfende, ebenfalls hoch spekulative ‚Aphorismus‘ 354
aus dem V. Buch der Fröhlichen Wissenschaft führt hypothetisch vor, wie die in
Jenseits von Gut und Böse in den Vordergrund tretende ‚Philosophie der Grammatik‘
letztendlich in einen schier unumgänglichen Konventionalismus mündet, von dem
sogar das im deutschen Idealismus so zentrale Bewusstsein nur mehr eine bloße Folge
darstellt, denn – so FW 354 – „die Welt, deren wir bewusst werden können, [ist] nur
eine Oberflächen- und Zeichenwelt […], eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte
Welt“ (FW 354, KSA 3, S. 593). In GD Vernunft kommt es schließlich zur endgültigen
entlarvenden Zusammenführung von Sprache, Grammatik und ‚Vernunft‘, was für
alle Versuche, aus dem in diesen drei Grundkonzepten des modernen Denkens herr-
schenden Konventionalismus auszubrechen, gravierende Folgen hat, entbehrt dieser
Konventionalismus doch nicht jener Grausamkeit, deren ‚Genealogie‘ in JGB 286 und
FW 354 dargestellt wird und die eine große Gefahr und Herausforderung für den sich
gegen sie zu wehr setzenden Denker darstellt, wie auch ein ‚Aphorismus‘ aus den
„Streifzügen eines Unzeitgemässen“ unterstreicht:

Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre eigentlichen Erlebnisse sind
ganz und gar nicht geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das
macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 89

allem Reden liegt ein Gran Verachtung. Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches,
Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache v u l g a r i s i r t sich bereits der Sprechende. —
Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen. (GD Streifzüge 26)

Nur durch den vollständigen Verzicht auf den Einbezug dieser Veränderungen in
Nietzsches Sprachdenken sowie durch die Aufpfropfung seiner Lesart von „Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“230 auf das Notat 15[90] konnte ein
Exeget wie de Man folgende These aus seiner Beschäftigung mit dieser Aufzeichnung
ableiten: „Philosophie erweist sich als unendliche Reflexion ihrer eigenen Destrukti-
on in den Händen der Literatur. Diese unendliche Reflexion ist selber eine rhetorische
Form, da sie unfähig ist, dem rhetorischen Trug zu entfliehen, den sie denunziert.“231
Diese auf Allgemeingültigkeit angelegte Formulierung verwundert, und zwar nicht
nur unter Berücksichtigung des von de Man zuvor Geschriebenen,232 sondern auch in
Anbetracht der Tatsache, dass zwei ihrer zentralen Begriffe – Literatur und Rhetorik –
in Nietzsches Notat expressis verbis nicht vorkommen.
c.) Das Verschwinden des Textes unter de Mans Interpretation: Eingedenk der
zuvor kurz skizzierten Sprachauffassungen des späten Nietzsche ist de Mans These
in Hinblick auf das von ihm zu ihrer Entwicklung primär herangezogene Notat 15[90]

230 Eine umfangreiche Liste der jüngeren Interpretationen von „Über Wahrheit und Lüge im aus-
sermoralischen Sinne“ liefert Andrea Bertino in Bertino 2011a, S. 76, Fußnote 11. Siehe auch meine
eigene Lektüre in Pichler 2012c.
231 De Man 1988a [1979], S. 158f.
232 Damit ist insbesondere ein wichtiger Zwischenschritt von de Mans Argumentation gemeint, der
gerade in Hinblick auf Nietzsches Schriften und die in diesen sich artikulierende Kritik an traditionel-
len Wahrheits- und Erkenntnisbegriffen nicht zu unterschätzen ist. Es handelt sich dabei um das in
dieser Studie bereits mehrfach angesprochene und noch häufig wiederkehrende Problem der ver-
meintlichen Metareferentialität von Nietzsches Texten. Im Zuge von de Mans an manchen Stellen
seines Aufsatzes selbst insgeheim noch einen ‚starken‘ – sprich: korrespondenztheoretischen – Wahr-
heitsbegriff implizierenden Auseinandersetzung mit WL, dessen Angriff auf derartige Wahrheitskon-
zeptionen de Man eindeutig unterstreicht, stellt dieser in dem Augenblick, in welchem es in seinem
Aufsatz endgültig zu einer Verabsolutierung der Rhetorik zum zentralen Paradigma der Sprache
kommt, fest: „Alle rhetorischen Strukturen […] basieren auf substitutiven Umkehrungen, und es ist in
hohem Maße unwahrscheinlich, daß eine weitere solche Umkehrung hinreichen könnte, die Dinge an
ihren eigentlichen Platz zu rücken. Eine ‚Wendung‘ oder eine Trope, zu einer Reihe früherer Umkeh-
rungen hinzugefügt, wird die Wendung zum Irrtum nicht aufhalten.“ (De Man 1988a [1979], S. 156)
Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sich zeigen lässt, dass Nietzsches späte Schriften nicht
bei dieser Umkehrung verharren, sondern ein hochkomplexes selbst-, meta- und fremdreferentielles
Verweisungsspiel inszenieren (vgl. Pichler 2010, S. 77–85), die es ihm – wie auch de Man selbst richtig
konstatiert – nicht mehr erlauben einen global gültigen Irrtums-Begriff zu etablieren, stellt sich hier
die Frage, wie der Status von de Mans eigener These zu bestimmen ist. Nimmt man de Mans These
nämlich ernst, würde auf sie genau das zutreffen, was sie behauptet: Auch sie könnte die „Wendung
zum Irrtum nicht aufhalten“. Während de Mans Text jedoch unermüdlich dieses Problem bei Nietz-
sche unterstreicht, entbehrt er selbst fast durchgehend der in Nietzsches späten Texten häufig
anzutreffenden und von de Mans Aufsatz selbst nachgewiesenen Ironie-und Autosubversionssignale.
90 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

zurückzuweisen. In dieser Aufzeichnung wird die Sprache nämlich nur in einer


einzigen Passage – jener Stelle, die bereits zuvor zitiert wurde (vgl. NL 1888, 15[91],
KSA 13, S. 460 – vgl. W II 6, S. 59, Z. 26–34; vgl. Abb. 3a/b) – zum konkreten
Gegenstand des Textes. Dort ist weder von der in de Mans verallgemeinernden
Deutung zentralen selbstbezüglichen Rhetorizität der Sprache die Rede, noch zeigt
sich diese im Textgeschehen selbst am Werk. Überhaupt ist festzustellen, dass im
Zentrum der Aufzeichnung eben nicht die Sprache steht, sondern eine in ihrem
Eingangssatz bloß gesetzte These, deren thetischer Charakter sich nicht zuletzt in
ihrer elliptischen Ausformulierung manifestiert. Sie lautet: „die chronolog. Umdre-
hung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wirkung“ (W II 6, S. 61,
Z. 26). Im weiteren Textverlauf kommt es nirgendwo zu einer Begründung dieser
These. Dies ist nur konsequent, arbeitet sich das Notat, dabei immer wieder neu
ansetzend, doch an der Gegenüberstellung von zwei alternativen ‚Begründungs-
modellen‘ ab: dem „alten Irrthum vom Grunde“ (W II 6, S. 59, Z. 16) und der diesem
oppositionellen, vom Text propagierten Auffassung eines relationalen Netzes von
Bedingungen, deren Interaktion unbewusst verläuft. Erst gegen Ende der Aufzeich-
nung wird die Rolle der Sprache in diesem ‚Begründungsmodell‘ verhandelt. Dabei
begegnet man jenem Sprachbild, das durch seinen Verweis auf das jedem ‚verständ-
lichen‘ Sprechen zugrundeliegende konventionelle Muster – „‚verstehen‘ das heißt
naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem,
Bekanntem“ (W II 6, S. 59, Z. 32 und 34) – an Nietzsches späte Idee einer ‚Phi-
losophie der grammatischen und kommunikationspragmatischen Konventionen‘ er-
innert, wie er sie in JGB 20 und 268 sowie in FW 354 entwickelt hat. Wie bereits
gezeigt, fußt diese Sprachauffassung nicht mehr auf der im Frühwerk eindeutig
nachweisbaren These von der universellen Rhetorizität allen Sprechens und Schrei-
bens, sondern ersetzt diese insbesondere epistemologisch problematische Auffas-
sung durch eine semiotische ‚Theorie‘, welche an die Stelle der einst so zentralen
Metapher das Zeichen setzt.
Es handelt sich bei de Mans Interpretation also eindeutig um ein Beispiel für das
am Anfang dieses Kapitels im Rahmen der Charakterisierung der Analysen von Nietz-
sches Sprachphilosophie aus den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts für diese
Deutungen als dritter Punkt gelistete Spezifikum, nämlich den Usus, eigene sprach-
philosophische Grundannahmen ohne Berücksichtigung des unmittelbaren Werkkon-
textes sowie der eigentlichen Textur des jeweils untersuchten Textes in diese Unter-
suchung einzuschreiben. An der Inadäquatheit eines solchen Vorgehens ändert auch
die Tatsache nichts, dass manche dieser sprachphilosophischen Grundauffassungen
einen Text oder eine Aufzeichnung Nietzsches als eine ihrer potentiellen Quellen
besitzen. Dies gilt insbesondere, wenn dieser Text dem eigentlich untersuchten chro-
nologisch ferner steht als andere relevante Parallelstellen. Bei de Man führt diese
Praxis letztendlich dazu, dass seine ganze Argumentation in einem selbstreflexiv
nicht eingeholten Zirkelschluss endet, geht sein Aufsatz doch bereits von Anfang an
von jener Rhetorizität aus, die er in Nietzsches Aufzeichnung nachweisen möchte.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 91

Ebenso problematisch wie de Mans Beharren auf der universellen Rhetorizität der
Sprache ist seine auf dieser aufbauende These von der niemals zum Stillstand zu
bringenden unendlichen Reflexion der durch die Literarizität von Nietzsches Texten
katalysierten Destruktionsbewegung. Auch hier greift de Man mit der Behauptung,
dass Nietzsches Schreiben an die Tradition der deutschen Frühromantik anschließt,
wieder auf eine textexterne Prämisse zurück, die von der Nietzscheforschung in dieser
Form nicht mehr getragen wird.233 Dennoch finden sich in dieser Behauptung Ansätze
eines ‚richtigen Bewusstseins im Falschen‘, wenn de Man die Aufmerksamkeit auf
potentielle Selbstbezüglichkeiten in Nietzsches Schriften und somit auch auf die
ästhetische Überkonnotierung derselben lenkt. Er beachtet hierbei aber weder die
jeweilige Textur noch die intratextuell bedingte semantische Dichte ästhetischer
Zeichenfolgen.234 Stattdessen lässt sich erneut eine thetische Aufpfropfung erkennen,
die genau jenes Verhalten demonstriert, welches das von ihm untersuchte Notat an
der Stelle beschreibt, welche qua potentieller poeseologischer Selbstreferenz die
stärksten Irritationsimpulse der gesamten Aufzeichnung liefert. Sie lautet:

zb. „ich befinde mich schlecht“ – ein solches Urtheil setzt eine große u späte Neutralität des
Beobachtenden voraus –: der naive M. sagt immer: das u das macht, daß ich mich schlecht
befinde – er wird {über} sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht
zu befinden …
Das nenne ich den Mangel an Philologie: einen Text als Text ablesen können, ohne eine Inter-
pretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der „inneren Erfahrung“, – vielleicht eine
kaum mögliche … (W II 6, S. 59, Z. 36–48)

In Anknüpfung an dieses von Colli und Montianri der Schreiblogik des Notates ent-
sprechend an das Ende von 15[90] gesetzten Passus, den de Man in seinem Aufsatz
weder zitiert noch sonst in irgendeiner Weise beachtet, lassen sich zwei Punkte als

233 Im Gegensatz zu frühen Arbeiten zu Nietzsches Verhältnis zur Romantik hat die Nietzsche-
forschung in Anschluss an die quellenkritischen und sprachphilosophischen Untersuchungen von
Ernst Behler (siehe zum Beispiel Behler 1978) ein sehr differenziertes Bild von Nietzsches Rezeption
und Integration des romantischen Denkens in sein eigenes Philosophieren entwickelt. Dieses changiert
zwischen unmittelbarer Nähe – insbesondere zu Friedrich Schlegel (siehe zu diesem neben Behler auch
Vieweg 2007) – und teilweise harscher Kritik. Zur Einführung siehe Zittel 2000a sowie die Fußnote 695
in Stegmaier 2012, 472f.
234 Wie in dieser Studie im Kapitel 3.1. noch ausführlich dargelegt wird, ist die im Textgeschehen
eines sprachlichen Kunstwerks angelegte Offenheit zur unendlichen Reflexion nicht so sehr Folge der
unumgänglichen Rhetorizität des einzelnen Sprachzeichens, sondern vielmehr dem in ästhetischen
Sprachgebilden im Vergleich zur Standardsprache weitaus umfangreicheren Kombinationsangebot
der einzelnen sprachlichen Zeichen und der aus diesem folgenden Multiplizierung der Bedeutungs-
angebote derselben geschuldet. Diese sprachliche Verdichtung lässt sich jedoch am jeweiligen Text
bzw. über eine Nachzeichnung der semantischen Interaktion einzelner Textsegmente textintern nach-
vollziehen. Im Verzicht auf diesen Nachvollzug liegt die Schwäche der von de Man bloß gesetzten
These von der unendlichen Reflexion im sprachlichen Kunstwerk.
92 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Ausdruck von de Mans potentiellem „Mangel an Philologie“ herauslösen: Erstens


bestechen die beiden Absätze durch eine sprachliche Klarheit, die es dem Leser leicht
macht, sie abzulesen, „ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen“: Insbesonde-
re die zentrale Trope, also jener Vergleich, welcher die Wahrnehmung der „‚innere[n]
Erfahrung‘“ mit der philologischen Lektüre eines Textes gleichsetzt, öffnet hier nicht
jenen Spielraum „potentielle[r] Verwirrung von figurativer und referentieller Aus-
sage“235, der ihm laut de Mans Verständnis der Sprache eignen müsste. Der „Mangel
an Philologie“ charakterisiert sich, wie es in einem auf der gegenüberliegenden Seite
der hier verhandelten Aufzeichnung zu findendem Notat heißt, schlichtweg folgen-
dermaßen: „man verwechselt beständig die Erklärung mit dem Text – u was für eine
‚Erklärung‘!“ (W II 6, S. 60, Z. 6–8).
Zweitens kommt mit den beiden Absätzen die Reflexions- und Umkehrungsbewe-
gung der Aufzeichnung zu einem Ende:236 Dadurch, dass der Text darauf hinweist,
dass die von ihm verhandelte Form einer jenseits der Sprachkonventionen liegenden
„‚innere[n] Erfahrung‘“ prinzipiell möglich sei, sie jedoch durch den gesamten Text-
verlauf zwischen Anführungszeichen setzt, um schließlich im letzten Absatz fest-
zustellen, dass eine solche Erfahrung erst sehr spät in der Entwicklung des Menschen
eintreten könne, weist er darauf hin, dass ihr ein utopisch-hypothetischer Gehalt
zukommt, der in einer unbestimmten Zukunft eingeholt werden könnte. Von unend-
licher Reflexion kann hier also nicht die Rede sein.237 Zur Konstruktion derselben
musste de Mans Aufsatz auf die selbstreferentielle Wahrheitskritik aus WL zurück-
greifen, die in dieser späten Aufzeichnung von 1888 in keiner Weise präsent ist.
Trotz all dieser Probleme der hochspekulativen Lesart von Paul de Man, die
insofern paradigmatisch für eine insbesondere in der Nietzscherezeption des Post-
strukturalismus vorherrschende Auslegungspraxis steht,238 bietet dessen Aufsatz ers-
te Hinweise auf jene Lektürepraxis, an die auch diese Studie anknüpfen möchte. Es

235 De Man 1988a [1979], S. 160.


236 Daran ändern auch die drei Auslassungspunkte am Ende des Zitates nichts. Ich lese diese als
graphematische Markierung der temporalen Unbestimmtheit der Erfüllung der im Notat artikulierten
Hypothese.
237 Wie bald mit der Einlösung der in der Aufzeichnung präsenten Utopie einer nicht-missverstehen-
den „innere[n] Erfahrung“ zu rechnen ist, geht aus dieser selbst nicht eindeutig hervor. Dazu trägt
unter anderem die Tatsache bei, dass nicht zweifelsfrei zu bestimmen ist, ob die „‚innere Erfahrung‘“
phylo- oder ontogenetisch zu verstehen ist. Liest man sie in einem ontogenetischen Kontext und bindet
sie dabei zugleich an die im Lauftext später noch verhandelte Problematik des inter-individuellen
Verstehens qua Rhythmus und Klang an (vgl. JGB 246 und FW 381), scheint ihre baldige Erfüllung nicht
mehr auszuschließen zu sein. Dass in diesem Falle eine solche „innere Erfahrung“ allerdings nicht zu
einem Massenphänomen werden würde, sondern als die kommunikative inter-individuelle Praxis
ausgewählter Einzelner zu verstehen ist, wird die Erörterung der ‚Aphorismen‘ JGB 246 und FW 381
zeigen.
238 Zu den Unterschieden zwischen der dekonstruktivistischen Nietzschelektüre de Mans und derje-
nigen von Jacques Derrida siehe Allison 1979.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 93

handelt sich bei dieser um den Nachvollzug der zuvor bereits angesprochenen, lange
Zeit von der Forschung vernachlässigten Verschränkung von Nietzsches philosophi-
schen (Hypo-)‚Thesen‘ mit den ästhetisch-literarischen Darstellungsformen in seinen
Schriften, oder kürzer: um die Beachtung der Performativität von Nietzsches Schrei-
ben.239 Auch in de Mans dekonstruktivistischer und an manchen Punkten philolo-
gisch höchst problematischer Lesart finden sich bereits – wenn zwar auch vorwiegend
ex negativo, im Sinne des Versuchs des Nachweises von performativen Wider-
sprüchen – zahlreiche Ansätze zu einem Nachvollzug jener Schreibpraktiken, deren
Bedeutung für Nietzsches Philosophie mittlerweile von einem großen Teil der For-
schung anerkannt worden ist.

239 Die Betonung des hohen poeseologischen Selbstreflexions- und Vollzugsgrades von Nietzsches
Schriften ist, obwohl sie erst unter dem Terminus der ‚Performanz‘ breitere Beachtung gefunden hat,
keine Einsicht der jüngeren Forschung, sondern wurde zum Beginn der Nietzsche-Renaissance von
zahlreichen Forschern vorbereitet. Laut Alfons Reckermann war in Frankreich George Bataille der
Erste, dessen Nietzsche-Exegesen die Darstellungsform(en) von Nietzsches Schriften zum Ausgangs-
punkt seiner Auslegungen machte (vgl. Reckermann 2003, S. 22). Große Bekanntschaft erlangte ein
Aufsatz des französischen Philologen Richard Roos, in welchem dieser in Opposition zur Übermeta-
phorisierung von Nietzsches Schreiben durch den ‚Poststrukturalismus‘ sechs philologische Leitsätze
für die Lektüre Nietzsches aufstellt (vgl. Roos 1986, insbesondere 16f.). Roos schreibt dort auch: „Ich
behaupte aber gerade, diese Form sei nur der notwendige Ausdruck des Inhalts, die fühlbare, vom
sogenannten Stoff untrennbare Ausdehnung.“ (Roos 1987 [1972], S. 20) Bestätigt und erweitert wurde
diese These auf derselben Veranstaltung, auf der auch Roos seine Leitsätze präsentierte – einer Nietz-
sche-Tagung in Cérisy-la-Salle –, durch Jacques Derridas Vortrag „Sporen. Die Stile Nietzsches“
(Derrida 2007 [1973]).
Die für traditionelle philosophische Nietzsche-Interpretationen wohl verstörendste Lesart von
Nietzsches performativem Schreiben hat Christian Schärf im Nietzsche-Kapitel seiner von der ein-
schlägigen Nietzscheforschung bis dato kaum beachteten Studie Geschichte des Essays von Montaigne
bis Adorno vorgelegt (vgl. Schärf 1999, S. 163–184). Schärf kommt dort aus einer gänzlich anderen
Perspektive – die Studie liefert eine Gattungsgeschichte des essayistischen Schreibens – zu ähnlichen
Resultaten, wie ich sie mit Hilfe einer aktualisierenden Lektüremethode in Pichler 2010 erarbeitet
habe, wenn er zum Beispiel gleich am Anfang seines Nietzsche-Kapitels feststellt: „Kurz, Nietzsches
Schreiben kann nicht auf den Begriff gebracht werden, sein Denken vollendet sich nicht in einer
Philosophie, sondern zelebriert sich selbst als Artistik.“ (Schärf 1999, S. 163)
Resultat von Schärfs Lesart ist, dass Nietzsches Schriften für ihn zu einem reinen Denkereignis
werden: „Das bedeutet, das Gesagte ist nicht in erster Linie Mittelung eines Inhalts, sondern Erfahrung
dieses Inhalts durch die Form der Mitteilung. Der Text ist nicht mehr das Mittel des Philosophen,
durch das er sich verständlich zu machen sucht, sondern das Ziel aller denkerischen Anstrengung,
Denken als Ereignis.“ (Schärf 1999, S. 173) Ohne eine derartige These zu artikulieren, widmete sich
Pichler 2010 in partieller Übereinstimmung mit ihr ausgehend von der Autodestruktion von Nietzsches
später Erkenntniskritik dem Nachweis des Methodencharakters und der auch gegenwärtig noch
gegebene Anwendbarkeit von Nietzsches potentiell ad infinitum perpetuierbaren Denkbewegung (vgl.
Pichler 2010).
94 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

2.1.2.2. Ziele und Reichweite von Nietzsches poeseologischen Reflexionen

Eines der wesentlichen Charakteristika von Nietzsches philosophischer Schriftstel-


lerei und der diese kennzeichnenden innigen Verschränkung von Form und Inhalt
hat Martin Stingelin in seinem Artikel zur „Poetik“ im Nietzsche-Handbuch ausformu-
liert:

Die Sprachkritik und die Poetik N[ietzsches] begegnen sich […] in ihrer Selbstbezüglichkeit. So
entfalten N[ietzsche]s Metaphern ihre poetisch-philosophische Kraft zwischen der metaphorolo-
gischen Selbstreflexion ihres sprachkritischen und der metaphorischen Potenzierung ihres
sprachschöpferischen Moments [.]240

Deutungen wie diese verweisen auf die zahlreichen poeseologischen Metareflexionen


in Nietzsches veröffentlichten Schriften und Notaten/Aufzeichnungen, die in einer
umfangreichen Auseinandersetzung mit seinem Stil kulminieren. Die stilistisch-phi-
losophischen Konsequenzen dieser Reflexionen sollen im Folgenden eingehender
untersucht werden. Deren Grundthese findet bereits in einem kurzen ‚Aphorismus‘
aus den „Vermischten Meinungen und Sprüchen“ aus dem zweiten Band von Mensch-
liches, Allzumenschliches ihren prägnantesten Ausdruck. Dort liest man unter dem
Titel „D e n G e d a n k e n v e r b e s s e r n . — “ folgenden Text: „Den Stil verbessern — das
heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! — Wer diess nicht sofort
zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.“ (VM 131, KSA 2, S. 610)
In den Post-Zarathustra-Schriften verdichten sich die auf dieser Grundthese
fußenden poeseologischen (Auto-)Reflexionen und führen letztendlich zu jener Kop-
pelung von Sprachkritik und Poeseologie, von der auch Martin Stingelin in seinem
oben zitierten Nietzsche-Handbuch-Artikel schreibt.
Bevor eine Auswahl dieser Reflexionen näher betrachtet und mit den bisherigen
Resultaten der Forschungsliteratur zusammengeführt werden wird, um so die Grund-
lage für die später erfolgende Analyse der Bedeutung und Funktion der ästhetischen
Darstellungsformen in der Götzen-Dämmerung zu schaffen, ist es notwendig, darauf
hinzuweisen, dass diesen Reflexionen selbst aufgrund ihrer eigenen stilistischen
Eigenschaften ein nicht unproblematischer Status zukommt. Bei den gleich vor-
gestellten Texten handelt es sich – wie auch schon bei dem zuvor zitierten Beispiel
aus MA II – meist um verhältnismäßig kurze, im Druck eindeutig isolierte ‚Werks-
egmente‘, deren meta- und intratextuelle Relevanz und Reichweite niemals eindeutig
zu bestimmen ist.241 Extrahiert man derartige ‚Werksegmente‘ aus ihrem unmittel-

240 Stingelin 2000b, S. 302.


241 Trotz ihrer nicht zu vernachlässigenden heuristischen Relevanz für die Deutung von Nietzsches
Philosophie ist die beschränkte Zahl expliziter Reflexionen der eigenen Schreibweise in den veröffent-
lichten Post-Zarathustra-Schriften auffällig. So wird in diesen der ‚Stil‘ im Sinne von Schreibweise
unter Verwendung dieses Graphems nur dreizehn Mal verhandelt. Neben den hier im Lauftext detail-
lierter untersuchten Werksegmenten JGB 246 und 247, FW 381, GD Alten 1 und 2 sowie EH Bücher 4
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 95

baren druck- und somit werkspezifischen Kontext, um sie auf diesem Wege über die
allein von ihrem Ursprung als einzeln vorliegendes gedrucktes Buch eindeutig be-
stimmbaren empirischen Grenzen hinaus zu verallgemeinern, läuft man beständig
Gefahr, die ihnen eignende und allein in der empirischen Faktizität des gedruckten
Buches offensichtlich werdende Individualität zu vernachlässigen und aus dem Blick
zu verlieren. Wie hier später noch ausführlich gezeigt werden wird, bilden derartige
Individualisierungen auch jenseits der bloßen Faktizität des Buches ein zentrales
stilistisches Charakteristikum von Nietzsches Werken und sind daher von hoher
semantischer Valenz. Aus dem Gesagten folgt, dass die nun einsetzende (Re-)Kon-
struktion von Nietzsches Stilbegriff und Poeseologie nur einen vorläufigen Charakter
besitzt und an den später analysierten Textstellen der Götzen-Dämmerung noch
einmal kritisch zu überprüfen sein wird.242
a.) Stil als Mittel der Leserauswahl: Ein zentrales, auch in der Forschungsliteratur
viel beachtetes Dokument für das Zusammenspiel von Sprachkritik und potentieller
poetischer Innovation qua performatives Schreiben stellt der ‚Aphorismus‘ 246 aus
Jenseits von Gut und Böse dar, in welchem die Auffassung artikuliert wird, „dass
K u n s t in jedem guten Satze steckt, — Kunst die erraten werden will, sofern der Satz
verstanden sein will!“ (JGB 246, KSA 5, S. 189) In Anknüpfung an einen wegbereiten-

geschieht dies auch noch in: JGB 28 (KSA 5, S. 46), JGB 52 (KSA 5, S. 72), GM III 8 (KSA 5, S. 354), EH GT
4 (KSA 6, S. 315), GD Streifzüge 1 (KSA 6, S. 111) und GD Streifzüge 6 (EA 74), WA Brief 7 (KSA 6, S. 27f.).
Daneben finden sich noch zahlreiche weitere Verwendungen von ‚Stil‘ in 21 Textsegmenten. Diese
reichen vom „Stil der Baukunst“ (JGB Vorrede, KSA 5, S. 12), „dem „Wechsel der Stil-Maskeraden“ (JGB
223, KSA 5, S. 223) im 19. Jahrhundert, den ‚Stil-Übergängen und -Brüchen‘ in der Musik (vgl. JGB 245,
KSA 5, S. 187), dem „Stil in der Musik“ (WA Brief 6, KSA 6, S. 24, sowie WA Nachschrift 2, KSA 6, S. 47),
Wagners Stil (WA 10, KSA 6, S. 36), dem „Renaissance-Stile“ (AC 2, KSA 6, S. 170; EH klug 1, KSA 6,
S. 279), der „Stilübung“ (EH Bücher 1, KSA 6, S. 299), dem „großen Stil der Moral“, den Europa den
Juden verdanke (JGB 250, KSA 5, S. 192), dem „grossen Stil“ des Schaffenden (JGB 253, KSA 5, S. 197
und GD Streifzüge 11, EA 80) über umgangssprachliche Formeln wie „im grössten“ (GM II 6, KSA 5,
S. 301; GM III 17, KSA 5, S. 378), „grossen“ (WA Nachschrift 2, KSA 6, S. 48 und AC Vorwort, KSA 6,
S. 167) oder „kleineren Stile“ (GM Vorrede 6, KSA 5, S. 253) „alten Stils“ (FW 382, KSA 3, S. 636; EH ZA
2, KSA 6, S. 338), bis zum ‚grossen Stil‘ des Kunstwerks (AC 58, KS6, S. 246) und der Realität (AC 59,
KSA 6, S. 248).
242 Zu der im Lauftext angesprochenen, sich primär über den Ort des einzelnen ‚Werksegments‘ im
gedruckten Buch konstituierenden Individualität von Nietzsches ‚Aphorismen‘ im Spätwerk – einer
Individualität, die also nicht per se gegeben ist, sondern sich aus dem Zusammenspiel mit den sie
umgebenden Werksegmenten ergibt – tritt noch ein weiteres nicht zu vernachlässigendes Phänomen
hinzu, dass eine Verallgemeinerung der in diesen einzelnen ‚Segmenten‘ präsentierten Meinungen und
‚Thesen‘ über den werkspezifischen Kontext hinaus als problematisch erscheinen lässt. Dabei handelt
es sich um eine in den Post-Zarathustra-Schriften häufig zum Einsatz gebrachte Schreibweise, welche
die Forschung bis dato unter Begriffe wie Parodie (Zittel 2011 [2000] und Stegmaier 2012) Subversion
(Dellinger 2012f) oder Spiel (Pichler 2012b) gebracht hat. Besagte Darstellungsmodi führen dazu, dass
qua Form oder Autoreferenz das in den jeweiligen Texten inhaltlich ausgedrückte, wenn nicht gänzlich
unterlaufen, so doch zumindest eingeklammert wird (vgl. Behler 1988, Magnus/Stewart/Mileur 1993,
Zittel 1995, Zittel 2000b, Pichler 2010).
96 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

den Aufsatz von Luca Renzi hat die Forschung nachgewiesen,243 dass diese Kunst
vom Text nicht nur behauptet, sondern zugleich umgesetzt wird, wobei sich die Arbeit
an der Umsetzung dieser Kunst bis in die ‚Vorstufe‘ W I 8, S. 266 nachverfolgen lässt.
Der finale Text sowie der sich in den ihm vorausgehenden Notaten und im Druck-
manuskript manifestierende Schreibprozess reagieren offensichtlich auf jene Proble-
matik, die in Nietzsches spätem Sprachdenken als eine ‚Philosophie der grammati-
schen und kommunikationspragmatischen Konventionen‘ ihren prägnantesten
Ausdruck gefunden hat und von manchem Nietzsche-Exegeten – zu Unrecht, wie die
Textanalyse von JGB 246 zeigt – als Ausdruck eines unumgänglichen Sprachdetermi-
nismus gedeutet worden ist. Der Schreibprozess dieses Textes offenbart den Versuch,
die durch ein stark reguliertes und derartig normatives Sprechen gegebenen Grenzen
des Sagbaren mit Hilfe eines performativen Schreibens zur Darstellung zu bringen, ja
diese Grenzen durch den Einsatz einer sich einem inter-individuellen Kommunizieren
öffnenden Rhythmik und Lautmalerei potentiell zu durchbrechen.
Durch das ins Zentrum – sofern man von einem solchen bei Nietzsche sprechen
kann244 – von Nietzsches ‚Stilbegriff‘ führende Ohr-Motiv assoziativ mit JGB 246
verknüpft ist der in der Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 erstmals
veröffentlichte ‚Aphorismus‘ FW 381.245 Insbesondere diesem Text, der den Titel „Z u r
F r a g e d e r V e r s t ä n d l i c h k e i t “ trägt, hat die einschlägige Forschung hohe Auf-
merksamkeit geschenkt, da er sich zur Deutung als autoreferentielle Leseanweisung
Nietzsches regelrecht aufdrängt.
Der Text eröffnet mit einer in Hinblick auf Nietzsches Projekt einer „U m w e r t -
h u n g a l l e r W e r t h e “ (GD Vorwort, KSA 6, EA I) irritierenden Feststellung: „Man will
nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss
auch n i c h t verstanden werden.“ (FW 381, KSA 3, S. 633) Über den Ursprung der auf
den ersten Blick so verwunderlichen Wirkungsabsicht des ‚Nicht-verstanden-wer-
dens‘ sowie über die Mittel, mit denen der Text an dieses Ziel gelangen möchte, klären
einen die darauffolgenden drei Sätze auf:

243 Neben Luca Renzi 1997 haben sich insbesondere Paul van Tongeren (vgl. van Tongeren 2000)
Christian Benne (vgl. Benne 2012) und Werner Stegmaier (vgl. Stegmaier 2011, S. 109ff. und Stegmaier
2012, S. 13f. und S. 87) ausführlich mit JGB 246 auseinandergesetzt, dabei allerdings die Textgenese in
ihre Lektüren nicht miteinbezogen. Eine Berücksichtigung derselben findet sich erst in dem an die hier
zuvor genannten Arbeiten anknüpfenden Beitrag von Born/Pichler 2013b, insbesondere S. 18–29,
dessen von mir verfasster Teil auch die Grundlage dieses Absatzes bildet.
244 Das Problem eines vermeintlich feststellbaren Zentrums von Nietzsches ‚tanzendem‘ Denken
sowie die Unterschiede der dynamischen nietzscheschen Denkbewegung zum ebenfalls de-zentrieren-
den Denken der Dekonstruktion bildet ein Leitmotiv in Pichler 2010, insbesondere S. 151–161, sowie
S. 193–204.
245 Dieses Kapitel beschränkt sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Eingang dieses ‚Aphoris-
mus‘. Eingehendere Interpretationen desselben finden sich in: Stegmaier 2007b und Stegmaier 2012,
S. 66f. und S. 460f.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 97

Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich
findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er w o l l t e nicht von „irgend
Jemand“ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich
mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“
seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung: sie halten zugleich
ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den Eingang“, das Verständniss, wie gesagt, — während
sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. (FW 381, KSA 3, S. 635f.)

Wie aus diesem Absatz hervorgeht, entspringt die im Eingangssatz apodiktisch artiku-
lierte Absicht nach partiellem Unverständnis einer in besagtem ‚Aphorismus‘ auf den
ersten Blick nicht weiter ausdifferenzierten Unterscheidung zwischen den „vorneh-
mere[n] Geist[ern]“ und „‚irgend Jemand‘“. Das Sprecher-Ich des Textes sowie die von
diesem im auf den hier zitierten Passus folgenden Satz angesprochenen „Freunde“,
welche eindeutig der Gruppe der „vornehmere[n] Geist[er]“ zuzurechnen sind, erfah-
ren allerdings, indem der Text auf das implizite Auswahlverfahren potentiell ver-
wandter Ohren verweist, letztendlich doch noch eine minimale Charakterisierung: Sie
kennzeichnen sich durch eine Kommunikationspraxis, die „‚die Anderen‘“ durch
einen stark individualisierten Kommunikationsmodus vom Verstehen des Kommuni-
zierten ausschließt: „Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung“ (FW
381, KSA 3, S. 636).246
Der ‚Aphorismus‘ mündet derartig in die in dieser Studie schon mehrfach an-
gesprochene Frage, wie ein derartiger Kommunikationsmodus auf dem Hintergrund
von Nietzsches Konzept einer ‚Philosophie der Grammatik‘ und des diese charakteri-
sierenden Sprachkonventionalismus überhaupt möglich sein kann. Zur Antwort auf
diese Frage gelangt man über das am Ende der zitierten Passage auftauchende Ohr-
Motiv, das auch in JGB 246 und 247 eine zentrale Rolle spielt. Wie Luca Renzi in seiner
Analyse dieser beiden ‚Aphorismen‘ gezeigt hat, erweist sich die im Ohr-Motiv gebün-
delte Stil-Problematik in Nietzsches Spätwerk nicht als Selbstzweck, sondern „steht
im Kontext eines kohärenten Konzepts. Das Hören, das Ohr-Verständnis, erweist sich

246 Diese auf eine in ihren Auswahlkriterien im Text nicht weiter bestimmte und von diesem dennoch
als bewusste Selektion gesetzte Dimension scheint Werner Stegmaier zu übersehen, wenn er im
Rahmen seines abschließenden Kommentars zu FW 381 schreibt: „[U]nverständlich wollte Nietzsche in
dem Sinn sein, dass man nicht glauben solle, ihn ein für alle Mal richtig verstehen, sein wachsendes
und reifendes Philosophieren ‚feststellen‘ zu können“ (Stegmaier 2012, S. 460).
So sehr Stegmaier in diesem Punkte prinzipiell recht zu geben ist – die Denkbewegung in
Nietzsches späten Schriften tendiert, insbesondere wenn man sie rein formal isoliert, wie ich dies u.a.
im Rahmen der aktualisierenden Lektüre in Pichler 2010 zu zeigen versucht habe, tatsächlich ins
Unendliche –, gelangt jedoch an manchen Punkten eindeutig zu temporär gültigen Resultaten, wie in
diesem Kapitel im Kontext der Kritik an Paul de Mans Nietzsche-Interpretation in seinem Aufsatz
„Rhetorik der Tropen“ gezeigt worden ist. Um einen solchen temporären Stillstand scheint es sich
auch bei der Rede vom ‚Nicht-verstanden-werden-wollen‘ in FW 381 zu handeln, da nur auf deren
Grundlage die Unterscheidung zwischen „vornehmere[n] Geist[ern]“ und den „‚[…] Anderen‘“ möglich
wird.
98 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

als ein selektiver Prozeß, in dem der Adressat unter Umständen nur hört, was er hören
will oder kann: Es setzt eine Verwandtschaft zwischen Sprecher und Hörer voraus“247.
Diese über das Hören erfolgende Selektion bedarf von Seiten des Rezipienten jedoch –
dies wird einen in Anbetracht der vermeintlichen gewaltsamen Angleichung alles
Kommunizierens, wie es in JGB 268 ‚sprachgenealogisch‘ dargestellt wird, nicht
verwundern – eines nicht formalisierbaren divinatorischen Aktes, handelt es sich
doch bei der in JGB 246 und somit wohl auch in FW 381 verhandelten ‚Kunst des Stils‘
um eine Kunst „die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will!“ (JGB 246,
KSA 5, S. 189)248
b.) Bedeutungserweiterung durch Rhythmisierung: Wie Christian Benne jüngst
gezeigt hat, beschränkt sich die Bedeutung des Ohr-Motivs und der in diesem ver-
sammelten Stil- und Kommunikationsproblematik von Nietzsches Spätwerk aller-
dings nicht nur auf die bereits von Luca Renzi hervorgehobene Differenz zwischen
geschriebener und gesprochener Sprache sowie die stilbildende Funktion der Letzte-
ren für Nietzsches philosophisches Schreiben, sondern besitzt in Nietzsches frühen
philologischen Arbeiten zur antiken, insbesondere altgriechischen Rhythmik einen
zusätzlichen, gerade für die Frage der Verständlichkeit und des Ausbruchs aus
Sprech- und Schreibkonventionen höchst bedeutsamen Kontext.249 Laut Benne ver-
weisen die in ‚Aphorismen‘ wie JGB 246 häufig gebündelten Phänomene wie Ton,
Tempo und Gebärde nämlich nicht nur – wie dies Renzi nahezulegen scheint250 – auf
die zentralen pragmatischen Momente des Sprechstils, sondern etablieren eine zu-
sätzliche Bedeutungsdimension, die über ihrer Entstehung aus Nietzsches Verständ-
nis der antiken Metrik und Rhythmik bestimmt werden kann: Im Gegensatz zum
Altgriechischen, dessen ‚Metrik‘ noch einem quantitierenden Prinzip folgte, würden
in akzentuierenden Sprachen wie dem Deutschen

247 Renzi 1997, S. 339.


248 Zur Kunst des Erratens siehe neben Renzi 1997 auch Brotbeck 1990 sowie Stegmaier 2012, S. 12ff.
und S. 68.
Eine weitaus radikalere Konsequenz zieht Christian Schärf aus der bei Nietzsche vermeintlich
gegebenen ästhetisch vermittelten Performativität des Schreibens. In Anbetracht der „ästhetische[n]
Verfaßtheit seiner Texte“ sowie aufgrund der Tatsache, dass „[d]as Ästhetische als perspektivische
Präsentation […] vom Begriff her nicht zu erfassen“ (Schärf 1999, S. 174) sei, schließt Schärf: „Nietz-
sche hebt den Referenzbezug von Denken und Kunst wechselseitig auf. Genau genommen, ist sein
Denken nicht interpretierbar; es ist nur weiterzutreiben, und zwar in dem Medium, das es selbst
schafft“ (Schärf 1999, S. 175).
249 Benne geht in seiner Lektüre von JGB 246 gar soweit festzustellen, dass „die musikalische Begriff-
lichkeit, derer sich Nietzsche hier wie an vergleichbaren Stellen bedient, […] sich fast immer auf die
Tempi, die Zeitökonomie in der linearen Abfolge der Töne [bezieht]; andere musikalische Wirkungs-
mittel, die ebenfalls für die Prosodie relevant sind (Akzentuierungen, Tonhöhen) werden kaum
erwähnt“ (Benne 2012, S. 193).
250 Vgl. Renzi 1997, S. 334.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 99

die künstlerisch-integrative Bedeutung der Zeitorganisation aufgelöst, die ursprünglich nicht


darin liegt, rhythmische Phänomene mit semantischen zu verbinden, sondern überhaupt erst
eine in sich geschlossene und gegliederte Entität, eine wahrhafte Zeitökonomie, einen ‚Leib‘, zu
erzeugen, dem als Ganzem anschließend zwar Bedeutungen zugewiesen werden können, der
sich aber nicht auf diese Bedeutungen reduzieren lässt251.

In Anknüpfung an diese Interpretation Bennes kann man den sich im Ohr-Motiv


metaphorisch bündelnden Versuch Nietzsches erkennen, im Rahmen seines eigenen
Schreibens wieder an die antike Rhythmik anzuschließen, und so die durch die
‚Philosophie der Grammatik‘ stark eingeschränkte Möglichkeit eines Ausbruchs aus
den von ihr vorgegebenen Konventionen in Richtung eines anderen Sprechens und
Denkens tatsächlich umzusetzen.252
Im Gegensatz zu den soeben verhandelten Werksegmenten finden sich in der nach
der Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft erschienenen Zur Genealogie der Moral
keine nennenswerten poeseologischen Reflexionen. Die „Streitschrift“ ist jedoch der-
jenige Text im Spätwerk Nietzsches, der – genau in seiner Mitte, sprich: GM II 12 und
GM II 13 – jenseits der nachgelassenen Notate die umfangreichste Auseinandersetzung
mit dem im späten Sprachdenken Nietzsches so bedeutsamen Zeichenbegriff liefert.253

251 Benne 2012, S. 201. – Wie Benne ebenfalls zeigt, kommt es so zu einer direkten Verknüpfung
zwischen dem je individuellen ‚Leib‘ und dem „tempo des Stils“, der laut JGB 28 „im Charakter der
Rasse seinen Grund hat, physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres ‚Stoffwechsels‘“
(JGB 28, KSA 5, S. 46).
252 Auf diesen Sachverhalt geht Benne in seinem Aufsatz nur implizit ein, da er die in Nietzsches
späten Schriften omnipräsente sprachphilosophische Problematik nicht mit Nietzsches Reflexionen
zur antiken Metrik und Zeitökonomie zusammenführt. Abschließende Äußerungen weisen jedoch in
die hier angedeutete Richtung (siehe z.B. Benne 2012, S. 207)
Im späten Nachlass finden sich zahlreiche Aufzeichnungen und Notate, welche die von Benne in
Nietzsches Überlegungen zur antiken Metrik gebündelte Kommunikations-Problematik aus einer
sprachphilosophischen oder ästhetischen Perspektive verhandeln. Um hier nur ein Beispiel heraus-
zugreifen, auf dessen genauere Kontextualisierung in dem es enthaltenden Arbeitsheft hier aus Platz-
gründen verzichtet wird, sei auf die Seite 100 des von Nietzsche im Frühjahr 1888 verwendeten
Arbeitsheftes W II 5 verwiesen. Auf deren unterem Drittel findet sich ein kaum überarbeiteter Text, in
dessen Mitte folgende Sätze nachträglich eingefügt worden sind: „Jede reife Kunst hat eine Fülle
Convention zur Grundlage: insofern sie Sprache ist. Die Convention ist die Bedingung der großen
Kunst, nicht deren Verhinderung…“ (W II 5, S. 100, Z. 51)
Ein derartiger Satz mag in Anbetracht der im Lauftext schon verhandelten Problematik einer
‚Philosophie der Grammatik‘ irritieren. Diese Irritation löst sich jedoch auf, wenn man das Ende
desselben Notates eingedenk der Bedeutung von Metrik und Rhythmus für Nietzsches spätes ‚Kom-
munikationsmodell‘ liest: „Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit,
mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden…“ (W II 5, S. 100, Z.
60ff.) Hier wird Kommunikation primär zu einem mimetisch-physiologischen Akt.
253 Zu der dort ebenfalls gelieferten ‚Definition‘ von Nietzsches Begriff des ‚Begriffs‘ siehe Stegmaier
1994, S. 151ff. und NWB, S. 238–251 sowie das Kap. 2.2.2. der vorliegenden Studie.
100 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

c.) Von der Metareflexion zur intratextuellen Autoprofilierung: Auch die Götzen-
Dämmerung bietet auf den ersten Blick nur wenige beachtenswerte Passagen zum
Stil-Begriff Nietzsches. Mit einer umso gewichtigeren Ausnahme, die etwas einge-
hender betrachtet werden soll. Es handelt sich dabei um das erste Textsegment des
letzten, „Was ich den Alten verdanke“ betitelten Kapitels. Es ist aus dem „Ur-Ecce-
homo“ (vgl. W II 9, S. 130–103; NL 1888, KSA 13, 24[1], S. 615–632) im Laufe der von
Nietzsche im Oktober 1888 durchgeführten Korrekturen an der Götzen-Dämmerung
hervorgegangen (vgl. KSA 14, S. 464). Die frühere Fassung unterscheidet sich an
einigen zentralen Stellen von dem in der Götzen-Dämmerung letztendlich publizierten
Text. Der auffälligste Unterschied besteht darin, dass der ‚Entwurf‘ neben Sallust und
Horaz auch noch Petronius254, den Autor des Satyricon, als drittes zentrales literari-
sches Vorbild der römischen Antike für das die Perspektive des Notates bestimmende
intratextuelle Ich nennt. Die Streichung dieser Referenz im publizierten Text ver-
wundert, gilt und galt doch gerade das Satyricon als ein in Form und Inhalt einzig-
artiges Werk in der Antike: Der Text glänzt einerseits durch seine brillante Umsetzung
des aptum der antiken Rhetorik – sprich: die Stilhöhe der Protagonisten ist stets aufs
Genaueste der Sprechsituation angepasst –, andererseits charakterisiert sich das nur
unvollständig überlieferte Werk durch eine intertextuelle Dichte, die sich insbeson-
dere in zahlreichen Parodien des zeitgenössischen Epos sowie des griechischen
Liebesromans manifestiert. Gerade diese beiden Charakteristika spielen auch in
Nietzsches Schreibweise eine bedeutende Rolle. So betont er selbst in den bekannten
„Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé“ die Bedeutung des aptum, wenn
er dort unter der Überschrift „Zur Lehre vom Stil“ als Punkt zwei notiert:
„Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du

Aufgrund der aus der in GM III 13 erfolgenden ‚Definition‘ resultierenden Fragwürdigkeit jeglichen
‚festen Sinns‘ von Nietzsches Begriffen, werden diese sowie die Ausdrücke ‚Terminus‘ und ‚Begriff‘
selbst, wenn sie sich auf Nietzsches Sprachgebrauch beziehen, im Zuge dieser Studie in einfache
Anführungszeichen gesetzt.
254 Die bis dato noch nicht in der KGW IX transkribierte vollständige Stelle zu Petronius aus dem „Ur-
Ecce-homo“ lautet: „Der dritte unvergleich〈liche〉 Eindruck, den ich den Lateinern verdanke, ist
Petronius. Dies prestissimo des Übermuths in Wort, Satz und Sprung der Gedanken, dies Raffinement
in der Mischung von Vulgär- und ‚Bildungs‘-Latein, diese unbändige gute Laune, die sich vor nichts
fürchtet und über jede Art Animalität der antiken Welt mit Grazie hinwegspringt, diese souveräne
Freiheit vor der ‚Moral‘, vor den tugendhaften Armseligkeiten ‚schöner Seelen‘ – ich wüßte kein Buch
zu nennen, das am Entferntesten einen ähnlichen Eindruck auf mich gemacht hätte. Daß der Dichter
ein Provençale ist, sagt mir leise mein persönlichster Instinkt: man muß den Teufel im Leibe haben, um
solche Sprünge zu machen.“ (NL 1888, KSA 13, 24[1], S. 624)
Laut einer schriftlichen Auskunft von Beat Röllin weisen die erst in der KGW IX/10 erscheinenden
Aufzeichnungen, welche Nietzsche als Vorlage zu GD Alten dienten, nur geringfügige Arbeitsspuren
auf.
Zu Petronius siehe auch JGB 28 (KSA 5, S. 46f.), AC 46 (KSA 6, S. 224) sowie den Nachweis eines
potentiellen Intertextes für besagte Stelle von Charles Yriarte in Campioni 1999, S. 369.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 101

dich mittheilen willst. (Gesetz der doppelten Relation.)“ (NL 1882, 1[109], KSA 10,
S. 38)255.
Im Gegensatz zum aptum, das in Nietzsches Schriften und Aufzeichnungen selbst
regelmäßig thematisiert wird, wird der durch den Petronius-Bezug semantisch valent
gewordene Begriff der ‚Parodie‘ hingegen kaum in Nietzsches Texten selbst reflek-
tiert,256 sondern wurde erst von der Forschung auf diese appliziert. Insbesondere der
Zarathustra galt lange Zeit als eine Bibelparodie. Wie Claus Zittel in seiner richtungs-
weisenden Analyse besagten Textes gezeigt hat, liegt ein zentrales Problem dieser
Bestimmung – abgesehen davon, dass sie die hochkomplexen intertextuellen Relatio-
nen im Zarathustra stark vereinfachend reduziert – in der Tatsache, dass der Parodie-
Begriff selbst in der Literaturwissenschaft jeglicher Eindeutigkeit entbehrt.257 Zittel
selbst erweitert in seiner Zarathustra-Interpretation das in der Forschung zwar diffu-
se, sich jedoch zumindest in jener Auffassung deckende Verständnis, nach welcher es
sich bei der Parodie um eine stark von einem Prätext abhängige Schreibweise handelt,
in Anknüpfung an Wolfram Groddeck um eine für Nietzsches späte Schriften sympto-
matische Facette: die Parodie als Selbstverhältnis. Laut Zittel liegt ein solcher Fall vor,
wenn ein Text sich scheinbar positiv auf bereits diffamierte Vorbilder bezieht und
dabei zugleich die Lächerlichkeit derselben sowie seines eigenen Bezuges markiert:
„Das ästhetische Verfahren der Selbstparodie reflektiert die eigenen, anfänglich un-
expliziert vorhanden gewesenen Voraussetzungen der Kritik an den fremden Texten
und zieht diese konsequent mit in ihren Sog.“258
Aufgrund dieser von Zittel herausgearbeiteten Bedeutung der parodistischen
Schreibweise, welche bei einem Autor wie Nietzsche, dessen Darstellungsformen in

255 Zur „Lehre vom Stil“ in den „Tautenburger Aufzeichnungen“ siehe: Gauger 1984 und 1986 sowie
Simonis 2002.
256 So finden sich in der KSA nur 12 Textsegmente, die das Substantiv ‚Parodie‘ beinhalten. Diese
sind: NL 1869, 1[57], KSA 7, S. 28; BA V, KSA 1, S. 751; DS 7, KSA 1, S. 197; HL 9, KSA 1, S. 314; NL 1875, 3
[41], KSA 7, S. 26; WB 1, KSA 1, S. 433; VM 22, KSA 2, S. 388; FW 382, KSA 3, S. 637; GM II 3, KSA 5, S. 342;
EH ZA 2, KSA 6, S. 339; NW Keuschheit 3, KSA 6, S. 430.
257 Vgl. Zittel 2011 [2000], S. 124–128. – Zittel zeigt dort unter anderem, dass eine der umfangreichsten
und immer noch geläufigen Parodie-Definitionen auf niemand Geringeren als Gustav Gerber, und zwar
auf dessen für Nietzsches Rhetorikvorlesung so zentrales Buch Die Sprache als Kunst, zurückgeht.
258 Zittel 2011 [2000], S. 127. – Vor Zittel haben bereits Paul van Tongeren und Daniel Conway die
selbstreferentiellen Komponenten von Nietzsches parodistischer Schreibweise in den Blick genom-
men. Laut van Tongeren sei diese eine Folge von Nietzsches spätem Sprachdenken, dessen insgehei-
mer Determinismus nur mehr eine nachahmende Sprachverwendung gestatte, „die spottet, indem sie
nachahmt“ (van Tongeren 1989, S. 134).
Auch Conway hat im Zuge einer Offenlegung der selbstparodistischen Elemente im „Versuch
einer Selbstkritik“ der Geburt der Tragödie die Bedeutung der ‚Selbstbezüglichkeiten‘ für die sich dort
vermeintlich realisierende ‚self-parody‘ herausgearbeitet, dabei jedoch einerseits den Parodie-Begriff
nicht eingehender reflektiert und andererseits die parodistischen Elemente nicht, wie dies bei Zittel
geschieht, als Variationen der in Nietzsches späten Texten weit verbreiteten Selbstaufhebungsfiguren
gedeutet (vgl. Conway 1992 sowie das Kapitel 2.2.4. dieser Studie).
102 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

unmittelbarem Zusammenhang mit den im Text artikulierten philosophischen Posi-


tionen steht, höchstwahrscheinlich auch epistemologische Relevanz besitzt,259 ist in
Anbetracht ihrer nicht vorhandenen Markierung durch das Fehlen der Petronius-
Referenz in GD Alten 1 zu überprüfen, welche semantischen Differenzen sich dadurch
zwischen der ‚Vorstufe‘ und dem veröffentlichten Text ergeben.
GD Alten 1 eröffnet, darin noch seine Nähe zum ursprünglichen Entstehungskon-
text offenbarend, mit einer der autosymptomatologischen Gesamttendenz von Ecce
homo entsprechenden Selbstbeschreibung des intratextuellen Ichs:

Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen
neuen Zugang gefunden habe — die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duld-
samen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen Ja zu sagen: er sagt
überhaupt nicht gern Ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts… (GD Alten 1, EA, S. 130)

Die hier gegebene Autocharakterisierung des Sprecher-Ichs, deren werkumspannend-


allgemeingültiger Anspruch durch den daran anschließenden Satz noch einmal unter-
strichen wird,260 profiliert dessen individuellen Geschmack primär ex negativo, indem
es dem Sprecher jegliche Duldsamkeit abspricht. Zu dieser in der Textstelle direkt
ausgesprochenen Differenzierung treten implizit noch zwei weitere hinzu: Erstens
führt die Ablehnung der Duldsamkeit, wie Andreas Urs Sommer im Nietzsche-Kom-
mentar zeigt, zu einer eindeutigen Abgrenzung des noch in GD Steifzuge 50 zum
Idealtypus stilisierten Goethe und der diesem dort zugeschriebenen „Universalität im
Verstehen, im Gutheissen“ (GD Streifzüge 50, EA 6, S. 128).261 Zugleich und somit
zweitens schafft der Text noch eine weitere – in diesem Falle intertextuelle – Opposi-
tion, nämlich zu dem in EH Bücher 5 charakterisierten idealen Leser, von dem dort
verlangt wird, dass er auch Nietzsches Schriften lese, „wie gute alte Philologen ihren
Horaz lasen“, was nichts anderes heißt, als langsam, also ‚duldsam‘, zu lesen.
Die Texteröffnung von GD Alten 1 bewirkt so, insbesondere durch die dort am
Ende des Satzes gegebene positive Selbstbestimmung des intratextuellen Ichs, welche

Einen Überblick zum Stand der Parodie-Forschung bei Nietzsche bietet Stegmaier 2012, S. 621–629. Wie
schon vor ihm Zittel gelangt dabei auch Stegmaier zu einer Zusammenführung von ‚Tragödie‘ und
‚Parodie‘ (vgl. Stegmaier 2012, S. 625f.).
259 Davon ist Zittel zumindest im Falle des Zarathustras überzeugt. Für ihn besitzt die Selbstparodie
einen tragischen Kern, da sie auf Nietzsches nihilistischer Erkenntnistheorie fuße und diese zugleich
formal zum Ausdruck bringe. Vgl. Zittel 2011 [2000], S. 126f.
260 Dieser lautet: „Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, — es gilt auch von Orten und
Landschaften.“ (GD Alten 1, EA, S. 130)
261 Vgl. Sommer 2012, S. 560. – Sommer geht dort so weit festzustellen, dass durch die im Eingangs-
satz gegebene Autocharakterisierung „die exemplarische Figur des vorangegangen Kapitels […] bei-
nahe zum Antipoden des sprechenden Ichs“ (Sommer 2012, S. 560) wird.
Zu Nietzsches durchweg ambivalentem und sich je nach Werkkontext änderndem Goethe-Bild
siehe Politycki 1989, S. 295–382, Zittel 2000a, S. 385f., Seggern 2009 sowie das Kapitel 2.2.5. der
vorliegenden Studie.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 103

dieses durch seinen Hang zum Nein-Sagen bzw. zur epoché an die Tradition der
antiken Skepsis annähert,262 dass die darauffolgende Bestimmung der zentralen
literarischen Vorbilder der römischen Antike an zusätzlicher Exklusivität gewinnt.
Vor der eigentlichen Bestimmung der literarischen Leitbilder erfährt die in den ersten
beiden Sätzen bereits stark akzentuierte Individualität des sich selbstbestimmenden
Sprechers noch eine weitere Betonung, wenn er im dritten Satz des ‚Aphorismus‘
feststellt: „Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem
Leben mitzählen; die berühmtesten sind nicht darunter.“ (GD Alten 1, EA, S. 130) Erst
auf diese vorbereitende Zuspitzung folgt dann die Darstellung der beiden Vorbilder
aus der römischen Antike: Sallust und Horaz.
Die Namensnennung des zweiten dieser beiden Vorbilder zeigt, dass es sich bei
dem zuvor zitierten Satz um eine strategische Untertreibung handelt, deren Nähe zur
rhetorischen Trope der Litotes nicht zu übersehen ist, handelt es sich bei diesem
Vorbild doch um niemand Geringeren als Horaz.263 Anders verhält es sich bei der
erstgenannten antiken ‚Autorität‘, Sallust, dessen literaturhistorischer Status tatsäch-
lich um einiges umstrittener ist als der des Verfassers einer der wichtigsten Regelpoe-
tiken des Abendlandes.264 Der Text beginnt die Beschreibung der Bedeutung und
Vorbildhaftigkeit des Verfassers von De coniuratione Catillinae wie folgt: „Mein Sinn
für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit
Sallust.“ (GD Alten 1, EA, S. 130)
Mehr als ein Nietzsche-Leser ist von dieser Äußerung irritiert worden, zählt doch
das Epigramm, d.h. die „zugespitzte Einzelbemerkung in Versform“265, in Nietzsches
veröffentlichten Schriften zu einer der wenigen von ihm so gut wie nie verwendeten
literarischen Gattungen. Diese Verwunderung wird durch die auf einen vermeintlich
biographischen Einschub folgende, durchweg treffende Beschreibung von Sallusts
Stil noch gesteigert: „Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem
Grunde, eine kalte Bosheit gegen das ‚schöne Wort‘, auch das ‚schöne Gefühl‘ —
daran errieth ich mich.“ (GD Alten 1, KSA 6, S. 154)
Deutet man diesen Satz, wie es in der Forschung häufig geschieht, nicht nur als
einen in der Götzen-Dämmerung von dem den Text dominierenden Sprecher-Ich ge-
äußerten Kommentar, sondern als eine Nietzsches Gesamtwerk beschreibende Metare-
ferenz, kann man tatsächlich nur verwundert sein. Abgesehen von der Tatsache, dass

262 Zu Nietzsches Verhältnis zur antiken Skepsis siehe Neymeyr 2008.


263 Zur Bedeutung von Horaz in Nietzsches eigenen Lektüreanweisungen für seine Werke siehe auch
Benne 2012 und dort insbesondere S. 191, wo Benne Horazens herausragende Bedeutung für die
Geschichte der abendländischen Dichtung und Poetik in die Formel des „Klassikers der Klassiker“
bannt.
264 Laut Sommer spiegelt das in GD Alten 1 gegebene Urteil über Sallust jedoch eine zu Nietzsches
Lebzeiten im Bildungsbürgertum weit verbreitete Auffassung über den römischen Historiker wieder.
Vgl. Sommer 2012, S. 560.
265 Verweyen/Witting 2007, S. 459.
104 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Sallust im Spätwerk nur ein weiteres Mal eine derartige Vorbildrolle übernimmt – die
Rede ist hier von EH klug 1 (vgl. KSA 6, S. 280)266 –, scheint vor allem die „kalte Bosheit
gegen das ‚schöne Wort‘“ dem tatsächlichen Stil Nietzsches, insbesondere im Zarathus-
tra, zu widersprechen. Gerade dieses Werk Nietzsches wird dann im nächsten Satz als
Ausdruck der „sehr ernsthafte[n] Ambition nach r ö m i s c h e m Stil, nach dem ‚aere
perennius‘ im Stil“ (GD Alten 1, EA, S. 131) herbeizitiert. Zwar sind Nietzsches Ambitio-
nen, mit dem Zarathustra eine Dichtung zu schaffen, die alles bisher Dagewesene
übertreffe und somit ‚beständiger als Erz‘ sei, mehrfach in seinen Werken und Briefen
dokumentiert.267 Dass dafür allerdings ein römischer Stil mit den von GD Alten 1
gelieferten Charakteristika verantwortlich ist, kann durchweg bezweifelt werden.
Repräsentativ für die Irritation, welche diese Passagen in der Forschungsgemein-
schaft ausgelöst hat, sei hier ein Kommentar von Hans-Martin Gauger wiedergegeben.
Dieser schreibt, nachdem er ausführlich aus GD Alten 1 zitiert hat: „Hier, glaube ich,
schätzt sich Nietzsche – denn es handelt sich um ein Stück Selbsteinschätzung –
unzutreffend ein: vielleicht steht sein Stil – ich kann dies hier nur behaupten –
insgesamt den Griechen doch näher als den Römern.“268
Problematisch an dieser ‚Behauptung‘ ist, dass Gauger die hier untersuchte Stelle
als eine Nietzsches Gesamtwerk betreffende Metareferenz liest. Gegen eine derartige
Lektüre spricht die Tatsache, dass GD Alten 1 eben nicht in dem mit der Gattung der
Autobiographie spielenden und diese an zahlreichen Punkten ironisch unterlaufen-
den Ecce homo, sondern am Ende der Götzen-Dämmerung steht.269 Bevor man die dort
von einem intratextuellen Ich getätigten Äußerungen unreflektiert dem Verfasser
besagten Textes als seine eigentliche Meinung zuschreibt, wäre es, der literaturwis-
senschaftlichen anerkannten Prämisse folgend, dass ein als einzelnes Buch veröffent-
lichtes Werk sein Sinnpotential primär in jenem gedruckten Text entfaltet, der zwi-
schen seinen beiden Buchdeckeln zu finden ist, angebracht, primär die Bedeutung
und Funktion des vornehmlich sprechenden Ichs innerhalb dieses Werkes selbst zu
analysieren. In Anbetracht der in Nietzsches Texten omnipräsenten literarischen
Inszenierungen, die sich nicht zuletzt in der jeweiligen Werkkomposition manifestie-
ren, kann man derartig einen Weg finden, die von Forschern wie Gauger primär
erlebte Irritation zu umgehen.270 Ohne auf die eigentliche Analyse der Götzen-Däm-

266 Siehe dazu abermals Sommer 2012, S. 560.


267 Am bekanntesten ist diesbezüglich wohl eine Stelle aus Ecce homo, in der davon ausgegangen
wird, „dass man […] auch eigene Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichte[n]“ (EH Bücher
1, KSA 6, S. 298) werde.
Zum aere perennius siehe auch Sommer 2012, S. 561.
268 Gauger 1984, S. 336f.
269 Zu Nietzsches Transformation der Gattung der Autobiographie in Ecce homo siehe die hervor-
ragende Studie von Langer 2005.
270 Zur Bedeutung und Funktion des Begriffs der Inszenierung in den Literaturwissenschaften im
Allgemeinen und in der Nietzscheforschung im Besonderen siehe Born/Pichler 2013a/b.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 105

merung vorauszugreifen, ist eine vollständige Verifizierung der soeben getätigten


Vermutung nicht möglich. Eine genaue Lektüre der Darstellung des zweiten literari-
schen Vorbildes steigert allerdings die Plausibilität der soeben vorgebrachten Hypo-
these.
In GD Alten 1 schließt an die soeben referierte und kommentierte Nennung des
Sallust folgende Präsentation des Horaz an:

Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem
Dichter dasselbe artistische Entzücken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab.
In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu w o l l e n . Dies Mosaik von
Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze
hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte
maximum in der Energie der Zeichen — das Alles ist römisch und, wenn man mir glauben
will, v o r n e h m par excellence. (GD Alten 1, EA, S. 131)

Liest man diese Charakterisierungen auf dem Hintergrund der zuvor beschriebenen
späten Sprachauffassung Nietzsches und verzichtet man dabei auf die in die For-
schung weitverbreitete und paradigmatisch in der Deutung Hans-Martin Gaugers
realisierte Verallgemeinerungstendenz, rücken die in GD Alten 1 zu findenden poe-
seologischen Reflexionen in ein anderes Licht. Auf dieser Folie wird die Darstellungs-
praxis/der Stil in Nietzsches späten Schriften deutbar als der Versuch, die im ‚Begriff‘
der ‚Philosophie der Grammatik‘ zusammengefasste Praxis des über Konventionen
geregelten Zeichengebrauchs und den in diesem Konventionalismus angelegten
Schematismus nicht nur durch ein performatives Schreiben zur Darstellung zu brin-
gen, sondern in diesem Schreiben qua poetische Innovationen gar zu durchbrechen.
Im Kontext einer solchen Deutung ist dann das vermeintlich auch bei Horaz zu
findende „minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in
der Energie der Zeichen“ (GD Alten 1, KSA 6, S. 155) nicht mehr als faktisch quantita-
tive Beschreibung der Werke des römischen Dichters, sondern als Deskription einer
philosophisch motivierten Schreibpraxis zu lesen, die aus der vorgegebenen Menge
sprachlicher Zeichen ein Maximum an semantischen Effekten herausholt und auf
diesem Wege potentiell die konventionelle Grenze des mit diesen Zeichen Sagbaren
zu überschreiten trachtet.
In diese Richtung weist auch eine bekannte Parallelstelle aus dem beinahe syn-
chron mit der Götzen-Dämmerung entstandenen Ecce homo:

Ich sage zugleich noch ein allgemeines Wort über meine K u n s t d e s S t i l s . Einen Zustand, eine
innere Spannung von Pathos durch Zeichen, eingerechnet das tempo dieser Zeichen,
m i t z u t h e i l e n — das ist der Sinn jedes Stils; und in Anbetracht, dass die Vielheit innerer
Zustände bei mir ausserordentlich ist, giebt es bei mir viele Möglichkeiten des Stils — die
vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat. G u t ist jeder Stil, der
einen inneren Zustand wirklich mittheilt, der sich über die Zeichen, über das tempo der Zeichen,
über die G e b ä r d e n — alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde — nicht vergreift. Mein
Instinkt ist hier unfehlbar. (EH Bücher 4, KSA 6, S. 305)
106 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

In diesem Abschnitt wird nicht nur die auch in GD Alten 1 zentrale Thematik durch die
Verwendung einer beschränkten Anzahl an konventionell überbestimmten Zeichen,
ein maximales semantisches Potential freizusetzen, wieder aufgegriffen, sondern
diese Thematik auch an die aus JGB 246 und FW 381 bekannten Modi dieser potentiel-
len Freisetzung – das Tempo dieser Zeichen – angebunden.
Dass die in GD Alten 1 auffindbaren Stil-Beschreibungen trotz all dieser Parallelen
zu ähnlichen Reflexionen in Jenseits von Gut und Böse, Die fröhliche Wissenschaft V
und Ecce homo keine das Gesamtwerk betreffende Meta-, sondern Selbstreflexionen
sind, d.h. also, dass sie sich primär auf die Götzen-Dämmerung beschränken und nicht
zur Stilbeschreibung von Nietzsches Gesamtwerk hinreichen, zeigt der weitere Verlauf
des Kapitels. Insbesondere in GD Alten 2 kommt es zu einer eindeutigen Zusammen-
führung des Stilbegriffs mit dem in der gesamten Götzen-Dämmerung vorherrschen-
den Problem der décadence, wenn man dort über Platon liest: „Plato wirft, wie mir
scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein e r s t e r décadent des
Stils“ (GD Alten 2, KSA 6, S. 155).271 Sätze wie diese binden das ganze Kapitel zurück
an den Anfang des Buches, genauer an GD Sokrates, wo gerade die durch Sokrates
repräsentierte und von Platon literarisch überlieferte Form der antiken Dekadenz
einer harschen Kritik unterzogen wird, durch welche sich die Position und Eigenheit
des diese Kritik vollziehenden intratextuellen Ichs Schritt für Schritt herauskristalli-
siert. Dies könnte bedeuten, dass das in GD Alten 1 dargelegte Stilideal neben der
Anknüpfung und reflexiven Aufnahme der in GD Vernunft wie überhaupt in Nietz-
sches späten Schriften reflektierten Sprachauffassungen nicht vorrangig der Auto-
deskription seines Schreibstils im Ganzen, sondern durch die Identifikation des intra-
textuellen Ichs mit einer vornehmen Schreibpraxis dieses von dem in GD Sokrates
dargestellten ‚Typus‘ abgrenzt und so weiter zu seiner Profilierung beiträgt. Diese
starke intratextuelle Anbindung von GD Alten an den restlichen Textverlauf der
Götzen-Dämmerung führt letztendlich dazu, dass die in diesem Abschnitt zu finden-
den, in ihrer Variation der in Nietzsches Spätwerk omnipräsenten Sprachproblematik
durchweg für dieses Spätwerk als Metareferenz deutbaren Stilbeschreibungen von
Sallust und Horaz durch ihre Konstellation innerhalb des Gesamttextes der Götzen-
Dämmerung eine semantische Färbung bekommen, deren sie durch eine Entnahme
aus dem sie solcherart bestimmenden Kontext verlustig gingen, was besagte Passagen
letztendlich für eine auf Nietzsches Gesamtwerk abzielende metareferentielle Lektüre
disqualifiziert.

271 Zahlreiche Interpreten lesen die im Lauftext zitierte Horaz-Beschreibung aus GD Alten 1 als eine
Beschreibung des von Nietzsche in Der Fall Wagner dargelegten décadence-Stils (vgl. WA 7, KSA 6,
S. 27). So behauptet Rüdiger Görner, dabei in Betreff der Universalisierung von vermeintlich metarefe-
rentiellen Abschnitten in Nietzsches Schriften den selben Fehler begehend wie Hans-Martin Gauger,
dass Nietzsches Charakterisierung von Horazens Stil in GD Alten 1 „eigentlich stilistische Wesens-
merkmale der (Wagnerschen) décadence“ (Görner 2008, S. 40) beinhalte.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 107

Dafür sprechen auch die Unterschiede zwischen dem veröffentlichten Text und
der ‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 9. Letztere besitzt nämlich nicht nur durch die
Nennung des Petronius eine semantische Dimension mehr als der veröffentlichte
‚Aphorismus‘, sondern überschreitet auch in der Horaz-Beschreibung das in GD Alten
1 Artikulierte. An die bereits zitierte Horaz-Passage aus GD Alten 1 schließt im „Ur-
Ecce-homo“ folgender Satz an: „Ich möchte am wenigsten den Reiz vergessen, der im
Contrast dieser granitnen Form und der anmuthigsten Libertinage liegt: – mein Ohr
ist entzückt über diesen Widerspruch von Form und Sinn.“ (NL 1888, 24[1], KSA 13,
S. 624) Bei der hier Horaz zugeschriebenen literarischen Praxis, die Inhalte – also
auch vermeintlichen Thesen – eines Textes durch den Einsatz bestimmter Stilmittel
sowie eines diese tragenden oder kontrastierenden Sprachrhythmus literarisch zu
unterlaufen, handelt es sich um eine höchst gelungene Beschreibung jener Praktiken
der Subversion, die auch in Nietzsches veröffentlichten Schriften regelmäßig an-
zutreffen sind und zuvor unter dem Begriff der ‚Parodie‘ verhandelt wurden.
Die Streichung dieser sowie der ihr inhaltlich nahestehenden Petronius-Passage im
in der Götzen-Dämmerung veröffentlichten Textsegment deutet insofern darauf hin,
dass die in ihnen artikulierten Schreibpraktiken für das in GD Alten über seinen Um-
gang mit antiken Vorbildern charakterisierte intratextuelle Ich nicht relevant sind. Dies
macht durchweg Sinn, wenn man besagtes Ich, wie hier zuvor bereits geschehen, nicht
als kongruent mit seinem Verfasser, sondern als einen bestimmten im Text im Kontrast
zum Dekadenz-Typus des Sokrates entwickelten Typus des ‚Philosophen‘ deutet.
Gerade in Anbetracht des stehenden Topos von Sokrates als einem großen Ironi-
ker scheint es nur konsequent, dass das diesem in der Götzen-Dämmerung gegen-
übergestellte Sprecher-Ich, der sonst in Nietzsches späten Schriften nicht zu verleug-
nenden parodistischen Praxis zumindest in seiner Autocharakterisierung entbehrt,
bedient sich doch gerade die Parodie häufig Mitteln der Ironie. Durch das Fehlen der
in der ‚Vorstufe‘ vorhandenen Selbstcharakterisierung als Ironiker qua Petronius-
Referenz in der letztendlich publizierten Fassung von GD Alten 1 profiliert die sich
dort selbstbeschreibende Sprecherinstanz somit noch stärker gegenüber ihrem Anti-
poden. Ob das dann auch bedeutet, dass der Text selbst auf jegliche parodistischen
Elemente verzichtet, wird zu überprüfen sein.
Es ist hier noch nicht der Ort die soeben kurz angedeutete, komplexe Verwebung
formaler und inhaltlicher Motive in der Götzen-Dämmerung weiter zu verfolgen.
Dennoch liefert der soeben erbrachte Nachweis, dass sich die Götzen-Dämmerung mit
Hilfe variabler literarisch-ästhetischer und textkompositorischer Mittel qua immer
stärkerer Rückbindung an das die Perspektive des Textes dominierende intratextuelle
Ich tendenziell in sich selbst verschließt, einen wichtigen Hinweis in Betreff des
Umgangs mit der noch zu liefernden Synopse der Resultate der bisherigen For-
schungspraxis zu den dominierenden ästhetischen Stil- und Präsentationsmitteln in
den veröffentlichten Schriften Nietzsches: Diese sind insbesondere in Hinblick auf die
Reichweite ihrer Gültigkeit mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln und müssen
stets von neuem am jeweiligen Text überprüft werden.
108 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

2.1.2.3. Charakteristika von Nietzsches philosophischen Schreibweisen

In Anknüpfung an den gegenwärtigen Stand der internationalen Nietzscheforschung


sowie zurückgreifend auf die bisherigen Resultate dieser Studie können folgende
Charakteristika von Nietzsches philosophischen Schreibweisen festgehalten werden:
a.) Form als sedimentierter Inhalt: Nietzsches Darstellungspraxis steht in einem
direkten und nur heuristisch trennbaren Zusammenhang mit seinen zentralen phi-
losophischen Fragestellungen. Wie insbesondere die Auseinandersetzung mit seinem
späten Sprachdenken gezeigt hat, handelt es sich bei seinem Schreiben unter ande-
rem um den Versuch, die sprachphilosophische Einsicht in die Sprachbedingtheit
alles Denkens und die daraus folgende Einschränkung eines den gängigen Konventio-
nen folgenden Philosophierens nicht nur sprachlich zu markieren, sondern durch die
Musikalisierung bzw. Rhythmisierung des eigenen Schreibens zu überwinden.272
Insofern ist an diejenigen Nietzscheinterpretationen anzuknüpfen, welche der von
Nietzsche selbst in einem Brief an Josef Viktor Widmann in Form einer rhetorischen
Frage geäußerten Ansicht folgen, dass „die Absicht einer Schrift […] immer erst das
Gesetz ihres Stils zu schaffen“ (KGB III/5, Bf. 985) hat. Im Zentrum derartiger Deu-
tungsansätze steht die spätestens seit Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahr-
hunderts auch in der internationalen Nietzscheforschung weit verbreitete Auffassung,
dass in Nietzsches Denken Form und Inhalt sich gegenseitig durchdringende und
ergänzende Elemente sind, das heißt, dass Gattung und Stil seiner Schriften seinem
Denken nicht äußerlich sind.273

272 Auf diesen Zusammenhang ist neben den hier schon ausführlich behandelten Arbeiten von
Rudolf Fietz, Luca Renzi und Christian Benne auch Daniela Langer in ihrer Studie zu Ecce homo
eingegangen. Vgl. Langer 2005, S. 65, S. 76f. und insbesondere S. 174.
Langer entwickelt dort ihre Auffassung von Nietzsches Stilbegriff sowie von dessen Funktion
innerhalb von Nietzsches philosophischem Gesamtprojekt aus Nietzsches früher Sprachkritik, miss-
achtet dabei jedoch die Tatsache, dass Stil bei Nietzsche trotz des latenten Phonzentrismus eine Frage
der schriftlichen Kommunikation ist.
In eine ähnliche Richtung hat jüngst auch Rüdiger Görner in seinem Buch Wenn Götzen dämmern.
Formen ästhetischen Denkens bei Nietzsche gewiesen, das sich selbst durch einen sehr Wortspiel-
freudigen Stil kennzeichnet. Im Falle von Görners ‚Beschreibung‘ von Nietzsches Stil und dem mit
diesem einhergehenden ‚musikalischen Philosophieren‘ führt diese Schreibweise zu Deutungen wie
der folgenden: „Mit dem Gehör träumen können, die tiefste Einsamkeit ‚von selber‘ ertönen lassen
(KSA 3, 208), als Philosoph den Klang denken und als Musiker das Denken zum Erklingen bringen,
damit sind einige der Sinnkoordinaten von Nietzsches musikalischem Philosophieren benannt.“
(Görner 2008, S. 48)
273 In der gegenwärtigen Forschung ist dieser Zugang zu einem locus classicus geworden, was jedoch
nicht bedeutet, dass man ihm auch konsequent in seinen eigenen Lektüren folgt. Daher verwundert es
nicht, dass in den letzten fünfzehn Jahren unter anderem in den folgenden Studien auf die Bedeutung
besagter Verwindung noch einmal mit Nachdruck verwiesen wurde: Oger 1994, Renzi 1997, van
Tongeren 2000, insbesondere S. 71–73, Zittel 2011 [2000], Simonis 2002, Benne 2005, Langer 2005,
Görner 2008, Pichler 2010, Stegmaier 2011, Stegmaier 2012 sowie Born/Pichler 2013a/b.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 109

Eine erste direkte Konsequenz der Tatsache, dass in Nietzsches Schreiben der Stil
in direktem Zusammenhang mit dem von den Texten verhandelten philosophischen
Problemata steht, ist b.) die sich in der Ohr-Metapher bündelnde Orientierung an der
gesprochenen Sprache. Diese Orientierung beschränkt sich nicht nur auf eine Trans-
position kommunikativer Gesprächspraktiken in Nietzsches Schrift, sondern geht
einher mit einer medienphilosophischen Reflexion der Differenzen zwischen gespro-
chener und geschriebener Sprache.
(c.) Als Konsequenz derselben realisieren Nietzsches Schriften eine in der deut-
schen Philosophie einzigartige graphematische Irritationspraxis, deren Ziel in einer
Aufmerksamkeitssteigerung des Lesers besteht: Mit Hilfe einer ästhetischen Graphie,
Fietz’ Performationszeichen, sowie weiteren „druckgraphischen Inszenierungsprakti-
ken“274 wie der Verwendung der im 19. Jahrhundert im Buchdruck noch höchst
ungewohnten Antiqua subvertierten Nietzsches veröffentlichte Werke das gängige
Leseverhalten seiner Zeitgenossen. Eine direkte Folge dieses Procederes, die in un-
mittelbarem Zusammenhang mit der bereits angesprochenen Aufmerksamkeitssteige-
rung steht, hat Christof Windgätter in Anknüpfung an Rudolf Fietz lakonisch auf den
Punkt gebracht: „Worauf es Nietzsche […] ankommt, ist, durch visuelle Komplexitäts-
steigerung seiner Texte deren Konsumtion zu verhindern und damit den Lesern eine
veränderte Einstellung zur Schrift abzunötigen.“275
Während in Betreff der Leseraktivierung und -lenkung von Nietzsches ästheti-
scher Graphie in der Forschung Einigkeit herrscht, lässt sich prinzipiell festhalten,
dass diese in der konkreten Interpretation der von Nietzsche verwendeten typographi-
schen (nichtalphabetischen) Zeichen zwischen beinahe a-semantischen Auslegun-
gen, welche das bereits angesprochene Irritationsmoment betonen, und traditionell
funktional-semantischen Deutungen, welche besagtem Zeichengebrauch eine oder
mehrere konkrete Bedeutungen zuordnen, changieren. Die den tatsächlichen Tat-
bestand wohl am besten treffende Zusammenführung dieser beiden Lesarten stammt
von Wojciech Simson. Dieser stellt bereits am Anfang eines „Beobachtungen zur
Typographie in Nietzsches Vorreden von 86/87“ betitelten Aufsatzes fest: „Sie [= die
nichtalphabetischen Zeichen; A.P.] sind – vergleichbar den Konjunktionen – gewiß
keine sinntragenden Elemente, das heißt, sie vermögen auf nichts außerhalb des
Textes zu verweisen, greifen aber in ihn modulierend und strukturierend ein, wirken
daher sinnbildend.“276

274 Windgätter 2005, S. 63.


275 Windgätter 2005, S. 65. – Windgätter verwendet hier ein in der deutschen Schreibprozessfor-
schung hin und wieder anzutreffendes, stark intentionales Vokabular, wodurch es zu einer irritieren-
den Spannung zu dem in dieser Forschungsrichtung ansonsten dominierenden, stark deskriptiven und
primär an der Materialität der Medien ausgerichteten Lektüreansatz und traditionellen Versuchen der
Freilegung der Autorintention kommt.
276 Simson 1995. S. 204.
110 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Prinzipiell kann man vier Formen derartiger Zeichen(kombinationen) bei Nietz-


sche unterscheiden: 1.) Gedankenstriche: Gleich an dieser ersten in Nietzsches Texten
sehr häufig anzutreffenden Form eines Performationszeichens spalten sich die Deu-
tungen. Während Interpreten wie Christof Windgätter ihnen jegliche denotative Funk-
tion absprechen, hat ihnen jüngst Werner Stegmaier gerade drei solcher Bedeutungen
zugewiesen.277 Ob hier ausschließlich einer der beiden Deutungsrichtungen zu folgen
ist, oder ob man sich nicht doch besser Simsons Verständnis der Gedankenstriche
anschließt, nach welchem diese primär einen ‚Sprechmoduswechsel‘ graphisch mar-
kieren und solcherart bestimmte semantische Nuancierungen des auf sie Folgenden
vorbereiten, wird am konkreten Text zu überprüfen sein.
Größere Einigkeit besteht bei der Interpretation der 2.) Gänsefüßchen: Diese
besitzen nach Windgätter zwei, nach Stegmaier fünf linguistisch-semantische Funk-
tionen, und zwar:

(a) dass es an dieser Stelle um die Ausdrücke als solche geht – dazu können Titel, Namen,
spezielle Bezeichnungen, aber auch die bloße Wortgestalt gehören –, (b) dass Ausdrücke aus
anderen Kontexten übernommen werden – Begriffe, aber auch wörtlich angeführte ‚direkte‘
Reden –, (c) dass gewöhnliche Ausdrücke ungewöhnlich, z.B. vieldeutig, ironisch, metaphorisch,
euphemistisch oder paradox verwendet werden – zur Sinnerweiterung oder Sinnverschiebung –,
(d) dass Ausdrücke als solche ungewöhnlich, idiomatisch oder neu erfunden sind – so wie wenn
man in der Druckersprache zu Anführungszeichen ‚Gänsefüßchen‘ sagt, und Nietzsche benutzte
nur dieses Wort –, und schließlich (e), dass es sich bei einem Ausdruck um ‚bloßes Gerede‘
handelt.278

Stärker divergieren die Deutungen erneut im Falle der 3.) Unterstreichungen bzw.
Sperrungen: Hier stehen sich abermals Lesarten, die deren autoreferentielle graphe-
matische Funktion als Intonationsmarkierungen (Simson) betonen – sie also auf der
Folie von Nietzsches Rhythmusverständnis (van Tongeren, Benne) lesen –, stärker
inhaltlich angelegten Interpretationen gegenüber (Stegmaier).279

277 So schreibt Windgätter: „[B]ei Nietzsche einfach, manchmal auch doppelt hintereinander gesetzt;
nicht selten von ungewöhnlicher Länge. So reißen sie Lücken in Texte, unterbrechen den Lesefluss
(verlangsamen ihn zumindest), bilden Widerstände oder lassen Sätze ins Leere laufen – sie sind
Zeichen nicht der, sondern als Differenz: drücken nichts aus, zeigen jedoch an, wie Typoskripte über-
haupt funktionieren.“ (Windgätter 2004, S. 19)
Ganz anders Stegmaier. Nach dessen Lesart kündigen Gedankenstriche „(a) Unerwartetes, Über-
raschendes, plötzlich Einfallendes an“ (Stegmaier 2012, S. 175), werden „(b) nach einem Punkt gesetzt
[…] zum Trennungsstrich, der den Aphorismus logisch gliedert“ (Stegmaier 2012, 176), und halten „(c)
ohne vorausgehenden Punkt als Abschluss von Sätzen […] den Schluss zugleich offen“ (Stegmaier
2012, S. 176).
278 Stegmaier 2012, S. 291. – Windgätter listet nur die von Stegmaier unter a.) und c.) angeführten
Funktionen, stellt diesen aber – widersprüchlicherweise voraus –, dass auch die Gänsefüßchen nichts
ausdrücken, sondern „Geschriebenes als solches“ (Windgätter 2004, S. 20) vorstellen.
279 So betont Simson, dass insbesondere in diesem Falle Nietzsches Orientierung an der gesproche-
nen Sprache offensichtlich werde. Daneben betont er allerdings auch die Ironisierungs-Funktion der
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 111

Ähnlich verhält es sich bei den 4.) Auslassungspunkten, bei denen allerdings
zumindest in Betreff einer ihrer Funktionen – nämlich derjenigen, als Intonations-
pause bei rhetorischen Fragen zu fungieren – Einigkeit herrscht.280
Ohne sich uneingeschränkt an eine der soeben vorgestellten Deutungen der
Performationszeichen anzuschließen, ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass
diese Studie deren Bedeutung stets von Neuem am jeweils konkreten Text überprüfen
wird, jedoch primär in Richtung der Lesart von Interpreten wie Windgätter tendiert,
welche das Irritationsmoment und die mit dieser einhergehende Aufmerksamkeits-
steigerung des Lesers gegenüber konkret festgeschriebenen, inhaltlichen Auslegun-
gen der ästhetischen Graphie Nietzsches in den Vordergrund stellen. Nur ein ihnen
tatsächlich Aufmerksamkeit schenkender Leser wird letztendlich in der Lage sein,
neben dem hohen performativen Grad von Nietzsches Schriften auch d.) die ebenso
häufig strategisch gesetzten performativen Brüche in denselben wahrzunehmen. Wie
ich an einer anderen Stelle anhand der späten Vorrede zu Menschliches, Allzumensch-
liches I zu zeigen versucht habe,281 lassen insbesondere diese performativen Brüche
ein permanentes „wortwörtlich nehmen“282 von Nietzsches vermeintlichen Autokom-
mentaren, wie es von der gegenwärtigen Forschung vor allem im Umgang mit Nietz-
sches potentiellen Lektüreanweisungen bevorzugt geschieht, als problematisch er-
scheinen. Es ist nicht zu leugnen, dass die Applikation dieser Aussagen auf
Nietzsches Texte selbst häufig gewinnbringende Resultate zeitigt. Dies erlaubt es

Unterstreichungen bzw. Sperrungen (vgl. Simson 1995, S. 210). Ähnlich verhält es sich bei van Tonge-
ren, der über die Unterstreichungen bei Nietzsche schreibt: „[I]n Nietzsche’s texts, underlinings are
usually indications as to the tempo and rhythm of the sentence. An underlined word usually has to be
read with emphasis“ (van Tongeren 2000, S. 93).
Im Gegensatz dazu nimmt Stegmaier die graphische Autodeixis sowie die Funktion der Intonati-
onsmarkierung in seine Deutung der Unterstreichungen nicht auf, sondern listet fünf rein auf die
Bedeutungsauslegung ausgerichtete Funktionen, wodurch es zu einer starken Vernachlässigung der
bei Nietzsche offensichtlichen Irritationsmomente kommt. Die fünf Funktionen sind die folgenden:
Nietzsche verwende Sperrungen „(a), um Übersicht über den Gedankengang zu schaffen, indem er
leitende Begriffe, Unterscheidungen und Thesen heraushebt […]. Durch Sperrungen macht er aber
auch (b) Oppositionen kenntlich […]; dabei kann es sich erübrigen, den Gegensatz eigens zu nennen
[…]. Nietzsche kann daneben aber auch (c) Ausdrücken einfach Nachdruck verleihen […]. Hervorheben
kann Nietzsche (d) aber auch im jeweiligen Kontext befremdliche Ausdrücke […, um so – A.P.] (e),
einen Kontext zu einem anderen Aphorismus herzustellen“ (Stegmaier 2012, S. 264f.).
280 Simson 1995, S. 213 – Auch in diesem Falle fokussiert Stegmaier das semantische Potential der
Auslassungspunkte und listet dementsprechend drei Funktionen derselben, nämlich erstens die Kenn-
zeichnung der Überflüssigkeit einer weiteren Ausführung des bereits Gesagten, zweitens die Markie-
rung einer Denkpause und drittens die Vorbereitung auf philosophische Überraschungen (vgl. Steg-
maier 2012, S. 177).
281 In besagtem Paratext kommt es durch ein subtiles Spiel komplexer sich bis zur Paradoxie
steigernder Selbstreferenzen zu einer derartig starken Irritation des Lesers, dass dieser schließlich
jeglichen Glauben in das Geäußerte von dem diesen Paratext insgeheim leitenden Sprecher-Ich verliert
(vgl. Pichler 2012b).
282 Roos 1987 [1972], S. 14.
112 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

allerdings nicht, sie sofort zu verallgemeinern. In Anbetracht der bei Nietzsche ebenso
weit verbreiteten subversiven Praktiken erscheint es adäquater, den vermeintlichen
Vollzug einer nietzscheschen (Hypo-)‚These‘ primär stets im unmittelbaren textuellen
Kontext zu überprüfen und deren Gültigkeitsbereich ausgehend von diesem allmäh-
lich qua Überprüfung der Reichweite ihrer Umsetzung auszuweiten.
Ebenfalls noch im Bannkreis der Sprachproblematik steht ein weiteres bereits
mehrfach angesprochenes Moment von Nietzsches Schreibweise, bei dem es sich
zugleich um die direkte Umsetzung – sprich: den performativen Vollzug – einer seit
Nietzsches frühesten Schriften theoretisch verhandelten Problematik handelt: e.) die
Musikalisierung bzw. Rhythmisierung seiner Schriften. Je nachdem, ob man in deren
Deutung Rudolf Fietz oder Christian Bennes folgt, wird man in dieser den Versuch der
Angleichung der Schriftsprache an die Musik oder die Anstrengung der Wiedergewin-
nung einer in der Antike noch gängigen Zeitökonomie sehen. In beiden Lesarten –
mehr jedoch in der rhythmischen – geht dieses Unternehmen mit dem Bestreben
einher, durch die musikalisch-rhythmisch Individualisierung eine Kommunikations-
form zu etablieren, die durch den Einbezug des Leibes die Grenzen des konventionel-
len Sprechens durchbricht und so auch sprachlich den Rahmen für eine Umwertung
der Werte schafft.283
In direktem Zusammenhang mit dieser Individualisierungstendenz steht ein an-
deres häufig anzutreffendes Gestaltungsmittel von Nietzsches Schriften: f.) die Per-
sonalisierung der darin ausgedrückten Ansichten. Auch diese kann als performative
Umsetzung einer vermeintlich zentralen (Hypo-)‚These‘ in Nietzsches späten Texten
erachtet werden und wurde dies auch. Es bietet sich nämlich an, die bei Nietzsche
regelmäßig anzutreffende Überzeichnung der Sprecherposition der jeweils ein ‚Text-
segment‘ beherrschenden intratextuellen Stimme, als Folge bzw. Demonstration von
seinem ‚Perspektivismus‘ zu lesen.284

283 Nietzsches Versuche durch die Musikalisierung bzw. Rhythmisierung der Sprache auch in der
Schrift ein individuelles Kommunizieren zu ermöglichen und so traditionelle philosophische ‚Ismen‘
hinter sich zu lassen, hat insbesondere Werner Stegmaier in seinen jüngsten Arbeiten in Fokus
gerückt und dabei zugleich stets betont, dass es sich bei dieser Dimension von Nietzsches schriftstel-
lerischen Verfahrungsweisen um ein in seiner Komplexität von der Forschung noch weitgehend
unerschlossenes Land handelt. Vgl. Stegmaier 2004, Stegmaier 2011, insbesondere S. 110 sowie
Stegmaier 2012, S. 498–539, wo er den besagten Themenkomplex unter dem Topos des „Hörens einer
Musik des Lebens“ anhand der kontextuellen Interpretation von FW 368 und FW 372 verhandelt.
284 Eine derartige Deutung wurde bereits 1977 von Bernd Bräutigam vorgelegt, der in diesem Kontext
von Nietzsches ‚ironischem Perspektivismus‘ schreibt, dessen performativer Vollzug in direktem Zu-
sammenhang mit der literarischen Strategie der Personalisierung stehe: „Nietzsches ironisches Ver-
fahren besteht in der Konstellation von sich ausschließenden perspektivischen Betrachtungsweisen,
die verhindern soll, daß die Einzelaussagen, selbst bei ihrer dogmatischen Artikulation, als fixe Wahr-
heiten rezipiert werden können. […] Diese verweisen auf die Varianz der Gesichtspunkte, die in
fortlaufender Realisierung, die sich über den Text hinaus im Leser fortsetzt, durchgespielt werden
müssen, um der Wahrheit den traditionellen objektivistischen Schein zu nehmen und sie damit als
einen offenen Prozeß fassen zu können. Ironischer Perspektivismus, das meint: die Konstellation von
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 113

So einleuchtend eine derartige Auslegung und theoretische Rückbindung der


Personalisierungstendenzen auf den ersten Blick auch sein mag, so problematisch
erweist sie sich bei einer eingehenden Analyse. Insbesondere Nietzsches Perspektivis-
mus selbst wird in der einschlägigen Forschung höchst kontrovers diskutiert.285 Dabei
werden in jüngster Zeit immer wieder Stimmen laut, die sowohl aus einer philologi-
schen als auch aus einer stärker systematisch-philosophischen Perspektive den Status
von Nietzsches Perspektivismus als Nietzsches propositional ausformulierbare, posi-
tive Erkenntnistheorie stark anzweifeln.286
Dementsprechend hat sich in der Forschung mittlerweile ein weitaus komplexerer
Umgang mit den Personalisierungen in Nietzsches Schriften durchgesetzt. So unter-
scheidet Paul van Tongeren, dabei fünf Formen der ‚Personifizierungen‘ – oder ‚per-
sonifications‘, wie er sie im englischen Original nennt –, die er als Metaphern versteht.
Dazu zählt die Personifizierung von Gedanken, die Typisierung, die eingeschränkte
Personifizierung zur Hervorhebung einer Eigenschaft eines untersuchten Gegenstan-

Perspektiven innerhalb eines Textes verhindert, daß ein aus einer Blickrichtung erfaßter Sachverhalt
für das Ganze genommen werden kann, selbst wenn das Ganze in dogmatischer Einzelaussage fingiert
wird.“ (Bräutigam 1977, S. 59f.) – Zur Kritik an Bräutigam siehe unter anderem Zittel 2011 [2000], S. 98f.
Zu einer Zuspitzung der Lesart von Bräutigam kam es 1985 in Alexander Nehamas einflussreicher
Studie Nietzsche: Leben als Literatur. Nehamas steigerte noch einmal den Kontrast zwischen Nietz-
sches Schriften und der traditionellen Philosophie, indem er behauptete, dass deren eigentliches Ziel
nicht in der argumentativen Entwicklung bestimmter Ideen bestehe, sondern darin, „einen besonde-
ren erkennbaren literarischen Charakter vorzuführen, der aus den philosophischen Ideen eine Lebens-
art macht, die ganz und gar seine eigene ist“ (Nehamas 2012 [1985], S. 18). Der Clou an Nehamas Lesart
besteht darin, dass er unter diesem „Charakter“ niemand geringeren versteht als den historisch-
empirischen Autor Friedrich Nietzsche selbst, der sich und sein Leben durch das Schreiben und somit
in seinen Schriften erst eigentlich konstituiert. Nehamas behauptet letztendlich, dass Nietzsche „mit
seinen eigenen Schriften einen Weg [weise; A.P.], auf dem es einem Individuum vielleicht gelungen
ist, sich selbst zu gestalten, noch dazu einem Individuum, das, obwohl jenseits von Moral, moralisch
nicht fragwürdig ist. Dieses Individuum ist niemand anderes als Nietzsche selbst; er ist ein Geschöpf
seiner eigenen Texte.“ (Nehamas 2012 [1985], S. 25)
285 Zum gegenwärtigen Stand der Forschung siehe Zittel 2000c, Dellinger 2009, S. 266f. und 2012d
sowie Stegmaier 2012, S. 410–418 und dort insbesondere die Fußnote 617.
286 Zur Kritik an derartig epistemologischen Lektüren von Nietzsches Perspektivismus siehe Pichler
2010, insbesondere S. 87–107 und Dellinger 2012d sowie das Fazit in Stegmaier 2012, wo es heißt:
„Nietzsche hat mit seinem Perspektivismus jede Ontologie, einschließlich die Ontologisierung des
Perspektivismus selbst, in die Paradoxie (auch der Perspektivismus ist nur eine Perspektive) und die
Aporie (der Perspektivismus kann als Perspektivismus über sich selbst nichts wissen) getrieben.“
(Stegmaier 2012, S. 414)
Daraus folgt, dass, wenn man in irgendeiner sinnvollen Weise von Nietzsches Perspektivismus
sprechen möchte, man bloß ‚sagen‘ kann, dass dieser sich im Sinne des frühen Wittgenstein ‚zeigt‘.
Jenseits dieses Vollzugs – bei dem es sich dann allerdings nicht mehr um einen Akt literarischer
Performanz handelt, ist doch das Vollzogene nur in seinem Vollzug, nicht jedoch in einer These
realisierbar – scheint eine positive Ausformulierung desselben unmöglich. Zu den Funktionen des
‚Zeigens‘ in Nietzsches Texten in ihrem Verhältnis zu demjenigen Wittgensteins siehe das Kapitel 3.2.
114 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

des (z.B. die Wahrheit als Frau in der Vorrede von JGB) sowie der Rückgriff auf
Gestalten der Mythologie wie Dionysos und Ariadne.287
Nahe an den zuvor erwähnten Auslegungen der Personalisierungen aus dem
Kontext von Nietzsches Perspektivismus und doch zugleich dessen thetische Lektüre
vermeidend, bewegt sich die fünfte von van Tongeren herausgearbeitete Form, die
direkte Adressierung des Lesers durch den Autor: „In this sense the whole of Nietz-
sche’s writings is one big personification of philosophy. Much of his mastery of
language is put in the service of this: the transformation of the philosophical treatise
into the self-communication of one person, Nietzsche, to another person, his rea-
der“288.
Van Tongeren scheint hier genau jene zuvor bereits problematisierte Gleichset-
zung von textinterner Stimme und historisch-empirischem Autor Vorschub zu leisten,
die er selbst – zumindest in Hinblick auf die Erfassung einer vermeintlichen
Autorintention – an einer anderen Stelle seiner, insbesondere was ihre Methodenre-
flexion betrifft, aus der gegenwärtigen Nietzscheforschung herausragenden Studie in
Frage gestellt hat.289 Abgesehen von dieser Problemkonstellation zeigt sich jedoch in
Betreff des Verständnisses der Bedeutung und Funktion der Personalisierung von und
in Nietzsches Texten ein minimaler Konsens der Forschung, der in der Ansicht zu
finden ist, dass diese mit der in der Philosophie ansonsten üblichen Verallgemeine-
rungstendenz durch die eindeutige Markierung einzelner Positionen brechen.290

287 Van Tongeren 2000, S. 82f.


288 Van Tongeren 2000, S. 83. – Werner Stegmaier folgt in seiner Erörterung der Personalisierungen
van Tongeren, wenn er über diese in seiner Einführung zu Nietzsche schreibt: Nietzsche „inszeniert
persönliche Entscheidungsprozesse im Philosophieren […], indem er sich selbst ins Spiel bringt, sich
‚kompromittiert‘, damit seine Leser sich an ihm kompromittieren, mit ihrem Verständnis seiner Texte,
das unvermeidlich unzureichend bleibt“ (Stegmaier 2011, S.108).
In eine etwas andere Richtung – nämlich auf die ebenfalls von van Tongeren gelistete Ver-
schränkung von Personifizierung und Typisierung – weist Martin Saar, der im Rahmen einer primär
der Methode der Genealogie gewidmeten Studie, welche sich dementsprechend auch auf Zur Genea-
logie der Moral konzentriert, sich den ‚genealogischen Darstellungsformen‘ widmet und dabei in
Anknüpfung an Derrida in Hinblick auf die Personalisierungen festhält: „Nietzsches Text durchzieht
in der Tat eine ‚Politik der Eigennamen‘ und damit der Versuch, Werten (und Unwerten) Gesichter zu
geben, und vor allem: Gegner ausmachen zu können.“ (Saar 2007, S. 136)
289 Van Tongeren behauptet dies in Hinblick auf Nietzsches Verwendung des Dialogs: „Often Nietz-
sche uses dialogue in such a way that any attempt by the reader to determine the intention of the
author will be in vain. He hides behind either or both of the persons who are presented as speaking
with each other.“ (van Tongeren 2000, S. 75)
290 Heinrich Detering schlägt in seiner Studie zu Nietzsches letzten Texten aufgrund der in diesen
feststellbaren Bedeutung des Erzählens für dieselben vor, die Figurengestaltung in besagten Texten
aus einer narratologischen Perspektive in den Blick zu nehmen. Im Hintergrund dieses in seiner
methodologischen Relevanz im Kapitel 2.1.3. noch ausführlicher erörterten Vorschlages steht die Fest-
stellung: „Wovon dieser Philosoph erzählt (und worüber er erzählend philosophiert), das sind in
auffallendem Umfang Figuren – Figuren, die historische oder mythologische Namen tragen, und
solche, die eigentümlich zwischen Historie und Mythologie changieren. Sie heißen ‚Wagner‘ und
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 115

Eng verwoben mit der Personalisierungstendenz – ja in van Tongerens Einteilung


sogar eine Sonderform derselben – ist ein weiteres zentrales stilistisches Charakteris-
tikum von Nietzsches Schriften, das auf den ersten Blick gar als gegenläufiges Stil-
mittel zur Personalisierung erscheinen mag: g.) Die Typisierung, welche dem Leser
dieser Studie bereits im Zuge der partiellen Lektüre von GD Alten in der Abgrenzung
des intratextuellen Ichs zur Darstellungsweise des Sokrates begegnet ist. Laut Martin
Saar gerinnt zum ‚Typus‘ „ein Set von Verhaltensweisen, wenn ihm in der genealogi-
schen Ausmalung hinreichend viele charakteristische Züge zugesprochen werden
können und diese Einheit als Figur darstellbar wird“291. Während sich in Saars
Beschreibung des Typus, welche sich primär auf die Figurengestaltung in Zur Genea-
logie der Moral bezieht, die Typisierung in unmittelbarer Nähe der Personalisierung
bewegt, mit der sie nach Saar auch Synergien eingeht,292 existiert noch eine weitere
Lesart der Typisierung, die diese unmittelbarer an Nietzsches erkenntnistheoretische
Fragestellungen anbindet. Wie Andreas Bertino und Werner Stegmaier herausgear-
beitet haben, schafft Nietzsche seit seinen frühesten Schriften derartige Typen und
benennt sie auch so (vgl. insbesondere PHG, KSA 1, S. 799–872).293 Dabei bestehe das
Ziel dieser Gestaltungspraxis nicht nur in der ebenfalls von Saar betonten sinnlichen
Veranschaulichung abstrakter Ideen, welche ja auch schon im Drama des 18. Jahr-
hunderts zum intensiven Einsatz von Typen führte,294 sondern stelle zugleich eine
direkte Reaktion auf Nietzsches Kritik an den Verallgemeinerungstendenzen der
Philosophie dar:

Ein Typus ist im Wortsinn eine ‚Prägung‘, eine umrisshafte Kennzeichnung, ein vielfältig ausfüll-
bares Schema, vorläufig und veränderlich. Er lässt der Orientierung Spielräume zur Bewegung.
Er wird an Einzelnen oder Einzelnem festgemacht und nur hypothetisch als Allgemeines genom-
men, so lange, wie weitere Anhaltspunkte zu seiner Verschiebung nötigen. Er ist ein Begriff auf
Zeit, erlaubt Verallgemeinerungen auch dort, wo sie auf Dauer nicht haltbar sind, also bei allem
Lebendigen in Natur und Geschichte.295

Wichtig ist nun, wie Bertino, der in seiner Behandlung von Nietzsches Typologisierun-
gen deren Ursprung in dessen Sprachkritik unterstreicht, in Anknüpfung an PHG 1
(vgl. KSA 1, S. 809) zeigt, dass die Typisierungen auch ihre eigene problematische
Verallgemeinerungstendenz in sich aufnehmen können, indem sie sich durch Über-

‚Parsifal‘, ‚Jesus‘ und ‚Paulus‘ und ‚Dionysos‘, ‚Zarathustra‘, ‚Der Antichrist‘ und der ‚Gekreuzigte‘ und
zuweilen auch ‚Nietzsche‘.“ (Detering 2010, S. 19f.)
291 Saar 2007, S. 134.
292 Vgl. Saar 2007, S. 136.
293 Vgl. Bertino 2011, S. 207–210 und Stegmaier 2012, S. 222–223.
294 Zum Verhältnis von Typus und Charakter in der Dramatik insbesondere vom 16. bis zum 18. Jahr-
hundert siehe einführend Asmuth 2007.
295 Stegmaier 2012, S. 223.
116 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

zeichnung und Verschärfung eines Zuges der dargestellten ‚Person‘ zur Karikatur
wandeln.296
Bei den Personalisierungen und Typisierungen handelt es sich um Charakteristi-
ka von Nietzsches Schreibweise, die in unmittelbarer Nähe zu jenen Stilmitteln zu
verorten sind, die bereits sehr früh die Aufmerksamkeit der Nietzscheforschung auf
sich gezogen haben. Die Rede ist hier von der Vielzahl an h.) rhetorischen Figuren und
Tropen, die sich in Nietzsches Texten finden. Je nachdem welches Verständnis der
Leser diesen spätestens seit dem sogenannten rhetoric turn wieder stark beforschten
Mitteln sprachlicher Ausdrucksweise und Gestaltung zugrunde legt, wird sich auch
sein Gesamtverständnis des dieselben verwendenden Textes verändern. Insofern wird
im Folgenden auch nur eine Liste derjenigen Figuren und Tropen geliefert, welche die
Forschung bis dato als bedeutsam für Nietzsches Stil herausgearbeitet hat, auf die
eindeutige Bestimmung von deren Bedeutung und Funktion durch den Rückgriff auf
einschlägige rhetorische Theorien und Lehrbücher jedoch verzichtet. So wird auch in
diesem Falle verhindert, bereits vor der eigentlichen Lektüre deren Deutungsspielräu-
me einzuschränken.
Neben der (1.) Metapher, die in Nietzsches späten Schriften zwar nicht mehr jenen
theoretischen Status innehat, der ihr noch in seinem Frühwerk zukommt, und dem-
entsprechend in den Post-Zarathustra-Schriften nur mehr einmal namentlich erwähnt
wird (vgl. JGB 22, KSA 5, S. 37), was jedoch nicht bedeutet, dass besagte Texte auf den
eigentlichen Einsatz derselben verzichten, hat die Nietzscheforschung die Verwendung
zahlreicher weiterer rhetorischer Figuren und Tropen in seinen Schriften nachgewie-
sen. Zu diesen zählt 2.) die Antithese: Bereits 1973 hat Stefan Sonderegger gezeigt, dass
die Antithese eine von Nietzsche bevorzugt und höchst strategisch verwendete rhetori-
sche Figur ist und bei ihm häufig nicht nur zur Markierung eines Gegensatzes, sondern
auch eine „Ergänzung, ein Sowohl-als-Auch“297 zum Ausdruck bringt.298

296 Vgl. Bertino 2011, S. 209 sowie den an ihn darin anknüpfenden Stegmaier 2012, S. 223.
297 Sonderegger 1973, S. 17. – Neben Sonderegger, dessen Verständnis des Gebrauchs und der Funk-
tion der Antithese bei Nietzsche sich auch in van Tongeren 2000, S. 85 wiederfindet, hat auch Wolfram
Groddeck in seinem Rhetorik-Buch die Bedeutung und Funktion der Antithese im Werk Nietzsches zum
Ausgangspunkt seiner allgemeinen Überlegungen zu dieser rhetorischen Figur gemacht (vgl. Groddeck
2008 [1995], S. 194f.). Dabei zeigt er, dass Nietzsche bereits in einem Notat aus dem Sommer 1873 die
Antithese vermittelt durch die Lektüre von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik zum Ausgangspunkt einer
Bestimmung und Ausdifferenzierung der Künste machte, indem er sich notierte: „‚Zu den redenden
Künsten gehört die schweigende.‘ Jean Paul“ (NL 1873, 29[142], KSA 7, S. 693). Der darin ausgedrückte
Gedanke führt über Umwege zu jener sprachphilosophisch angereicherten Spannung zwischen kon-
ventionellem Sprechen als potentielle Verunmöglichung von jeglichem unmittelbaren individuellen
Sprechen, das sich solcherart nur mehr schweigend oder durch konventionsbrechende Rhythmisie-
rung ‚zum Ausdruck bringen‘ kann, und der Bedeutung der individuellen Persönlichkeit in Nietzsches
späten Schriften, auf welche in dieser Studie schon regelmäßig verwiesen worden ist.
298 Zur Bedeutung des Gegensatzes bei Nietzsche siehe neben dem Standardwerk von Müller-Lauter
1971 auch die äußerst subtile Lektüre von JGB 24 in Endres 2013.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 117

Ein weiteres, in der Philosophie eigentlich verpöntes, bei Nietzsche jedoch sehr
häufig zum Einsatz kommendes Stilmittel ist die Trope der 3.) Hyperbel. Alexander
Nehamas hat diese Form einer synekdocheischen Trope ins Zentrum seiner Unter-
suchung von Nietzsches Stil gerückt und konstatiert: „Nietzsches Schreiben ist irredu-
zibel hyperbolisch.“299
Der Hyperbel regelrecht entgegengesetzt scheint die für Nietzsches Schreibweisen
ebenso charakteristische 4.) Ironie zu sein. Während in der Forschung die Ironie für
lange Zeit im Kontext von Nietzsches Frühromantik-Rezeption untersucht worden ist,
hat sie Paul van Tongeren in unmittelbarer Verbindung mit der bei Nietzsche vor
allem im Spätwerk eine leitmotivische Funktion innehabende Masken- und Maskie-
rungsthematik gedeutet: „The Greek word (and concept) eiróneia was introduced into
the Roman rhetorical tradition (in which Nietzsche was very much at home) by Cicero,
who translated the word as dissimulatio. This very same word is often used by Nietz-
sche in his translation of irony into ‚Verstellung,‘ which is dissimulation or dis-
guise.“300
Als letztes bereits eingehender analysiertes rhetorisches Stilmittel ist noch auf
den strategischen Gebrauch gleich oder ähnlich lautender Wörter, sprich: 5.) das
Wortspiel, hinzuweisen. Wie Martin Stingelin unter anderem anhand einer rhetori-
schen Analyse eines Kapitels aus Also sprach Zarathustra gezeigt hat, machen sich
manche von Nietzsches Texten die Selbstimplikation von Wortspielen auf höchst
produktive Art und Weise zu Nutze: „Nietzsches Wortspiel ist die poetische Formulie-
rung poetologischer Information. Darin reflektiert es mit den Bedingungen seiner
Möglichkeit auf die Bedingungen der Möglichkeit von Sprache“301.
Selbstverständlich verwenden Nietzsches Texte auch noch andere von der For-
schung bis dato noch nicht im Einzelnen untersuchte Figuren und Tropen. Welche
das sind und worin deren Funktion im jeweiligen Werksegment besteht, wird in der
im Zuge dieser Studie noch erfolgenden Lektüren zu überprüfen sein.
Abschließend ist noch ein weiteres ‚Kennzeichen‘ von Nietzsches Schreibweise zu
behandeln, das normalerweise in Ausführungen zu Nietzsches Formen der philoso-
phischen Schriftstellerei gerne an den Anfang gestellt wird. Es handelt sich dabei j.)
um die komplexe Frage nach der bzw. den literarisch-philosophischen Gattung(en) von
Nietzsches veröffentlichten Schriften. Diese wurde hier bewusst an das Ende der
zusammenfassenden Darstellung von Nietzsches schriftstellerischen Methoden ge-
setzt, da man mit ihr bei weitem nicht so schnell und einfach fertig wird, wie man
durch einen Blick in den habituellen Umgang der Nietzscheforschung mit ihr glauben
möchte. Aufgrund der regelmäßig unterschätzten Komplexität dieser Frage wird
daher im Folgenden auch keine Antwort auf sie gegeben, sondern der Versuch

299 Nehamas 2012 [1985], S. 43.


300 Van Tongeren 2000, S. 77f.
301 Stingelin 1988, S. 342.
118 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

unternommen, entgegen dem forschungsinternen Usus hier zumindest ein Problem


zu sehen und dieses zu markieren.
Es ist zu einem stehenden Topos der Forschung geworden, dass Nietzsche Apho-
rismen geschrieben hat. Dafür spricht auf den ersten Blick nicht nur die Länge der in
Nietzsches veröffentlichten Werken meist durchnummerierten oder mit einem Titel
versehenen ‚Werksegmente‘, sondern vor allem die Tatsache, dass in diesen selbst
häufig in einer durchweg metareflexiv erscheinenden Art und Weise die Bedeutung
und Funktion des Aphorismus – bzw. der Sentenz – verhandelt wird (vgl. WS 109, GM
Vorrede 2, GM Vorrede 8, GD Streifzüge 51).302 In besagten Texten – zu denen auch
das im Kapitel 2.1.1. in seinem textgenetischen Kontext gelesene Notat W I 6, S. 35
zählt – wird der Aphorismus bzw. die Sentenz vorwiegend in Hinblick auf ihren
potentiellen Leser charakterisiert als eine einsiedlerische Schreibweise, die trotz ihrer
Kürze weitaus höhere Anforderungen an diesen stellt, als er aufgrund ihrer Form
erwarten würde:

In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, dass man diese
Form heute n i c h t s c h w e r g e n u g nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und aus-
gegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“; vielmehr hat nun erst dessen
A u s l e g u n g zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. […] Freilich thut, um
dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten
verlernt worden ist — und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften —, zu dem
man beinahe Kuh und jedenfalls n i c h t „moderner Mensch“ sein muss: d a s W i e d e r k ä u e n …
(GM Vorrede 8, KSA 5, S. 255f.)

Konfrontiert man diese potentielle Autocharakterisierung mit jüngeren literaturwis-


senschaftlichen Definitionsversuchen des Aphorismus, gelangt man schnell an die
Grenzen der vermeintlich so eindeutigen Übereinstimmung. So bestimmt Harald
Fricke im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft den Aphorismus wie folgt:

(1) Nichtfiktionaler Text in (2) Prosa in einer Serie gleichartiger Texte, innerhalb dieser Serie aber
jeweils (3) vom den Nachbartexten isoliert, also in der Reihenfolge ohne Sinnveränderung ver-
tauschbar; zusätzlich (4a) in einem einzelnen Satz oder auch (4b) anderwertig in konziser Weise
formuliert oder auch (4c) sprachlich pointiert oder auch (4d) sachlich pointiert.303

Abgesehen von der Tatsache, dass die von Fricke unter (4) genannten Charakteristika
sehr stark an jene Beschreibung erinnern, die GD Alten von Horazens Epigramm-Stil
liefert, sucht man in seiner Bestimmung insbesondere die in GM Vorrede 8 so zentrale
Konsequenz der beschriebenen Gattung – die Notwendigkeit des „Wiederkäuen[s]“ –
vergebens. Auch ein weiteres in der Forschung ansonsten immer wieder betontes und
im Rahmen dieser Studie durch den Nachvollzug der Entstehung von JGB 289 ein-

302 Siehe dazu den Artikel „Aphorismus“ im NWB, S. 76–81.


303 Fricke 2007a, S. 104.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 119

deutig belegtes Phänomen von Nietzsches Werken, nämlich deren Durchkomponiert-


heit bzw. das sich in ihnen offenbarende „ästhetische Kalkül“304, steht quer zur
Definition von Fricke. Betont diese gerade die Möglichkeit, einen einzelnen Aphoris-
mus innerhalb eines Werkes zu vertauschen, ohne dadurch dessen Sinn zu verändern,
kennzeichnen sich aus der soeben angesprochenen Perspektive die einzelnen graphe-
matisch isolierten Segmente von Nietzsches veröffentlichten Schriften vor allem
durch ihre Standortgebundenheit sowie durch die über diese erfolgende intratextuelle
Interaktion des jeweiligen Textsegments mit den es unmittelbar umgebenden. Zwar
sind Nietzsche Werke segmentiert und die einzelnen Segmente dadurch bei der
Lektüre für eine nicht textchronologische, spontan-assoziative Verknüpfung offen.
Liest man aber genauer, zeigt sich schnell, dass aufeinanderfolgende Aphorismen
regelmäßig sehr intensiv miteinander semantisch interagieren und so aufeinander
abfärben.305
Aufgrund derartiger nicht irrelevanter Abweichungen von Nietzsches Autorefle-
xionen und Schreibpraxis zu geläufigen literaturwissenschaftlichen Bestimmungen
des Aphorismus tendiert die Nietzscheforschung dazu, Nietzsche schlichtweg zum
Archegeten einer Ausweitung bzw. Verschiebung der charakteristischen Merkmale
des aphoristischen Schreibens zu deklarieren:306 So habe Nietzsche in den Aphoris-

304 Als solches bezeichnet Claus Zittel das Kompositionsprinzip von Also sprach Zarathustra (vgl.
Zittel 2011 [2000], S. 10f.). Zu Zittels Zarathustra-Lektüre siehe unter anderem: Pichler 2011.
305 Zwar lässt sich diese Kompositionspraxis auch in der Textgenese eindeutig belegen, wie im
Rahmen der Auseinandersetzung mit der Aphorismus-Problematik zuletzt Marcus Andreas Born
wieder betont hat (vgl. Born 2012c). Daraus jedoch zu schließen, dass im Werk Nietzsches jedes
Textsegment genau an dem vom Autor als adäquat erachteten Platz steht, geht dann wohl doch ein
wenig zu weit. Vor einer derartigen Monumentalisierung der schriftstellerischen Kompetenzen Nietz-
sches hat schon Jacques Derrida im Zuge seines Nachweises der Tendenz zur semantischen Heteroge-
nität in Nietzsches Texten gewarnt: „Nicht daß man daraus, daß der beherrschende Sinn, der einzige
und nicht aufgepfropfte Sinn unauffindbar ist, auf die unbegrenzte Meisterschaft Nietzsches schließen
müßte, auf seine unbezwingbare Macht, auf seine fehlerlose Handhabung der Falle, auf eine Art von
unendlicher Berechnung, […], die diesmal jedoch eine unendliche Berechnung des Unentscheidbaren
ist, um den Zugriff der Hermeneutik zu vereiteln.“ (Derrida 2007 [1973], S. 204f.)
In Anknüpfung an Derrida kann man also festhalten, dass die Beantwortung der Frage, ob und
inwieweit tatsächlich die Komposition von Nietzsches veröffentlichten Werken der Autorintention
entspricht, nichts wesentlich Neues zu einer philologisch adäquaten Lektüre beiträgt als die zuvor
angesprochene semantische Interaktion einzelner aufeinanderfolgender Werksegmente, welche je-
doch eindeutig am jeweiligen Text überprüft werden kann, während die Rekonstruktion von Nietz-
sches Werk-Willen stets das Resultat divinatorischer Willkür bleiben wird.
306 Am offensichtlichsten geschieht dies in Stegmaier 2012, wo es heißt: „Der Aphorismus war vor
ihm [= Nietzsche; A.P.] eine noch nicht festgestellte Gattung; was Aphorismen waren, wurde oft nicht
so genannt, und was so genannt wurde, waren oft keine Aphorismen; die Spanne reichte von der
Sentenz bis zum Essay und zur Abhandlung“ (Stegmaier 2012, S. 10). Die eigentliche Quintessenz des
nietzscheschen ‚Aphorismus‘ bestimmt Stegmaier wie folgt: „Kurz: der Aphorismus macht auf präg-
nante Weise fragwürdig, worüber er spricht, und ist so die Form der prägnanten Fragwürdigkeit.“
(Stegmaier 2012, S. 10)
120 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

mus die „Selbstreflexion seines experimentellen Charakters, seiner Verdichtungsleis-


tung und seiner Rezeptionsverwiesenheit“307 eingeführt.
Die solcherart schon höchst fragwürdige Gattungszuschreibungspraxis wird al-
lerdings noch problematischer, da auch auf andere, eben nicht eindeutig aphoristi-
sche Textstücke Nietzsches jene Eigenschaften zutreffen, die Martin Stingelin in
seinem Artikel zum Aphorismus im Nietzsche-Handbuch aufgelistet hat. Zu diesen
zählen (1) der antisystematische Charakter von Nietzsches Denken und die damit
einhergehende Notwendigkeit einer offenen, d.h. formal beweglichen Gattung, (2) die
formale Umsetzung der konsequenten Selbst-In-Frage-Stellung des nietzscheschen
Denkens und (3) die daraus folgende Kommentierungsbedürftigkeit von Nietzsches
Schriften.308
Genau diese Charakteristika treffen auch auf ein andere in den letzten Jahren
wieder vermehrt von der Literaturwissenschaft zu definieren versuchte Gattung zu,
den Essay:309 „In der literaturwissenschaftlichen Diskussion wird der Essay als ‚kriti-
sche Form par excellence‘ aufgrund seines ,Unbestimmtheitscharakters‘ bzw. seiner
‚Inkommensurabilität‘ zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft, Literatur als
Dichtung und politischer bzw. kultur- und gesellschaftlicher Publizistik, Ästhetik und
Ethik gehandelt.“310 Gerade diese Balance zwischen wissenschaftlichem und ästheti-
schem Schreiben fehlt in den oben angeführten Aphorismusdefinitionen, trifft aber
auf eine Vielzahl von Nietzsches Texten eindeutig zu, wie nicht zuletzt der hier durch-
geführte Nachzeichnung des Forschungsstandes zu Nietzsches philosophischen
Schreibweisen belegt. Insofern verwundert es nicht, dass in einer jüngeren Unter-
suchung zur Geschichte des Essays Nietzsche eine zentrale Rolle zukommt. Die Rede

Prinzipiell ist Stegmaier in dieser Bestimmung des aphoristischen Schreibens zuzustimmen. Die damit
einhergehende Aufrechterhaltung der Gattungsbezeichnung läuft jedoch Gefahr im Falle einer Ver-
wendung, der nicht – wie dies bei Stegmaier eben der Fall ist – eine Reflexion der für Nietzsche
charakteristischen Spezifika der ‚aphoristischen Schreibweise‘ vorangestellt ist, die Rezeption in eine
Richtung zu lenken, die Stegmaier mit seiner Bestimmung des Aphorismus als „Form der prägnanten
Fragwürdigkeit“ gerade unterbinden möchte: Liest man Nietzsches ‚Werksegmente‘ als Aphorismen
im herkömmlichen Sinne, könnte das dazu (ver)führen, dass man sie als isolierte Thesen mit Anspruch
auf Allgemeingültigkeit missversteht und so das ihnen häufig erst aus der intratextuellen Interaktion
mit benachbarten Aphorismen zukommende Moment der Selbstinfragestellung übersieht. Paradigma-
tisch für einen derartigen Umgang mit Nietzsches ‚Aphoristik‘ steht Danto 1998.
307 NWB, S. 78, das hier explizit auf Spicker 1997 verweist.
308 Stingelin 2000a, S. 186. – Abgesehen von der fragwürdigen Bezeichnung ‚Aphorismus‘ trifft
Stingelins Charakterisierung in hervorragender Weise zentrale Momente der vorherrschenden forma-
len Gestaltung und ihrer Effekte in Nietzsches späten Schriften.
309 Joel Westerdale hat jüngst besagter Beschreibung von Nietzsches später ‚Aphoristik‘ eine weitere
Nuance hinzugefügt, indem er feststellte, dass diese zwar einerseits einem antisystematischen Impetus
folge, die aus diesem resultierende Dissipationsbewegung jedoch andererseits im Konzept des Willens
zur Macht wieder auffange. Siehe zu dieser These sowie der von Westerdale ebenfalls versuchten
Abgrenzung von Nietzsches später ‚Aphoristik‘ zu seinem mittleren Werk Westerdale 2013.
310 Nüberl 2007, S. 15.
2.1.2. Nietzsches schriftstellerische Methoden im Kontext seines (Sprach-)Denkens 121

ist hier von Christian Schärfs Geschichte des Essays, welche sich zwar primär der
These anzuschließen scheint, dass insbesondere Nietzsches mittleres Werk aphoris-
tisch sei,311 letztendlich jedoch Nietzsche zum Vollender des Essayismus erklärt und
dabei vom „Essay im Horizont ästhetischer Performanz – also als weitgehend selbst-
referentielle Ausdrucksform“ spricht.312
Bietet es sich unter diesen Voraussetzungen nicht an, auf eine konkrete Gattungs-
zuordnung zu verzichten und an deren Stelle im Falle von Nietzsches kurzen Texten
von einer essayistischen Schreibweise zu sprechen? So verlockend diese Versuchung
sein mag, so wenig gewinnbringend erscheint sie auf dem Hintergrund der gegen-
wärtigen germanistischen Forschung zum Essay bzw. dem Essayismus. Die diesbe-
zügliche Debatte ist noch im vollen Gange, wie ein höchst repräsentativer Satz in
Birgit Nüberls Habilitationsschrift Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der
Moderne belegt: „Der Essay wird zum Exemplum der Paradoxie literaturwissenschaft-
licher Ordnungsbegriffe, die allenfalls heuristisch-pragmatischen Wert haben.“313
Ohne direkte Bezugnahme auf diese literaturwissenschaftliche Problematik wer-
den mittlerweile in der Nietzscheforschung selbst nicht (mehr) sämtliche veröffent-
lichten Werke Nietzsches als Aphorismenbücher bezeichnet, ja es hat sich sogar
einigermaßen die Auffassung durchgesetzt, tatsächlich nur mehr die Werke aus der
mittleren Schaffensperiode – also: Menschliches, Allzumenschliches; Morgenröthe und
Die Fröhliche Wissenschaft – als solche zu bezeichnen.314 An der hier nur kurz
skizzierten Problematik der Gattungsbezeichnung selbst ändert allerdings auch diese
Beschränkung nichts. Dass man Nietzsches schriftstellerische Formen letztendlich
nicht auf eine Gattung oder Schreibweise festlegen kann, zeigen jene seltenen Ver-
suche, Nietzsches Schriften in ihrer jeweiligen Eigenheit zu bestimmen.315 Eine plau-
sible Alternative zu der auch in derartigen Skalierungsversuchen unvermeidbaren
Bezugnahme auf traditionelle Gattungsbestimmungen besteht darin, tatsächlich voll-
ständig auf solche zu verzichten und stattdessen an Nietzsches Texte durch eine
möglichst exakte philosophisch-philologische Lektüre so nahe heranzutreten, dass
man tatsächlich auf einen Oberbegriff zur Gattungsbezeichnung des derartig nach-
vollzogenen Textgeschehens verzichten kann, was in den Lektüren dieser Studie auch

311 Vgl. Schärf 1999, S. 164.


312 Schärf 1999, 182. – Eine andere diese These untermauernde Stelle lautet: „Die Vollendung des
Essayismus, die sich in Nietzsches Schreiben vollzieht, führt weit über den Essay als Gattung oder
Form hinaus. In ihr präsentiert sich die totale Verschmelzung von Denken und Ästhetik in einem
performativen Akt.“ (Schärf 1999, S. 178)
313 Nüberl 2007, S. 20.
314 Siehe dazu auch Nehamas 2012 [1985], S. 37f.
315 Siehe dazu zum Beispiel van Tongeren 2000, S. 62–64 und Stegmaier 2011, S. 98f. sowie Stegmaier
2012, S. 7f., in welchen Letzterer eine umfangreiche Liste der von Nietzsche verwendeten Darstellungs-
formen liefert und dieser die Feststellung voranstellt: Kein anderer Philosoph „hat jedoch für seine
philosophische Schriftstellerei so vielfältige Formen gebraucht, neu geprägt oder geschaffen wie Nietz-
sche“ (Stegmaier 2012, S. 7).
122 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

versucht werden soll. Einhergehend damit wird im Folgenden, wenn im Zuge eines
deiktischen Verweises auf ein graphematisch oder per Überschrift isoliertes Werks-
egment verwiesen wird und dabei aus stilistischen Gründen auf den Einsatz der dieses
Werksegment bezeichnenden Sigle verzichtet wird, ein solches Segment bevorzugt als
‚Werksegment‘ bezeichnet werden. Sollte bei einem solchen Verweis aus denselben
stilistischen Gründen auf einen traditionellen Gattungsbegriff zurückgegriffen wer-
den, wird dieser zwischen einfache Anführungszeichen gesetzt.316
In Hinblick auf die Werkgestaltung von Nietzsches veröffentlichten Schriften lässt
sich allerdings, auch ohne diese dabei etwaigen Formen einer bestimmten traditionel-
len Gattung eindeutig zuzuordnen, festhalten, dass Nietzsche seit seinem mittleren
Werk, d.h. spätestens mit Menschliches, Allzumenschliches, traditionelle auf Systema-
tik ausgerichtete philosophische Gattungen hinter sich lässt und zur Kurzform ten-
diert, die sowohl durch ihre Lakonie als auch durch ihre spezifische drucktechnische
Gestaltung zu einer alternativen Rezeptionshaltung auffordert. Parallel zur Bevor-
zugung der Kurzform, kommt es vor allem verstärkt in den Post-Zarathustra-Schriften,
wie gezeigt, häufig zu einer In-Frage-Stellung und Subversion des in den kurzen
Werksegmenten Ausgedrückten. Diese Werksegmente stellen so einen Schreiprozess
temporär still und bringen dabei zugleich die im Text realisierte Denkbewegung in
eine bestimmte Konstellation, deren Rekonstruktion dem Leser obliegt.317 Wie die

316 Für ein derartiges Vorgehen spricht auch eine berühmte Stelle aus dem Nachlass vom Ende 1880:
„Das sind Aphorismen! Sind es Aphorismen? – mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen,
ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber entschuldigen – ich brauche kein Wort für mich“
(NL 1880, 7[192], KSA 9, S. 356).
Das mit Bleistift verfasste Notat weist keine Überarbeitungsspuren auf [vgl. N V 6, S. 59] und
folgt – was in Anbetracht auf die Texteröffnung mit dem Relativpronomen „das“ nicht irrelevant ist
und die metareferentielle Reichweite des ‚Textes‘ stark einschränkt – direkt auf eine Vorstufe von M
494, die formal nicht der Mehrheit von Nietzsches ‚Aphorismen‘ der mittleren Werkphase entspricht,
da sie folgenden fiktiven Dialog inszeniert: „‚In diesem Gebüsch sind Schlangen?‘ – Gut, so wirst du in
das Gebüsch gehen und sie tödten. ‚Aber wahrscheinlicher ist es, d {viell.} werden{irst} du ihr Opfer,
und sie nicht das deine!‘ – Was liegt an mir!“ (vgl. N V 6, S. 59 auf: http://www.nietzschesource.org/
facsimiles/DFGA/N-V-6,59 – Transkription A.P.; siehe auch KGW V/3, S. 272)
Aufgrund der direkten Aufeinanderfolge der beiden Notate, scheint es durchweg gerechtfertigt,
sie direkt aufeinander zu beziehen. Tut man das, tritt die Ironie in dem per se schon ironisch lesbaren
Notat über den vermeintlich ‚aphoristischen‘ Charakter der eigenen Texte noch stärker hervor, scheint
doch die dialogische Struktur der ihm vorausgehenden Aufzeichnung nicht nur jeglicher ‚aphoristi-
schen Form‘ zu entbehren, sondern in ihrem letzten Satz sogar noch die Valenz und Urteilskompetenz
des Sprecher-Ichs zu unterlaufen. Der solcherart aus der semantischen Interaktion der beiden Auf-
zeichnungen rekonstruierbaren Forderung, auf jegliche Gattungszuschreibung der in ihnen realisier-
ten Schreibweise zu verzichten, leistet die vorliegende Studie durch die angesprochene Markierung
der Problematik traditioneller Gattungszuschreibungen qua einfache Anführungszeichen partiell
Folge.
317 In eine ähnliche Richtung – dabei allerdings die Bedeutung des Lesers noch emphatischer
betonend – hat zuletzt Marcus Andreas Born gewiesen, indem er einen kurzen Aufsatz zur Aphoristik
Nietzsches mit folgendem Fazit schloss: „Auch wenn die als Aphorismen bezeichneten Texte Nietz-
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 123

vorliegende Studie diesen rekonstruktiven Nachvollzug umzusetzen gedenkt, wird


das folgende Kapitel klären.

2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des


autoreflexiven Lesens

In einem in schwarzer Tinte verfassten und mit dem selben Schreibwerkzeug und der
selben Tinte überarbeiteten Notat aus dem Frühjahr 1888, das im Folgenden inklusive
sämtlicher Überarbeitungen wiedergegeben wird, schreibt Nietzsche:

Alle diese berühmten {heiligen} Epileptiker u. Gesichte-Seher besaßen nicht jene ein Tausendstel
der rechtschaffenen {von jener Rechtschaffenheit u. der} Selbstzucht{critik}, mit der {heute} ein
Philologe einen Text las oder ein histor. Ereigniß auf seine Wahrheit prüft … {, ein Chemiker} es
sind {, im Vergleich zu uns} moralische Cretins ,… (W II 5, S. 155, Z. 1–9)

Hier werden die Religions- und Ideologie-stiftenden „[H]eiligen [ ] u[nd] Gesichte-


Seher“ nicht nur als „Epileptiker“ und damit als Kranke diffamiert, sondern in ihrem
von Visionen geprägten Vorgehen zugleich über „jene[ ] Rechtschaffenheit der Selbst-
critik“, welche die Arbeit des Philologen präge, diesem gegenübergestellt. Das in
Aufzeichnungen wie dieser dominierende positive Bild des heuristischen Vorgehens
der Philologie hat in den letzten Jahren insbesondere in der deutschsprachigen
Nietzscheforschung dazu geführt, die über Nietzsches Gesamtwerk verstreuten Aus-
sagen zur ihm zeitgenössischen Philologie, einem Berufsfeld, dem er bekannterweise
selbst bis 1879 angehörte, sowie zu der für diese charakteristischen Lesepraxis zum
Ausgangspunkt eigener lektüremethodologischer Überlegungen zu machen. Reprä-
sentativ für die damit in der deutschsprachigen Forschung wieder stärker einsetzende
Reflexion der eigenen lektüremethodologischen Vorannahmen in der Auseinander-
setzung mit Nietzsche stehen die Arbeiten von Christian Benne und Werner Stegmai-
er,318 die im Folgenden als Ausgangspunkt der Präzisierung der den weiteren Verlauf
dieser Studie leitenden texthermeneutischen und heuristischen Prämissen sowie des

sches keiner klar definierten Textgattung zuzuordnen sind, so ähneln sie sich darin, dass sie sich der
beschriebenen ‚aphoristischen Lektüre‘ anbieten. […] Aphorismen erlauben es Nietzsche, entschiedene
Thesen aufzustellen und ihre Validität zugleich zur Disposition zu stellen, ohne sie direkt zurück-
nehmen zu müssen – hierfür wäre er auf einen geneigten (und das heißt: kritischen) Leser angewiesen,
den die Texte zum Widerspruch motivieren“ (Born 2012c, S. 305f.).
318 Benne und Stegmaier nehmen in ihren lektüremethodologischen Reflexionen unter anderem jene
Forderungen wieder auf, die der französische Nietzsche-Philologe Richard Roos in den siebziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts ausformuliert hat (vgl. Roos 1987 [1972]), gehen dabei jedoch – durch die
Zusammenführung derselben mit aktuellen literaturtheoretischen und philosophischen Debatten –
über Roos hinaus. Erste Ansätze zu den hier im Folgenden aufgrund ihres hohen Reflexionsniveaus
und der unmittelbaren Nähe zu den Grundannahmen dieser Studie ausgewählten lektüremethodologi-
schen Überlegungen Bennes und Stegmaiers finden sich bereits in Feng Zhi 2001 [1939].
124 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

aus diesen folgenden konkreten Procederes dienen sollen.319 Der Vergleich mit diesen
beiden lektüremethodologischen Ansätzen bietet sich an, da aufgrund zahlreicher
Übereinstimmungen in den Grundannahmen und dem Procedere dieser Studie mit
den Methoden von Benne und Stegmaier sich die sich von diesen absetzenden
Spezifika der vorliegenden Arbeit leichter fassen lassen.
Die 2005 erschienene Monographie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie
von Christian Benne setzt direkt bei Nietzsches eigenem philologischen Hintergrund
an. Ausgehend von diesem zeichnet Benne die Bedeutung einer bestimmten philo-
logischen Schule für Nietzsches Denken sowie Nietzsches eigene philologische Prakti-
ken und deren Relevanz in diesen fernen, in Nietzsches Spätwerk allerdings bevorzugt
behandelten Themenbereichen, vor allem der Philosophie, nach. Bei besagter Schule
handelt es sich um die Bonner Schule der historisch-kritischen Philologie.320
Von deren Eigenheiten fokussiert Bennes Studie insbesondere die Bedeutung des
Lesers/Lesens innerhalb derselben. Bei der Beschreibung dieses Sachverhaltes sowie
von Nietzsches daran anschließenden eigenen Lektüreanweisungen greift er fast aus-
schließlich auf diese Thematik direkt ansprechende Passagen aus Nietzsches Werk
zurück.321 Dieses Procedere ist auch für die Nachzeichnung des hier eigentlich
Interessierenden – den Folgerungen, die Benne am Ende seiner Studie aus dem in
dieser vorgelegten Nietzsche-Bild für die Lektüre von dessen Schriften zieht – von
höchster Relevanz. Bei der Nachzeichnung dieser Folgerungen ist außerdem zu be-
achten, dass diese von Benne stets auch in Hinblick auf eine Standortbestimmung der
gegenwärtigen Literaturwissenschaften und im kritischen Dialog mit eben diesen
gezogen werden. Letztendlich ist Bennes Text als ein allgemeiner Aufruf zur Rück-
besinnung auf die einstigen Tugenden der historisch-kritischen Philologie zu ver-
stehen.322 Einen guten Einstieg in Bennes Bild einer adäquaten Lektüremethode bietet
eine der zahlreichen Rekapitulationen dieser Tugenden:323

319 Das Adjektiv ‚texthermeneutisch‘ steht, wenn nicht anders angemerkt, in dieser Studie für
jegliche ‚deutende Auseinandersetzung‘ mit einem Text sowie die methodologische Reflexion dersel-
ben. Dementsprechend verweist besagtes Adjektiv nicht auf eine konkrete Schule der literatur-
theoretischen oder philosophischen Hermeneutik, von deren allgemeinen Grundannahmen sich die
vorliegende Studie an manchen Punkten absetzt.
320 Zu deren Grundannahmen siehe Benne 2005, S. 59.
321 Vgl. Benne 2005, S. 27–45.
322 Rückbesinnung bedeutet hier natürlich nicht eine unkritische Übernahme des Paradigmas der
Bonner Schule. So schreibt Benne zum Beispiel in Hinblick auf deren Stammbaummethode, dass
diesbezüglich „[d]ie Ritschl-Schule […] heute hoffnungslos veraltet“ (Benne 2006, S. 22) sei.
323 Einen konzisen Überblick der zentralen Punkte von Bennes Monographie bietet Benne selbst in:
Benne 2006, 15–33. Siehe zu seinem Text auch die Rezension von Janina Reinhold in Textkritische
Beiträge 12, S. 157–161 sowie die höchst kritische Besprechung in Porter 2011, S. 346–348.
Porters Rezension fußt auf einer Zurückweisung der Benne vorgeworfenen Reduktion von Nietz-
sches Denkbewegungen auf jene philologischen Verfahrungsweisen, die Nietzsche als junger Philolo-
ge in Bonn und Leipzig erlernt hat. Durch diesen kritischen Fokus übersieht Porter, dass insbesondere
die im Anschluss an Bennes Kontextualisierung von Nietzsches Denkstil erfolgenden literaturtheo-
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 125

Philologie bezeichnet die Herstellung, Reinhaltung und Erklärung der Texte, d.h. die seit den
Zeiten der alexandrinischen Bibliothekare praktizierte Kombination aus (genealogischer) Text-
kritik und behutsam deutendem Kommentar. Philologie ist auch die Kunst (techné) des richtigen,
d.h. langsamen, zyklischen, perspektivenreichen und genauen Lesens als Voraussetzung und
Ziel der Kritik, als Grundlage und Ergebnis des Kommentars. Philologische Lektüre verzichtet auf
Allegorese und richtet die beobachtende, durchaus sinnliche Aufmerksamkeit auf den Textleib in
all seiner Komplexität. Der Verzicht auf Allegorese bedeutet deshalb keinen Verzicht auf Sub-
tilität, sondern einen geschärften Sinn für (historische) Vieldeutigkeit.324

Was bedeutet das für den konkreten Umgang mit einem Text? Benne spricht sich
explizit für eine zeitgenössische Adaption der in der historisch-kritischen Philologie
üblichen Lektürepraxis aus. Diese erfolgte prinzipiell in zwei Schritten, die als Kritik
und Hermeneutik bezeichnet wurden, die zusätzlich in eine ‚niedere‘ und eine
‚höhere‘ Kritik/Hermeneutik unterteilt werden. Der erste Schritt und somit die fun-
damentale Aufgabe besteht in der unter den Begriff der Kritik fallenden Operationen.
Dazu gehört vor allem die Konstitution eines lesbaren Textes. Für das Textverständ-
nis der Bonner Schule wesentlich ist dabei, dass der Text als ein Gewordenes und
stets neu zu Konstituierendes verstanden wird. Benne wendet sich daher auch gegen
die in den Literaturwissenschaften immer noch weit verbreitete Auffassung des auto-
nomen Kunstwerkes:325 „Was ein Text ist, lässt sich am besten bestimmen, wenn man
seine Entwicklung nachvollzieht und seinen Urheber, bzw. die Umstände seiner Ent-
stehung untersucht. Ein Text wäre demnach ein gewordenes und geschaffenes Ge-
bilde, dem in einem bestimmten Zustand eine gewisse Dauer eignet“326. Dieser
genetische Zugang bildet dann die Basis einer akribischen Lektüre, der sogenannten
„niederen Hermeneutik“327. Auf diese baut die höhere Kritik auf. Erst im Anschluss

retischen Reflexionen sowie die aus diesen hervorgehenden Vorschläge für eine Nietzsche adäquate
Lektüremethode erst die Grundlage für die Wahrnehmung jener Vielfalt im Procedere von Nietzsches
Schriften stiftet, die Porter von Anfang an – jedoch ohne konkreten Hinweis darauf, welche heuristi-
schen Mittel ihre Freilegung fördern könnten – einfordert. Welche Folgen ein derartiger Verzicht auf
die Autoreflexion des eigenen Deutungsansatzes zeitigen können, wurde im Rahmen dieser Studie
bereits im Zuge der Auseinandersetzung mit Paul de Mans Nietzsche-‚Lektüren‘ demonstriert. Insofern
stehen Bennes literaturtheoretische und lektüremethodologische Konsequenzen, nicht jedoch die ihr
zugrundeliegende Kontextualisierung von Nietzsches ‚philologischem Denken‘ im Zentrum dieses
Kapitels, das auf besagte Kontextualisierungen nur dort zurückgreifen wird, wo sie für ein Verständnis
der auch hier kritisch nachgezeichneten lektüremethodologischen Vorschläge Bennes von Relevanz
sind.
324 Benne 2005, S. 354.
325 Hauptgrund für diese Zurückweisung durch Benne ist die mit dem Autonomiebegriff häufig
verknüpfte Auffassung, dass man „mit Hilfe einer beliebig auf Texte applizierten ‚Theorie‘ unabhängig
vom eigenen Kontextwissen (aber nicht der eigenen Ideologie) Texte dechiffrieren“ (Benne 2005,
S. 329) könne.
326 Benne 2005, S. 337.
327 Diese charakterisiert sich nach Benne folgendermaßen: „Der Sprachgebrauch des Textes wird mit
dem Usus verglichen, die Sacherklärung erläutert historische, biographische, lexikographische Um-
126 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

an Letztere setzt die „höhere“ Hermeneutik ein. So ergibt sich „[d]ie ursprüngliche
methodische Einheit der Philologie als Kombination aus Textkritik, Quellenfor-
schung, genauem Lesen und ästhetischem Urteil“328. Aufschlussreich ist nun, dass
Benne in seiner Studie zeigt, dass die in Nietzsches Werk so bedeutende „intellektuel-
le Redlichkeit“ auf die soeben beschriebene Methode der historisch-kritischen Philo-
logie zurückzuführen ist. Es handelt sich bei ihr um den „Kern jeder guten
Philologie – […] der ständige[n] Vergegenwärtigung des eigenen Standortes, […] der
unausgesetzte[n] Selbstbeobachtung und Selbstkritik“329.
Ausgehend von der sich in dieser Haltung manifestierenden Skepsis,330 die sich
bereits in Nietzsches Frühwerk in unmittelbarer Nähe zu seinen eigenen philologischen
Standortbestimmungen findet, arbeitet sich Benne über den durch die Nihilismuspro-
blematik neu perspektivierten Skepsis-Begriff des Spätwerkes vor zu Nietzsches be-
rühmter Definition der Philologie aus Der Antichrist, wo sie als „E p h e x i s in der
Interpretation“ (AC 52, KSA 6, S. 233) gekennzeichnet wird. Genau in dieser Ephexis ist
nach Benne die positive Bewertung der Philologie in Nietzsche späten Schriften be-
gründet: Sie fungiere dort als Gegenbegriff zur stets verfälschenden Theologie und
Philosophie.331
Eine zusätzliche und für Bennes Konzeption einer ‚Philosophie der Philologie‘
bedeutende Dimension erhält diese skeptizistisch gefärbte Philologie durch ihre Zu-
sammenführung mit Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie332: „Die Skepsis
der Experimente ist die Lebenshaltung desjenigen, der an nichts mehr glaubt, aber
statt der Tatenlosigkeit der klassischen Skeptiker die Urteilsenthaltung im experimen-
tellen Zugang zur Welt aufhebt.“333 Eine derartige skeptisch-experimentelle (Lektüre-)

stände, der Text wird Satz für Satz und zunächst ohne Berücksichtigung des Gesamtzusammenhanges
ausgelegt, wohl aber unter Beachtung des Einflusses von Stil und Gattung.“ (Benne 2006, S. 17)
328 Benne 2005, S. 329.
329 Benne 2005, S. 329.
330 Benne hat sich mit diesem Thema nicht nur am Schluss seiner Nietzsche-Monographie, sondern
auch in einem kurzen Aufsatz mit dem bezeichnenden Titel „Philologie und Skepsis“ auseinander-
gesetzt. Vgl. Benne 2009.
331 Vgl. Benne 2009, S. 203.
332 Benne verweist zur Bestimmung derselben auf ein Notat aus dem Nachlass: „Skepticismus! Ja,
aber ein Scepticismus der Experimente! nicht die Trägheit der Verzweiflung“ (NL 1880, 6[356], KSA 9,
S. 287).
333 Benne 2009, S. 205. – In Anbetracht dieses Plädoyers für eine Experimental-Philologie der
Ephexis verwundert es, wie rigoros Benne manche Lektüremethoden ausschließt. Entsinnt man sich
der von ihm in Anschluss an die historisch-kritische Philologie und deren Adaption durch Nietzsche
stets betonten, zeitlichen und kulturellen Bedingtheit jeder Lektüre und der damit einhergehenden,
ebenso aus dieser Tradition übernommenen Forderung zumindest an den Punkten, an denen es
möglich ist, mit der gebührenden ‚Redlichkeit‘ zu arbeiten, erscheint Bennes Ablehnung zahlreicher
jüngerer textnaher Lektürepraktiken als höchst idiosynkratisch. Dies gilt vor allem für die Methoden
des Strukturalismus und der Dekonstruktion. So sehr man nämlich Benne in der Kritik von deren
Vorannahmen folgen kann, so wenig versteht man – insbesondere nachdem er deren partielle Wider-
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 127

Praxis tendiert letztendlich zu ihrer eigenen Perpetuierung, da ihr jedes vermeintliche


Ende verdächtig erscheinen muss.
Ähnlich wie Benne nähert sich auch Werner Stegmaier in seinen methodologische
Probleme reflektierenden Aufsätzen und Monographien dem Problem der Entwick-
lung einer für Nietzsches Schreiben adäquaten Lektüremethode über eine Auseinan-
dersetzung mit denjenigen Passagen aus dessen Werk, welche als metareflexive
Lektüreaufforderungen gelesen werden können.334 Dabei greift er bevorzugt auf zwei
Aphorismen aus der Entstehungszeit des V. Buches der Fröhlichen Wissenschaft zu-
rück, aus denen er „Nietzsches Anforderungen an seine Leser“ entwickelt: M Vorrede
5 und das im Kapitel 2.1.2.2. bereits behandelte ‚Werksegment‘ FW 381.335 Wie schon
Benne leitet auch Stegmaier aus diesen beiden Texten die Forderung ab, dass Nietz-
sche geduldig, d.h. insbesondere langsam, sowie mit der Bereitschaft zu philosophi-
schen Überraschungen zu lesen sei. Letzteres verlange vor allem einen Verzicht auf
das Herantragen allzu starker ideologischer oder philosophischer Vorannahmen an
Nietzsches Texte, für deren Lektüre nach Stegmaier gilt: „Je enger die[ ] Spielräume [=
d.s. die aus den eigenen Denkgewohnheiten entspringenden Denknotwendigkeiten;
A.P.] sind, desto weniger kann man sich auf Nietzsche einlassen“336. Aus diesen
beiden Forderungen, aus denen nicht eigentlich eine Lektüremethode im traditionell
literaturtheoretischen Sinne, sondern vielmehr eine bestimmte Rezeptionshaltung
folgt,337 leitet Stegmaier dann die Notwendigkeit des „Verzicht[es] auf sichere Bestän-
de“338 ab, was einen Verzicht auf „alles Zeitlose auch im eigenen Verstehen und
Erkennen“339 bedeutet. In dieser Forderung integriert Stegmaier eine unter anderem
auch von ihm selbst herausgearbeitete Grundtendenz des nietzscheschen Denkens,
dessen Dynamizität und den diese bedingenden „flüssigen Sinn“,340 in seine eigenen

aufnahme einstiger Praktiken der historisch-kritischen Philologie nachgewiesen hat –, warum diese
Praktiken als Ganze zu verdammen seien. Eine derartige generelle Ablehnung dieser Praktiken steht
außerdem im Widerspruch zu der von Benne selbst propagierten Form einer Philologie der experimen-
tellen Skepsis. Im Sinne derselben läge es näher, besagte Lektüremethoden von ihren meta-theo-
retischen Mankos zu befreien und in einer solcherart gereinigten Form in die eigene Werkzeugkiste
aufzunehmen. Gerade die von Benne ob ihrer Beschränktheit gerügten Lektürepraktiken scheinen sich
gegenüber anderen Methoden sogar dadurch auszuzeichnen, dass sie aufgrund der Explikation ihres
deskriptiven Apparates und bestimmter theoretischer Vorannahmen leichter diskursiv zu verorten sind
als so manch anderer literaturwissenschaftlicher Ansatz. Zu fragen wäre hier, ob man nicht gerade
diesen Sachverhalt als ihre ‚Redlichkeit‘ bezeichnen könnte.
334 Stegmaier behandelt besagte Lektüremethode insbesondere in folgenden Texten: Stegmaier 2007;
Stegmaier 2009; Stegmaier 2010a; Stegmaier 2010b; Stegmaier 2011 und Stegmaier 2012.
335 Die hier nun einsetzende Darstellung von Stegmaiers Methode der „kontextuellen Interpretation“
folgt deren Ausformulierung in Stegmaier 2012, S. 64–82.
336 Stegmaier 2012, S. 67.
337 Siehe dazu ausführlicher Pichler 2012a, S. 424.
338 Vgl. Stegmaier 2012, S. 67f.
339 Stegmaier 2012, S. 68.
340 Vgl. Stegmaier 1994, S. 70–88.
128 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Lektüremaximen. Daran schließt die vierte von Stegmaier aufgestellte Forderung an:
der Verzicht auf methodische Apriori.341
Liest man das offensichtlich paradoxe methodische Apriori des Verzichts auf
methodische Apriori auf dem Hintergrund des von Stegmaier in zahlreichen Publika-
tionen herausgearbeiteten Nietzschebildes, wird man gewahr, dass ein Denken wie
dasjenige Nietzsches, das nach Stegmaier auch in seinen orientierenden Momenten
stets desorientiert,342 d.h. ein Denken, das sich in permanenter Fluktuanz befindet,
nur durch Lektüren, welche die von einem so beschaffenen Denken vollzogenen
Bewegungen mitvollziehen, adäquat ‚erfasst‘ werden kann. Der Dynamisierung des
Denkens kann nur eine ebenso dynamische Lektüre gerecht werden. Eine solche
dynamische Lektüre propagiert letztendlich auch Benne, wenn er im Rahmen seiner
Studie darauf verweist, dass Lesen im Sinne Nietzsches primär den Prozess eines
Nachvollzuges darstelle und niemals ein endgültiges Urteil als Ziel habe. Bei Stegmai-
er bildet diese Epoché-Forderung sowie das mit ihr unmittelbar verbundene Ver-
ständnis von Nietzsches Philosophie als einem dynamischen Denken auch die Folie
für seine letzten beiden Lektüremaximen, nämlich den „Verzicht auf systematische
Einheit“ und den Verzicht auf den mittlerweile beinahe schon ‚klassisch‘ zu nennen-
den „Vorwurf der Ambivalenz und Widersprüchlichkeit“.343
Diese sechs Lektüremaximen bündelt Stegmaier schließlich in seinem Ansatz
einer kontextuellen Interpretation, deren zentrale Annahmen und Vorgaben im Fol-
genden in der Kurzfassung eines Aufsatzes aus dem Jahre 2007 wiedergegeben
werden:

Nietzsche-Philologie in Nietzsches Sinn muß eine Philologie der Aphorismen-Bücher sein, die
Kunst, Aphorismen zum einen in ihren eigenen, geschlossenen Kontexten zu lesen, zum andern
im – ebenfalls geschlossenen – Kontext der Bücher, in die Nietzsche sie eingeordnet hat, und
schließlich im offenen Kontext, den seine Bücher untereinander bilden und den er auch selbst
nur schwer übersehen konnte, so dass er ihn sich immer wieder neu aneignen mußte.344

341 Vgl. Stegmaier 2012, S. 68f.


342 Siehe zu diesem von Stegmaier durch den Rückgriff auf die Grundannahmen seiner Philosophie
der Orientierung auch für Nietzsche stets als relevant erachteten Sachverhalt: Stegmaier 2011, S. 10
sowie Pichler 2012a, S. 421.
343 Vgl. Stegmaier 2012, S. 69ff. – Zum Problem der vermeintlichen Ambivalenz und Widersprüch-
lichkeit von Nietzsches Philosophie siehe auch das Kapitel 2.2.4.
344 Stegmaier 2007, S. 93. – In Stegmaier 2012 werden diese Überlegungen bis an die Grenze der
möglichen Kontextualisierungen fortgeführt: „Jeder dieser externen Kontexte kann zu weiteren führen,
die für das Verständnis des zu interpretierenden Aphorismus hilfreich sind. Die externen Kontexte
können aber bald so vielfältig werden, dass man die Übersicht über sie verliert. Dann muss man die
Kontextualisierung abbrechen, wie man es auch in der alltäglichen Orientierung tut, was nicht hindert,
sie bei neuen Gelegenheiten, hier von den weiteren Aphorismen im jeweiligen ,Buch‘ oder im jeweili-
gen Werk aus neu aufzunehmen. Man wird so, wie in der alltäglichen Orientierung auch, nicht zu einer
vollkommenen, ,theoretischen‘ Übersicht kommen.“ (Stegmaier 2012, S. 80f.)
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 129

Die in dieser Bestimmung mitschwingende Orientierung am Wortlaut des konkreten


Textdokumentes und der mit dieser auch bei Stegmaier gegebenen Emphase für das
langsame philologische Lesen als Grundlage der philosophischen Deutung folgt auch
diese Studie ohne Vorbehalte. Sie unterscheidet sich jedoch in der ‚Lektürerichtung‘
von Stegmaiers Methode der kontextuellen Interpretation. Wie aus dem soeben zitier-
ten Passus hervorgeht, legt Stegmaier diese nur insofern fest, dass er jeweils einzelne
Aphorismen als Ausgangspunkt einer kontextuellen Interpretation bestimmt. Dabei
bleibt er letzten Endes jedoch nur partiell beim einzelnen ‚Werksegment‘ stehen, wie
die folgende Präzisierung dieser Forderung zeigt: „Philologisch wird man sich dabei
auf die Sprachkunst des jeweiligen Textes konzentrieren, philosophisch aber die
gedanklichen Kontexte von Nietzsches ganzem Werk offenhalten müssen, ohne sie
schon in ein System zu fassen.“345 Aussagen wie diese offenbaren, dass es sich bei
Stegmaiers Methode der kontextuellen Interpretation um eine auf die Eigenheiten von
Nietzsches Denkbewegung und die Resultate der Nietzscheforschung aufbauende und
derartig adaptierte Variante der in Deutschland in ihrer modernen Form von Friedrich
Schleiermacher inaugurierten literaturwissenschaftlichen Hermeneutik handelt,346
die er jedoch zu guter Letzt überschreitet, indem er sie mit seiner eigenen „Philo-
sophie der Orientierung“ zusammenführt:

Wir werden uns im wissenschaftlichen Spielraum der Verdeutlichung von Nietzsches Texten
halten, aber auch fröhliche Freiheiten der Deutung nehmen, um sie für unsere aktuelle phi-
losophische, wissenschaftliche und alltägliche Orientierung plausibel zu machen. Es geht nicht
um einen Kommentar im engeren Sinn einer Zusammenstellung erläuternder sprachlicher und
sachlicher Hinweise zu bestimmten Stellen und Zusammenhängen, sondern um eine philosophi-
sche Interpretation […] im Blick auf die Grundfragen der menschlichen Orientierung, die Nietz-
sche gestellt und überraschend neu gestellt hat.347

Auch diese Studie wird sich an manchem Punkte derartige „fröhliche Freiheiten der
Deutung nehmen“, im Umgang mit denselben jedoch anders verfahren als Stegmaier.

Hier zeigt sich ein weiteres Mal die immense Bedeutung, die Stegmaiers eigene Philosophie der
Orientierung bei der Entwicklung seiner Methode der kontextuellen Interpretation spielt. Siehe dazu
ausführlicher Pichler 2012a, S. 425 und Fußnote 24 sowie Born 2013.
345 Stegmaier 2012, S. 76.
346 Eine derartig an Nietzsche orientierte Hermeneutik intendiert nicht mehr die Freilegung eines
letzten wahren Sinnes des Textes. Bereits in seiner Diltheys und Nietzsches Denken als Philosophie der
Fluktuanz deutenden Habilitationsschrift hat Stegmaier ein derartig traditionelles Hermeneutikver-
ständnis als für Nietzsches Philosophie inadäquat zurückgewiesen, indem er darauf verwies, dass
„Verstehen […] für Nietzsche immer ein schon Anders-Verstehen“ (Stegmaier 1992b, S. 282) bedeutet.
Auf diesem Hintergrund wird Nietzsche-Hermeneutik zu einem Unterfangen, das im Wissen ihrer
eigenen Standpunktgebundenheit und der mit dieser einhergehenden Tendenz zum Missverständnis
versucht, anhand der philosophischen Lektüre von Nietzsches Texten ein neues Verständnis der
Grundlagen unseres Verstehens herauszuarbeiten.
347 Stegmaier 2012, S. 78.
130 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Wie verhält sich also die vorliegende Studie jenseits der teilweise bereits an-
gesprochenen Übereinstimmungen konkret zu den texthermeneutischen Prämissen
und den aus diesen abgeleiteten Vorgehensweisen Bennes und Stegmaiers?348 Einge-
denk der in den Kapiteln 1.1. und 1.2. entwickelten Grundannahmen dieser Mono-
graphie erscheint es insbesondere problematisch, dass weder Benne noch Stegmaier
ihren eigenen Textbegriff explizit offenlegen. Implizit scheinen jedoch beide einem
ähnlichen Textverständnis zu folgen. So knüpft auch Stegmaier wie die vorliegende
Studie in ihrer Bevorzugung der veröffentlichten Schriften an die Arbeiten von Behler,
Magnus und Zittel an, überprüft die von besagten Autoren vorgebrachte These jedoch
nicht, wie es hier im Kap. 2.1.1. geschehen ist, an der konkreten Genese eines ver-
öffentlichten ‚Aphorismus‘. Dennoch bezieht auch er frühere Fassungen letztendlich
publizierter ‚Aphorismen‘ in seine Auslegung der letztendlich publizierten Fassungen
mit ein.
Noch stärker als Stegmaier scheint Benne einen textgenetischen Ansatz zu pro-
pagieren. Genauso wie die vorliegende Arbeit betont Benne den partiell interpretati-
ven Bestandteil der einen solchen Ansatz stets mitbestimmenden Textkonstitution,
bleibt jedoch häufig bei seinen eigenen Lektüren der für seine Studie relevanten
metareflexiven Passagen weit hinter dieser Forderung zurück, da er gerade bei Auf-
zeichnungen aus dem Nachlass auf das von ihm so hoch gelobte Prinzip der Kritik im
Sinne einer nachvollziehbaren Textkonstitution verzichtet, indem er besagte Auf-
zeichnungen meist aus der Colli/Montinari-Ausgabe zitiert.349
Letztendlich genügen sowohl Bennes als auch Stegmaiers Umgang mit der Text-
genese und dem für die jeweils untersuchten Text- und Werksegmente vermeintlich
relevanten Kontexten der Begrifflichkeit der vorliegenden Studie sowie den Kon-
sequenzen, die diese aus den Resultaten der poeseologischen Rekonstruktion von
Nietzsches Spätwerk im Folgenden ziehen wird, nicht vollständig. Zwar scheinen
sowohl Bennes Plädoyer für das Parallelstellenverfahren als auch Stegmaiers Kon-
text-Begriff, der stets vom einzelnen Aphorismus ausgeht und diesen dann Schritt für
Schritt in umfangreichere Kontexte überführt,350 auf den ersten Blick der aus der
Reflexion des Kapitels 1.2. folgenden Forderung nach Plausibilisierung der jeweils an
das gelesene Text- bzw. Werksegment herangetragenen Intra- und Intertexte zu ent-
sprechen. Einem aufmerksameren Blick zeigt sich allerdings schnell, inwiefern die

348 Jenseits der die nun einsetzende kritische Auseinandersetzung mit Benne und Stegmaiers Lektü-
remethoden bestimmenden, starken editionsphilologischen und texthermeneutischen Grundannah-
men der vorliegenden Studie hat jüngst auch Helmut Heit die Lektüremethoden Bennes und Stegmai-
ers einer Kritik unterzogen, im Zuge derselben er insbesondere deren Tendenz zur ‚unendlichen
Interpretation‘ ankreidet (vgl. Heit 2013).
349 Auf den problematischen Status dieses Vorgehens in Anbetracht der Tatsache, dass zum Zeit-
punkt des Erscheinens von Bennes Studie bereits die ersten Bände der KGW IX erschienen waren,
verweist auch Reibold 2008, S. 160.
350 Siehe dazu auch Stegmaier 2011, S. 100–105.
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 131

von den beiden Autoren vorgeschlagenen Umgangsweisen mit den für Nietzsches
Text- und Werksegmente vermeintlich relevanten Kontexten auf Basis der Grund-
annahmen dieser Studie nicht haltbar sind.351 Ursache dafür ist insbesondere deren
Privilegierung einiger weniger, von ihnen jedoch als exemplarisch erachteter metare-
flexiver ‚Aphorismen‘ aus Nietzsches Gesamtwerk. Wie die Lektüre der poeseologi-
schen Metareflexionen in Nietzsches Spätwerk in den Kapiteln 2.1.1. und 2.1.2.2.
gezeigt hat, ist die metareflexive Reichweite bei zahlreichen dieser Selbstbestimmun-
gen aufgrund der in ihnen selbst oder in ihrem unmittelbaren Werkkontext anzutref-
fenden Autosubversionen stark eingeschränkt. In manchen der zuvor gelesenen ‚Tex-
te‘ (vgl. N VII 1, S. 82; W I 6, S. 35 sowie GD Alten 1 und 2) scheint durch diese
Subversionsmomente der metareflexive poeseologische Gehalt besagter Stellen über-
haupt suspendiert zu werden.352 Dieser Sachverhalt nötigt einen Ansatz wie den
vorliegenden, welcher das komplex-dynamische Sinngeschehen eines Textes bzw.
Werkes unter Berücksichtigung von dessen spezifischer Textualität sowie von deren
semantischer Relevanz erarbeiten möchte, zu lektürepraktischen Konsequenzen, die
sich vom Vorgehen Bennes und Stegmaiers unterscheiden. Prinzipiell folgt zwar auch
der vorliegende Ansatz der bereits von Autoren wie Bernd Magnus und Claus Zittel
artikulierten und im Zuge des Kapitels 2.1.1. erneut bestätigten Einsicht, dass Nietz-

351 Im Falle von Stegmaiers letzten Arbeiten sticht der in diesen gegebene Verzicht auf die Anführung
von Plausibilitätskriterien bei der Auswahl deutungsrelevanter Kontexte schnell ins Auge. Hinter
diesem Vorgehen steht die Annahme, dass es sich bei Nietzsches Wahl der Schreibgattung des
Aphorismus um eine aus seinen philosophischen Grundansichten folgende und regelrecht notwendige
‚Gattungswahl‘ handelte. Nur diese ‚Gattung‘ ermögliche ihm die ‚Verflüssigung seines Philosophie-
rens‘ (vgl. Stegmaier 2011, S. 108f.), deren zentrale Rolle in Nietzsches Denkbewegung letztendlich
dazu führe, dass die „Aphorismen […] ihn [= Nietzsche; A.P.] in seinem Verständnis und er sie dabei
nie endgültig fest[legen]“ (Stegmaier 2011, S. 104). Geht man von einer derartigen Offenheit von Nietz-
sches Denkbewegung aus, erscheint die Forderung nach Schließung dieser Offenheit qua Festlegung
von Plausibilitätskriterien für die deutungsrelevanten Kontexte tatsächlich obsolet. Stattdessen sind
jedoch die eigenen Vorannahmen sowie die aufgrund dieser zur Deutung herangezogenen Kontexte
offenzulegen, was im Falle Stegmaiers durch den Rückgriff auf seine ‚Philosophie der Orientierung‘
auch geschieht. Siehe dazu auch Pichler 2012a, S. 425.
Wie jedoch die vorliegende Studie noch zeigen wird, führt auch eine aufgrund eines bestimmten
Textbegriffes erfolgende Beschränkung der deutungsrelevanten Kontexte, die unter anderem auch
einem Ausschluss bestimmter textexterner Kontexte bei der Lektüre einzelner ‚Aphorismen‘ mit sich
bringt, nicht notwendig zu einem gewaltsamen Abschluss von Nietzsches dynamischem Denken.
352 Eine ausführliche Behandlung dieser Problemkonstellation bietet das Kapitel 2.2.3. Die Einfüh-
rung des Begriffs der ‚Subversion‘ zur Bezeichnung von Nietzsches Umgang mit thetisch-assertiven
Diskursformen geht zurück auf Dellinger 2012f. In Anknüpfung an diese Begrifflichkeit wird im
Folgenden zur Beschreibung autodestruktiver Momente in Nietzsches Texten auch von ‚Autosubver-
sion‘ die Rede sein, wodurch der Selbstbezug der im Textgeschehen von Nietzsches Schriften nach-
weisbaren Subversionen betont werden soll.
Dass derartige Subversionen samt ihrer Suspendierung der Wahrheitserkenntnis letztendlich in
den Einzugsbereich der Ästhetik fallen, hat Ruth Sonderegger in ihrer auf eine Beschäftigung mit
Nietzsche verzichtenden Studie zu einer „Ästhetik des Spiels“ gezeigt (vgl. Sonderegger 2000).
132 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

sches veröffentlichten Schriften „qua Form ein Reflexionsgrad mehr als den nach-
gelassenen Aufzeichnungen“353 eignet. Wie bereits im Kapitel 2.1.1. festgestellt wurde,
folgt daraus für die vorliegende Studie, dass diese in ihrer Beschäftigung mit der
Götzen-Dämmerung wie auch Benne und Stegmaiers Arbeiten primär von deren letzt-
endlich publizierter Fassung auszugehen hat. Der eigentliche Unterschied zu den
Lektürepraktiken der Letztgenannten besteht also nicht darin, dass im Folgenden
nicht nur das veröffentlichte Werk gegenüber früheren Fassungen desselben sowie
gegenüber für dessen Verständnis vermeintlich relevanter metareflexiver Parallelstel-
len bevorzugt wird, sondern insbesondere darin, dass primär auch der Chronologie
des Textgeschehens der Götzen-Dämmerung gefolgt wird. Dies bedarf zusätzlicher
Erläuterungen, scheint doch der in den Kapiteln 1.1. und 1.2. entwickelte Text- und
Werkbegriff gerade in seiner Betonung der Dynamik des Sinngeschehens eine der
faktischen Chronologie des einzelnen Werkes folgende lineare Lektüre zu erübrigen.
Dass auf einen derartig linearen Nachvollzug des Textgeschehens der Götzen-
Dämmerung nicht ohne exegetische Defizite verzichtet werden kann, folgt jedoch
direkt aus den Spezifika der im Kapitel 2.1.2. rekonstruierten Schreibweisen in Nietz-
sches Spätwerk.354 Es handelt sich dabei erstens um eine Folge der in der Autosubver-
sions-Tendenz von Nietzsches späten ‚Aphorismen‘ bereits angesprochenen Proble-
matik: In Anbetracht derselben ist es nicht gerechtfertigt, aus diesen vermeintlich den
gesamten Werkkontext bestimmende wahrheitswertfähige Aussagesätze zu isolieren,
ausgehend von welchen etwaige Parallelstellen dann gedeutet werden. Damit unmit-
telbar verbunden ist zweitens der Sachverhalt, dass, wie unter anderem die Arbeit am
Nietzsche-Wörterbuch gezeigt hat,355 gerade Nietzsches einzelne Werksegmente eine
sehr hohe Kontextsensibilität besitzen.356 Dies bedeutet nichts anderes, als dass

353 Zittel 2000b, S. 139.


354 Hier zeigt sich, dass auch die vorliegende Studie auf den Entwurf eines präsumtiven Nietzsche-
bildes nicht verzichten kann. Der im Zuge der Stiftung desselben geschaffene Deutungshorizont wird
jedoch bei der eigentlichen Lektüre noch einmal explizit zur Disposition gestellt.
355 Laut Herman Siemens und Paul van Tongeren führe dieser Sachverhalt zu einer „plurality of
meanings“: „Not only does the meaning of certain words change with the development of his thought;
more than most philosophers, he consciously works with the possibility of ascribing different mea-
nings to the same words through differing contextualisations and the deployment of various optics“
(Siemens/van Tongeren 2012, S. 448).
356 Insofern scheinen in Nietzsches späten Schriften bereits deren zentralen ‚Termini‘ von jener
Iterabilität charakterisiert zu werden, die von Jacques Derrida zum Aufbruch der für die Sprechakt-
theorie John Searles so fundamentale Unterscheidung von ernsten und unernsten Äußerungen in die
sprachphilosophische Diskussion eingeführt wurde. In „Signatur Ereignis Kontext“ wird von Derrida
den unernsten, d.h. parasitären Äußerungen, die prinzipielle Wiederholbarkeit entgegengesetzt:
„[A]ufgrund seiner wesentlichen Iterierbakeit kann man ein schriftliches Syntagma aus der Verket-
tung, in der es gegeben oder eingefaßt ist, immer herauslösen, ohne daß ihm dabei alle Möglichkeiten
des Funktionierens, wenn nicht eben alle Möglichkeiten von ‚Kommunikation‘, verloren gehen. Man
kann ihm eventuell andere zuerkennen, indem man es in andere Ketten einschreibt oder ihnen auf-
pfropft. Kein Kontext kann es einschließen.“ (Derrida 1999 [1971], S. 335)
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 133

identischen Ausdrücken in anderen Kontexten andere Bedeutungsnuancen zukom-


men. Insofern ist der Nachvollzug eines einzelnen ‚Begriffes‘ durch das Gesamtkorpus
eines einzelnen nietzscheschen Werkes zwar gerechtfertigt, wenn man die unter-
schiedlichen Nuancen eines nietzscheschen ‚Terminus‘ und das sich aus diesen
ergebende semantische Feld rekonstruieren möchte. Für die Lektüre eines einzelnen
Werksegments bedeutet dies jedoch, dass, gerade wenn man seinen höchst individu-
ellen Gehalt erfassen möchte, primär auf den Einbezug besagter Parallelstellen zu
verzichten ist. Diese sind erst nach der eigentlichen Lektüre eines solchen Segmentes
zur Kontrastierung von dessen semantischem Gehalt eingedenk ihrer potentiell von
diesem abweichenden semantischen Nuancen zur weiteren Profilierung desselben
heranzuziehen. Drittens hat die jüngere Forschung gezeigt, dass gerade thematisch
eigentlich nicht miteinander verknüpfte, jedoch direkt aufeinander folgende ‚Apho-
rismen‘ in Nietzsches Spätwerk aufgrund ihres metareflexiven Gehalts stark aufeinan-
der abfärben. Dies gilt zum Beispiel für die ‚Aphorismenketten‘ JGB 6–9 oder die für
den Willen zur Macht so zentrale ‚Aphorismenfolge‘ JGB 35–38.357
In Anbetracht dieser Spezifika von Nietzsches späten Schreibweisen wird die
vorliegende Studie zu einer Form der Lektüre zurückkehren, die so weit als möglich
der konkreten Chronologie der letztendlich publizierten Fassung der Götzen-Dämme-
rung folgen wird.358 Lektüre ist hier dementsprechend im Sinne Wolfram Groddecks
zu verstehen: „Damit ist ein philologisches Verfahren gemeint, das auch als ‚Kom-
mentar‘ oder ‚Textanalyse‘ oder ‚Interpretation‘ bezeichnet werden könnte, das aber
die gesuchte Nähe zum thematisierten Text zugleich mit einer gewissen Zurückhal-
tung gegen seine Übersetzbarkeit und Verfügbarkeit zu verbinden strebt.“359 Im
Gegensatz zu Groddeck wird diese Lektüre jedoch immer wieder die im Rahmen ihres
lesenden Nachvollzuges praktizierte Zusammenführung „von Textanalyse, Inter-
linearkommentar und Interpretation“360 hinter sich lassen und aus den im Zuge

357 Zu JGB 6–9 siehe Born 2012a, zu JGB 35–38 Dellinger 2013a und Endres/Pichler 2013, Fußnote 29.
358 Wie aus dem zuvor Festgestellten hervorgehen sollte, schließt ein derartiger chronologischer
Nachvollzug in actu die Berücksichtigung der Konstellation einzelner ‚Termini‘ innerhalb des gesam-
ten Textes jedoch nicht aus, sondern verlangt sie regelrecht. Nur so ist die besagte Konkretisierung des
semantischen Gehalts eines einzelnen Werksegmentes dem komplexen Sinngeschehen des Gesamt-
textes entsprechend zu erfassen. Dennoch hat man sich bei derartigen ‚semantischen Querschnitten‘
darüber bewusst zu sein, dass die nachvollzogenen Lemmata durch ihre Entnahme aus ihrem eigentli-
chen Kontext potentiell stets einen Teil ihrer semantischen Fülle verlieren.
359 Groddeck 1991a, S. 19f.
360 Groddeck 1991a, S. 20. – Dem zitierten Kolon geht folgende Passage voraus, der sich die vor-
liegende Studie ebenfalls verpflichtet fühlt: „Mit dem Terminus ‚Lektüre‘ […] wird eine alternierende
Mischung von Textanalyse, Interlinearkommentar und Interpretation bezeichnet, die als Leitfa-
den das Nacheinander des Textes beim Lesen beibehält, aber gegenüber einem erstmaligen Durch-
lesen ein artifizielles Vorgehen darstellt, das nur so tut, als ob der Text sukzessive und erstmals
gelesen würde. ‚Lektüre‘ ist ein Darstellungsmodus, um das ‚Erratene‘ nachträglich in die Abhängig-
keit einer kohärenten Argumentation zu zwingen.“
134 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

dieses Nachvollzuges freigelegten Bedeutungsangeboten des Textes diejenigen aus-


wählen, deren Zusammenführung eine kohärente philosophische Interpretation des
Textgeschehens erlaubt. Dabei wird es sich bevorzugt um jene Momente handeln,
welche die Folgen der sie kennzeichnenden ästhetischen Darstellungsform für die in
ihnen verhandelten philosophischen Probleme zu Tage treten lassen. In dieser ein-
deutig interessegeleiteten Zusammenführung der multiplen Sinnangebote des jewei-
ligen Textgeschehens besteht auch der zentrale Unterschied im Vorgehen dieser
Studie zum Nietzsche-Kommentar der Baden-Württemberg’schen Akademie der Wis-
senschaften. Laut dessen Verfassern Barbara Neymeyr, Jochen Schmidt und Andreas
Urs Sommer liegt der Schwerpunkt desselben „auf einer quellenorientierten histori-
schen Kommentierung der Texte nach den verschiedenen Einzugsbereichen sowie in
der problemgeschichtlich orientierten Kontextualisierung“361. Neben der bereits zuvor
angesprochenen Teleologie der in dieser Studie durchgeführten Interpretation – sie
versucht sich an der Freilegung der philosophischen Konsequenzen der spezifischen
Textualität und Darstellungsform des untersuchten Textes – weicht diese in direkter
Folge dieses ‚Erkenntniszieles‘ auch in ihrem Umgang mit derartigen Kontextualisie-
rungen von der Kommentierungspraxis des Nietzsche-Kommentars ab: Erfolgt diese
in Letzterem auf drei Ebenen – intratextuell, gesamtwerkintern und problem-
geschichtlich362 – und ist dabei zugleich „nicht ausführlich exegetisch und interpre-
tierend angelegt“363, dienen derartige Kontextualisierungen in der vorliegenden
Studie ausschließlich der Profilierung der jeweils untersuchten Textschicht: Nicht die
Einbettung des spezifischen Textgeschehens des untersuchten Werkes in einen pro-
blemgeschichtlichen Kontext, sondern die Profilierung der Spezifika dieses Text-
geschehens auf der Folie besagten Kontextes zum Zwecke der Freilegung des phi-
losophischen Gehalts der spezifischen Textualität und Darstellungsform dieses
Werkes sind das Ziel der vorliegenden Studie.
Diese wird dabei auch die durch ihre eigene Zielsetzung bedingten, eindeutig
interpretativen Momente nicht unkommentiert tradieren, sondern versuchen, sie
reflexiv einzuholen und so durch die Auseinandersetzung mit der die Deutung
stets mitbestimmenden Begrifflichkeit eigene, versteckte theoretische Vorannahmen
soweit als möglich offen zu legen.364 Ein solches selbstreflexives Einholen

361 Neymeyr/Schmidt/Sommer 2012, S. VII.


362 Vgl. Neymeyr/Schmidt/Sommer 2012, S. IXf.
363 Neymeyr/Schmidt/Sommer 2012, S. IX. – Dass sich in den Kommentar-Bänden letztendlich auch
weit über die bloße Erschließung hinausgehende interpretative Passagen finden und welche Kon-
sequenzen dies zeitigt, verhandle ich ausführlich in meiner Rezension von Andreas Urs Sommers
Kommentar zur Götzen-Dämmerung in Pichler 2014.
364 An diesem Punkt, insbesondere jedoch über den Bezug zu Groddecks ‚Lektürebegriff‘, trifft sich
das Vorgehen dieser Studie dann auch wieder mit dem von Christian Benne als ideal propagierten
Vorgehen, kennzeichnet er dieses doch wie folgt: „Intellektuelle Redlichkeit erhebt keinen höhe-
ren moralischen Anspruch etwa auf größere Objektivität. Im Gegenteil: sie bezeichnet die Offenlegung
und damit Relativierung des eigenen Zugangs, Ephexis in der Interpretation. Erst die Offenlegung
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 135

des eigenen Vorgehens kann man als eine Form des autoreflexiven Lesens bezeich-
nen.365
Eine derartige Lektüre wird außerdem den tradierten Schreib- und Entstehungs-
prozess bei der Deutung der Götzen-Dämmerung berücksichtigen. Dabei wird sie sich
jenes Vorgehens bedienen, das im Zuge der Auseinandersetzung mit dem bisherigen
Forschungsstand zur Bedeutung der Textualität von Nietzsches Philosophie im Kapi-
tel 2.1.1. entwickelt worden ist. Grundlage dieses wohl am besten als kontrastierende
Lektüre zu bezeichnenden Verfahrens ist die Übernahme des von Spinoza im 17. Jahr-
hundert in die philosophische Logik eingeführten Grundsatzes „omnis determinatio
negatio est“ in die Texttheorie. Dies bedeutet nichts anderes, als dass im weiteren
Verlauf dieser Studie die in dieser im Mittelpunkt des Interesses stehende 1889 ver-
öffentlichte Erstfassung der Götzen-Dämmerung im Zuge ihrer Lektüre mit ihrer eige-
nen Entstehungsgeschichte konfrontiert und dieser zur Profilierung ihres Sinngesche-
hens kontrastierend gegenübergestellt wird. Dabei werden sowohl die bisher in der
KGW IX veröffentlichten ‚Vorstufen‘ als auch das in Weimar einsehbare Druckmanu-
skript berücksichtigt. Konkret bedeutet dies, dass aus der komplexen Textgenese
einzelner ‚Aphorismen‘ der Götzen-Dämmerung unterschiedliche Aufzeichnungs-
schichten herausgelöst und tendenziell in einen lesbaren ‚Text‘ überführt werden. Es
ist darauf hinzuweisen, dass hier bewusst von ‚lesbarem‘ und nicht von ‚linearem‘
Text die Rede ist, da bei der beschreibenden Deutung der solcherart konstituierten
Textfassungen die räumliche Dimension des sich auf ihnen manifestierenden
Schreibprozesses sowie die diesen charakterisierenden Überarbeitungsschritte wie
Hinzufügungen, Streichungen, Ersetzungen und Umstellungen sowie weitere poten-
tiell semantisch relevante Merkmale der jeweiligen Textur der Handschrift bei der
Deutung besagter ‚Texte‘ mitberücksichtigt werden. Die Resultate der solcherart
erfolgenden Lektüren werden dann der Lektüre des Drucktextes gegenübergestellt
mit dem Ziel, den individuellen Gehalt von dessen Sinngeschehen durch diese Gegen-
überstellung noch eindeutiger hervortreten zu lassen.366

des Entstehungsprozesses macht aus der Interpretation Philologie. Auch wenn der Interpretation
eine noch so rigorose und selbstkritische Lektüre voranging, zählt sie nur als wahrhaft philologische
Lektüre, wenn die Interpretation erkennbar und organisch aus ihr erwachsen ist.“ (Benne 2005,
S. 370)
365 Diese Studie folgt jener Definition dieses Begriffes, die ich selbst bei dessen Einführung in Pichler
2012b, S. 315 geprägt habe: „Bei einem solcherart vorgehenden ‚autoreflexiven Lesen‘ handelt es sich
um einen möglichen Weg, der Theoriegeladenheit, die einer jeden Beschreibungsmethode innewohnt,
zu entsprechen. Die damit einhergehende Praxis öffnet sich in ihrer prinzipiellen Bereitschaft, die
Polyreferentialität von Texten zu akzeptieren, ohne dabei der viel gescholtenen ‚postmodernen‘ Will-
kür zu folgen, einem Textverständnis, das sich durch seine Behutsamkeit und seinen selbstreflexiven
Charakter weder in einen schnöden Positivismus verrennt, noch der reinen Spekulation und Allegorese
anheim gibt.“
366 Siehe zu diesem Fokus auf das letztendlich publizierte Werk auch die noch stärker hermeneutisch
orientierte Argumentation in Detering 2010, S. 16f. Detering plädiert dort aufgrund eines ähnlichen
136 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

In der durch eine solche Kontrastierung möglich werdenden Profilierung der


spezifischen Darstellungsform der jeweiligen ‚Textschicht‘ besteht auch der heuristi-
sche Mehrwert der Berücksichtigung der Textgenese im Zuge einer Lektüre, deren
eigentliches Ziel in der Untersuchung der Bedeutung und Funktion der Darstellungs-
formen eines in seiner Textualität ernst genommenen philosophischen Werkes für
dessen philosophischen Gehalt besteht. Primär ist diese Berücksichtigung der Genese
zwar dem im Kapitel 1.1. entwickelten und dieser Studie zugrunde liegenden Text-
begriff geschuldet. Ihr heuristischer Wert geht jedoch über diese aus der Begrifflich-
keit dieser Untersuchung folgende Notwendigkeit hinaus, da ein solches Procedere
ein adäquates Mittel darstellt, ein Grundproblem zu lösen, mit dem jede deutende
Lektüre eines auf ästhetische Darstellungsmittel zurückgreifenden Textes konfrontiert
ist. Es handelt sich dabei um den Sachverhalt, dass in auf ästhetische Darstellungs-
mittel zurückgreifenden Texten bereits die Konstitution des für die Deutung eines
solchen Textes unabdingbaren Vorverständnisses, das in nichtästhetischen Ge-
sprächssituationen und Sprachgebilden über diese kennzeichnende Kontexte prag-
matisch gestiftet wird, auf die Deutung eben jener Darstellungsmittel zurückgreifen
muss, die durch dieses Vorverständnis erst erfasst werden sollen. Christoph Menke
hat dieses zumeist in den Begriff des hermeneutischen Zirkels gebannte Geschehen
auf Basis einer semiotischen Terminologie folgendermaßen reformuliert:

An die Stelle der im Kontextwissen von nicht-ästhetischen Interpreten begründeten automati-


schen Signifikantenbildung tritt im ästhetischen ihr immanenter Nachvollzug. Nicht Subsumati-
on unter kontextuell erschlossene Bedeutungen, sondern schrittweise Wiederholung des selegie-
renden Konstitutionsprozesses der Signifikanten aus ihrem Material bestimmt den Modus dieses
ästhetischen Vollzugs.367

Der sich aus diesem Prozess ergebenden Problematik kann durch die zuvor beschrie-
bene Methode des kontrastierenden Lesens entgegengesteuert werden, in dem durch

Werkverständnisses wie demjenigen der vorliegenden Studie dafür, Nietzsches veröffentlichte Schrif-
ten zum Ausgangspunkt der deutenden Beschäftigung mit seinem Spätwerk zu machen und zu deren
Verdeutlichung den späten Nachlass heranzuziehen. In Betreff des Umgangs mit demselben bleibt er
jedoch verhältnismäßig vage, wenn er bloß darauf verweist, dass „[d]ie Notizen und Varianten, die
diese Schriften [= die veröffentlichten; A.P.] vorbereiten oder begleiten, […] so weit einbezogen
[werden], wie sie philologische Auskunft über Entstehungsgeschichte und mögliche Wirkungsabsich-
ten geben“ (Detering 2010, S. 16).
Von diesem Umgang mit Nietzsches Nachlass unterscheidet sich die vorliegende Studie nicht nur
durch ein rigoroseres Vorgehen bei der Ausweisung potentiell für die Deutung der Götzen-Dämmerung
plausibler Nachlasstexte – sie wird sich fast ausschließlich auf frühere Fassungen von letztendlich in
GD eingegangen Texten beschränken –, sondern auch dadurch, dass besagte frühere Fassungen eben
nicht in ihrer editionsgeschichtlichen und poeseologischen Relevanz untersucht werden, sondern das
sich in ihnen manifestierende semantische Geschehen demjenigen der letztendlich publizierten Fas-
sung zu deren weiteren Profilierung gegenübergestellt wird.
367 Menke 2012[1991], S. 74.
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 137

sie ein Kontextwissen gestiftet wird, das unmittelbar aus dem Entstehungsprozess
eines Textes bzw. seiner Konfrontation mit eben diesem entspringt: Durch die Gegen-
überstellung unterschiedlicher Fassungen eines Textes wird es möglich, zentrale
semantische Momente der jeweiligen Fassung über den Vergleich wahrzunehmen und
in ihrer Bedeutung für das Gesamtgeschehen besagter Textfassung zu untersuchen.
Durch den Fokus auf die jeweilige Textfassung entgeht ein solches Vorgehen
auch einem Vorwurf, der genetischen Zugängen von Seiten der philosophischen
Ästhetik häufig gemacht wird. Es handelt sich dabei um die Kritik, dass solche
Ansätze, wie es in Adornos Ästhetischer Theorie heißt, das „Kunstwerk[ ] mit seiner
Genese“368 verwechseln. Dieser ansonsten berechtigte Einwand trifft die in dieser
Studie praktizierten kontrastierenden Lektüren nicht, da diese in ihrem Zuge isolierte
Textschichten eben wie ein für sich stehendes ‚Sprachkunstwerk‘ behandeln.369
Dasselbe kontrastierende Verfahren wird diese Studie auch in ihrem Umgang mit
den durch die umfangreiche Quellenforschung freigelegten Intertexten praktizieren.
Diese werden hier dementsprechend nicht als vom Autor verwertete und tradierte
Wissensquellen erachtet, wie dies insbesondere in der traditionellen Einflussfor-
schung geschieht. Auch hier bildet abermals die Lektüre des „Hypertextes“, sprich die
Druckfassung der Erstausgabe der Götzen-Dämmerung, den Ausgangspunkt besagten
kontrastierenden Verfahrens.370 Als Plausibilitätskriterium für die Auswahl eines
bestimmten „Hypotextes“ gilt dabei der Nachweis, dass Nietzsche besagten Text

368 Adorno 1973, S. 267.


369 Das vollständige ‚Argument‘ Adornos gegen einen genetischen Zugang zu Kunstwerken lautet:
„Die Verwechslung des Kunstwerks mit seiner Genese, so als wäre das Werden der Generalschlüssel
des Gewordenen, verursacht wesentlich die Kunstfremdheit der Kunstwissenschaften: denn Kunst-
werke folgen ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genesis verzehren. Spezifisch ästhetische Erfahrung,
das sich Verlieren an die Kunstwerke, ist um deren Genese unbekümmert. Deren Kenntnis ist ihr so
äußerlich wie die Geschichte der Dedikation der Eroica dem, was musikalisch darin geschieht. Die
Stellung authentischer Kunstwerke zur außerästhetischen Objektivität ist weniger darin zu suchen,
daß diese auf den Produktionsvorgang einwirkte. Das Kunstwerk ist in sich selbst eine Verhaltens-
weise, die auf jene Objektivität noch in der Abkehr reagiert.“ (Adorno 1973, S. 267) Wie die Stelle belegt,
geht es Adorno primär darum, darauf zu verweisen, dass dasjenige Geschehen im Kunstwerk, das
dieses zum Objekt einer ästhetischen Erfahrung werden lässt, Ausdruck von dessen Formgesetz ist und
daher über den Nachvollzug desselben zu erfassen ist. Genau auf die Herausarbeitung der jeweiligen
Formgesetze der einander gegenübergestellten Textschichten, bei denen es sich mit Ausnahme der
publizierten Fassung um ein aus dem Schreibprozess gerechtfertigtes, heuristisches Konstrukt han-
delt, zielt auch das oben explizierte kontrastierende Lektüreverfahren ab. Abgesehen davon geht aus
der soeben zitierten Passage eindeutig hervor, dass Adornos Text mit dem Begriff der Genese nicht auf
Textgenese, sondern auf die Rückführung eines Kunstwerkes auf seinen soziokulturellen Kontext – die
außerästhetische Objektivität – verweist.
370 Ich folge hier der Begrifflichkeit von Genette 1993. Dieser hat dort fünf Typen „transtextueller“
Beziehungen unterschieden, von denen hier nur diejenige der „Hypertextualität“ interessiert. Unter
einem „Hypertext“ versteht Genette „jeden Text, der von einem früheren Text durch eine spezifische
Transformation […] oder durch eine indirekte Transformation (durch Nachahmung) abgeleitet wurde“
(Genette 1993, S. 18). Diese früheren Texte bezeichnet Genette als „Hypotexte“.
138 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

kannte und ihn kurz vor oder zum Zeitpunkt der Verfassung der Götzen-Dämmerung
gelesen hat. Semantisch oder syntaktisch ähnlich gestaltete Texte aus der Geistes-
geschichte, die Nietzsche jedoch nachgewiesenermaßen nicht bekannt waren, werden
nicht berücksichtigt. Dieses durchweg positivistische Auswahlkriterium ermöglicht
es, die nun einsetzende Lektüre auf die wichtigsten Intertexte der Götzen-Dämmerung
zu beschränken und nicht an dem in der internationalen Nietzscheforschung mitt-
lerweile überhandnehmenden und als regelrechter Wahn zu bezeichnendem Vor-
gehen, Nietzsches eigenes Denken auf seine Quellen zu reduzieren, teilzunehmen.371
An diesem Punkt taucht wieder jene Kategorie der Literaturtheorie auf, deren
Marginalisierung in der vorliegenden Studie bereits im Kapitel 1.2. offengelegt wurde.
Die Rede ist hier vom ‚Autor‘, von welchem in besagtem Kapitel gesagt wurde, dass er
in Anbetracht der dort entwickelten texttheoretischen und philosophischen Grund-
annahmen in dieser Studie nur sehr eingeschränkt Beachtung finden werde, unter
anderem dadurch, dass textexterne Phänomene wie seine Biographie gar vollständig
für die Lektüre der zu untersuchenden Texte vernachlässigt werden. Wie der zuvor
entwickelte Umgang mit den für die Deutung der Götzen-Dämmerung potentiell rele-
vanten Hypotexten belegt, verzichtet auch die vorliegende Studie nicht vollständig
auf die Kategorie des Autors, da dieser als kohärenzstiftende Klammer eines Werk-
zusammenhanges erachtet wird, ohne dass derartig jedoch behauptet wird, dass
besagte Klammer nicht nur den Werkzusammenhang stifte, sondern zugleich absolu-
te Werkherrschaft besäße.372 Nur in der erstgenannten Funktion sieht die vorliegende

371 Zur Kritik an dem Umgang der bisherigen Nietzscheforschung mit seinen Quellen aus einer an der
literaturwissenschaftlichen Intertextualitäts-Debatte teilhabenden Perspektive siehe Zittel 2011 [2000],
S. 26–73 sowie die kritische Auseinandersetzung mit diesem in Hödl 2009, S. 2–11.
Auch Werner Stegmaier hat in seiner Einführung zu Nietzsche besagten Reduktionismus auf der
Grundlage einer von Nietzsche selbst entwickelten Unterscheidung zwischen Quellenschriftstellern
und einem auf sie als ‚überlegenen Kopf‘ zurückgreifenden Autor (vgl. NL 1868, 93[3] und NL 1868, 93
[34], KGW I/5, S. 38f.), als welchen Stegmaier Nietzsche versteht, in Frage gestellt: „Lektüren sind bei
solchen Köpfen nicht schon ‚Einflüsse‘, wie auch Nietzsche-Quellenforscher leicht unterstellen; was
die Metapher ‚Einfluss‘ (‚influence‘) hier bedeutet müsste eigens untersucht werden.“ (Stegmaier 2011,
S. 86)
Statt auf ein derartiges Genie-Argument zurückzugreifen, begegnet die vorliegende Studie besag-
tem Problem mit dem im Lauftext beschriebenen kontrastierenden Verfahren. Der in diesem Procedere
vorherrschende Fokus auf die im jeweiligen Hyper- und Hypotext aus dem Zusammenspiel von Form
und Inhalt resultierende höchst individuelle Sinnkonstitution überträgt die explizite Frage nach
vermeintlichen Einflüssen auf die Textebene und verlässt so das mentalistische Paradigma. Letzt-
endlich ist es in Anbetracht der für Nietzsches Texte im Zuge dieser Studie bereits mehrfach freigeleg-
ten Kontextsensibilität höchst unwahrscheinlich, dass in diesen auch im Falle einer wortwörtlichen
Übernahme einer Passage aus einem vermeintlichen Quellentext besagter Passage derselbe Gehalt
zukommt wie in ihrem Ursprungskontext. Ob dem tatsächlich so ist, kann jedoch nur im Zuge der
jeweiligen Lektüre herausgestellt werden.
372 Siehe zu dieser Form der Stiftung eines Werkzusammenhanges neben den im Kapitel 1.1. behan-
delten editionsphilologischen und texttheoretischen Arbeiten von Martens auch Detering 2012, S. 13f.
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 139

Studie die Bedeutung des Autors für die in den nächsten Kapiteln durchgeführte
Lektüre.
In Anknüpfung an die Resultate des Kapitels 2.1.2. soll hier nun auch die im
Kapitel 1.2. aufgrund mangelnden ‚Vorwissens‘ über die Spezifika von Nietzsches
Schreibweise noch nicht durchführbare Bestimmung des Umgangs mit den ‚Stimmen‘
in Nietzsches Texten erfolgen. Wie die Rekonstruktion von Nietzsches bevorzugten
Darstellungsmitteln gezeigt hat, charakterisieren sich seine späten Texte durch den
Einsatz zahlreicher von stärker szientifisch ausgerichteten Formen der Philosophie
abgelehnten Darstellungsformen. Zu diesen zählen unter anderem die innige Ver-
schränkung von Form und Inhalt, die Figurengestaltung sowie der Einsatz einer
Vielzahl von rhetorischen Figuren und Tropen. Nietzsches späte Texte partizipieren
dementsprechend sehr stark an traditionell der ‚schönen Literatur‘ zugeschriebenen
Darstellungsweisen. Wie unlängst Heinrich Detering gezeigt hat, kulminiert dieser
Rückgriff auf Darstellungsformen der Literatur in Nietzsches letzten Texten in einer
sehr hohen Frequenz der Verwendung von Ausdrücken aus der Wortfamilie des
Erzählens.373 Nietzsches späte Texte greifen also nicht nur formal auf klassisch
narrative Elemente zurück, sondern artikulieren und reflektieren diesen Tatbestand
auch explizit.374 Zur Markierung dieses Sachverhaltes wird diese Studie in Bezug auf
die Verwendung der 1. Person Singular des Personalpronomens weiterhin die Wen-
dungen ‚intratextuelles‘ bzw. ‚Sprecher-Ich‘ gebrauchen. Daraus folgt auch, dass in
dieser Studie jegliche Verwendung des Eigenamens ‚Nietzsche‘ bis zur eigentlichen
Klärung der Frage nach der interpretatorischen Valenz des Autors für sein Werk als
Metonymie zu verstehen ist. Sollte sich im Zuge dieser Lektüre herausstellen, dass
auch die Götzen-Dämmerung als Narrativ im narratologischen Sinne zu verstehen ist,
würde es sich anbieten, an die in der gegenwärtigen Erzählforschung gängige Aus-
differenzierung der ehemals im Begriff des ‚point of view‘ zusammengefassten Kate-
gorien des Erzählens in Modus und Stimme anzuknüpfen, wie sie von Matías Martínez
und Michael Scheffel in Anknüpfung an die gegenwärtige Narratologie ausgearbeitet
wurden.375
Laut diesem Standardwerk der zeitgenössischen Erzähltheorie verhandelt diese
in der Kategorie des Modus, Fragen nach der Mittelbarkeit und Perspektivierung des
Erzählten und differenziert diese mit Hilfe zweier Leitfragen in zwei Subkategorien:

373 Siehe dazu abermals Detering 2010, insbesondere S. 18f., wo es unter anderem heißt: „Vom
Erzählen ist in Nietzsches letzten Texten auffallend häufig die Rede, so beiläufig wie ostinat. Spätestens
vom Antichrist an kehrt das Wort geradezu leitmotivisch wieder“ (Detering 2010, S. 18). Da die Götzen-
Dämmerung bekannterweise vor Der Antichrist abgeschlossen wurde, gilt es, die Gültigkeit dieser These
Deterings’, für selbige bei deren Lektüre erst zu bestätigen.
374 Detering Studie geht letztendlich über dieses enge narratologische Verständnis der ‚Erzählung‘
hinaus, indem sie sich auch den von Lyotard entwickelten kultursemiotischen Narrativ-Begriff, im
Sinne von grand récits, zu eigen macht. Vgl. Detering 2010, S. 19.
375 Vgl. Martínez/Scheffel 2009 [1999].
140 2.1. Vorraussetzung oder warum wie zu lesen sei

Distanz (Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?) und Fokalisierung (Aus welcher
Sicht wird erzählt?).376
Die Kategorie der Stimme nimmt hingegen die zweite aus der Ausdifferenzierung
des ‚point of view‘ sich ergebende Frage – ‚wer spricht?‘ – auf. Sie behandelt also den
Akt des Erzählens selbst und untersucht, „wie individuell und mit welchen Kom-
petenzen […] eine narrative Instanz im Sinne der fiktiven ‚Person‘ eines Erzählers
gestaltet, in welches zeitliche und ontologische Verhältnis [… ein] ‚Erzähler‘ zur
erzählten Geschichte [ge]setzt und ob […] nur implizit oder auch explizit eine fiktive
Kommunikation zwischen ‚Erzähler‘ auf der einen und ‚Hörer‘ bzw. ‚Leser‘ auf der
anderen Seite“377 entworfen wird. Diese Möglichkeiten bedingen die Unterteilung der
Kategorie ‚Stimme‘ in folgende Subkategorien: 1.) Zeitpunkt des Erzählens, 2.) Ort des
Erzählens, 3.) Stellung des Erzählers zum erzählten Geschehen, 4.) Subjekt und
Adressat des Erzählens.378
Sollte sich im weiteren Verlauf dieser Studie die Vermutung bekräftigen, dass
auch die Götzen-Dämmerung in hohem Grade auf narrative Mittel zurückgreift, wird
zu fragen sein, inwiefern sich der Einsatz dieser Mittel auf den genuin philosophi-
schen Gehalt des Buches auswirkt.
Dieses Kapitel und somit die explizite Methodenreflexion dieser Studie abschlie-
ßend ist hier noch einmal auf jene Einschränkung einzugehen, die bereits in der
Einleitung kurz angesprochen worden ist. Es handelt sich dabei um die Tatsache, dass
die vorliegende Studie nur einem ausgewählten Kapitel aus der Götzen-Dämmerung,
den Abschnitt „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“, eine Detailuntersuchung widmen
wird, die sich an signifikanten Stellen einer Satz-für-Satz-Lektüre annähert, während
der Rest des Textes in einer den Vorgaben einer „Poeseologie des philosophischen
Schreibens“ folgenden überblicksartigen Manier durchlaufen wird.
Neben den in der Einleitung bereits genannten Gründen ist die Auswahl besagten
Kapitels insbesondere durch den Sachverhalt bedingt, dass in diesem die im Kapi-
tel 2.1.2. herausgearbeiteten Spezifika von Nietzsches Denken in einer den gängigen
Deutungen konträren Art und Weise kulminieren: Dieses bietet nicht eigentlich einen
Aufriss von Nietzsches finaler epistemologischer Position, sondern führt in sich die
bei Nietzsche stets miteinander verwundenden moral-, sprach- und erkenntniskriti-
schen Probleme in einer formal höchst individuellen Art und Weise zusammen. Das
Kapitel eignet sich daher nicht nur zur Freilegung der von der philosophischen
Tradition stark abweichenden Denkbewegung von Nietzsches später Philosophie,
sondern erlaubt es, die diese Abweichung erst eigentlich bedingende spezifische
Darstellungsform unter beständigem Rückbezug auf den angesprochenen Problemho-
rizont nachzuzeichnen. Dieser ist in besagtem Kapitel weitaus präsenter, als dies in

376 Siehe zu diesen beiden Subkategorien Martínez/Scheffel 2009 [1999], S. 47–67.


377 Martínez/Scheffel 2009 [1999], S. 69.
378 Vgl. Martínez/Scheffel 2009 [1999], S. 67–89.
2.1.3. Methodenreflexion II: Die Lektüremethode des autoreflexiven Lesens 141

den anderen Kapiteln des Buches der Fall ist, was auf die Tatsache zurückzuführen
ist, dass in GD Vernunft mit der Vernunft einer der zentralen Begriffe der abendlän-
dischen Geistesgeschichte ins Zentrum des Interesses rückt, der gerade durch seine
kritische Hinterfragung in besagtem Kapitel die komplexe Verwobenheit der Nietz-
sches Spätwerk leitmotivisch durchziehenden Problemata beschreibend aufzulösen
erlaubt.
Abgesehen davon war es notwendig, bei der Auswahl des detaillierter zu lesen-
den Kapitels nicht nur die leitenden Fragestellungen der vorliegenden Studie, son-
dern auch die eigenen texttheoretischen Vorgaben zu berücksichtigen: Das letztend-
lich ausgewählte Kapitel sollte nicht nur repräsentativ für das Gesamtgeschehen der
Text- und Denkbewegung der Götzen-Dämmerung sein, sondern auch am Anfang des
Werkes positioniert sein, da nur so zu verhindern war, dass das hier entwickelte
Prinzip der linear-chronologischen Lektüre zum bloßen Schlagwort verkümmert.
Auch dieser Forderung kommt GD Vernunft, bei dem es sich um das dritte Kapitel der
Götzen-Dämmerung handelt, entgegen.
Für die im nächsten Kapitel nun einsetzende Beschäftigung mit der Götzen-
Dämmerung folgt aus dem soeben Dargelegten, dass diese nicht direkt bei der Lektüre
von GD Vernunft einsetzen wird, sondern erst durch die Beschäftigung mit den diesem
in der Götzen-Dämmerung vorausgehenden Kapiteln diese den hier entwickelten Vor-
gaben entsprechend vorbereiten wird (Kap. 2.2.2.). Des Weiteren wird die Interpretati-
on der Götzen-Dämmerung auch nicht nach Durchführung der Lektüre von GD Ver-
nunft (siehe Kap. 2.2.3.) einfach abrupt enden, sondern im Zuge derselben
aufgetauchte Problemkonstellationen im Anschluss daran durch den Gesamttext wei-
terverfolgen (Kap. 2.2.4. und 2.2.5.). Es ist zu hoffen, dass auf diesem Wege die vor-
liegende Studie trotz des Fokus auf ein einzelnes Kapitel ihren eigenen methodologi-
schen Ansprüchen gerecht wird.
2.2. Die Götzen-Dämmerung
2.2.1. Entstehungs- und editionsgeschichtliche Hintergründe der
Götzen-Dämmerung

Die Götzen-Dämmerung zählt, obwohl sie erst nach Nietzsches geistigem Zusammen-
bruch am öffentlichen Buchmarkt erhältlich war – am 24. Januar 1889, um genau zu
sein –, zum Korpus der von Nietzsche selbst veröffentlichten und somit autorisierten
Schriften. Nietzsche selbst erhielt am 24. November 1888 die ersten vier Exemplare
des druckfrischen Buches, nachdem am 13. November der Druck abgeschlossen wor-
den war.379
Wie bereits diese Datierungen zeigen, ist die Entstehungsgeschichte des Buches
sehr gut dokumentiert. Die Erstellung eines vollständigen dossier génétique steht
allerdings noch aus und wird – obwohl es sich dabei um ein dringendes Desiderat der
Forschung handelt – auch von dieser Studie nicht geliefert werden.380 In Anknüpfung
an richtungsweisende Aufsätze von Mazzino Montinari können jedoch folgende
Schritte in der Textgenese der Götzen-Dämmerung als gesichert ausgewiesen wer-
den:381
– Die Götzen-Dämmerung ist zu einem großen Teil aus dem Material hervorgegan-
gen, das Nietzsche für das geplante Buch Der Wille zur Macht bis Sommer 1888
verfasst und gesammelt hat.382 Laut Montinari wurde der letzte Plan zu diesem
Buchprojekt am 26. August 1888 niedergeschrieben. Auf einem losen Blatt, des-
sen Vorderseite noch den Titel „Umwerthung aller Werthe“ trägt, findet sich

379 Vgl. Sommer 2012, S. 198f.


380 Für die Erarbeitung eines solchen Dossiers liegt es nahe, den Abschluss der Neuedition des späten
Nachlasses in der KGW IX abzuwarten, auf deren bisherige ‚textgenetische‘ Rekonstruktionen auch
diese Studie zurückgreifen wird. Siehe dazu die Querverweise auf der Nachbericht-CD-ROM der KGW
IX/9.
381 Wie bereits in der Einleitung erwähnt (vgl. Kap. 0.), hat die Götzen-Dämmerung als für sich
stehendes Werk in der Nietzscheforschung bis vor kurzem nur eine bescheidene Rolle gespielt,
obwohl Nietzsche selbst sie als das Horsd’œuvre der nicht mehr abgeschlossenen ‚Umwertung‘
verstanden hat. Repräsentativ für den lange Zeit vorherrschenden Umgang mit dem Text ist der
Sachverhalt, dass der Nietzschebiograph Curt Paul Janz in seiner an die zweitausend Seiten umfas-
senden Nietzsche-Biographie der Götzen-Dämmerung nicht einmal vier Seiten widmet (vgl. Janz 1999
[1978], Bd. 2, S. 623–626). Dementsprechend verwundert es nicht, dass sich die bisherige einschlägige
Forschungsliteratur zur GD auf die begriffs- oder problemgeschichtliche Auseinandersetzung mit
auch in anderen Schriften Nietzsches zentralen ‚Termini‘ des Textes oder auf die Einordnung
desselben ins Gesamtwerk bzw. in die Schriften von 1888 beschränkt hat.
382 Nicht aus diesem Materialkonvolut stammt das Kapitel „Was ich den Alten verdanke“, das Nietz-
sche nach dem 15. Oktober 1888 aus dem „Ur-Ecce-homo“ (vgl. W II 9, S. 130–106 und KSA 14, S. 464)
herausnahm und in die Götzen-Dämmerung integrierte. Die Varianten dieser Fassung sind bis dato nur
teilweise im vierzehnten Band der KSA publiziert worden.
2.2.1. Entstehungs- und editionsgeschichtliche Hintergründe der Götzen-Dämmerung 143

neben einer Reihe von Titel-Entwürfen (vgl. NL 1888, 19[5], KSA 13, S. 543) auch
ein Kapitel-Verzeichnis für die projektierte Schrift:
„1. Wir Hyperboreer.
2. Das Problem des Sokrates.
3. Die Vernunft in der Philosophie.
4. Wie die wahre Welt endlich zur Fabel wurde.
5. Moral als Widernatur.
6. Die vier großen Irrthümer.
7. Für uns – wider uns.
8. Begriff einer décadence-Religion.
9. Buddhismus und Christenthum.
10. Aus meiner Ästhetik.
11. Unter Künstlern und Schriftstellern.
12. Sprüche und Pfeile.“ (KSA 14, S. 397)
Wie Montinari gezeigt hat, finden sich die Nummern 2, 3, 4, 5 und 6 in der
gleichen Reihenfolge und mit denselben Titeln in der Götzen-Dämmerung, welche
mit den hier noch als Nummer 12 gelisteten „Sprüche und Pfeile“ eröffnet. Die
„Streifzüge eines Unzeitgemäßen“ sind hingegen aus den Nummern 10 und 11
hervorgegangen.383 Die „Nummern 1, 7, 8, 9 aber sind die Titel, welche man –
gestrichen – auch heute noch im Druckmanuskript des Antichrist lesen kann“384.
– Da Nietzsche noch Anfang September eine erste Fassung der Vorrede zur damals
noch Müssiggang eines Psychologen betitelten Götzen-Dämmerung sowie am
3. September ein Vorwort zur Umwerthung der Werthe verfasste, schließt Montina-
ri, dass mit spätestens diesem Datum der Plan der Veröffentlichung eines Buches
mit dem Titel Der Wille zur Macht ad acta gelegt wurde. An dessen Stelle tritt
primär die Veröffentlichung eines ‚Auszuges‘ (vgl. NL 1888, 15[9], KSA 13, S. 543)
seiner Philosophie – der späteren Götzen-Dämmerung – sowie eines neuen Haupt-
werkes, dass den Arbeitstitel Umwerthung aller Werthe trug und aus vier Büchern
bestehen sollte, dessen erstes – Der Antichrist – durch die Entnahme der Kapitel 1,

383 Vgl. Montinari 1982, S. 114.


384 Montinari 1982, S. 114. – In seiner Einführung von 1975 (dt. 1991) ist Montinari bei der Beschrei-
bung dieses ersten Druckmanuskriptes um einiges ausführlicher als 1982 in Nietzsche lesen und 1988 in
dem im Kommentarband zur KSA (KSA 14, S. 383–400) wiederabgedruckten diesbezüglichen Ab-
schnitt (vgl. Montinari 1991, S. 119f.). Montinari spricht dort allerdings von einem „Kompendium“ und
nicht wie 1982 und dann abermals 1988 von dem Nietzsche selbst dem Konvolut zugeschriebenen Titel
„Auszug“. In diesem Falle erscheint es sinnvoll, Montinaris späteren Text als den gültigen zu erachten.
Dies legt auch eine Äußerung von Karl Pestalozzi aus dem Vorwort zu der erst 1991 auf Deutsch
erschienenen, jedoch bereits 1975 in Italien veröffentlichten Einführung nahe: „Aber das Buch ist kein
Vermächtnis, dazu fehlt ihm die Endgültigkeit. Wie es selber ein früheres überholt, so ging Montinaris
Denkarbeit an Nietzsche mit seiner philologischen weiter, wovon der Aufsatzband Nietzsche lesen von
1982 Rechenschaft ablegt, der an manchen Punkten hier nur Angedeutetes ausführt.“ (Pestalozzi 1991,
S. V06)
144 2.2. Die Götzen-Dämmerung

7, 8 und 9 aus dem ‚Auszug‘-Projekt zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem Drittel


abgeschlossen war.385

Bereits am 7. September 1888 sandte Nietzsche ein Druckmanuskript an seinen Ver-


leger Naumann, welches er in einem ebenfalls an diesem Tag verfassten Brief an
denselben wie folgt kommentierte:386

Sehr geehrter Herr Verleger,


dies Mal werde ich Ihnen eine Überraschung machen. Sie denken gewiß, daß wir mit Drucken
fertig sind: aber siehe da! Soeben geht das allersauberste Ms. an Sie ab, das ich je Ihnen gesandt
habe. Es handelt sich um eine Schrift, welche in Hinsicht auf Ausstattung vollkommen der
Zwilling zu dem „Fall Wagner“ bilden soll. Ihr Titel ist: Müssiggang eines Psychologen. Ich habe
es nöthig, sie jetzt noch herauszugeben, weil wir Ende nächsten Jahres wahrscheinlich daran
gehen müssen, mein Hauptwerk die Umwerthung aller Werthe zu drucken. Da dasselbe einen
sehr strengen und ernsten Charakter hat, so kann ich ihm nichts Heiteres und Anmuthiges hinten
nach schicken. Andrerseits muß ein Zeitraum zwischen meiner letzten Publikation und je-
nem ernsten Werke liegen. Auch 〈mö〉chte ich nicht, daß es unmittelbar auf die übermüthige
farce gegen Wagner folgte. –
Diese Schrift, deren Umfang nicht beträchtlich ist, kann vielleicht auch in dem Sinne wirken, die
Ohren etwas für mich aufzumachen: so daß jenes Hauptwerk nicht wieder solchem absurden
Stillschweigen begegnet wie mein Zarathustra. – Also in Allem gleich wie die Schrift über
Wagner: auch gleiche Zahl der Exemplare. (Bf. an Constantin Georg Naumann vom 07.09.1888,
KGB III/5, Bf. 1103)

In Anbetracht derartiger Äußerungen konstatiert Montinari in Hinblick auf Nietzsches


späten Nachlass lakonisch: „Aus den Aufzeichnungen zum ‚Willen zur Macht‘ sind
die Götzen-Dämmerung und Der Antichrist entstanden; der Rest ist – Nachlaß“387.
Aufgrund dieser Entstehungsgeschichte, insbesondere der raschen Abfolge ver-
schiedener Werkpläne im Sommer/Herbst 1888, ist in der Forschung die Frage auf-
geworfen worden, ob man den von Nietzsche selbst noch veröffentlichten oder zur
Veröffentlichung vorbereiteten sechs Schriften von 1888 überhaupt Werk-Status zu-
sprechen kann. Exemplarisch für die sich in dieser Frage artikulierende Skepsis steht
eine Äußerung von Giorgio Colli aus dem Nachwort zu dem die späten Schriften
beinhaltenden KSA-Band: „Bei der zeitlichen Dichte […] ist es nur natürlich, daß diese
Schriften im Vergleich zu den früheren, auch in ihrem äußeren Aufbau lange über-
legten Werken an Umfang verlieren. Die Ungeduld zu publizieren stumpft das archi-
tektonische Gefühl ab.“ (KSA 6, S. 449)

385 Vgl. Montinari 1982, S. 114f.


386 Dieses noch den Titel Müssiggang eines Psychologen tragende Manuskript enthielt die Kapitel GD
Sprüche, GD Sokrates, GD Vernunft, GD Fabel, GD Moral, GD Irrthümer und GD Verbesserer. GD
Deutschen folgte am 18. September, GD Streifzüge 32–44 Anfang/Mitte und GD Alten Ende Oktober.
Vgl. Sommer 2012, S. 198f.
387 Vgl. Montinari 1982, S. 118.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 145

Diese Hypothese, die in unmittelbarer Nähe zu den in der Einleitung bereits


angesprochenen Spekulationen über Nietzsches Krankheit bzw. – populär ge-
sprochen – über seinen ‚Wahnsinn‘ steht, ist regelmäßig zurückgewiesen worden.388
So zum Beispiel von Andreas Urs Sommer, der auf Basis der zahlreichen Überarbei-
tungsspuren der verschiedenen Entwürfe und Fassungen der späten Schriften einen
sich in diesen artikulierenden ‚Willen zum Werk‘ sieht: „Das alles läuft auf das
Plädoyer hinaus, gerade die Schriften des Jahres 1888 als Bücher und damit als sehr
bewusste Kompositionen von Texten und Gedanken zu würdigen.“389
Dass Sommer in diesem Punkte Recht zu geben ist und es sich bei der Götzen-
Dämmerung dementsprechend um ein Werk Nietzsches handelt, das seinen Schriften
vor 1888 weder in seinem philosophischen Gehalt noch in dessen komplexer Darstel-
lungsform nachsteht, wird die nun einsetzende Lektüre des Buches zeigen.

2.2.2. „Meine[ ] wesentlichsten philosophischen


Heterodoxien“. Philosophische Methoden und Leitmotive
der Götzen-Dämmerung

2.2.2.1. Methoden und Leitmotive I: Heterodoxes Denken

Es giebt noch etwas Curioses zu melden. Ich habe vor wenig Tagen Herrn C. G. Naumann wieder
ein Manuscript zugesandt, das den Titel führt „Müssiggang eines Psychologen“. Unter diesem
harmlosen Titel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusammenfassung meiner
wesentlichsten philosophischen Heterodoxien: so daß die Schrift als einweihend und appetitma-
chend für meine Umwerthung der Werthe (deren erstes Buch beinahe in der Ausarbeitung fertig
ist) dienen kann. Es ist viel darin von Urtheilen über Gegenwärtiges, über Denker, Schriftsteller
usw. Der letzte Abschnitt heißt Streifzüge eines Unzeitgemäßen; der erste Sprüche und Pfeile. Im
Ganzen sehr heiter, trotz sehr strengem Urtheile ( – es scheint mir, unter uns, daß ich erst in diesem
Jahre deutsch – will sagen französisch – schreiben gelernt habe). Capitel, außer den genannten:
das Problem des Sokrates; die „Vernunft“ in der Philosophie. Wie die „wahre“ Welt endlich zur
Fabel wurde. Moral als Widernatur. Die vier großen Irrthümer. Die „Verbesserer“ der Menschheit.
Es sind wirkliche psychologica und vom Unbekanntesten und Feinsten. ( – Den Deutschen werden
manche Wahrheiten gesagt, insbesondere wird meine geringe Meinung über die reichsdeutsche
Geistigkeit begründet) (Bf. an Heinrich Köselitz vom 12.09.1888, KGB III/5, Bf. 1105).

388 Zur Ambivalenz der ersten Reaktionen auf die GD siehe Reich 2012, S. 747–769.
In der in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Nachwort von Giorgio Colli verfassten Einleitung zur
spanischsprachigen Ausgabe der Götzen-Dämmerung bestimmt deren Übersetzer Andrés Sánchez
Pascual diese in einer Colli regelrecht entgegengesetzten Art und Weise, wenn er abschließend
konstatiert: „Desde el punto de vista del contenido este libro aborda la totalidad de los problemas
estudiados por Nietzsche a lo largo de sus incursiones por los campos del pensamiento, también desde
el punto de vista de la forma es un muestrario completo de los ‚estilos‘ en que él llegó a ser maestro.“
(Sánchez Pascual 2013[1973], S. 34f.)
389 Sommer 2009, S. 53.
146 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Diese Stelle aus einem am zwölften September 1888 an Heinrich Köselitz aus Sils
Maria gesandten Brief liefert nur fünf Tage nach der ersten brieflichen Erwähnung der
Götzen-Dämmerung (vgl. Bf. an C.G. Naumann vom 07.09.1888, KGB III/5, Bf. 1103)
einen Selbstkommentar Nietzsches zu dem am siebten September an seinen Verleger
versandten Druckmanuskript, der hier als Ausgangspunkt eines ersten Durchlaufes
durch die Götzen-Dämmerung dienen soll, bündelt er doch zahlreiche der anderen
auch in Briefen geäußerten Autokommentare in einem einzigen Satz. Bei der Aus-
einandersetzung mit dieser Selbstbeschreibung ist allerdings zu bedenken, dass auch
Nietzsches Briefkorrespondenz sich durch die Verwendung jener Kommunikations-
strategien kennzeichnet, die im vorigen Teil dieser Studie in seinen philosophischen
Schriften nachgewiesen worden sind. Auch im Falle seiner Briefe sind daher die
jeweiligen Äußerungen nicht unreflektiert als bare Münze zu nehmen, was nichts
anderes heißt, als dass auch hier die Reichweite der Gültigkeit vermeintlicher werk-
spezifischer Metareferenzen stets an ihrem Referenzobjekt – also dem jeweiligen
Werk – zu überprüfen ist.
Von der Vielzahl der als potentielle Metareferenz lesbaren Äußerungen des Brie-
fes fordert insbesondere die folgende zu einer näheren Betrachtung heraus: „Unter
diesem harmlosen Titel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusam-
menfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien“. Abgesehen da-
von, dass der endgültige Titel alles andere als harmlos ist, obwohl er, wie die
Forschung herausgearbeitet hat, nicht nur jene semantische Dimension der Brachiali-
tät besitzt, die man ihm beim ersten Lesen vielleicht zuordnen würde, springt einem,
nicht zuletzt aufgrund der Unterstreichung, das letzte Wort des Satzes ins Auge, die
Heterodoxien.390
Das Adjektiv ‚heterodox‘ bezeichnet nach dem Brockhaus von 1894–1896 „in der
prot. Kirchensprache jede Abweichung vom angenommenen Lehrbegriffe. Das Fest-
halten an solchen heißt Heterodŏxie.“391
Den mit dem Spätwerk von Nietzsche vertrauten Leser wird an diesem Punkt
mancherlei verwundern: So beschränkt sich die in den Post-Zarathustra-Schriften
zum Ausdruck gebrachte Religionskritik weder auf den Protestantismus, noch führt
sie zur Stiftung theologischer Lehrbegriffe.392 Außerdem mag es irritieren, dass hier –
wenn auch nur implizit über die Begriffsgeschichte – von ‚Lehre‘ in einem potentiell
traditionellen Sinn die Rede ist. In der jüngeren deutschsprachigen Nietzsche-
forschung gibt es eine aus der Beschäftigung mit Also sprach Zarathustra hervor-
gegangene Tendenz, Nietzsches starke „Gegen-Begriffe“393 nicht mehr als Ausdruck

390 Zum Titel, seiner Entstehungsgeschichte und dem Einfluss Köselitzens bei dieser sowie zur
Bedeutung der letztendlich für die Publikation ausgewählten Fassung siehe Sommer 2012, S. 210ff.
391 Brockhaus 1894–1896, Bd. 9, S. 135.
392 Zu Nietzsches Religionskritik in den Schriften von 1888 siehe insbesondere Detering 2010.
393 Über diese schreibt Nietzsche in einem noch nicht in der KGW IX transkribierten Notat vom
Oktober 1888: „Ich habe diese starken Gegen-Begriffe nöthig, die Leuchtkraft dieser Gegen-Begriffe,
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 147

einer solchen Lehre zu lesen,394 an deren Auslegungsresultate auch ich in meiner


ersten Nietzsche-Monographie angeknüpft habe.395 Grundansicht dieser Deutungen
ist, dass Nietzsche in Also sprach Zarathustra „die Kommunikation einer bisher un-
erhörten Philosophie“396 dramatisiere und so eine Handlung inszeniere, „in der ein
mythisch-historischer Religionsstifter teils in Dialogen, teils in Monologen ‚Lehren‘
vorträgt, mit denen er sichtlich scheitert“397.
Werner Stegmaier hat den von ihm zur Beschreibung dieses Sachverhaltes in die
Debatte eingeführten Terminus der ‚Anti-Lehre‘ letztendlich aus dem engen Kontext
der Zarathustra-Lektüre befreit und auf der Grundlage von Nietzsches später ‚Zeichen-
philosophie‘ sowie unter Einbezug von dessen intensiver Auseinandersetzung mit der
im Rahmen der vorliegenden Studie bereits behandelten „F r a g e d e r V e r s t ä n d -

um in jenen Abgrund von Leichtfertigkeit und Lüge hinabzuleuchten, der bisher Moral hieß.“ (NL 1888,
23[3], KSA 13, S. 603) Siehe dazu insbesondere Stegmaier 2011, S. 162ff.
394 Bei den besagten Zarathustra-Lektüren handelt es sich vor allem um Simon 2000, Stegmaier
2000a sowie Zittel 2011 [2000]. Zur Ausweitung des Konzeptes der ‚Anti-Lehre‘ auf Nietzsches gesamtes
spätes Schrifttum siehe Stegmaier 2011, S. 160–170 sowie Stegmaier 2012, S. 15–24.
395 Vgl. Pichler 2010, S. 169–177. – Dort entwickle ich in Anknüpfung an diese jüngere
Deutungstradition – insbesondere an Stegmaiers Konzept der ‚Anti-Lehren‘ (vgl. Stegmaier 1995 und
Stegmaier 2000a) – sowie auf der Basis der leitenden Prämissen der Studie selbst eine Lesart von
Nietzsches starken ‚Gegen-Begriffen‘, die jeglicher ungebrochenen Festschreibung derselben als etwai-
ge unumstößliche ontologische oder erkenntnistheoretische Positionen in Nietzsches später Denkbe-
wegung entgegentritt und im Terminus der ‚virtuellen Ontologie(n)‘ kulminiert. Dieselben werden in
Pichler 2010 im Zuge eines Vergleichs mit der Dekonstruktion von Jacques Derrida näher bestimmt:
„Wie in der Dekonstruktion besteht der erste Schritt der Nietzscheschen Kritik darin, dass sie einem
traditionellen metaphysischen Terminus einen Gegen-Begriff gegenüberstellt und im weiteren Verlauf
der Argumentation durch das Gegeneinander-Ausspielen der Termini den Ausgangsbegriff destruiert.
[…] Da jedoch diese Gegen-Begriffe durch ihre Nähe zum angegriffenen Terminus an dessen metaphy-
sischem Erbe partizipieren, erscheint es so, als ob die Kritik selbst sich innerhalb des metaphysischen
Denkraumes bewegte. Die diskursiven Formationen Nietzsches simulieren also traditionelle theoreti-
sche Formationen.“ (Pichler 2010, S. 173)
Die hier angesprochene ‚Simulation‘ impliziert jedoch nicht, wie von Helmut Heit in einer sehr
kurzen Auseinandersetzung mit besagter Studie behauptet wurde, dass ein solches Denken „ohne
Inhalt sei[ ]“ (Heit 2013, S. 133), sondern dass den ‚Inhalten‘ von Nietzsches Texten epistemologisch
nur eine temporäre Gültigkeit zukommt, wodurch sie sich von Inhalten, verstanden als Wissen, d.h.
als gerechtfertigter wahrer Glaube (vgl. Pichler 2010, S. 169), unterscheiden. Textlinguistisch basieren
die in Nietzsches diskursiven Formationen artikulierten ‚Inhalte‘ auf temporären Setzungen, die in
manchen ihrer bekanntesten Ausprägungen wie zum Beispiel dem Willen zur Macht, in den sie zur
Darstellung bringenden Textstellen durch selbstbezügliche Strategien unterlaufen werden, was – so
zumindest das Verständnis in Pichler 2010 – entweder zu deren Virtualisierung oder Selbstaufhebung
führt und so deren Bezeichnung als bloß ‚virtuelle Ontologien‘ rechtfertigt.
396 Stegmaier 2012, S. 16.
397 Stegmaier 2012, S. 16. – Auch Claus Zittel stellt am Anfang seiner Studie zu Also sprach Zarathus-
tra fest: „Die sogenannten ‚Lehren‘ werden dramaturgisch und stilistisch (via Ironie, Parodie etc.)
sowie durch ihre Abhängigkeit von der fiktiven Gestalt des Zarathustra auf vielfältige Weise in Frage
gestellt“ (Zittel 2011 [2000], S. 20f.).
148 2.2. Die Götzen-Dämmerung

l i c h k e i t “ (vgl. FW 381, KSA 3, S. 633ff.) auf Nietzsches Gesamtwerk ausgeweitet und


sämtliche von Nietzsches späten ‚Gegen-Begriffen‘ – d.s. insbesondere die bereits von
Martin Heidegger als Inbegriff von Nietzsches „Vollendung der Metaphysik“ zusam-
mengedachten „Grundworte“398 ‚Wille zur Macht‘, ‚ewige Wiederkunft des Gleichen‘,
‚Nihilismus‘, ‚Übermensch‘, ‚Gerechtigkeit‘399 sowie die durch diese vollzogene ‚Um-
kehrung des Platonismus‘ – besagten ‚Anti-Lehren‘ zugeordnet. Eine lakonische Cha-
rakterisierung derselben liefert Stegmaier in seiner 2011 erschienen „Einführung“ zu
Nietzsche: „Als paradoxe Lehren sind sie Anti-Lehren, Lehren, die ihre eigene Lehr-
barkeit in Frage stellen.“400
Nun tauchen zwar in der Götzen-Dämmerung von den oben aufgelisteten ‚Grund-
worten‘ mit Ausnahme der ‚Umkehrung des Platonismus‘ sämtliche anderen ‚Termini‘
auf. Insbesondere der Wille zur Macht wird dabei jedoch an keiner der vier Stellen, in
welchen er im Text zum Einsatz kommt (vgl. GD Streifzüge 11, EA 80; GD Streifzüge
20, EA 87; GD Streifzüge 38, EA 109 und GD Alten 3, EA 134), einer eingehenderen
Erörterung unterzogen. Sowohl der intratextuelle Kontext als auch der eigentliche
Inhalt dieser vier Passagen sprechen gegen eine epistemologisch-ontologische Lektü-
re des vermeintlichen nietzscheschen ‚Grundwortes‘ in der Götzen-Dämmerung. Das
belegt schon das erste Auftreten des Willens zur Macht in GD Streifzüge 11. Dieser
‚Aphorismus‘, der letzte von dreien, die im Zuge von Nietzsches Hauptwerkplänen
noch als ein einziger Textabschnitt projektiert waren, der ein den Titel „Zur Physiolo-
gie der Kunst“ tragendes Kapitel hätte eröffnen sollen,401 verhandelt die primär
instinktive, im weiteren Verlauf des Textgeschehens dann ausdifferenzierte Grund-
verwandtschaft von Schauspieler, Mime, Tänzer, Musiker und Lyriker (vgl. GD Streif-
züge 11, EA 79f.), von welchen der Architekt unter anderem durch die Verwendung
des Willens zur Macht abgesetzt wird: „Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über
die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren; Architektur ist eine Art Macht-Bered-
samkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend.“
(GD Streifzüge 11, EA 80)
Der Wille zur Macht trägt hier zur weiteren Profilierung des weder durch „einen
dionysischen, noch einen apollinischen Zustand“ (GD Streifzüge 11, EA 79) charakteri-
sierbaren und so von den anderen Künstlertypen differierenden Architekten bei.402
Dieser zeichne sich insbesondere durch seine Willensstärke aus, was auf eine physio-
psychologische Verwendung des Willens zur Macht hindeutet.

398 Vgl. Heidegger 1961, S. 259f.


399 Zu Heideggers Nietzsche-Interpretation siehe einführend Pichler 2010, S. 21–26 und ausführlich
Stegmaier 2003 sowie zur Vertiefung die dort gelistete Literatur.
400 Stegmaier 2011, S. 163.
401 Vgl. KSA 14, S. 424 und Sommer 2012, S. 428f.
402 Zur Charakterisierung des Architekten in GD Streifzüge 11 siehe auch Sommer 2012, S. 440, der
dort die Unterschiede zu Schopenhauers Verständnis der Architektur herausarbeitet.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 149

Ähnlich verhält es sich in der zweiten Belegstelle des Willens zur Macht in der
Götzen-Dämmerung, einem weiteren ‚Aphorismus‘ aus den „Streifzügen eines Unzeit-
gemässen“. Auch GD Streifzüge 20 bewegt sich im Rahmen einer ‚Physio-Ästhetik‘,
welche in Anbetracht der Texteröffnung als eine potentielle Alternative zu traditionel-
len Formen der moralisch-ästhetischen Urteilsbildung erscheint:

Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivetät ruht alle Aesthetik, sie ist
deren e r s t e Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als
der e n t a r t e n d e Mensch, — damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. — Physiolo-
gisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. (GD Streifzüge 20, EA
87)

Die solcherart aus physiologisch bedingten Affekten resultierenden ästhetischen


Urteile besitzen auch implizite Folgen für die Wertung der einen derartig affizierenden
Fremd-Physiognomien. Bei dem die ganze Persönlichkeit ergreifenden Urteilsprozess
spielt auch der Wille zur Macht, der hier abermals vor dem Hintergrund eines physio-
psychologischen Menschenbildes zu deuten ist, eine gewichtige Rolle: „Man kann die
Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt
niedergedrückt wird, da wittert er die Nähe von etwas ‚Hässlichem‘. Sein Gefühl der
Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz — das fällt mit dem Hässlichen, das
steigt mit dem Schönen…“ (GD Streifzüge 20, EA 87)
Die von der zitierten Passage nahegelegte Lektüre des Willens zur Macht als ein
den Grundwillen des Menschen steigernder und ihn dadurch von der ‚Heerde‘ dis-
tinguierender ‚Instinkt‘ begegnet einem auch in dem später noch genauer gelesenen
Textstück GD Streifzüge 38, welches „M e i n e n B e g r i f f v o n F r e i h e i t “ verhandelt
und dabei die „liberalen Institutionen“ kritisiert: „Man weiss ja, w a s sie zu Wege
bringen: sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene
Nivellirung von Berg und Tal, sie machen klein, feige und genüsslich, — mit ihnen
triumphirt jedesmal das Heerdenthier. Liberalismus: auf deutsch H e e r d e n - V e r -
t h i e r u n g …“ (GD Streifzüge 38, EA 109)
Dass der Wille zur Macht in der Götzen-Dämmerung letztendlich als Metapher für
bestimmte ‚Instinkt‘-Konstellationen und weder als ontologische Bezeichnung ‚allen
eigentlichen Geschehens‘ noch als Überbegriff allen Instinktgeschehens dient, belegt
dann die direkte Zusammenführung des instinktiven Triebgeschehens mit dem Willen
zur Macht in GD Alten 3: „Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich
sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs“ (GD Alten 3, EA 134).
Bei dem in allen vier Belegstellen nur im Singular verwendeten Willen zur Macht
handelt es sich in der Götzen-Dämmerung in Anbetracht dieser Stellen wohl kaum um
eine Metapher für jenen „energetische[n] Impuls allen Geschehens“403, als welche ihn
stark rekonstruktiv vorgehende und dabei fast ausschließlich den von Colli und

403 Gerhardt 2000, S. 351.


150 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Montinari konstituierten Fassungen von Notaten aus dem Nachlass folgende Studien
der jüngeren Nietzscheforschung gedeutet haben. Im Gegensatz zu dieser philolo-
gisch und texthermeneutisch höchst problematischen Praxis hat die Deutung des
‚Begriffes‘ in der Götzen-Dämmerung vielmehr auf der Grundlage einer Rekonstruktion
der im Text vorgebrachten physio-psychologischen ‚Grundthesen‘ unter besonderer
Berücksichtigung der Bedeutung des in diesen eine zentrale Rolle spielenden Instinkt-
begriffes zu erfolgen.404
Was folgt aus diesem kurzen und durchweg unvollständigen Exkurs zu Nietz-
sches ‚Anti-Lehren‘ für die Bedeutung der eingangs zitierten potentiellen Selbst-
beschreibung der Götzen-Dämmerung als „Zusammenfassung meiner wesentlichsten
philosophischen Heterodoxien“ (KGB III/5, Bf. 1105)? Wird in der Götzen-Dämmerung
das noch im Zarathustra dominierende und dort anhand der vermeintlichen ‚Grund-
worte‘ vorgeführte Motiv der Unmöglichkeit einer allgemeingültigen Lehre etwa auf-
gegeben und dieser Sachverhalt in der brieflichen Selbstbeschreibung durch den
Terminus ‚Heterodoxie‘ auf den Begriff gebracht? Nietzsche selbst verwendet diesen
Terminus nur sechsmal in seinen Schriften und Briefen und das ausschließlich im
Jahr 1888. Neben der zuvor zitierten Stelle finden sich noch vier weitere Briefbelege
sowie eine einmalige Erwähnung im Arbeitsheft W II 5 (vgl. NL 1888, 14[189], KSA 13,
S. 376f.), das auch eine Vielzahl von ‚Vorstufen‘ zur Götzen-Dämmerung enthält.
Überblickt man die Verwendung des Begriffs an den besagten Stellen, fällt auf,
dass der Gebrauch zwischen Singular und Plural changiert, wobei allerdings die
Verwendung des Singulars ein leichtes Übergewicht besitzt: Der zweifachen Verwen-
dung von ‚Heterodoxien‘ (vgl. Bf. an Georg Brandes in Kopenhagen, KGB III/5, Bf. 974
und Bf. an Heinrich Köselitz in Buchwald, KGB III/5, Bf. 1105) stehen vier Verwendun-
gen von ‚Heterodoxie‘ (vgl. W II 5, S. 18; KGB III/5, Bf. 1111; KGB III/5, Bf. 1115 und KGB
III/5, Bf. 1132) gegenüber. Dreimal ist dem Substantiv ‚philosophisch‘ als Attribut
vorangestellt (vgl. KGB III/5, Bf. 1105; KGB III/5, Bf. 1111, KGB III/5, Bf. 1115), was eine
Übertragung des aus dem Protestantismus stammenden Terminus in die Philosophie
nahelegt. Insofern scheint das von der zuvor dargestellten Deutungstradition betonte
Moment des ‚Sich-gegen-traditionelle- Lehren-Stellen‘ auch in Nietzsches philosophi-
scher Verwendung des Terminus angelegt zu sein.
Anders verhält es sich mit dem von dieser Auslegungslinie ebenfalls betonten,
vermeintlich autosubversiven Moment von Nietzsches ‚Gegen-Begriffen‘. Obwohl die-
ses Moment in den erwähnten Passagen nicht explizit zurückgewiesen wird, scheint

404 Auf den ersten Blick ähnlich verhält es sich mit der „ewige[n] Wiederkehr“, die nur ein einziges
Mal, nämlich im allerletzten Satz des eigentlichen Textes der Götzen-Dämmerung erwähnt wird (GD
Alten 5, EA 140). Sowohl der exponierte Ort dieses Satzes als auch die direkte Bezeichnung des hier
gemäß Nietzsches eigentlichem Usus weitaus häufiger als ‚ewige Wiederkunft‘ – und nicht, wie in der
Forschungsliteratur regelmäßig verwendet, als ‚ewige Wiederkehr‘ – bezeichneten ‚Grundwortes‘ als
Lehre des intratextuellen Ichs verlangen eine eingehendere Interpretation, der ich mich zum gegebe-
nen Zeitpunkt widmen werde.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 151

der Kontext derselben einem eher traditionellen Verständnis von ‚Heterodoxie‘ als
‚Gegen-Lehre‘ zu folgen. So wenn Nietzsche gegenüber Georg Brandes betont, dass es
sich bei Jenseits von Gut und Böse „nicht um ein Durcheinander von hundert beliebi-
gen Paradoxien und Heterodoxien“ (KGW III/5, Bf. 974) handle oder wenn er in einem
Brief an Franz Overbeck behauptet, dass Der Antichrist „zum Erstaunen leicht […] über
meinen Grad von Heterodoxie unterrichte[ ]“ (KGW III/5, Bf. 1132), und dann daran
anschließt: „Du wirst Dich nicht über ‚Zweideutigkeit‘ zu beklagen haben.“ (KGW III/
5, Bf. 1132)405 Von Autosubversion ist hier eindeutig nicht die Rede.
Obwohl also die im Terminus der ‚Heterodoxie‘ kulminierenden Autokommentare
primär für eine Rückkehr der Götzen-Dämmerung zu traditionellen – sprich: nicht
autosubversiven – ‚Gegen-Begriffen‘ sprechen, wurden diese, ja die Existenz von
Lehren überhaupt, auch jenseits der Beschäftigung mit Nietzsches ‚Grundworten‘ von
textnahen Auseinandersetzungen mit der Götzen-Dämmerung zurückgewiesen. So
schreibt Andreas Urs Sommer im zweiten Absatz seines Abschnittes zur Struktur und
dem Gehalt der Götzen-Dämmerung im 6. Band des Nietzsche-Kommentars:

GD verzichtet auf eine eindeutige philosophische Lehre, zu der man sich als Leser entweder
negativ oder affirmativ verhalten und damit in ein klares Verhältnis zum Text und zu seinem
Verfasser treten könnte. Vielmehr wird der Leser ständig mit neuen Herausforderungen konfron-
tiert. Es gibt keinen durchgehenden roten Faden, der dem Leser Erholung gestattet, sondern
allenfalls Motivgruppen, die eine gewisse Orientierung erlauben.406

Ob, wie es die zuvor behandelten Belegstellen nahelegen, in der Götzen-Dämmerung


tatsächlich Nietzsches finale ‚Heterodoxien‘ im Sinne von traditionellen (Gegen-)
Lehren zur Darstellung gelangen, oder ob es sich bei dem Verweis auf diese im
Briefwechsel um eine Werbestrategie Nietzsches gegenüber seinen Briefpartnern
handelt und auch die Götzen-Dämmerung, wie Andreas Urs Sommer behauptet, auf
derartige Lehren verzichtet, wird die nun einsetzende Rekonstruktion der zentralen
inhaltlich und denkstilistischen Leitmotive des Textes zu klären versuchen.407 Deren
primäres Telos besteht allerdings nicht darin zu überprüfen, ob auch für die Götzen-
Dämmerung das von der Forschung für Nietzsches starke ‚Gegen-Begriffe‘ herausgear-
beitete Konzept der ‚Anti-Lehren‘ Geltung beanspruchen kann, sondern darin für die

405 Auch diese auf Eindeutigkeit pochenden Bemerkungen schließen das im Terminus der ‚Anti-
Lehren‘ stets mitschwingende subversive Moment nicht vollständig aus, da dieses nicht zuletzt in der
Etymologie des Begriffs ‚Heterodoxie‘ über den Bezug zur antiken Unterscheidung zwischen der
bloßen Meinung (δόξα) und der durch den Logos erst zur eigentlichen Erkenntnis gewordenen
ἐπιστήμη eingeschrieben ist.
406 Sommer 2012, S. 203.
407 Der Begriff des ‚Denkstils‘ wird hier nicht im Sinne Ludwig Flecks verwendet, sondern bezeichnet
die Verquickung von Darstellungsform und heuristisch-methodischem Vorgehen des hier untersuch-
ten Textes.
152 2.2. Die Götzen-Dämmerung

im nächsten Kapitel erfolgende Lektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ die
intratextuellen Kontexte bereitzustellen.
Einen für ein derartiges Vorhaben hervorragenden Einstieg in die Nachzeichnung
der philosophischen und methodischen Leitmotive der Götzen-Dämmerung erlaubt
das Vorwort des Textes.408 Dies mag nicht nur in Anbetracht der Tatsache verwun-
dern, dass sich das in der groß gesetzten Erstausgabe gerade einmal zweieinhalb
Seiten umfassende Textstück durch ein für den Nietzsche-unkundigen Leser primär
kaum durchdringbares Dickicht an Metaphern kennzeichnet, sondern auch, wenn
man sich an Nietzsches durchweg spielerischen Umgang mit besagter Version der
Textgattung des Paratextes erinnert. Insbesondere die 1886/87 nachträglich verfass-
ten Vorreden charakterisieren sich dadurch, dass sie die eigentlich dieser Textgattung
zugeschriebenen Eigenschaften, insbesondere deren Hauptfunktion, eine „Antwort
auf die ersten Reaktionen der ersten Leser und der Kritik“409 zu sein, konsequent
unterlaufen und zu eigenständigen Texten tendieren.410

2.2.2.2. Methoden und Leitmotive II: Heuristik in Tropen (GD Vorwort)

Anders verhält es sich beim Vorwort der Götzen-Dämmerung. Wie Paul van Tongeren
gezeigt hat, bezieht sich dieses genauso wie die anderen vier späten Vorworte zu den
Schriften von 1888 explizit auf das jeweilige Buch, dem sie vorangestellt sind: Sie
„erläutern den Titel und charakterisieren das Buch, zu dem sie als Vorwort gehö-
ren“411. Während sich die späten Vorworte durch diesen Bezug von den auch termino-
logisch durch ihre Bezeichnung als „Vorrede“ von ihnen unterscheidenden nachträg-

408 Ein erster Versuch, im Zuge einer Lektüre des Vorwortes der Götzen-Dämmerung die diese
bestimmenden philosophischen und denkstilistischen Leitmotive zu extrahieren, findet sich in: Pichler
2013.
409 Genette 2001 [1989], S. 231. Als zweite Funktion des ‚nachträglichen Vorwortes‘ nennt Genette das
Anzeigen von Korrekturen. Zentraler Gegenstand seiner Beschäftigung mit dieser Form des Paratextes
ist jedoch die Ausdifferenzierung der verschiedenen Reaktionsweisen des Autors auf die ersten
Kritiken (vgl. Genette 2001 [1989], S. 231–237).
Das „Vorwort“ der GD setzt sich von den ‚späten Vorreden‘ zu GT, MA, M und FW nicht nur
dadurch ab, dass es „Vorwort“ und eben nicht „Vorrede“ heißt, sondern auch dadurch, dass es sich
bei ihm – zumindest auf den ersten Blick – um ein sogenanntes „Originalvorwort“ im Sinne von
Genette handelt (vgl. Genette 2001 [1989], S. 190–227).
410 Siehe dazu Pichler 2012b, Dellinger 2013b, Dehrmann 2014 sowie Sommer 2013. Letzterer zeigt in
besagtem Aufsatz anhand von Nietzsches die Werkgenese von JGB begleitender Korrespondenz, dass
besagte Strategien nicht nur auf Nietzsches späte Vorreden, sondern auch auf dessen Briefwechsel
zutreffen und gelangt dabei zu folgendem Fazit: „Kurzum: Nietzsches Selbstzeugnisse sind als auto-
ritative Auskünfte über die jeweiligen Werke notorisch unzuverlässig, da sie jeweils von sehr spezi-
fischen Interessen geleitet wurden, die jenseits des Interesses einer möglichst authentischen Werk-
interpretation lagen.“ (Sommer 2013, S. 74)
411 Van Tongeren 2012, S. 8.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 153

lichen Vorworten von 1886/87 absetzen, treffen sie sich mit diesen – so van
Tongeren – darin, dass sie jene Problemkonstellationen ankündigen, die in den auf
sie folgenden Büchern nicht nur verhandelt werden, sondern sich im Textgeschehen
derselben regelrecht vollziehen.412 Insofern ist das Vorwort der Götzen-Dämmerung
der ideale Ausgangspunkt für einen Versuch, einen ersten sporadischen Überblick
über das vielfältig behandelte Material sowie die an dieses herangetragenen ‚heuristi-
schen Methoden‘ der Götzen-Dämmerung zu schaffen. In Anbetracht der von van
Tongeren konstatierten innigen Verwindung zwischen den zentralen Topoi und Me-
thoden des Vorwortes und dem diese realisierenden Textgeschehen des daran an-
schließenden Buches hat ein solcher Versuch sich nicht nur auf den Paratext selbst zu
beschränken, sondern muss versuchen, etwaige dunkle Stellen desselben intra-
textuell – d.h. durch Rückgriff auf Textpassagen aus demselben Werk – aufzulösen.
Dementsprechend wird der nun einsetzende Versuch, einen Einblick in die Verfah-
rungsweise der Götzen-Dämmerung zu gewähren, im Zuge seiner ‚Satz-für-Satz-Lektü-
re‘ des Vorwortes nicht nur der im Kapitel 1.2. entwickelten Lektüremethode des
kontrastierenden Lesens entsprechend auf die ‚Vorstufen‘ desselben zurückgreifen,
sondern auch weitere Intratexte aus der Götzen-Dämmerung in die Lektüre mitein-
beziehen. Deswegen sei hier eingangs zur einfacheren Orientierung die in der Erst-
ausgabe von 1889 abgedruckte Fassung besagten Textes vollständig wiedergegeben:

Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht
erhalten ist nichts Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding
geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der
Kraft. — Eine U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e , dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass
es Schatten auf Den wirft, der es setzt — ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augen-
blick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu
schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder „Fall“ ein Glücksfall. Vor Allem der K r i e g . Der Krieg
war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister; selbst in der Ver-
wundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vor-
enthalte, war seit langem mein Wahlspruch:
increscunt animi, virescit volnere virtus.
Eine andere Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist G ö t z e n a u s h o r c h e n … Es
giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt: das ist m e i n „böser Blick“ für diese Welt, das ist
auch mein „böses O h r “… Hier einmal mit dem H a m m e r Fragen stellen und, vielleicht, als
Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet — welches
Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, — für mich alten Psychologen und
Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, l a u t w e r d e n m u s s …

412 Van Tongeren 2012, S. 15f. – In Anbetracht der Tendenz der nachträglichen Vorworte von 1886/87
zum unabhängigen Text sowie eingedenk der diese partiell charakterisierenden Autosubversionen ist
zu fragen, ob die an sie anschließenden Bücher überhaupt noch als Performanz der von den Vorreden
bereits selbst vollzogenen, d.h. vorgeführten, Problemstellungen verstanden werden können, oder ob
es dadurch nicht zu einem partiellen Bruch zwischen dem Textgeschehen der Paratexte und den
eigentlichen Buchtexten kommt.
154 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Auch diese Schrift — der Titel verräth es — ist vor Allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein
Seitensprung in den Müssiggang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg? Und werden
neue Götzen ausgehorcht?… Diese kleine Schrift ist eine g r o s s e K r i e g s e r k l ä r u n g ; und was
das Aushorchen von Götzen anbetrifft, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern e w i g e Göt-
zen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, — es giebt überhaupt
keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen… Auch keine hohleren… Das
hindert nicht, dass sie die g e g l a u b t e s t e n sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle,
durchaus nicht Götze… (GD Vorwort, EA I-III)

a.) Telos und Darstellungsmodus – Erholung von der Aufgabe der Umwertung durch
Stiftung von Heiterkeit: Bereits die Texteröffnung dieses im Zuge seiner Genese mehr-
fach überarbeiteten Paratextes erlaubt es, erste Vermutungen über den Denkstil des
von ihm eingeleiteten Werkes anzustellen. Sie lautet: „Inmitten einer düstern und
über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts
Kleines von Kunststück: und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit? Kein Ding
geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat.“ (GD Vorwort, EA I)
Hier begegnet einem jene bereits aus dem Eröffnungsaphorismus des fünften
Buches der Fröhlichen Wissenschaft bekannte Verwindung von Ernst und Heiterkeit,
die sich leitmotivisch durch die Post-Zarathustra-Schriften zieht (vgl. FW 343, KSA 5,
S. 573f.).413 ‚Ernst‘ ist insbesondere der an dieser Stelle noch nicht spezifizierte,
sondern bloß als „Sache“ bezeichnete Bezugshorizont des Textes, wie die ihm hier
zugeordneten Attribute der Düsterkeit und Verantwortlichkeit belegen. Dieser Ernst
wird durch die im selben Satz qua rhetorische Frage erfolgende Betonung der Notwen-
digkeit zur Heiterkeit noch einmal unterstrichen. In der Bestimmung der Letzteren als
‚großes‘ „Kunststück“ deutet sich hingegen ein erstes zentrales denkstilistisches Cha-
rakteristikum des Textes an: Liest man diese Äußerung poeseologisch, folgt aus ihr,
dass die Heiterkeit des Textes eine Folge von dessen Kunstfertigkeit sein wird: Heiter
sind nicht die Themen des Textes, sondern die Art und Weise, wie diese in ihm
präsentiert werden, sollen den „Übermuth“ und die Heiterkeit des sich mit ihnen
befassenden Protagonisten veranschaulichen.
Zum Beweis der Tatsache, dass der Götzen-Dämmerung das „Kunststück“ der
Meisterung dieser ihr selbst auferlegten Aufgabe geglückt sei, geht der Paratext dann
jedoch nicht auf diese „Kunststück[e]“ selbst ein, sondern bedient sich des „Mittel[s]
der ironischen Übersteigerung“414, indem er auf die zuvor zitierten Eingangssätze
einen Satz folgen lässt, der in seiner Thetik bereits Momente des in ihm selbst
Artikulierten umsetzt: „Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft.“ (GD Vor-
wort, EA I): Indem die hier artikulierte ‚These‘ bloß apodiktisch gesetzt wird, demons-

413 Zur Heiterkeit in Nietzsches (Spät-)Werk siehe Stegmaier 2012, S. 95–101 sowie die Stellenkom-
mentare in Sommer 2012, S. 214 und Gori/Piazzesi 2012, S. 125f.
414 Sommer 2012, S. 215.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 155

triert sie zugleich das Übermaß der sie setzenden Kraft, welche aufgrund dieses Über-
maßes einer argumentativen Begründung nicht mehr zu bedürfen scheint.415
Auf diese drei Sätze folgt ein Gedankenstrich, der sowohl eine sprachlich-rhyth-
mische als auch inhaltliche Zäsur setzt, wodurch noch einmal die Bedeutung der in
ihnen stark verklausulierten poeseologisch-thematischen Reflexionen unterstrichen
wird: In Anbetracht dieser isolierten Stellung der ersten Bestimmung des Bezugshori-
zonts des Buches – die noch unbestimmte ernste „Sache“ – sowie des Darstellungsmo-
dus, in dem auf diesen Horizont reagiert werden wird, ist davon auszugehen, dass es
sich bei den drei Sätzen tatsächlich um einen Metakommentar zum Gesamttext der
Götzen-Dämmerung handelt. Im Anschluss an diese erste Bestimmung von Bezugsho-
rizont und Darstellungsmodus der Götzen-Dämmerung wendet sich das Vorwort auf
höchst metaphorische Art und Weise der Bestimmung ihrer eigentlichen Gegenstände
und Methoden zu. Dabei kommt es zu einer innigen Verquickung unterschiedlicher
Motive, was eine Isolierung der einzelnen Untersuchungsgegenstände und Methoden
ungemein erschwert, jedoch nicht vollständig verunmöglicht, wenn man davon
absieht, diese voneinander unabhängig herauszuarbeiten, sondern sie in den sie im
Vorwort kennzeichnenden Überschneidungen nachzuvollziehen versucht. So wird es
möglich, die Bedeutung der einzelnen Motive sowie der durch diese ausgedrückten
heuristischen Methoden in ihrer Bezogenheit aufeinander zu bestimmen, um so ein ers-
tes Vorverständnis für das Vorgehen im Haupttext der Götzen-Dämmerung zu schaffen.
Bereits der erste auf den Gedankenstrich folgende Satz scheint den zuvor nur vage
ausgedrückten Bezugshorizont des Werkes auf den ‚Begriff‘ zu bringen, indem er die
Problematik einer „U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e “ (GD Vorwort, EA I) verhandelt.
Die von diesem Schlagwort implizierte Aufgabe wird noch im selben Satz auf den sich
ihr Stellenden zurückgefaltet und vom aktiv angestrebten Ziel zur bedrohlichen Frage
transformiert, heißt es dort doch: „dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass
es Schatten auf Den wirft, der es setzt“ (GD Vorwort, EA I).416 Auf einen weiteren
Gedankenstrich folgt dann eine direkte Anbindung der durch die Rede vom ‚schwar-
zen Fragezeichen‘ primär als belastend ausgewiesenen Aufgabe der Umwertung an
die bereits in den ersten Sätzen ausgedrückte, Heiterkeit verlangende Größe und
Verantwortlichkeit des hier verhandelten Unternehmens417 – „ein solches Schicksal

415 Zu den intertextuellen Bezügen dieses Satzes sowie der oben zitierten ironischen Übersteigerung
siehe Sommer 2012, S. 214f. sowie Gori/Piazzesi 2012, S. 125f.
Zur Bedeutung eines ‚Übermaßes an Kraft‘ für die ‚Pyhsio-Ästhetik‘ der GD sowie den eng an
diese gebundenen Begriff des ‚Dionysischen‘ siehe auch die Kapitel 2.2.3.6. und 2.2.5.
416 Eine konzise, methodologisch der klassischen hermeneutischen Tradition folgende re-kontextua-
lisierende Deutung der „U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e “ liefern Gori/Piazzesi 2012, S. 126f. Auf die
sich aus dem Folgesatz ergebende Problematisierung des besagten Umwertungs-Projektes gehen die
beiden Autoren allerdings nicht ein.
417 Siehe dazu auch den Stellenkommentar in Sommer 2012, S. 215, wo dieser unter anderem auch FW
383 als relevanten Intertext des zweiten Kolons des soeben behandelten Satzes ausweist.
156 2.2. Die Götzen-Dämmerung

von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren,
allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln.“ (GD Vorwort, EA I) –, wodurch
die Notwendigkeit eines Darstellungsmodus, der des Ernstes entbehrt, ein weiteres
Mal unterstrichen wird. Insofern kann bereits an dieser Stelle der Lektüre des Vor-
wortes vermutet werden, dass nach diesem das eigentliche Ziel der Götzen-Dämme-
rung sowie dessen darstellerische Umsetzung im Textgeschehen darin bestehen, die
Erholung von der Aufgabe der Umwertung durch eine Darstellungsform zu bewerk-
stelligen, die ein Übermaß an Kraft zum Ausdruck bringt, das einen vom bedrü-
ckenden Ernst der Umwertung befreit und solcherart zur Heiterkeit veranlasst.
Abgesehen von dieser Bestätigung der poeseologischen Forderung der Eingangs-
sätze sowie der damit einhergehenden thematischen Rückbindung der derartig weiter
spezifizierten Aufgabe an die Texteröffnung des Vorwortes schwingt in der Rede vom
„Schicksal von Aufgabe“ eine Persönlichkeitskonzeption mit, die bereits in der Rück-
Faltung der Frage auf den Fragenden mitangeklungen ist und die mich im weiteren
Verlauf dieser Studie noch eingehender beschäftigen wird. Offensichtlich wird aller-
dings bereits an diesem Punkt, dass weder die schicksalhafte Aufgabe der Umwertung
noch die Erholung von derselben im Rahmen traditioneller Subjekttheorien als Resul-
tat der Bestrebungen eines in seiner Persönlichkeit unwandelbaren, autonomen Ichs
zu verstehen ist,418 sondern die Interaktion der Frage mit dem sie Fragenden sowohl
diese selbst als auch die Persönlichkeit des sie Stellenden affiziert und potentiell
verändert.
b.) Krieg als heuristische Methode: Wird durch die Deklarierung der „U m w e r t -
h u n g a l l e r W e r t h e “ als Fragezeichen sowie durch den Verweis auf die Erholung
von eben dieser der eigentliche Umwertungsakt als zentraler Topos für das soeben
paratextuell einsetzende Werk in Frage gestellt, dadurch jedoch implizit mit den
Werten ein potentiell zentrales Thema desselben angedeutet, erfolgt im nächsten Satz
des Vorwortes ein erster Verweis auf die potentiellen Modi des sich von diesem
Problemkomplex erholen wollenden Denkens: „Jedes Mittel ist dazu recht, jeder ‚Fall‘
ein Glücksfall. Vor Allem der K r i e g “ (GD Vorwort, EA I). An diesem Punkt gilt es kurz

Im Gegensatz zu Sommer, der in der besagten Stelle seines Kommentars explizit darauf verweist, dass
durch die Gleichsetzung der „Umwerthung“ mit einem Fragezeichen, „diese zunächst nichts festes
Neues setzt“ (Sommer 2012, S. 215), konstatiert Rüdiger Görner bereits am Anfang der sehr synopti-
schen Behandlung der Götzen-Dämmerung in seiner Studie zu Formen des ästhetischen Denkens bei
Nietzsche, dass es sich bei dem Werk um „eine erste Lieferung seiner ‚Umwerthung aller Werthe‘“
(Görner 2008, S. 63) handelt.
Gegen eine solche Lektüre spricht nicht nur das auch von Sommer betonte Fragezeichenmotiv im
zweiten Satz des Vorwortes, sondern auch die Dominanz des Erholungs- und Genesungstopos im
ganzen Buch. Liest man besagte Topoi als Metareflexionen über das Ziel des Textes, scheint es sich bei
ihm nicht um eine „erste Lieferung“ der „Umwerthung“ zu handeln, sondern tatsächlich um die
Erholung von dem mit besagtem Schlagwort ausgedrückten Projekt.
418 Zum Verhältnis von Subjekt und Persönlichkeit in Nietzsches Denken siehe die Beiträge in Benne/
Müller 2014.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 157

innezuhalten, liefern diese beiden lakonischen Sätze doch die ersten ‚konkreten‘
Hinweise auf die vermeintlichen ‚Untersuchungsgegenstände‘ und die zu deren Deu-
tung verwendete ‚Methode‘ des Werkes, soweit man in Anbetracht der übertragenen
‚Sprechweise‘ des Vorwortes dieses Adjektiv benutzen darf.
Der Selbstgewichtung des Textes folgend soll als Erstes die zweite der beiden
vermeintliche Gegenstände und Methoden des Textes, auf den ‚Begriff bringenden‘
Metaphern aufgeschlüsselt werden: Es handelt sich dabei um den nicht nur durch
das „[v]or [a]llem“, sondern auch graphematisch hervorgehobenen „K r i e g “. Es muss
hier wohl nicht eigens erwähnt werden, dass der Krieg, sprich die zumeist zur Durch-
setzung eigener Interessen eingesetzte gewalttätige Auseinandersetzung, zumindest
im gegenwärtigen Philosophieverständnis weder zum Arsenal der anerkannten ‚heu-
ristischen‘ Mittel zählt, noch als erholsam gilt.419 Im Vorwort hingegen, in welchem
eindeutig die ‚methodologische Seite‘ des Kriegführens im Vordergrund steht, erhält
dieser eine von seinen Standardbedeutungen und -konnotationen abweichende Be-
deutungsdimension, wenn es in dem den beiden zuvor zitierten Sätzen folgenden
Satz heißt: „Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief
gewordnen Geister; selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft.“ (GD Vorwort, EA
If.) Worin diese Heilkraft besteht und welche Folgen sie für den sich der ‚Methode‘
des Krieges bedienenden Denker zeitigt, offenbaren zwei Parallelstellen aus der
Götzen-Dämmerung. Es handelt sich dabei um GD Streifzüge 38 und GD Moral 3.
Der in einer früheren Fassung auch noch GD Streifzüge 39 umfassende und in der
Druckfassung schließlich „M e i n B e g r i f f v o n F r e i h e i t “ (GD Streifzüge 38, EA 108)
betitelte ‚Aphorismus‘ GD Streifzüge 38 verhandelt anhand des Beispiels der „libera-
len Institutionen“ (EA 109) die Funktion und Bedeutung des Krieges für die Persön-
lichkeitskonstitution des Kriegführenden und erlaubt so Rückschlusse auf die im
Vorwort in die Metapher des Krieges gebannte ‚Methode‘. Bereits dessen Eröffnung
ermöglicht Vermutungen über die bereits verhandelte Problematik der anscheinend
die autosubversive Komponente vermissenden und in Nietzsches Selbstkommentaren
zur Beschreibung der Götzen-Dämmerung in den Begriff der ‚Heterodoxie(n)‘ gebann-
ten ‚Gegen-Begriffe‘. Der Eingangssatz lautet: „Der Werth einer Sache liegt mitunter
nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, —
was sie uns k o s t e t .“ (EA 108)

419 In Nietzsches Werk im Allgemeinen und der Götzen-Dämmerung im Besonderen besitzt der Krieg
hingegen auch jenseits der hier verhandelten methodologischen Bedeutung eine zentrale Funktion in
der Deutung des klassischen Griechentums. So wird zum Beispiel in GD Sokrates 8 die vom Lehrer
Platons als erstem „Fechtmeister“ betriebene Dialektik als „eine neue Art Agon“ (EA 14) bezeichnet.
Siehe dazu Müller 2005, S. 77–85 und Zibis 2009, S. 205.
Sommer verweist auf den auch die Titeländerung bewirkenden Brief von Köselitz (vgl. KGB III/5,
Bf. 581) als potentiellen Anstoß zur Aufnahme der Kriegsthematik ins Vorwort. Siehe dazu den Stellen-
kommentar in Sommer 2012, S. 216.
158 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Geht man nun davon aus, dass es sich bei den in der Götzen-Dämmerung zur
Darstellung gebrachten ‚Heterodoxien‘ um sehr kostspielig erkämpfte „Sache[n]“,
nämlich persönliche, sehr persönliche Werte, handelt, und dass die Kostspieligkeit
nicht zuletzt eine Folge der zur Schaffung dieser Heterodoxien eingesetzten ‚Metho-
de‘, eben des Krieges, ist, scheint den so entstandenen ‚Lehren‘ nicht mehr aus-
schließlich jener dogmatische Status zuzukommen, welchen man von ihnen nach der
Lektüre der Parallelstellen des ‚Heterodoxie‘-Begriffes in Nietzsches Briefwechsel
erwarten würde.420 Liest man die kostspielig erkämpften ‚Heterodoxien‘ auf der Folie

420 Auf die hier angesprochene sehr persönliche Profilierung der durch den „Krieg“ mitgeprägten
Persönlichkeiten verweist auch João Constâncio in einem sich aus einer gänzlich anderen Fragestel-
lung heraus GD Streifzüge 38 widmenden Aufsatz (vgl. Constâncio 2012, insbesondere S. 148–154).
Constâncio, dem es primär um eine Rekonstruktion des Freiheitsbegriffes in Nietzsches ‚reifen Schrif-
ten‘ geht, deutet den GD Streifzüge 38 seinen Titel gebenden ‚Freiheits-Begriff‘ im Zuge seiner systema-
tisch-(re-)konstruktiven Lektüre als „independence“ und „individuality“ (vgl. Constâncio 2012, S. 148)
und betont dabei deren Relationalität: „Note that the kind of independence and individuality that
Nietzsche has in mind here is relative. What is meant is a higher degree of independence in relation to
the herd, and a higher degree of individuality in relation to the ‚herd-animal‘.“ (Constâncio 2012,
S. 148)
Als dritte Komponente des sich solcherart von den auf dem Konzept des freien Willens aufbauen-
den liberalen Freiheitsbegriffen eindeutig absetzenden Verständnisses von Freiheit erarbeitet Con-
stâncio eine mit Nietzsches Instinktbegriff korrelierende Form der ‚Selbstverantwortung‘ (vgl. Con-
stâncio 2012, S. 148f.), die zusammen mit den beiden anderen Komponenten letztendlich zu einem
kritisch-genealogischen und zugleich anti-metaphysischen Freiheitsbegriff führe (vgl. Constâncio
2012, S. 151), den Constâncio dann qua Analogieschluss als den Willen zur Macht identifiziert: „This
means that Nietzsche conceptualises freedom in terms of the will to power.“ (Constâncio 2012, S. 151)
Werkimmanent ist diese finale Bestimmung des ansonsten sehr aufschlussreichen Aufsatzes von
Constâncio mehr als unbefriedigend, spielt doch der Wille zur Macht in der GD nur eine marginale
Rolle und wird dementsprechend auch an keiner Stelle des Textes jenseits seiner bloßen Erwähnung
im Singular eingehender expliziert. Constâncio umgeht dieses Problem, indem er in seinem Aufsatz
die Bedeutung der ‚Hypothese‘ des Willens zur Macht durch die Zusammenführung von Notaten aus
dem Nachlass mit Stellen aus dem veröffentlichten Werk rekonstruiert (vgl. Constâncio 2012, S. 151f.)
und dabei explizit darauf hinweist, dass der Wille zur Macht letztendlich selbst potentiell nur ein
Symptom des Zustandes des Denkers Nietzsche sein könnte, um dann aus diesem Exkurs in Betreff des
Freiheitsbegriffes in GD Streifzüge 38 zu schließen: „That ‚concept‘ is indeed created by Nietzsche’s
‚active and interpretative forces‘, it is indeed ‚only an interpretation‘ of a ‚word‘, but this interpretation
is not arbitrary. It emerges from an ‚objective‘ critique of past uses of that word, and hence it is (or at
least claims to be) a ‚more complete concept‘ than other concepts of freedom“ (Constâncio 2012,
S. 154).
Obwohl diese Deutung unter Vernachlässigung ihrer Gleichsetzung von Autor und textinterner
Stimme in Anbetracht des Textbestandes von GD Streifzüge 38 überzeugt, ist aus einer stärker
philologischen Perspektive zu fragen, ob sie des potentiell leicht irreführenden Exkurses in die zahl-
reichen Varianten des Willens zur Macht-Konzeptes aus Nietzsches Nachlass überhaupt bedarf, und
ob nicht zur Bestimmung des auch in GD Streifzüge 38 selbst auftauchenden ‚Terminus‘ eine Auf-
lösung desselben qua Rekonstruktion des in der Götzen-Dämmerung selbst vorliegenden Instinkt- und
Persönlichkeitsbegriffes ausgereicht hätte. Dieser – primär als bloße Philologen-Marotte – lesbare
Einwand ist insofern nicht trivial, da sich eines der von Constâncio zur Bestimmung desselben aus
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 159

von GD Streifzüge 38 und GD Moral 3 als das Resultat einer „Vergeistigung der
F e i n d s c h a f t “,421 kommt es nämlich zu einer Integration der derartig stets höchst
individuellen Genese der in der agonalen Auseinandersetzung generierten ‚Heterodo-
xien‘ in deren finale Form, was qua Reflexion dieses Prozesses jederzeit die Möglich-
keit eröffnet, die solcherart entstandenen Meinungen durch eine ‚genealogische‘
Kritik wieder in Fluss zu bringen. Dieser Rückschluss von GD Streifzüge 38 und GD
Moral 3 auf die Problematik der ‚Anti-Lehren‘ mag auf den ersten Blick etwas will-
kürlich erscheinen, behandeln die publizierten Textstücke doch offensichtlich ganz
bestimmte Themenkreise – GD Streifzüge 38 den Freiheitsbegriff, GD Moral 3 die
‚Vergeistigung der Liebe und der Feindschaft‘ – und ergehen sich dementsprechend
nicht in philosophischen Metareflexionen über den Status der eigenen Aussagen.
Dass eine solche Metareflexion jedoch auch in diesen Texten angelegt ist, zeigt im
Falle von GD Streifzüge 38 ein Vergleich der Druckfassung mit einer ‚Vorstufe‘ aus
dem Arbeitsheft W II 6.
Die dort auf den Seiten 34, 32 und 30 zu findende frühere Fassung trennt den
zuvor zitierten und im Arbeitsheft mehrfach überarbeiteten Eingangssatz noch durch
die Überschrift mit einer römischen „I“ sowie eine auf den Satz folgende Leerzeile
explizit von dem auf ihn Folgenden ab, wodurch die auch im publizierten Text noch
nachvollziehbare Struktur von allgemeingültiger These, dem Eingangssatz, und deren
exemplarischer Darstellung im restlichen Werksegment noch offensichtlicher wird.

dem Nachlass herangezogenen und von ihm nur sehr eingeschränkt wiedergegebenen Notate primär
in einem phylogenetischen Rahmen bewegt, der nichts mit der in GD Streifzüge 38 verhandelten
Problematik zu tun hat und insofern qua Aufpfropfung auf diesen dessen Bedeutung wohl nicht nur
minimal verschiebt. Es handelt sich dabei um eine Aufzeichnung aus dem Arbeitsheft W II 1, die
Constâncio noch in der von Colli und Montinari konstituierten Version NL 1887, 9[151] (vgl. KSA 12,
S. 424) zitiert, und an deren Anfang es heißt: „Der Wille zur Macht kann sich nur an Widerständen
äußern; er sucht also nach dem, was ihm widersteht, – dies die ursprüngliche Tendenz des Pro-
toplasma, wenn es Pseudopodien ausschickt u. um sich tastet“ (W II 1, S. 29, Z. 4–6). Wie der weitere
Verlauf der mehrfach überarbeiteten Aufzeichnung zeigt, handelt es sich bei ihr letztendlich um den
Versuch, mithilfe des Willens zur Macht organische Phänomene wie den Hunger zu deuten (vgl. W II 1,
S. 29, Z. 2–20). Die Zusammenführung eines solchen Entwurfes mit dem in GD Streifzüge 38 unbe-
stimmten Willen zur Macht prolongiert – ohne im Falle des Aufsatzes von Constâncio sofort pro-
blematische Konsequenzen für den dort verhandelten Freiheitsbegriff zu zeitigen – so jenen ins-
besondere die Nietzscheforschung der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kennzeichnenden und
die eigentlichen Kontexte missachtenden Umgang mit in seinen Texten und Entwürfen offensichtlich
variable Bedeutungen besitzenden Metaphern, die häufig zu inadäquaten Pauschalisierungen und in
Folge derselben auch zu ideologisch folgenreichen Missdeutungen geführt haben und potentiell
immer noch führen.
Eine Zurückweisung der von Constâncio hier gelieferten ‚autopoetischen‘ Lesart des Willens zur
Macht, nach welcher das Konzept des Willens zur Macht selbst ein Resultat des universellen Willens-
zur-Macht-Geschehens sei, bietet – dabei allerdings Jenseits von Gut und Böse fokussierend – Dellinger
2013a.
421 Auf die Bedeutung von GD Moral 3 für Nietzsches Gebrauch der Kriegsmetapher in der Götzen-
Dämmerung hat bereits Alexander-Maria Zibis hingewiesen (vgl. Zibis 2009, S. 205f.).
160 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Diese Struktur wurde in der Druckfassung zwar graphematisch getilgt, scheint jedoch
auch diesen Text inhaltlich insgeheim zu leiten. Unter diesen Voraussetzungen hat
man es im Falle dieses ‚Aphorismus‘ mit einer ‚argumentativen Praxis‘ zu tun, welche
in einem isolierten Textsegment eine Aussage von prinzipiell allgemeingültigem
Anspruch ohne genaue Bestimmung ihrer metareferentiellen Reichweite eingangs
apodiktisch setzt und diese dann im weiteren Verlauf desselben eingehender ver-
handelt. Für die zuvor durchgeführte Exegese dieses Satzes gilt in Anbetracht des bei
derartigen Sätzen steten Fehlens eines universellen Kriteriums zur Bestimmung von
ihrer Reichweite der Verdacht, dass es sich bei ihm um eine potentiell fehlgehende
oder zu weit greifende Spekulation handelt. Dieser Spekulationsverdacht wird aller-
dings durch die im Zuge der Argumentation nachgezeichneten motivisch-assoziativen
Verbindungen zwischen GD Streifzüge 38 und der ‚Heterodoxie‘-Problematik stark
eingeschränkt. Zu dieser Einschränkung trägt insbesondere der weitere Verlauf des
‚Aphorismus‘ bei, von welchem nun die für die Frage nach den Vorgehensweisen der
Götzen-Dämmerung relevante Kriegsmotivik eingehender in Hinblick auf ihr metarefe-
rentielles Potential untersucht werden soll.422
Die diesbezüglich zu untersuchenden Sätze des ‚Aphorismus‘, dessen oppositio-
nelle Stellung zu John Stuart Mills On Liberty auch im Nietzsche-Kommentar betont
werden,423 lauten:

Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg u m liberale
Institutionen, der als Krieg die i l l i b e r a l e n Instinkte dauern lässt. Und der Krieg erzieht zur
Freiheit. Denn was ist Freiheit! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man
die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen
das Leben gleichgültiger wird. Dass man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber
nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte
die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks“. Der f r e i g e w -
o r d n e Mensch, um wie viel mehr der freigewordne G e i s t , tritt mit Füssen auf die verächtliche
Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokra-
ten träumen. Der freie Mensch ist K r i e g e r . (GD Streifzüge 38, EA 109f.)

Hier wird der Krieg zur unabdingbaren Voraussetzung für jegliche Form der Selbst-
setzung und Selbstverantwortung erklärt. Erst durch ihn kann die den ihn Führenden
kennzeichnende Distanz, welche stets die verschiedenen Kriegsparteien voneinander
„abtrennt“, festgehalten und somit erfasst werden. Der Krieg als Mittel und Methode
wird so zur Bedingung der Möglichkeit jeglicher potentiellen selbstreflexiven Ver-

422 Auch Zibis 2009 gelangt zu einer ähnlichen Deutung der Metareferenz durch den ‚Heterodoxie‘-
Begriff. Ohne die einzelnen Briefstellen konkret zu analysieren, wird bereits am Anfang seines Auf-
satzes konstatiert: „Den Begriff der ‚Heterodoxie‘ kann man nicht nur als positive Umwertung eines
kirchlichen Schlagwortes gegen die ‚Ketzerei‘ verstehen, sondern auch wörtlich nehmen. Die Objekte
der Kritik unterliegen ebenso wie die eigenen Standpunkte, Methoden und Perspektiven der Betrach-
tung einem beständigen Wechsel und Wandel.“ (Zibis 2009, S. 201)
423 Siehe zum Verhältnis zu Mill einführend Sommer 2012, S. 511.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 161

ortung der eigenen Position. In dieser Feststellung zeigen sich die starken intratextu-
ellen Bezüge zwischen GD Streifzüge 38 und GD Moral 3, heißt es in letzterem ‚Werks-
egment‘ doch: „Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthi-
ger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz w i r d es
erst nothwendig… “ (EA 31)
Erst im (agonal konstituierten) Kontrast erhalten die in der Götzen-Dämmerung
immer als Resultat eines höchst persönlichen Empfindens und Denkens dargestellten
Heterodoxien ihr individuelles Profil. Zugleich wohnt der sich im Agon offenbarenden
‚Freiheit‘ auch eine gewisse Nezessität inne, haben in ihr doch „die männlichen,
die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft […] über andre Instinkte“ (GD
Streifzüge 38, EA 110).424
Kehrt man von dieser Stelle zum Ausgangspunkt dieses Exkurses – dem Vorwort
bzw. den in diesem zu findenden und zum Anstoß für diese Erörterung gewordenen
Sätzen: „Jedes Mittel ist dazu recht, jeder ‚Fall‘ ein Glücksfall. Vor Allem der K r i e g “
(GD Vorwort, EA I) – zurück, kann man nun in Hinblick auf den dort als Metapher für
das Vorgehen des Textes lesbaren „Krieg“ folgendes erstes Fazit ziehen: Die Lektüre
von ausgewählten Parallelstellen zur Bedeutung und Funktion des Kriegsmotives in
der Götzen-Dämmerung weist darauf hin, dass die bis zu dieser Stelle des Vorwortes in
ihrem konkreten Vorgehen noch nicht weiter ausgewiesenen ‚heuristischen Metho-
den‘ der Götzen-Dämmerung durch eine in der ‚kriegerischen Gegenüberstellung‘ pro-
filierende Markierung des eigenen Denkstandpunktes gekennzeichnet sind, in wel-
cher zugleich der „Übermuth“ und das „Zuviel von Kraft“ der diesen Standpunkt
innehabenden intratextuellen Figur zum Ausdruck kommen. Des Weiteren ist zu ver-
muten, dass es sich bei diesen starken Denkstandpunkten um auf Nietzsches ‚Gegen-
Begriffen‘ fußende ‚Anti-Lehren‘ handelt, wobei jedoch weiterhin noch nicht geklärt

424 Beim gegebenen Stand der Lektüre kann allerdings noch nicht beurteilt werden, inwiefern diese
in GD Streifzüge 38 artikulierte Notwendigkeit deterministische Komponenten in sich trägt. Zur Beant-
wortung dieser Frage bedarf es einer Untersuchung der Bedeutung des ‚Instinkts‘ in der GD, wie sie
später erfolgen wird. Was jedoch schon an dieser Stelle der Untersuchung festgestellt werden kann, ist,
dass das intratextuelle Ich des Werkes mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit zu der im letzten Satz
des Zitates eingeführten Gruppe zu zählen ist. Es versteht sich als „freier Mensch“, als „Krieger“.
Ob man diese „freie[n] Menschen“ geradewegs mit den in Nietzsches mittlerem Werk omni-
präsenten ‚freien Geistern‘ identifizieren darf – wie dies zumindest implizit in Zibis 2009 geschieht –,
oder ob in Anbetracht der insbesondere in den Vorreden von 1886/87 vollzogenen Problematisierung
und Verschiebung der Bedeutung des freien Geistes als ideales Menschenbild eine unerlaubte Expan-
sion eines in anderen Büchern Nietzsches unbestreitbar zentralen ‚Konzeptes‘ stattfindet, kann hier
nicht eigens erörtert werden. Bedenkt man jedoch, dass bereits in Jenseits von Gut und Böse der „freie
Geist“ den ‚Philosophen der Zukunft‘ gegenübergestellt wird und dass in der Götzen-Dämmerung die
Formulierung „der freie Geist“ nur an einer einzigen Stelle und dort nicht in der für Nietzsche sonst
charakteristischen Oppositionsrolle verwendet wird (vgl. GD Streifzüge 45, EA 121), sollte man von
einer Übertragung dieses ‚Konzeptes‘ auf die zentrale Stimme des Textes absehen.
162 2.2. Die Götzen-Dämmerung

werden konnte, inwieweit diese auch in der Götzen-Dämmerung jene autosubversive


Dimension besitzen, die ihnen insbesondere in Also sprach Zarathustra zukommt.
Die soeben analysierte Passage der Druckfassung des Vorwortes bietet außerdem
den idealen Ausgangspunkt zum Vergleich derselben mit im Nachlass zu findenden
früheren Versionen, weichen diese doch insbesondere in der Ausformulierung der
Kriegsthematik vom publizierten Text ab. Dies gilt im Besonderen für einen Entwurf
aus dem Arbeitsheft W II 6, der seitenverkehrt und in brauner Tinte direkt über einer
der Umarbeitungen des ursprünglichen Vorwortes steht, das letztendlich als GD
Deutsche in den Drucktext eingegangen ist. Die Grundschicht dieses Entwurfes
lautet:

Die Umwerthung aller Werthe, ein Fragezeichen, so lang daß es Schatten auf den wirft, der es
setzt ist eine Unternehmung, die noch alle Augenblicke zwingt, in die Sonne zu springen u. einen
allzuschweren Ernst von mir zu schütteln. Zu diesem Zweck scheint mir jedes Mittel. Ein kleines
Duell zum Beispiel, mit irgend einem großen Zeitgötzen, wie mit R. Wagner, gehört zu meinen
wünschenswerthesten Zerstreuungen. (W II 6, S. 144, Z. 10–18; siehe Abb. 5a/b)

Sieht man einmal von der vernachlässigbaren Tatsache ab, dass im Entwurf das
Fragezeichen noch als „lang“ und nicht als „schwarz“, wie es dann in der publizierten
Fassung heißt, beschrieben wird und dass hier noch in die Sonne gesprungen und
nicht gelaufen wird, sind vor allem zwei Unterschiede zur Druckfassung von Bedeu-
tung: Einerseits verweist der Entwurf bereits an dieser Stelle auf ein intratextuelles
Sprecher-Ich, das im publizierten Text erst später auftritt. Andererseits wird im Ent-
wurf als „Mittel“ der auch dort als Fragezeichen bestimmten Umwertung nicht der
„Krieg“, sondern ein „kleines Duell […] mit irgend einem großen Zeitgötzen“ aus-
gewiesen und – konsequenterweise – einem solchen Duell auch nur ‚Zerstreuungs‘-
Charakter und nicht wie dem „Krieg“ der Druckfassung „Heilkraft“ zugeschrieben.
Die ‚Vorstufe‘ verdeutlicht somit, dass es im letztendlich publizierten Text sowohl zu
einer Verallgemeinerung – durch das erst spätere Auftreten des Sprecher-Ichs – als
auch zu einer Zuspitzung der metaphorisch angeführten Mittel – eben des Krieges
anstelle eines Duells – kommt.
Daneben geht die ‚Vorstufe‘ auch noch in einem weiteren für die Deutung der
Druckfassung höchst relevanten Punkt über diese hinaus, weist sie doch mit den
Zeitgötzen und dem im Zuge der Überarbeitung des Notates später gestrichenen
Verweis auf Richard Wagner gegenüber der in diesem Punkte weitaus kryptischeren
und somit deutungsoffeneren publizierten Fassung eindeutig eine erste Zielperson
der im Text angestrebten Zerstreuung bzw. Erholung vom unterschwellig auch in
diesem präsenten Umwertungsunternehmen aus. Dies ist vor allem für die Deutung
des im Entwurf noch fehlenden elliptischen Einschubs „jeder ‚Fall‘ ein Glücksfall“
zwischen „Jedes Mittel ist dazu recht“ (GD Vorwort, EA I) und „Vor allem der K r i e g “
(EA II) von Relevanz, ein Einschub, über dessen Deutung eine erste Bestimmung von
Gegner und somit Gegenstand der in der Metapher des Krieges kulminierenden
heuristischen Praxis des Textes erfolgen kann.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 163

c.) Der Untersuchungsgegenstand – Fall und Götze: Auf der Folie der ‚Vorstufe‘ ist
zu erwarten, dass auch die Druckfassung mit dem „‚Fall‘“ auf personifizierte „Götzen“
anspielt. Dafür spricht auch der weitere Textverlauf der Götzen-Dämmerung, die
bereits in ihrem zweiten Kapitel „Das Problem des Sokrates“ den darin zum Gegen-
stand werdenden bevorzugten Protagonisten Platons als einen „Ausnahmefall“ (GD
Sokrates 9, EA 14) bezeichnet. Insbesondere für den tatsächlich methodologischen
Umgang mit solchen Fällen in der Götzen-Dämmerung ist besagtes Sokrates-Kapitel
höchst aufschlussreich, weswegen es auch nach Abschluss der Lektüre des Vorwortes
ebenfalls in Hinblick auf die zentralen inhaltlichen und methodischen Leitmotive der
Götzen-Dämmerung gelesen werden wird.
Das Vorwort selbst wendet sich, nachdem der erste Absatz die Behandlung der
Kriegsthematik fürs Erste mit einem von Aulus Gellius überlieferten Zitat von Furius
Antias abschließt,425 im ersten Satz des darauffolgenden Absatzes ‚konkreter‘ den in
den ‚Glücksfällen‘ bereits angesprochenen, vom Leser jenseits des Paratextes zu
erwartenden Untersuchungsgegenständen zu: „Eine andere Genesung, unter Umstän-
den mir noch erwünschter, ist G ö t z e n a u s h o r c h e n … “ (GD Vorwort, EA II)
Auf die mögliche Frage, ob es sich bei diesen in ihrem Ausgehört-Werden zur
Genesung des sie Befragenden beitragenden „Götzen“ wie im Entwurf aus dem
Arbeitsheft W II 6 um als repräsentative Fälle verstehbare Zeitgötzen handelt, bleibt
der Text allerdings eingangs dem Leser eine Antwort schuldig. Zwar liefert er im
ersten Kolon des darauffolgenden Satzes eine erste Andeutung, worum es sich bei
diesen „Götzen“ handeln könnte, heißt es dort doch: „Es giebt mehr Götzen als
Realitäten in der Welt“ (GD Vorwort, EA II). Diese „Götzen“ scheinen jedoch, wie in
Anbetracht der zweiten Hälfte des Satzes zu vermuten ist – „das ist m e i n ‚böser Blick‘
für diese Welt, das ist auch mein ‚böses O h r ‘…“ (GD Vorwort, EA II) –, sehr stark von
der rezeptiven Haltung des sich mit ihnen befassenden Sprecher-Ichs abzuhängen.
d.) Hammer und Stimmgabel als Instrumente psychologischer Kritik: Anstelle einer
weiteren Konkretisierung der solcherart vom auf dem Hintergrund des ersten Absat-
zes als kriegerisch zu definierenden Zugriffs des Sprecher-Ichs mitbestimmten „Göt-
zen“ liefern die darauffolgenden Sätze weitere durch ihren metaphorischen Charakter
deutungsbedürftige Hinweise auf den zu erwartenden Umgang mit denselben:

Hier einmal mit dem H a m m e r Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten
hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet — welches Entzücken für Einen, der
Ohren noch hinter den Ohren hat, — für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem
gerade Das, was still bleiben möchte, l a u t w e r d e n m u s s … (GD Vorwort, EA II)

Hier wird der bereits im Untertitel des Werkes – „Wie man mit dem Hammer
philosophirt“ – zu findende Hammer endgültig zu einem zentralen Instrument der

425 Siehe dazu den Stellenkommentar in Sommer 2012, S. 216 und Zibis 2009, S. 203 sowie Ridley
2005, S. 155.
164 2.2. Die Götzen-Dämmerung

philosophischen Untersuchung erhoben. Schien jedoch der Untertitel in seiner se-


mantischen Interaktion mit dem Wagner persiflierenden eigentlichen Titel sowie der
Anfang des Vorwortes selbst aufgrund der in ihm dominierenden Kriegsmetaphern
die destruktive Seite eines solchen Philosophierens zu betonen, kommt es nun durch
die qua Trope vollzogene Zusammenführung des Perkussionshammers des Arztes mit
der „Stimmgabel“ – wie es dann auch wortwörtlich im letzten Absatz heißt: „an die
hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird“ – zu einer Ausweitung,
wenn nicht gar Verschiebung der durch das Vorwort metaphorisch evozierten Unter-
suchungsmethoden des Textes.426 Der bis an diese Stelle vorgedrungene Leser wird
nun nicht mehr einen rein destruktiven Diskurs erwarten, sondern eine Denkbewe-
gung, die zwar mit teilweise höchst kritisch-kriegerischen Absichten sich ihren Gegen-
ständen nicht nur aus einer temporär stillgestellten Gegenposition zuwendet, sondern
den Untersuchungs-‚Gegenständen‘ im Zuge der Kritik an ihnen auch ‚ihr Recht‘
zukommen lässt, indem sie zumindest partiell auf deren ‚Eigen-Klang‘ horcht.
Dass der derartig vorgehende Denker an diesem Punkt wohl etwas anderes hört
als seine Zeitgenossen wird durch die eingeschobene Parenthese – „welches Ent-
zücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat“ – verdeutlicht. Diese spielt
auf die im vorigen Kapitel ausführlich behandelte Bedeutung eines ‚musikalischen
Philosophierens‘ an, welches in Rhythmus und Klang philosophisch valente Zeichen
sieht.
Wie schon beim ersten Absatz der Druckfassung des Vorwortes existiert auch für
den zweiten Absatz eine ‚Vorstufe‘, die besagte Bezüge weitaus deutlicher artikuliert
als dies im letztendlich publizierten Text geschieht. Die Grundschicht der hier an-
gesprochenen früheren Fassung auf der Seite 134 des Arbeitsheftes W II 8 lautet:
„welches Entzücken für einen Psychologen, zumal wenn er, im Grunde, ein alter
Musikant ist“ (KSA 14, S. 411).427 Hier wird nicht nur explizit das Sprecher-Ich des

426 Zur Hammer-Metapher und deren bisherigen Deutungen siehe Sommer 2012, S. 217f. sowie Gori/
Piazzesi 2012, S. 131f., die ebenfalls feststellen, dass es sich bei dem Hammer aus GD Vorrede nicht um
ein reines Destruktionsinstrument handle, sondern betonen, dass „il martello deve essere utilizzato
come un diapason, per verificare la vacuità delle nozioni in uso nella tradizione occidentale“ (Gori/
Piazzesi 2012, S. 131).
Wie dieses Zitat belegt, deuten Gori und Piazzesi die „Götzen“ des Vorwortes eindeutig als
‚Begriffs-Götzen‘ und vereindeutigen sie derartig in einer die textgenetische und intratextuelle Kom-
plexität des Vorwortes stark reduzierenden Art und Weise. Siehe zu dieser Deutung der „Götzen“, die
offensichtlich aus dem Fokus auf eine Parallelstelle aus EH GD resultiert, auch den Stellenkommentar
zu den „idoli“ selbst in Gori/Piazzesi 2012, S. 130f.
427 Wie die Quellenanagabe im Lauftext zeigt, ist besagte ‚Vorstufe‘ des Vorwortes der GD bis dato
noch nicht in einer diplomatischen Transkription veröffentlicht worden. Die Transkription der Hefte
W II 8 und W II 9 wird erst die im Laufe des Jahres 2014 – d.h. erst nach Abschluss dieser Studie – zu
erwartende Publikation des 10. Bandes der KGW IX liefern. Laut Beat Röllin finden sich in besagten
Heften noch weitere Varianten des Vorwortes zur GD, welche im Kommentarband der KSA 14 von
Montinari nicht verzeichnet wurden. Es handelt sich dabei um die Seiten 79 und 87 des Heftes W II 8.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 165

Vorwortes zum ehemaligen Musikanten, sondern im gleichen Atemzuge zum Psycho-


logen gemacht. Die ‚Vorstufe‘ entspricht so einerseits dem zum Zeitpunkt ihrer Ver-
fassung noch aktuellen Titel Müssiggang eines Psychologen und betont so andererseits
das starke interpretative Moment eines über Rhythmus und Musikalität zu psycho-
logischen Spekulationen angeregten Philosophierens.428
Die publizierte Fassung bringt besagte Autodeskription des Sprecher-Ichs als
„Psychologen und Rattenfänger“ (GD Vorwort, EA II) erst nach der Parenthese und
schafft so weitere Konnotationen, von denen insbesondere die Gleichsetzung des
Psychologen mit einem Rattenfänger ins Auge sticht. Laut Andreas Urs Sommer werde
in diesem Vergleich das die psychologische Methode der Götzen-Dämmerung charak-
terisierende Changieren zwischen ‚Entlarvung‘, sprich: Kritik an den bestehenden
„Götzen“, und ‚Verführung‘, welche hier als die im Zuge der Kritik vollzogene Vor-
bereitung ‚neuer‘ Werte zu verstehen ist‚ ‚auf den Begriff gebracht‘.429 Zur Klärung,
was man sich unter diesem psychologischen Procedere konkret vorzustellen hat, hilft
ein Blick in einen Intratext, der die im Vorwort nur angedeutete Methode ex negativo
durch die Abgrenzung von der sogenannten „Colportage-Psychologie“ (GD Streifzüge
7, EA 74) etwas eingehender charakterisiert. Es handelt sich dabei um den siebenten
‚Aphorismus‘ der „Streifzüge eines Unzeitgemäßen“, welcher mit folgender Negativ-
beschreibung der „Colportage-Psychologie“ eröffnet:

Keine Colportage-Psychologie treiben! Nie beobachten, u m zu beobachten! Das giebt eine fal-
sche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als Erleben-W o l l e n
— das geräth nicht. Man d a r f nicht im Erlebniss nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum
„bösen Blick“. (GD Streifzüge 7, EA 74)

Wie diese Eingangssätze von GD Streifzüge 7 belegen, wird der intratextuelle Bezug
zwischen diesem ‚Aphorismus‘ und dem Vorwort nicht nur durch die Auseinander-
setzung mit der Psychologie, sondern auch durch die erneute Verwendung der Rede-
wendung vom „‚böse[n] Blick‘“ gestiftet. Dieser bezeichnet nach Meyers Konversati-
onslexikon von 1885–1892 „nach altem und weitverbreitetem Aberglauben die
gewissen Personen innewohnende Zauberkraft, durch Blicke (oder auch durch damit

428 Pietro Gori und Chiara Piazzesi sehen überhaupt in der Zusammenführung von ‚Psychologie‘ und
‚Philosophie‘ das zentrale Charakteristikum der die Götzen-Dämmerung bestimmenden Heuristik: „La
filosofia nietzscheana si contraddistingue, dunque, per il fatto di coincidere con la pratica della
psicologia: ma di una psicologia intesa come metodo fondamentale per smascherare e criticare i valori
riconducendoli ai bisogni che li hanno generati, per incrinare l’autorità delle verità della tradizione,
per chiarire genealogie e prossimità di fenomeni e processi storici, tipi antropologici, forme di pensiero
e di arte ecc.“ (Gori/Piazzesi 2012, S. 128f.)
Wie der bisherige Verlauf der Lektüre des Vorwortes bereits gezeigt haben sollte, geht dieses
jedoch insbesondere durch die Kriegsmetaphorik auch in der solcherart anklingenden Heuristik über
die im Text in ihrer methodologischen Relevanz nicht zu leugnende Zusammenführung von den dort
ebenfalls re-semantisierten Disziplinen ‚Psychologie‘ und ‚Philosophie‘ hinaus.
429 Vgl. den Stellenkommentar in Sommer 2012, S. 220f.
166 2.2. Die Götzen-Dämmerung

verbundene Worte) andre Personen oder fremdes Eigentum zu behexen und ihnen
dadurch zu schaden“430. Wird dieser „‚böse[ ] Blick‘“ im Vorwort noch eindeutig dem
Sprecher-Ich und seinem Umgang mit den „Götzen“ zugeschrieben, wird Selbiges in
GD Streifzüge 7 nun gerade über diesen „Blick“ von den ‚Colportage-Psychologen‘
unterschieden. Neigen Letztere nämlich dazu, durch eine Wendung dieses Blicks
gegen sich selbst, dessen entlarvendes Potential zu sabotieren, folgt das Sprecher-Ich
einer anderen Praxis: „Ein geborner Psycholog hütet sich aus Instinkt, zu sehn, um zu
sehn; dasselbe gilt vom gebornen Maler.“ (GD Streifzüge 7, EA 74f.)431
Auf diesen Satz folgen dann die wenigen positiven Bestimmungen der „gebornen
Psychologen“, als welchen man aufgrund der bereits dargelegten inter- und intra-
textuellen Bezüge auch das Sprecher-Ich des Vorwortes verstehen kann:

Er arbeitet nie „nach der Natur“, — er überlässt seinem Instinkte, seiner camera obscura das
Durchsieben und Ausdrücken des „Falls“, der „Natur“, des „Erlebten“… Das A l l g e m e i n e erst
kommt ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebniss: er kennt jenes willkürliche Abstrahiren
vom einzelnen Falle nicht. — (GD Streifzüge 7, EA 75)432

430 Meyer 1885–1892, S. 245 zitiert nach Sommer 2012, S. 424.


431 In eine ähnliche Richtung weist auch der ‚Aphorismus‘ 35 aus den „Sprüchen und Pfeilen“,
welcher lautet: „Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe gerathen: wir
sehen unsren eignen Schatten vor uns auf und niederschwanken. Der Psychologe muss von s i c h ab-
sehn, um überhaupt zu sehn.“ (GD Sprüche 35, EA 6)
432 Auf eine Deutung der auf den Gedankenstrich folgenden zweiten Hälfte von GD Streifzüge 7 wird
hier verzichtet, da die dort erfolgende weitere Absetzung von und negative Charakterisierung der
‚Colportage-Psychologen‘ doch zu einem großen Teil auf der in den „Streifzügen eines Unzeitgemä-
ßen“ entwickelten Ästhetik basiert. Ohne eine genaue Darstellung derselben, die bei weitem den
Rahmen des vorliegenden Kapitels sprengen würde, ist eine den diese Studien leitenden methodischen
Grundsätzen adäquate Deutung besagter Teile des ‚Aphorismus‘ kaum möglich. Das gilt insbesondere
für dessen letzte drei Sätze, die da lauten: „Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie
übertreibt, sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Z u f a l l . Das Studium ‚nach der Natur‘ scheint
mir ein schlechtes Zeichen: es verräth Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, — dies Im-Staube-Liegen
vor petits faits ist eines g a n z e n Künstlers unwürdig. Sehen, w a s i s t — das gehört einer andern
Gattung von Geistern zu, den a n t i a r t i s t i s c h e n , den Thatsächlichen. Man muss wissen, w e r man
ist…“ (GD Streifzüge 7, EA 75f.)
Gerade der in diesem Abschnitt strategisch zum Einsatz gebrachte Naturbegriff kann von einer
die erkenntnistheoretischen Kontexte und Prämissen der GD noch nicht reflektiert-habenden Lektüre
sehr leicht missdeutet werden. Siehe zu der hier angesprochenen Thematik einleitend den Stellen-
kommentar in Sommer 2012, S. 426ff.
Für die dort von Sommer vertretene These, dass es sich bei den in GD Streifzüge 7 zu findenden
Aussagen über die Natur, nicht um die Artikulation ontologischer Grundansichten des Sprecher-Ichs
handelt, sondern dass der ‚Terminus‘ aus dem Kontext der im ersten Teil der „Streifzüge eines
Unzeitgemässen“ verhandelten ‚Ästhetiken der Dekadenz‘ zu verstehen sei, spricht auch die in der
Druckfassung gestrichene Überschrift, der sonst kaum vom publizierten Text abweichenden ‚Vorstufe‘
aus dem Heft W II 1, S. 55. Diese lautet: „Das Beschreibende, das Pittoreske als Symptome des Nihilism
(in Künsten u. in der Psychologie“.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 167

Der erste dieser zwei Sätze umfassenden Passage setzt noch einmal mit einer Abgren-
zung gegenüber den ‚Colportage-Psychologen‘ ein, als deren Paradigma im weiteren
Verlauf des ‚Aphorismus‘ das französische Schriftstellerbrüderpaar Edmond Louis
Antoine Huot de Goncourt und Jules Alfred Huot de Goncourt ausgewiesen wird (vgl.
GD Streifzüge 7, EA 75). In Opposition zu der von diesen beiden in der Götzen-
Dämmerung dem Naturalismus – also jener literarischen ‚Mode‘, welche der Text
unter anderem auch in GD Streifzüge 1 in dem despektierlichen Vergleich „Z o l a : oder
‚die Freude zu stinken‘“ (GD Streifzüge 1, EA 69) diffamiert – zugerechneten Autoren
und deren im Text durch die Anführungszeichen als Zitat ausgewiesenen Leitsatz
„nach der Natur“, „d’après nature“ (KSA 14, S. 424), zu arbeiten, propagiert der
zitierte Absatz ein alternatives ‚methodisches‘ Vorgehen, welches in der Metapher der
instinktiven Verwendung „seiner camera obscura“ ihren Ausdruck findet. Durch den
Vergleich der eigenen ‚Methode‘ mit jener optischen Vorrichtung, welche aus den in
ihr gebündelten Lichtstrahlen „ein mit den natürlichen Farben versehenes, aber nur
matt erleuchtetes und umgekehrtes Bild des äußeren Gegenstandes erzeug[t]“433, wird
die konstitutive Vermittlungsleistung des solcherart arbeitenden Psychologen zur
Darstellung gebracht.
Wie der darauffolgende Satz belegt, folgt aus diesem Procedere, das den Umgang
des „geborene[n] Psychologe[n]“ mit Menschen (‚Fällen‘), Sachen („‚Natur‘“) sowie
sich selbst („‚Erlebte[ ]‘“) kennzeichnet, ein sich von der üblicherweise in den Wissen-
schaften dafür eingesetzten Induktion unterscheidendes ‚Abstraktionsprinzip‘. Dieses
verzichtet auf das eigentliche Schließen und ersetzt es durch eine Form des instinkti-
ven Verallgemeinerns, das sich – dies legt zumindest das Bild von der „camera
obscura“ nahe – des eigenen deutenden Anteils an derartigen Verallgemeinerungen
‚bewusst‘ ist.
Wie Andreas Urs Sommer in seinem Kommentar zur Götzen-Dämmerung über-
zeugend darlegt hat, geht diese im Intratext GD Streifzüge 7 und der ‚Vorstufe‘ aus
dem Heft W II 8 offensichtliche, die Bedeutung des Interpreten betonende Dimension
allerdings auch in der Druckfassung des Vorwortes selbst nicht vollständig verloren.
In der Erstausgabe erfolgt sie über den Gebrauch der bereits angesprochenen akus-
tischen Metaphern, welche letztendlich zu einer nicht mehr trennbaren Verwindung
von den im Vorwort bis zu diesem Punkte unterbestimmten „Götzen“ und den im
ersten Absatz desselben erwähnten (Glücks-)Fällen führt. Laut Sommer liegt die
Pointe von Nietzsches Gebrauch besagter Metaphern genau darin, „dass die aus-
zuhorchenden Götzen zwar auch Personifikationen sind, sie aber wie Dinge (oder
Körper) behandelt werden, die sich mit einem Hammer aushorchen lassen“434.

433 Meyer 1885–1892, S. 755f. zitiert nach Sommer 2012, S. 425.


434 Sommer 2012, S. 217. – Siehe dazu auch Sommer 2012. S. 222, wo dieser im Gegensatz zu Gori und
Piazzesi unterstreicht, dass aus der Lektüre des Vorwortes nicht eindeutig hervorgeht, um was es sich
bei diesen „Götzen“ genau handelt, „da das Vorwort keinen Götzen direkt identifiziert, sondern in der
metaphorischen Sprechweise bleibt“ (Sommer 2012, S. 223).
168 2.2. Die Götzen-Dämmerung

e.) Motivverknüpfung – Kriegserklärung an die ewigen Götzen: Die solcherart im


zweiten Absatz sich allmählich verdichtende Verwindung der zentralen Motive des
Vorwortes wird in dessen letztem Absatz fortgeführt. Dieser nimmt dabei nicht nur die
aus den ersten beiden Absätzen bekannten Motive – den Krieg und die Heil- bzw.
Erholungskraft desselben sowie die Fälle bzw. Götzen und deren Aushorchen durch
einen Psychologen – wieder auf, um sie noch inniger zusammenzuführen, sondern
fügt diesen Leitmotiven weitere Komponenten hinzu.
Bereits in den ersten beiden Sätzen wird dabei die innige Verflechtung von
kriegerisch-destruktiver Praxis und der mit dieser einhergehenden „Erholung“ noch
einmal betont: „Auch diese Schrift — der Titel verräth es — ist vor Allem eine
Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssiggang eines Psychologen.
Vielleicht auch ein neuer Krieg?“ (GD Vorwort, EA II)
Im ersten der beiden soeben zitierten Sätze klingt in der ‚Rede‘ vom „Müssiggang
eines Psychologen“ noch einmal der ursprünglich für die Götzen-Dämmerung geplan-
te Titel an, was in Anbetracht des letztendlich verwendeten Titels, auf den besagter
Satz sich ja explizit mit dem in Parenthese stehenden Einwurf bezieht, eine für Nietz-
sches schriftstellerische Praxis nicht unübliche Spannung zwischen Titel und Vorwort
erzeugt.435 Resultat dieser Spannung ist, dass letztendlich auch ein solcher „Müssig-
gang“ für die im Rahmen desselben auf- und angegriffenen „Götzen“ fatale Folgen
zeitigen kann,436 ist er doch trotz aller „Erholung“ zugleich auch potentiell „ein neuer
Krieg“ (GD Vorwort, EA II).
Auf die an diese beiden Sätze anschließende Frage – „Und werden neue Götzen
ausgehorcht?…“ (GD Vorwort, EA II) – folgt dann, dabei diese zugleich beantwortend,
zum ersten und einzigen Mal im ganzen Vorwort eine etwas genauere Bestimmung
von den bereits im zweiten Absatz des Paratextes ins Spiel gebrachten „Götzen“:

Diese kleine Schrift ist eine g r o s s e K r i e g s e r k l ä r u n g ; und was das Aushorchen von Götzen
anbetrifft, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern e w i g e Götzen, an die hier mit dem
Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, — es giebt überhaupt keine älteren, keine
überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen… Auch keine hohleren… Das hindert nicht, dass
sie die g e g l a u b t e s t e n sind; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht
Götze… (GD Vorwort, EA IIf.)

Es geht hier – und darin liegt ein zentraler Unterschied zu dem der Götzen-Dämme-
rung vorausgegangenen Der Fall Wagner, was nicht zuletzt die Ersetzung des in der
‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 8 noch zu findenden Vergleichs „gleich dem ‚Fall
Wagner‘“ (W II 8, S. 134; KSA 14, S. 411) durch „ — der Titel verräth es — “ (GD

435 Siehe zu dieser Schreibweise den kurzen Abschnitt „Nietzsches schriftstellerische Methoden:
Spannung zwischen Titel und Text“ in: Stegmaier 2012, S. 393–395.
436 Sommer weist darauf hin, dass „durch die Verquickung des götzenkritischen Geschäfts mit
diesem ‚Müssiggang‘ darauf aufmerksam gemacht [wird], dass es hochgefährlich wird, wenn ein
‚Psychologe‘ wie N. müßiggeht“ (Sommer 2012, S. 221).
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 169

Vorwort, EA II) am Anfang des Absatzes widerspiegelt – nicht primär um „Zeitgöt-


zen“, also zu Nietzsches Lebenszeiten dominierende Ideologien und ästhetische
Moden, obwohl diese, wie insbesondere das Kapitel „Was den Deutschen abgeht“ und
Teile der „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ belegen, an manchen Punkten des
Werkes auch ins Zentrum der Kritik rücken, sondern „e w i g e Götzen“, denen hier
expressis verbis der Krieg erklärt wird.437 In Hinblick auf die Frage, was unter besagten
„e w i g e [ n ] Götzen“ zu verstehen sei, ist darauf zu verweisen, dass in der Vorstufe
anstelle der vor der soeben zitierten Passage stehenden, sich im weiteren Textverlauf
als bloß rhetorisch herausstellende Frage „Und werden neue Götzen ausgehorcht?…“
(GD Vorwort, EA II) noch „Und werden wieder Götter umgeworfen“ (W II 8, S. 134;
KSA 14, S. 411) steht. Insofern ist zu erwarten, dass auch hier das für das veröffent-
lichte Vorwort bereits mehrfach nachgewiesene Prinzip der poetischen Verdichtung
und Verdunkelung die Darstellung leitet und mit den „e w i g e [ n ] Götzen“ die zen-
tralen Topoi der europäischen Philosophie- und Geistesgeschichte, also vor allem die
seit der Antike gültige Trias des Wahren, Guten und Schönen, Ziel der in der poeti-

437 Durch die Explikation der Kriegserklärung im ersten Satz der oben zitierten Passage verlässt das
Vorwort der Götzen-Dämmerung partiell den traditionellen Rahmen einer bestimmten Form des
Paratextes – nämlich des ‚Originalvorwortes‘ (vgl. Genette 2001, S. 190–227), dessen Kriterien es
ansonsten eindeutig erfüllt – und bewegt sich, wie dies vor allem bei Nietzsches späten Vorreden von
1886/87 der Fall ist, durch die derartig gegebene Imitation einer diplomatischen Kommunikationsform
in Richtung einer selbstständigen, durch verhältnismäßig eindeutige Gattungskonventionen bestimm-
ten Textform: der Kriegserklärung.
Eine solche charakterisiert sich nach Meyers Konversationslexikon von 1885–1892 durch „die
Ankündigung der Aufhebung des Friedenszustandes zwischen verschiedenen Mächten vor Beginn
eines Kriegs. Schon in den ältesten Zeiten erklärte eine kriegführende Macht, wenn sie nicht zu roh
oder auf Eroberungs- oder Raubzügen begriffen war, der zu bekriegenden den Krieg, meist unter
gewissen symbolischen Gebräuchen“ (Meyers 1885–1892, Bd. 10, S. 211).
Genau dies geschieht auch – allerdings in der bereits ausführlich angesprochenen poetischen
Form – im Vorwort der Götzen-Dämmerung. Erst nach diesem, mit dem den vielsagenden Titel
„Sprüche und Pfeile“ tragenden Kapitel, setzen die eigentlich ‚kriegerischen Handlungen‘ ein. – Die
Untersuchung dieser Analogie verdanke ich einem Hinweis von Enrico Müller.
Eine in Betreff der hier behandelten Metaphorik leicht abweichende – da nicht so sehr werk-
immanent orientierte – Lektüre des Vorwortes haben Pietro Gori und Chiara Piazzesi vorgelegt. Diese
deuten die „K r i e g s e r k l ä r u n g “ aus dem Kontext von Nietzsches spätem ‚Umwertungsprojekt‘ als
radikale Gegenposition Nietzsches zu den kulturellen Werten seiner Gegenwart: „L’utilizzo di questo
termine deve essere contestualizzato in una modalità di comunicazione che Nietzsche adotta nel sua
epistolario e che si lega in modo particolare al progetto della Trasvalutazione. Quando con l’Anticristo
vede completata la prima parte di quest’opera, Nietzsche enfatizza il proprio ruolo nella storia del
pensiero, contrapponendosi in maniera radicale con la cultura della propria epoca. Il Crepuscolo viene
quindi fatto rientrare in questa ‚operazione militare‘, in cui la contrapposizione a Wagner aveva
costituito solo un aspetto del piano generale di attacco“ (Gori/Piazzesi 2012, S. 132f.).
Wie aus dieser Passage hervorgeht, ist für Gori und Piazzesi der Träger des sich in der Kriegs-
führungspraxis verdichtenden Umwertungsprojektes – wie auch in den weiteren Passagen ihres hier
zitierten Kommentars zur GD – stets der historisch-empirische Autor Friedrich Nietzsche, der sich
durch diese seinen Ort in der europäischen Geistesgeschichte schaffen möchte.
170 2.2. Die Götzen-Dämmerung

schen Zusammenführung von „Hammer“ und „Stimmgabel“ ausgedrückten, selbst-


reflexiv gebrochenen Form der Kriegsführung sein werden.438
Überblickt man noch einmal die Resultate der soeben vollzogenen, zentrale werk-
interne Intertexte berücksichtigenden Lektüre des Vorwortes der Götzen-Dämmerung
lässt sich die von Andreas Urs Sommer im Nietzsche-Kommentar für diesen Paratext
konstatierte „Verschränkung von scheinbar unvereinbaren Metaphernfelder[n]“439 in
Hinblick auf die im Text zu erwartenden philosophischen und denkstilistischen
Leitmotive folgendermaßen auflösen: Zu erwarten ist eine Denk- und Schreibweise,
welche sich in Opposition zu zumeist personal repräsentierten „Götzen“ (Stichwort:
‚(Glücks-)Fälle‘) selbige einer radikalen Kritik unterzieht (Stichwort: „Krieg“) und auf
diesem Weg ihren „Übermuth“ zum Ausdruck bringt, um so zugleich durch die
(selbst)ironisch-heitere und konsequente Zurschaustellung ihrer eigenen Bedingtheit
und Beteiligung (Stichworte: „Hammer“/„Stimmgabel“, „geborene[ ] Psycholog[e]“,
Gegen-Begriffe/Anti-Lehren) das durch diese starke Positionierung sich ergebende
Erholungs- und Genesungspotential einzuholen und sich vom Ernst der Aufgabe der
Umwertung temporär zu befreien.
Zur weiteren Konkretisierung der soeben gelieferten Beschreibung und Bestim-
mung der nach der Lektüre des Vorwortes der Götzen-Dämmerung zu erwartenden
Leitmotive und Denkstile des Textes werde ich mich im Folgenden an einer Lektüre
des Kapitels „Das Problem des Sokrates“ versuchen, welches die im Vorwort noch
durchweg kryptisch artikulierten ‚heuristischen Methoden‘ nicht nur auf für das
gesamte Buch exemplarische Art und Weise anwendet, sondern diese auch weitaus
konkreter als im Vorwort reflektiert. Das zwölf Abschnitte umfassende Kapitel erlaubt
es, nicht nur die Vorgehensweise des Textes eingehender zu analysieren, sondern
auch weitere für die Gegenposition des ‚kriegsführenden‘ Sprecher-Ichs zentrale
inhaltlich-thematische Prämissen und Topoi in den Blick zu nehmen.

2.2.2.3. Methoden und Leitmotive III: Der Fall Sokrates (GD Sokrates)

Die nun einsetzende Lektüre wird sich den zentralen Fragestellungen dieses Kapitels
entsprechend auf eine Auseinandersetzung mit denjenigen Abschnitten von GD
Sokrates beschränken, die direkt an die zentralen Metaphern und Bilder des Vor-
wortes anknüpfen und sich dementsprechend nicht zu einer Gesamtinterpretation

438 Siehe dazu auch den Stellenkommentar in Sommer 2012, S. 222, der ebenfalls davon ausgeht, dass
mit den „ewige[n] Götzen“ „die großen Begriffe und Denkgefüge der religiösen, metaphysischen und
moralischen Tradition des Abendlandes gemeint“ (Sommer 2012, S. 222) sind.
In dieselbe Richtung, dabei allerdings das von Sommer ebenfalls wahrgenommene, den Text der
Götzen-Dämmerung mitunter prägende gestalterische Mittel der Personalisierung der „Götzen“ stark
vernachlässigend, weist auch Gori/Piazzesi 2012, S. 130.
439 Sommer 2012, S. 222.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 171

besagten Kapitels aufschwingen, in welchem die seit der Geburt der Tragödie in Nietz-
sches Schriften omnipräsente Auseinandersetzung mit Platons Protagonisten ihren
letzten Höhepunkt erreicht.
a.) Symptomatologie als Kritik: Sehr aufschlussreich für die (Re-)Konstruktion der
zentralen Modi des Denkstils der Götzen-Dämmerung sind bereits die ersten beiden
Abschnitte des Textes. Dieser eröffnet mit der Wiedergabe eines vermeintlichen
consensus sapientium440: „Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich
geurtheilt: e s t a u g t n i c h t s … Immer und überall hat man aus ihrem Munde densel-
ben Klang gehört, – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am
Leben, voll Widerstand gegen das Leben.“ (GD Sokrates 1, EA 9) Anstelle der von
einem philosophischen Text zu erwartenden kritisch-argumentativen Auseinander-
setzung mit diesem Werturteil über das Leben – d.h. also einer Analyse des zu diesem
Schluss führenden Arguments – folgt in GD Sokrates 1 auf die Wiedergabe dieses
vermeintlich universell gültigen Urteils nach einem kurzen Einschub, der dasselbe
noch einmal konkret am Beispiel von Sokrates vorführt,441 eine Frage, deren operati-
ver Modus die ‚Heuristik‘ der Götzen-Dämmerung über weite Strecken prägt. Sie
lautet:

— Was b e w e i s t das? Worauf w e i s t das? — Ehemals hätte man gesagt ( — oh man hat es gesagt
und laut genug und unsre Pessimisten voran!): „Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein! Der
consensus sapientium beweist die Wahrheit.“ — Werden wir heute noch so reden? d ü r f e n wir
das? „Hier muss jedenfalls Etwas k r a n k sein“ — geben w i r zur Antwort: diese Weisesten aller
Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn! (GD Sokrates 1, EA 9)

Hier tritt an die Stelle des in der Philosophie ansonsten bevorzugten argumentativen
Nachvollzuges eine Form des Fragens, welche nicht das Urteil selbst, sondern dessen
Träger ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die Weisen und deren exemplarischer
Vertreter Sokrates werden somit zu einem jener ‚(Glücks-)Fälle‘, von denen auch im
Vorwort schon die Rede ist. Indem ein nicht näher definiertes „w i r “ die Übereinstim-
mung der „Weisesten“ in ihrem Urteil über das Leben, ohne weiter auf dieses ein-

440 Zur Stellung dieser „Übereinstimmung der Weisen“ in der antiken Philosophie sowie weiteren
intertextuellen und werkinternen Bezügen siehe den Stellenkommentar in Sommer 2012, S. 263.
441 Der Einschub lautet: „Selbst Sokrates sagte, als er starb: ‚leben – das heisst lange krank sein: ich
bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig.‘ Selbst Sokrates hatte es satt.“ (GD Sokrates 1, EA
9) – Wie unter anderem Sommer im Nietzsche-Kommentar betont, kommt es bereits in diesem Einschub
zu einer Beschreibung des Sokrates, welche dem Sokrates-Bild aus der Geburt der Tragödie diametral
entgegengesetzt ist. Wurde Sokrates dort noch als optimistischer Archeget der Wissenschaften dar-
gestellt, wird er in der Götzen-Dämmerung „zum Pessimisten und Lebensverneiner umgedeutet“
(Sommer 2012, S. 262). Zum Originalwortlaut des hier von Nietzsche wiedergegebenen Intertextes,
Platons Phaidon, siehe ebenfalls Sommer 2012, S. 261f.
Zu Nietzsches Sokrates-Bild siehe einleitend: Orsucci 2000, S. 374f. und Becke 2009; zum Sokra-
tes-Bild in GD Sokrates siehe auch das hervorragende Kapitel „Nietzsches Problem: Sokrates“ in:
Müller 2005, S. 188–220.
172 2.2. Die Götzen-Dämmerung

zugehen, als Anzeichen von deren Kranksein deutet, kommt es zu der im Vorwort
angekündigten und bis zu diesem Punkte in GD Sokrates noch unreflektierten Setzung
einer primär willkürlich erscheinenden Gegenposition. Diese wird durch die der
eigentlichen Setzung vorangestellte und sich bereits im darauffolgenden Satz als rein
rhetorisch erweisende Frage „d ü r f e n wir das?“ als notwendig ausgewiesen und
solcherart ‚nur‘ rhetorisch gerechtfertigt. In den auf die Aufforderung, besagtes Phä-
nomen näher zu betrachten, folgenden, abermals bloß rhetorischen Fragen, mit
denen der erste Abschnitt von GD Sokrates schließt, wird die unmittelbar zuvor
gesetzte Gegenposition durch die Aufzählung eindeutig dem Kranksein zugeordneter
Bilder und Begriffe bei der Beschreibung der Weisen noch einmal poetisch verstärkt:
„Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest? spät? wackelig?
décadents? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner
Geruch von Aas begeistert?…“ (GD Sokrates 1, EA 10)
Erst im darauffolgenden zweiten Abschnitt kommt es durch die Verwendung
bestimmter in Nietzsches Werk semantisch stark aufgeladener ‚Termini‘ zu einer
Klärung der in der Frage nach dem Sinn des als Anzeichen gedeuteten Urteils der
„Weisesten“ implizierten zentralen heuristischen Prämissen der Götzen-Dämmerung.
Dieser zweite Abschnitt eröffnet wie folgt:

Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen N i e d e r g a n g s - T y p e n sind,
zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte
Vorurtheil entgegensteht: ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge
der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch („Geburt der Tragödie“
1872). (GD Sokrates 2, EA 10)

Dieser Satz nimmt beinahe sämtliche der zuvor für das methodisch-heuristische
Vorgehen der Götzen-Dämmerung als zu erwarten herausgearbeiteten Momente des
Vorwortes wieder auf und setzt manche davon in konkreter Form um: So kommt es
bereits im ersten Satzkolon durch die Verwendung der ersten Person Singular zur
Bezeichnung der von nun an den weiteren Textverlauf bestimmenden intratextuellen
Sprecherposition zur Umsetzung eines Teils der in der Hammer-/Stimmgabelmeta-
pher angedeuteten Untersuchungspraxis. Diese erfolgt nicht, wie sonst in gelehrten
Abhandlungen üblich, aus einer unpersönlichen und auf Allgemeingültigkeit ange-
legten Perspektive, sondern wird direkt an eine konkrete Person, das intratextuelle
Ich, und dessen persönlichen Blick gebunden. Die solcherart in GD Sokrates 2 ein-
setzende Individualisierung der Untersuchungsperspektive wird im Text durch den
Wechsel von einem den Leser potentiell noch inkludierenden „wir“ in GD Sokrates 1
zum Sprecher-Ich in GD Sokrates 2 noch zusätzlich verstärkt.442

442 Der besagte Perspektivenwechsel findet sich bereits in der frühesten Fassung von GD Sokrates 1
und 2. Diese noch zumindest zwei weitere Male – nämlich auf den losen Blättern 63r und 53r aus der
Mappe Mp XVI – überarbeitete Fassung findet sich auf den Seiten 50 und 51 des Arbeitsheftes W II 5. In
der aus dem Schreibprozess auf der Seite 51 rekonstruierbaren Grundschicht der mehrfach überarbeite-
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 173

Dem korreliert auf Seiten des ‚Untersuchungsgegenstandes‘ die Tatsache, dass es


sich auch bei diesem nicht um ein abstrakt-philosophisches Problem, sondern um
konkrete Personen (die Weisen, insbesondere: Sokrates und Platon) handelt, die zum
Problem stilisiert werden. Als Problem fallen diese, im Falle von Sokrates und Platon
gar realhistorischen Persönlichkeiten, in den Gegenstandsbereich jener an konkreten
Fällen ausgerichteten Heuristik, die schon im Vorwort angedeutet wird und auf die
der soeben zitierte Satz durch den Einschub „in einem Falle“ intratextuell verweist.443
Den eigentlichen Schlüssel zum besseren Verständnis der an diese herangetrage-
nen Analysemethode bilden jedoch zwei weitere diesen Passus dominierende ‚Begrif-
fe‘: die graphematisch durch Sperrung hervorgehobene Kennzeichnung der Weisen
als „N i e d e r g a n g s- T y p e n “ sowie die Gleichsetzung von Sokrates und Platon mit
„Verfalls-Symptomen“. Bei dieser Darstellungsweise handelt es sich offensichtlich
um jene in Nietzsches Gesamtwerk häufig anzutreffende und im Kapitel 2.1.2.3. bereits
kurz skizzierte Praxis der Typisierung, die es seinen Texten erlaubt, ansonsten nur in
abstracto verhandelte philosophische Problemata an konkreten Figuren festzuma-
chen und solcherart traditionelle Formen der Verallgemeinerung zu unterlaufen.
Wichtig ist nun, dass im konkreten Textfall die besagten Niedergangstypen als „Werk-
zeuge der griechischen Auflösung“ und „Verfalls-Symptome“ bezeichnet werden. Der
Begriff des Symptoms weist dabei auf jene medizinische Praxis voraus, welche in der
Götzen-Dämmerung an den wenigen explizit die eigene Methode reflektierenden
Stellen eine herausragende Rolle spielt: die Symptomatologie.
Wie ein Blick in den Brockhaus von 1894–1896 zeigt, war Nietzsches Zeitgenossen
der Begriff des ‚Symptoms‘ vorwiegend aus einem medizinischen Kontext geläufig.
Nach dem Lexikon bezeichnet ein Symptom in der Physiologie „eine Eigenschaft des
Organismus, vermöge deren durch die vermehrte oder verminderte Thätigkeit eines
Organs auch die eines andern vermehrt oder vermindert wird. Der allgemeine Grund
dieser physiologischen S. ist die enge Verbindung der einzelnen Teile des Organismus
zu einem lebendigen Ganzen.“444

ten Aufzeichnung vollzieht sich besagter Wechsel innerhalb eines einzelnen Textsegmentes, das dann
im Zuge seiner Überarbeitungen letztendlich in GD Sokrates 1 und den ersten Absatz von GD Sokrates 2
aufgeteilt wurde. Der zweite Absatz besagter Grundschicht eröffnet folgendermaßen: „Wir, wir Letzt-
gekommenen, wir Immoralisten sagen: hier muß Etwas krank sein“ (W II 5, S. 51, Z. 14). Im dritten
Absatz, der in der erneuten Überarbeitung auf S. 50 fehlt und letztendlich in den ersten Absatz von GD
Sokrates 1 eingegangen ist, vollzieht sich dann der Wechsel in die erste Person: „Mir selbst ist diese
Wahrheit – daß die großen Weisen Verfalls=Typen sind – am frühsten gerade in Bezug auf die großen
Griechen aufgegangen“ (W II 5, S. 51, Z. 26 und 28).
443 Insofern ist die Einsicht Enrico Müllers, dass „[d]as zum ‚Problem‘ stilisierte Individuum Sokrates
[…] exemplarisch [sei] für den individuellen Ausgangspunkt, der allem Philosophieren zugrunde liegt“
(Müller 2005, S. 191) nicht nur zu bekräftigen, sondern zu erweitern: Dieser individuelle Ausgangspunkt
wird im Text nämlich nicht nur durch den primär zum Typen stilisierten Problemfall zur Darstellung
gebracht, sondern auch dadurch, dass sich ihm ein eindeutig markiertes Sprecher-Ich zuwendet.
444 Brockhaus 1894–1896, Bd. 15, S. 543f.
174 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Die Götzen-Dämmerung überträgt die aus der zeitgenössischen Physiologie stam-


mende und auf diesem Symptomverständnis fußende Methode der Symptomatologie
in die Moral- und Kulturkritik, ohne dabei jedoch die Bezüge zu ihrem Ursprungs-
diskurs gänzlich aufzugeben, wie die nächsten beiden Sätze aus GD Sokrates 2
belegen:

Jener consensus sapientium — das begriff ich immer besser — beweist am wenigsten, dass sie
Recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten: er beweist vielmehr, dass sie selbst, diese
Weisesten, irgend worin p h y s i o l o g i s c h übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum
Leben zu stehn, — stehn zu m ü s s e n . Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider,
können zuletzt niemals wahr sein: sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als
Symptome in Betracht, — an sich sind solche Urtheile Dummheiten. (GD Sokrates 2, EA 10)

Ganz im Sinne der bereits angesprochenen Übertragung der medizinischen Sympto-


matologie in die so zur Diagnostik werdende Philosophie werden in diesem Passus
Werturteile als Symptome eines physiologischen Zustandes gedeutet und solcherma-
ßen ihres argumentativen Kontextes enthoben. Aus der durch die Aufpfropfung einer
medizinischen Begrifflichkeit auf traditionell philosophische Fragestellungen hervor-
gegangenen Perspektive des Sprecher-Ichs besitzen derartige Urteile, mögen sie auch
in ihrem argumentativen Zustandekommen folgerichtig sein, keinen Wahrheits-
anspruch. Der Text verlässt so die traditionellen Bahnen des zeitgenössischen phi-
losophischen Diskurses, an dessen Stelle eine stark personalisierte Deutungspraxis
tritt, die bereits im Vorwort angekündigt wird.
b.) Vom Symptom zum Zeichen – der sprachphilosophische Hintergrund: In GD Moral
2 wird die dabei erfolgende Bevorzugung einer an die Arbeit des Philologen erinnern-
den ‚Tiefenhermeneutik‘ gegenüber der ansonsten in der Philosophie dominierenden,
auf Propositionen aufbauenden Argumentation noch einmal unterstrichen, wenn dort
im Zuge der Beschäftigung mit der weitverbreiteten „Feindschaft, [… der] Todfeind-
schaft gegen die Sinnlichkeit “ auch diese als Symptom gedeutet wird und es dann in
Anknüpfung an diese Deutung heißt: „man ist damit zu Vermuthungen über den
Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven berechtigt“ (GD Moral 2, EA 30).
Auf die Nähe zwischen philologischer Lektüre und symptomatologischer Per-
sonendeutung hat unter anderem Christof Kalb hingewiesen.445 Kalbs subtile Lektüre
von Nietzsches Leib- und Sprachphilosophie, die das von der Forschung immer

445 Vgl. Kalb 2000, S. 215; ähnlich auch Stingelin 1993, S. 42. Insbesondere der Fokus auf den
konkreten (Text-)Fall, welcher die von Benne für Nietzsches spätes Philosophieren als zentrales
Paradigma gedeutete Bonner Philologie-Schule kennzeichnete, scheint auch in der Götzen-Dämmerung
gegeben zu sein. Wie die bisherige Lektüre besagten Werkes gezeigt haben sollte, beschränkt sich diese
allerdings bei der Auseinandersetzung mit den für sie relevanten konkreten Fällen nicht ausschließlich
auf die Applikation philologischer Methoden auf kulturdiagnostisch-philosophische Problemkonstel-
lationen, sondern entwickelt durch die bloß auf den ersten Blick synkretistisch erscheinende Zusam-
menführung verschiedener heuristischer Methoden eine höchst individuelle Vorgehensweise, die an
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 175

wieder aufgegriffene höchst komplexe Zusammenspiel von Leib, Selbst und Ich in
Nietzsches Spätwerk ausgehend von den dort zu findenden Phänomenen der Des-
integration deutet und dabei feststellt, „daß Nietzsche ‚am Leitfaden des Leibes‘ die
Spur symbolischer Reintegration verfolgt“446 habe, gelangt zu einer Bestimmung der
Bedeutung des Symptombegriffs in Nietzsches Werk, die hier als Ausgangspunkt der
eingehenderen Beschäftigung mit diesem ‚Terminus‘ dienen soll: „Symptome sind als
solche zeichenhafte Objektivationen, in denen sich das Selbst, das doch in gewisser
Weise deren Autor ist, gleichwohl nicht wiederzuerkennen vermag; als von subjekti-
vem Selbstverständnis abgekoppelte Zeichen bilden sie den Deutungsgegenstand der
genealogischen Hermeneutik.“447
Abgesehen davon, dass auch Kalb wie die Mehrheit rekonstruktiv verfahrender
philosophischer Nietzschelektüren den Symptombegriff mit der von Nietzsche nie-
mals eindeutig als Methode ausgewiesenen Genealogie zusammenführt, erweist sich
auch dessen Interpretation der Symptome als zeichenhafte Objektivationen als pro-
blematisch. Dies wird durch eine Lektüre derjenigen Textstelle der Götzen-Dämme-
rung, die als einzige tatsächlich den Begriff der ‚Symptomatologie‘ – in der Erst-
ausgabe steht fälschlicherweise „Symptomologie“ – beinhaltet, offensichtlich:

Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur
Widersinn. Aber es bleibt als S e m i o t i k unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigs-
tens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug w u s s t e n ,
um sich selbst zu „verstehn“. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomologie: man muss
bereits wissen, w o r u m es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. (GD Verbesserer 1, EA 51f.)

In der impliziten Feststellung, dass der sich der Symptomatologie bedienende Denker
bereits wissen müsse, worum es sich bei der von ihm zu deutenden Zeichenrede
handelt, wiederholt sich der schon in der Metapher der Stimmgabel mitschwingende
philosophische Topos, dass in jeder Anwendung einer bestimmten heuristischen
Methode deren zentrale Vorannahmen bzw. der Denkhorizont ihres Anwenders eine
konstitutive Rolle für deren Resultate spielen: Erst aus dem Zusammenspiel von
Gegenstand und Interpret resultieren die ‚Einsichten‘ der philosophisch gewendeten
Symptomatologie. Dieses Element der ‚symptomatologischen‘ Auslegungspraxis wird
durch Kalbs Deutung der Symptome als zeichenhafte Objektivationen verdeckt.448

manchen Punkten weit über den durchweg positiven Wissenschaftsbegriff der von Benne für Nietzsche
zur Leitwissenschaft erklärten Bonner Schule hinausgeht.
446 Kalb 2000, S. 13.
447 Kalb 2000, S. 222.
448 Diese Vernachlässigung der (be)deutungskonstitutiven Interaktion zwischen Symptomatologem
und dem von diesem untersuchten Zeichen spiegelt sich auch in zahlreichen anderen Formulierungen
von Kalbs Studie wieder. So zum Beispiel wenn er in der im Lauftext zitierten Stelle von einer
„genealogischen Hermeneutik“ spricht. Insbesondere der Begriff der Hermeneutik deutet auf ein den
Einfluss des Interpreten zu minimieren trachtendes Auslegungsverfahren hin, was Kalbs Interpretation
176 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Des Weiteren scheint Kalb auch den in GD Verbesserer 1 verwendeten Begriff der
‚Semiotik‘ allzu sehr aus dem Kontext der modernen Linguistik zu verstehen. Wie
Andreas Urs Sommer im Nietzsche-Kommentar durch ein Zitat aus Meyers Konversati-
onslexikon von 1885–1892 darlegt, bezeichnet ‚Semiotik‘ im 19. Jahrhundert keine
allgemeine Zeichenlehre, sondern entstammt – ebenso wie der mit ihr in GD Ver-
besserer 1 zusammengeführte Begriff der „Symptomologie“ – der medizinischen
Praxis:449

Semiótik (Semiologie, Phänomenologie, griech.), die ärztliche ‚Zeichenlehre‘, die Lehre, wie aus
den Erscheinungen am Krankenbett Schlüsse auf die bestehende Krankheit und ihren mutmaß-
lichen Verlauf zu machen sind. Die S. bildet im Verein mit den physikalischen Untersuchungen,
der Auskultation und Perkussion, den Inhalt der ärztlichen Diagnostik, sie ist die Grundlage für
die Vorhersage (Prognose) u. das Heilverfahren (Therapie).450

Dennoch speist sich die Bedeutung des in der Götzen-Dämmerung zur Beschreibung
der dort angewandten Methode der Moral- und Kulturkritik verwendeten Begriffs
nicht ausschließlich aus der ihm in der damaligen medizinischen Praxis zukommen-
den Semantik. Wie bereits Martin Stingelin vermutete und Nikolaos Loukidelis letzt-
endlich belegt hat,451 kommt ihm intertextuell noch eine weitere semantische Nuance
zu, die letztendlich dazu führt, dass der Begriff der ‚Semiotik‘ in der Götzen-Dämme-

in Opposition zu den seit den ersten philosophisch-rekonstruktiven Interpretationen von Nietzsches


‚Methode der Genealogie‘ vorgebrachten Deutungen derselben bringt. Diese verstehen insbesondere in
ihrer aktualisierenden (vgl. Foucault 2002 [1971]) Variante die ‚Genealogie‘ als ein durchweg gewalt-
tätiges Aneignungsverfahren, das sich nicht zuletzt durch die in dieser Gewalt omnipräsente Perspekti-
vierung an ihren Untersuchungsgegenständen kompromittiert. Das Moment des Sich-Selbst-Kompro-
mittierens qua starker (Auto-)Positionierung des Genealogen wird auch von Deutungen betont, welche
im Gegensatz zum Poststrukturalismus keine gewalttätigen Momente im genealogischen Verfahren
wahrnehmen (vgl. Stegmaier 1994, S. 64f.).
Ähnlich problematisch wie die Vernachlässigung dieses Sachverhaltes ist ein weiteres, unmittel-
bar mit dem soeben dargelegten Genealogie-Verständnis verbundenes Element von Kalbs Interpretati-
on von Nietzsches symptomatologischer Methode. Durch diese solle sich nämlich „in der Außenper-
spektive eines neutralen Beobachters […] der Sinn menschlicher Existenz rekonstruieren lassen“ (Kalb
2000, S. 220). Weder die Behauptung von der Existenz einer solchen Außenperspektive noch die aus
dieser erfolgende Rekonstruktion des Sinns der menschlichen Existenz halten einem Vergleich mit
dem Text der Götzen-Dämmerung stand.
449 Vgl. Sommer 2012, S. 112.
450 Meyer 1885–1892, Bd. 14, S. 853f. zitiert nach Sommer 2012, S. 112.
451 Vgl. Stingelin 1993 und 1996, insbesondere S. 137–152 sowie Loukidelis 2007. – Siehe dazu auch
Sommer 2012, S. 359f., der ebenfalls auf den Einfluss von Liebmanns Gedanken und Tatsachen ver-
weist, Nietzsches Adaption des Semiotikbegriffes jedoch anders auslegt, wenn er im Zuge der Deutung
von GD Verbesserer 1 feststellt: „N. überträgt […] die naturphilosophische Terminologie auf die Kultur-
und Moralanalyse, mit dem Anspruch freilich, hinter den Symptomen auf die inneren Zustände, das
Reale zugreifen zu können“ (Sommer 2012, S. 360). Zwar ist in GD Verbesserer 1 von „Realitäten von
Kulturen und Innerlichkeiten“ die Rede, jedoch erscheint es in Anbetracht des bereits rekonstruierten
Zeichenbegriffes der Götzen-Dämmerung als höchst fragwürdig, dass das durch den Symptomatologen
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 177

rung „zwischen der neueren und der älteren Bedeutung des Wortes oszilliert“452. Die
‚Quelle‘ dieser in den Semiotikbegriff der Götzen-Dämmerung einfließenden Zusatz-
bedeutung ist Otto Liebmanns 1882 erschienenes Buch Gedanken und Thatsachen.
Philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien, das Nietzsche 1887 gelesen
hat.453 In diesem Text findet sich ein Passus, der eine hilfreiche intertextuelle Folie
zum besseren Verständnis des in Nietzsches Gesamtwerk insgesamt nur sieben Mal
belegten Terminus ‚Semiotik‘ liefert. Er lautet:

Hieraus resultirt der Gedanke, unsere galilei-neutonische, im Rahmen des absoluten Raumes
construirte Mechanik sei vielleicht nicht, wofür sie gehalten zu werden pflegt, eine Aetiologie des
absolut Realen, sondern bloße Semiotik der für Menschen wahrnehmbaren Symptome des Rea-
len. Möglicherweise verhält sie sich, bei aller ihrer inneren Correctheit, zum absolut Realen doch
nur so, wie die mit schwarzen Punkten auf’s Papier gedruckte Notenschrift zu dem klangvollen
Tonmeer der Musik. Dies aber überträgt sich von selbst auf unsere gesammte mechanische
Naturphilosophie. Wieweit sie eigentlich mit ihren mathematischen Diagnosen unter die Ober-
fläche der Erscheinungen hinabdringt, wissen wir durchaus nicht. Möglicherweise bleibt ihr die
metaphysische Wurzel der uns gegebenen räumlichen Phänomenalwelt vollständig unerfaß-
bar.454

In diesem Textauszug aus Liebmanns Buch wird der Begriff der Semiotik aus seinem
traditionellen Gebrauchskontext in die „mechanische Naturphilosophie“, d.h. einen
ihm zumindest im 19. Jahrhundert durchweg fremden Diskurs, übertragen. Schon bei
Liebmann werden dabei, wie dann auch in der Götzen-Dämmerung, nicht nur der
Terminus selbst, sondern auch die mit ihm in seinem Ursprungsdiskurs ein gemein-
sames Wortfeld bildenden ‚Symptome‘ in die Philosophie überführt. In der Bezeich-
nung der Mechanik als einer bloßen „Semiotik der für Menschen wahrnehmbaren
Symptome des Realen“ spielt so schon teilweise die dann von der mit de Saussure
einsetzenden modernen Linguistik vorherrschende Bedeutung von Semiotik als derje-
nigen Wissenschaft, die sich mit Zeichensystemen aller Art beschäftigt, hinein. Be-
zeichnenderweise spricht Liebmanns Text jedoch noch nicht von der Mechanik als
einer Semiotik der für Menschen wahrnehmbaren Zeichen des Realen, sondern rekur-
riert auf den Begriff des Symptoms, worin die ursprüngliche medizinische Bedeutung
noch mitschwingt.
Offensichtlich wird der intertextuelle Bezug zwischen dieser Passage Liebmanns
zu Nietzsches Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1888 bereits in demjenigen Notat aus
dem Heft W II 5, welches als erster Beleg der Verwendung des Begriffs der ‚Semiotik‘

solcherart freigelegte ‚Reale‘ einem korrespondenztheoretischen Wahrheitsanspruch erfüllt, wie man


im Zuge der Lektüre von Sommers diesbezüglichem Stellenkommentar vermuten könnte.
Zum epistemologisch-ontologischen Status der in der Götzen-Dämmerung beschriebenen Welt
siehe auch meinen Beitrag zu GD Fabel: Pichler 2013.
452 Stingelin 1993, S. 29.
453 Vgl. Brobjer 2008, S. 229.
454 Liebmann 1882, S. 68 zitiert nach Loukidelis 2007, S. 394.
178 2.2. Die Götzen-Dämmerung

bei Nietzsche gilt. Es handelt sich dabei um eine kaum überarbeitete Aufzeichnung,
die mehrere Titel führt, darunter unter anderem „Machtquanta“ sowie der „Wille zur
Macht“ (vgl. W II 5, S. 138, Z. 1–2). Die für Nietzsches Semiotikbegriff relevante Passage
schreibt sich direkt in den auch die Liebmann’sche Passage charakterisierenden
mechanischen Diskurs ein: „Subjekt, Objekt, ein Thäter zum Thun, das Thun u das,
was es thut gesondert: vergessen wir nicht, daß das eine bloße Semiotik u nichts
Reales bezeichnet. Die Mechanik als eine Lehre der Bewegung ist bereits eine Über-
setzung in die Sinnensprache des Menschen.“ (W II 5, S. 138, Z. 50–56)
Bereits in dieser bei Nietzsche erstmaligen Verwendung der in der Handschrift
durch den Wechsel von deutscher zu lateinischer Schreibschrift hervorgehobenen
‚Semiotik‘ kommt es allerdings zu einer nicht unbedeutenden Verschiebung im Ver-
ständnis des dieser Zeichenlehre zugrunde liegenden Zeichenbegriffes gegenüber
der ihm bei Liebmann zukommenden Bedeutung. Ist in Liebmanns Text nämlich
noch von einer ‚Semiotik der Symptome des Realen‘ die Rede, heißt es im Notat:
„daß das eine bloße Semiotik u nichts Reales bezeichnet“ (W II 5, S. 138, Z. 52–54).
Während also bei Liebmann zwischen dem Symptom und der Realität noch eindeu-
tig ein zwar partiell gebrochenes – die Realität ist nur mehr über Symptome
erfahrbar –, aber in dieser Brechung immer noch repräsentatives Verhältnis besteht,
wird diese Verbindung in Nietzsches Aufzeichnung gekappt: Die in der Semiotik
zusammengefassten Zeichen stehen nicht mehr für eine bestimmte in ihnen noch
symbolisch oder indexikalisch vermittelte Realität, sondern scheinen eine Realität
für sich zu bilden. Zwar besteht auch diese Semiotik noch aus bedeutungsvollen
Zeichen. Deren Bedeutung kommt ihnen aber nicht mehr wie noch bei Liebmann
über einen referentiellen Verweisungszusammenhang zu, der vom Zeichen über ein
symptomatisches Verhältnis zu den Gegenständen führt, die den Zeichen so ihre
Bedeutung geben, vielmehr handelt es sich bei der als Semiotik verstandenen
Mechanik um „eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen“ (W II 5, S. 138,
Z. 54–56). Das Verhältnis zwischen Semiotik und Realität ist also in dieser Aufzeich-
nung bereits anthropomorph – nämlich durch Übersetzung – vermittelt. Es scheint
sich dabei um ein analoges Vorgehen zu handeln, wie es bereits in „Über Wahrheit
und Lüge im aussermoralischen Sinne“ in der dort artikulierten Sprachursprungs-
hypothese und dem diese kennzeichnenden „vollständige[n] Ueberspringen der
Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue“ (WL 1, KSA 1, S. 879), beschrie-
ben worden ist.
Die in dieser semantischen Verschiebung gegenüber dem Intertext zum Ausdruck
kommende Skepsis gegenüber jeglicher ungebrochenen Repräsentation der Realität
qua Zeichen wird in einer weiteren Aufzeichnung aus demselben Arbeitsheft, dann
auf die gesamte Sprache übertragen: „Es steht nicht in unserem Belieben, unser
Ausdrucksmittel zu verändern: es ist möglich, zu begreifen, in wiefern es bloße
Semiotik ist. Die Forderung einer adäquaten Ausdrucksweise ist unsinnig: es liegt im
Wesen einer Sprache, eines Ausdrucksmittels, eine bloße Relation auszudrücken…“
(W II 5, S. 97, Z. 56–58)
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 179

Ähnlich wie im Frühwerk die Metapher destruiert auch dieses Semiotikverständ-


nis sämtliche Korrespondenztheorien der Wahrheit. Sprache und die diese konstituie-
renden Zeichen repräsentieren nicht adäquat, sondern funktionieren primär relatio-
nal.
Dennoch erlaubt gerade diese Relationalität einem Interpreten, der sie aus der
historischen Distanz mit den Augen eines Symptomatologen betrachtet, neue ‚Ein-
sichten‘, offenbart sie doch – wie es in GD Verbesserer 1 heißt – „für den Wissenden
wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten“ (GD Ver-
besserer 1, EA 52): Gerade dadurch, dass ein Zeichensystem in seiner Relationalität
das gesamte ‚(Sprach-)Wissen‘ einer bestimmten Epoche implizit mit sich führt, kann
über die ‚genealogische‘ Beschäftigung mit solcherart einen Gesamt-Zustand einer
Sprachgemeinschaft insgeheim in sich tragenden Werturteilen eine Neubeurteilung
dieser Werturteile in Hinblick auf die nun vom Symptomatologen abermals wie
bereits von besagter Sprachgemeinschaft selbst im Zuge einer Übersetzung mitkon-
stituierten ‚Realität‘ erfolgen. Aufgrund dieser Beteiligung des diagnostizierenden
Philosophen wird dieser – wie es in GD Verbesserer 1 heißt – schon „wissen, w o -
r u m es sich handelt“, bevor er aus seinem symptomatologischen Vorgehen den
„Nutzen […] zieh[t]“. Darin ähnelt er dem Arzt, welcher ebenfalls Symptome nur auf
dem Hintergrund seines medizinischen Wissens deutet. Die Bedingungen sowie Be-
dingtheiten dieses deutungsleitenden ‚Wissens‘ kommen dabei primär nicht in den
Blick, da eine Hinterfragung desselben den eigentlichen Deutungsprozess retardieren
würde.
Insofern kann man in Anlehnung an Martin Stingelin feststellen, dass auch die in
der Götzen-Dämmerung eine zentrale heuristische Funktion übernehmende Sympto-
matologie „von einem doppelt verschränkten Spannungsverhältnis zwischen histori-
scher Kritik und Sprachkritik bewegt“455 wird: Erst im Zusammenspiel des sich selbst
dabei eindeutig mit einbringenden Symptomatologen mit einem aus einer bestimm-
ten Semiotik zu verstehenden Werturteil kann des Letzteren Symptomcharakter auf

455 Stingelin 1993, S. 29. – Obwohl Stingelin prinzipiell in den Grundthesen seines 1993 publizierten
Aufsatzes zu „Zeichen und Geschichte in Nietzsches Spätwerk“ zu folgen ist, kann die von ihm dort
aufgestellte These, dass die das Spätwerk dominierende Semiotik samt ihrem Ziel, das „Werden […] in
Zeichen abzukürzen“ (W I 4, S. 28, Z. 34), „in doppelter Hinsicht rhetorischer Natur“ (Stingelin 1993,
S. 35) sei, angezweifelt werden. Was Stingelin hier als Rhetorik bezeichnet – die tropische oder
figurative Bedeutungsverschiebung – setzt, um überhaupt festgestellt werden zu können, eine eigent-
liche Bedeutungsebene voraus, zu welcher man jedoch gerade mit Nietzsches später an die ‚Philo-
sophie der Grammatik‘ gebundene Symptomatologie nicht mehr – und wenn, dann nur erratend –
gelangt. Dies legt Stingelin in seinem Beitrag selbst nahe, wenn er im Zuge der Beschäftigung mit
Nietzsches später ‚Philosophie der Grammatik‘ treffend feststellt: „Die Implikation, daß selbst das
reflektierende Nachdenken über das sprachliche Schema, das unserem vernünftigen Denken zugrunde
liegt, diesem Schema unterworfen ist und ihm folgen muß, verhindert eine (der Erkenntnis) trans-
parente Trennung zwischen Objektsprache und Metasprache, die frei wäre von dem sprachlichen
Schema, das ihr Gegenstand ist.“ (Stingelin 1993, S. 38)
180 2.2. Die Götzen-Dämmerung

dem Hintergrund der selbst sprachlich vermittelten Grundannahmen des Ersteren neu
gedeutet werden. Bezugsobjekt dieses Deutungsprozesses bleibt stets ein bestimmter
Körper, bei dem es sich entweder um den konkreten Leib einer zum Typus stilisierten
Person oder den Gesellschaftskörper einer bestimmten Epoche handelt.
Kehrt man von diesem für das Verständnis der Symptomatologie notwendigen
Exkurs zum Kapitel „Das Problem des Sokrates“ zurück, wird einem auch das ansons-
ten wohl aufgrund seines Anspruchs auf Allgemeingültigkeit primär irritierende
Urteil, das in demjenigen Satz von GD Sokrates 2 artikuliert wird, der auf jenen Passus
folgt, von dem besagter Exkurs seinen Ausgangspunkt genommen hat, einleuchten:

Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunli-
che finesse zu fassen, d a s s d e r W e r t h d e s L e b e n s n i c h t a b g e s c h ä t z t w e r d e n k a n n .
Von einem Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter; von
einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. (GD Verbesserer 1, EA 10f.)456

Gerade aufgrund dieser prinzipiellen Unabschätzbarkeit des Wertes des Lebens eig-
nen sich sämtliche Werturteile über dasselbe hervorragend für ‚symptomatologische‘
Fragestellungen. Wie der Abschluss von GD Sokrates 2 belegt, schwingt in diesen
dann bereits das Wissen um die Problematik des Gesamtzustandes der sie artikulie-
renden Person(en) mit. Die Tatsache, dass sich jemand wertend über das Leben
äußert, scheint bereits zu bestätigen, dass mit diesem jemand etwas nicht in Ordnung
sei: „ — Wie? und alle diese grossen Weisen — sie wären nicht nur décadents, sie
wären nicht einmal weise gewesen? — Aber ich komme auf das Problem des Sokrates
zurück.“ (GD Sokrates 2, EA 11)
c.) Der Gegenstand der Kritik – die décadence: Die das Leben bewertenden Weisen
werden hier nicht nur abermals in einer rhetorischen Frage, deren bloße Rhetorizität
das Textstück graphematisch durch den auf sie folgenden Geviertstrich hervorhebt,
als unweise, sondern wie auch schon am Ende von GD Sokrates 1 (vgl. EA 10) als
„décadents“ ausgewiesen. Genau darin, in der Dekadenz und den sie paradigmatisch
repräsentierenden, aus der Weltgeschichte herausragenden „décadents“ hat die For-
schung für lange Zeit den zentralen inhaltlichen Topos von Nietzsches Schriften aus
dem Jahr 1888 identifiziert. So schreibt zum Beispiel Giorgio Colli in seinem Nachwort
zur KSA 6, dabei abermals insgeheim textinterne Fragestellungen mit dem psycho-
pathologischen Zustand ihres Verfassers zusammenführend: „Alle theoretischen Ar-
gumente [in den Schriften von 1888; A.P.] gehen inzwischen also ganz offen von
einem Ekel aus, einem Abscheu vor der Gegenwart, und dieser Abscheu wird modifi-

456 Die Bedeutung und Funktion dieses sowie des darauffolgenden Satzes – „ — Von Seiten eines
Philosophen im W e r t h des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn,
ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit.“ (GD Sokrates 2, EA 11) – erschöpfen sich
allerdings nicht durch eine Lektüre derselben auf dem Hintergrund der im Lauftext rekonstruierten
‚symptomatologischen‘ Fragestellungen. Zu den weiteren Implikationen dieser beiden Sätze siehe das
Kapitel 2.2.4.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 181

ziert, auf sein Kernproblem zurückgeführt: das Problem der décadence.“ (KSA 6,
S. 451)457
Die Bedeutung und Verwendung dieses Begriffes in Nietzsches späten Schriften
ist mittlerweile sehr gut erforscht. Ich werde daher zuerst einen kurzen Überblick der
bisherigen Forschungsresultate liefern, bevor diese dann am Textbestand der Götzen-
Dämmerung erneut überprüft werden sollen. Laut Andreas Urs Sommer lässt sich der
Terminus der décadence begriffsgeschichtlich auf drei unterschiedliche Bedeutungs-
linien zurückführen:

Erstens wird der Ausdruck seit Boileau, Montesquieu und Gibbon mit mehr oder weniger stark
moralischer Konnotation für den Verfall des Römischen Reiches […] und – etwa bei Bossuet – für
den Zustand der Gegenwart verwendet. Zweitens ist décadence die Selbstprädikation einer künst-
lerischen Bewegung um Charles Baudelaire und Paul Verlaine, die die Negation bürgerlicher
Werte und das Ausbrechen aus dem bürgerlichen Normgefüge zum Programm erhoben hat […].
Die literarische décadence-Bewegung fand N. beispielsweise in Paul Bourgets (Nouveaux) Essais
de psychologie contemporaine dokumentiert. Drittens ist der physiologische Gebrauch der Vo-
kabel im Sinne von Degenerescenz auch schon unter N.s naturwissenschaftlichen und medizi-
nischen Zeitgenossen verbreitet[.]458

Wie der Artikel zur Dekadenz im Nietzsche-Wörterbuch zeigt, spiegeln sich in Nietz-
sches Gebrauch des Dekadenzbegriffes zwar diese drei Bedeutungslinien wieder,
erschöpfen sich jedoch nicht darin: Nietzsche, der bereits in den siebziger Jahren
gelegentlich das Wort décadence im traditionellen Sinn von ‚Verfall‘ und ‚Niedergang‘
benutzt hat, greift nach seiner Lektüre von Paul Bourgets Essais de psychologie
contemporaine den bereits dort vom traditionellen Verständnis abgelösten Dekadenz-
begriff aus einer kulturdiagnostischen Perspektive auf und deutet ihn in Anknüpfung
an die bei Bourget noch primär ästhetisch als Selbstständigwerden des Wortes ver-
standene Unfähigkeit, ein kohärentes Ganzes zu bilden. In Nietzsches Texten kommt
es dabei jedoch zu einer Umkehrung in der Beurteilung dieses Tatbestandes:459 „nicht
das Ganze zerfällt in selbstständige Einheiten, sondern vielmehr sind es die Einheiten,
denen es nicht gelingt ein Ganzes zu bilden“460.

457 Auch Montinari 1984 und Ridely 2005 betonen die herausragende Bedeutung der décadence für
das Verständnis von Nietzsches Schriften von 1888. Etwas zurückhaltender bei der Bestimmung der
Bedeutung der décadence ist hingegen Sommer, der sie im Überblickskommentar zur Götzen-
Dämmerung bloß „als ein Hauptthema“ (Sommer 2012, S. 204; Hervorhebung A.P.) des Buches
bezeichnet.
458 Sommer 2012, S. 32.
459 Siehe zu diesem ganzen Absatz den Artikel zur ‚Dekadenz‘ im NWB, S. 540–563, insbesondere
540f. sowie Sommer 2012, S. 32f. und S. 264f. – Sommer sieht in Nietzsches Gebrauch des Dekadenz-
begriffes die Verwindung von vier voneinander ursprünglich getrennten Wortverwendungen: der
historischen, der moralisch-außermoralischen, einer zeitkritischen und einer physiologischen (vgl.
Sommer 2012, S. 32f.).
460 NWB, S. 541. – Siehe zu besagter Umkehrung auch schon Kuhn 2000.
182 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Die Bedeutung des Dekadenz-Begriffes wird dann im Spätwerk noch einmal ver-
schoben, indem der Terminus in die in diesen Texten zunehmend hervortretenden
physio-psychologischen Überlegungen integriert wird. Die zentrale Rolle des solcher-
art re-semantisierten ‚Terminus‘ in und für die Schriften von 1888 hat auch Mazzino
Montinari hervorgehoben:

Der Einbruch des Medi-zynischen ist ein Kennzeichen des hindämmernden 19. Jahrhunderts.
Verbrecher und Prostituierte, Alkoholiker und Neurotiker, Degenerierte und Irrenhäusler: Dégé-
nérescence et criminalité, das ist ein beliebtes Thema der Physiologen, das ist der Titel eines
Werkes von Charles Féré, das Nietzsche im Frühjahr 1888, kurz nach dessen Veröffentlichung,
fleißig gelesen und exzerpiert hat, dem er sein Wissen um das régime der Kranken im Fall
Wagner und manches andere in der Götzen-Dämmerung verdankt.461

Dekadenz bezeichnet auf diesem Hintergrund einen physiologischen Niedergang,


der – wie es bei Montinari treffend heißt – ‚medi-zynisch‘ rekonstruiert werden kann.
Diese Form der Dekadenz, welche im Spätwerk auch häufig in Anlehnung an Féré als
‚Degerenescenz‘ bezeichnet wird, offenbart sich insbesondere als ein ‚Wille zum Ende‘
und dem damit einhergehenden Niedergang des Lebens. Laut Sommer stehen die
diese Form der Dekadenz verkörpernden décadents somit auf einer Linie mit den
Nihilisten und Pessimisten.462
Trotz dieser Parallelen zur pathologischen Terminologie Férés ist die Beurteilung
der Dekadenz in Nietzsches Schriften in der Forschung umstritten. Während im NWB-
Artikel auf die Abhängigkeit des jeweiligen Urteils über die in einem bestimmten
Textstück verhandelten Dekadenzphänomene von der Gesamttendenz der in diesem
Textstück vorherrschenden Position hingewiesen wird,463 konstatiert Dieter Borch-
meyer in dem von ihm verfassten décadence-Artikel des Nietzsche-Lexikons, dass sich
in Nietzsches Schriften „in einer oft irritierenden Dialektik die traditionell negative
Sicht der D[ekadenz] mit ihrer positiven Umwertung“464 verschränke. Der Begriff
werde so zu einem polarisierenden Terminus, „der jede eindeutige Wertung aus-
schließ[e]“465.
Kommentare wie diese verweisen einmal mehr auf die bei der Lektüre Nietzsches
stets gegebene Notwendigkeit, die konkrete Bedeutung eines Wortes bzw. ‚Begriffes‘ –
falls eine solche überhaupt existiert – eingedenk der von der Forschung bereits heraus-
gearbeiteten semantischen Dimensionen desselben im jeweiligen Textsegment erneut
zu überprüfen. Wirft man einen Blick in die Götzen-Dämmerung, wird man zur eigenen
Überraschung feststellen, dass der von Forschern wie Colli und Montinari in Betreff der
Dekadenzproblematik konstatierte leitmotivische Charakter derselben sich nicht un-

461 Montinari 1984, S. 76. – Siehe dazu auch NWB; S. 561f. und Sommer 2012, S. 282f.
462 Vgl. Sommer 2012, S. 264f.
463 Siehe dazu NWB, S. 558ff.
464 Borchmeyer 2009, S. 66.
465 Borchmeyer 2009, S. 66.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 183

mittelbar in der Quantität des Auftretens des Dekadenzlexems niederschlägt: So ist das
Lemma in der Götzen-Dämmerung sechsundzwanzig Mal in siebzehn Texteinheiten
belegt. Der Begriff der „Degerenescenz“ taucht überhaupt nur viermal im Text auf.
Neben dieser verhältnismäßig geringen Anzahl fällt des Weiteren auf, dass sich die
Verwendung des Terminus durch eine sehr eigentümliche Streuung charakterisiert:
Sieben Verwendungen in GD Sokrates und 13 Verwendungen in den „Streifzügen eines
Unzeitgemäßen“ stehen nur sechs weitere Belege im restlichen Text (GD Vernunft 6, GD
Moral 5, GD Alten 2 und 3) gegenüber. Ähnlich verhält es sich mit dem „Degeneres-
cenz“-Begriff, der zweimal in GD Streifzüge 20, einmal in GD Sokrates 9 und ein weiteres
Mal in GD Moral 2 Verwendung findet. Erinnert man sich in einem stark komplexitäts-
reduzierenden Durchlauf der zentralen Themata besagter Kapitel, scheint es auf den
ersten Blick fast so, als würde der Dekadenz-Begriff nur in der Beschäftigung mit
konkreten historischen Persönlichkeiten – sprich Sokrates in GD Sokrates – und den
von diesen geschaffenen Ästhetiken und Ideologien (GD Streifzüge) seine Verwendung
finden, in den philosophischen (GD Vernunft, GD Fabel), moralkritischen (GD Moral,
GD Irrthümer) und kulturdiagnostischen (GD Verbesserer, GD Deutsche) Kapiteln
jedoch auf seinen Einsatz verzichtet zu werden. Unter dieser Voraussetzung könnte
man dann dazu verleitet werden, den von zahlreichen Autoritäten der Forschung
konstatierten leitmotivischen Charakter des Dekadenz-Topos in der Götzen-Dämme-
rung überhaupt in Zweifel zu ziehen. Als problematisch für eine tatsächliche Verifizie-
rung besagten Zweifels erweist sich dabei jedoch der ebenfalls in der Forschung regel-
mäßig konstatierte formale Gesamtcharakter der Götzen-Dämmerung, die aufgrund
ihrer vermeintlichen stilistischen Vielfalt nur sehr schwer in eine traditionelle komposi-
torische Einheit zusammenführbar scheint und deswegen selbst als Ausdruck des von
Nietzsche in Der Fall Wagner dargestellten décadence-Stils gelesen worden ist.466
Gerade diese Tatsache spräche dann jedoch wiederum für die immense Bedeutung der
décadence in der Götzen-Dämmerung, da diese so den besagten Terminus nicht nur in
konkreten Textstellen zur Anwendung bringen, sondern sich textkompositorisch selbst
in die durch den Begriff ausgedrückte Problematik einschreiben und dieser somit

466 Die diesbezügliche Stelle aus dem Fall Wagner lautet: „Ich halte mich dies Mal nur bei der Frage
des S t i l s auf. — Womit kennzeichnet sich jede l i t t e r a r i s c h e décadence? Damit, dass das Leben
nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift
über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen — das Ganze
ist kein Ganzes mehr. Aber das ist das Gleichniss für jeden Stil der décadence: jedes Mal Anarchie der
Atome, Disgregation des Willens, ‚Freiheit des Individuums‘, moralisch geredet, — zu einer politischen
Theorie erweitert ‚g l e i c h e Rechte für Alle‘. Das Leben, die g l e i c h e Lebendigkeit, die Vibration und
Exuberanz des Lebens in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest a r m an Leben. Überall
Lähmung, Mühsal, Erstarrung o d e r Feindschaft und Chaos: beides immer mehr in die Augen sprin-
gend, in je höhere Formen der Organisation man aufsteigt. Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr: es ist
zusammengesetzt, gerechnet, künstlich, ein Artefakt. — “ (WA 7, KSA 6, S. 27)
Zu den vermeintlich formal-stilistischen Uneinheitlichkeiten der GD siehe insbesondere Sommer
2012, S. 203–207.
184 2.2. Die Götzen-Dämmerung

zugleich entsprechen würde. Ob der leitmotivische Charakter des décadence-Begriffes


also mehr in dieser textkompositorischen Rückfaltung des in einem anderen Text von
Nietzsche artikulierten, als ästhetischer Deskriptionsterminus verstandenen déca-
dence-Begriffs liegt und nicht – wie von Colli und Montinari behauptet – über die
inhaltliche Funktion desselben festzumachen ist, kann an diesem Punkte der vor-
liegenden Studie nicht entschieden werden. Dafür bedürfte es einer vollständigen
Analyse der Struktur der Erstausgabe des Textes sowie einer präzisen Herausarbeitung
der Bedeutungsdimensionen des Dekadenzbegriffes sowie der Beurteilung desselben
im Text. Insbesondere Ersteres kann und will diese Studie nicht leisten. Ein spora-
discher und damit unvollständiger Versuch zu Letzterem soll hingegen im Folgenden
durch die Wiederaufnahme der Lektüre von GD Sokrates unternommen werden.
GD Sokrates 3 wendet sich nach dem methodologischen Exkurs in GD Sokrates 2,
an dessen Anfang der bevorzugte Protagonist der platonischen Dialoge zusammen
mit seinem Autor als „N i e d e r g a n g s - T y p e n “ bezeichnet wird, wie am Ende von GD
Sokrates 2 angekündigt, dem konkreten Fall des Sokrates zu. Der Text tut dies, indem
er die Aufmerksamkeit des Lesers auf das kolportierte Aussehen der vermeintlich
realhistorischen Person ‚Sokrates‘ lenkt und diesen dabei als „hässlich“ (GD Sokrates
3, EA 11) beschreibt. Dieser Fokus auf die Physiognomie einer gerade in dieser stets
individuellen Person erscheint auf den ersten Blick wie ein Bruch mit der in GD
Sokrates 2 noch annoncierten ‚symptomatologischen‘ Beschäftigung mit bestimmten
Typen, fügt sich jedoch durch die erst in GD Sokrates 9 erfolgende, erneute implizite
Auseinandersetzung mit den ‚heuristisch-symptomatologischen‘ Vorgehensweisen
des ganzen Kapitels in das sich solcherart ergebende Gesamtbild der Untersuchungs-
modi der Götzen-Dämmerung. Darauf wird später noch einmal zurückzukommen sein.
In Hinblick auf den Dekadenzbegriff ist interessant, auf welche Art und Weise dieser
nun erstmals – in GD Sokrates 1 und 2 war der Status des décadence den „Weisesten“
und keiner konkreten Person zugeschrieben worden – mit Sokrates zusammengeführt
wird. Der Text bedient sich dabei eines rhetorischen Kunstgriffes, heißt es doch im
Anschluss an die Feststellung von Sokrates’ Hässlichkeit: „Die Anthropologen unter
den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist: monstrum in
fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein
typischer Verbrecher?“ (GD Sokrates 3, EA 11)
Bei diesem vermeintlichen Argument handelt es sich um eine bekannte ungültige
Schlussweise, das sogenannte Affirming the Consequent: Wenn, wie im gegebenen
Textfalle bei Sokrates, die für das Verbrecher-Sein bloß hinreichende Bedingung der
Hässlichkeit erfüllt ist, so ist damit noch nicht gewährleistet, dass Sokrates ein Ver-
brecher und damit ein décadent ist. Der rhetorische Kunstgriff des Textes besteht nun
darin, dass in ihm nicht explizit behauptet wird, dass Sokrates ein Verbrecher war,
sondern dies durch die rhetorische Figur der Dubitatio am Ende des Arguments bloß
insinuiert wird, um dann in dem vom eigentlichen ‚Argument‘ durch Geviertstrich
getrennten Folgesatz – „Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physio-
gnomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang.“ (GD
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 185

Sokrates 3, EA 11) – ebenso unverbindlich erneut bestärkt zu werden. Das Skandalon


dieser Behauptung liegt darin – darauf hat Andreas Urs Sommer hingewiesen –, dass
der Text sich hier eindeutig als sympathisch gegenüber den ansonsten verpönten
Anklägern des Sokrates zeigt. Wie eine ebenfalls von Sommer hervorgehobene Paral-
lelstelle zeigt, schwingt in diesem Skandalon zugleich eine jener, in Nietzsches Spät-
werk häufig anzutreffenden Leserirritationen mit, heißt es doch in GD Streifzüge 45:
„Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen
Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch.“ (GD Streifzüge 45, EA 119) Laut
Sommer ist der Sokrates aus GD Sokrates nun gerade nicht ein solcher Verbrecher.467
Dafür spricht auch der Anfang von GD Sokrates 4, auf Grundlage dessen eine
erste semantische Bestimmung des in dem besagten Kapitel verwendeten décadence-
Begriffes erfolgen kann. Der Abschnitt eröffnet mit folgendem Satz: „Auf décadence
bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instink-
ten: eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene R h a c h i t i k e r -
B o s h e i t , die ihn auszeichnet.“ (GD Sokrates 4, EA 12)
Vergleicht man die in diesem Satz gegebene Verwendung des décadence-Begriffes
mit den drei ihr in GD Sokrates vorausgehenden Verwendungen, wird offensichtlich,
dass sowohl in dieser Passage als auch den anderen drei dem ‚Terminus‘ jene
Bedeutung zukommt, die sowohl vom Nietzsche-Wörterbuch als auch von Sommer als
die in Nietzsches Schriften von 1888 vorherrschende herausgearbeitet wurde. Déca-
dence meint hier also jenen medizinisch-pathologischen Verfall und Abstieg des
Lebens, den Féré rein physiologisch als Degenerescenz bezeichnet hat. Die physiolo-
gische Komponente der décadence wird in dem zitierten Absatz durch die aus medizi-
nischen Fachtermini gebildeten Tropen der „Superfötation des Logischen“ und der
„R h a c h i t i k e r - B o s h e i t “ sowie durch die Verwendung eines weiteren in Nietzsches
Post-Zarathustra-Schriften eine wesentliche Rolle innehabenden Terminus unterstri-
chen.468 Die Rede ist hier vom ‚Instinkt‘.
d.) Die ‚Instinkte‘ – der physiologische Hintergrund: Nach dem Eintrag im Brock-
haus von 1894–1896 bezeichnet

Instinkt (lat.) oder Naturtrieb, bei tierischen Wesen jeder bewußtlose und unwillkürliche Antrieb
ihrer Thätigkeit. Er äußert sich teils im Begehren oder Vermeiden, teils im Schaffen oder Zerstören
u. dgl. Der I. ist meist angeboren, da er sich oft sogleich mit dem Dasein eines tierischen Wesens
äußert; doch mag manches, was man aus Unkenntnis der Tierseele oder aus Unachtsamkeit auf
dieselbe für I. erklärt, wohl ein Ergebnis teils wiederholter Beobachtung, teils der Nachahmung
und Angewöhnung sein. […] Am bestimmtesten und ausgeprägtesten treten die I. bei den Tieren

467 Ich folge hier zum Teil Sommer 2012, S. 270. Dieser stellt dort im Anschluss an die Feststellung, dass
Sokrates dem in GD Streifzüge 45 charakterisierten Verbrechertypus nicht entspräche, außerdem fest:
„Die scheinbar so eindeutige Verurteilung des Sokrates verliert damit ihre Eindeutigkeit und verlangt
vom Leser, angestachelt von N.s Provokation sich selbst zu Sokrates ins kritische Verhältnis zu setzen.“
468 Zur ursprünglich medizinischen Bedeutung der ‚Superfötation‘ und der ‚Rachitis‘ sowie deren
metaphorische Verwendung bei Nietzsche siehe Sommer 2012, S. 271f.
186 2.2. Die Götzen-Dämmerung

auf, während die Naturanlage des Menschen auf die Entwicklung der vernünftigen Überlegung
berechnet ist. Beim Menschen wird daher der I. von der geistigen Bildung zurückgedrängt; bei
Verwilderung tritt er wieder hervor und macht auch in Zuständen der Krankheit sich nicht selten
geltend.469

Wie der Lexikoneintrag zeigt, diente der Instinktbegriff im Alltagsdiskurs von Nietz-
sches Zeitgenossen, der in seinen Grundannahmen auf die berühmte Definition des
Aristoteles aus der Metaphysik zurückgeht, zur Unterscheidung zwischen dem primär
instinktiv handelnden Tier und dem Menschen als animal rationale. Nietzsches Schrif-
ten unterlaufen durch ihre diskursive Reintegration des Instinktbegriffes zur Beschrei-
bung auch des Menschen die mit der aristotelischen Definition eingeleitete Betonung
der Vernunftbegabung des Menschen und tendieren durch die damit einhergehende
Arbeit an einer die Kontinuität zwischen Instinkt und Geist betonenden Leibphiloso-
phie, in welcher die Instinkte die Grundlage auch der Vernunft bilden, zu einer
erneuten ‚Vernatürlichung‘470 des Menschen. Bereits im Arbeitsheft M III 1, das Nietz-
sche zwischen Frühling und Herbst 1881 verwendete, formulierte er eine aufgrund
ihres durch Nichtveröffentlichung gegebenen Entwurfscharakters mit Vorsicht zu
behandelnde Definition seines Instinktverständnisses:

Ich rede von Instinkt, wenn irgend ein Urtheil (Geschmack in seiner untersten Stufe) einverleibt
ist, so daß es jetzt selber spontan sich regt und nicht mehr auf Reize zu warten braucht. Es hat
sein Wachsthum für sich und folglich auch seinen nach außen stoßenden Thätigkeits-Sinn.
Zwischenstufe: der Halbinstinkt, der nur auf Reize reagirt und sonst todt ist. (NL 1881, 11[164],
KSA 9, S. 505)471

Diese in Nietzsches Gesamtwerk in ihrem definitorischen Anspruch einmalige Auf-


zeichnung offenbart zwei zentrale Komponenten des ansonsten aufgrund seiner
Bedeutungsbreite schwer bestimmbaren ‚Terminus‘:472 Einerseits betont das hier vor-

469 Brockhaus 1894-1896, Bd. 9, S. 638.


470 Siehe zu dem im Nachlass fünfmal belegten ‚Konzept‘ der ‚Vernatürlichung‘ insbesondere Bertino
2010 und 2011 sowie die dort verzeichnete weiterführende Literatur. Bertino selbst verwendet den
Begriff der ‚Vernatürlichung‘ zur Abgrenzung von Nietzsches philosophischem Vorgehen gegenüber
jeglicher Form des naturalistischen Reduktionismus, von welchem sich seiner Ansicht nach Nietzsches
methodisch-selbstkritischer Naturalismus absetze: Dieser sei „a.) heuristisch-analogisch, b.) funktio-
nalistisch[ ] und c.) genealogisch[ ]“ (Bertino 2010, S. 81). Siehe zu diesem Procedere insbesondere
Bertino 2010, S. 81–88 und Bertino 2011, S. 72–111.
Zur Kritik an der insbesondere im angelsächsischen Sprachraum weit verbreiteten Engführung
von Nietzsches später Philosophie mit Formen des reduktionistischen Naturalismus siehe auch
Dellinger 2012b und Johnson 2014.
471 Das Notat weist keine Überarbeitungsspuren auf. Siehe M III 1, S. 33 auf http://www.nietzsche-
source.org/facsimiles/DFGA/M-III-1,33
472 Siehe zu dieser Bedeutungsbreite und deren intertextueller Grundlage auch: Sommer 2012,
S. 333–335. Wenig hilfreich für deren Ausdifferenzierung ist der sehr kurze Eintrag im Nietzsche-
Lexikon: vgl. Vinzens 2009.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 187

gelegte Verständnis des ‚Begriffes‘ die unbewusste und dennoch handlungsleitende


Funktion des Leibes gegenüber der diese Funktion vorwiegend der Vernunft zuschrei-
benden Tradition.473 Andererseits führt diese Betonung weder zu einem simplen
Biologismus noch zur Utopie eines ungebrochenen und unvermittelten Naturzustan-
des à la Rousseau. Dafür spricht insbesondere die in der Aufzeichnung in der ‚Rede‘
vom auch durch Unterstreichung graphisch hervorgehobenen „Urtheil“ angedeutete
und nicht weiter ausdifferenzierte Vermittlung zwischen Urteilskraft und Instinkt.
Diese den Instinkt-‚Begriff‘ mitkonstituierende Komponente bestätigt auch das in
Nietzsches Werk regelmäßig anzutreffende und eine Form der Instinktivierung be-
zeichnende Konzept der ‚Einverleibung‘, das insbesondere in der ersten Auflage der
Fröhlichen Wissenschaft eine bedeutende Rolle spielt.474
Die Tatsache, dass es sich bei der Mehrheit der soeben zitierten Bestimmungen um
Aufzeichnungen aus dem Nachlass handelt, offenbart ein gerade Nietzsches Instinkt-
‚Begriff‘ betreffendes Problem sich primär an den veröffentlichten Werken orientieren-
der Lektüren. Diese sind kaum in der Lage, den „in N.s wechselhaftem Gebrauch derart
unscharf“475 verwendeten ‚Begriff‘ in einer ansatzweise aussagekräftigen Definition zu
erfassen, was häufig dazu führt, dass Interpreten versuchen, ihn mithilfe von aus
anderen Theorien importierten Supplementen zu beschreiben. Ein derartiger Zugang
ist höchst problematisch, da er dazu führt, einem ‚Begriff‘ eine konkrete Bedeutung zu
geben, der sich gerade in seiner Polysemie gut in Nietzsches Denken integrieren lässt.
Im Falle der ‚Begriffe‘ ‚Trieb‘ und ‚Instinkt‘ hat dies jüngst Andrea Bertino in über-
zeugender Weise vorgeführt, indem er diese Begrifflichkeit aus der Perspektive von
Nietzsches Sprachkritik in den Blick genommen hat und solcherart zu dem Resultat
kam: „‚Triebe‘ und ‚Instinkte‘ bezeichnen eine Dimension des Menschlichen, die das
Bewusstsein vorbestimmt, dem Bewusstsein selbst jedoch unzugänglich bleiben muss,
d.h. Instinkte und Triebe werden zu Zeichen für die Bedingtheit des Bewusstseins und
seiner nicht vollständigen Selbstbezüglichkeit.“476 Daraus folgt jedoch, dass besagte
‚Triebe‘ und ‚Instinkte‘ mithilfe einer stets an die Bewusstseinsperspektive gebunde-
nen, ja diese letztendlich mitkonstituierenden Sprache (siehe dazu JGB 268 und FW

473 Dafür, dass in Nietzsches ‚Instinkt-Konzeption‘ den leiblichen Prozessen eindeutig der Vorrang
gegenüber den geistig-bewussten eingeräumt wird, spricht auch folgendes Notat aus dem Arbeitsheft
W II 2: „Alle Instinkt=Urtheile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was
zunächst zu thun ist. Der Verstand ist we-sentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort=Reagiren
auf das Instinkt=Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner u. länger.“ (W II
2, S. 28, Z. 2–10)
Siehe zu Nietzsches Instinkt-‚Begriff‘ auch den sehr kurzen, aber höchst aufschlussreichen
Exkurs in Stegmaier 2012, S. 210f.
474 Siehe dazu insbesondere FW 21, 43, 110 und 135 sowie den berühmten Aphorismus 230 aus
Jenseits von Gut und Böse. Zu Letzterem konsultiere man auch Thüring 2008, Brusotti 2013 und
Dellinger 2013a.
475 Sommer 2012, S. 334.
476 Bertino 2010, S. 98.
188 2.2. Die Götzen-Dämmerung

354) nicht mehr dechiffriert werden können, und als bloße Anzeichen eines sich der
vollständigen Bewusstmachung entziehenden Geschehens zu deuten sind, womit sich
der Mangel an deren Explikation bei Nietzsche werkintern rechtfertigen würde.477
In der Götzen-Dämmerung selbst ist das Lemma ‚Instinkt‘ in 39 Texteinheiten
belegt, wird dabei jedoch nirgendwo in einem längeren definitorischen Exkurs behan-
delt. Dies mag bei manchen mit Nietzsches restlichen Schriften noch nicht vertrauten
Lesern dazu geführt haben, dass selbige durch die Übertragung des für sie in Überein-
stimmung mit dem damals geläufigen Standarddiskurs vor allem zur Beschreibung des
Verhaltens von Tieren bekannten Instinktbegriffes auf den Menschen irritiert worden
sind. Im Falle von Nietzsches Gebrauch des Instinktbegriffes scheint nur der aufmerk-
same, eventuell weitere Arbeiten von Nietzsche kennende Leser in der Lage zu sein, zu
der von Enrico Müller lakonisch auf den Punkt gebrachten Einsicht durchdringen zu
können, dass Instinkt „bei Nietzsche keineswegs [als] vitalistisch-biologistische Kate-
gorie [zu verstehen ist; A.P.], sondern stets als dasjenige unfassliche Moment, das zum
Handeln antreibt und die Funktionsfähigkeit beziehungsweise Funktionssicherheit
von Individuen und Gesellschaften in spezifischen Situationen kennzeichnet“478.
e.) Ausbruch als Rückkopplung – Sokrates’ Missverständnis: In GD Sokrates spielt
gerade dieser Instinktbegriff eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der décadence
des Sokrates und seiner athenischen Mitbürger:479 Nachdem in GD Sokrates 4 durch

477 Für eine derartige Lesart spricht unter anderem ein Notat aus dem Notizheft N VII 2, dessen
Grundschicht folgendermaßen lautet: „Alles, was ins Bewußtsein tritt, ist ein Letztes u. Isolirtes. Daß
ein Gedanke unmittelbar Ursache eines Gedankens wäre, ist nur scheinbar. Das eigentlich verknüpfte
Geschehen spielt ab unterhalb unseres Bewußtseins: die auftretenden Reihen u Nacheinander von
Gefühlen Gedanken usw. sind Symptome des eigentl. Geschehens! – Unter jedem Gedanken steckt ein
Affekt. Jeder Gedanke ist nicht geboren aus Einem bestimmten Triebe, sondern er ist ein Gesammt-
zustand, eine Oberfläche des ganzen Bewußtseins u. resultirt aus dem augenblicklichen Macht=Fest-
stellung aller der uns constituirenden Triebe. Der nächste Gedanke ist das Zeichen, wie sich die Macht-
Lage verschoben hat.“ (N VII 2, S. 144, Z. 2–32)
Wie in Anbetracht der in dieser Aufzeichnung implizierten Bewusstseinskonzeption überhaupt
noch die Existenz eines „eigentl. Geschehens“ konstatiert werden kann, bleibt in Anbetracht der
‚Oberflächlichkeit‘ des Bewusstseins fraglich. Dieser problematische Sachverhalt schränkt zugleich
den Gültigkeitsanspruch des in der Aufzeichnung präsentierten Verständnisses der Triebe und Affekte
ein, da sich aus deren Existenz eben nur mehr hypothetisch auf eine darin zum Ausdruck kommende
‚Macht-Lage‘ schließen lässt.
478 Müller 2005, S. 195. – Insofern kommt bei diesem ‚Terminus‘ eine primär auf das einzelne Werk,
verstanden als ein drucktechnisch zum Stilstand gekommener Schreibprozess, fokussierte Lektüre wie
die hier vorliegende an ihre texthermeneutischen Grenzen. Es wäre gesondert zu überprüfen, ob es
auch im Zuge einer textgenetischen Lektüre der Götzen-Dämmerung möglich ist, den hier in Anknüp-
fung an Müller und Bertino eingeführten Instinktbegriff aus besagter Textkonstellation selbst zu
entwickeln oder ob dieser ‚Begriff‘ tatsächlich des Einbezuges weiterer Intertexte aus Nietzsches
Oeuvre bedarf.
479 An diesem Punkt ist zu fragen, ob in Anbetracht der Tatsache, dass besagter Instinktbegriff nicht
als fundamentum inconcussum taugt, sondern gerade zur Überbrückung der Inexistenz eines solchen
im anthropologischen Diskurs herangezogen wird, wodurch ihm eine bloß sporadisch-heuristische
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 189

den Verweis auf die bei Sokrates gegebene Anarchie der Instinkte dessen Status als
décadent noch einmal unterstrichen worden ist, wenden sich die darauffolgenden
Abschnitte der Beantwortung der noch in GD Sokrates 4 ausformulierten Frage zu,
„aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend =
Glück stammt“ (GD Sokrates 4, EA 12).
Dabei wird die von Sokrates zur Instinktbekämpfung ins Feld geführte Dialektik
in GD Sokrates 5 als Ausdruck eines unvornehmen Geschmacks diffamiert, um an-
schließend in GD Sokrates 6 als „N o t h we h r […], in den Händen Solcher, die keine
andren Waffen mehr haben“ (GD Sokrates 6, EA 13), gedeutet zu werden. GD Sokrates
7 interpretiert die Dialektik dann auch noch als Symptom von Sokrates’ Ressentiment
und weist dabei zugleich im vorletzten Satz auf das in GD Sokrates 5 in einer vor-
nehmen Gesellschaft als unmöglich ausgewiesene Potential der von Sokrates zur
Herrschaft gebrachten Denkweise: „Der Dialektiker d e p o t e n z i r t den Intellekt seines
Gegners.“ (GD Sokrates 7, EA 14) Die Tatsache, dass Sokrates mit seiner Dialektik „den
Tyrannen machen“ (GD Sokrates 7, EA 14) konnte, impliziert, dass bereits das gesamte
Athen seiner Zeit der Vornehmheit entbehrte und somit selbst schon in ein Verfalls-
stadium eingetreten war.480 Bevor GD Sokrates 9 diesen Gedanken weiter ausführt,
liefert GD Sokrates 8 noch ein weiteres Skandalon, indem es explizit – der Abschnitt
endet mit dem Satz „Sokrates war auch ein grosser E r o t i k e r .“ (GD Sokrates 8, EA
14) – auf die Bedeutung der Homosexualität in Sokrates Mäeutik hinweist. GD Sokra-
tes 9 bringt schließlich den in den vorausgehenden Abschnitten anhand der Dialektik
exemplifizierten Kunstgriff, mit Hilfe dessen sich das sokratische Denken gegen die
Tatsache wendet, dass „[ü]berall […] die Instinkte in Anarchie“ (GD Sokrates 9, EA 15)
waren, in einem im Text selbst zwischen Anführungszeichen stehenden Satz – „,Die
Triebe wollen den Tyrannen machen; man muss einen G e g e n t y r a n n e n erfinden,
der stärker ist‘…“ (GD Sokrates 9, EA 15) – auf den ‚Begriff‘ und weitet so zugleich die
sich darin artikulierende décadence expressis verbis auf das ganze Athen des fünften
vorchristlichen Jahrhunderts aus.
GD Sokrates 10 bringt schließlich den Nachweis, dass der „Fanatismus, mit dem
sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit“ (GD Sokrates 10, EA
16) warf, nicht mehr der freien Wahl entsprang, sondern selbst „pathologisch be-
dingt“ (GD Sokrates 10, EA 16) gewesen sei und bereitet somit einen weiteren großen
Paukenschlag vor, der sowohl für die Interpretation des Sokrates in der Götzen-
Dämmerung als auch den diese leitenden décadence-Begriff von immenser Bedeutung
ist. In GD Sokrates 11 heißt es dann nämlich:

Funktion zukommt, diese Charakteristika nicht auch auf den auf ihm aufbauenden décadence-Begriff
abfärben und Letzterer daher – wie von Borchmeyer behauptet – auch in der Götzen-Dämmerung zu
einem bloß polarisierenden ‚Terminus‘ wird, der sich nicht für finale Wertungen eignet.
480 Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 279f.
190 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence
herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer
Kraft: was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence —
sie v e r ä n d e r n deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missver-
ständniss; d i e g a n z e B e s s e r u n g s - M o r a l , a u c h d i e c h r i s t l i c h e , w a r e i n M i s s v e r -
s t ä n d n i s s … (GD Sokrates 11, EA 16f.)

Hier wird der sokratische Versuch, die sich als „Anarchie in den Instinkten“ mani-
festierende décadence seiner selbst sowie seiner athenischen Mitbürger durch den
„Glauben an die ‚Vernünftigkeit um jeden Preis‘“ (GD Sokrates 11, EA 16) zu bändigen,
als gescheitert dargestellt, da das vermeintliche Gegenmittel selbst aus jenem Quell
entsprang, den Sokrates mit ihm zu schließen versuchte. In der dann am Ende von GD
Sokrates 11 erfolgenden ‚Definition‘ der décadence manifestiert sich schließlich eine
für Nietzsches spätes Schreiben charakteristische Umkehrung, indem dort erstmals
die für die Götzen-Dämmerung charakteristische Unterscheidung zwischen aufstei-
gendem und absteigendem Leben explizit artikuliert wird, durch welche der Text
dann eine Gegenposition zu der instinktfeindlichen und dadurch dekadenten Ver-
nunftgläubigkeit des Sokrates entwickeln kann. Besagter letzter Satz von GD Sokrates
11 lautet:481 „Die Instinkte bekämpfen m ü s s e n — das ist die Formel für décadence:
so lange das Leben a u f s t e i g t , ist Glück gleich Instinkt. — “ (GD Sokrates 11, EA 17)482
Mit dieser ‚Definition‘ wird die Bedeutung des physio-pathologischen décadence-
Begriffes für ein adäquates Verständnis von „Das Problem des Sokrates“ noch einmal
bestätigt.
Inwieweit das sich solcherart einstellende décadence-Verständnis auch das Pro-
cedere sowie den Gehalt von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ bestimmt, wird bei
der Lektüre des Kapitels zu überprüfen sein. Bevor ich mich nun endgültig derselben
widme, ist allerdings noch einmal ein genauerer Blick auf GD Sokrates 9 zu werfen,
das nicht nur in Betreff des GD Sokrates bestimmenden décadence-Verständnisses
aufschlussreich ist, sondern durch dessen Lektüre die in diesem Kapitel aufs engste
mit der ‚symptomatologischen‘ Heuristik verbundene Tendenz der literarischen Per-

481 Diese Deutung des letzten Satzes von GD Sokrates 11 folgt Sommer 2012, S. 284.
482 Eine sehr subtile Lektüre von GD Sokrates 10 und 11 hat auch Enrico Müller vorgelegt: „Um die
eigenen philosophischen Ansprüche angesichts des so folgenreichen Umwerters Sokrates profilieren
zu können, bedient sich Nietzsche einer paradoxen Interpretationsfigur. Die sokratische Pathologie
wird ihrerseits zur Laienaitiologie eines Kranken pathologisiert, die sokratische Arztpraxis als fort-
geschrittene Krankheitsphase gedeutet. Der Athener war eben kein Arzt, ‚er schien ein Arzt, ein Heiland
zu sein‘ – der eigentliche Arzt ist erst Nietzsche. Dass dabei eine sokratische Figur gegen Sokrates
ausgespielt wird, verdeutlicht nochmals die unauflösbar agonale Konstellation zwischen den Den-
kern.“ (Müller 2005, S. 198)
Müller bleibt jedoch letztendlich bei dieser an die heideggersche und de mansche ‚Um-‘ bzw.
‚Verkehrung‘ erinnernde Deutung stehen (vgl. Müller 2005, S. 200). Dass derartig noch nicht das letzte
Wort in Betreff des Reflexionsniveaus von GD Sokrates gesprochen sein muss, werde ich im Kapi-
tel 2.2.4. zu zeigen versuchen.
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 191

sonalisierung und Typisierung in ihrer für die Götzen-Dämmerung bestimmenden


Ausprägung auf Grundlage des bisher Ausgeführten noch ausdifferenzierter beschrie-
ben werden kann.
f.) Zusammenfassung – Philosophie als Erzählung und Figurenrede: Wie die Lektü-
re von GD Vorwort und GD Sokrates gezeigt hat, kündigt schon das Vorwort der
Götzen-Dämmerung einen Wechsel im Procedere der philosophischen Untersuchungs-
praxis an und setzt diesen dadurch, dass der Text selbst formal als eine stark
poetisierte Variation der diplomatischen Kriegserklärung gelesen werden kann, be-
reits um: An die Stelle der rein thetisch-argumentativen Wiederaufnahme und Kritik
traditioneller philosophischer Thesen tritt eine diese Thesen – der Text sprich von
„Götzen“ – anhand von konkreten (historischen) Fällen qua literarische Personalisie-
rung zur Darstellung bringende Schreibweise. GD Sokrates folgt dann von seinem
ersten Abschnitt an der solcherart im Vorwort metaphorisch angekündigten Persona-
lisierungstendenz, spricht jedoch im zweiten Abschnitt, der als methodologischer
Einschub betrachtet werden kann, von „N i e d e r g a n g s - T y p e n “. Ab dem dritten
Abschnitt des Kapitels wird dieser Typus sowie die ihn kennzeichnende décadence
anhand einer konkreten Persönlichkeit – Sokrates – in den Blick genommen und von
einem intratextuellen Ich mit dem ‚Hammer ausgehorcht‘. Dabei zeichnet der Text in
seiner kritischen Auseinandersetzung mit dem bevorzugten Protagonisten Platons ein
höchst individuelles Bild des Begründers einer neuen philosophischen Dialektik, die
von der Beschreibung seiner Physiognomie bis zu seinen sexuellen Vorlieben reicht.
Insofern findet sich in den ersten beiden Kapiteln der Götzen-Dämmerung genau jene
Spannung zwischen Individuum und Typus, den diese Studie im Zuge des Referats
der gegenwärtigen Forschungspositionen zu den in Nietzsches Texten häufig an-
zutreffenden Phänomenen der Personalisierung und Typisierung im Kapitel 2.1.2.3.
herausgearbeitet hat. Zur Konkretisierung dieser auch in der Forschungsliteratur als
durch das in den Texten gegebene Changieren zwischen Individualisierung und
Typisierung eindeutig als Spannung wahrgenommene Darstellungsweise ist eine
genauere Lektüre von GD Sokrates 9 aufschlussreich. Der Abschnitt eröffnet mit den
folgenden Sätzen:

Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah h i n t e r seine vornehmen Athener; er begriff,
dass s e i n Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von
Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor: das alte Athen gieng zu Ende. — Und Sokrates
verstand, dass alle Welt ihn n ö t h i g hatte, — sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff
der Selbst-Erhaltung… (GD Sokrates 9, EA 14f.)

Hier kommt es im Textverlauf zu einem für das Dargelegte nicht unbedeutenden


Wechsel in der Stimmengestaltung des Kapitels. Hat man es in einem Großteil von
„Das Problem des Sokrates“ narratologisch mit einem autodiegetischen Sprecher-Ich
zu tun, das im beständigen Wechsel zwischen Deskription und Reflexion sich dem
von ihm dargestellten Sokrates gegenüberstellt und sich dementsprechend durch eine
eindeutig aktoriale Stellung zum Geschehen des Textes charakterisiert, wechselt in
192 2.2. Die Götzen-Dämmerung

dieser Passage die Erzählerstimme den Fokalisierungsmodus und ‚spricht‘ plötzlich


auktorial. Nicht mehr das intratextuelle Ich, sondern Sokrates selbst „errieth“ die
Bedeutung seines Einzelfalles. Dem Text gelingt es so, durch einen einfachen narrato-
logischen Perspektivenwechsel der dann im Folgenden artikulierten Einsicht mehr
Nachdruck zu verleihen: Wurde in den Abschnitten GD Sokrates 4–8 Sokrates noch
von außen aus der Perspektive des ‚symptomatologisch‘ vorgehenden Sprecher-Ichs
in den Blick genommen, gelangt er nun vermeintlich selbst zu der Einsicht, dass seine
Idiosynkrasie keinen Ausnahmefall darstellt.
Die solcherart durch eine vermeintliche Selbstcharakterisierung an Autorität
gewinnende Beschreibung des Verhältnisses zwischen der Idiosynkrasie des Sokrates
und dem Gesamtstatus der vornehmen Athener wird dann am Ende des Abschnittes
wieder aus der das Kapitel mehrheitlich kennzeichnenden aktorialen Fokalisierung
aufgenommen:

W i e wurde Sokrates über s i c h Herr? — Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in
die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng: dass
Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich g e g e n einander wendeten. Er fascinir-
te als dieser extreme Fall — seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus:
er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein
der K u r dieses Falls. — (GD Sokrates 9, EA 15)

In dieser Passage wird das paradoxe Verhältnis zwischen dem durch die Darstellung
seiner Idiosynkrasien in seiner Individualität narrativ regelrecht überzeichneten So-
krates und der Athener Gesellschaft des fünften vorchristlichen Jahrhunderts präzise
auf den Punkt gebracht: „Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall“ (GD Sokrates
9, EA 15). Das hier gegebene Bild des Sokrates lässt sich insofern als eine Sonderform
der Trope der Synekdoche begreifen. Vermittelt diese üblicherweise zwischen All-
gemeinem und Besonderem und tut dies entweder in Analogie zum deduktiven oder
induktiven Schlussverfahren, hält die Charakterisierung des Sokrates in GD Sokrates
diesen die Synekdoche kennzeichnenden Doppelaspekt in der Schwebe: Sokrates ist
Individuum und Typus in einem.483 Er ist der Paradefall des décadents des fünften
vorchristlichen Jahrhunderts gerade als dessen extremster Fall.

483 Für die Figurengestaltung des Sokrates gilt insofern jenes Charakteristikum, in welchem Mirjam
Schaub das zentrale Problem des Beispiels in der Philosophie sieht: „Erstaunlich frei bewegt es [= das
Beispiel, hier konkret: Sokrates; A.P.] sich zwischen den Polen der Austauschbarkeit, wie dem lateini-
sche [sic] exemplum, und der Unersetzbarkeit, wie dem griechischen parádeigma“ (Schaub, 2012,
S. 274).
An diesem Punkt wäre zu fragen, ob Nietzsches Text, der sich ja gerade in GD Sokrates an einer
Kritik der Dialektik übt, nicht gerade in der soeben nachgezeichneten Form der synekdocheischen
Figurengestaltung, dadurch, dass diese nicht bei einem simplen ‚sowohl-als-auch‘ stehen bleibt, sich
einer dialektischen Denkfigur bedient, ist diese doch zumindest in Theodor W. Adornos Lesart der
Dialekt Hegels dadurch charakterisiert, „daß sie selber auch nicht etwa nun auf das Gegenteil des
Entweder-Oder verfällt, daß heißt, daß die dialektische Theorie und der dialektische Gedanke nicht
2.2.2. Philosophische Methoden und Leitmotive der Götzen-Dämmerung 193

Philosophisch korreliert diese paradoxe Form der Figurengestaltung mit der im


Zuge der Rekonstruktion der philosophischen Symptomatologie offensichtlich gewor-
denen Kritik an den Allgemeinbegriffen mit der in Nietzsches ‚Philosophie der Gram-
matik‘ einhergehenden Einsicht, dass das solcherart unumgänglich schematisierte
‚Sprechen‘ auch im Zuge einer Darstellung vermeintlicher Idiosynkrasien stets ein
allgemeingültiges Moment mit sich führt.
Die soeben im Zuge einer sporadischen Lektüre von GD Vorwort und GD Sokrates
versuchte Rekonstruktion der zentralen inhaltlichen und denkstilistischen Leitmotive
der Götzen-Dämmerung zusammenfassend ergibt sich folgendes Gesamtbild der in
besagtem Text behandelten Themata sowie der an diese herangetragenen ‚heuristi-
schen Methoden‘: Das von Nietzsche selbst als eine Zusammenfassung seiner wesent-
lichen philosophischen Heterodoxien bezeichnete Buch widmet sich im Zuge der
Darstellung dieser Heterodoxien, bei welchen es sich um die ihre eigene instinktive
Genese in sich aufnehmende Zusammenführung von Nietzsches starken ‚Gegen-Be-
griffen‘ handelt, mithilfe einer als ‚kriegerisch‘ bezeichneten Heuristik der Kritik und
Destruktion „e w i g e [ r ] Götzen“ der Geistesgeschichte des Abendlandes. Für diese
Kritik, welche der Text aufgrund der schicksalshaften Befolgung der instinktiven
Impulse des das Textgeschehen dominierenden intratextuellen Ichs auch als eine
Genesung und solcherart wesentlichen Schritt zu dessen Befreiung und ‚Freiheit‘
deutet, greift die Götzen-Dämmerung bzw. das sie charakterisierende intertextuelle Ich
neben dem Krieg auf weitere im gängigen philosophischen Diskurs nicht beheimatete
heuristische Methoden wie die aus der Medizin in die Philosophie übertragene Symp-
tomatologie sowie eine sich von der gängigen „Colportage-Psychologie“ absetzende
Form der Psychologie zurück. Sowohl diese Methoden als auch die sie in ihrer
Präsentation aufs Innigste miteinander verwebende Schreibweise des Textes führen
letztendlich zu einem Bruch mit dem argumentativen Procedere der Nietzsche zeitge-
nössischen Philosophie. An deren Stelle tritt ein poetisch-narratives Verfahren, das
sich nicht zuletzt in der Hypostasierung der zentralen philosophischen Problemata
wie der ‚Vernuftgläubigkeit‘ in synekdocheischen Figuren wie Sokrates weitere zen-
trale inhaltliche Leitmotive des Textes wie das Problem der décadence zur Anschau-
ung bringt. Die Komplexität der hier soeben versuchten Zusammenfassung der Re-
konstruktion der zentralen inhaltlichen und denkstilistischen Motive der Götzen-

ein Sowohl-als-Auch ist. […] [W]enn man dieses Motiv des dialektischen Denkens einmal zugestanden
hat, dann wird man doch an dem anderen nicht vorbeigehen können, daß das, was man etwa mit
‚Vermittlung‘ bezeichnet hat, in der Dialektik nicht ein Mittelweg zwischen den Extremen ist, sondern
[…] daß der dialektische Gedanke selbst sich nur durch Extreme hindurch auf das Moment hinbewegt,
mit dem er nicht selbst identisch ist, daß also, wenn ich es einmal phoronomisch ausdrücken darf, die
dialektische Vermittlung nicht ein Mittleres zwischen den Gegensätzen ist, sondern daß sie eigentlich
bewirkt wird nur dadurch, daß man in das Extrem hineingeht und daß man in dem Extrem selber,
indem man es zum äußersten treibt, seines eigenen Gegenteils eben gewahr wird“ (Adorno 2010,
S. 264f.).
194 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Dämmerung entspricht der Komplexität der in ihr jenseits eines unidirektional-argu-


mentativen Vorgehens sich bewegenden Darstellungspraxis. Diese ersetzt das tradi-
tionell Stufe für Stufe nehmende philosophische Procedere durch eine insbesondere
über einen quantitativ hohen Gebrauch rhetorischer Figuren und Tropen sowie kom-
plexer intratextueller Bezüge charakterisierte konstellative Schreibweise.
Spätestens an diesem Punkt der vorliegenden Studie hat sich die bereits mehrfach
geäußerte Vermutung bestätigt, dass die Götzen-Dämmerung in hohem Maße an
narrativen Darstellungsweisen partizipiert. Insofern soll im Folgenden auch dieses
Werk, wie es von Heinrich Detering in Betreff des Antichristen sowie der auf diesen
folgenden letzten Texte Nietzsches vorgeschlagen worden ist, als philosophisches
Narrativ „eines Erzählers ernstgenommen werden – der, indem er seine philosophi-
schen Argumente und Gedankengänge in Figuren und Geschichten transformiert,
zunehmend auch als Erzähler seiner selbst hervortritt, als sein eigener Protago-
nist“484. Die vorliegende Studie folgt Detering jedoch nicht in seiner finalen Deutung
dieses Sachverhaltes, nach welcher es sich bei diesem Erzähler letztendlich um den
historisch-empirischen Autor Friedrich Nietzsche handelt.485 Wie nicht zuletzt die
idiosynkratische Erzählweise in GD Sokrates zeigt, handelt es sich auch bei diesem
Erzähler um eine am Textgeschehen beteiligte Figur im Text. Für ein hinreichendes
Verständnis von dessen ‚Persönlichkeit‘ sowie seiner Handlungsabsichten ist ein
Wissen um den historisch-empirischen Autor, wie die Lektüre von GD Vorwort und
GD Sokrates gezeigt haben sollte, keineswegs von Nöten. Zur Erschließung desselben

484 Detering 2010, S. 20.


485 Darauf läuft nämlich auch Deterings per se hervorragende Studie hinaus, wenn er am Anfang
seiner Auseinandersetzung mit Ecce homo feststellt: „Mit Ecce homo tritt Nietzsche selbst, als empiri-
scher Autor, in die Rolle des Erlösers ein, den zuvor der Antichrist wie ein teilnehmender, aber außen-
stehender Erzähler re-konstruiert hatte. Nun wird er vom Erzähler einer Buch- zum Protagonisten einer
Lebens-geschichte – in der Fortschreibung einer Erzählung, die mit der letzten Seite des letzten Buches
doch noch immer nicht ganz zu Ende sein wird.“ (Detering 2010, S. 115)
Aus Sätzen wie diesen geht hervor, dass in Deterings Studie trotz des in dieser zum Einsatz
kommenden Begriffsapparates, welcher von Anfang an zwischen „Sprecher, Hörer und Gegenstand
des Gesprächs“ (Detering 2010, S. 117) in den späten Texten Nietzsches unterscheidet, Ersterer in
sämtlichen besagter Texte immer schon auf den historisch-empirischen Autor bezogen bleibt, wobei
es zu einer beständigen Zunahme dieses Bezuges von der Götzen-Dämmerung, über den Antichristen
und Ecce homo bis zu den späten ‚Wahnsinnszetteln‘ kommt, was laut Deterings Studie letztendlich zu
einem In-Eins-Fallen des durch seine eigenen literarischen Figuren transfigurierten und transformier-
ten historisch-empirischen Autors mit eben diesen führt (vgl. Detering 2010, S. 122f.).
Wie die im nächsten Kapitel einsetzende Lektüre von GD Vernunft noch einmal bestätigen wird,
ist auch in diesem Kapitel der das Textgeschehen dominierende autodiegetische Erzähler kein außen-
stehender, sondern bewegt sich von Anfang an im komplexen Interaktionsgeschehen des von ihm
vermittelten Textgeschehens, aus welchen man ihn nicht durch Bezugnahme auf textexterne Fakten
über das Leben und Erleben des historisch-empirischen Autors ohne Verlust seiner ihm nur textintern
zukommenden Charakteristika, zu denen – wie hier noch gezeigt werden wird – auch gerade in all
seiner Individualität die Unfassbarkeit derselben gehört, herauslösen kann.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 195

reicht ein Nachvollzug des komplexen Text- und Sinngeschehens vollkommen aus.
Insofern wird diese Studie von nun an das intratextuelle Ich der Götzen-Dämmerung
als eine der zentralen Stimmen in besagtem Text behandeln. Die moderne Narratolo-
gie bezeichnet eine derartige Erzählweise als „autodiegetisches Erzählen“486. Als
solche soll sie auch im Folgenden in den Blick genommen werden.

2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“487

2.2.3.1. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 1

Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist?… Zum Beispiel ihr Mangel an
historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie
glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie
aeterni, — wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden
gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Hän-
den. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie
werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als
Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht;
was wird, i s t nicht… Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an’s Seiende. Da sie aber
dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man’s ihnen vorenthält. „Es
muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt
der Betrüger?“ — „Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist’s! Diese Sinne, d i e
a u c h s o n s t s o u n m o r a l i s c h s i n d , sie betrügen uns über die w a h r e Welt. Moral: loskom-
men von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, — Historie ist nichts als
Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben
schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles „Volk“. Philosoph sein, Mumie sein, den
Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! — Und weg vor Allem mit
dem L e i b e , dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der
Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu
gebärden!“… (GD Vernunft 1, EA 18–19)

Das Kapitel „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“, das gerne als Synopse von Nietzsches
späten sprach- und erkenntnistheoretischen Auffassungen verstanden wird, eröffnet

486 Innerhalb des von Martínez und Scheffel entwickelten narratologischen Begriffsapparates han-
delt es sich beim autodiegetischen Erzählen um eine Bestimmung der Beteiligung des textinternen
Erzählers am Textgeschehen, nach welcher es sich bei diesem um die Hauptfigur des Textes handelt
(vgl. Martínez/Scheffel 2009, S. 80–84). Die Bestimmung besagter Stellung des Erzählers zum Gesche-
hen fällt unter die Oberkategorie der Stimme, unter welcher der Akt des Erzählens, der das Verhältnis
von erzählendem Subjekt und dem Erzählten sowie das Verhältnis von erzählendem Subjekt und Leser
umfasst, untersucht wird.
487 Zwei frühere, aufgrund ihrer Kürze nicht auf sämtliche Details von GD Vernunft sowie dessen
Genese eingehende Vorstufen dieses Kapitels, die als Vorträge auf Konferenzen in Lissabon und
Naumburg sowie im Forschungskolloquium von Claus Zittel an der FU Berlin präsentiert wurden, sind
in stark gekürzter und überarbeiteter Form eingegangen in: Pichler 2013.
196 2.2. Die Götzen-Dämmerung

mit folgendem Satz: „Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen
ist?…“ (GD Vernunft 1, EA 18)
In dieser auf den ersten Blick so unscheinbaren Eröffnungsfrage manifestiert sich
erneut der bereits in GD Sokrates offensichtlich werdende radikale Bruch des Textes
mit der Nietzsche zeitgenössischen Philosophie – insbesondere mit deren Kerndiszip-
lin: der Erkenntnistheorie –, der sich durch das ganze Kapitel zieht und dieses zugleich
an die vorausgehenden Überlegungen rückbindet: Anstelle der transzendental-
philosophischen Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Erkenntnis
inszeniert GD Vernunft in diesem Fragesatz einen Dialog zwischen der im weiteren
Verlauf des Abschnittes zentralen Stimme des intratextuellen Ichs und einem nicht
näher bestimmten ‚Sie‘.488 Gegenstand dieses sich beinahe unmittelbar vom Dialog
zum (inneren) Monolog wandelnden (Selbst-)Gespräches sind die Idiosynkrasien der
Philosophen.
Der Begriff der „Idiosynkrasie“ findet sich in der Götzen-Dämmerung bereits
zweimal in GD Sokrates, und zwar in GD Sokrates 4, wo die „sokratische Gleich-
setzung von Vernunft = Tugend = Glück“ (EA 12) als Ausdruck von Sokrates’ Idio-
synkrasie gedeutet wird, sowie in GD Sokrates 9, wo sich nicht zuletzt durch die ‚Rede‘
davon, dass Sokrates’ „Idiosynkrasie von Fall […] kein Ausnahmefall war“ (EA 14), die
im vorigen Kapitel herausgearbeitete, für die Heuristik der Götzen-Dämmerung so
kennzeichnende synekdocheische Figurengestaltung offenbart. Wie diese Verwen-
dungen des ‚Begriffes‘ belegen, folgt dessen Gebrauch in der Götzen-Dämmerung der
Standardbedeutung des Ausdrucks im 19. Jahrhundert, nach welcher dieser „eine
eigentümliche Empfindlichkeit des Organismus, die sich auf die Art, nicht auf die
Stärke des Reizes bezieht,“489 bezeichnet, überträgt ihn jedoch von der Physiologie
unter Beibehaltung der ihm dort gegebenen pathologischen Dimension in die Philo-
sophie. Idiosynkrasien bei Philosophen können so als deren höchst individuelle und
zugleich partiell pathologisch-(intellektuell)e Reaktionen auf bestimmte Reize ver-
standen werden.490

488 Auf diese direkte Hinwendung zum Leser weist auch Sommer hin (vgl. Sommer 2012, S. 286),
identifiziert dabei jedoch das ‚Sie‘ im Text eindeutig als zweite Person Plural des Personalpronomens,
was in Anbetracht der Tatsache, dass jeder Text primär stets von einem einzigen Leser gelesen wird,
obwohl ihm als Text selbstverständlich die Möglichkeit der Lektüre durch mehrere Leser innewohnt,
nicht unbedingt zutreffen muss. Insofern könnte es sich bei dem ‚Sie‘ auch um die Höflichkeitsform der
dritten Person Singular handeln.
489 Brockhaus 1894–1896, Bd. 9., S. 512. – Der Eintrag fährt folgendermaßen fort: „Mit I. Behaftete
empfinden Reize in anderer Art als Gesunde […]. Die I. findet sich vorzugsweise bei der Hysterie (s. d.)
und andern Nervenleiden.“ (Brockhaus 1894–1896, Bd. 9., S. 512)
490 In der hier gegebenen positiven Bewertung des heuristischen Potentials des psychologisch-
diagnostischen Nachvollzuges der Idiosynkrasien der Philosophen weicht die Götzen-Dämmerung vom
Umgang mit denselben in dem ihr vorausgehenden Der Fall Wagner eindeutig ab. Dort wird Wagners
‚Dramatik‘ noch dadurch kritisiert, dass sie allzu sehr auf besagte Idiosynkrasien zurückgreife, wie die
folgende Stelle belegt: „Er [= Wagner; A.P.] war schon nicht Psychologe genug zum Drama; er wich
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 197

Sowohl der in diesem metaphorischen Gebrauch der „Idiosynkrasie“ kulminie-


rende Fokus auf die höchst individuellen Denk- und Reaktionsweisen der Philoso-
phen als auch die Rückbindung der eigentlichen Frage an ein intratextuelles Ich, wie
sie im Eröffnungssatz von GD Vernunft vollzogen werden, stehen quer zu den sonst
nach den allgemeinen und objektivierbaren Erkenntnisbedingungen fragenden
Schreib- und Kommunikationspraktiken der Philosophie.491 Indem der Text derartig
an die Stelle der traditionell erkenntnistheoretischen Frage die diagnostische Frage
nach den Idiosynkrasien der Philosophen setzt, folgt er zugleich der zuvor im Zuge
der Lektüre von GD Vorwort und GD Sokrates extrapolierten ‚symptomatologischen‘
Untersuchungspraxis der Götzen-Dämmerung. Wie gezeigt wurde, interpretiert das
den ‚Argumentationsverlauf‘ der Götzen-Dämmerung bestimmende intratextuelle Ich
die Äußerungen der Philosophen stets als Symptom und Zeichen des Gesamtzustan-
des einer Person. Die daraus resultierende Personalisierung der Argumentation führt
dabei häufig zu der in den vorigen Abschnitten dieser Studie ausführlich dargelegten
‚Typenbildung‘: Nicht allgemeingültige Propositionen und die auf diesen aufbauen-
den Argumente, sondern die ‚symptomatologischen Lektüren‘ von durch diese Lek-
türe synekdocheisch zwischen Individuum und Typus vermittelnde, literarisierte
Figurationen empirisch-historischer Philosophen bestimmen den Textverlauf.492 Die-
ser ist direkt an die autodiegetische Perspektive des intratextuellen Ichs gebunden,
was qua Rückfaltung des vom autodiegetischen ‚Erzähler‘ über die Idiosynkrasien
der Philosophen vermeintlich Geurteilten auf sich selbst auch diesen unter Idiosyn-
krasie-Verdacht stellt. Auf diesen selbstreferentiellen Status eines mithilfe der Me-
thode der Symptomatologie andere diagnostizierenden Denkens hat bereits Enrico
Müller in seiner Lektüre von GD Sokrates hingewiesen.493 Laut Müller ist „[j]ede
Diagnose […] unweigerlich auch Idiosynkrasie, jede Symptomatologie expliziert auch
sich selbst mit“494. Die philosophischen Konsequenzen der sich aus dieser Faltung
ergebenden Schleife hat Müller jedoch nicht in den Blick genommen. Tut man dies,
erweist sich die auf die Eingangsfrage von GD Vernunft 1 anknüpfende Kritik am

instinktiv der psychologischen Motivirung aus — womit? damit, dass er immer die Idiosynkrasie an
deren Stelle rückte… Sehr modern, nicht wahr? sehr Pariserisch! sehr décadent!…“ (WA Brief 9, KSA 6,
S. 33)
In Anbetracht dieser Parallelstelle stellt sich die hier noch mehrfach aufgegriffene Frage, inwie-
fern das sich selbst als Psychologe darstellende Sprecher-Ich der Götzen-Dämmerung durch seinen
konsequenten Fokus auf die Idiosynkrasien der Philosophen selbst als ein solcher décadent ausweist.
491 Auch Werner Stegmaier deutet den Ausdruck der Idiosynkrasie als Nietzsches „Begriff für die
individuellen Beschränkungen und Bindungen […] des (daher nur scheinbar) allgemeinen und all-
gemeingültigen wissenschaftlichen und philosophischen Denkens“ (Stegmaier 2012, S. 139).
492 Wie unter anderem Robert C. Solomon gezeigt hat, führt diese Praxis zur hohen Anzahl von „ad
hominem“-Argumenten in Nietzsches Texten. Vgl. Solomon 2007, S. 180–222. Zu dem daraus resultie-
renden polemischen Schreiben Nietzsches siehe auch: Rose 2014.
493 Vgl. Müller 2005, S. 194–201.
494 Müller 2005, S. 199.
198 2.2. Die Götzen-Dämmerung

traditionellen Vernunftbegriff bereits von ihrem ersten Satz an als in die von eben
diesem intratextuellen Ich bestimmte Darstellungspraxis integriert, was zugleich
eine Reintegration besagter Kritik in traditionellere Interpretations- und Argumenta-
tionsschemata immens erschwert, wenn nicht gar gänzlich verhindert. An Müller
anknüpfend kann man diese Darstellungspraxis aufgrund des in ihr omnipräsenten
Rückbezuges auf den sie tragenden autodiegetischen ‚Erzähler‘ als „Auto-Deixis“
bezeichnen.495
Die Bedeutung dieser autodeiktischen Darstellungspraxis für den philosophisch-
semantischen Gehalt des ersten Abschnittes von GD Vernunft zeigt sich, wenn man
die publizierte Fassung des Textes mit früheren Versionen aus dem Nachlass kon-
frontiert. Eine dieser ‚Vorstufen‘ zu GD Vernunft 1 befindet sich auf der Seite 72 des
Notizheftes W II 5, das Nietzsche im Frühjahr 1888 von hinten nach vorne beschrieben
hat. Das hier relevante Blatt (siehe W II 5, S. 72 und Abb. 6a/b) trägt die durch
zweifache Umrahmung hervorgehobene Überschrift: „die wahre Welt u die scheinba-
re Welt“ (W II 5, S. 72). Darauf folgt ein kurzer in GD Vernunft 2 in überarbeiteter Form
eingegangener und im Notizheft durchgestrichener Absatz zu Heraklit und den Elea-
ten (vgl. W II 5, S. 72, Z. 2–6). Darunter finden sich folgende vier durch Unterstreichun-
gen abermals als Überschriften oder Titel ausgewiesene Zeilen: „Die Idiosynkrasie der
Philosophen – sie haben sogar zwei. Die erste ist ihr“, darunter einfach unter- und
durchgestrichen: „Die Philosophen = Idiosynkrasie“, darunter, diesmal nicht unter-
strichen jedoch abermals durchgestrichen: „Cardinalfehler der Philosophen“, und als
allerletztes darunter, unterstrichen und nicht durchgestrichen: „Was Alles Idiosyn-
krasie bei den Philosophen ist“. Erst daraufhin setzt der eigentliche ‚Lauftext‘ des
Notates mit den auch in GD Vernunft 1 leicht überarbeitet eingegangenen Worten „Vor
allen Dingen ihr der Mangel des an historischem Sinns“ ein, wird dabei jedoch nicht

495 Müller hat diesen eigentlich aus der (Text-)Linguistik stammenden Begriff zur Charakterisierung
von Nietzsches Schriften von 1888 eingeführt, um so deren Differenzen zu der in den zwischen 1884
und 1887 publizierten Werken (Za, JGB, GM) geleisteten negativ-destruktiven Arbeit herauszuarbeiten.
Die Schriften von 1888 werden nach Müller von der Einsicht getragen, dass als Folge des in den
destruktiven Projekten erbrachten Nachweises der Bedingtheit sämtlicher philosophischer Projekte
auch Nietzsches eigenes eine solche besitzen muss und dementsprechend nicht mehr zu einem Blick
außerhalb des Lebens durchbrechen kann. Als Konsequenz dieser Einsicht dominiere in Nietzsches
späten Schriften ein ‚autogenealogisches‘ und autodeiktisches Schreiben: „Wenn dem so ist, tritt an
die Stelle apophantischer, überzeugen wollender, Sätze notwendig die stilistische Auto-Deixis, der
performative Selbstverweis. […] Der Autor ‚erleichtert‘ sich hier durch gezielt pathologisierende Inter-
ventionen gegen thematische Interpretation; so erschwert er willentlich den unvoreingenommenen,
sachlichen Zugang des Lesers.“ (Müller 2009, S. 146)
Ich werde im Folgenden den Begriff der ‚Auto-Deixis‘ vor allem in Hinblick auf die auch von
Müller betonte Dimension eines durch diese erbrachten, performativen Selbstverweises folgen. Eine
Re-‚Definition‘ des Begriffes auf Grundlage der hier vollzogenen Lektüre sowie die damit einhergehen-
de Abgrenzung von Müllers noch sehr stark am historisch-empirischen Autor ausgerichteten Gebrauch
des Terminus erfolgt im Kapitel 2.2.4. dieser Studie.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 199

an die Perspektive eines intratextuellen Ichs gebunden (W II 5, S. 72, Z. 9–12; siehe


Abb. 6a/b).
Folglich zeigt sich, dass die ‚Vorstufe‘ und ihre vier Titelentwürfe ganz allgemein
und ohne Brechung durch ein Sprecher-Ich von den Idiosynkrasien der Philosophen
handeln. Diese allgemeine ‚Sprechweise‘ zieht sich über die ganze Seite 72 des
Arbeitsheftes.
Etwas geringer fallen die Unterschiede zwischen Drucktext und jener ‚Vorstufe‘
aus, welche die aus der Überarbeitung des Materials der Seite 72 des Heftes W II 5
hervorgegangene Variante auf den losen Blättern der Mappe XVI bietet. Dort lautet
der Titel des ganzen Kapitels noch schlichtweg „Philosophie als Idiosynkrasie“ (MP
XVI, 4 – vgl. KSA 14, S. 414), womit noch einmal die Bedeutung der „Idiosynkrasie“
für das gesamte Kapitel unterstrichen wird. Weitere Unterschiede zwischen dem eine
frühere Fassung des Kapitelanfanges von GD Vernunft tradierenden Blatt der Mappe
XVI zu dessen letztendlich publizierter Fassung werden im Kommentar der KSA nicht
vermerkt (vgl. KSA 14, S. 414).
Die sich vor allem in den Titelvarianten manifestierenden sprachlich-grammati-
kalischen Differenzen zwischen den ‚Vorstufen‘ und dem letztendlich veröffentlichten
Text sind für das Verständnis des Letzteren von höchster semantischer Valenz. Wie
bereits am Anfang dieses Abschnittes gezeigt worden ist, ist der ‚finale‘ Text gekenn-
zeichnet durch die semantischen Konsequenzen der in der ‚Vorstufe‘ noch nicht
aufscheinenden Eingangsfrage, welche zu einer Rückbindung des auf sie Folgenden
an die Sprecherposition eines ganz bestimmten und dadurch in seinen eigenen Idio-
synkrasien hervortretenden autodiegetischen ‚Erzählers‘ führt. Ähnlich wie bei den
zuvor nachgewiesenen semantischen Unterschieden zwischen der früheren und der
publizierten Fassung des Vorwortes der Götzen-Dämmerung werden allerdings auch
im Falle von GD Vernunft 1 diese den weiteren Verlauf des Textes insgeheim bestim-
menden ‚Idiosynkrasien‘ im publizierten Text weitaus subtiler exponiert, als dies in
den früheren Fassungen geschieht. Auch hier kommt es, wie bereits im Falle des
Vorwortes der GD, zu jener poetischen Verdichtung in der Fassung des Drucktextes,
der aufgrund dieser poetischen Darstellungsweise vom Leser weitaus mehr Mitarbeit
fordert als die ‚Vorstufen‘. Aufgrund dieser darstellerischen Besonderheiten von GD
Vernunft erscheint es höchst problematisch, diesen Text als Nietzsches finale Kritik
der rationalistischen Metaphysik zu lesen. Nicht: die rationalistische Metaphysik,
sondern die Vernunftgläubigkeit der Philosophen ist Gegenstand des Kapitels.496

496 Insbesondere die in der Einleitung bereits angesprochene Studie von Hill 2006 behauptet dies-
bezüglich genau das Gegenteil. Kains Auseinandersetzung mit Nietzsches Denken erfolgt dabei auf der
Folie von Kants kritischer Philosophie und wird durch die insbesondere im Hinblick auf Nietzsches
Spätwerk höchst problematische These begründet, dass Nietzsches Philosophie in Kant ihren zentralen
philosophischen Bezugspunkt und Gegner fand (vgl. Hill 2003, S. 7). Bei diesem Unternehmen folgt
Kains Studie, die an manchen Punkten der traditionellen Einflussforschung ähnelt, methodologisch
dem ästhetikfeindlichen Strang der analytischen Philosophie, was sich insbesondere in ihrem Umgang
200 2.2. Die Götzen-Dämmerung

In der Druckfassung setzt im Anschluss an drei Auslassungspunkte, welche eine


Intonationspause markieren und solcherart den Eingangssatz des Abschnittes ein-
deutig als Interrogatio identifizieren, mit dem zweiten Satz von GD Vernunft 1 die
eigentliche ‚Narratio‘ der ersten Idiosynkrasie der Philosophen ein. Narratologisch
bedient sich die damit anhebende Darstellung eines zwischen Mittelbarkeit und
Unmittelbarkeit angesiedelten ‚Erzähl‘-Modus, wodurch beim Lesen primär der Ein-
druck erweckt werden könnte, dass die autodiegetische Sprecherinstanz den auf
Neutralität abzielenden Gepflogenheiten des philosophischen Diskurses folgt. Dieser
potentiell erste Eindruck wird jedoch bei näherem Hinsehen insbesondere durch die
dabei offensichtlich werdende Dichte an rhetorischen Figuren und Tropen, die besag-
te ‚Narratio‘ kennzeichnen, unterlaufen. Die Eröffnung der ‚Beschreibung‘ der Idio-
synkrasien der Philosophen lautet:

Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des
Werdens, ihr Ägypticismus. (GD Vernunft 1, EA 18)497

Bereits dieser Satz realisiert die anhand der Eingangsfrage herausgearbeitete, in GD


Vernunft 1 propagierte Idiosynkrasierung der Sprech- und Denkweise der Philoso-

mit den Darstellungsformen von Nietzsches Texten manifestiert: „I will attempt to reconstruct what I
take to be the skeletal structure of Nietzsche’s thought, stripped of its literary and rhetorical surface.“
(Hill 2003, S. 3)
Am Anfang des für diese Studie zentralen Kapitels zu GD Vernunft wird dementsprechend das
Ziel desselben als Nietzsches Versuch „to provide his own critique of rationalist metaphysics“ (Hill
2003, S. 175) bestimmt, was Hill dazu veranlasst, Nietzsches diesbezügliche Kritik nicht nur argumen-
tativ zu rekonstruieren, sondern im Zuge der Lektüre von GD Vernunft 5 auf Basis der dort zu
findenden sprachphilosophischen ‚Thesen‘ aus diesen die finale Position Nietzsches zu extrahieren,
die laut Hill mit derjenigen Kants zu einem großen Teil übereinstimmt. Zum problematischen Status
dieser Deutung siehe die Lektüre von GD Vernunft 5.
497 In der eigentlichen Darstellung unterscheiden sich die drei Sätze der publizierten Fassung kaum
von der ‚Vorstufe‘ in W II 5. Der grundlegendste Unterschied zwischen den beiden Fassungen besteht
lediglich darin, dass der frühere Entwurf an manchen Stellen syntaktisch-grammatikalisch noch
unvollständig ist. Semantisch valente inhaltliche Variationen sind hingegen kaum auszumachen (vgl.
W II 5, S. 72; Abb. 6a/b). Der einzige nennenswerte Unterschied zwischen der ersten Hälfte der
Grundschicht der ‚Vorstufe‘ und der letztendlich veröffentlichten Fassung besteht darin, dass in
Ersterer die ‚Sachen‘ durch die auf sie folgende Parenthese „(Begriff, Ding, Fiktion)“ (W II 5, S. 72, Z. 14;
Abb. 6a/b) ‚näher‘ bestimmt werden. Genau durch diese ‚nähere Bestimmung‘, welche aus der
Auflistung von drei Abstrakta besteht, verlässt die Aufzeichnung jedoch die auch in ihr ansonsten
schon vorherrschende poetische Schreibweise. Dieser ‚Bildbruch‘ ist in der publizierten Fassung
getilgt.
So wie in diesem Falle verhält es sich auch mit dem restlichen auf der Seite 72 des Arbeitsheftes
W II 5 zu findenden Textmaterial des Entwurfes von GD Vernunft 1. Mit Ausnahme des bereits
besprochenen Seitenkopfes sowie der Zeilen 43 bis 58 (vgl. W II 5, S. 72; Abb. 6a/b) weist die
Manuskriptseite verhältnismäßig wenige bis gar keine Überarbeitungen auf und unterscheidet sich
vom publizierten Text nur in der bereits angesprochenen syntaktisch-grammatikalischen Unvollstän-
digkeit.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 201

phen in seiner Darstellungsform: Einerseits wird durch die Rede vom „Hass gegen die
Vorstellung selbst des Werdens“ der idiosynkratische Charakter der Grundannahmen
der Philosophen durch die Verwendung eines auf die Affektiertheit derselben hin-
weisenden Substantives („Hass“) unterstrichen, andererseits offenbart sich auch das
Sprecher-Ich selbst als idiosynkratisch, indem es zur Beschreibung dieses Sachver-
haltes ein komplexes rhetorisches Spiel inszeniert. Anstelle der in einer ‚traditioneller‘
verfahrenden philosophischen Abhandlung zu erwartenden schlichten Feststellung
der Tatsache, dass die bisherigen Philosophen in ihren Reflexionen das Werden
mehrheitlich als philosophisch valente Kategorie zurückgewiesen haben, bringt der
erste Satz diesen Sachverhalt mithilfe einer rhetorischen Gedankenfigur, welche
ziemlich unverhohlen auf die ebenso höchst individuelle(n) Empfindlichkeit(en) des
sie verwendenden Sprecher-Ichs verweist, zum Ausdruck. Es handelt sich dabei um
eine Klimax, welche der Satz durch die Steigerung der Abneigung der Philosophen
qua Nennung von deren Mangel an dem in Nietzsches Gesamtwerk in verschiedensten
Bedeutungen auftretenden „historische[n] Sinn“498 und deren bereits angesproche-
nen „Hass gegen die Vorstellung […] des Werdens“ sowie deren „Ägypticismus“ in
dem für diese Figur charakteristischen Dreischritt realisiert. Besagte Figur wird dem
Leser allerdings erst ersichtlich durch die Dekodierung der hier in ihrer bereits selbst
übertragenen Ursprungsbedeutung semantisch weiter verschobenen Metapher des
„Ägypticismus“. Dass es sich bei dem laut Andreas Urs Sommer in der Wissenschafts-
literatur des 19. Jahrhunderts gelegentlich „zur Bezeichnung eines aus dem Ägyp-
tischen in eine andere Sprache eingedrungenen Wortes oder der kulturellen Eigenart
Ägyptens“499 verwendeten ‚Begriff‘ um eine Steigerung des zuvor bereits artikulierten
„Hass gegen die Vorstellung […] des Werdens“ handelt, welcher eine Extremform
dieses Hasses qua Metapher zum Ausdruck bringt, geht erst aus den beiden Folgesät-
zen hervor, die dasselbe Phänomen erneut durch Rückgriff auf ebenfalls aus dem

498 Das Begriffspaar ‚historischer Sinn‘ ist in Nietzsches Gesamtwerk mehrfach belegt und findet sich
schon in den Aufzeichnungen der frühen siebziger Jahre (siehe z.B.: NL 1870, 8[82], KSA 7, S. 253), um
dann in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zur Problematisierung bestimmter
Praktiken der Nietzsche zeitgenössischen Historie herangezogen zu werden (vgl. HL 7, KSA 1, S. 295f.).
Spätestens ab Menschliches, Allzumenschliches I, in dessen zweitem Aphorismus der „Mangel an
historischem Sinn“ als „der Erbfehler aller Philosophen“ (MA I 2, KSA 2, S. 24) ausgewiesen wird,
figuriert das ‚Begriffspaar‘ als ein zentraler Gegen-Begriff von Nietzsches mit besagtem Buch sich neu
positionierender Philosophie, in der es bis zum Spätwerk zu einer immer stärkeren Historisierung ihrer
eigenen Methoden sowie der mit diesen untersuchten Gegenstände kommt. Am offensichtlichsten wird
diese Tendenz zur radikalen Historisierung im Spätwerk Nietzsches in Zur Genealogie der Moral,
welche ein Philosophieren auf Basis der Berücksichtigung des ‚historischen Sinns‘ exemplarisch
umsetzt.
Einen guten einleitenden Überblick über die Entwicklung des ‚Begriffspaares‘ innerhalb von
Nietzsches Gesamtwerk bietet Gori/Piazzesi 2012, S. 162f. Weitaus kürzer fällt der Kommentar aus in
Sommer 2012, S. 287.
499 Sommer 2012, S. 288.
202 2.2. Die Götzen-Dämmerung

antiken Ägypten hervorgegangene kulturelle Praktiken verweisende Termini weiter


ausführen:

Sie glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie
aeterni, — wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden
gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Hän-
den. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriffs-Götzendiener, wenn sie anbeten, — sie
werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. (GD Vernunft 1, EA 18)

Die philosophische Praxis der vom Sprecher-Ich bis zu diesem Punkt seiner ‚Narratio‘
noch nicht weiter bestimmten Philosophen wird hier abermals durch die Verwendung
einer gängigen rhetorischen Trope – des Vergleichs – mit der ägyptischen Bestat-
tungspraxis des Mumifizierens gleichgesetzt, um in der ersten Hälfte des zweiten hier
wiedergegebenen Satzes in der in Nietzsches Schriften seit den Unzeitgemässen Be-
trachtungen belegten Metapher der „Begriffs-Mumien“ ihren End- und Höhepunkt zu
erreichen.500 In der zweiten Hälfte des zitierten Passus wird dann das durch die
Metapher von den „Begriffs-Mumien“ geschaffene Bild von der bevorzugten theoreti-
schen Tätigkeit der nun als „Begriffs-Götzendiener“ bezeichneten Philosophen se-
mantisch noch einmal verschoben, indem diese Praxis im Unterschied zu der im alten
Ägypten üblichen Bestattungsform nun selbst als ein Tötungsakt bezeichnet wird.
Durch die dabei erfolgende Anthropomorphisierung der von den Philosophen behan-
delten „Sache[n]“ erhält deren vermeintliche ‚Tötung‘ aus ‚Anbetung‘ einen zusätzli-
chen Nachdruck, wozu auch die Epipher „wenn sie anbeten“ beiträgt. Zugleich wird
den Philosophen expressis verbis – „sie werden Allem lebensgefährlich“ – ein Grad an
Einfluss auf das Leben eingeräumt, der ihre in der besagten Passage bildreich dar-
gestellte Praxis, die ‚Wirklichkeit‘ gegenüber den Begriffen abzuwerten, noch gefähr-
licher erscheinen lässt.501
Die an die soeben behandelte Passage anschließenden Sätze und deren stärker an
die traditionelle Philosophie erinnernder Sprachgebrauch erlauben es über die dort
weitergeführte Darlegung der vorherrschenden Denkpraktiken der ‚idiosynkratischen
Philosophen‘ deren realhistorische Referenten durch Rückgriff auf einen Intertext
näher zu bestimmen: „Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und
Wachsthum sind für sie Einwände, — Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht; was
wird, i s t nicht…“ (GD Vernunft 1 EA 18)
Die hier in einer antithetischen Formel auf den Begriff gebrachte Grundansicht
der ‚Philosophen‘ weist durch die in ihr gegebene Zurückweisung in ihrer empirischen
Faktizität kaum bestreitbarer Phänomene wie Tod, Alter und Zeugung auf deren

500 Zu den „Begriffs-Mumien“ siehe Sommer 2012, S. 288, der als weiteren Beleg der Metapher auf
UB II HL 3 (KSA 1, S. 268) und ZA III Vom Geist der Schwere (KSA 4, S. 244) verweist.
501 Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 288, der dort ebenfalls die aus besagter Macht der Philosophen
entspringende Gefahr durch die selben beschreibt und dann daraus den hoch spekulativen Schluss
zieht: „Diese Macht der Philosophen gedenkt N. zu usurpieren.“ (Sommer 2012, S. 288)
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 203

vermeintlich problematischen epistemologischen Status, kennzeichnet diese Ansicht


damit abermals als Idiosynkrasie und deutet dabei zugleich auf die Eleaten, ins-
besondere Parmenides, als potentielle role-models des hier so bildhaft vorgeführten
philosophischen ‚Glaubens‘.502
Ihr zentrales Credo sowie dessen Rechtfertigungsversuche werden im Anschluss
an drei Auslassungspunkte, welche als Intonations- und Denkpause der in der ihnen
vorausgehenden Formel ausgedrückten Antithese von ‚Sein‘ und ‚Werden‘ die not-
wendige Zeit gibt, beim Leser ihre volle Wirkung zu entfalten, in den folgenden
beiden Sätzen dargelegt: „Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an’s Seiende.
Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie nach Gründen, weshalb man’s
ihnen vorenthält.“ (GD Vernunft 1, EA 18f.)
Der Glaube ans Seiende wird hier im ersten Satz erneut als bloß idiosynkratische
Setzung ausgewiesen, beruht er doch nicht auf Einsicht, sondern auf „Verzweiflung“.
Dessen vermeintlich unmögliche Rechtfertigung wird dann zum Ausgangspunkt einer
aus der bereits angesprochenen Verzweiflung entspringenden und dadurch in ihrer
Wissenschaftlichkeit höchst problematischen Heuristik erklärt. Mit der eigentlichen
Nennung der diese Heuristik leitenden Frage kommt es zu einem Wechsel im narrati-
ven Modus des Abschnittes. Hat man es bis zu diesem Punkt mit einer vom auto-
diegetischen ‚Erzähler‘ vermeintlich getragenen Form der erlebten (Gedanken-)Rede
zu tun, die in dieser Gebundenheit an das Sprecher-Ich alles vom Text Vorgebrachte
als dessen idiosynkratische Interpretation ausweist, wechselt GD Vernunft 1 in seinem
Darstellungsmodus nun zum Gedankenzitat, was zu einer Steigerung der Unmittel-
barkeit des Abschnittes führt, in dem es nun heißt: „‚Es muss ein Schein, eine
Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen: wo steckt der Betrü-
ger?‘“ (GD Vernunft 1, EA 19)

502 Dass es sich bei der in GD Vernunft 1 dargestellten Seins-Philosophie um eine sehr schematische
Darstellung des Eleatismus handelt, hat bereits Wolfgang Müller-Lauter dargelegt (vgl. Müller-Lauter
1999, S. 199). Ähnlich Andreas Urs Sommer, der in Victor Brochards Les sceptiques grecs den potentiel-
len Intertext der hier verhandelten Passage vermutet (vgl. Sommer 2012, S. 289).
Sommer zitiert im Nietzsche-Kommentar folgenden Passus aus dem 1887 in Paris erschienenen
und 1888 von Nietzsche mehrfach gelesenen Buch als mögliche Quelle der Darstellung in GD Ver-
nunft 1: „‚La raison démontre que l’être est un, immobile, éternel; les sens nous font voir partout la
multiplicité, le changement, la naissance et la mort; ils ne méritent donc aucune créance.‘ (‚Die
Vernunft beweist, dass das Sein eins ist, unbeweglich, ewig; die Sinne lassen uns überall die Vielheit,
den Wandel, die Geburt und den Tod sehen; sie verdienen daher keinerlei Glauben.‘)“ (Brochard 1887,
S. 5 zitiert nach Sommer 2012, S. 289).
GD Vernunft 1 verzichtet im Gegensatz zu Brochard – dabei konsequent der auf Idiosynkrasierung
der philosophischen Thesen abzielenden Darstellungspraxis des gesamten Abschnittes folgend – auf
die explizite Nennung der Vernunft, was die im Text erfolgende Diffamierung der solcherart die
eindeutig existierenden und auch von Brochard genannten Phänomene Tod, Wandel, Wachstum
zurückweisenden Philosophen vereinfacht, da auf diesem Weg dem eigentlichen Argument der
Eleaten die zentrale Prämisse entzogen und dieses so zum Enthymem wird.
204 2.2. Die Götzen-Dämmerung

In dieser im „Betrüger“ ein philosophisches Problem – den Schein – abermals


mithilfe der rhetorischen Trope der Anthropomorphisierung versinnbildlichenden
und damit zugleich ihre Beantwortung vorzeichnenden Frage kommt es über die
solcherart erfolgende Zusammenführung einer eigentlich aus der theoretischen Phi-
losophie stammenden Fragestellung – nämlich der Frage, wie man das ‚Sein‘ erken-
nen könnte – mit einem auf die praktische Philosophie verweisenden Begriff – dem
„Betrüger“ – zu einer Vermoralisierung des ‚theoretischen‘ Diskurses, die auch den
Rest von GD Vernunft charakterisieren wird. Auf einen abermals eine Intonations-
und Gedankenpause markierenden Geviertstrich folgt – wieder als direktes
Gedankenzitat – die an manchen Stellen durch einen Erzählerkommentar unterbro-
chene eigentliche Darlegung der das Denken der idiosynkratischen Philosophen
leitenden Imperative:

„Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist’s! Diese Sinne, d i e a u c h s o n s t s o
u n m o r a l i s c h s i n d , sie betrügen uns über die w a h r e Welt. Moral: loskommen von dem
Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, — Historie ist nichts als Glaube an die
Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum
ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles „Volk“. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-
Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen! — Und weg vor Allem mit dem L e i b e ,
dieser erbarmungswürdigen idée fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt,
widerlegt, unmöglich sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!“… (GD
Vernunft 1, EA 19)503

Dieses direkte Gedankenzitat fasst sämtliche Motive von GD Vernunft 1 noch einmal
zusammen und steigert sie dabei zugleich – nicht zuletzt durch die zahlreichen
Emphasen – zu einer letzten Klimax: Bereits der glückselig ausgerufene erste Satz
samt seiner Identifikation der Sinnlichkeit als Ursache dafür, dass man ‚das Seiende
nicht wahrnehme‘, bestätigt erneut die persönliche Teilhabe der an der Beant-
wortung der Frage nach dem Betrüger so verzweifelt interessierten Philosophen.
Deren sich solcherart als bloße Ideologie offenbarende ‚Philosophie‘ wird in den
nächsten beiden Sätzen getreu der ‚symptomatologischen‘ Heuristik der Götzen-
Dämmerung auf eine selbst bereits moralisch bedingte – sprich: aus dem Gesamt-

503 Auch für diesen Passus stellt nach Andreas Urs Sommer Victor Brochards Les sceptiques grecs den
zentralen Referenztext dar. Die von Sommer im Nietzsche-Kommentar daraus zitierten Passagen (vgl.
Sommer 2012, S. 289f.) differieren in ihrer Schreibweise jedoch so stark von dem sie vermeintlich
aufnehmenden Abschnitt in GD Vernunft 1, dass man mit Gérard Genette das intertextuelle Verhältnis
zwischen diesen beiden Texten wohl als „Transposition“ (vgl. Genette 1993 [1982], S. 289f.) bezeichnen
müsste. Diese Transposition ist nicht nur formaler, sondern auch inhaltlicher Natur, da GD Vernunft 1
im Gegensatz zum Hypotext von Brochard nicht mehr wissenschaftlich-neutral die zentralen Ansichten
antiker Philosophieschulen referiert, sondern diese in einer besagte Ansichten verlebendigenden
unmittelbaren Darstellungsweise zur Anschauung bringt und dabei zugleich auch einer impliziten
Wertung unterzieht.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 205

Zustand der sich hier vermeintlich selbst artikulierenden Philosophen entspring-


ende – Moral zurückgeführt.
Als Begründung für die vermeintliche ‚Konklusion‘, dass es die Sinne sein
müssen, welche den Zugang zur graphematisch hervorgehobenen „w a h r e [ n ] Welt“
verschließen,504 rekurriert der Text auf die selbst schon moralische Feststellung, dass
die Sinne sich ja durchgehend als unmoralisch erweisen, und bringt damit die bereits
vor der eigentlichen Beantwortung der Frage einsetzende Überführung einer erkennt-
nistheoretischen Problematik ins moralische Urteilen zu ihrem vorläufigen Ende. Er
impliziert dabei die für das im Text unvollständig vorgebrachte vermeintliche Argu-
ment der idiosynkratischen Philosophen unterschlagene Prämisse, dass eine Sache,
die unmoralisch sei, nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch ‚betrüge‘, sprich:
falsch sei. Die in dieser Prämisse sich offenbarende Einebnung von theoretischer
Philosophie und praktischer Ideologie wird in den beiden darauffolgenden und durch
die Anapher an ihren Anfängen zusammengeklammerten Sätzen noch einmal bestä-
tigt, indem diese aus der zuvor gewonnenen vermeintlichen Einsicht ihre einem
moralischen ‚Imperativ‘ gleichenden Konsequenzen ziehen: „Moral: loskommen von
dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, — Historie ist nichts
als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral: Neinsagen zu Allem, was den
Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit: das ist Alles ‚Volk‘.“
(GD Vernunft 1, EA 19)
Der autodiegetische ‚Erzähler‘ legt mit diesem ‚Imperativ‘ den Philosophen indi-
rekt jene Idiosynkrasie in den Mund, deren Grundthesen dann in GD Vernunft 2
anhand konkreter Persönlichkeiten der abendländischen Philosophiegeschichte wei-
ter ausgeführt werden. Die Freilegung der in diesem ‚Imperativ‘ sich offenbarenden
Gegenposition ist bereits hier über eine Analyse der rhetorischen Figur der Epanalep-
se möglich, welche im zuvor zitierten Passus durch den Einschub von „von der Lüge“
und einem Geviertstrich zwischen die zweifache Nennung der „Historie“ realisiert
wird. In der Verwendung dieser rhetorischen Figur liegt auch der zentrale Unter-
schied zwischen der publizierten Fassung und dem Entwurf im Heft W II 5. In dessen
Grundschicht ist die zweifache Nennung der „Historie“ bloß durch ein Komma und
den Gedankenstrich voneinander getrennt. Der Einschub „von der Lüge“ wurde erst
in einem Überarbeitungsgang hinzugefügt (vgl. W II 5, S. 72, Z. 46–48; siehe auch
Abb. 6a/b). Die durch den Einschub noch verstärkte aus der Epanalepse entsprin-
gende Emphase505 des Satzes hebt aus der von ihm vorgebrachten Reihe der der
Moral der idiosynkratischen Philosophen oppositionellen Termini Sinnentrug, Wer-

504 An diesem Punkt kommt es zu einer ersten bedeutenden Differenz zwischen dem Entwurf im
Arbeitsheft W II 5 und der Druckfassung, ‚spricht‘ doch Erstere in der Grundschicht noch von der
„Realität“ und erst in einem Überarbeitungsschritt von der in der Handschrift nicht unterstrichenen
„wahre[n] Welt“ (vgl. W II 5, S. 72, Z. 43–44; Abb. 6a/b).
505 Zur qua Emphase erfolgenden sinnakzentuierenden Funktion der Epanalepse siehe unter ande-
rem Groddeck 2008, S. 121f.
206 2.2. Die Götzen-Dämmerung

den, Historie und Lüge den vorletzten Begriff heraus: die Historie. Diese wird im
zweiten Satzkolon über den mithilfe der rhetorischen Figur der Epipher als zusam-
mengehörig ausgewiesenen Glauben an die Sinne und die Lüge charakterisiert.506
Historie wird so ex negativo zum zentralen Gegenbegriff des idiosynkratischen Den-
kens der ‚Philosophen‘ und derartig zugleich – um sich qua Analogie einer ‚Sentenz‘
aus Theodor W. Adornos Minima Moralia zu bedienen – zu jenem Narrativ, das
„befreit [ist] von der Lüge, Wahrheit zu sein“507.
Während also die idiosynkratischen Philosophen ‚instinktiv‘ ihrem sinnenfeindli-
chen Seins-Glauben folgen, profiliert sich das Sprecher-Ich zunehmend als Apologet
der Sinne. Dass diese oppositionelle Auffassung mit der Idiosynkrasie des autodiege-
tischen ‚Erzählers‘ identisch ist, lässt sich nicht zuletzt aus der Tatsache erschließen,
dass die von ihm referierte Geschichte der idiosynkratischen Philosophen tatsächlich
genau auf jene Methode zurückgreift, die in dem hier verhandelten Satz dem Seins-
Glauben gegenübergestellt wird: die Historie. In diesem performativen Kurzschluss
bestätigt sich der bereits zuvor herausgearbeitete autodeiktische Charakter von GD
Vernunft 1.
Der anaphorisch über den Satzanfang mit dem ersten Satz verbundene zweite Teil
des sich von den Philosophen vermeintlich selbst auferlegten ‚Imperativs‘ variiert im
ersten Satzkolon abermals in einer gebotsartigen Form die Zurückweisung jeglichen
Glaubens an die Sinne, überträgt diesen dabei aber zugleich von den Sinnesorganen
auf die Gesamtheit derjenigen, die diesen Glauben schenken, was im zweiten Satz-
kolon dann explizit zu einer immensen quantitativen Ausweitung der den sich hier
selbst Verhaltensregeln auferlegenden Philosophen gegenüberstehenden Opposition
führt, wird diese doch als der „ganze[ ] Rest der Menschheit“ bestimmt. In einem
letzten Zusatz erfährt diese dann noch eine zusätzliche Abwertung: „das ist Alles
‚Volk‘“.
Eingedenk der bei der Lektüre des ersten Teils des hier weiterhin verhandelten
‚Imperativs‘ herausgearbeiteten Identifikation des sich offensichtlich als Antagonist
der von ihm dargestellten Philosophen offenbarenden Sprecher-Ichs scheint es hier
zu einer Identifikation desselben mit dem „Rest der Menschheit“, ja gar mit dem
„‚Volk‘“ zu kommen. Das mag irritieren, wenn man sich an die im Kapitel 2.1.2.2.

506 Die immer enger werdende Zusammenführung vom „Glauben an die Lüge“ mit dem „Glauben an
die Sinne“ im Zuge der Bestimmung der Historie lässt sich textgenetisch gut nachvollziehen: So lautet
das zweite Satzkolon des hier soeben behandelten Satzes in der Grundschicht des Heftes W II 5 noch
schlicht: „Historie ist nichts als Glaube an diese Falschmünzerei, die Sinne!“ (W II 5, S. 72, Z. 48) Im
Zuge einer ersten Überarbeitung wurde dann „diese Falschmünzer, die Sinne“ gestrichen und durch
eine an diesem Punkte noch vollständige Epipher ersetzt: „Historie ist nichts als Glaube an die Sinne,
nichts als Glaube an die Lüge!“ (W II 5, S. 72, Z. 47–48) In einem weiteren Überarbeitungsschritt wurde
das zweite „nichts als“ gestrichen, wodurch die auch im publizierten Text zu findende, etwas verkürzte
Variante einer Epipher hervorging: „Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge!“
(W II 5, S. 72, Z. 47–48; siehe auch Abb. 6a/b)
507 Vgl. Adorno 2003a [1951], S. 254: „Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 207

erfolgte Lektüre von GD Alten 1 und 2 erinnert, wo das Sprecher-Ich als ein sich selbst
durchweg als vornehm verstehendes Ich ausgewiesen worden ist. Eine genauere
Lektüre zeigt allerdings, dass auch diese Passage keinen Einwand gegen die vom
autodiegetischen ‚Erzähler‘ sich selbst zugeschriebene Vornehmheit mit sich bringt,
steht das Volk, mit dem hier das Sprecher-Ich nur implizit, und zwar über seine
grundsätzlich oppositionelle Haltung gegenüber den Philosophen gleichgesetzt wird,
doch zwischen Anführungszeichen und ist daher nicht nur abwertend im Sinne der
plebs zu lesen, sondern auch als ‚Zahlen-Synekdoche‘508. Der consensus sapientium
basiert hier somit auf einer Inversion des bekannten argumentum ad populum, durch
welche der Glaube an die Sinne zurückgewiesen werden soll. Diese verfemte rhetori-
sche Taktik wird, gerade aufgrund ihrer Problematik, jedoch auch gegen ihre Ver-
wender aktiv und lässt daher die Position der Philosophen erneut selbst fragwürdig
werden. Zugleich offenbart der rhetorische Kurzschluss der Anwendung des argumen-
tum ad populum ein weiteres Mal, dass sich das immer stärker in Opposition zu den
von ihm beschriebenen Philosophen stellende Sprecher-Ich diesen in seinem idio-
synkratischen Vorgehen um nichts nachsteht, ist doch dieses aus einer narratologi-
schen Perspektive als eigentlicher ‚Erzähler‘ des gesamten Abschnittes auch für die
Inhalte des vermeintlichen Gedankenzitates verantwortlich.509
Diese sich fern der wissenschaftlichen Objektivitätsforderung bewegende ‚Erzähl-
weise‘ zeigt sich auch im Folgesatz, der – wenn man bedenkt, dass man sich immer
noch innerhalb des Gedankenzitates befindet – noch stärker als die vorausgehenden
Sätze den Einfluss des autodiegetischen ‚Erzählers‘ bei der Wiedergabe der vermeint-
lichen Selbstcharakterisierung der Philosophen augenscheinlich werden lässt: „Philo-
soph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik
darstellen!“ (GD Vernunft 1, EA 19)
Spätestens an diesem Punkt wird sich der aufmerksame Leser der Unzuverlässig-
keit der parteilichen ‚Erzählweise‘ des Sprecher-Ichs bewusst werden, greift dieser
doch hier auf die bereits vor dem Gedankenzitat zur negativen Charakterisierung der
Reaktions- und Denkweise der Philosophen herangezogene Mumifizierungsmetapho-
rik zurück und fasst die lebensgefährlichen Tendenzen derselben noch einmal in dem
mittlerweile berühmt gewordenen paronomastischen Neologismus des „Monotono-

508 Siehe zu dieser rhetorischen Trope unter anderem Groddeck 2008, S. 213f.
509 In der Grundschicht der ‚Vorstufe‘ von GD Vernunft 1 ist der besagte ‚Imperativ‘ nur durch die
Setzung eines den grammatikalisch eigentlich fortgesetzten Satz graphematisch in zwei Sätze teilendes
Ausrufungszeichen getrennt: „– Moral: los kommen von dem Sinnentrug, von dem Werden, der
Historie, – Historie ist nichts als Glaube an diese Falschmünzer, die Sinne! u Nein sagen zu allem, was
die mesquine Gewöhnung hat, sich durch die Sinne glaubwürdig zu machen …, die Gottheit in den
Busen aufnehmen.“ (W II 5, S. 72, Z. 46–52; siehe auch Abb. 6a/b)
In der Grundschicht fehlt außerdem das im Lauftext in seiner Funktion bereits analysierte argu-
mentum ad populum. Dieses wurde erst im Zuge der Überarbeitung der Grundschicht eingefügt (siehe
Abb. 6a/b).
208 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Theismus“ zusammen. Eine derartige, sich hart an der Grenze der als Selbst-Persiflage
getarnten Parodie510 bewegende Autocharakterisierung ist kaum mehr ernst zu neh-
men und lässt so den sie vorbringenden ‚Sprecher‘ endgültig in seiner eigenen Idio-
synkrasie hervortreten.
Dieses autodeiktische Moment fehlt noch beinahe vollständig in den früheren
Fassungen des besagten Satzes. In deren frühester, im Heft W II 5 dokumentierten
Variante fällt die ursprüngliche Fassung desselben noch mit dem im Drucktext von
ihm schließlich getrennten Vorgängersatz zusammen: „u Nein sagen zu allem, was
die mesquine Gewöhnung hat, sich durch die Sinne glaubwürdig zu machen …, die
Gottheit in den Busen aufnehmen.“ (W II 5, S. 72, Z. 50 und 52; Abb. 6a/b) Das letzte
Satzkolon dieser Variante bildet die Keimzeile des soeben besprochenen Satzes. Diese
entbehrt in ihrer konventionellen Bildlichkeit gänzlich der parodistischen Momente
der Druckfassung, unterstreicht aber bereits durch ihre Metaphorik die Parallele
zwischen den Handlungs- und Denkpraktiken der Philosophen und religiösen Glau-
benspraktiken.
Im Zuge eines umfangreichen Überarbeitungsprozesses wurden diese Momente
allmählich in den Vordergrund gerückt. Dabei kommt es bereits bei der ersten Über-
arbeitung zur vollständigen Streichung der ursprünglichen Fassung. An deren Stelle
tritt folgender Satz: „Philosoph sein, Mumie sein, die Gottheiten selbst durch eine
erzene Mimik darstellen…“ (W II 5, S. 72, Z. 51 und 52) In dieser Fassung existiert
bereits die Anspielung auf die dem eigentlichen Gedankenzitat vorausgehende Mumi-
fizierungsmetaphorik.511 Deren negative Konnotation wird hier aber noch durch den
Inhalt des zweiten Satzkolons potentiell ausgeglichen. Vor allem dessen zweite Über-
arbeitung zeichnet ein durchweg positiv deutbares Bild: „die Gottheiten selbst durch
eine erhabene Mimik darstellen“ (W II 5, S. 72, Z. 51 und 52). Insbesondere der in der

510 Die vorliegende Studie folgt in ihrer Beschreibung derartiger hypertextueller Relationen dem
Begriffsapparat von Genette 1993. Zum besseren Verständnis der dort nachgezeichneten intertextuel-
len Beziehungen sei hier das Schema Genettes vollständig wiedergegeben. Dieses untersucht auf der
einen Achse das hypertextuelle Verhältnis und unterscheidet dabei zwischen Nachahmung und Trans-
formation; auf der anderen Achse werden die von Genette als Register bezeichneten Kategorien
‚spielerisch‘, ‚satirisch‘ und ‚ernst‘ verhandelt. Dementsprechend unterteilt er in besagtem Schema die
Transformationen in Parodie (spielerisch; gleiche Form wie Hypotext, jedoch anderer Inhalt), Travestie
(satirisch; andere Form als Hypotext, jedoch gleicher Inhalt) und Transformation (ernst), die Nach-
ahmungen in Pastiche (spielerische Verquickung von Hypertexten), Persiflage (satirische Übertreibung
des Hypertextes) und die ernsthafte Nachahmung (vgl. Genette 1993, S. 42–47).
511 In der Fassung des Arbeitsheftes handelt es sich bei diesem Satz nicht um ein direktes Gedanken-
zitat. Dieses endet dort nach der Frage „wo steckt der Betrüger“. Danach wechselt der Entwurf
abermals in den Erzählerbericht des dort nicht eindeutig autodiegetischen Erzählers (vgl. W II 5, S. 72
sowie Abb. 6a/b). Auch im Druckmanuskript ist die Kennzeichnung der Fortsetzung des Gedankenzi-
tates noch unvollständig. Zwar eröffnet auch dieses den auf die soeben zitierten Fragen durch einen
Gedankenstrich getrennten Satz „Wir haben ihn“ mit einem Anführungszeichen, jedoch fehlt im
ganzen weiteren Textverlauf ein zweites, schließendes Anführungszeichen (siehe GSA 71/28, Bl. 14r
und Abb. 10).
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 209

Kunstepoche von Autoren wie Kant und Schiller zu einem zentralen Terminus ihrer
Ästhetik und Anthropologie gemachte Begriff der ‚Erhabenheit‘ ist hier noch fern von
der Wendung ins Ironische, die in der „Todtengräber-Mimik“ der Druckfassung mit-
schwingt.
Dieses die vermeintliche Erhabenheit der Philosophen demaskierende Bild findet
sich bereits in der aus der letzten auf der Seite 72 des Heftes W II 5 dokumentierten
Überarbeitung hervorgegangenen Fassung: „Philosoph sein, Mumie sein, den Mono-
tono-Theismus durch eine erhabene Mimik darstellen“. Im Druckmanuskript heißt es
dann: „Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine hieratische
Mimik darstellen.“ (siehe Abb. 10) Diese Zuspitzung kommt erst in der publizierten
Fassung, welche als einzige den Satz mit einem Ausrufezeichen schließt, zu ihrem
Ende.512
Die in der letztendlich publizierten Fassung zum Ausdruck kommende und stark
autodeiktische Tendenz zur Parodie wird auch in den letzten beiden Sätzen des
Gedankenzitates, zugleich die letzten beiden Sätze von GD Vernunft 1, fortgeführt.
Diese setzen nach einer abermals durch einen Gedankenstrich markierten Intonati-
onspause ein: „Und weg vor Allem mit dem L e i b e , dieser erbarmungswürdigen idée
fixe der Sinne! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich
sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden!‘…“ (GD Vernunft 1,
EA 19)
In der im ersten Satz artikulierten Forderung, sich des Leibes, der sich hier nicht
zuletzt durch seine graphematische Hervorhebung als potentieller Gegen-Begriff zur
Begrifflichkeit der Philosophen profiliert, im eigenen Denken zu entledigen, da es sich
bei diesem um nichts anderes als um eine fixe Idee der Sinne handle, unterminieren
sich die diese Auffassung vermeintlich vertretenden Philosophen abermals selbst:
Einerseits impliziert das Oxymoron der „idée fixe der Sinne“ eine kognitive Kom-
petenz der Letzteren, welche die von den Philosophen bekämpfte Macht derselben
noch einmal unterstreicht. Andererseits faltet sich das in dieser Trope mitschwingen-
de pathologische Moment auf die sich gegen die Sinne wendenden Philosophen
zurück, die in ihrem selbst die Form einer fixen Idee annehmenden Kampf gegen die
Sinne dieselben pathologischen Verhaltensmuster an den Tag legen, welche sie den
von ihnen bekämpften Sinnen zuschreiben.513
Die im letzten Satz in Szene gesetzte Empörung gegen den Leib schlägt durch ihre
Emphase letztendlich ins Komische um, was dazu führt, dass das gesamte vermeintli-
che Gedankenzitat als eine Parodie auf die grundlegenden Handlungs- und Denk-
weisen der in GD Vernunft 1 beschriebenen Philosophen gelesen werden kann. Für

512 Es ist davon auszugehen, dass die Ersetzung von „hieratische Mimik“ durch „Todtengräber-
Mimik“ im Zuge der Fahnenkorrekturen erfolgte, da sie weder im Druckmanuskript noch in Nietzsches
Briefwechsel vermerkt ist.
513 Dieses pathologische Moment fehlt ebenfalls noch im Druckmanuskript, wo anstelle von „idée
fixe der Sinne“ von der „Fiktion der Sinne“ (vgl. GSA 71/28, Bl. 14r und Abb. 10) die Rede ist.
210 2.2. Die Götzen-Dämmerung

eine derartige Lektüre spricht auch der Vergleich der vorherrschenden Schreibweise
in dem vermeintlichen Gedankenzitat mit den bisher von der Forschung freigelegten
‚Quellen‘, insbesondere Victor Brochards Les scepitique grecs. Stellt der 1887 publi-
zierte Hypotext konkret an vorsokratischen Philosophen wie Parmenides und Zenon
von Elea die rigide Kritik an den Sinnen in deren Erkenntnistheorien dar und bedient
sich dabei der traditionellen Form der akademischen philosophiegeschichtlichen
Abhandlung, überträgt GD Vernunft 1 diese Thematik aus der antiken Philosophie-
geschichte auf sämtliche Philosophen und lässt dabei zugleich diese – vermittelt
durch den autodiegetischen ‚Erzähler‘ – ihre vermeintlichen Grundannahmen in Form
von sehr bildreichen Imperativen artikulieren. Insbesondere die diese Imperative
leitende Mumifizierungsmetaphorik sowie die in dem vermeintlichen Gedankenzitat
vorherrschende Emphase überschreiten die von einem seine eigenen Grundansichten
vorbringenden Philosophen erwartete Stilhöhe und führen – nicht zuletzt durch
diesen Bruch mit dem rhetorischen aptum – dazu, dass die vermeintliche Autocha-
rakterisierung aufgrund der solcherart erfolgenden Überzeichnung ins Komische
kippt und damit zugleich ihre Glaubwürdigkeit untergräbt. Gerade in dieser satiri-
schen Wende offenbart sich der polemische Charakter von GD Vernunft 1, der letzt-
endlich dazu führt, dass der den Textabschnitt beherrschende autodiegetische ‚Er-
zähler‘ qua Überzeichnung seiner Antagonisten sich selbst in extremis exponiert und
dadurch autodeiktisch auf seine eigene ebenso idiosynkratische Reaktions- und
Denkweise verweist.

2.2.3.2. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 2

Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen H e r a k l i t ’ s bei Seite. Wenn das andre Phi-
losophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten,
verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. Auch
Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben,
noch wie er es glaubte, — sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das
legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der
Substanz, der Dauer… Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen.
Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht… Aber damit
wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare“ Welt ist
die einzige: die „wahre Welt“ ist nur h i n z u g e l o g e n … (GD Vernunft 2, EA 19–20)

Beschränkt sich GD Vernunft 1 in seinem Procedere fast ausschließlich auf die


demaskierend-parodistische Zeichnung eines negativen Bildes der ‚idiosynkratischen
Philosophen‘, wodurch es nur ex negativo zur Einführung von etwaigen Gegen-Begrif-
fen kommt, setzt mit GD Vernunft 2 die eigentliche Umkehrbewegung des Kapitels ein.
Der Abschnitt eröffnet mit einem direkten Verweis auf eine potentielle Gegenposition
zu den in GD Vernunft 1 diffamierten Philosophen:
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 211

Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen H e r a k l i t ’ s bei Seite. Wenn das andre Philo-
sophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten,
verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheit hätten. (GD
Vernunft 2, EA 19)514

Das Sprecher-Ich hebt hier den im Text selbst auch graphematisch durch die Sperrung
hervorgehobenen Heraklit aus der Gesamtheit der im ersten Abschnitt noch global
verurteilten Philosophen heraus und stellt ihn diesen gegenüber. Die Setzung dieser
Opposition erlaubt es, das zentrale Charakteristikum der Denkweise der Letzteren
noch einmal lakonisch auf den Punkt zu bringen: Besagte Philosophen, die hier nun
selbst durch den Zusatz „Volk“ jener „plebs“ zugeordnet werden, von der sie in dem
vermeintlichen Gedankenzitat des ersten Abschnittes noch abgehoben wurden, ver-
werfen das Zeugnis der Sinne, da diese jenes Werden zeigen, das aus ihrer eigenen
seinsphilosophischen Perspektive als bloßer Schein verworfen wird. Anders Heraklit:
Dessen Kritik an der sinnlichen Wahrnehmung entspringt aus der konträren onto-
logischen Grundannahme, welche von einem beständigen Werden ausgeht und daher
die dieses verbergenden Sinneswahrnehmungen zurückweist.
Die zitierte Passage folgt sprachlich fast direkt der Darstellungsweise Brochards.
Die relevante Parallelstelle in dessen Les sceptique grecs lautet: „Parménide récusait
le témoignage des sens, parce qu’ils nous montrent la multiplicité et le changement:
Héraclite, parce qu’ils nous représentent les choses comme avant de l’unité et de la
durée.“515
Gerade aufgrund der hier gegebenen Parallelen stechen auch die Unterschiede
zwischen den beiden Texten ins Auge: In GD Vernunft 2 kommt es nämlich im Gegen-
satz zum französischen Hypotext durch das der intertextuell stark von diesem abhän-
gigen Passage vorangestellte Lob des Heraklit durch den autodiegetischen ‚Erzähler‘
zu einer eindeutigen Wertung, welche dem französischen ‚Original‘ fehlt. Dieses ist

514 Im Falle dieser beiden Sätze unterscheidet sich die ‚Vorstufe‘ aus dem Heft W II 5 nur minimal von
der letztendlich publizierten Fassung: „Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen Heraklit
heraus bei Seite. Wenn das andre Philosophen=Volk das Zeugniß der Sinne verwarfen, weil dieselben
Viel-heit u. Veränderung zeigen, so verwarf er deren Zeugniß, weil sie die Dinge zeigen, wie als ob sie
Dauer u Einheit hätten …“ (W II 5, S. 73, Z. 40–46 sowie Abb. 7a/b) Wie man sieht, beschränken sich
die Unterschiede hier primär auf die Schreibweise von ‚Zeugnis‘ sowie auf die Verwendung des
Präteritums bei ‚zeigen‘. Semantisch relevanter als diese Abweichungen ist jedoch das Ende des
zweiten Satzes. Dieses ist in der Aufzeichnung graphematisch durch eine Unterstreichung hervorgeho-
ben und endet mit drei Auslassungspunkten. Dadurch kommt es bereits hier zu einer Emphase, die als
eine Zustimmung zu der von Heraklit repräsentierten Werdens-Philosophie gelesen werden kann,
welche der Drucktext erst im weiteren Verlauf des Abschnittes artikuliert.
515 Brochard 1887, S. 7 zitiert nach Brobjer 1997, S. 576f. – Sommer übersetzt diese Stelle wie folgt:
„Parmenides hat das Zeugnis der Sinne zurückgewiesen, weil sie uns Vielfalt und Veränderung zeigen:
Heraklit wies sie zurück, weil die Sinne uns die Dinge zeigen, als hätten sie Einheit und Dauer.“
(Sommer 2012, S. 291)
212 2.2. Die Götzen-Dämmerung

außerdem in seiner Darstellung der sinnesfeindlichen Positionen weitaus präziser als


GD Vernunft 2, ordnet es diese doch eindeutig Parmenides zu, während der Passus
aus GD Vernunft 2 weiter der bereits in GD Vernunft 1 vorherrschenden Verallgemei-
nerungstendenz in der Darstellung der kritisierten Philosophen folgt. In diesen dar-
stellerischen Unterschieden zwischen der Abhandlung des Franzosen und GD Ver-
nunft 2 manifestiert sich auch aus einer intertextuellen Perspektive die bereits
mehrfach angesprochene Tendenz von Nietzsches Text, traditionelle Darstellungs-
und Argumentationsmodi durch eine die idiosynkratische Individualität der im Text
präsentierten Positionen betonende Schreibweise zu ersetzen.
In einem nächsten Schritt nutzt der Text den in ihm zuvor gesetzten Antago-
nismus dazu, seine eigene Position weiter zu profilieren, heißt es dort doch: „Auch
Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es
glauben, noch wie er es glaubte, — sie lügen überhaupt nicht.“ (GD Vernunft 2, EA
19f.)516 Das Sprecher-Ich des Abschnittes setzt sich so auch von Heraklit ab, der am
Eingang des Abschnittes noch von der Kritik an den Philosophen ausgenommen wird.
Dabei werden diese Philosophen erstmals beim Namen genannt – der Text ‚spricht‘
von den „Eleaten“ –, wodurch sich die bereits nachgewiesene intertextuelle Bedeu-
tung von Victor Brochards Les sceptique grecs für GD Vernunft noch einmal bestätigt.
Weitaus bedeutsamer als diese intertextuelle Relation ist für den weiteren Text-
verlauf jedoch die Art und Weise, in welcher sich das Sprecher-Ich konkret von den
Reaktions- und Denkweisen der vorsokratischen Philosophen unterscheidet: Deren
komplementäre Ontologien werden durch den bereits aus dem Gedankenzitat in GD
Vernunft 1 bekannten Rückgriff auf ein eindeutig moralisch konnotiertes Vokabular
zurückgewiesen, bestehe deren Fehldeutung der Sinneswahrnehmung doch in der
Auffassung, dass diese ‚lüge‘. Mit dem Begriff der Lüge überschreitet der Text erneut
die Grenzen des erkenntnistheoretischen Diskurses und begibt sich abermals auf den
Boden der Moralphilosophie, versteht doch auch die Nietzsche zeitgenössische Philo-
sophie unter ‚Lüge‘ „eine absichtliche, bewußte und pflichtwidrige Unwahrheit“517.
Auf dem Hintergrund der die Götzen-Dämmerung leitenden ‚symptomatologischen

516 Auch bei diesen beiden Sätzen beschränken sich die Unterschiede zwischen ‚Vorstufe‘ und
publiziertem Text auf Variationen im Tempusgebrauch sowie in ihrer Verwendung nichtalphabetischer
Zeichen (vgl. W II 5, S. 73, Z. 48–50 sowie Abb. 7a/b).
517 Kirchner/Michaelis 1907, S. 335 – Es ist im Rahmen der vorliegenden textnahen Lektüre von „Die
‚Vernunft‘ in der Philosophie“ nicht möglich, die dort gegebene Verwendung zentraler philosophischer
Begriffe wie ‚Vernunft‘, ‚Wahrheit‘, ‚Lüge‘ oder ‚Schein‘ mit deren historischer Entwicklung in der
abendländischen Philosophie zu konfrontieren. Ein solches Unterfangen würde bei Weitem den
Rahmen der vorliegenden Studie sprengen. Um dennoch die Spezifika von Nietzsches ‚Begriffs‘-
Gebrauch vom Verständnis der Tradition abzuheben, wird hier und im Folgenden auf diverse Enzyklo-
pädien und Lexika aus der Entstehungszeit der Götzen-Dämmerung zurückgegriffen, um solcherart die
damals gängigen Standardbedeutungen besagter Termini offenzulegen.
Eine erste umfangreichere historische Kontextualisierung von Nietzsches eigenem Begriffs-
gebrauch werden die besagte ‚Termini‘ behandelnden Lemmata des Nietzsche-Wörterbuches liefern.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 213

Heuristik‘ bedeutet der Einsatz des eigentlich in der Moralphilosophie beheimateten


Terminus im Kontext einer primär erkenntnistheoretischen Fragestellung, dass deren
Beantwortung durch die in GD Vernunft 2 verhandelten Philosophen nicht das Resul-
tat eines philosophischen Erkenntnisaktes, sondern wie schon die ‚Philosophie‘ des
Sokrates in GD Sokrates als Ausdruck des Gesamtzustandes von deren Persönlich-
keiten zu deuten ist. Deren prima philosophia wird so – wie es in JGB 6 heißt – zum
„Selbstbekenntnis ihre[r] Urheber[ ]“ (JGB 6, KSA 5, S. 19; Gen. Plural v. A.P.) und
damit zum Ausdruck ihrer eigensten Idiosynkrasien.
In diesem Vorgehen steht ihnen der autodiegetische ‚Erzähler‘ um nichts nach,
der direkt im Anschluss an die soeben referierte Kritik erstmals seine eigenen erkennt-
nistheoretischen Grundauffassungen dem Leser präsentiert:

Was wir aus ihrem Zeugniss m a c h e n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der
Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer… Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass
wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel
zeigen, lügen sie nicht… (GD Vernunft 2, EA 20)

Wie Andreas Urs Sommer im Nietzsche-Kommentar zeigt, unterläuft der Text an dieser
Stelle, indem er „den klassischen philosophischen Erkenntnisvorrang der Vernunft
vor den Sinnen zurückweist und die Vernunft zur Täuscherin macht, […] den von
Brochard bei den griechischen Philosophen festgestellten Grundkonsens, dass stets
der Vernunft und nicht den Sinnen zu trauen sei“518. Diese Umkehrung wird im Text
auch graphematisch markiert, indem dort wie auch schon im Titel des Kapitels die
Vernunft zwischen Gänsefüßchen gesetzt wird.
Zur eigentlichen Zurückweisung des vermeintlichen Erkenntnisprimats der Ver-
nunft greift der Text auf eine Prämisse zurück, deren bekannteste Ausformulierung
sich in der „Transzendentalen Deduktion“ von Kants Kritik der reinen Vernunft findet,
und wendet diese gegen sich selbst.519 Es handelt sich dabei um das Konzept von der

518 Sommer 2012, S. 291 – Sommer unterscheidet im Zuge dieses Kommentars jedoch nicht zwischen
dem empirisch-historischen Autor des Textes und der in GD Vernunft vorherrschenden autodiegeti-
schen Erzählerstimme und leistet somit jener komplexitäts-reduzierenden Gleichsetzung von im Text
artikulierten philosophischen Thesen und den vermeintlich eigentlichen Meinungen ihres Verfassers
Vorschub, von der er sich zumindest am Anfang des Kommentars zu GD Vernunft eindeutig absetzt
(vgl. Sommer 2012, S. 286).
519 Es ist stark zu bezweifeln, dass es sich bei Kants Kritik der reinen Vernunft um den konkreten
Hypotext für die Adaption des hier im Folgenden erörterten Arguments handelt, da Nietzsche Kants
Philosophie – mit Ausnahme der Kritik der Urteilskraft – fast ausschließlich über die Sekundärliteratur
rezipiert hat (vgl. Brobjer 2008, S. 36–39). Wahrscheinlicher ist, dass als Hypotexte für die in GD
Vernunft 2 von Kant übernommene Prämisse die von ihm 1887 intensiv gelesene Geschichte der neuern
Philosophie von Kuno Fischer oder die ebenfalls stark auf Kant rekurrierenden sowie diesen zugleich
kritisierenden und von Nietzsche 1887/88 gelesenen Arbeiten von Otto Liebmann, Eduard von Hart-
mann oder Gustav Teichmüller fungierten.
214 2.2. Die Götzen-Dämmerung

„Synthesis der Apprehension in der Anschauung“, von welcher es in der Kritik der
reinen Vernunft heißt:

Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches vor-
gestellt werden würde, wenn das Gemüth nicht die Zeit in der Folge der Eindrücke auf einander
unterschiede: denn als in einem Augenblick enthalten kann jede Vorstellung niemals etwas
anderes als absolute Einheit sein. Damit nun aus diesem Mannigfaltigen Einheit der Anschauung
werde (wie etwa in der Vorstellung des Raumes), so ist erstlich das Durchlaufen der Mannigfaltig-
keit und dann die Zusammennehmung desselben nothwendig, welche Handlung ich die Syn-
thesis der Apprehension nenne, weil sie gerade zu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein
Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches und zwar in einer Vorstellung enthalten
niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann.520

GD Vernunft 2 übernimmt nun die bei Kant gesetzte Prämisse, dass die Sinnlichkeit
uns „in ihrer ursprünglichen Rezeptivität“521 ein Mannigfaltiges biete, um auf ihrer
Grundlage die von der ‚Vernunft‘ geleistete Synthesis der Apprehension als ‚Lüge‘
und somit Verfälschung zu deuten. Erst diese Synthesis ermögliche „die Lüge der
Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer“ (GD Vernunft 2, EA 20).
Der Rückgriff auf die Kant’sche Prämisse liefert auch eine Erklärung, warum GD
Vernunft 2 sich in der bloßen Feststellung ergeht, dass „die Sinne das Werden, das
Vergehn, den Wechsel zeigen“ (GD Vernunft 2, EA 20), dabei jedoch nicht erklärt, wie
sie das zu Wege bringen. Das Fehlen einer solchen Erklärung wird verständlich, wenn
man bedenkt, dass besagte Prämisse mit einem Problem behaftet ist, das Richard
Rorty im Zuge seiner Kant-Kritik in Philosophy and the Mirror of Nature in folgende
Frage überführt hat:

Woher wissen wir […], daß ein Mannigfaltiges, das nicht als Mannigfaltiges vorgestellt werden
kann, ein Mannigfaltiges ist? Allgemeiner gesagt, woher haben wir, wenn wir im Begriff sind zu
zeigen, daß wir uns nur synthetisierter Anschauungen bewußt sein können, unsere Informatio-
nen über Anschauungen vor der Synthesis?522

Der autodiegetische ‚Erzähler‘ von GD Vernunft 2 umgeht diese Frage, indem er die
seine Umkehrung tragende Prämisse wie auch schon Kant in der ersten Kritik schlicht-
weg apodiktisch setzt. Dieser Setzungsakt tritt in einer sich in Betreff der tatsächlich
übernommenen Sätze abermals kaum vom Drucktext unterscheidenden früheren Fas-
sung in seiner Problematik viel eindeutiger hervor, als dies im publizierten Text der Fall
ist, lautet doch die Lesart der Grundschicht besagter Variante folgendermaßen:

Was wir aus ihrem Zeugniß machen, das legt die Lüge hinein, zb die Lüge der Einheit, der
Dinglich keit, der Dauer … Wir denken heute darüber durchaus als Herakliteer

520 Kant A 99.


521 Kant A 100.
522 Rorty 1981 [1979], S. 173.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 215

Die „Vernunft“ ist die Ursache, daß wir das Zeugniß der Sinne fälschen … Die „seiende Welt“ ist
eine bloße Fiktion: was uns das Werden, das Vergehen, den Wechsel zeigt, belügt uns nicht …
(W II 5, S. 73, Z. 50–61 sowie Abb. 7a/b)523

Die bedeutendsten Unterschiede zwischen dieser und der publizierten Fassung resul-
tieren aus den semantischen Verschiebungen, welche diejenigen beiden Sätze zeitigen,
die im Zuge einer Überarbeitung der ‚Vorstufe‘ gestrichen wurden (vgl. W II 5, S. 73, Z.
54 sowie Abb. 7a/b). Bei den ersten dieser beiden Sätze handelt es sich um den Satz
„Wir denken heute darüber durchaus als Herakliteer“. Eine Übernahme dieses Satzes in
den Drucktext hätte in Anbetracht der die Druckfassung bis zu diesem Passus kenn-
zeichnenden autodeiktischen ‚Sprechweise‘ mit dieser nicht nur durch den hier die
vermeintlichen Leser qua „wir“ eingemeindenden Modus gebrochen, sondern auch
durch seine unmittelbare Anknüpfung an das Denken Heraklits, welche mit der in der
publizierten Fassung auf die Idiosynkrasie des Sprecher-Ichs hinauslaufenden Pro-
filierung von dessen höchst individueller Reaktions- und Denkweise konfligieren wür-
de. Insbesondere im Fehlen dieser eindeutigen Rückbindung an Heraklit in der letzt-
endlich publizierten Fassung im Gegensatz zur in ihrem Inhalt mit der Druckfassung
ansonsten fast identischen ‚Vorstufe‘ der Seiten 72 und 73 von W II 5 bestätigt erneut die
in der Nietzscheforschung weitverbreitete und im Kapitel 2.1.1. dieser Studie bereits
ausführlich erörterte These, dass Nietzsches publizierten Texten qua Darstellungsform
ein Reflexionsgrad mehr eigne als Fassungen aus dem Nachlass.
Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten nur in der Vorstufe vorhandenen Satz:
„Die ‚seiende Welt‘ ist eine bloße Fiktion: was uns das Werden, das Vergehen, den
Wechsel zeigt, belügt uns nicht …“ (W II 5, S. 73, Z. 58–61 sowie Abb. 7a/b) Auch hier
kommt es durch die explizite Zurückweisung der insbesondere von den Eleaten ver-
tretenen Seins-Philosophie zu einer viel stärkeren Anbindung an den sowohl in der
‚Vorstufe‘ selbst als auch der Druckfassung in den dieser Passage vorausgehenden
Sätzen bereits selbst kritisierten Heraklit. Auffällig ist außerdem, dass das zweite
Satzkolon des soeben zitierten Passus auf die in der Druckfassung explizit erfolgende
Nennung der Sinne verzichtet und an deren statt schlicht von einem unbestimmten
„was“ die Rede ist. Gerade in diesem „was“ wird die Problematik der hier vertretenen
ontologischen Position eines reinen Werdens weitaus offensichtlicher als in der durch
den Verweis auf die Sinne als vermeintliche Quelle dieser Einsicht zumindest eine
explizite Erkenntnisquelle für dieses Prinzip nennenden Fassung des Drucktextes.
In diesem erfolgt die erneute Rückbindung an Heraklit in einer mit der generellen
autodeiktischen Tendenz von GD Vernunft weitaus stimmigeren Variante. Diese findet
sich in den letzten beiden Sätzen von GD Vernunft 2:

523 Keine semantisch valenten Varianten bietet an dieser Stelle, wie überhaupt im ganzen Abschnitt
2, das Druckmanuskript. Dieses ist in seinem Textbestand mit Ausnahme des wohl als Abschreibfehler
zu klassifizierenden Plurals in „Einheiten“ mit der letztendlich publizierten Fassung von GD Vernunft 2
identisch (siehe GSA 71/28, Bl. 14r und Abb. 10).
216 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinba-
re“ Welt ist die einzige: die „wahre Welt“ ist nur h i n z u g e l o g e n … (GD Vernunft 2, EA 20)

Hier kommt es nicht wie in der ‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 5 zu einer direkten
und vollständig ungebrochenen Übernahme der Philosophie des Heraklits, sondern
zur bloßen Akzeptanz einer seiner zentralen Thesen, nämlich der Zurückweisung der
Annahme eines unveränderlichen Seins als ontologische Grundlage allen Gesche-
hens. Die im Text artikulierte Position setzt sich dann aber in der Beschreibung des
eigenen Alternativvorschlages wieder von Heraklit ab. Diese Abgrenzung erfolgt über
die Einführung einer Begrifflichkeit, die sowohl von der zeitgenössischen Philoso-
phie, insbesondere den von Nietzsche selbst stark rezipierten Arbeiten von Maximili-
an Drossbach und Gustav Teichmüller524, als auch der Terminologie Kants und
Schopenhauers divergiert und im letzten Satz in der Gegenüberstellung von der
jeweils zwischen Anführungszeichen stehenden „‚scheinbare[n]‘“ und „‚wahre[n]‘“
Welt zum Ausdruck kommt.
Bestand der zentrale Unterschied in Kants Philosophie noch zwischen Erschei-
nung und Ding an sich und verschob sich dann in den Kant durchweg stark kritisieren-
den Arbeiten von Teichmüller in die Opposition von scheinbarer und wirklicher Welt,
zitiert der letzte Satz diese philosophiehistorischen Termini durch den Gebrauch der
Gänsefüßchen nur mehr herbei und verschiebt dabei zugleich deren Bedeutung: Aus
dem Kontext der Passage folgt, dass es sich bei der einzig gültigen „‚scheinbare[n]‘
Welt“ nicht mehr um jenen ‚Schein‘ handelt, unter den – nach dem Verständnis der
Philosophie des 19. Jahrhunderts – „alles, was dem Sein, dem Seienden, der Wahrheit
ähnlich ist, ohne doch das Sein, das Seiende, die Wahrheit selbst zu sein“525, fällt,
sondern der auf eine andere, primär nicht philosophische Bedeutungsdimension des
Terminus rekurriert, nämlich die Bedeutung von Schein im Sinne von der „Art, wie ein
sinnlicher Gegenstand überhaupt unter verschiedenen Verhältnissen sich dar-
stellt“526. „‚[S]cheinbar[ ]‘“ ist dann in Übereinstimmung mit der in GD Vernunft 2
entwickelten Position genau jene Welt, die uns die Sinne vor der Verfälschung durch
die Vernunft vermeintlich bezeugen.527

524 Zum Verhältnis Nietzsches zu Drossbach und Teichmüller siehe unter anderem die aufschluss-
reiche Studie von Riccardi 2009 sowie einführend Riccardi 2014.
525 Eisler 1904, Bd. 2, S. 280f.
526 Pierer’s Universal-Lexikon 1862, Bd. 15, S. 120.
527 Insofern ist hier Mattia Riccardi partiell zu widersprechen, der in seiner Studie zu Nietzsche und
Kant den in GD Vernunft 2 verwendeten Begriff der Scheinbarkeit als ‚perspektivisch‘ bezeichnet (vgl.
Riccardi 2009, S. 216f.). Zwar ist ihm zuzustimmen, dass die zentrale semantische Dimension besagter
‚Scheinbarkeit‘ in keinem Widerspruch zum traditionellen Begriff des ‚Wirklichen‘ steht, nicht jedoch
in der Behauptung, dass die in GD Vernunft 2 beschriebene „Welt ‚scheinbar‘ sei, insofern Scheinbar-
keit […] aus der konstitutiven Interaktion zwischen Machtquanten hervorgeht“ (Riccardi 2009, S. 216).
Von Machtquanten ist in der gesamten Götzen-Dämmerung nirgendwo die Rede; deren von
Riccardi durchgeführte Applikation auf den Schein-Begriff von GD Vernunft 2 ist nur auf dem Hinter-
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 217

Bei der hinzugelogenen „wahren Welt“ handelt es sich hingegen um jenes als
Folge der Idiosynkrasien der Philosophen von diesen der tatsächlichen Welt unterge-
schobene transzendente ‚Etwas‘, das diese bevorzugt durch den vom autodiegetischen
‚Erzähler‘ nun als leere Fiktion entlarvten Begriff des „Seins“ auszudrücken pflegen.528
In Betreff dieses Jenseits ist – wie so häufig – die ‚Vorstufe‘ expliziter als der gedruckte
Text, in deren Grundschicht es heißt: „die ‚wahre Welt‘ wie die der Philosophen, der
‚Gott‘ der Philos. ist bloß hinzugelogen …“ (W II 5, S. 73, Z. 64–66 sowie Abb. 7a/b)
Sowohl hier als auch in der publizierten Fassung unterstreicht die Verwendung des
graphematisch hervorgehobenen „hinzugelogen“ wie schon zuvor in GD Vernunft 1
abermals den affektierten Ursprung dieses metaphysischen Konzeptes.

2.2.3.3. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 3

— Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum
Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar
einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldiffe-
renzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen
heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der
Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest
ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie,
Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene ange-
wandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als
Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention,
wie die Logik ist, hat. — (GD Vernunft 3, EA 20–21)

grund seiner nicht zwischen handschriftlichen Entwürfen/Varianten und publizierten Texten unter-
scheidenden, stark systematisierenden Lektüre von Nietzsches Philosophie, welcher er ein „letztlich
vermiedene[s] System“ (Riccardi 2009, S. 115) unterstellt, zu verstehen.
Zuzustimmen ist Riccardi hingegen in Betreff der zweiten von ihm herausgearbeiteten Bedeu-
tungsdimension von ‚scheinbar‘ in der Götzen-Dämmerung, die sich mit der unter Nietzsches Zeitge-
nossen gängigen philosophischen Bedeutung deckt und als Synonym zu „irreal“, im Sinne von „nicht
existierend“, zu verstehen ist (vgl. Riccardi 2009, S. 217).
528 Siehe dazu auch Abel 1998, insbesondere S. 329, der dort auf Grundlage seines zwischen einer
aktualisierend-konstruktiven und historisch-rekonstruktiven Vorgehensweise changierenden philoso-
phischen Lektüreansatzes, welcher nicht zwischen Nachlass und publizierten Texten Nietzsches
unterscheidet und dadurch an manchen Punkten seiner richtungsweisenden Lektüre kontextuell
bedingte Nuancen der Texte übersieht, auf Basis der vorwiegend im Nachlass artikulierten ‚These‘,
dass sich unser formales Denken vorwiegend entwickelt habe, um uns „auf eine nützliche Weise zu
täuschen“ (NL 1888, 14[153], KSA 13, S. 336), in Bezug auf die sich aus dieser Täuschung ergebende
„wahre Welt“ Nietzsche referierend feststellt: „Der naive Fehler bestand nun aber darin, die „anthropo-
centrische Idiosynkrasie“ als das Maß der Dinge, als „Richtschnur“ für ‚real‘ und ‚unreal‘ aufzufassen,
mithin „eine Bedingtheit zu verabsolutieren“ [NL 1888, 14[153], KSA 13, S. 336f]. Von dem Augenblick
an fiel die Welt in eine ‚wahre‘ und in eine ‚scheinbare‘ auseinander“. (Abel 1998, S. 329)
218 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Beschränkt sich das Sprecher-Ich in GD Vernunft 2 in seiner Auto-Profilierung noch


vorwiegend auf die kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition
und den diese leitenden Idiosynkrasien, geht dabei aber im Einbringen eigener
Positionen schon weit über das diesbezüglich in GD Vernunft 1 Geleistete hinaus,
bricht dessen eigene Idiosynkrasie in GD Vernunft 3 immer stärker durch. Dies geht so
weit, dass bereits in den ersten beiden Sätzen des Abschnittes der autodiegetische
‚Erzähler‘ sich eines an die aus der Philosophiegeschichte bekannte Organon-Meta-
pher anknüpfenden Vergleiches bedient, mithilfe dessen ein konkretes Sinnesorgan
als zentrales Erkenntnisinstrument ausgewiesen wird:

— Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen! Diese Nase zum
Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar
einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldiffe-
renzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. (GD Vernunft 3,
EA 20)

Die Eröffnung des Abschnittes mit einem Gedankenstrich sowie die durch die Excla-
matio bedingte Emphase des ersten Satzes schaffen eine Aura von Unmittelbarkeit,
die es nahelegt, den ganzen Abschnitt als direkte Rede des Sprecher-Ichs zu lesen.
Eine solche Lesart wird jedoch durch das Fehlen der ansonsten in Nietzsches Texten
zur Kennzeichnung der direkten Rede häufig gesetzten Anführungszeichen untermi-
niert. Dennoch simulieren die beiden Sätze – nicht zuletzt durch die durchweg
pathetisch wirkende apostrophische Inkludierung der gesamten Menschheit durch
das „wir“ des ersten Satzes – die gesprochene Sprache.
Trotz der hier erfolgenden Aufwertung der Sinnesorgane zu den primären Erkennt-
nisinstrumenten des Menschen bleiben auch diese beiden Sätze – wie der ganze voraus-
gehende Abschnitt – eine konkrete erkenntnistheoretische Erörterung des solcherart
abermals bloß gesetzten Sensualismus schuldig. An deren statt liefert der Text durch
das erneut stark affizierte ‚Sprechen‘ des autodiegetischen ‚Erzählers‘ abermals einen
Verweis auf dessen eigene Idiosynkrasie, die sich nicht zuletzt durch den Vergleich der
menschlichen Nase mit einem Spektroskop in eine regelrechte Hypertrophie steigert.
Der angesprochene Vergleich, der aufgrund der auch von Andreas Urs Sommer
im Nietzsche-Kommentar betonten Tatsache, dass die Spektralanalyse nichts mit der
Sinneswahrnehmung zu tun habe,529 trotz der syntaktischen Fügung als Vergleich
metonymisch zu lesen ist, bringt das Erkenntnispotential der Nase in einem für den
eine konkrete erkenntnistheoretische Erörterung erwartenden Leser wohl enttäu-
schenden Bild zum Ausdruck.

529 Vgl. Sommer 2012, S. 293.


2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 219

Dieser Vergleich ist bereits in den beiden im Arbeitsheft W II 5 überlieferten


‚Varianten‘ des Textes zu finden,530 geht dabei jedoch in diesen beiden über die
publizierte Version durch die im Zuge einer Überarbeitung dann gestrichene, pleonas-
tische Bestimmung des ‚Instruments‘ als „physikal.“ (vgl. W II 5, S. 78, Z. 8 bzw. W II 5,
S. 70, Z. 6) in seiner nachdrücklichen Betonung der Erkenntnisleistung der im Text
wohl synekdocheisch für sämtliche Sinnesorgane stehenden Nase hinaus. Abgesehen
davon zeigt die erste der beiden ‚Vorstufen‘ noch die unmittelbare textgenetische
Nähe dieser Überlegungen zur zumindest bei der Entstehung der Götzen-Dämmerung
eine leitmotivische Funktion übernehmenden décadence-Thematik, da sie – wie auch
schon eine Vorstufe von GD Sokrates (vgl. W II 5, S. 51, Z. 1) – mit der Überschrift
„Philos. als decadence [sic]“ (W II 5, S. 78, Z. 1) versehen ist.
In den darauffolgenden Sätzen der publizierten Fassung von GD Vernunft 3 setzt
das Sprecher-Ich zu seinem finalen sensualistischen Bekenntnis an und stellt sich so
endgültig in Opposition zu den dominierenden Richtungen der zeitgenössischen Phi-
losophie:

Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der
Sinne a n z u n e h m e n , — als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest
ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie,
Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre: wie die Logik und jene ange-
wandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als
Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention,
wie die Logik ist, hat. — (GD Vernunft 3, EA 20f.)531

Bereits der erste Satz dieser Passage bleibt trotz seiner emphatischen Forderung „das
Zeugniss der Sinne a n z u n e h m e n “ in seinen konkreten wissenschaftspraktischen
Anweisungen mehr als vage. Die eigentliche Bestimmung des hier propagierten Vor-
gehens, das nur aufgrund der allgemein sensualistischen Ausrichtung des Absatzes
als wissenschaftlich bestimmt wird, beschränkt sich auf eine metaphorische Sprech-
weise, deren habitualisierte Metaphern gerade aufgrund ihrer zur Beschreibung des
Denkprozesses gegebenen Geläufigkeit den Leser im Dunklen lassen, wie die hier
geforderte sensualistische Erkenntnisarbeit konkret auszusehen habe.532

530 Von diesen beiden ‚Varianten‘ – es handelt sich dabei um die Zeilen 2 bis 10 der Seite 78 sowie die
Zeilen 2 bis 20 der Seite 70 von W II 5 – weist der vorläufige Nachbericht der KGW IX auf CD-ROM nur
die letzte Fassung als potentielle ‚Vorstufe‘ aus (vgl. CD-ROM KGW IX/9, Nachbericht-PDF, S. 103). Im
Nietzsche-Kommentar wird hingegen nur auf den aufgrund der Schreibrichtung Nietzsches wohl früher
verfassten Entwurf auf der Seite 78 desselben Arbeitsheftes verwiesen (vgl. Sommer 2012, S. 292f.).
531 Mit Ausnahme der im weiteren Textverlauf noch behandelten Variante des ersten Satzes bietet die
auf der Seite 72 des Arbeitsheftes W II 5 zu findende ‚Vorstufe‘ des soeben zitierten Passus keine
weiteren für die Lektüre relevanten Differenzen zum publizierten Text (vgl. W II 5, S. 70, Z. 10–20).
532 Werner Stegmaier liest die soeben besprochene Passage auf dem Hintergrund von JGB 14 und 15
sowie der dort erfolgenden Paradoxierung des Sensualismus als regulative Hypothese bzw. heuristi-
sches Prinzip und schließt daraus: „[M]acht man den Sensualismus zur regulativen Hypothese, sind
220 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Aufschlussreicher als der Versuch, aus dem Text konkrete erkenntnispraktische


Direktiven herauszulesen, ist der Modus, in welchem dieser zu der emphatisch vor-
getragenen Einsicht, dass man den Sinnen zu folgen habe, gelangt. Der Text spricht
diesbezüglich vom ‚Entschluss‘, den Sinneszeugnissen zu folgen, während die ‚Vor-
stufe‘ in ihrer Grundschicht noch „als wir gelernt haben“ (W II 5, S. 70, Z. 10) anführt.
Die noch in der ‚Vorstufe‘ erfolgende Ersetzung von ‚lernen‘ durch ‚entschließen‘
ist von hoher interpretativer Relevanz für die kognitive Valenz des vom Sprecher-Ich
so emphatisch propagierten Sensualismus. Dessen Bevorzugung gegenüber anderen
Erkenntnisparadigmata wird im Text nicht als Folge einer erkenntniskritischen Meta-
reflexion, sondern als ein willkürlicher Akt ausgewiesen. Der Ausdruck ‚Entschluss‘
verweist somit auf die im vorigen Kapitel herausgearbeitete, die gesamte Götzen-
Dämmerung insgeheim leitende Symptomatologie und das dieser eingeschriebene
Persönlichkeitskonzept. Aus der Perspektive desselben ist es nicht von Belang, ob der
in GD Vernunft 3 vom Sprecher-Ich artikulierte Entschluss Folge eines freien Willens-
aktes ist – was in Anbetracht der Kritik an derartigen Willenskonzeptionen in GD
Irrthümer 3 (vgl. EA 40–42) zu bezweifeln ist –, sondern nur die sich aus diesem
Entschluss ergebende Frage nach dem sich hinter ihm verbergenden „Gesammt-
Zustand“ der Person. Letztendlich ist der solcherart symptomatologisch unter Ver-
dacht geratene Entschluss in seiner kognitiven Valenz nicht mehr auf traditionellem
erkenntnistheoretischem Wege zu bestimmen und unterläuft derartig zugleich die
traditionelle Erkenntnistheorie. Auf diesem Hintergrund erübrigt sich die insbesonde-
re in der angelsächsischen Nietzscheforschung anhand von GD Vernunft geführte
Debatte, ob Nietzsche – hier zu verstehen als der historisch-empirische Autor – in
seinen Schriften von 1888 noch einem durch African Spir insbesondere in Mensch-
liches-Allzumenschliches katalysierten naturalistischen Nonkognitivismus folgt, oder
ob GD Vernunft als kritische Fortführung eines Kant’schen Idealismus gelesen werden
kann.533

auch wieder Ideen als regulative Hypothesen zur Anleitung der empirischen Forschung notwendig“
(Stegmaier 2004, S. 99).
Dieser Lesart scheint auch der weitere Textverlauf von GD Vernunft zu entsprechen, nach
welchem die Zusammenführung der regulativen Hypothese des Sensualismus mit den im Sprach-
schematismus sedimentierten Ideen nicht nur notwendig, sondern regelrecht unvermeidbar scheint.
Darauf weist auch Stegmaier hin, wenn er im Anschluss an die soeben zitierte Passage feststellt: „[E]s
ist das Denken, das die sinnliche Wahrnehmung mit seinen Begriffen und Ideen ‚zu Ende‘ denkt und
dadurch allgemein mitteilbar, lehrbar macht. Damit ist eine strikte Alternative und Entscheidung
zwischen Sensualismus und Idealismus gar nicht möglich, sondern beide müssen im Spiel bleiben“
(Stegmaier 2004, S. 99).
533 Für Ersteres plädiert unter anderem Michael Steven Green (vgl. Green 2002), die angesprochene
Lektüre des späten Nietzsche als eine Form des über den Neokantianismus vermittelten Idealismus
wurde von dem bereits zuvor zitierten Kevin Hill vorgelegt (vgl. Hill 2003). Eine selbst noch sehr stark
in der analytischen Kant-Rezeption befangene Kritik dieser beiden Lektüren liefert Bailey 2006.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 221

Dass die Suspendierung der zeitgenössischen Erkenntnistheorie in GD Vernunft


vollständig ist, belegen auch die weiteren Sätze der zuvor zitierten Passage. Gleich in
deren erstem Satz wird die Erkenntnistheorie zusammen mit der Metaphysik, der
Theologie und der Psychologie personifiziert, als „Missgeburt“ diffamiert und schließ-
lich aus dem Bereich der Wissenschaften exkludiert. An dieser Liste hat Kommentato-
ren wie Sommer insbesondere die Aufnahme der Erkenntnistheorie und der Psycho-
logie verwundert.534 Während jedoch für die Präsenz der Erkenntnistheorie in dieser
Liste jenseits der soeben nachgezeichneten textinternen Gründe zahlreiche weitere
Passagen in Nietzsches Gesamtwerk sprechen, welche sich von dem zu Nietzsches
Lebzeiten zumindest in seiner Nomenklatur noch relativ jungen Teilgebiet abgren-
zen,535 scheint in Betreff der Psychologie genau das Gegenteil der Fall zu sein, wird
doch zum Beispiel im nur zwei Jahre jüngeren Jenseits von Gut und Böse die Psycho-
logie als „der Weg zu den Grundproblemen“ (JGB 23, KSA 5, S. 39)536 bezeichnet. Die
daraus resultierende Spannung lässt sich allerdings leicht auflösen: Intratextuell liegt
es nahe, unter der in GD Vernunft 3 als unwissenschaftlich zurückgewiesenen Psycho-
logie jene „Colportage-Psychologie“ zu verstehen, die in GD Streifzüge 7 einer har-
schen Kritik unterzogen wird. Dort wird auch der das Vorgehen der ‚Colportage-
Psychologen‘ kennzeichnenden Tendenz zu beobachten, um zu beobachten, ein
alternatives Procedere gegenübergestellt, das sich in seiner Instinktivität zu einem
großen Teil mit der in JGB propagierten „Physio-Psychologie“ (JGB 23, KSA 5, S. 38)
deckt. Insofern scheint die Zurückweisung der „Psychologie“ in GD Vernunft 3 der auf
Abgrenzung und Selbstprofilierung ausgerichteten Sprechweise des autodiegetischen
‚Erzählers‘ geschuldet zu sein und zu keinem Bruch mit der von ihm zuvor einge-
führten Psychologie-Konzeption zu führen.537

534 Vgl. Sommer 2012, S. 294f.


535 Siehe dazu abermals Sommer 2012, S. 294f., der dort unter anderem auf JGB 204 verweist.
Zum Aufkommen der Erkenntnistheorie im Neukantianismus siehe Rorty 1981 [1979], S. 149–158
sowie die Rortys Darstellung rekapitulierende und mit Nietzsches eigener Kritik zusammenführende
Fußnoten 189 und 253 in Pichler 2010.
Auf dem Hintergrund der im Lauftext vollzogenen Lektüre verschiebt sich auch die von mir in Pichler
2013 aufgeworfene Frage, wie mit der offensichtlich paradoxen Sprechweise des autodiegetischen
‚Erzählers‘ umzugehen sei, weist dieser doch in GD Vernunft 3 selbst erkenntnistheoretisch ‚spre-
chend‘ die Erkenntnistheorie zurück. Diese Selbstbezüglichkeit verschiebt sich allerdings, wenn
man – wie hier im Lauftext geschehen – die Zurückweisung der Erkenntnistheorie nicht mehr als
primär erkenntniskritischen Akt, sondern als ‚Entscheidung‘ des Sprecher-Ichs liest, auf eine andere
kognitive Ebene, auf die ich im Laufe dieser Studie noch zu sprechen kommen werde.
536 Zur rhetorischen Inszenierung der Psychologie in Jenseits von Gut und Böse siehe Born 2012b.
537 Sommer wählt im Nietzsche-Kommentar einen anderen Weg zur Auflösung der durch die in GD
Vernunft 3 vorgebrachte Psychologie-Kritik beim Nietzsche-kundigen Leser potentiell ausgelösten
Irritation. Dafür verlässt er den Rahmen der von Nietzsche selbst publizierten Werke und zitiert ein
Notat aus dem Arbeitsheft W II 1, um mithilfe desselben zu belegen, dass Nietzsche in GD Vernunft 3
eine auf die Sinneswahrnehmung verzichtende einer auf dieser aufbauenden Psychologie entgegen-
stelle (vgl. Sommer 2012, S. 294ff.). Nun erscheint aber erstens eine auf Sinneswahrnehmung ver-
222 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Ähnlich verhält es sich mit den letzten beiden Sätzen von GD Vernunft 3, welche
ebenfalls auf den ersten Blick quer zu zentralen denkstilistischen Grundannahmen
der Götzen-Dämmerung zu stehen scheinen. In den beiden Sätzen kommt es nämlich
zu einer Zurückweisung der „Formal-Wissenschaft[en]“ wie Logik und Mathematik,
welche als bloße „Zeichen-Convention[en]“, die nichts mit der „Wirklichkeit“ zu tun
haben, beschrieben werden. Nun spielen aber „Zeichenlehre[n]“ auch eine zentrale
Rolle im Konzept der ‚symptomatologischen Heuristik‘ der Götzen-Dämmerung selbst.
Wie im Kapitel 2.2.2.3. gezeigt wurde, deutet diese die moralischen Urteile als Zeichen
und deckt über eine Reinterpretation derselben deren versteckte Bedingungen auf.
Heißt das dann aber, dass GD Vernunft 3 den dominierenden heuristischen Modus der
Götzen-Dämmerung und somit auch sich selbst qua Verdammung der „Formal-Wis-
senschaft[en]“ unterminiert?
Auch in diesem Fall zeigt eine aufmerksame Lektüre, dass die Zurückweisung der
„Zeichenlehre[n]“ Logik und Mathematik nicht mit der den Text leitmotivisch bestim-
menden, die moralischen Urteile qua Semiotik deutenden Symptomatologie konfli-
giert. Bewegt sich nämlich der für die Semiotik der Symptomatologie relevante Zeichen-
begriff noch nahe an seiner ursprünglichen medizinischen Bedeutung des ‚Anzeichens‘
und besitzt trotz der semantischen Verschiebungen Nietzsches zumindest noch ein an
die Übersetzung erinnerndes Verhältnis zu dem von ihm ausgedrückten Leibgesche-
hen, ist in den von GD Vernunft 3 kritisierten „Zeichenlehre[n]“ dieses Verhältnis voll-
ständig gekappt: „In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor“ (GD Vernunft 3, EA
21). So problematisch diese Unterstellung epistemologisch auch sein mag, so sehr reicht
sie dazu aus, die textintern gesetzten Differenzen zwischen den beiden Semiotik-
Begriffen zu markieren.538 Mit der Zurückweisung von Logik und Mathematik, die als

zichtende Psychologie nicht praktikabel. Allein das jede Psychologie begründende Gespräch bedarf
des Gehörs. Zweitens ist von einer solchen vollständigen Vernachlässigung der Sinneswahrnehmung
auch in der Charakterisierung der ‚Colportage-Psychologen‘ in GD Streifzüge 7 nicht die Rede. Der
Mangel von deren Procedere besteht vielmehr darin, dass sie einem Ideal der interesselosen Beobach-
tung folgen, welches komplementär zu der in der Götzen-Dämmerung inszenierten affektiert-reflektier-
ten Kommunikationsweise des autodiegetischen ‚Erzählers‘ steht. Genau darauf hin scheint auch das
von Sommer zum Beleg seiner These herangezogene Notat hinauszulaufen. Der aus diesem von
Sommer zitierte Satz lautet: „An Stelle der ‚Erkenntnißtheorie‘ eine Perspektiven=Lehre der Affekte.“
(W II 1, S. 133, Z. 10–12)
538 Trotz dieser Unterschiede zwischen den beiden Zeichenbegriffen trägt die Tatsache, dass in GD
Vernunft 3 der in der GD für das symptomatologische Vorgehen so zentrale Zeichenbegriff im Kontext
einer Kritik an gängigen Praktiken der Philosophie und Wissenschaft wieder auftaucht, unweigerlich
dazu bei, dass auch das vom Sprecher-Ich propagierte Procedere selbst ins Zwielicht gerät. Es handelt
sich hierbei um eine weitere subtile Markierung jener autosubversiven Tendenzen des Textes, die an
anderen Stellen desselben voll zum Tragen kommen.
Auf den problematischen Status des im Lauftext behandelten Passus weist auch Sommer hin,
indem er die untersuchte Passage aus GD Vernunft 3 wie folgt kommentiert: „N. scheint […] die
formalen von den realen Wissenschaften abzugrenzen und den Gedanken zurückzuweisen, dass
erstere zumindest eine innere ‚Wirklichkeit‘, nämlich die Struktur des Bewusstseins (oder gar angebo-
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 223

die formalwissenschaftliche Variante der bereits in GD Vernunft 1 kritisierten Mumifi-


zierungstendenz der Philosophen betrachtet werden können, kommt zugleich die Dar-
stellung der ersten Idiosynkrasie der Philosophen zu ihrem Ende.
Diese erweist sich rückblickend als analog zur rhetorischen Figur der Klimax
strukturiert, kommt es doch in den drei Abschnitten von GD Vernunft 1–3 zur stufen-
weisen Steigerung der sich selbst immer stärker als idiosynkratisch herauskristallisie-
renden Kritik des autodiegetischen ‚Erzählers‘ am Vernunftglauben der Philosophen.
Parallel zu dieser Kritik steigert sich dessen eigene sensualistische Position von ihrer
ersten, bloß impliziten Einführung im Gedankenzitat in GD Vernunft 1, über ihre erste
konkrete Explikation in GD Vernunft 2, zur hypertrophischen Feier der Sinne durch
die ‚Nasen-Synekdoche‘ in GD Vernunft 3.

2.2.3.4. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 4

Die a n d r e Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich: sie besteht darin, das Letzte
und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt — leider! denn es sollte gar nicht
kommen! — die „höchsten Begriffe“, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten
Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang a l s Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck
ihrer Art zu verehren: das Höhere d a r f nicht aus dem Niederen wachsen, d a r f überhaupt nicht
gewachsen sein… Moral: Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas
Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle
höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne — das
Alles kann nicht geworden sein, m u s s folglich causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht
einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein… Damit haben sie ihren stupenden
Begriff „Gott“… Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens
realissimum… Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen
müssen! — Und sie hat theuer dafür gezahlt!… (GD Vernunft 4, EA 21f.)

GD Vernunft 4 wendet sich ohne Umschweife der zweiten Idiosynkrasie der Philoso-
phen zu. Bereits im ersten Satz wird ein Motiv wiederaufgenommen, das schon im Zuge
der Kritik an der ersten Idiosynkrasie der Philosophen in GD Vernunft 1 eine zentrale

rene Ideen) darstellen. Wie sich diese Formalwissenschaften dann konstituieren, bleibt allerdings ein
Rätsel.“ (Sommer 2012, S. 296)
Anders Günter Abel, der die Gültigkeit der Logik-Kritik in GD Vernunft 3 unter dem Vorbehalt,
Nietzsche in diesem Punkt bewusst gegen den Strich zu lesen, auf das Moment einer Ontologisierung
ihrer Grundprinzipien beschränkt, indem er feststellt: „Solche Kritik darf jedoch nicht, selbst wenn
Nietzsche sie so verstanden haben sollte, als eine Abwertung der formalen Logik als solcher ver-
standen werden, die als Lehre des prämissenfolgernden und methodisch geregelten Schließens auf-
zufassen ist. Die Kritik setzt vielmehr dort ein, wo das formal-logische Denken, das von den tatsäch-
lichen Vorgängen in der Wirklichkeit deutlich zu unterscheiden ist, dem Trugschluß erliegt, sich
selbst als das Kriterium der Realität und Wahrheit ausgeben zu müssen. Was die ‚Wahrheit‘ des
formellen Denkens betrifft, so ist also zu unterscheiden.“ (Abel 1998, S. 333)
224 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Rolle spielt: Auch die „a n d r e Idiosynkrasie der Philosophen“ sei „gefährlich“. Das
Subjektsprädikativ „gefährlich“ verweist direkt auf die in GD Vernunft 1 konstatierte
Feststellung, dass die Philosophen „Allem lebensgefährlich [werden], wenn sie anbe-
ten“ (GD Vernunft 1, EA 18), und unterstreicht so ein weiteres Mal die innerweltliche
Macht von deren Reaktions- und Denkweisen. Zugleich belegt diese Wiederaufnahme
des in GD Vernunft 1 etablierten Topos der Lebensfeindlichkeit der von den Philoso-
phen bevorzugt praktizierten Denkmodi den innigen Zusammenhang zwischen deren
in den Abschnitten 1 bis 3 verhandelten erster Idiosynkrasie, der Sinneswahrnehmung
zugunsten einer das Werden mumifizierenden „Vernunft“ den Krieg zu erklären, mit
deren nun in GD Vernunft 4 beschriebenen „a n d r e [ n ] Idiosynkrasie“.
Bei der ersten noch recht vagen Bestimmung derselben bedient sich der Text einer
Variation des berühmten Bibelverses:539 „Aber viele, die da sind die Ersten, werden
die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.“ Während jedoch die in der
Luther’schen Übersetzung des Alten Testamentes chiastisch angeordnete Antithese
das biblische Heilsversprechen in nucleo zur Darstellung bringt, verweist GD Vernunft
4 unter Verzicht auf die den Bibelvers kennzeichnende Zusammenführung zweier
rhetorischer Figuren auf ein auch in den Abschnitten 1 bis 3 implizit mitschwingendes
erkenntnistheoretisch-ontologisches Problem: die Frage nach der causa prima. Schon
der zweite Satz des Abschnittes weist die traditionelle Beantwortung der von Aristote-
les im XII. Buch der Metaphysik aufgeworfenen und in der dort gegebenen Form von
der scholastischen und neuzeitlichen Philosophie wiederaufgenommenen Frage nach
derjenigen Substanz bzw. demjenigen Sein, auf das alles weitere Seiende zurück-
gehen soll, ohne sich konkret auf sie einzulassen, mithilfe der für Nietzsches spätes
Denken so charakteristischen Umkehrungsfigur zurück. Diese Umkehrungsfigur be-
dient sich einer subtilen Verschiebung der Bedeutung der in der philosophischen
Tradition primär kausal verstandenen Termini des ‚Ersten‘ und des ‚Letzten‘. GD
Vernunft 4 temporalisiert diese beiden Termini getreu der bereits in den GD Vernunft 1
gegenüber den „Begriffs-Mumien“ bildenden Philosophen in Stellung gebrachten
methodologischen Bevorzugung der Historie. Offensichtlich wird diese semantische
Verschiebung in der Grundschicht der ‚Vorstufe‘ zu GD Vernunft 4. Dort lautet der den
Abschnitt eröffnende Satz noch ganz simpel: „Der andere Cardinalfehler der Philo-
sophen ist, daß, was am Ende kommt, von ihnen als Anfang gesetzt wird.“ (W II 5,
S. 73, Z. 10–12 und Abb. 7a/b)
Diese Variante expliziert die historisierende Kritik an den Grundbegriffen der
traditionellen Philosophie, ist hier doch von einer zeitlichen und nicht von einer
kausalen Relation die Rede. Dass diese Relation auf die „‚höchsten Begriffe‘“ der
Philosophie übertragen wird,540 wird im aus der Überarbeitung der Grundschicht

539 Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 296.


540 Zu der derartig erfolgenden Historisierung der Begriffe siehe unter anderem Früchtl 1990, ins-
besondere S. 435.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 225

hervorgegangenen und beinahe identisch in den Drucktext übernommenen zweiten


Satz von GD Vernunft 4 deutlich.541 Dieser kennzeichnet die „‚höchsten Begriffe‘“,
welche er als die Allgemeinbegriffe ausweist, als „den letzten Rauch der verduns-
tenden Realität“ (GD Vernunft 4, EA 21), welche die Philosophen als besagte causa
prima gesetzt hätten, und fügt der selbst bloß gesetzten Kritik in Parenthese noch das
affizierte Bedauern des autodiegetischen ‚Erzählers‘ über diesen Sachverhalt hinzu.
Die aus der Zusammenführung des „Rauch[es]“ mit dem ‚Realitäts-Dunst‘ resultieren-
de Metapher vom „letzten Rauch der verdunstenden Realität“ bannt so die vermeintli-
che Irrtümlichkeit der von den Philosophen gesetzten Relation zwischen den All-
gemeinbegriffen und der Wirklichkeit in ein eindrückliches Bild.
Zugleich offenbart sich in der damit einsetzenden Auseinandersetzung mit den
Allgemeinbegriffen das die ersten Kapitel der Götzen-Dämmerung bestimmende text-
gestalterische Kalkül: Untersucht nämlich GD Sokrates auf der Grundlage der bereits
im Vorwort angedeuteten und im weiteren Textverlauf explizierten heuristischen
Methode der Symptomatologie anhand des solcherart zu einer zwischen herausragen-
dem Individuum und exemplarischem Typus synekdocheisch changierenden, literari-
schen Figur des Sokrates die dekadenten Bedingungen des von ihm erstmals zur
Herrschaft gebrachten Vernunft-Begriffes, verallgemeinert nun GD Vernunft diesen
Terminus und folgt den weiteren ebenso als idiosynkratisch bestimmten Verschiebun-
gen des dabei zugleich sowohl tatsächlich als auch inhaltlich zwischen Gänsefüßchen

541 Aus der mehrfachen Überarbeitung des ersten Satzes der Grundschicht lässt sich folgender Text
konstituieren: „Der andere Idiosynkrasie der Philosophen ist das Letzte u das Erste zu verwechseln. sie
setzten das, was am Ende kommt, an den Anfang als Anfang“ (W II 5, S. 73, Z. 2–12 und Abb. 7a/b).
Diese beiden Sätze werden mit Ausnahme der Korrektur der grammatikalischen Unzulänglich-
keiten der Handschrift identisch ins Druckmanuskript übernommen. Auch der dort zu findende lange
Einschub findet sich in zwei Varianten auf dem linken oberen Blattrand des Manuskripts. Deren Erste
lässt sich wie folgt rekonstruieren: „– leider! denn es sollte gar nicht kommen!“ (W II 5, S. 73, Z. 3–4
und Abb. 7a/b). Rechts davon findet sich dann folgender grammatikalisch unvollständiger und mehr-
fach überarbeiteter Entwurf, dessen Varianten hier lemmatisch wiedergegeben werden: „– die ‚höchs-
ten Begriffe‘, irgend eine {jener so überflüssigen} hundertfache Ver- Begriffs-Verdünnungen und
Verdunstungen von Begriffen, z.B. den Begriff gut wahr, vollkommen, selig {– wie den Begriff Gut
Wahr den Begriff wahr}“ (W II 5, S. 73., Z. 1–8 und Abb. 7a/b).
Aus der Handschrift geht nicht eindeutig hervor, wo diese Zusätze eingefügt hätten werden
sollen. Inhaltlich schwanken diese noch sehr stark in der Bezeichnung der ‚höchsten Begriffe‘, deren
Überflüssigkeit und Realitätsferne jedoch auch schon in der Handschrift offensichtlich sind. Das im
Drucktext letztendlich verwendete Oxymoron vom „letzten Rauch der verdunsteten Realität“ fehlt in
der Handschrift. Auch die überarbeitete Fassung des Entwurfes auf einem losen Blatt in Mp XVI bietet
noch die schon am rechten Blattrand von W II 5 zu findende Variante „irgend eine jener so über-
flüssigen hinderlichen Begriffs-Verdünnungen und -Verdunstungen, wie den Begriff ‚gut‘, den Begriff
‚wahr‘“ (Mp XVI 4 zitiert nach KSA 14, S. 415). Das im Falle von GD Vernunft 4 nur an einer Stelle vom
gedruckten Text abweichende Druckmanuskript liefert hingegen bereits die letztendlich publizierte
Variante (vgl. GSA 71/28, Bl. 15r und Abb. 11).
226 2.2. Die Götzen-Dämmerung

gesetzten Begriffes durch die abendländische Philosophiegeschichte.542 GD Vernunft


4 tut dies unter anderem dadurch, dass es durch die Zusammenführung der Frage
nach der causa prima mit dem Allgemeinbegriff die abendländische Philosophie-
geschichte herbeizitiert: Diese reicht von den Eleaten und deren Bestimmung des
Seins als dem Urgrund alles Seienden über Aristoteles Definition der Allgemeinbegrif-
fe und der causa prima in der Metaphysik über den mittelalterlichen Universalien-
streit, dessen Ausläufer in der Ethik Spinozas und den Denkgebäuden des deutschen
Idealismus, wie demjenigen Schellings, bis zu Schopenhauer.
GD Vernunft 4 selbst nennt namentlich keinen der hier soeben gelisteten Phi-
losophen, sondern beschränkt sich durch die Verwendung einiger weniger aus-
gewählter Termini – wie das ‚Erste‘ und das ‚Letzte‘ sowie die „allgemeinen Be-
griffe“ –, die bereits in den ersten beiden Sätzen durch innovative rhetorische Tropen
ergänzt werden, auf einen sehr vagen Verweis auf diesen historischen Horizont, der
von jedem Leser je nach seinem Bildungsstand variabel gefüllt werden kann. Der den
Text insgeheim leitenden Tendenz zur Abkürzung folgend, führt dieser die gesamte
soeben angedeutete Geschichte bereits in seinem dritten Satz in einer höchst kriti-
schen Ursprungshypothese zusammen, die gezielt die zuvor in GD Vernunft geübte
Logik-Kritik mit den Leit-Heuristiken der Symptomatologie und Psychologie verbin-
det, indem das Sprecher-Ich dort schlichtweg konstatiert: „Es ist dies wieder nur der
Ausdruck ihrer Art zu verehren: das Höhere d a r f nicht aus dem Niederen wach-
sen, d a r f überhaupt nicht gewachsen sein…“ (GD Vernunft 4, EA 21)
Hier wird die vermeintliche Höhe der Allgemeinbegriffe, die in GD Vernunft
immer auch als das Werden ausblendende „Begriffs-Mumien“ gelesen werden müs-
sen, als Ausdruck eines bestimmten Imperativs und damit auf eine aus einer idio-
synkratischen Reaktionsweise entstandene Moral zurückgeführt. Die den Allgemein-
begriffen zugeschriebene Höhe wird so vom autodiegetischen ‚Erzähler‘ als
idiosynkratisch-ideologische Setzung demaskiert. Dass es sich bei dieser Setzung des
Höheren, welches die in GD Vernunft in den Philosophen personifizierte Tradition der
parmenideisch-statischen Metaphysik als das hinter allem Vergehen – dem
‚Niederen‘ – wesende, ewige und unwandelbare Sein verstanden hat, eigentlich um
eine Folge jener Moral handelt, die aus der diese Ursprungsphilosophien insgeheim
leitenden Affektiertheit hervorgegangenen ist, spricht der Text dann in seinem nächs-
ten Satz unverhohlen aus. Im Anschluss auf die dem Leser eine kurze Denkpause zum
Verdauen der erstmaligen Feststellung dieses Sachverhaltes gewährenden drei Aus-
lassungspunkte heißt es nämlich in GD Vernunft 4: „Moral: Alles, was ersten Ranges
ist, muss causa sui sein.“ (GD Vernunft 4, EA 21)

542 Ähnlich beschreibt diesen Sachverhalt auch Sommer im Nietzsche-Kommentar (vgl. Sommer 2012,
S. 285). In Anbetracht desselben ist die von Giorgio Colli im Nachwort der KSA 6 vorgebrachte These
von der vermeintlichen Abstumpfung des architektonischen Gefühls in Nietzsches Schriften von 1888
nicht mehr haltbar.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 227

Einerseits bestätigt dieser formelhafte Satz die bereits in den ihm vorausgehenden
Sätzen konstatierte idiosynkratisch-ideologische Bedingtheit zentraler metaphysi-
scher Thesen. Indem er dabei auf dieselbe Formel zurückgreift, die der autodiegeti-
sche ‚Erzähler‘ in GD Vernunft 1 mithilfe des den Abschnitt abschließenden Gedan-
kenzitates den Philosophen selbst in den Mund gelegt hat, diese Formel nun aber
narratologisch als eine Äußerung von ihm selbst erscheint, bestätigt sich die bereits
im Zuge der Lektüre von GD Vernunft 1 artikulierte These, dass auch in den ver-
meintlichen Referaten der zentralen Idiosynkrasien der Philosophen der den ganzen
Abschnitt bestimmende Ich-‚Erzähler‘ seine eigene ebenso idiosynkratische Ableh-
nung gegen eben diese Philosophen in die Schlacht wirft.
Andererseits kommt es in diesem Satz durch die Bestimmung des Ranghöchsten
als causa sui auch zu einer Einschränkung des bis zu diesem Punkt noch als Gesamt-
kritik statischer Wesensmetaphysiken lesbaren Abschnittes, handelt es sich doch bei
der causa sui um einen die allgemeine Letztbegründungstendenz besagter Wesens-
metaphysiken in eine bestimmte Richtung lenkenden Terminus, der nicht auf sämtli-
che derselben anwendbar ist.543 Nietzsche kannte den Begriff insbesondere durch
seine sich spätestens 1881 intensivierende und seit diesem Zeitpunkt nicht mehr
abbrechende Spinoza-Rezeption.544 Wie die Quellenforschung nachgewiesen hat,
erfolgte diese Auseinandersetzung jedoch nicht über die Lektüre von Spinozas Schrif-
ten selbst, sondern war über die Beschäftigung mit zeitgenössischer Sekundärliteratur
vermittelt. Als zentraler Hypotext für den Begriff der causa sui ist insofern nicht
Spinoza selbst, sondern Kuno Fischers Geschichte der neueren Philosophie zu erach-
ten.545 In dessen zweitem Band heißt es über Spinozas Verwendung und Verständnis
der causa sui:

543 Die Verwendung des causa sui-Begriffes kam erst in der mittelalterlichen Scholastik zu ihrer
höchsten Blüte. Die klassischen antiken Philosophien bedienten sich hingegen anderer Formen der
Letztbegründung. So wird bekannterweise in Platons Politeia die Einsicht in das Gute als die höchst-
mögliche Erkenntnis dargelegt (vgl. Platon 1982, S. 275 [= Politeia 532]). Bereits die erste Verwendung
des Begriffes (gr. αἴτιον ἑαυτοῦ) in der Philosophie Plotins wendete sich hingegen gegen eine andere in
der Antike weit verbreitete kosmologische Idee: die creatio ex nihilo, deren causa prima Gott sei (vgl.
Hadot 2007, S. 976).
544 Vgl. Brobjer 2008, S. 77.
545 Vgl. Brobjer 2008, S. 77–82. – Dort zieht der ansonsten eher einer traditionellen Form der Einfluss-
forschung verpflichtete Brobjer im Anschluss an die von ihm selbst emphatisch vorgebrachten Fest-
stellung, dass Nietzsche Spinoza selbst nie gelesen hat, jene Konsequenz, welche auch für diese Studie,
jedoch aus einem mehr der literaturwissenschaftlichen Intertextualitätsforschung verpflichtetem
Ethos, Gebot ist: „Thus, any discussion of Nietzsche’s views and interpretations of Spinoza cannot be
based on an analysis of Nietzsche’s and Spinoza’s philosophy (as all studies have done so far) but
needs to start from Kuno Firscher’s account, which is what Nietzsche read, responded to, and based his
judgments and analyses upon. To discuss Nietzsche’s interpretations and missinterpretations of
Spinoza in relation to Spinoza’s own writings is simply irrelevant.“ (Brobjer 2008, S. 77)
228 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Wir müssen daher in Rücksicht der Dinge die unendliche Causalität genau unterscheiden von der
endlichen. In der unendlichen Causalität wirkt eine erste Ursache, die von nichts Anderem
abhängt (causa prima), ein wahrhaft ursprüngliches Wesen, das durch sich ist und durch sich
begriffen wird (causa sui). In der endlichen Causalität wirken Ursachen, die selbst Wirkungen
anderer Ursachen sind, also abgeleitete, endliche Wesen, die durch Anderes sind und durch
Anderes begriffen werden. Die unendliche Causalität wirkt unmittelbar, die endliche wirkt nur
durch Mittelursachen (causae secundae); jene ist unbedingt, diese bedingt.546

Genau die hier erfolgende Zusammenführung von causa prima und causa sui macht
sich GD Vernunft 4 im weiteren Textverlauf des Abschnittes für die dort fortgeführte
Kritik der Letztbegründungstendenz der Metaphysiker zunutze, ohne jedoch die Un-
terscheidung zwischen causa prima und causae secundae zu reflektieren. Der Text
instrumentalisiert dabei die Tatsache, dass die causa sui bei Spinoza – wie schon bei
Plotin – „selbstbezüglich und damit paradox gefaßt wird“547. Diese Paradoxie Spino-
zas wird in den auf den formelhaften Imperativ folgenden Sätzen mit der historisie-
renden Kritik des Abschnittes zusammengeführt:

Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe
sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre,
das Vollkommne — das Alles kann nicht geworden sein, m u s s folglich causa sui sein. Das Alles
aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein… Damit haben
sie ihren stupenden Begriff „Gott“… (GD Vernunft 4, EA 21)

Der erste Satz dieser Passage erläutert noch einmal ‚symptomatologisch‘, welche
Antriebe zur Setzung des ihm vorausgehenden ‚selbstauferlegten Imperativs‘ geführt
haben. Durch die dabei erneut auftauchende Nennung der ‚Herkunft‘ wird auch dieser
Satz an die vorausgehenden Überlegungen des Kapitels – insbesondere diejenigen
von GD Vernunft 1 – rückgebunden, wodurch sich abermals die innige Verquickung
der beiden zentralen Idiosynkrasien der Philosophen zeigt.
Es entsteht so der Eindruck, dass die in GD Vernunft 4 behandelte zweite Idio-
synkrasie eine direkte Folge der in den ersten drei Abschnitten behandelten, sprich:
der Ablehnung der das Werden zeigenden Sinne und des damit einhergehenden
„Mangel[s] an historischem Sinn“, des „Ägypticismus“ sind. Im nächsten Satz kommt
es zur eigentlichen Bestimmung ‚aller obersten Werthe‘ als causa sui. Die erst kurz
zuvor im Text ‚symptomatologisch‘ gewonnene Einsicht, dass es sich bei den hier
aufgelisteten causae primae um Resultate der affektiert-reflektierten Denkweisen, also
der Moral, der Philosophen handelt, wird hier bereits in der Satzeröffnung voraus-
gesetzt: „Alle obersten Werthe sind ersten Ranges“ (GD Vernunft 4, EA 21). Die darauf
anschließende, sich der rhetorischen Figur der Akkumulation bedienende Liste

546 Fischer 1865, Bd. 1.2, S. 330 – Nietzsche rezipierte den Text erstmals 1881 und dann abermals im
Sommer 1887 in der Bibliothek in Chur und exzerpierte dabei an die dreieinhalb Seiten aus dem Text
(Vgl. NL 1887, KSA 12, 12[7] und Brobjer 2008, S. 81).
547 Stegmaier 2004, S. 111.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 229

bietet – mit Ausnahme des Schönen – eine beinahe vollständige Aufzählung jener
Termini, die seit der Antike die Letztbegründungsphantasien der Philosophen an-
getrieben haben.
Deren eigentlicher theologischer Oberbegriff wird erst zwei Sätze später genannt.
Davor inszeniert der Text, dabei die Sprache der in GD Vernunft 3 kritisierten Logik
parodierend, einen weiteren argumentativen Zwischenschritt: „Das Alles aber kann
auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein…“ (GD Ver-
nunft 4, EA 21) Die eigentlich zentrale Prämisse wird hingegen nicht genannt. Der
aufmerksame Leser wird jedoch keine Probleme haben, diese fehlende Prämisse des
sich solcherart als Enthymem offenbarenden parodierten Argumentes zu ergänzen:
Sowohl die ‚Zwischenschlüsse‘, dass die obersten Begriffe nicht geworden sein dür-
fen, als auch, dass sie nicht mit sich in Widerspruch stehen dürfen, rekurrieren auf die
zentrale und vom Text als idiosynkratische Setzung freigelegte Prämisse, dass die
obersten Werte causa sui seien müssen. Das sich solcherart zum Zirkelschluss wan-
delnde, fingierte ‚Argument‘ schließt mit der Einführung jenes Oberbegriffes, den es
insgeheim bereits vorausgesetzt hat: „Damit haben sie ihren stupenden Begriff
‚Gott‘…“ (GD Vernunft 4, EA 21).548
Pate für dieses destruktive Argument stand die „Start-Paradoxie“549 Spinozas, die
Kuno Fischer in seiner Geschichte der neueren Philosophie auf folgende Formel bringt:
„Causa sui = substantia = ens absolutum = Deus“550.
In der Kennzeichnung des Gottes-Begriffes als stupend, d.h. als ‚erstaunlich‘,
scheint so etwas wie eine leichte Verwunderung des autodiegetischen ‚Erzählers‘ über
besagten qua Zirkelschluss ‚bestätigten‘ Gottes-Begriff mitzuschwingen. Diese Ver-
wunderung schlägt in den abschließenden Sätzen des Abschnittes in Empörung um:

548 Diese vermeintlich ein Argument reproduzierende Struktur tritt in der Handschrift der Vorstufe W
II 5, S. 73 durch die Durchnummerierung der einzelnen ‚Argumentationsschritte‘ noch deutlicher
zutage. Konstituiert man aus den Überarbeitungen der Grundschicht des Entwurfes einen lesbaren
Lauftext, lauten besagte, erst durch die nachträgliche Einfügung von Zahlen markierten Schritte
folgendermaßen: „2. Es ist das wieder nur der Ausdruck ihrer Verehrung: denn das Höhere darf nicht
aus dem Niederen wachsen, darf überhaupt nicht wachsen … 3. Moral: Alles was ersten Ranges ist,
muß causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werthanzweiflung. 4. Alle
obersten Werthe, alle höchsten Begriffe sind ersten Ranges: das Gute, das Wahre, das Vollkommene,
das Seiende, das Unbedingte: Das Alles kann nicht geworden sein, muß causa sui sein; das Alles kann
sich auch nicht ungleich sein, kann nicht im Widerspruch mit einander sein… 5. Damit haben sie ihren
stupenden Begriff: Gott“ (W II 5, S. 73, Z. 12–28 und Abb. 7a/b).
Wie man sieht, weicht mit Ausnahme der Einfügung besagter Zahlen dieser Entwurf nur minimal
von der letztendlich publizierten Fassung ab. Eine zusätzliche Variante bietet das Druckmanuskript, in
welchem der im Entwurf mit einer „4“ gekennzeichnete Punkt folgendermaßen endet: „Das Alles aber
kann auch nicht einander ungleich, kann nicht im Widerspruch stehen“ (GSA 71/28, Bl. 15r und Abb. 11).
549 Stegmaier 2004, S. 111.
550 Fischer 1865, Bd. 1.2, S. 277.
230 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum…
Dass die Menschheit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen! — Und sie
hat theuer dafür gezahlt!… (GD Vernunft 4, EA 21f.)

Die in den drei das vermeintlich „Letzte“ bestimmenden und in Form einer Klimax
angeordneten Substantive zum Ausdruck kommende Empörung des Sprecher-Ichs
verweist philosophiegeschichtlich auf die mit Kant erfolgte Zurückweisung des onto-
logischen Gottesbeweises.551 GD Vernunft 4 greift anschließend allerdings nicht auf
das Kant’sche Argument zurück, sondern folgt konsequent seiner eigenen Heuristik:
Ursache der zirkulären Argumentation der Philosophen seien nicht irgendwelche
logisch-argumentativen Mängel, sondern deren Gehirnleiden. Derartig werden am
Ende von GD Vernunft 4 die im Text beschriebenen Kategorien der als „kranke
Spinneweber“ bezeichneten Philosophen als Ausdruck von deren décadence aus-
gewiesen.552 Die Exclamatio am Ende des Abschnittes unterstreicht noch einmal die
sich so als Leitmotiv von GD Vernunft 1–4 herauskristallisierende Macht jener phi-
losophischen décadents, welche sich in der innerweltlichen Langzeitwirkung von
deren idiosynkratisch bedingten Denkweisen manifestiert.

2.2.3.5. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 5

— Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r ( — ich sage höflicher Weise
wir…) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in’s Auge fassen. Ehemals nahm man die

551 Kant KrV, A 592–603. – Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 297, der als potentielle Quelle Nietzsches
Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie von Thales bis auf die Gegenwart. Dritter
Theil: Die Neuzeit ausweist und aus dieser folgende Passage als möglichen Hypotext für das Ende von
GD Vernunft 4 zitiert: „Das kosmologische Argument schliesst daraus, dass überhaupt irgend etwas
existirt, auf die Existenz eines schlechthin nothwendigen Wesens, welches dann unter Zuhülfenahme
des ontologischen Argumentes mit der Gottheit als dem ens realissimum oder perfectissimum gleich-
gesetzt wird. Kant dagegen bestreitet, dass die Principien des Vernunftgebrauchs uns zu einer Ver-
längerung der Kette der Ursachen über alle Erfahrung hinaus berechtigen; führte aber das Argument
auch wirklich auf eine extramundane und schlechthin nothwendige Ursache, so sei doch dieselbe
noch nicht als das absolut vollkommene Wesen erwiesen und die Zuflucht zum ontologischen Argu-
ment sei wegen der erwiesenen Ungültigkeit desselben unzulässig.“ (Ueberweg zitiert nach Sommer
2012, S. 297)
552 Ein derartig eindeutig pathologisierendes Vokabular fehlt noch in der Entwurfsfassung aus dem
Arbeitsheft W II 5. Die aus der letzten Überarbeitung hervorgehende Variante des Satzes lautet: „Daß
die Mh. hat solche Gespinnste u. u Spinneweber hat ernst nehmen müssen!“ (W II 5, S. 73, Z. 30–32 und
Abb. 7a/b) Auch die früheren Fassungen sprechen in Bezug auf die Philosophen ‚nur‘ von „alten“ bzw.
„müden Spinnern“ und schließlich „Narren“, was eine eindeutige Zuordnung derselben zu dem in der
Götzen-Dämmerung so bedeutenden décadence-Typus nicht so ohne Weiteres erlaubt wie die diesbe-
züglich weitaus explizitere Pathologisierung derselben am Ende der publizierten Fassung von GD
Vernunft 4.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 231

Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen
dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit
als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglich-
keit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, n e c e s s i t i r t zum Irrt-
hum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der
Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen
hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre S p r a c h e zum beständigen Anwalt. Die Sprache
gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir kommen
in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Meta-
physik, auf deutsch: der V e r n u n f t , zum Bewusstsein bringen. D a s sieht überall Thäter und
Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an’s „Ich“, an’s Ich als Sein, an’s
Ich als Substanz und p r o j i c i r t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge —
es s c h a f f t erst damit den Begriff „Ding“… Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht,
u n t e r g e s c h o b e n ; aus der Conception „Ich“ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein“… Am
Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das w i r k t , — dass
Wille ein V e r m ö g e n ist… Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist… Sehr viel später, in einer
tausendfach aufgeklärteren Welt kam die S i c h e r h e i t , die subjektive G e w i s s h e i t in der Hand-
habung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein: sie
schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, — die ganze Empirie stehe ja
zu ihnen in Widerspruch. W o h e r a l s o s t a m m e n s i e ? — Und in Indien wie in Griechenland
hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: „wir müssen schon einmal in einer höheren Welt
heimisch gewesen sein ( — statt i n e i n e r s e h r v i e l n i e d e r e n : was die Wahrheit gewesen
wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, d e n n wir haben die Vernunft!“… In der That, Nichts
hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel
von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir
sprechen! — Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs:
Demokrit unter Anderen, als er sein A t o m erfand… Die „Vernunft“ in der Sprache: oh was für
eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die
Grammatik glauben… (GD Vernunft 5, EA 22–24)

Arbeiten sich die Abschnitte 1 bis 4 von GD Vernunft vornehmlich an der Darstellung
und Kritik der beiden zentralen Idiosynkrasien der Philosophen ab und bringen dabei
auch schon Schritt für Schritt die ersten dieser durch den autodiegetischen ‚Erzähler‘
vorangetriebenen Kritik tragenden Gegen-Begriffe in die ‚Narratio‘ des Textes mit ein,
setzt dieser mit GD Vernunft 5 nun zur vollständigen Exposition besagter Gegen-
position an.
Dass man auch zur Bezeichnung der Vorgehensweise von GD Vernunft wie schon
für GD Vorwort und GD Sokrates von einer Narratio und nicht mehr primär von
Argumentation sprechen kann, sollte spätestens die Analyse des vorigen Abschnittes,
welcher sich nur mehr in rein destruktiv-parodistischer Absicht traditioneller phi-
losophischer Argumentationsmuster bedient, gezeigt haben. Neben diese parodis-
tische Instrumentalisierung traditioneller philosophischer Argumentationsmodi tritt
insbesondere ein durch den gehäuften Einsatz rhetorischer Figuren und Tropen
gekennzeichnetes poetisches Schreiben, welches mithilfe dieser rhetorischen Mittel
ein dichtes intra- und intertextuelles Verweisungsnetz schafft, das gegen die traditio-
nelleren Formen des Philosophierens in Stellung gebracht wird. Diese Schreibweise
232 2.2. Die Götzen-Dämmerung

wird narratologisch von dem bereits in GD Vorwort eingeführten autodiegetischen


Erzähler getragen, was vor allem in Anbetracht der in GD Vernunft 3 erfolgenden
Kritik an der als bloße „Formal-Wissenschaft“ diffamierten Logik als konsequent
erscheint. Bereits diese erste kurze Zusammenfassung der eindeutig als philosophisch
zu bezeichnenden Narratio von GD Vernunft zeigt die Tendenz des Kapitels, in ihm als
Alternative gesetzte Positionen im weiteren Textverlauf performativ umzusetzen. Auf
die philosophischen Probleme und Konsequenzen eines derartig untrennbar an die
eigene Darstellungsform gebundenen Denkens wird später noch ausführlich einzuge-
hen sein.
GD Vernunft 5, das den soeben kurz beschriebenen, sich gegenseitig durchdrin-
genden Darstellungs- und Narrationsprozess auf eine noch höhere Ebene trägt, setzt
folgendermaßen ein:

— Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r (— ich sage höflicher Weise
wir…) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in’s Auge fassen. (GD Vernunft 5, EA 22)

Der Abschnitt knüpft hier an die in den vorausgehenden Abschnitten bereits ver-
handelte epistemologische Fragestellung an und tut das, obwohl in diesen die für
derartige Fragen normalerweise zuständige philosophische Disziplin, die Erkenntnis-
theorie, aufgrund ihrer mangelhaften Orientierung an den Sinneswahrnehmungen
bereits de(kon)struiert worden ist. Aufgrund dieses intratextuellen Kontextes sowie
eingedenk der zuvor bereits kurz skizzierten Schreib- und Vorgehensweise des ganzen
Kapitels verwundert es nicht, dass die Wiederaufnahme besagter erkenntnistheoreti-
scher Fragestellung in jener der traditionellerweise auf Allgemeingültigkeit aus-
gerichteten Philosophie komplementären Form erfolgt, welche bereits den ersten Satz
des Kapitels gekennzeichnet hat und die sich hier in der Verwendung des Pluralis
modestiae im ersten Satzkolon des zitierten Passus manifestiert. Dass dieser hier nicht
nur ironisch gelesen werden kann, verdeutlicht die in Klammer gesetzte Parenthese:
„ich sage höflicher Weise wir…“ (GD Vernunft 5, EA 22)553 Das Potential einer solchen
Synekdoche hat unter anderem Theodor W. Adorno erkannt, wenn er in den Minima

553 Diese für den potentiellen Textsinn nicht unwesentliche Parenthese fehlt noch in der ‚Vorstufe‘.
Diese lautet schlichtweg: „Stellen wir endlich fest, auf welche verschiedene Weise wir heute das
Problem des Irrthums, der Scheinbarkeit ins Auge fassen.“ (W II 5, S. 68, Z. 2–4 und Abb. 8a/b) Die auf
der Seite 68 zu findende frühere Fassung von GD Vernunft 5 ist, wie auch schon die ebenfalls in diesem
Heft auf der Seite 72 zu findende ‚Vorstufe‘ von GD Vernunft 1 (vgl. Abb. 6a/b), mit der Überschrift „die
wahre u die scheinbare Welt“ (W II 5, S. 68, Z. 1 und Abb. 8a/b) überschrieben.
Auch die Grundschicht des Druckmanuskriptes weicht an diesem Punkt von der letztendlich
publizierten Fassung ab. Dort findet man folgende Variante: „ – Stellen wir endlich dagegen, auf
welche verschiedne Weise wir ( – ich sage höflicher Weise nicht ich) das Problem des Irrthums und
der Scheinbarkeit in’s Auge fassen.“ (GSA 71/28, Bl. 15r und Abb. 11)
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 233

Moralia schreibt: „Wir sagen und Ich meinen ist eine von den augesuchtesten Krän-
kungen.“554
Diese rhetorische Kränkung fügt sich nahtlos an die ‚autodiegetische Kränkung‘,
welche das Sprecher-Ich durch eine derartig alles Weitere an es selbst rückbindende
Wiederaufnahme der erkenntnistheoretischen Fragestellung der Philosophie zufügt,
die sich solch ein persönliches Sprechen meist untersagt.555
Der auf den Eingangssatz folgende Satz rekapituliert noch einmal die dieses
Denken und die eben dieses inkorporierenden Philosophen leitenden Idiosynkrasien:
„Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als
Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre
führe.“ (GD Vernunft, EA 22) Der bereits aus den vorausgehenden Abschnitten von GD
Vernunft bekannte Topos der moralisch bedingten Zurückweisung der hier abermals
in Form einer Klimax angeordneten ontologischen Kategorien „Veränderung“, „Wech-
sel“ und „Werden“ wird durch die Eröffnung des Satzes mit dem Zeitadverb „ehemals“
in die Vergangenheit projiziert und solcherart als bereits überwunden dargestellt.556

554 Adorno 2003a [1951], S. 217. – Eine alternative Lesart des Personalpronomens ‚wir‘ liefern Pietro
Gori und Chiara Piazzesi, wenn sie konstatieren: „Se il plurale maestatis è comunemente usato da
Nietzsche, il ‘noi’ nietzscheano sembra caricarsi di un significato tanto piú preciso e tanto meno
retorico, quanto piú urgente e problematica si fa la questione della comunicazione filosofica per lo
scrittore e per il pensatore Nietzsche.“ (Gori/Piazzesi 2012, S. 169f.)
So sehr die von den beiden Herausgebern als Konsequenz der hier von ihnen zurückgewiesenen
rhetorischen Lesart und der damit einhergehende Fokus auf die Kommunikationsproblematik in
Nietzsches später Philosophie einen zentralen Punkt von dessen Spätwerk treffen, so sehr übersieht
ein derartiger ausschließlicher Fokus auf diesen Themenkreis die eben doch qua Tropus erfolgende
Verstärkung der autodeiktischen Dimension dieser Texteröffnung, was eine Freilegung der damit
einhergehenden philosophischen Konsequenzen nicht nur erschwert, sondern potentiell gar verhin-
dert.
555 Auf die Außergewöhnlichkeit dieser Abschnittseröffnung verweist auch Sommer, deutet sie dann
aber nicht werkintern, wodurch ihm ebenfalls ein zentrales Moment dieser Strategie – die Weiterfüh-
rung der seit GD Vernunft 1 das ganze Kapitel insgeheim strukturierenden Autodeixis – entgeht: „Die
Inanspruchnahme der ‚Wir‘, um damit die Leser einzugemeinden und sie auf das Umwertungsanliegen
des schreibenden ‚Ichs‘ einzuschwören […], wird hier fragend eingeklammert, da N. sich doch erklär-
termaßen nur an die ‚Wenigsten‘ wendet (AC Vorwort, KSA 6, 167, 2). Eine solche Reflexion auf die
Funktion der ‚Wir‘ ist in N.s Werken nicht häufig. Das ‚Wir‘ leitet hier einen Perspektivenwechsel und
einen ausdrücklichen Positionsbezug gegen die herrschende philosophische Tradition ein.“ (Sommer
2012, S. 297)
Nicht das ‚Wir‘, sondern das in dessen ironischer Zurücknahme noch stärker auftretende ‚Ich‘
leitet hier die ausdrückliche Positionsbeziehung ein, bei welcher es sich aber nicht eigentlich um
einen Perspektivenwechsel, sondern vielmehr um die sprachliche Markierung der in den voraus-
gehenden Abschnitten bereits implizit vorhandenen und teilweise auch schon explizit artikulierten
Gegenposition(en) handelt.
556 Diese moralische und eben nicht erkenntnistheoretische Zurückweisung besagter Kategorien tritt
in der ‚Vorstufe‘ des Textes noch deutlicher hervor. Die Grundschicht derselben endet nicht mit dem
nur partiell moralisch konnotierten ‚irreführen‘, sondern dem diesbezüglich eindeutigeren ‚betrügen‘:
234 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Gleich im darauffolgenden Satz wird eine alternative Lesart dieses Sachverhaltes


geboten:

Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit,
Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit, Sein anzusetzen, uns gewissermaassen ver-
strickt in den Irrthum, n e c e s s i t i r t zum Irrthum; so sicher wir auf Grund einer strengen Nach-
rechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den
Bewegungen des grossen Gestirns: bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre S p r a -
c h e zum beständigen Anwalt. (GD Vernunft 5, EA 22)557

In diesem für das gesamte Kapitel zentralen Satz, der das in GD Vernunft 2 Heraklit
zugeschriebene Argument, dass uns die Sinne Einheit vortäuschen, umkehrt und
gegen die Vernunft wendet, begegnet einem auf einer höheren Reflexionsebene
abermals das bereits in der autodeiktischen Darstellungspraxis des gesamten Kapitels
präsente Problem der Selbstbezüglichkeit der Aussagen des dieses von seinem ersten
Satz an narratologisch dominierenden intratextuellen Ichs: Wenn man, wie hier
dargelegt, von der uns gegebenen Sprache zum Irrtum „n e c e s s i t i r t “ wird, ist
notwendig zu fragen, wie sich diese Feststellung selbst zu besagtem Irrtum verhält.
Auch das diese Einsicht artikulierende Ich artikuliert diese sprachlich. Bedeutet das,
dass diese Einsicht selbst irrtümlich, d.h. falsch ist?

„Ehemals nahm man Veränderung, Wechsel, Werden mit einem Wort als Beweis für Scheinbarkeit, als
Zeichen, daß irgend Etwas da sein muß, was uns betrügt.“ (W II 5, S. 68, Z. 4–6 und Abb. 8a/b)
557 Bei diesen beiden Sätzen weicht die Vorstufe nur partiell von der letztendlich publizierten
Fassung ab. Zumindest eine dieser Abweichungen ist aber von hoher semantischer Valenz. Die Grund-
schicht der Aufzeichnung lautet: „Jetzt sehen wir genau so weit, als unser Vernunft-Vorurtheil uns
zwingt, an Ein=heit, Identität, Dauer, Substanz, Dinglichkeit, Sein zu glauben, uns gewissermaassen
verstrickt in den Irrthum: so gewiß wir auch der psycholog. Nachrechnung die Einsicht verdanken, daß
wir hier uns irren. Aber es steht hier so, wie im Falle der himmli-schen Bewegungen: da hat der Irrthum
die Sinne, u, hier hat er die Sprache für sich.“ (W II 5, S. 68, Z. 8-14 und Abb. 8a/b)
Bei der ersten Abweichung handelt es sich um das Fehlen des für die Interpretation der publizier-
ten Fassung wesentlichen Zusatzes „n e c e s s i t i r t zum Irrthum“. Dieser wird erst im Zuge einer
Überarbeitung in der Handschrift eingefügt, ist allerdings in dem weniger drastischen „zwingt“ der
Grundschicht bereits implizit vorhanden.
Für die Deutung des Textes weitaus bedeutender ist hingegen die Abweichung am Ende des
ersten Satzes. In dessen letztem Satzkolon wird die Einsicht in den Sprachschematismus nämlich der
„psycholog. Nachrechnung“ (W II 5, S. 68, Z. 12 und Abb. 8a/b) zugeschrieben. Derartig wird diese
so zentrale ‚Erkenntnis‘ einer jener heuristischen Praktiken zugeordnet, welche in der Götzen-
Dämmerung zwar mit einem konventionellen Begriff bezeichnet werden, die aber in ihrem Procedere
von den Nietzsche zeitgenössischen Vorgehensweisen dieser Disziplinen eindeutig abweichen: der
Psychologie.
Das Fehlen einer solchen eindeutigen disziplinären Zuordnung der zentralen Einsicht von GD
Vernunft im letztendlich publizierten Text lässt sie insbesondere in Anbetracht ihrer selbstbezüglichen
Konsequenzen dort dann um einiges fragwürdiger erscheinen als im nachgelassenen Entwurf.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 235

Jakob Dellinger hat in einem kurzen methodologischen Aufsatz zur Frage nach
der ‚wahren Philosophie‘ Nietzsches einen Ausweg aus dem hier nachgezeichneten
Dilemma skizziert:

Indem sich die Rede über die ‚Vernunft‘ in der Sprache und die Nezessität des Vernunft-Vorurteils
selbst als ‚vernünftig‘, selbst als vorurteilshaft erweist, ist diese ihre These nicht nur gebrochen
und ad absurdum geführt, sondern vielmehr wird ihr ‚in‘ diesem Bruch zugleich ‚entsprochen‘.558

Nimmt man diese erhellende Bemerkung von Dellinger auf und führt sie mit den
bisherigen Lektüreresultaten dieser Studie zusammen, offenbart sich, mit welcher
Radikalität GD Vernunft die in ihm vermeintlich propagierten Ansichten nicht nur zur
Darstellung bringt, sondern mithilfe einer zum Paradox tendierenden Schreibweise
diese ‚Einsichten‘, dadurch dass sie selbstreferentiell unterlaufen werden, konsequent
überschreitet: Indem der Text aus der Perspektive eines intratextuellen Ichs die bisheri-
gen Idiosynkrasien der Philosophen kritisiert und dabei die Idiosynkrasie seiner eige-
nen Position autodeiktisch zur Anschauung bringt, bei dieser Kritik jedoch nicht stehen
bleibt, sondern den durch die ebenfalls vom selben autodiegetischen Erzähler geäußer-
ten sprachtheoretischen Auffassungen, wie Dellinger gezeigt hat, performativ ent-
spricht, öffnet sich der Text qua Selbstreferenz einer potentiell unendlichen reflexiven
Schleife. Diese Schleife führt primär zwar nicht dazu, dass die vom autodiegetischen
Erzähler in einer ihn selbst kompromittierenden Art und Weise vorgebrachten Thesen
direkt in einen Selbstwiderspruch geführt werden, erlauben es allerdings dem sie nach-
vollziehenden Leser, sie ad infinitum zu perpetuieren: Wendet man die vom Text bloß
vorgeführte ‚These‘ vom prinzipiell idiosynkratischen Charakter allen Philosophierens
konsequent auf die Lektüre dieses Textes selbst an, wird man als Leser regelrecht dazu
angehalten, sich selbst auf die ‚symptomatologische‘ Suche nach den vom Text implizit

558 Dellinger fährt fort: „[Dem] gemäß müssen Nietzsches Gedanken als explizit ‚vernünftige‘ Gedan-
ken von der ‚Vernunft‘ in der Sprache im doppelten Sinn, d.h. über sie und von ihr her, begriffen
werden, die nicht einfach nach der Art des ‚das ist‘ bezeichnen, sondern sich in diesem Bezeichnen als
‚vernünftig‘ (irrtümlich, falsch, interpretativ, zurechtmachend usw.) erweisen und so die ‚Vernunft‘ in
der Sprache gleichsam am Werk zeigen.“ (Dellinger 2009, S. 188)
Andreas Urs Sommer spricht in Anbetracht dieser Lektüre von Dellingers Versuch einer „dia-
lektischen Rettung der ‚wahren Philosophie‘ N.s“ (Sommer 2012, S. 298) und setzt dieser eine Aus-
legung der Passage im Lichte der von der Nietzscheforschung seit den achtziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts viel diskutierten Selbstaufhebungsfigur entgegen: „[I]m Blick auf die fundamentale
Sprachkritik, die insbesondere in GD Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie 5 (77, 1-78, 13) und in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 26 (128, 20-28) artikuliert wird (wo die Struktur von Sprache dafür
verantwortlich gemacht wird, dass wir in bestimmten Kategorien denken, die vielleicht keinen Anhalt
in der Realität haben), gilt d[ ]er Selbstaufhebungszwang: Sprachkritik kann sich nur sprachlich
äußern; daher muss Sprache in GD alle Setzungen immer wieder suspendieren, um auf die Möglich-
keit einer Wirklichkeit jenseits der sprachlichen Denkzwänge aufmerksam zu machen.“ (Sommer
2012, S. 207)
236 2.2. Die Götzen-Dämmerung

mitgelieferten Bedingtheiten der Idiosynkrasien des Sprecher-Ichs zu machen. Nimmt


man als Leser dieses Angebot an, wird man letztendlich nicht nur die vom Text mit-
gelieferten potentiellen instinktiven Voraussetzungen des seinen Verlauf narratolo-
gisch bestimmenden autodiegetischen Erzählers potentiell freilegen, sondern dabei
auch als Leser seine eigenen Idiosynkrasien einbringen und sich – wie der Erzähler des
Textes selbst – in der ‚symptomatologischen‘ Auslegung derselben kompromittieren.
Führt man des Weiteren die hier soeben nachgezeichnete Schleife mit der in GD
Vernunft 5 erstmals eingeführten sprachphilosophischen Reflexionsfigur zusammen,
welche mit der Mehrheit der sprachphilosophischen ‚Thesen‘ in Nietzsches Spätwerk
im Allgemeinen sowie den in der Götzen-Dämmerung im Besonderen geäußerten
übereinstimmen, und akzeptiert man diese zugleich, ist es nur mehr bedingt möglich,
die aus dieser verborgenen Sprachmetaphysik sich notwendig ergebenden Irrtümer
jenseits derselben zum Ausdruck zu bringen. Nietzsches Text gelingt dies jedoch,
indem er auf dem Hintergrund eines ‚symptomatologischen Denkens‘, das jede pro-
positionale Äußerung als Folge eines jenseits der konventionellen Sprachzeichen
nicht mehr artikulierbaren Gesamtzustandes einer Person interpretiert, durch die
autodeiktische Kritik anderer zwischen Individuum und Typen changierender Per-
sonifikationen in eine reflexive Schleife führt, welche qua Lektüre durch die schier
unendliche Anzahl an potentiellen Bedingungen der Idiosynkrasien des jeweilig
Gedachten das ebenfalls in der konventionellen Sprache vom Text propagierte Wer-
den nicht nur aussagt, sondern zeigt.559
Wie bereits angesprochen wurde, führt ein derartig physiologisch-affiziertes Spre-
chen aufgrund seines autodeiktischen Charakters nicht mehr zu einer ent-personali-
siert vermittelbaren, alternativen erkenntnistheoretischen Position, sondern bleibt an
diesen Sprecher und dessen Bedingtheiten gebunden. Ihm kann potentiell jederzeit ein
anderer Sprecher ebenso affiziert gegenübertreten und mit dem Hammer „aushor-
chen“.560 Ein solches, an eine höchst individuelle Sprecherposition gebundenes und
diese in ihren potentiell unendlichen Bedingtheiten nicht mehr vollständig erfassendes

559 Insofern handelt es sich hier nicht – wie ich noch in Pichler 2013 behauptet habe – um zwei
miteinander kurzgeschlossene Schleifen, sondern das Zusammengreifen der qua Autodeixis vom Leser
im Zuge der Lektüre potentiell ‚fortgeschriebenen‘ ‚verschliffenen‘ Sonderform des regressus ad in-
finitum mit der Selbstanwendung der ‚These‘ vom Sprachschematismus qua Rückfaltung besagter
These auf das ‚Sprechen‘ des Textes selbst.
Inwieweit sich das daraus resultierende ‚Zeigen‘ mit der berühmten wittgensteinschen Variante
aus dessen Logisch-philosophischer Abhandlung deckt und welche Konsequenzen letztendlich ein auf
ein derartiges qua Lektüre vermitteltes ‚Zeigen‘ hinauslaufendes philosophisches Schreiben für die
sich so ‚artikulierende‘ Philosophie im Besonderen sowie für den philosophischen Diskurs im All-
gemeinen zeitigt, wird im dritten Teil dieser Studie erörtert werden.
560 Diesen Wechsel zwischen ‚genealogischer Kritik‘, temporärer Gegenposition und deren erneuter
potentieller Weiterschreibung habe ich an anderer Stelle im Neologismus „Orchestikologie“ zusam-
mengefasst. Siehe dazu Pichler 2010, insbesondere S. 193–207. Auf die Folgen einer derartigen Denk-
praxis hat auch Enrico Müller hingewiesen: „Gegenüber dem einmaligen Setzungsakt ewig geltender
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 237

philosophisches Denken verlässt eindeutig den Rahmen der ihm zeitgenössischen


Erkenntnistheorie, da es nicht mehr in der Lage ist, die eigenen Grundansichten pro-
positional-thetisch zu artikulieren, sondern diese, indem es den Setzungscharakter der
eigenen Ansichten vorführt, nur mehr zeigen kann. Jede thetische Ausformulierung der
Grundansichten – dies gilt selbstverständlich auch für den von vielen Interpreten als
eine solche gelesenen Sensualismus des Kapitels – würde außerdem notwendigerweise
in den vom Text selbst artikulierten Sprachschematismus zurückfallen.561
In der Einschätzung der Einsehbarkeit dieses Schematismus ist GD Vernunft 5 um
einiges optimistischer – der Text spricht davon, dass „wir auf Grund einer strengen
Nachrechnung bei uns darüber [sicher – A.P.] sind, d a s s hier der Irrthum ist“ – als das
wohl berühmteste sprachphilosophische Notat aus Nietzsches spätem Nachlass. Es
handelt sich dabei um eine Aufzeichnung in schwarzer Tinte, die sich auf der Seite 165
des von Nietzsche von Sommer 1886 bis Herbst 1887 verwendeten Notizheftes N VII 3
findet.562 Der Text auf der keine einzige Überarbeitungsspur aufweisenden Seite lautet:

Grundlösung: wir glauben an die Vernunft: diese aber ist die Philosophie der grauen Begriffe, die
Sprache ist nach den aller naivsten Vorurtheilen hin gebaut
nun lesen wir Disharmonien u. Probleme in die Dinge hinein, weil wir nur in der sprachl. Form
denken – somit der „ewigen Wahrheit“ der „Vernunft“ glauben (zb. Subjekt Prädikat usw.
wir hören auf zu denken, wenn wir es nicht in dem sprachl. Zwange thun wollen wir langen
gerade noch bei dem Zwei=fel an, hier eine Grenze als Grenze zu sehen. Das vernünftige Denken
ist ein Interpre=tiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können. (N VII 3, S. 165
und Abb. 4a/b)

Das in der hier linearisierten Lesart gerade einmal sieben Zeilen umfassende Notat
umkreist den selben Themenkreis wie GD Vernunft 5. Dieser wird hier mit dem Sub-
stantiv „Grundlösung“ eingeleitet. Auf welches Problem sich das Notat derartig be-
zieht, lässt sich allerdings nicht aus dem unmittelbaren Kontext der Aufzeichnung
innerhalb des Notizheftes erschließen, da sie sich nach vorne hin durch die gebrauchte
Tinte (vgl. W N VII 3, S. 162–165), nach hinten durch eine leere Seite (vgl. N VII 3, S. 166)
von den sie umgebenden Aufzeichnungen abhebt. Unter Berücksichtigung der zen-
tralen Themata von GD Vernunft sowie des Inhaltes der Aufzeichnung selbst scheint es
sich bei der „Grundlösung“ jedoch um den Versuch der Beantwortung der in der abend-

Tafeln wird damit der ewigen Wiederkehr genealogischer Umwertungspraktiken endgültig der Vorzug
gegeben.“ (Müller 2009, S. 149)
561 Überhaupt scheint auf GD Vernunft jene Problematik zuzutreffen, die Nietzsche bereits in einer
Aufzeichnung aus dem Jahre 1885 festgehalten hat: „Versuch das {Heraklitische} Werden irgendwie zu
beschreiben u in Zeichen abzukürzen (in eine Art von {scheinbarem Sein} Seiendem {gleichsam} zu
übersetzen – {u zu mumisiren})“ (W I 4, S. 28).
562 Laut dem digitalen Nachbericht zur KGW IX/9 stammen die identifizierten Briefentwürfe in
besagtem Notizblock aus dem Zeitraum vom 13. Februar 1887 bis 25. Februar 1888 (vgl. PDF CD-ROM
KGW IX/9, S. 11).
238 2.2. Die Götzen-Dämmerung

ländischen Philosophie zentralen erkenntnistheoretischen Frage nach den Bedingun-


gen und der Gültigkeit unserer vermeintlichen Erkenntnisse zu handeln.
Bereits der erste Absatz des Notates weist den spätestens mit dem neuzeitlichen
Rationalismus in der abendländischen Philosophie heimatlich gewordenen Glauben
an die Möglichkeit einer Gewissheit unserer Erkenntnisse und den damit einhergehen-
den Vernunftoptimismus als naives Vorurteil zurück.
Im zweiten Absatz der Aufzeichnung werden dann die Gründe des Fehlgehens
unseres Denkens nachgereicht: Dieses sei eine Folge der schon im ersten Absatz
gesetzten Tatsache, dass die Sprache auf Vorurteile „hin gebaut“ sei, eine Folge also
davon, dass wir nur in einer per se schon problematischen Form denken können. Auf
die Problematik des sich hier offenbarenden erkenntniskritischen Antirepräsentatio-
nalismus ist in der Forschung mehrfach hingewiesen worden, setzt doch die These
von der bloß naive Vorurteile – d.h. also nicht die eigentliche Realität – repräsentie-
renden Sprache ein Wissen von genau jener Realität voraus, zu welcher man nach
dem hier wiedergegebenen Sprachverständnis gerade aufgrund der Beschaffenheit
dieser Sprache niemals gelangen kann.
Dieses Paradox schwingt in der Aufzeichnung selbst mit, wenn in dieser im
darauffolgenden Absatz nach der erneuten formelhaften Bestätigung der zuvor etab-
lierten ‚Sprachtheorie‘ festgestellt wird: „wir langen gerade noch bei dem Zwei=fel an,
hier eine Grenze als Grenze zu sehen“ (N VII 3, S. 165, Z. 26–30). Die zuvor als
vermeintlich gewiss gesetzten und sprachlich bedingten Grenzen des Denkens wer-
den durch das hier im ersten Satzkolon Artikulierte wieder zwischen Anführungs-
zeichen gesetzt. Im Entwurf wird so konsequent die in ihm dargelegte Sprachtheorie
auf die eben diese ausdrückende Sprache zurückgefaltet, was dazu führt, dass dem
Text seine eigenen Grundlagen fragwürdig werden.
Umso überraschender erscheint die im letzten Absatz gelieferte ‚Konklusion‘, die in
ihrer thetischen Gestalt nichts mehr von der zuvor vollzogenen autoreflexiven Selbst-
infragestellung der eigenen Position erahnen lässt. Liest man diesen Satz allerdings
nicht als Affirmation der insbesondere in den vorausgehenden ersten beiden Absätzen
impliziten Erkenntnistheorie, sondern bloß als die Bestätigung der empirisch verbürg-
ten Tatsache, dass die Sprache einem bestimmten grammatikalischen Schema folgt,
jenseits desselben von einem ‚vernünftigen‘, d.h. sinnvollen, Sprechen nicht mehr die
Rede sein kann, und nimmt man die im dritten Absatz gesetzte Selbstinfragestellung
hinzu, ergibt sich ein anderes Bild: Dann erscheint nämlich nicht mehr die Sprache als
Ursache einer vermeintlich unvermeidbaren Verfälschung der Erkenntnisse, sondern
wird zur Ursache dafür, dass man, da das Denken nur innerhalb eines ihm vom Sprach-
schematismus vorgegebenen Rahmens vollzogen werden kann, niemals aus dieser
Sprache heraustreten kann. Richard Rorty hat diesen Sachverhalt auf die Formel
gebracht: „Die Welt spricht überhaupt nicht. Nur wir sprechen.“563

563 Rorty 1992b [1989], S. 25.


2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 239

Gegen eine derartige, geradezu neopragmatistische Lesart des Notates,564 nach


welcher unsere Erkenntnisse zwar nicht mehr als qua Sprachdeterminismus stets
verfälscht, sondern bloß als nicht mehr durch eine außersprachliche Wirklichkeit
verifizierbar gedeutet werden, scheint allerdings der dritte Satz aus GD Vernunft 5 zu
sprechen. Auch dort ist ja eindeutig vom „Irrthum“ die Rede, heißt es doch im letzten
Satzkolon: „so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber
sind, d a s s hier der Irrthum ist“ (GD Vernunft 5, EA 22). Als ‚Irrthum‘ bezeichnete man
jedoch auch im 19. Jahrhundert „jede Vorstellung, welche mit der eigentlichen,
erkennbaren Beschaffenheit der Dinge im Widerspruch steht“565.
Wie so häufig in Nietzsches späten Schriften ist die Bestätigung bzw. Zurückwei-
sung der sich aus der Rede von der sprachbedingten Irrtümlichkeit der Aussagen über
die Welt resultierende Verfälschungsthese nicht so einfach zu bewerkstelligen, wie es
bei der ersten schnellen Lektüre des Abschnittes erscheinen mag. Auch die in GD
Vernunft vermeintlich so apodiktisch vorgebrachte These, dass es die Sprache sei,
welche das Denken in die Irre führe, entbehrt nicht des auch in dem Notat aus dem
Notizheft N VII 3 nachgewiesenen autosubversiven Potentials: Artikuliert sich dieses
dort jedoch durch die qua Rückfaltung der eigenen ‚Theorie‘ auf sich selbst erfolgende
Infragestellung derselben, erfolgt sie in GD Vernunft 5 durch die Rückbindung der
Sprachdeterminismus-‚These‘ an den autodiegetischen Erzähler. Wie zuvor gezeigt
worden ist, handelt es sich bei dessen vermeintlichen Thesen um höchst idiosynkrati-
sche Einsichten, die wohl kaum einer ‚symptomatologischen‘ Lektüre standhalten
würden. Dieser Sachverhalt ist auch bei der weiteren Lektüre von GD Vernunft 5 im
Hinterkopf zu behalten, wendet sich der Text doch, nach den soeben ausführlich
diskutierten beiden Sätzen, in einer ebenfalls sehr affirmativ erscheinenden Art und
Weise der weiteren Ausführung der von ihm zuvor gesetzten Sprachdeterminismus-
‚These‘ zu:

564 Bereits im Zuge des ersten umfangreichen und wirkungsmächtigen Versuches, Nietzsche zu
einem Vorläufer der als Folge des linguistic turn in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts den
angelsächsischen philosophischen Diskurs dominierenden Philosophie der normalen Sprache zu
machen – die Rede ist hier von Arthur C. Dantos 1965 publizierter Monographie Nietzsche as
Philosopher –, kam es zu der auch von Rorty vertretenen pragma(tis)tischen Lektüre Nietzsches. Laut
Danto vertrete Nietzsche einen „semantischen Nihilismus“, der „die Sprache […] vollständig aus ihrer
deskriptiven Funktion“ (Danto 1998 [1965], S. 291) herauslöse, sich solcherart gegen jede Form des
semantischen Realismus sowie der im Rahmen desselben meist vertretenen Korrespondenztheorie der
Wahrheit wende, an deren Stelle er eine pragmatische Wahrheitstheorie stelle. Zur Kritik an dieser
Interpretation, insbesondere deren Kennzeichnung von Nietzsches vermeintlicher Erkenntnistheorie
als Form des Pragmatismus, siehe Wilcox 1986.
Auf die Langzeitwirkung von Dantos Interpretation sowie die diese kennzeichnende Vorgehens-
weise hat unter anderem Alfons Reckermann aufmerksam gemacht: „Seit Danto gehören die metho-
dischen Verfahren der argumentativen Rekonstruktion und der systematischen Vereindeutigung von
Gedanken, die Nietzsche in einer polyvalenten Sprache zum Ausdruck bringt, zu den charakteristischen
Merkmalen der Nietzsche-Deutung im angelsächsischen Sprachbereich.“ (Reckermann 2003, S. 142)
565 Pierer’s Universal-Lexikon 1860, Bd. 9, S. 70.
240 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie: wir
kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-
Metaphysik, auf deutsch: der V e r n u n f t , zum Bewusstsein bringen. (GD Vernunft 5, EA 22)566

Wie auch in den drei anderen Texten Nietzsches, die von der Forschung üblicherweise
als die zentralen Stellen seiner Sprachphilosophie erachtet werden – sprich: „Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“, JGB 268 und FW 354 –, handelt es
sich bei den hier einsetzenden, sprachphilosophisch bedingten erkenntniskritischen
Reflexionen nicht um einen rein erkenntnistheoretischen Diskurs, sondern um eine
Darstellung derselben im Rahmen eines Sprachursprungsdiskurses.567 Im Zuge des-
selben werden die in der Sprache sedimentierten und von dieser solcherart tradierten
Grundannahmen als die Folge der „rudimentärsten Form von Psychologie“ (GD Ver-
nunft 5, EA 22) ausgewiesen.
Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen für ein Denken, das solcherart ins-
geheim noch jenen Denkgewohnheiten folgt, die dank besagter rudimentärer Psycho-
logie in die Sprache eingeschrieben worden sind, bringt der zweite Satz des zuvor
zitierten Passus dadurch zum Ausdruck, dass in ihm die bloße Beschäftigung mit der
Sprachgenese als die Konfrontation mit „ein[em] grobe[n] Fetischwesen“ bezeichnet
wird. Unter Fetischismus verstand man zu Nietzsches Lebzeiten „die aus einem rohen
Polytheismus entwickelte Religion der Naturvölker, bei welcher sinnliche Gegenstände
(Fetische), denen Zauberkraft zugeschrieben wird, religiöse Verehrung genießen“568.
In Anbetracht der Tatsache, dass in demselben Satz die aus einem solchen
Fetischismus entstandene Sprachmetaphysik mit „der V e r n u n f t “ gleichgesetzt wird,

566 Die ‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 5 verzichtet auf die Setzung eines direkten kausalen
Zusammenhanges zwischen der „rudimentärsten Form von Psychologie“ und der Entstehung der
Sprache. In der Grundschicht werden diese beiden bloß als parallel ablaufende Prozesse dargestellt:
„Die Sprache ist gleichzeitig mit den rudimentärsten Zeiten der Psychologie: wir kommen in ein
vollkommenes Fetischwesen, wenn wir die Grundnaivitäten der Sprache d.h. der Vernunft uns auf-
decken.“ (W II 5, S. 68, Z. 18–22 und Abb. 8a/b)
567 Sämtliche dieser drei Texte sind dadurch gekennzeichnet, dass die in ihnen vermeintlich vor-
gebrachte Sprachtheorie durch die die Texte charakterisierende Darstellungsform eingeklammert und
potentiell unterlaufen wird. Abgesehen von der Tatsache, dass es sich bei allen drei Texten – genauso wie
bei GD Vernunft 5 – um Sprachursprungsdiskurse handelt, welche, wie Andrea Bertino zuletzt zu Recht
betont hat, als „Erzählungen über den Ursprung der Sprache und des Begriffsdiskurses weder empirisch
noch historisch begründbar“ (Bertino 2010, S. 79) seien, und dass sie aufgrund des in ihnen vorherr-
schenden Antirepräsentationalismus konsequenterweise als „philosophische[r] Mythos“ zu betrachten
sind (vgl. Bertino 2010, S. 79), finden sich in ihnen zahlreiche Darstellungsmodi, welche eine thetische
Lektüre der in ihnen vorgebrachten sprachphilosophischen Ansichten als fragwürdig erscheinen lassen.
Im Falle von FW 354 hat jüngst Jakob Dellinger gezeigt, dass es auch dort zu einer an die selbst
idiosynkratische Diagnose der idiosynkratischen Philosophen aus GD Vernunft erinnernde Schleife
kommt, welche es ebenfalls verbietet, den Text zur Grundlage einer argumentativen Rekonstruktion
von Nietzsches Sprachphilosophie zu machen (vgl. Dellinger 2012e, S. 240).
568 Brockhaus 1894–1896, Bd. 6, S. 720.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 241

kommt es zu einer Aufhebung der im Selbstverständnis der abendländischen Phi-


losophie zentralen Opposition zwischen vernünftigem und mythischem Denken,
indem Ersteres nicht als ein im Zuge des Aufklärungs- und Rationalisierungsprozesses
weit über das mythische Denken hinausgehendes, sondern als qua Sprache weiterhin
an diesem partizipierendes Vermögen ausgewiesen wird.569 Die auf die solcherart
historisch-spekulativ erfolgte Reaffirmation der bereits am Anfang des Abschnittes
gesetzten ‚These‘, dass die Sprache zum Irrtum „n e c e s s i t i e r t“, anschließende Frei-
legung des sich in der Sprachstruktur manifestierenden Fetischismus folgt ziemlich
genau dem zeitgenössischen Verständnis der Entstehung desselben. Laut dem Brock-
haus von 1894–96 gestaltet sich diese wie folgt:

Das zufällig gleichzeitige Zusammentreffen zweier Vorstellungen giebt dem unentwickelten


Bewußtsein Veranlassung, einen gar nicht vorhandenen kausalen Zusammenhang zwischen
diesen zu vermuten, so daß ein beliebiger sinnlicher, meist unscheinbarer Gegenstand (z.B. ein
Nagel, ein Stein u. dgl. m.) als wirkende Ursache eines mit ihm gleichzeitig in die Erscheinung
tretenden Ereignisses gilt.570

569 GD Vernunft nimmt hier die bereits von Walter Benjamin in seinem Wahlverwandtschaften-Essay
artikulierte und von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung letztendlich ausgeführte
These von den strukturellen und funktionalen Analogien von Mythos und Vernunft vorweg.
In Anbetracht der zu dieser ‚Einsicht‘ gelangenden Heuristik ist die von Kevin Hill vorgebrachte
Lektüre der sprachkritischen Eingangspassage von GD Vernunft 5 zurückzuweisen. Hill greift zur
Erörterung dieses Passus auf JGB 12 und JGB 19 zurück, verlässt derartig das auch aus sich heraus
verständliche Werk, um auf der Grundlage des so entwickelten nietzscheschen Agentenmodells die
Parallelen in Nietzsches und Kants „concept of mental syntax“ nachzuweisen und schließt dann:
Nietzsche „offers a prior analysis of where subject-predicate structure (the core of syntax) comes from
in the first place. The account of how the experience of action leads to reifying the will or ego as an
entity separable from its acts provides us with a prototype of subject-predicate structure and a
template from which mental syntax and fact-structure alike will be derived“ (Hill 2003, S. 180).
Das Problem bei dieser Deutung liegt nun nicht nur in ihrem deskriptiven Gehalt – dieser trifft
unter Vernachlässigung des restlichen Kapitels ziemlich genau den in der zuvor aus GD Vernunft 5
zitierten Stelle dargelegten Sachverhalt –, sondern in der Tatsache, dass Hill diese Passage als
Bestandteil einer von Nietzsche durchgeführten transzendentalphilosophischen Untersuchung liest.
Bei der vom Text hier gelieferten Sprach- und Vernunftursprungsthese handelt es sich aber nicht um
eine transzendentalphilosophische, sondern um eine an die Perspektive des autodiegetischen Erzäh-
lers gebundene ‚symptomatologische‘ Untersuchung. Als solche kann deren Resultat nur Ursprungs-
hypothesen, nicht jedoch apriorische Strukturen liefern. Abgesehen davon ist ein transzendentalphi-
losophisches Projekt, wie es Hill hier zu entdecken glaubt, durch die sprachbedingte Nezessität des
Vernunft-Irrtums, die von Hill durch den Rückgriff auf ein Notat aus dem Spätsommer 1885 als nicht
eigentlich Nietzsches Auffassung ausgewiesen wird, gar nicht mehr möglich, obwohl man seiner
Verlockung gerade aufgrund unserer Sprachstruktur auch weiterhin erliegen wird, was nicht zuletzt
auch der berühmte letzte Satz von GD Vernunft 5 suggeriert.
570 Brockhaus 1894-1896, Bd. 6, S. 720.
242 2.2. Die Götzen-Dämmerung

GD Vernunft 5 überträgt dieses Procedere auf die Sprache:

D a s sieht überall Thäter und Thun: das glaubt an Willen als Ursache überhaupt; das glaubt an’s
„Ich“, an’s Ich als Sein, an’s Ich als Substanz und p r o j i c i r t den Glauben an die Ich-Substanz
auf alle Dinge — es s c h a f f t erst damit den Begriff „Ding“… Das Sein wird überall als Ursache
hineingedacht, u n t e r g e s c h o b e n ; aus der Conception „Ich“ folgt erst, als abgeleitet, der
Begriff „Sein“… (GD Vernunft 5, EA 22f.)

Hier wird im ersten Satz nicht mehr ein „unscheinbarer Gegenstand“, sondern infolge
des von der grammatikalischen Grundstruktur der Sprache in dieser syntaktisch vor-
gegebenen Trennung von Subjekt und Prädikat nahegelegten Rückschlusses von der
Tat auf einen Täter der Wille zur „wirkende[n] Ursache eines mit ihm gleichzeitig in die
Erscheinung tretenden Ereignisses“ erhoben. Dass es sich dabei um einen Fetisch
handelt, wird durch die auf das „Fetischwesen“ zurückverweisende Eröffnung der
ersten drei Teilsätze mit dem Relativpronomen im Nominativ Singular noch einmal
unterstrichen.571 Im weiteren Verlauf des zitierten Passus, bei dem es sich laut Andreas
Urs Sommer zugleich um eine Travestie von Descartes’ cogito sum-Argument han-
delt,572 werden ausgehend von dem durch die Analogie zum Fetisch-Denken freigeleg-
ten Glauben an den Willen als Ursache weitere zentrale Begriffe der abendländischen
Philosophie destruiert: Aus dem von der aus der Suche nach einem Täter zu jeglichem
Tun erfolgten Setzung des Ich werde dessen Sein und Substanzialität und aus dieser
schließlich das substantielle Sein aller Dinge gefolgert.573 Die drei in der zitierten
Passage diesen Prozess darstellenden und durch Sperrungen graphematisch hervor-
gehobenen Verben ‚projizieren‘, ‚schaffen‘ und ‚unterschieben‘ verdeutlichen noch
einmal, dass es sich hierbei um die Stiftung eines „gar nicht vorhandenen kausalen
Zusammenhang[s]“ handelt.
Auffällig an dieser Übertragung des fetischistischen Denkens auf die Ableitung
zentraler ontologischer Kategorien des abendländischen Denkens wie des Subjekts
oder der Substanz aus der sprachlichen Syntax durch einen Analogieschluss ist, dass
dabei dennoch der Begriff der Kausalität selbst nicht zurückgewiesen zu werden

571 Wie Jakob Dellinger gezeigt hat, ist der Rückbezug des den oben zitierten Satz eröffnenden
Relativpronomens nicht eindeutig. Dieses kann nämlich nicht nur auf das „Fetischwesen“ aus dem
vorausgehenden Satz, sondern auch auf das erst an dessen Ende genannte „Bewusstsein“ bezogen
werden. Dellinger folgert daraus, dass „die naheliegende Deutung, dass das Fetischwesen der ‚Sprach-
Metaphysik‘ überall ‚Thäter und Thun‘ […] sieht, um jene ergänzt werden [muss], dass auch die
Bewusstmachung des Vernunft-Vorurteils gemäß diesem Schema verfährt.“ (Dellinger 2009, S. 185)
Welche Konsequenzen dieser Sachverhalt für die in GD Vernunft 5 artikulierten ‚Einsichten‘
zeitigt, wird im Laufe dieser Studie noch ausführlich erörtert werden.
572 Sommer 2012, S. 299.
573 In der ‚Vorstufe‘ ist von der ‚Übertragung der subjektiven Scheinbarkeit auf alles Übrige‘ die Rede:
„Das sieht überall Thäter u. sein Thun, das glaubt nur an Willen als Ursache; das glaubt an’s Ich, an
das Ich als Sein u. überträgt die subjektive Scheinbarkeit auf alles Übrige, überall ein Sein hinein-
legend u das Sein als Ursache.“ (W II 5, S. 68, Z. 22–26 und Abb. 8a/b)
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 243

scheint. Zwar wird in Anknüpfung an das gängige Verständnis des Fetisches behauptet,
dass besagte ontologische Konzepte fälschlicherweise als wirkende Ursache gesetzt
wurden, jedoch ist nirgendwo die Rede davon, dass es keine solchen wirkenden
Ursachen gäbe. In dieselbe Richtung weist auch das für diesen Problemkomplex zen-
trale Kapitel „Die vier grossen Irrthümer“, in dem ebenfalls auf eine vollständige
Zurückweisung des Kausalitätsdenkens verzichtet wird.574 Dies legt zumindest dessen
erster Abschnitt nahe, der durch seinen Titel – „Irrthum der Verwechslung von Ursache
und Folge“ (GD Irrthümer 1, EA 37) – gerade dadurch, dass er von einer „Verwechslung“

574 Eine der im Lauftext präsentierten Lesart diametral entgegengesetzte Lektüre von GD Irrthümer
hat Philipp Mauch vorgelegt (vgl. Mauch 2009). Laut diesem habe Nietzsche in GD Irrthümer „mit der
Ablehnung der linearen Geschehensabfolge von Ursache und Wirkung ein kompatibles Argument
gegen die Transzendentalphilosophie vorgebracht“ (Mauch 2009, S. 161).
Problematisch an der per se beeindruckenden systematischen (Re-)Konstruktionsarbeit von Mauch
ist, dass in dieser eine bei Nietzsche sprachphilosophisch schwer haltbare Trennung zwischen Objekt-
und Metaebene vorausgesetzt wird. Es handelt sich dabei um die von Mauch primär gesetzte und nur
kurz in einer Fußnote verhandelte Problematik des Verhältnisses von ‚bewusst/unbewusst/unterbe-
wusst‘ in Nietzsches Spätwerk: „Der Einfluss des Unterbewussten auf das Bewusstsein ist dabei in der
Regel unbewusst, was bedeutet, dass das berechtigende Moment der Nietzscheschen Rückbeziehung
des Bewusstseins auf das Unterbewusste darin liegt, dass man zwar nicht ohne weiteres bewusst wissen
kann, was unterbewusst ist, sich aber vergewissern kann, was unbewusst ist. Dementsprechend findet
die Umdrehung von Oberfläche und Tiefe in Form der Bewusstwerdung des noch unbewussten Verhält-
nisses von Physiologie und Handlung statt.“ (Mauch 2009, S. 163, Fußnote 7)
Zwar ist Mauch darin Recht zu geben, dass sich Nietzsches Spätwerk an manchen seiner
zentralen Stellen an diversen Formen der Bewusstmachung abarbeitet und insofern immer noch dem
ansonsten häufig kritisierten sokratischen Intellektualismus folgt (vgl. Born 2010, S. 297), andererseits
übersieht Mauch jedoch, dass auch dieser Bewusstmachungsprozess selbst bereits als Folge eines –
um sich seiner Terminologie zu bedienen – ‚Unterbewussten‘ ausgewiesen wird, dass zum Beispiel in
GD Vernunft im idiosynkratischen Verhalten des selbst einen Bewusstmachungsprozess artikulieren-
den autodiegetischen Erzählers zum Ausdruck kommt. Die sich daraus ergebende selbstbezügliche
Konstellation verbietet es, sich daraus ergebende ‚Theorien‘ im traditionellen Sinne zu isolieren.
Dies gilt insbesondere für den von Mauch als derartige Theorie gelesenen letzten Abschnitt von
GD Irrthümer, der bekannterweise mit der für Nietzsches Spätwerk durchweg irritierenden Frage
eröffnet: „Was kann allein u n s r e Lehre sein?“ (GD Irrthümer 8, EA 49)
In dieser Frage ist die zuvor angesprochene Schleife nicht nur durch die Verwendung des
Personalpronomens „u n s r e “ in ihrer Selbstbezüglichkeit markiert, sondern durch dessen Sperrung
sogar graphematisch hervorgehoben. Im Werkkontext der Götzen-Dämmerung sind derartige Hervor-
hebungen von Personalpronomen zumeist autodeiktisch zu lesen, sodass auch die darauffolgende
Lehre selbst als Folge der niemals vollständig bewusstmachbaren Idiosynkrasien des hier erneut sich
des Pluralis modestiae bedienenden autodiegetischen Erzählers zu verstehen ist.
Mauchs Vernachlässigung dieser Selbstbezüglichkeit mindert jedoch keineswegs den Wert seiner
Herausarbeitung eines zum traditionellen Kausalitätskonzept alternativen Wirkungsmodells aus GD
Irrthümer, das mit dem in Nietzsches Spätwerk, insbesondere den Notaten im Nachlass, stark gemach-
ten Relationalismus durchweg kompatibel ist. Zu Nietzsches Relationalismus und dessen Verhältnis
zur Kausalität siehe insbesondere: Zittel 2011 [2000], S. 107ff.
244 2.2. Die Götzen-Dämmerung

spricht, das Kausalitätsprinzip implizit voraussetzt.575 Genau auf dieses Kapitel ver-
weist GD Vernunft 5 in der auf die soeben zitierten Sätze anschließenden Passage: „Am
Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist,
das w i r k t , — dass Wille ein V e r m ö g e n ist… Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort
ist…“ (GD Vernunft 5, EA 23)
Hier wird das bereits zuvor an den Anfang der in der „Sprach-Metaphysik“
tradierten Irrtümer gesetzte ‚Faktum‘, dass das frühe ‚Fetischwesen Mensch‘ den
Willen als die Ursache von etwaigen Wirkungen gesetzt habe, noch einmal bestätigt
und emphatisch als ein ‚grosses Verhängnis‘ ausgewiesen. Die dahinter stehende
Annahme, dass es sich beim Willen um ein „V e r m ö g e n “ handle, wird dann noch
einmal explizit durch den Verweis darauf, dass es sich bei diesem nur um ein „Wort“
handle, zurückgewiesen. Der Passus nimmt insofern die ausführlichere Kritik an einer
derartigen Willenskonzeption, wie sie dann vor allem in GD Irrthümer 3 geliefert wird,
vorweg. Letzterer Abschnitt nimmt eine Vielzahl der bereits in GD Vernunft 5 zur Kritik
an der in der Sprache eingeschriebenen Willensmetaphysik verwendeten ‚Argumente‘
wieder auf und integriert sie in die das ganze Kapitel charakterisierende kritische
Verschiebung traditioneller Kausalitätskonzepte. Die Konstanz dieser Motive wird
insbesondere in folgendem Passus ersichtlich:

Von diesen drei „inneren Thatsachen“, mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist
die erste und überzeugendste die vom W i l l e n a l s U r s a c h e ; die Conception eines Bewusst-
seins („Geistes“) als Ursache und später noch die des Ich (des „Subjekts“) als Ursache sind bloss
nachgeboren, nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als E m p i r i e …
Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute kein Wort mehr von dem Allen.
(GD Irrthümer 3, EA 40f.)

Auch hier wird abermals von der Annahme des Willens als Ursache auf die Existenz
des Ich als Subjekt geschlossen. Im Unterschied zu GD Vernunft 5 wird allerdings
dazwischen noch das Bewusstsein als Zwischenstufe dieses Projektionsprozesses
eingefügt. Im letzten Satz der zitierten Passage klingt dann implizit abermals das
sprachlich bedingte Fortleben dieser Übertragungen an, indem der Text dort besagte
Konzeptionen als „Wort[e]“ identifiziert, denen er nicht mehr glaube.576
In der Darlegung dieser Langzeitwirkung der in der Sprache fortwirkenden Feti-
sche ist die ‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 5 um einiges ausführlicher als der
letztendlich publizierte Text. In dieser folgt auf die auch in GD Vernunft 5 in leicht

575 Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 328–330, der in Betreff der in GD Irrthümer durchgeführten
Kritik auf deren intertextuelle Bezüge zu Harald Höffdings 1887 publizierte Psychologie in Umrissen auf
Grundlage der Erfahrung verweist und zugleich betont, dass Nietzsche vor seiner Höffding-Lektüre
durchweg „den Verzicht auf Kausalitätsdenken überhaupt erwogen“ (Sommer 2012, S. 330) habe.
576 Dass dennoch nach GD Irrthümer 3 „das umgangssprachliche und wissenschaftliche Gegenwarts-
vokabular für den Irrtum hochgradig anfällig“ (Sommer 2012, S. 336) bleibt, unterstreicht auch Som-
mer.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 245

überarbeiteter Form übernommene Feststellung von der Projektion des aus dem
Wirken des Willens abgeleiteten Seins auf die Dinge folgende, in der Handschrift
mehrfach überarbeitete und letztendlich durchgestrichene Passage, die hier in der
Fassung der Grundschicht wiedergegeben wird:

Wenn diese alten Weisen, wie die Eleaten unter den Griechen, eine so große Überredungskraft für
Jedermann hatt{en}, selbst noch für materialist. Physiker ( – Demokrit unterwirft sich der eleati-
schen Begriffsfixierung des Seienden, als er sein Atom erfand –), so wollen wir nicht vergessen,
wen sie für sich hatten, den Instinkt der Sprache, die sog. Vernunft. Diese glaubt an eine seiende
Welt, ihre Kategorien würden unanwendbar in einer Welt des absol. Werdens sein…: wir sind heute
in der That in der Schwierigkeit, keine Formeln mehr für unsere Conception des zur Hand zu haben
u. überall die alten Kategorien einschleppen zu müssen, um nur reden zu können. Das giebt derglei
chen beinahe lustige Quidproquos: so bedienen wir uns heute noch des Wortes ‚Ur-sache‘, haben
es aber seines Inhalts entleert, – u. ich fürchte, alle unsere Formeln bedienen sich des alten Wortes,
in einem Sinne, der vollkommen willkürlich ist (W II 5, S. 68, Z. 28–48 und Abb. 8a/b).

Hier werden in aller Deutlichkeit die Konsequenzen des am Anfang des Abschnittes
gesetzten Sprachschematismus, der hier beinahe zu einem Sprachdeterminismus
wird, anhand konkreter Beispiele aus der Philosophiegeschichte sowie der Gegenwart
noch einmal ausbuchstabiert: Die im Zuge des im Lauftext von GD Vernunft 5 voraus-
gehenden Sprachursprungsdiskurses entwickelte ‚These‘ von der Sedimentierung
frühgeschichtlicher Fetische der sich auf einer niedrigen Stufe des psychologischen
Schließens befindenden Menschen wird hier in die Rede von einem „Instinkt der
Sprache“ gefasst. Dieser Instinkt, zu dessen Präzisierung im Zuge einer Überarbeitung
noch die Bestimmung „den präexistenten Dogmatismus der Sprache“ (W II 5, S. 68, Z.
33 und Abb. 8a/b) beigefügt wurde, wird schon für die Seinsphilosophien der Vor-
sokratiker verantwortlich gemacht.
In Übereinstimmung mit der in GD Vernunft 5 gesetzten Notwendigkeit, durch
diesen Sprachschematismus zum „Irrthum[ ] n e c e s s i t i r t “ zu sein, werden in dieser
Variante – hier jedoch im Gegensatz zur publizierten Fassung, wo sich dies nur über
die Wahrnehmung der aus den besagten ‚Thesen‘ ergebenden Schleife erschießen
lässt, explizit – auch die Grundannahmen der in den vorausgehenden Abschnitten
erfolgenden Kritik der traditionellen Seinsphilosophien, welche in Richtung einer
Philosophie des reinen Werdens tendieren, sprachkritisch unterlaufen. Auch eine
solche Philosophie muss sich letztendlich der traditionellen und damit immer stati-
sche Ontologien fingierenden Sprache bedienen. Insofern ist auch die im Zuge einer
solchen Philosophie des Werdens vollzogene Kritik an einem traditionellen Ursachen-
Begriff nur schwer bis gar nicht vermittelbar, da dieser Begriff aufgrund der ihn
ausdrückenden Sprache stets jene Kausalketten propagieren wird, gegen welche sich
eine Resemantisierung besagten Terminus eigentlich wendet. Letztendlich ist also
auch in diesem Fall die ‚Vorstufe‘ expliziter in der Ausformulierung der Konsequen-
zen der auch im Lauftext den dort propagierten ‚Philosophemen‘ eingeschriebenen
Selbstbezüglichkeiten. Deren offensichtliche Verschleierung in der publizierten Fas-
sung spricht für das auch in Ecce homo als eine zentrale Wirkungsabsicht der Götzen-
246 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Dämmerung angeführte Telos, mit diesem Text einen neuen „Maassstab für ‚Wahr-
heiten‘“ (EH GD 2, KSA 6, S. 355) zu setzen. Dass auch diese „‚Wahrheiten‘“ zwischen
Gänsefüßchen stehen, wird in der Götzen-Dämmerung selbst auf eine ebenso subtile
Art und Weise vermittelt wie im nachträglichen Schreiben über deren „‚Wahrheiten‘“
selbst. Eine offensichtlichere Explikation dieses Sachverhaltes, wie er noch in der
‚Vorstufe‘ zu finden ist, würde der Absicht, auf ihren Spuren „vorzuschreibende Wege
der Cultur“ (EH GD 2, KSA 6, S. 355) zu begehen, kaum zweckdienlich sein.
Nach der soeben nachzeichneten Zurückweisung der Konzeption des Willens als
Ursache setzt GD Vernunft 5 zu einer kurzen Historie der weiteren geistesgeschicht-
lichen Folgen der in der Sprache weiterwirkenden frühesten Psychologie des ‚Fetisch-
wesens Mensch‘ an, in der die aus GD Vernunft 4 bekannte Kritik an statisch-meta-
physischen Seins-Konzeptionen fortgeführt wird:

Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die S i c h e r h e i t , die subjekti-
ve G e w i s s h e i t in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung
zum Bewusstsein: sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, — die
ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. W o h e r a l s o s t a m m e n s i e ? — Und in Indien
wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht: „wir müssen schon einmal in einer
höheren Welt heimisch gewesen sein (— statt i n e i n e r s e h r v i e l n i e d e r e n : was die Wahrheit
gewesen wäre!), wir müssen göttlich gewesen sein, d e n n wir haben die Vernunft!“… In der That,
Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum
Beispiel von den Eleaten formulirt wurde: er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir
sprechen! — Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Verführung ihres Seins-Begriffs:
Demokrit unter Anderen, als er sein A t o m erfand… (GD Vernunft 5, EA 23f.)

Aus dem Zusammenspiel der Eröffnung dieser Passage mit der zeitlich vagen Bestim-
mung des „[s]ehr viel später“ und der dann im weiteren Verlauf des Passus erfolgen-
den Anspielung auf die Seelenwanderung, wie sie unter anderem von Platon im
Phaidon und Menon vorgestellt wurde,577 bestätigt sich noch einmal der spekulative
Charakter des diesen Sätzen vorausgehenden Sprachursprungsdiskurses. Dieser wird
narrativ in einer fernen Vorzeit verankert, was seine ihm bereits zuvor zugeschriebene
Nähe zum Mythos abermals unterstreicht. Zugleich betont diese direkte Anbindung
der nun einsetzenden Narratio über die Entwicklung des frühen und klassischen grie-
chischen Denkens den spekulativen Charakter derselben. Sie kann als eine Art von
‚Minimal-Genealogie‘ der Fortschreibung des Vernunft-Vorurteils gelesen werden.
Der erste Satz selbst nimmt dabei jene von Nietzsche bereits in seinem Fragment
gebliebenen Text „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ vorgebrachte
Kritik an der Philosophie des Parmenides wieder auf, ohne diesen dabei jedoch beim
Namen zu nennen. Bereits in PHG 10 konstatierte Nietzsche:

In der Philosophie des Parmenides präludirt das Thema der Ontologie. Die Erfahrung bot ihm
nirgends ein Sein, wie er es sich dachte, aber daraus, daß er es denken konnte, erschloß er, daß

577 Vgl. Sommer 2012, S. 300.


2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 247

es existiren müsse: ein Schluß, der auf der Voraussetzung beruht, daß wir ein Organ der Erkennt-
niß haben, das in’s Wesen der Dinge reicht und unabhängig von der Erfahrung ist. Der Stoff
unseres Denkens ist nach Parmenides gar nicht in der Anschauung vorhanden, sondern wird
anderswoher hinzugebracht, aus einer außersinnlichen Welt, zu der wir durch das Denken einen
direkten Zugang haben. (PHG 10, KSA 1, S. 845)

Den Weg zu dieser „außersinnlichen Welt“ hat Parmenides in seinem Lehrgedicht Von
der Natur der Göttin Dike in den Mund gelegt. Damit ist zugleich die Beantwortung
jener Frage vorgezeichnet, die in GD Vernunft 5 in Anknüpfung an die nicht eindeutig
als Parmenides-Periphrase bestimmbare Darstellung der Verfestigung der Vernunft-
Kategorien im philosophischen Denken stellt: die Frage nach deren Ursprung. Die vom
Text zwischen Anführungszeichen gesetzte und somit als direkte Figurenrede geliefer-
te Antwort wird abermals mit dem Verweis gekennzeichnet, dass es sich bei ihr um
einen sowohl in Indien als auch in Griechenland begangenen „Fehlgriff“ handle. Die
Antwort selbst führt die sowohl bei Pythagoras und Platon als auch in den Veden
überlieferten Reinkarnationslehren zusammen und paraphrasiert dabei einen von
Kebes dem platonischen Sokrates in dessen Dialog Phaidon zur Bestätigung von
dessen dort präsentierter Seelenwanderungslehre gemachten Einwurf:

Und eben das auch, sprach Kebes einfallend, nach jenem Satz, o Sokrates, wenn er richtig ist,
den du oft vorzutragen pflegtest, daß unser Lernen nichts anders ist als Wiedererinnerung, und
daß wir deshalb notwendig in einer früheren Zeit gelernt haben müßten, wessen wir uns wieder-
erinnern, und daß dies unmöglich wäre, wenn unsere Seele nicht schon war, ehe sie in diese
menschliche Gestalt kam; so daß auch hiernach die Seele etwas Unsterbliches sein muß.578

GD Vernunft 5 steigert diese von Sokrates und seinen Dialogpartnern entwickelte


Konzeption sowohl rhetorisch durch die Verwendung der Exclamatio als auch inhalt-
lich durch die Gleichsetzung des Menschen mit dem Göttlichen und führt so die
vermeintliche Platon-Periphrase in die Nähe einer Persiflage. Dass diese nicht voll-
kommen ins Satirische kippt, wird verhindert durch den in Parenthese gesetzten und
die direkte Rede unterbrechenden kritischen Einwurf, der sich erneut einer Umkeh-
rungsfigur bedient. Dieser unterstreicht apodiktisch, dass es sich bei dem damals aus
dem Glauben an die Vernunft entwickelten Glauben an die Seelenwanderung bloß um
einen Ausdruck davon handelt, dass die diesen Glauben propagierenden Denker „i n
e i n e r s e h r v i e l n i e d e r e n “ (GD Vernunft 5, EA 23) Welt zuhause gewesen seien.
Das Bild der ‚niederen Welt‘ paraphrasiert so ein weiteres Mal die das ganze Kapitel
charakterisierende Einsicht, dass die zentralen Lehren der Philosophen idiosynkrati-
schen, d.h. also physiologischen, Ursprunges sind.
Das mit dieser ‚These‘ einhergehende, eigentlich zentrale sprachphilosophische
‚Argument‘ von GD Vernunft – sprich: die ‚These‘, dass die indogermanischen Sprachen
durch ihre Ausrichtung am Substantiv und der damit einhergehenden Verding-

578 Platon 1982, S. 751 [= Phaidon 72c-71a].


248 2.2. Die Götzen-Dämmerung

lichungstendenz Veränderungen nur mehr sekundär, nämlich über den Gebrauch von
Verben, ausdrücken können und dieses grammatische Schema letztendlich onto-
logisieren – wird an dieser Stelle von GD Vernunft 5 bereits schlichtweg vorausgesetzt.
Weitaus später als in der zuvor behandelten Variante der ‚Vorstufe‘ aus dem
Arbeitsheft W II 5 – nämlich im Anschluss an besagte direkte Rede – identifiziert der
Text dann erneut die Protagonisten des von Aristoteles später kritisierten Schlusses
vom Sein auf die Existenz als die Eleaten und bestätigt somit die zuvor bereits
freigelegte zentrale Rolle des Parmenides in der in GD Vernunft erfolgenden Kritik am
„Irrthum vom Sein“ (GD Vernunft 5, EA 23). Im zweiten Satzkolon der solcherart
erfolgenden Fortführung der Kritik an den Eleaten wird noch einmal direkt auf das
zentrale sprachphilosophische ‚Argument‘ aus GD Vernunft angespielt – der Irrtum
des Seins „hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für sich, den wir sprechen“ (GD
Vernunft 5, EA 23) –, ohne es dabei noch einmal konkret zu explizieren. Dasselbe gilt
für die Kritik an dem zweiten hier namentlich genannten griechischen Philosophen,
Demokrit, bei der es sich erneut um eine stark verkürzte Darstellung eines bei
Brochard ausführlicher behandelten Sachverhaltes handelt:

Comme Parménide, Démocrite oppose la vérité à l’opinion et déclare que ce qui apparaît aux sens
n’existe pas réellement. Ce qui existe, ce sont uniquement les atomes; le chaud et le froid, le doux
et l’amer, la couleur n’ont pas de réalité. „La vérité, dit-il encore, est profondément cachée“, et il
insiste tellement sur ce point, que souvent on l’a pris pour un sceptique.579

Im Gegensatz zum Hypotext des Franzosen beschränkt sich GD Vernunft 5 auf die
Übernahme der Zusammenführung von Parmenides und Demokrit und überträgt
zugleich den zentralen Passus des französischen Textes – „Ce qui existe, ce sont
uniquement les atomes“ – in seine eigene stark kritisch gefärbte Begrifflichkeit,
spricht die Parallelstelle doch davon, dass auch die Gegner der Eleaten „der Ver-
führung ihres Seins-Begriffs“ unterlegen seien.
Dass es sich bei dieser Verführung eindeutig um eine vonseiten der Sprache
handelt, geht aus den abschließenden beiden Sätzen des Abschnittes hervor:

Die „Vernunft“ in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir
werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben… (GD Vernunft 5, EA 24)

Die durch den gesamten Abschnitt aus einer sprachphilosophischen Perspektive kriti-
sierte Vernunft wird in dem ersten der beiden zitierten Sätze erstmals im Lauftext von

579 Brochard 1887, S. 301 zitiert nach Sommer 2012, S. 301. – Sommer übersetzt die Stelle wie folgt:
„Wie Parmenides stellt auch Demokrit die Wahrheit der Meinung entgegen und erklärt, dass das, was
die Sinne wahrnehmen, nicht wirklich existiert. Das, was existiert, sind nur die Atome; das Kalte und
das Warme, das Süße und das Bittere, die Farben haben keine Realität. ‚Die Wahrheit‘, sagt er
außerdem, ‚ist tief versteckt‘, und in diesem Punkt insistiert er so stark, dass man ihn oft für einen
Skeptiker gehalten hat.“ (Sommer 2012, S. 301)
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 249

GD Vernunft 5 zwischen Anführungszeichen gesetzt und dann in der emphatischen


Exclamatio des zweiten Satzkolons umgewertet: Der in der Metapher von der „alte[n]
betrügerische[n] Weibsperson“ endgültig seiner Uneigentlichkeit überführte Begriff
steht hier nicht mehr wie noch im zeitgenössischen allgemeinen Sprachgebrauch für
„die den Menschen vom Tier unterscheidende höhere geistige Kraft, also das Vermögen
der denkenden Verarbeitung äußerer Eindrücke, der Bildung von Begriffen und Schlüs-
sen“580, sondern wird in Anknüpfung an die zuvor erfolgten ‚symptomatologischen‘
und sprachphilosophischen Kritiken durch die rhetorische Trope als Ursprung und
Ursache jenes ontologisch-moralischen Betruges ausgewiesen, der die abendländische
Geistesgeschichte bis in die Gegenwart Nietzsches geprägt habe. Die solcherart noch
einmal auf den Punkt gebrachte Tendenz der indogermanischen Sprachen, die Ver-
nunft-Vorurteile in ihrer grammatikalischen Struktur zu tradieren, fasst der Text dann
in seinem letzten Satz in ein direkt an den autodiegetischen Erzähler gebundenes,
prägnantes und mittlerweile berühmtes Bild: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los,
weil wir noch an die Grammatik glauben…“ (GD Vernunft 5, EA 24) Hier ist die Sprach-
kritik endgültig im Hafen der sprachphilosophisch bedingten Skepsis angelangt. Ein
Ausbruch aus den uns leitenden sprachlich-grammatikalischen Schemata und der
durch diese überlieferten Metaphysik scheint kaum mehr möglich. An die Stelle eines
solchen Ausbruches setzt GD Vernunft 5 deren Vorführung, die im Zuge der dabei
erfolgenden Rückfaltung besagter ‚These‘ auf sich selbst in eine reflexive Schleife führt,
welche durch den sie potentiell nachvollziehenden Leser in Richtung jenes Werdens
weist, das der Text selbst in der traditionellen Sprache, d.h. ebenfalls zwischen Anfüh-
rungszeichen, propagiert.

2.2.3.6. GD „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 6

Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen
zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus.
E r s t e r S a t z . Die Gründe, darauf hin „diese“ Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begrün-
den vielmehr deren Realität, — eine a n d r e Art Realität ist absolut unnachweisbar.
Z w e i t e r S a t z . Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein“ der Dinge gegeben hat, sind
die Kennzeichen des Nicht-Seins, des N i c h t s , — man hat die „wahre Welt“ aus dem Wider-
spruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss
eine m o r a l i s c h - o p t i s c h e Täuschung ist.
D r i t t e r S a t z . Von einer „andren“ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt,
dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns
mächtig ist: im letzteren Falle r ä c h e n wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines „ande-
ren“, eines „besseren“ Lebens.
V i e r t e r S a t z . Die Welt scheiden in eine „wahre“ und eine „scheinbare“, sei es in der Art des
Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine

580 Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905–1909, Bd. 20, S. 91.


250 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Suggestion der décadence, — ein Symptom n i e d e r g e h e n d e n Lebens… Dass der Künstler den
Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn „der Schein“
bedeutet hier die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur… Der
tragische Künstler ist k e i n Pessimist, — er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furcht-
baren selbst, er ist d i o n y s i s c h … (GD Vernunft 6, EA 24–25)

GD Vernunft 6 zieht abschließend die Konsequenzen aus den in den fünf voraus-
gehenden Abschnitten durchgeführten Reflexionen. Dabei wird bereits im ersten Satz
die anhand von GD Vernunft 5 freigelegte und im ganzen Kapitel aufgrund der auto-
diegetischen Erzählweise autodeiktisch markierte Selbstbezüglichkeit der im Zuge des
Kapitels entwickelten ‚Thesen‘ nicht nur abermals vorgeführt, sondern sogar partiell
expliziert: „Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue
Einsicht in vier Thesen zusammendränge: ich erleichtere damit das Verstehen, ich
fordere damit den Widerspruch heraus.“ (GD Vernunft 6, EA 24)
Diese Abschnittseröffnung, die in der rein thetischen ‚Vorstufe‘ noch fehlt
(vgl. W II 5, S. 37 und Abb. 9a/b), bindet die im Anschluss daran präsentierten ‚Thesen‘
in für GD Vernunft mittlerweile nun schon bekannter Manier wieder direkt an den
autodiegetischen Erzähler an, was zu einer Übertragung der im Zuge des close readings
von GD Vernunft 5 rekonstruierten Schleife auf die Figurenkonstitution in GD Vernunft
6 führt.
Der sich solcherart aus dem ersten Kolon des Eröffnungssatzes für die in GD
Vernunft 6 vorgestellten vier Thesen ergebende Idiosynkrasie-Verdacht wird nach
dem Semikolon bekräftigt. Dort behauptet das Sprecher-Ich, dass es durch die theti-
sche Präsentation seiner „so wesentliche[n], so neue[n] Einsicht“ deren Verständnis
erleichtern möchte. Eine derartige auf ein leichtes Verstehen hinauslaufende Präsen-
tationsform steht quer zu den im Kapitel 2.1. nachgezeichneten, Nietzsches Post-
Zarathustra-Schriften durchziehenden Klagen über die Unmöglichkeit, verstanden zu
werden. Auch der in GD Vernunft 5 noch einmal stark gemachte Sprachschematismus
lässt eine leicht verständliche Präsentation neuer Einsichten, die sich primär gegen
die in der Sprache tradierte Metaphysik wenden, als kaum umsetzbar erscheinen.
Noch unwahrscheinlicher mutet die Realisation einer derartigen Präsentation in
Thesenform an, die sich als Thesen notwendigerweise der Standardpräsentationsform
propositionaler Aussagen bedienen müssen.
Auf die sich daraus ergebende Frage, warum der Text dennoch auf eine Präsenta-
tion der neuen Einsichten in Thesenform zurückgreift und solcherart mit der das
restliche Kapitel charakterisierenden, stark auf rhetorische Tropen und Figuren zu-
rückgreifenden Schreibweise bricht, gibt dann das letzte Kolon des Eingangssatzes
eine Antwort: „ich fordere damit den Widerspruch heraus“ (GD Vernunft 6, EA 24).
Telos der Darstellung der neuen Einsichten in Thesenform ist also nicht eine
Reinskription des autodiegetischen Erzählers in die von diesem zuvor scharf kritisier-
te traditionelle philosophische Diskursform, sondern die Provokation von deren Ver-
tretern durch die Einnahme eindeutiger Positionen. Der Text setzt derartig die
starker – d.h. vor allem thetischer – Standpunkte bedürfende und bereits im Vorwort
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 251

angekündigte Kriegspraxis weiter fort und verlässt solcherart die in den vorausgehen-
den Abschnitten zwischen Parodie und Polemik changierende Darstellungsweise in
GD Vernunft 6 in Richtung der Letzteren. Dabei wird jedoch auf das ansonsten pole-
mische Texte kennzeichnende Moment der Aggressivität fast vollständig verzichtet
und ausschließlich deren zweites zentrales Charakteristikum – Polemiken bilden
häufig den wesentlichen „Bestandteil eines meist personalisierten Streites“581 –, wie
der Einleitungssatz belegt, umgesetzt. Genau in der temporären Einnahme derartig
stark personalisierter Positionen scheint auch das bereits im Vorwort angesprochene
Erholungs- und Genesungspotential der Götzen-Dämmerung zu liegen, erlauben sol-
che Positionen doch den vom Text selbst ansonsten sowohl propagierten als auch qua
Darstellungsform vorgeführten Flux des Werdens für kurze Zeit stillzustellen.
Die erste These lautet dann: „E r s t e r S a t z . Die Gründe, darauf hin ‚diese‘ Welt
als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, — eine a n -
d r e Art Realität ist absolut unnachweisbar.“ (GD Vernunft 6, EA 24)
Diese These knüpft direkt an die bereits am Ende von GD Vernunft 2 vorgebrachte
Position an, invertiert sie jedoch in der Darstellung. Ist in GD Vernunft 2 als Abschluss
der sensualistischen Kritik an den Eleaten und Heraklit noch davon die Rede, dass die
„wahre Welt“ eine „h i n z u g e l o g e n [ e ] “ Welt sei, die vermeintlich „scheinbare“ hin-
gegen die einzig gültige, wird hier nun die Kritik an „‚dieser‘ Welt“ gegen deren
Kritiker gewendet: Im Gegensatz zur Verwendung von „‚scheinbar[ ]‘“ in GD Vernunft
2, das dort in Anknüpfung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch das sinnliche
Erscheinen bezeichnet, ist im gegebenen Fall das nicht zwischen Anführungszeichen
gesetzte „scheinbar“ im Sinne von ‚irrtümlich‘ bzw. ‚falsch‘ zu verstehen.582 Mit den
am Satzanfang genannten „Gründe[n]“ sind dementsprechend genau die von den
Eleaten und Heraklit gegen die Sinne vorgebrachten Gründe gemeint, welche aus der
Sicht der Eleaten das Sein, aus derjenigen Heraklits das Werden verstellen. Insofern
ist es nur konsequent, dass in der ersten These ‚diese‘ in „‚diese‘ Welt“ zwischen
Gänsefüßchen steht, da aus der hier propagierten Perspektive, die jeglichen ontologi-
schen Dualismus hinter sich lässt, es einerseits nicht mehr notwendig ist, deiktisch
zwischen verschiedenen Welten zu unterscheiden und es andererseits aufgrund der
idiosynkratischen Einbindung des Sprecher-Ichs in eben ‚diese‘ Welt ihm auch gar
nicht mehr möglich ist, auf besagte Welt aus einem jenseitigen Überblicksstandpunkt
zu ‚zeigen‘, denn: „eine a n d r e Art Realität ist absolut unnachweisbar“ (GD Vernunft
6, EA 24). Die zweite These führt diese Überlegungen fort:

581 Schleichl 2007, S. 117.


582 In der ‚Vorstufe‘ steht auch das ‚scheinbar‘ des ersten Satzes zwischen Anführungszeichen (vgl.
W II 5, S. 37, Z. 28 und Abb. 9a/b), was zu einer eigentümlichen Verdoppelung in der Zurückweisung
der vermeintlichen Scheinbarkeit führt. Insbesondere im Vergleich mit GD Vernunft 2, wo die Anfüh-
rungszeichen gerade eine Bedeutungsverschiebung des Adjektivs kennzeichnen, würde die erneute
Setzung derselben in GD Vernunft 6 stark irritieren.
252 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Z w e i t e r S a t z . Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein“ der Dinge gegeben hat, sind
die Kennzeichen des Nicht-Seins, des N i c h t s , — man hat die „wahre Welt“ aus dem Wider-
spruch zur wirklichen Welt aufgebaut: eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss
eine m o r a l i s c h - o p t i s c h e Täuschung ist. (GD Vernunft 6, EA 24)

Auch hier scheint der Text noch einmal auf die Philosophie der Eleaten anzuspielen,
deren zentraler Repräsentant Parmenides das im ersten Satz angesprochene „wahre[ ]
Sein“, in Nietzsches Worten aus dem Jahre 1872, wie folgt bestimmt hatte:

Das, was wahrhaft ist, muß in ewiger Gegenwart sein, von ihm kann nicht gesagt werden „es
war“ „es wird sein“. Das Seiende kann nicht geworden sein: denn woraus hätte es werden
können? […] Das Seiende ist untheilbar, denn wo ist die zweite Macht, die es theilen sollte? Es ist
unbeweglich, denn wohin sollte es sich bewegen? Es kann weder unendlich groß, noch unend-
lich klein sein, denn es ist vollendet und eine vollendet gegebene Unendlichkeit ist ein Wider-
spruch. So schwebt es, begrenzt, vollendet, unbeweglich, überall im Gleichgewicht, in jedem
Punkte gleich vollkommen, wie eine Kugel, aber nicht in einem Raume: denn sonst wäre dieser
Raum ein zweites Seiendes. Es kann aber nicht mehrere Seiende geben, denn um sie zu trennen
müßte etwas da sein, das nicht seiend wäre: eine Annahme, die sich selbst aufhebt. So giebt es
nur die ewige Einheit. (PHG 10, KSA 1, S. 842f.)

Dieses Seins-Verständnis, dessen grundlegendes Problem in der schon von Aristoteles


kritisierten Tatsache liegt, dass es nicht zwischen dem ‚ist‘ als Verb der Existenz und
dem kopulativen ‚ist‘ der Prädikation unterscheidet, wird in der zweiten These ver-
allgemeinernd auf sämtliche statisch-ontologischen Metaphysiken der abendlän-
dischen Philosophie übertragen und zurückgewiesen. Für die Annahme, dass es sich
bei diesem Verständnis von Parmenides’ Ontologie um das Modell des hier kritisierten
Seinsbegriffes handelt, spricht insbesondere die nach dem Geviertstrich vorgebrachte
‚genealogische‘ These, dass „man die ‚wahre Welt‘ aus dem Widerspruch zur wirk-
lichen Welt aufgebaut“ (GD Vernunft 6, EA 24) habe. Ähnlich wird schon 1872 in den
Abschnitten 9 bis 11 von „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen“ das
ontologische Denken Parmenides’ in seiner Entstehung rekonstruiert (vgl. PHG 9–11,
KSA 1, S. 835–847). Dass die Kritik jedoch nicht bei diesem Modell stehen bleibt, zeigt
das letzte auf das Semikolon folgende Kolon der zweiten These, in welchem die
„‚wahre Welt‘“ als „eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine m o r a -
l i s c h - o p t i s c h e Täuschung ist“ (GD Vernunft 6, EA 24), charakterisiert wird.583 Auch

583 Hier ist partiell Andreas Urs Sommer zu widersprechen, der den letzten Teilsatz der zweiten These
zur Erklärung der Zurückweisung auch der ‚scheinbaren Welt‘ in GD Fabel 6 heranzieht und dadurch
unreflektiert einen intratextuellen Bezug schafft, der gerade in Anbetracht der verschiedenen Bedeu-
tungsfelder, die der Begriff der ‚scheinbaren Welt‘ in der Götzen-Dämmerung umfasst, nicht unpro-
blematisch erscheint. Sommer schreibt diesbezüglich: „Bei der scheinbaren Welt handle es sich um
eine ‚m o r a l i s c h - o p t i s c h e Täuschung‘, um ein Restprodukt bei der Produktion einer wahren,
jenseitigen Welt. Eine scheinbare Welt gibt es N.s Kritik zufolge aber ebensowenig wie eine wahre,
sondern nur die eine, wirkliche Welt.“ (Sommer 2012, S. 311)
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 253

hier bedeutet „scheinbar[ ]“ wieder ‚irrtümlich‘ bzw. ‚falsch‘. Der Text beschränkt sich
insofern nicht bloß auf die Konstatierung dieser Falschheit, sondern erklärt sie mit-
hilfe einer Metapher als „m o r a l i s c h - o p t i s c h e Täuschung“. Durch diese Erklärung
kommt es zu einer direkten Anbindung der Erkenntniskritik an die ‚symptomatologi-
sche‘ Heuristik der Götzen-Dämmerung, wird derartig doch das philosophische Kon-
zept einer ‚wahren Welt‘ als Symptom einer bestimmten Moral und in Folge dessen als
Täuschung ausgewiesen. Während derartig auch die zweite These, wie schon die
erste, noch einmal jegliche dualistische Seins-Metaphysik zurückweist und dieser die
potentiell holistisch zu verstehende „wirkliche[ ] Welt“ entgegenstellt,584 vertieft die

In GD Vernunft 6 dient die Rede von der „m o r a l i s c h - o p t i s c h e [ n ] Täuschung“ jedoch der näheren
Bestimmung der „‚wahre[n] Welt‘“, wie sie die Seinsphilosophen verstanden haben. Zur Deutung von
GD Fabel im Kontext der auch die vorliegende Studie leitenden lektüremthodologischen Prämissen
siehe Pichler 2013.
584 Werkimmanent ist nicht eindeutig festzustellen, welches Weltverständnis – d.h. auch: welche
Ontologie – die autodeiktische Darstellungsweise impliziert, was zahlreiche Interpreten dazu verleitet
hat, statt sich der mühsamen Rekonstruktion der ‚implizierten Welt‘ anheimzugeben, diese schlicht-
weg durch den willkürlichen Rückgriff auf Passagen aus Nietzsches Nachlass zu rekonstruieren. In
Anbetracht der Tatsache, dass in Nietzsches Nachlass jedoch nicht ausschließlich an einem kohären-
ten ‚Weltentwurf‘ gearbeitet wurde, sondern zahlreiche der handschriftlichen Entwürfe auch in ihren
‚Weltentwürfen‘ stark voneinander abweichen und solcherart einen Moment eines höchst experimen-
tellen Schreib- und Denkprozesses bilden, welcher neben dem rein philologischen Tatbestand, dass es
sich bei den Handschriften um teilweise unabgeschlossene ‚Texte‘ handelt, auch inhaltlich deren
Entwurfscharakter unterstreicht, erscheint ein derartiges Vorgehen als unzulässig.
Versucht man sich dennoch an einer derartig vorläufigen und ‚textologisch‘ höchst problemati-
schen Spekulation über das in der GD implizierte ‚Weltverständnis‘, hat man primär von den Grund-
annahmen des in der Autodeixis vorgeführten Persönlichkeitskonzeptes auszugehen: Dieses kenn-
zeichnet sich insbesondere durch die Vorführung multipler und nicht vollständig bewusstmachbarer
Bedingtheiten der stets höchst individuellen Denk- und Reaktionsweisen einer bestimmten Person.
Eine zentrale Rolle bei der Bestimmung der sich derartig temporär ‚konstituierenden‘ Persönlichkeiten
spielen die ‚Grenz-Metaphern‘ ‚Instinkt‘ und ‚Affekt‘, mit welchen auf das komplexe, dem Bewusstsein
vorausgehende Zusammenspiel eines sprachlich nicht vollständig fassbaren Geschehens verwiesen
wird. Dieses Geschehen scheint sich nicht auf das vermeintliche ‚Individuum‘ zu beschränken,
sondern von der dieses umgebenden Welt stark mitbeeinflusst zu sein. In Anbetracht der Tatsache,
dass sich dieses ‚Geschehen‘ jedoch potentiell jenseits des sprachlich Erfassbaren bewegt und nur
mehr ‚symptomatologisch‘ gedeutet werden kann, wird jeder Deskriptionsversuch desselben zur
bloßen Spekulation. Die in solchen Spekulationen beschriebene ‚Welt‘ ähnelt in ihrem epistemologi-
schen Status einem philologisch aus unvollständig überlieferten antiken Handschriften konstituierten
Text (vgl. Benne 2005). Zugleich sind solche Spekulationen eingedenk der im Zuge der Lektüre von GD
Vernunft nachgewiesenen Schleife selbst bereits Ausdruck eines bestimmten Leibgeschehens und
dadurch partiell gebrochen. Auf dieser Folie sind dann auch die im Umfeld der ‚Vorstufen‘ der Götzen-
Dämmerung im Arbeitsheft W II 5 zu findenden und mit den in GD Vernunft 6 verwandten ‚Welt-
Entwürfe‘ zu deuten, dessen bekanntester sich auf der Seite 128 besagten Heftes findet (vgl. W II 5,
S. 128, Z. 2–52). In diesem Entwurf scheint die Verwendung des Begriffs der ‚Scheinbarkeit‘, der in
dieser Aufzeichnung nicht im Sinne von ‚irrtümlich‘ bzw. ‚falsch‘ misszuverstehen ist, schon die in GD
Vernunft explizit verhandelte sprachphilosophische Problematik eingeschrieben zu sein.
254 2.2. Die Götzen-Dämmerung

dritte These die bereits in der zweiten wiederaufgenommene ‚symptomatologische‘


Kritik der Entstehung derartiger Weltauslegungen:585

D r i t t e r S a t z . Von einer „andren“ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt,
dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns
mächtig ist: im letzteren Falle r ä c h e n wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines „ande-
ren“, eines „besseren“ Lebens. (GD Vernunft 6, EA 24)

Das schon in GD Vernunft 1 als lebensgefährlich ausgewiesene und nun diffamierend


als „fabeln“ bezeichnete Sprechen der Philosophen von einer „‚andren‘ Welt“ wird hier
nun als Ausdruck von deren lebensverneinender Grundkonstitution gekennzeichnet.
Indem diese ihrem „Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Le-
bens“ (GD Vernunft 6, EA 24) folgen, bestätigt sich deren bereits im bisherigen Verlauf
des Kapitels offensichtlich gewordene Übereinstimmung in physiologicis. Derartig wer-
den sie zugleich der Durchführung jener problematischen Praxis überführt, die bereits
in GD Sokrates 2 als Ausdruck eines Mangels an Weisheit charakterisiert wird: des
Versuches, den „W e r t h d e s L e b e n s “ abzuschätzen (GD Sokrates 2, EA 10f.).
Die von den solcherart als décadents überführten Philosophen propagierte „Phan-
tasmagorie eines ‚anderen‘, eines ‚besseren‘ Lebens“ (GD Vernunft 6, EA 24) wird dann
im letzten Satz der dritten These noch als deren ‚Rache am Leben‘ ausgewiesen. Auf-
fällig an diesem Satzkolon ist, dass dessen Subjekt, das in der ersten Person Plural steht
(‚wir‘), potentiell den autodiegetischen Erzähler in die Gruppe der sich am Leben
rächenden Philosophen miteinschließt. Hier scheint es sich allerdings um eine iro-

585 Auch an diesem Punkt ist Sommer zu widersprechen, der in Bezug auf die mit der ‚symptomatologi-
schen‘ Heuristik meist einhergehenden décadence-Problematik in Hinblick auf GD Vernunft feststellt:
„Während die Abschnitte 1 bis 5 dieses Kapitels die Struktur und das Zustandekommen des Irrtums einer
wahren Welt und der Vernunft als ihrer Garantin erläutert haben und die dahinterstehenden Beweg-
gründe weitgehend ausklammern, wird hier ein markantes Interesse hinter dieser Erfindung einer wah-
ren, vernünftigen, anderen Welt dingfest gemacht, nämlich das Ressentiment gegen das Leben, dessen
Verneinung aus Frustration. Diese Erklärung fügt das ganze Kapitel […] in den Rahmen der Dekadenz-
und Nihilismuskritik ein, die ein leitendes Thema von GD insgesamt darstellt.“ (Sommer 2012, S. 302)
Wie bereits zusammenfassend im Zuge der Lektüre von GD Vernunft 5 gezeigt worden ist, kommt es
im ganzen Kapitel von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ zu einer innigen Verwindung der selbst
idiosynkratischen Kritik an den idiosynkratischen und dadurch potentiell dekadenten Ursprüngen der
bisherigen Philosophen mit der Sprachkritik von GD Vernunft 5 selbst und nicht erst – wie Sommer hier
andeutet – im dritten Satz von GD Vernunft 6. Auch die von Sommer konstatierte Spannung zwischen
der mehr auf die lebensfeindliche Motivation der Philosophen ausgerichteten Kritik in GD Vernunft 1–4
und derselben Philosoph(i)en sprachphilosophische Zurückweisung in GD Vernunft 5 (vgl. Sommer
2012, S. 302f.) verschwindet, wenn man bedenkt, dass auch schon den in GD Vernunft 1–4 charakteri-
sierten Philosophen die in GD Vernunft 5 vorgebrachte Einsicht in den Sprachschematismus offen
gestanden hätte. Insofern stehen die beiden in GD Vernunft vorherrschenden Motive, welche zu der in
GD Vernunft 6 noch einmal kritisierten Setzung einer jenseitigen, „wahren Welt“ geführt haben, nicht so
sehr im Widerspruch miteinander, sondern erscheinen vielmehr als zwei Leitmotive eines komplexen,
auf die Philosophiegeschichte zurückgreifenden Narrativs.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 255

nische Verwendung des in GD Vernunft mehrfach belegten Pluralis modestiae zu


handeln, der gerade in seiner ironischen Verwendung noch stärker die Opposition
zwischen dem Sprecher-Ich und den in der dritten These erneut ‚symptomatologisch‘
kritisierten Philosophen hervortreten lässt.586
Der erste Teil der vierten These führt dann die in der dritten These vorherrschende
décadence-Thematik weiter:

V i e r t e r S a t z . Die Welt scheiden in eine „wahre“ und eine „scheinbare“, sei es in der Art des
Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines h i n t e r l i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine
Suggestion der décadence, — ein Symptom n i e d e r g e h e n d e n Lebens… (GD Vernunft 6, EA 25)

Der erste Satz der vierten These von GD Vernunft 6 scheint insgeheim die Summe der bis
zu diesem Punkt in der Götzen-Dämmerung erfolgten Vernunft-Kritik zu ziehen: Steht
nämlich in GD Sokrates das anhand der zwischen Individuum und Typus synekdo-
cheisch changierenden literarischen Figur des Sokrates exemplifizierte Heraufkommen
des dort zugleich als notwendige Folge des physiologischen Niederganges gedeuteten
unbedingten Vernunft-Glaubens im Zentrum des Interesses der sich derartig autodeik-
tisch profilierenden und sich der Symptomatologie als kritische Heuristik bedienenden
sowie in der Position des Sprecher-Ichs kulminierenden Gegenposition, überträgt GD
Vernunft diese Kritik auf ‚die Philosophen‘ und deren grundlegenden „Mangel an
historischem Sinn“ (GD Vernunft 1, EA 18), um sie gegen Ende des Kapitels – in GD
Vernunft 5 – durch eine sprachphilosophische Kritik noch weiter zu vertiefen. Die im
oben zitierten Satz erfolgende Charakterisierung des von den solcherart durch das
ganze Kapitel kritisierten Philosophen gesetzten ontologischen Dualismus als „Sugges-
tion der décadence“ überführt so letztendlich sämtliche bisherige abendländische
Metaphysik als décadence-Phänomen, deutet sie – wie es am Ende des Satzes heißt – als
„ein Symptom n i e d e r g e h e n d e n Lebens…“ (GD Vernunft 6, EA 25). Im zitierten Satz
wird der allumfassende Anspruch der in ihm artikulierten Kritik durch die Nennung des
Christentums sowie von Kant, der zugleich als ein impliziter Christ bezeichnet wird,
noch einmal unterstrichen.
An diesem Punkt ist zu fragen, inwieweit die vom autodiegetischen Erzähler des
Textes eingebrachte Gegenposition vor einem derartigen Dekadenz-Vorwurf selbst

586 Auch in Betreff dieser Verwendung des Nominativ Plurals bietet Sommer eine alternative Lesart,
indem er diese auf dem Hintergrund der Sprachkritik von GD Vernunft 5 liest: „Damit würde auch die
Rede von den ‚Wir‘, die sich ‚am Leben‘ ‚rächen‘ […] wollen, hinfällig: Diese ‚Wir‘ gibt es nicht; sie sind
ein reines Sprachprodukt.“ (Sommer 2012, S. 303)
So sehr Sommer in dem Verweis auf die Tatsache recht zu geben ist, dass in Nietzsches späten
Schriften die sprachkritisch bedingte Verwerfung traditioneller Subjekt- und Persönlichkeitsvorstel-
lungen häufig mitzudenken ist, so unwahrscheinlich erscheint es, dass diese Kritik gerade im Zuge
von GD Vernunft 6, das sich ja primär an der Schaffung einer an das Sprecher-Ich gebundenen,
provokativen Gegenposition abarbeitet, herbeizuzitieren und als Folie der Auslegung des in besagtem
Abschnitt gegebenen Gebrauchs der Personalpronomina zu verwenden ist.
256 2.2. Die Götzen-Dämmerung

gefeit ist. Auch das Sprecher-Ich charakterisiert sich ja, wie das ganze Kapitel qua
Autodeixis konsequent vorführt, in seinen Reaktions- und Denkweisen als ähnlich
idiosynkratisch wie seine Antagonisten. Die entscheidende Differenz zwischen der
sich solcherart ergebenden Position zu ‚den Philosophen‘ scheint ausschließlich darin
zu bestehen, dass der Position des Sprecher-Ichs ihre eigenen Bedingtheiten einge-
schrieben sind, dass es also in einem gewissen Sinne nicht der Fiktion erliegt, dass die
von ihm repräsentierte Gegenposition das Resultat eines der reinen Vernunft folgen-
den und solcherart befreiten Denkens ist.587
Eine – vielleicht gar die – zusätzliche Gegeninstanz zu der im ersten Teil der
vierten These noch einmal in ihrer Umfänglichkeit offensichtlich werdenden Deka-
denz-Bewegung wird dann in der zweiten Hälfe der vierten These eingeführt:

Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz.
Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung,
Correctur… Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, — er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen
und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h … (GD Vernunft 6, EA 25)

In diesen drei Sätzen, die zugleich das Ende von GD Vernunft bilden, werden erstmals
in den Abhandlungscharakter besitzenden Abschnitten der Götzen-Dämmerung die für
Nietzsches spätes Denken so zentralen ‚Konzepte‘ des ‚(tragischen) Künstlers‘, des

587 Diese Frage wird eigentlich schon in GD Sokrates 11 virulent, wenn dort das in besagtem Kapitel
seine eigenen Idiosynkrasien ebenso wie in GD Vernunft autodeiktisch vorführende Sprecher-Ich fest-
stellt: „Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence
herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft:
was sie als Mittel, als Rettung wählen, ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence — sie v e r -
ä n d e r n deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss; d i e
g a n z e B e s s e r u n g s - M o r a l , a u c h d i e c h r i s t l i c h e , w a r e i n M i s s v e r s t ä n d n i s s … “ (GD
Sokrates 11, EA 16f.)
In Anbetracht der Tatsache, dass auch die vom Sprecher-Ich propagierte Lebenssteigerung auf-
grund ihres idiosynkratischen Ursprungs tendenziell zu einer „B e s s e r u n g s - M o r a l “ gerinnt, ist
daran zu zweifeln, dass es dem sie vertretenden autodiegetischen Erzähler vollends gelingt, aus der
décadence herauszutreten. Dafür spricht auch eine berühmte Parallelstelle aus Ecce homo, in welcher
der diesen posthumen Text dominierende Sprecher über sich selbst feststellt: „Das Glück meines
Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform
auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt. Diese
doppelte Herkunft, gleichsam aus der obersten und der untersten Sprosse an der Leiter des Lebens, dé-
cadent zugleich und A n f a n g — dies, wenn irgend Etwas, erklärt jene Neutralität, jene Freiheit von
Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens, die mich vielleicht auszeichnet. Ich habe für
die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin
der Lehrer par excellence hierfür, — ich kenne Beides, ich bin Beides. — “ (EH weise 1, KSA 6, S. 264)
Gegen eine derartige Zusammenführung der Dekadenz mit dem Sprecher-Ich scheint auf den
ersten Blick jedoch die Konzeption des dionysisch-tragischen Künstlers, mit welcher GD Vernunft 6
schließt, und die im weiteren Textverlauf vollzogene Zusammenführung dieses Künstlertypus mit dem
Sprecher-Ich selbst zu sprechen. Eine Auflösung der sich in dieser Opposition eröffnenden Spannung
liefert das Kapitel 2.2.5.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 257

‚Pessimismus‘ und des ‚Dionysischen‘ in einer eindeutig deren konventionellen Gehalt


übersteigenden Form eingeführt, dabei zugleich aufeinander bezogen sowie letztend-
lich miteinander verwunden.588 Zur Entschlüsselung der sich solcherart ergebenden
‚dichten Zeichenfolge‘ bedarf es einer Zusammenführung des hier ‚Mitgeteilten‘ mit
weiteren werkinternen und -externen Verwendungen besagter ‚Termini‘.
Der Passus aus GD Vernunft verweist direkt auf vier aufeinanderfolgende ‚Apho-
rismen‘ aus den „Streifzügen eines Unzeitgemässen“, von denen drei ursprünglich
noch unter dem Titel „Zur Physiologie der Kunst“ ein Kapitel des noch in Der Fall
Wagner angekündigten „Hauptwerks“ (vgl. WA 7, KSA 6, S. 105) eröffnen hätten
sollen.589 Es handelt sich dabei um die ‚Aphorismen-Kette‘ GD Streifzüge 8 bis 12, von
denen nur der allererste ,Aphorismus‘, GD Streifzüge 8, mit einem Titel überschrieben
ist, an dem selbst das enge intratextuelle Geflecht der Götzen-Dämmerung sichtbar
wird. Er lautet: „Z u r P s y c h o l o g i e d e s K ü n s t l e r s “ (GD Streifzüge 8, EA 76).590
Während so bereits der Titel mit dem Begriff der „P s y c h o l o g i e “ die im Text
selbst zur Darstellung gebrachte ‚Ästhetik‘ mit dem die Götzen-Dämmerung als denk-
stilistisches Leitmotiv durchziehenden Psychologie-Topos verbindet und solcherart
an die Darstellung der „Colportage-Psychologie“ in GD Streifzüge 7 anknüpft, setzt
der ‚Aphorismus‘ selbst mit einer physiologischen ‚Neu‘-Bestimmung der Kunst ein:

588 Sowohl dem ‚Tragischen‘ (vgl. GD Sprüche 11) als auch dem ‚Künstler‘ (vgl. GD Sprüche 17)
begegnet man schon in den „Sprüchen und Pfeilen“, jedoch in einer derartig unspezifischen Ver-
wendung, dass man in Anbetracht des am Ende von GD Vernunft 6 herrschenden Pathos durchweg von
deren erstem eigentlichen Auftreten in der Götzen-Dämmerung sprechen kann.
Ähnlich verhält es sich mit dem ‚Pessimismus‘. Auch von diesem ist – zumindest in der in GD
Vernunft 6 vorliegenden Form eines eine Grundeinstellung des Lebens bezeichnenden Substantivs –
vor GD Vernunft in der Götzen-Dämmerung noch nicht die Rede. Die Träger einer solchen Geisteshal-
tung, die ‚Pessimisten‘, finden sich hingegen bereits am Anfang des Kapitels, das die an Persönlich-
keiten gebundene Geschichte des zur Herrschaft-Kommens der ‚Vernunft‘ erzählt: „Das Problem des
Sokrates“. In GD Sokrates 1 wird über die Erwähnung derselben in doppelter Parenthese – „( — oh man
hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran!)“ (GD Sokrates 1, EA 9) – ein Bezug
zwischen der dort inszenierten ‚Geschichte der décadence‘ zur Gegenwart hergestellt, durch welchen
es zu einem Kurzschluss zwischen der historischen Diagnose und dem status quo von Nietzsches
Gegenwart kommt, welcher dazu führt, dass ab GD Sokrates 1 die dort gelieferte ‚symptomatologische‘
Auseinandersetzung mit der historisch-literarischen Figur des Sokrates auch einen partiell gegen-
wartsdiagnostischen Impetus erhält.
589 Siehe zu diesen textgenetischen Hintergründen Sommer 2012, S. 428f.
590 Grundlegend für den hier nun einsetzenden Exkurs zu Nietzsches später ‚Physio-Psychologie der
Kunst‘ ist immer noch Lypp 1984. Dieser Aufsatz unterscheidet sich von dem im Folgenden Dargestellten
jedoch methodologisch in einem entscheidenden Punkt, da er sich an einer Deutung besagter „Physio-
logie der Kunst“ aus der Gesamtperspektive von Nietzsches Spätphilosophie versucht und dementspre-
chend nicht so streng dem Textverlauf der Götzen-Dämmerung folgt. Negativer Nebeneffekt dieses
Vorgehens ist, dass Lypp die von ihm sehr präzise herausgearbeitete „Physiologie der Kunst“ als
Bestärkung der „Doktrin“ des Willens zur Macht deutet (vgl. Lypp 1984, S. 356f.), was in Anbetracht der
nur partikularen Bedeutung und der parallel mit dieser einhergehenden unterbestimmten Verwendung
des ‚Terminus‘ in der Götzen-Dämmerung zumindest für dieses Werk als unzulässig erscheint.
258 2.2. Die Götzen-Dämmerung

„Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu
ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der R a u s c h . Der Rausch muss
erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben.“ (GD Streifzüge 8, EA 76)
Die Rückführung der künstlerischen Tätigkeit auf einen Gesamtzustand der Affekte
des Künstlers führt konsequent die im Zuge dieser Studie im Rahmen der Beschäftigung
mit Nietzsches Instinkt-‚Begriff‘ sowie der mit diesem eng verbundenen ‚Heuristik der
Symptomatologie‘ offensichtlich werdende ‚Vernatürlichung‘ des Menschen fort und
überträgt sie auf den Bereich der Ästhetik. Im Verhältnis zu deren zu Nietzsches Leb-
zeiten noch allseits bekannten Kant’schen und Hegel’schen Varianten, die im Falle
Kants zwar von einem transzendentalphilosophisch überformten Subjektivismus aus-
gingen, der jedoch in der Idee des interesselosen Wohlgefallens wieder abgemildert
wurde, und bei Hegel qua Systematisierung in ein normatives Kunstverständnis um-
schlug, das sich primär an der Freilegung des objektiven Gehaltes des Geistes im je-
weiligen Kunstwerk abarbeitete, wechselt die sich hier allmählich abzeichnende Ästhe-
tik radikal die Perspektive, indem sie sowohl das bei Kant noch so zentrale Naturschöne
als auch das für Hegel im Zentrum seiner Ästhetik stehende objektiv gegebene Kunst-
werk vollkommen außer Acht lässt und sich ausschließlich auf den höchst individuel-
len physiologischen Zustand ihrer Produzenten fokussiert. Dieser Perspektivenwechsel
korreliert mit der in der Götzen-Dämmerung nicht zuletzt durch die auf Autodeixis
hinauslaufende Darstellungsform dominierende Ausrichtung des gesamten Werkes auf
die (physiologischen) Bedingtheiten der Reaktions- und Denkweisen der sich zumeist
als durch diese in ihren Idiosynkrasien offenbarenden Persönlichkeiten.591
Die sich im Zuge der in GD Streifzüge 8 gegebenen Beschreibung des Rausches
erfolgende Gleichsetzung desselben mit einem „überhäuften und geschwellten Wil-
len“ (GD Streifzüge 8, EA 76) bringt den dort als sich in einem solchen Zustand
befindenden, bestimmten Künstler schließlich in unmittelbare Nähe zum Psycho-
logen aus GD Streifzüge 7. Dies belegt insbesondere das Ende von GD Streifzüge 8:

591 Lypp betont den auch im Zuge der vorliegenden Studie bereits mehrfach angedeuteten Sachver-
halt, dass der Zustand des in dieser Persönlichkeitskonzeption eine so bedeutende Rolle spielenden
Affektsystems „als Zustand eigentlich gar nicht faßbar“ sei und dass man „ihn als ein allgemeines
Geschehen verstehen [müsse], welchem seine Kennzeichnungen selbst zugehören“ (Lypp 1984, S. 359).
Dieser Gesamtzustand wird von Lypp dann allerdings als ein Pathos und dieses wiederum als ‚Wille zur
Macht‘ bezeichnet. In Anknüpfung daran spricht Lypp schließlich von Nietzsches „‚eliminativen‘
Materialismus“ (Lypp 1984, S. 360) und begeht dadurch jenen Fehler, der Nietzschelektüren eignet,
welche die in dessen Textgeschehen häufig eingeschriebenen Schleifen nicht berücksichtigen: Dabei
handelt es sich um die problematische Reinskription von in Nietzsches Spätwerk eher narrativ vor-
geführten als propositional artikulierten ‚Thesen‘ in die Terminologie der traditionellen Philosophie,
wodurch gerade die kognitiv so bedeutende Textstrategie, derartige Thesen eben nicht mehr in besagter
vom Text selbst als höchst problematisch ausgewiesenen Form, sondern durch ein zwischen Autodeixis
und Performativität changierendes konstellatives Schreiben zur Darstellung zu bringen, aus dem Blick
gerät. Gerade in dieser Darstellungsweise liegt der kognitive ‚Mehrwehrt‘ von Nietzsches Umwertungs-
praxis, die derartig über die ihr so häufig zugeschriebene Umkehrung eindeutig hinausgeht.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 259

Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle
giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, — man
heisst diesen Vorgang I d e a l i s i r e n . Machen wir uns hier von einem Vorurtheil los: das Idealisi-
ren besteht n i c h t , wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen,
des Nebensächlichen. Ein ungeheures H e r a u s t r e i b e n der Hauptzüge ist vielmehr das Ent-
scheidende, so dass die andern darüber verschwinden. (GD Streifzüge 8, EA 76f.)

Hier kehrt die auch den „geborene[n] Psychologe[n]“ aus GD Streifzüge 7 kennzeich-
nende Fähigkeit, dem das „Allgemeine zuerst zum Bewusstsein kommt, ohne dass er
dabei willkürlich abstrahieren müsse“ (vgl. GD Streifzüge 7, EA 75), in einem kunst-
theoretischen Kontext wieder und wird dabei in ihrem spezifischen Procedere noch
weiter ausdifferenziert. Dabei wird die in GD Streifzüge 7 in der Metapher der „camera
obscura“ bloß angedeutete Beteiligtheit des durch eine solche zu seinen Einsichten
gelangenden Psychologen durch den Verweis auf den ‚vergewaltigenden Zwang‘, den
der Text dann im auch graphematisch hervorgehobenen Begriff des „I d e a l i s i r e n [ s ] “
zusammenfasst, nicht nur expliziert, sondern auch graduell verstärkt. Dies führt zu
einer eindeutigen Verschiebung der Bedeutung dieses ‚Begriffes‘, welcher sich auf dem
Hintergrund der zentralen inhaltlichen Topoi der Götzen-Dämmerung im Allgemeinen
und den in GD Streifzüge 7 und 8 anhand des „geborene[n] Psychologe[n]“ und des
Künstlers im Besonderen dargelegten Procederes der ‚Abstraktion‘ von traditionellen
Formen wissenschaftlich-philosophischer ‚Verallgemeinerung‘ sowie traditioneller
Formen der Idealisierung in der Kunst absetzt:592 Nicht mehr logische Oberbegriffe,
sondern diejenigen Züge einer Sache, die der ‚vergewaltigende‘ Künstler als deren
Hauptzüge in einem vom Text an diesem Punkt nicht weiter ausgeführten Zusammen-
spiel von Wahrnehmung und beteiligter Konstitution ‚heraustreibt‘, stehen im Mittel-
punkt besagter ästhetischer Praxis des „I d e a l i s i r e n [ s ] “.593

592 Auf diese polemische Absicht verweist auch Sommer, fasst sie jedoch berechtigterweise weiter:
Nach ihm eigne sich der solcherart entwickelnde ‚positive Kunstbegriff‘ dazu, „alle landläufigen
Idealisten ebenso zu diskreditieren wie die Naturalisten, die es zu keiner Kunsteinheit brächten“
(Sommer 2012, S. 431).
Auf die im Lauftext nachgewiesene innige Verwindung sowie die trotz dieser Parallelen potentiell
gegebenen subtilen Unterschiede der in der Götzen-Dämmerung entwickelten Psychologie- und Kunst-
verständnisse geht Sommer allerdings nicht ein.
Auch Gori und Piazzesi übergehen diesen Zusammenhang, betonen aber ebenfalls die im ‚Begriff‘
des „I d e a l i s i r e n s “ angelegten Differenzen zu herkömmlichen Verallgemeinerungsformen und strei-
chen dabei zugleich die erotische Komponente dieses Vorgehens heraus (vgl. Gori/Piazzesi 2012, S. 224).
593 Laut Sommer ist dementsprechend die „Gestaltungskraft des Individuums […] dabei der Hauptzug
dieses neuen Idealisierungsvermögens“ (Sommer 2012, S. 431).
Insbesondere in Anbetracht der Parallelen und Differenzen zwischen den überlieferten Varianten
und dem schließlich als GD Streifzüge 8 publizierten Text ist es fraglich, ob für den dort beschriebenen
Künstler der traditionelle Begriff des ‚Individuums‘ im Sinne eines souveränen Subjekts noch greift.
Der erste Satz in der in brauner Tinte verfassten Grundschicht der mit dem Titel „Zur Genesis der
Kunst“ überschriebenen ‚Vorstufe‘ aus dem Arbeitsheft W II 5 lautet: „Alle Kunst geht auf Zustände
260 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Die Beschreibung dieses Vorgehens wird am Anfang von GD Streifzüge 9 fort-


gesetzt:

Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle: was man sieht, was man will,
man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes
verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, — bis sie Reflexe seiner Vollkommen-
heit sind. Dies Verwandeln-m ü s s e n in’s Vollkommne ist — Kunst. Alles selbst, was er nicht ist,
wird trotzdem ihm zur Lust an sich; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommenheit. —
(GD Streifzüge 9, EA 77)

Dieser Passus macht deutlich, dass bei dem zuvor angesprochenen Zusammenspiel
zwischen Wahrnehmung und Konstitution durch den sich im Rausch befindenden
Künstler die manipulierend-vergewaltigende Dimension eindeutig die Oberhand be-
sitzt: Im Zuge dieses Prozesses wird der Zustand des berauschten Künstlers in das von
ihm bearbeitete ‚Material‘ projiziert und zugleich nach dem Bilde seines Zustandes, der
laut Text ein ‚machtvoller‘ ist, leitmotivisch umgeformt. Nicht zu übersehen ist in dem
sich daraus ergebenden Kunstverständnis die auch von Andreas Urs Sommer hervor-
gehobene „Spitze gegen jene theologisch-metaphysische Denkungsart, die dem Men-
schen in seinen irdischen Umständen Vollkommenheit und Vervollkommnungsfähig-
keit prinzipiell abspricht“594, bezeichnet der Text doch gerade die aus dem im
künstlerischen Rausch gegebene Notwendigkeit des „Verwandeln-m ü s s e n [ s ] “ her-
vorgehende Kunst als „[v]ollkommene“. Zu dieser Vollkommenheit, die aufgrund der
Bedeutung der projizierenden Konstitution des Kunstwerkes durch den Künstler so-
wohl dieses als auch ihn selbst trifft, trägt das integrative Moment des Schaffenspro-
zesses bei, erlaubt dieser doch ‚alles, was man nicht ist‘, in etwas zu transformieren, an
dem man sich selbst „zur Lust“ werden kann. Die hier bereits anklingende Affirmation

zurück, wo ein Rausch die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert hat: dann kann dieselbe sich
an Dingen u Werthen vergreifen“ (W II 5, S. 164, Z. 2–4).
Hier, wie auch in GD Streifzüge 8 selbst, erscheint eine „Maschine“ als Agens der künstlerischen
Tätigkeit. Diese Tätigkeit wird dabei zugleich primär passiv als „Erregbarkeit“, die selbst bereits als das
Resultat des Rausches beschrieben wird, gekennzeichnet. Insofern erscheint die von Sommer im Nietz-
sche-Kommentar vollzogene Gleichsetzung dieser „Maschine“ mit einem ‚Individuum‘ in Hinblick auf
die von den beiden ‚Termini‘ implizierten, höchst unterschiedlichen Persönlichkeitskonzepten als pro-
blematisch.
Abgesehen von den Konsequenzen dieser in der ‚Vorstufe‘ und dem letztendlich publizierten Text
identischen ‚Persönlichkeitskonzeptionen‘ bietet die frühere Fassung auch eine interessante Variante
zur Druckfassung, ‚vergreift‘ sich doch die „Maschine“ des handschriftlichen Entwurfes nicht nur an
„Dingen“, sondern auch an „Werthen“, wodurch es zu einer noch größeren Ähnlichkeit zwischen den
Aktivitäten des die Psychologie sowie andere Mittel für seinen ‚Krieg‘ mit den Vernunft-Philosophen
einsetzenden autodiegetischen Erzählers und den in GD Streifzügen beschriebenen Künstlern kommt.
In der Druckfassung sind die Analogien zwischen deren Praktiken durch das dortige Fehlen der ‚Werte‘
nicht mehr ganz so offensichtlich.
594 Sommer 2012, S. 432.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 261

des Lebens im Akt und Resultat der Kunstproduktion wird in der zweiten Hälfte des
‚Aphorismus‘ qua Kontrastierung noch offensichtlicher:

— Es wäre erlaubt, sich einen gegensätzlichen Zustand auszudenken, ein spezifisches Antikünst-
lerthum des Instinkts, — eine Art zu sein, welche alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig
machte. Und in der That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an solchen Aus-
gehungerten des Lebens: welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch an sich nehmen, sie
auszehren, sie m a g e r e r machen müssen. Dies ist zum Beispiel der Fall des echten Christen,
Pascal’s zum Beispiel: ein Christ, der zugleich Künstler wäre, k o m m t n i c h t v o r … Man sei nicht
kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche homöopathische Christen des neunzehn-
ten Jahrhunderts: Raffael sagte Ja, Raffael m a c h t e Ja, folglich war Raffael kein Christ… (GD
Streifzüge 9, EA 77f.)

Das hier angesprochene „Antikünstlerthum des Instinkts“ weist zahlreiche Parallelen


zu den lebensgefährlichen Denk- und Reaktionspraktiken der idiosynkratischen Phi-
losophen auf. Wie die in GD Sokrates letztendlich als décadents ausgewiesenen
Weisen scheinen von einem derartigen „Instinkt“ angetriebene „Anti-Artisten“ der
Auffassung zu sein, dass das Leben nichts tauge, und diese Grundhaltung in ihrem
Schaffen auch auszudrücken, indem sie nach einem dem berauschten Künstler gera-
dezu oppositionellen Schema arbeiten: Anstelle wie dieser den Dingen ihre Macht auf-
und einzuprägen und dadurch diese sowie sich selbst ins Vollkommene zu verwan-
deln, machen derartige „Anti-Artisten“ die Dinge „magerer“. Als Paradigma eines
solchen Künstlers nennt der Text primär weder einen bildenden noch einen darstel-
lenden Künstler, sondern den „echten Christen“ Blaise Pascal, um dann direkt in
Anknüpfung an die Namensnennung des französischen Gelehrten, der in Nietzsches
Gesamtwerk durchweg ambivalent beurteilt wird,595 die an diesem exemplarisch
geübte Kritik zu verallgemeinern: „ein Christ, der zugleich Künstler wäre, k o m m t
n i c h t v o r …“ (GD Streifzüge 9, EA 78).
Als Beispiel für diese These greift der Text dann allerdings doch noch auf einen
darstellenden Künstler zurück, nämlich auf den zu Nietzsches Lebzeiten in besagtem
Kontext in der gelehrten Welt – unter anderem in Jacob Burckhardts Cicerone – gern
diskutierten Fall Raffaels.596 Aus dem am Ende des Textes zur Bestätigung von dessen
‚A-‘Christentum vorgebrachten Argument kann geschlossen werden, dass die in der
zweiten Hälfte von GD Streifzüge 9 im Mittelpunkt stehenden „Anti-Artisten“ eben

595 Zu Nietzsche und Pascal siehe einleitend Vivarelli 2009a, S. 263f. sowie die dort gelistete wei-
terführende Literatur. Laut Sommer gelte die Kritik an Pascal in GD Streifzüge 9 dessen literarischer
Praxis, „das diesseitige Leben zugunsten eines jenseitigen schlecht“ (Sommer 2012, S. 432) zu machen.
Als ‚Quelle‘ dieses Pascalbildes bestimmt Sommer Brunetières Descartes – Pascal – Le Sage –
Marivaux – Prévost – Voltaire et Rousseau – Classiques et Romantiques, das zahlreiche Lese- und
Bearbeitungsspuren Nietzsches aufweist (vgl. Sommer 2012, S. 350).
596 Siehe zu dieser Diskussion und ihrer Rezeption durch Nietzsche den ausführlichen Kommentar
in: Sommer 2012, S. 432ff. Auch Gori und Piazzesi verweisen auf Burckhardt als Quelle für das hier
wiedergegebene Raffael-Bild: Gori/Piazzesi 2012, S. 224.
262 2.2. Die Götzen-Dämmerung

nicht nur partiell mit den dekadenten Weisen und Philosophen aus GD Sokrates und
den vorausgehenden Abschnitten von GD Vernunft übereinstimmen, sondern in ihrer
physiologischen Grunddisposition und der mit dieser einhergehenden Grundeinstel-
lung mit diesen identisch sind: Auch sie ‚verarmen‘ und ‚verdünnen‘ nicht nur das
Leben, sondern verneinen es.
GD Streifzüge 10 wendet sich dann wieder dem positiven Künstler-Typus zu und
greift dabei auf ein von Nietzsche in der Geburt der Tragödie in die Philosophie
eingeführtes Begriffspaar zurück, um dieses einer Umwertung zu unterziehen. Der
‚Aphorismus‘ eröffnet mit der Frage: „Was bedeutet der von mir in die Aesthetik
eingeführte Gegensatz-Begriff a p o l l i n i s c h und d i o n y s i s c h , beide als Arten des
Rausches begriffen?“ (GD Streifzüge 10, EA 78)
Bei dieser Frage handelt es sich um eine der wenigen Stellen des gesamten Textes
der Götzen-Dämmerung, in welcher es eindeutig zu einer Deckung zwischen dem
historisch-empirischen Autor und dem autodiegetischen Erzähler kommt. In der
darauffolgenden Beantwortung der Frage wird diese Kohärenz weder suspendiert
noch weiter betont. Der Text bedient sich dabei einer insbesondere in Anbetracht
seines Gegenstandes überraschend ruhigen ‚Sprechweise‘, die in ihrer Sachlichkeit
sich stark von dem sonst selbst häufig seine eigenen Idiosynkrasien zur Darstellung
bringenden Modi des autodiegetischen Erzählens absetzt. Bereits aus den ersten drei
auf die Fragen folgenden Sätzen geht dabei hervor, dass die darin gelieferte Beschrei-
bung des in der Geburt der Tragödie als oppositionell präsentierten und noch in der
Eingangsfrage von GD Streifzüge 10 selbst als ‚Gegensatz-Begriffe‘ bezeichneten
‚terminologischen‘ Paares den ihm im Frühwerk innewohnenden antithetischen Cha-
rakter suspendiert:597

597 Diesen Sachverhalt betont auch Sommer 2012, S. 436 – Siehe zu den Bedeutungsfeldern des
‚Apollinischen‘ und ‚Dionysischen‘ in Nietzsches Gesamtwerk auch NWB, S. 619–656.
Jüngst hat Rainer Schäfer abermals die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche in den Blick
genommen, sich dabei jedoch vornehmlich auf das Frühwerk konzentriert. Trotz zahlreicher interes-
santer Einsichten kehrt sein Aufsatz im Zuge einer kurzen Auseinandersetzung mit der Bedeutung und
Verwendung des Dionysischen im Spätwerk letztendlich wieder in den sicheren Hafen reduktionisti-
scher Nietzsche-Lektüren zurück, die in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ihren letzten
Höhepunkt erlebten, wenn er feststellt: „Im Begriff des Dionysischen sind zwei der Grundgedanken
des späten Nietzsche miteinander vereint: a) Alles, was ist, ist Wille zur Macht, und b) die Form des
kosmologischen Geschehens ist der Kreis, d.h. die ewige Wiederkehr des Gleichen. Das Dionysische ist
somit der entscheidende Verbindungspunkt, der diese beiden Grundgedanken miteinander kompati-
bel macht; das Dionysische bildet die Schnittfläche der beiden Gedanken.“ (Schäfer 2011, S. 198)
Worin der explikative Wert dieser Rückführung einer Metapher auf zwei weitere Metaphern
besteht, ist schwer zu evaluieren, insbesondere auch darum, da Schäfer nirgendwo in seinem Aufsatz
den Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr eingehender erläutert. Dass bei einer derartig stark
systematisierend-(re)konstruktiven Lektüre der eigentliche Textbestand das Nachsehen hat, muss
wohl nicht eigens angemerkt werden.
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 263

— Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt.
Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist
dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert: so dass es alle seine Mittel des Aus-
drucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens,
Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die
Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, n i c h t zu reagiren (— ähnlich wie bei gewissen
Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in j e d e Rolle eintreten). (GD Streifzüge 10, EA 78)

Hier unterscheiden sich der apollinische und der dionysische Zustand nur mehr in
den Auswirkungen des sie beide bedingenden Rauschzustandes. Die Differenzen
beschränken sich dabei primär auf das Medium, in dem sich der berauschte Künstler
äußert, betreffen jedoch nicht das in bzw. mit diesem Medium zum Ausdruck Ge-
brachte. Abgesehen von diesen medialen Unterschieden eint die beiden Künstler-
typen insbesondere die in ihrem rauschbedingten Schaffensprozess gegebene „Ent-
fesselung von Bedeutsamkeit“598: Manifestiert sich diese beim apollinischen Künstler
in Visionen, welche er in ein Bild, eine Plastik oder ein Epos bannt, artikuliert sie sich
beim dionysischen Künstler in Form einer physiologisch bedingten Expressivität, die
sich dadurch, dass sie „alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Mal entladet“ (GD
Streifzüge 10, EA 78), in Richtung einer weltimmanenten ‚Universalpoesie‘ tendiert,
welche die in Nietzsches Werk sonst so omnipräsenten sprachlichen und kognitiven
Schranken durchbricht, indem sie deren anti-repräsentationalistischen Voraussetzun-
gen qua Selbstimplikation verlässt:599

Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er
übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden
Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in jede Haut, in jeden
Affekt ein: er verwandelt sich beständig. — (GD Streifzüge 10, EA 78f.)

Der hier beschriebene Zustand des im Rausch die Welt erschließenden und bejahenden
dionysischen Menschen steht quer zu der Nietzsches Spätwerk im Allgemeinen und die
Götzen-Dämmerung im Besonderen durchziehenden Sprach- und Kommunikations-
skepsis. Zwar kehren im soeben zitierten Passus Elemente wieder, die auch in den

598 Lypp 1984, S. 368.


599 Lypp kommentiert: „Der Rauschzustand […] muß als Zustand psychophysischer Enthemmung
verstanden werden. In ihm brechen die Sprachfiguren zusammen, in denen die Welt als Inbegriff
repräsentierender Mechanismen vorgestellt werden kann. Jede ihrer Einzelheiten rückt über ihren
einzelnen Charakter hinaus in einen Hof von Bedeutsamkeit ein.“ (Lypp 1984, S. 364) Das bedeutet
zugleich, „daß in ästhetischen Transfigurationen des Rausches das Dasein und die Welt verherrlicht
und verschönert werden; und gerade dies mache den Unterschied deutlich, in dem sich solche Trans-
figurationen zu asketischen Idealbildungen und platonisch-christlichen Lebensdeutungen bewegen“
(Lypp 1984, 367).
Zum Begriff der ‚Selbstimplikation‘ siehe Foucault 2001 [1964], wo dieser unter Selbstimplikation
„eine Sprache, die allein in diesem [= ihrem; A.P.] Sprechen existiert; ein Sprechen, das nichts als
seine Sprache sagt“ (Foucault 2001 [1964]), versteht.
264 2.2. Die Götzen-Dämmerung

einschlägigen Texten Nietzsches zur Sprachproblematik zu finden sind, so zum Bei-


spiel das sich vom traditionellen ‚Erkennen‘ eindeutig absetzende ‚Erraten‘. Diese
Elemente werden jedoch weit über das in den sprachphilosophischen Passagen von
Nietzsches Spätwerk als möglich Erachtete hinausgeführt. Insofern scheint es sich hier
um einen mythopoetischen Gegenentwurf zu den décadents der abendländischen
Geistesgeschichte zu handeln, an deren Kritik sich die Götzen-Dämmerung abarbeitet.
Dafür spricht auch das Ende von GD Vernunft 6, welchem ich mich nach diesem Exkurs
wieder zuwenden möchte.
Die diesen Abschnitt abschließenden und nun auf dem Hintergrund der in GD
Streifzüge 8–11 entwickelten ‚Physio-Ästhetik‘ zu deutenden Sätze lauten:

Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz.
Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität n o c h e i n m a l , nur in einer Auswahl, Verstärkung,
Correctur… Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, — er sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen
und Furchtbaren selbst, er ist d i o n y s i s c h … (GD Vernunft 6, EA 25)

Führt man diese Passage mit GD Streifzüge 8–11 zusammen, wird die in den vier
‚Aphorismen‘ zur „Physiologie der Kunst“ freigelegte mythopoetische Tendenz des in
einem an die Hysterie erinnernden Affektzustand die Welt bejahenden Künstlers offen-
sichtlich: Dessen symbolische Transfiguration des Rauschzustandes wird hier eindeu-
tig von jeglicher epistemologischen Verpflichtung befreit und gerade dadurch von
traditionellen, nach finaler Erkenntnis strebenden Weltdeutungen abgesetzt. Tendie-
ren Letztere dazu, aufgrund der von ihnen im Zuge dieser vermeintlich objektiven,
aber – wie GD Vernunft gezeigt hat – eigentlich idiosynkratisch bedingten ‚Erkennt-
nisleistung‘ entwickelten Weltbilder, das Dasein und die Welt als nichtig zu deuten,
affirmiert diese der dionysische Künstler, indem er auf eine sokratische Auslegung
allen Geschehens verzichtet und an deren statt dieses aus einer Überfülle des Affektes
nicht nur bejahend verstärkt, sondern sogar ‚ästhetisch‘ korrigiert, wodurch er sich von
jeder Form des Pessimismus befreit.
In dem diesen Sachverhalt in gedrängter Form noch einmal ausdrückenden Ab-
schlusssatz von GD Vernunft 6 bringt die Götzen-Dämmerung den in den Post-Zara-
thustra-Schriften eine bedeutende Rolle spielenden Versuch, „den Pessimismus als
lebensbejahenden Nihilismus weiterzudenken“600, zu seinem Ende. Noch im 370.
‚Aphorismus‘ aus dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft aus dem Jahre 1887
kulminierte dieser Versuch in der am Ende des Textes – und auch dort nur in
Parenthese – gemachten Andeutung eines „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“, welchen
das Sprecher-Ich von FW 370 als eine der Zukunft gegebene Alternative zu dem von
ihm zuvor kritisierten „r o m a n t i s c h e [ n ] P e s s i m i s m u s “ ankündigt (FW 370,

600 Stegmaier 2012, S. 477. Stegmaier bietet dort auch eine kurze Synopse der Verschiebung der
Bedeutung des Pessimismus in Nietzsches Spätwerk von den nachträglichen Vorreden von 1887 bis zu
FW 370 (vgl. Stegmaier 2012, S. 476ff.).
2.2.3. Textlektüre von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ 265

KSA 3, S. 622). Wie Werner Stegmaier in seiner umfangreichen kontextuellen Inter-


pretation dieses ‚Aphorismus‘ gezeigt hat,601 erfolgt die in FW 370 an der Romantik
und deren Pessimismus vollzogene Kritik auf der Basis einer eigens für dieses Unter-
fangen entworfenen „Heuristik der Not“, die in ihren Grundannahmen zahlreiche
Parallelen zum ‚symptomatologischen‘ Vorgehen der Götzen-Dämmerung besitzt, geht
sie doch davon aus, dass „[j]ede Kunst, jede Philosophie […] als Heil- und Hülfsmittel
im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden“ darf, und bedient
sich dann zur Deutung von Kunst und Philosophie „jene[r] schwierigste[n] und ver-
fänglichste[n] Form des R ü c k s c h l u s s e s , in der die meisten Fehler gemacht
werden — des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter,
vom Ideal auf Den, der es n ö t h i g h a t , von jeder Denk- und Werthungsweise auf das
dahinter kommandirende B e d ü r f n i s s “ (FW 370, KSA 3, S. 356). Auch dieser „Heuris-
tik der Not“ ist so bereits jene Schleife eingeschrieben, die in der Götzen-Dämmerung
im Zuge der Kritik an den Idiosynkrasien der Philosophen und dem aus diesen ent-
standenen Vernunft-Begriff anhand der Affektiertheit des diese vollziehenden auto-
diegetischen Erzählers autodeiktisch vorgeführt wird.602 Endet diese Kritik – darin
konsequent ihren eigenen sprachphilosophischen Prämissen folgend – in FW 370
noch in der Vision eines „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“,603 wird der Zusammenhang
zwischen Pessimismus und dem Dionysischen am Ende von GD Vernunft 6 eindeutig
gekappt. Der dort porträtierte tragisch-dionysische Künstler „ist k e i n Pessimist, — er
sagt gerade J a zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst“ (GD Vernunft 6,
EA 25).
Was bedeutet diese Streichung der pessimistischen Komponente aus der in der
Götzen-Dämmerung gelieferten Variante des ‚Mythopoems‘ des dionysischen Künst-
lers für dessen Stellung und Status im Textgeschehen? Ist gar der autodiegetische
Erzähler des Textes mit solch einem tragisch-dionysischen Künstler gleichzusetzen?
Zur Beantwortung dieser Fragen ist es notwendig, den weiteren Verwendungen des
‚Dionysischen‘ in der Götzen-Dämmerung zu folgen. Um diese jedoch adäquat in
ihren intratextuellen Kontext einzubetten, bedarf es einer umfangreicheren Aus-
einandersetzung mit jenen das Textgeschehen der Götzen-Dämmerung so nachdrück-
lich bestimmenden Selbstbezüglichkeiten, die in dieser Studie bis an diesen Punkt

601 Vgl. Stegmaier 2012, S. 465–497, an dessen dort gelieferte Deutung die Darstellung im Lauftext
anknüpft.
602 Auf diese Selbstbezüglichkeit verweist auch Stegmaier, wenn er über den sich dieser Methode
bedienenden Philosophen schreibt: „Denn bei seinem ‚Erraten‘ kann er nur von sich selbst, nur von
Bedürfnissen und Nöten ausgehen, die ihm einfallen und einleuchten. So wird er sich mit seinen
Rückschlüssen leicht in sich selbst verfangen.“ (Stegmaier 2012, S. 482)
603 Stegmaier selbst deutet in seinem kurzen Fazit zum „d i o n y s i s c h e n Pessimismus“ in FW 370
bereits diesen ‚Aphorismus‘ als performative Umsetzung eines derartigen Philosophierens. Dabei zeigt
er zugleich, dass ein solches den Rahmen jeglichen statisch-propositionalen Denkens sprengt (vgl.
Stegmaier 2012, S. 494f.).
266 2.2. Die Götzen-Dämmerung

in die terminologisch noch nicht reflektierten Metaphern der ‚Schleife‘ und ‚Faltung‘
gebannt worden sind. Deren eingehendere Beschreibung und semantische Präzisie-
rung werden weitere Einblicke in die Gesamtkomposition des Werkes gestatten.

2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches


subvertierende Schrift

2.2.4.1. Stand der Forschung

Auf die ‚Selbstbezüglichkeiten‘604 und die aus diesen potentiell resultierenden Selbst-
widersprüche605 in Nietzsches Denken hat die Nietzscheforschung schon früh ihre
Aufmerksamkeit gelenkt. So schreibt bereits Karl Jaspers in der Einleitung zur vierten
Auflage seiner ‚Einführung in das Verständnis von Nietzsches Philosophieren‘:
„Alle Aussagen scheinen durch andere aufgehoben zu werden. Das S i c h w i d e r -
s p r e c h e n ist der Grundzug Nietzscheschen Denkens. Man kann bei Nietzsche fast
immer zu einem Urteil auch das Gegenteil finden. Der Schein ist, er habe über alles
zwei Meinungen. Daher kann man auch aus Nietzsche für das, was man gerade will,
beliebig Zitate beibringen.“606
Während in dieser Deutung von Jaspers Zweideutigkeit607 und Selbstwider-
sprüchlichkeit noch eng zusammen gedacht werden und beinahe vollständig des
Phänomens der ‚Selbstbezüglichkeit‘ entbehren, ist in den letzten Jahrzehnten auch
dieses selbst immer stärker in den Fokus der Forschung gerückt. Dabei wurden
besagtes Phänomen oder Variationen desselben mithilfe so divergierender Termini
wie ‚self-consuming concept‘, ‚self-reference‘, ‚Selbstaufhebung‘, ‚Paradoxie‘ oder
‚Rückkoppelung‘ immer stärker in den Blick genommen, ohne derartig jedoch ins

604 Bis zu seiner weiteren Klärung steht der Begriff der ‚Selbstbezüglichkeit‘ in diesem Kapitel
zwischen einfachen Anführungszeichen und bezeichnet, wie auch schon in den vorausgehenden
Kapiteln, jegliche Form des Auf-sich-selbst-Beziehens, gleichgültig ob dieses bloß sprachlich-verwei-
sender oder reflexiver Natur ist. Der Begriff bildet derartig den Oberbegriff für sämtliche Arten der
Potenzierung und Selbstreflexivität (vgl. Kapitel 1.1.).
605 Auf eine Berücksichtigung der insbesondere in der englischsprachigen Nietzscheforschung weit
verbreiteten, zumeist aus besagten Selbstwidersprüchen abgeleiteten Inkonsistenzvorwürfe wird hier
verzichtet. Zu deren kritischer Zurückweisung siehe Babich 1994, S. 37–49.
606 Jaspers 1981 [1949], S. 17. – Jaspers selbst deutet das „S i c h w i d e r s p r e c h e n “ bereits aus dem
‚Zwang der Sache‘, wenn er noch auf derselben Seite der „Einleitung“ feststellt: „Der so hervortretende
Widerspruch wäre ein aus der Sache kommender, notwendiger, nicht ein Zeichen schlechten Denkens,
sondern von Wahrhaftigkeit.“ (Jaspers 1981 [1949], S. 17) Letztendlich scheitert für ihn das Denken
gerade an diesen Widersprüchen ‚existenzerhellend‘.
607 Der Zurückweisung des aus besagten Zweideutigkeiten Nietzsches diesem regelmäßig gemachten
Ambivalenz-Vorwurfes hat sich in den letzten Jahren Werner Stegmaier verschrieben. Die aktuellste
Variante seiner diesbezüglichen Argumentation findet sich in: Stegmaier 2012, 70f.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 267

Zentrum der Nietzscheforschung zu rücken. Bedauernswerterweise nahm allerdings


die Mehrheit der diese Termini einführenden und applizierenden Studien weder auf-
einander Bezug, noch legten sie ihre eigenen (sprach)philosophischen Grundannah-
men offen, was zu einer Steigerung der Unschärfe dieser per se schon hoch kom-
plexen Begriffe innerhalb der Nietzscheforschung geführt hat. Erst jüngst verstärken
sich die Anstrengungen, im Zuge textnaher Lektüren einen alternativen Umgang mit
den in diesen Termini zu erfassen versuchten Phänomenen zu entwickeln und dabei
zugleich das von ihnen Ausgedrückte im Textgeschehen fest und solcherart auch
greifbarer zu machen.608 An diese Tendenzen möchte ich im Folgenden anknüpfen,
ohne dabei jedoch die bisherigen Resultate der Forschung zu vernachlässigen. In
Anbetracht der in dieser vorherrschenden terminologischen Vielfalt ist es daher
notwendig, bevor ich zur Klärung der im Laufe dieser Studie bereits mehrfach de-
skriptiv eingesetzten Metaphern ‚Schleife‘ und ‚Faltung‘ schreite, eine Synopse der
bisherigen Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Funktion der ‚Selbstbezüg-
lichkeiten‘ in Nietzsches Philosophie zu liefern. Diese erhebt, obwohl besagtes The-
menfeld aufgrund der zwar schon lange andauernden aber dennoch stets marginal
gebliebenen Beschäftigung der Forschung mit ihm im Vergleich zu anderen Topoi der
Nietzscheforschung verhältnismäßig leicht zu überblicken ist, keinen Anspruch auf
Vollständigkeit. Ziel der Synopse ist es, die bis dato von der Forschung auf Nietzsches
Philosophie applizierten Termini zueinander in Beziehung zu setzen.
Neben den Begriffen des ‚Selbstwiderspruchs‘ und der diesen bedingenden ‚Zwei-
deutigkeiten‘ in Nietzsches Denken hat Karl Jaspers auch noch zwei weitere Termini,
die sich in unmittelbarer Nähe der ‚Selbstbezüglichkeits-Thematik‘ befinden, in die
Nietzscheforschung eingeführt. Es handelt sich dabei um die Begriffe des ‚Zirkels‘ und
der ‚Selbstaufhebung‘.
Jaspers führt diese beiden Begriffe im zweiten Buch seiner ‚Einführung‘, das sich
der Analyse von Nietzsches Grundgedanken widmet, im Zuge seiner Beschäftigung
mit Nietzsches Verständnis der Wahrheit ein:

Wenn Erkennen das Erkennen erkennen will, die Wahrheit über die Wahrheit ausgesagt werden
soll, so ist die Grundform des Gedankens ein Z i r k e l . Dieser ist entweder die einfache Selbst-
behauptung der sich erhellenden Wahrheit; dann entstehen keine Schwierigkeiten. Oder er ist
die Selbstaufhebung der Wahrheit durch sich, worin entweder das Versinken aller Wahrheit als

608 Zahlreiche der diese Anstrengungen im deutschen Sprachraum vorantreibenden Ansätze finden
sich umgesetzt in den Beiträgen in Born/Pichler 2013. Insbesondere Jakob Dellinger hat zuletzt in einer
Reihe von Aufsätzen auf die Bedeutung von ‚Selbstbezüglichkeiten‘ für Nietzsches Denk- und Schreib-
praxis aufmerksam gemacht sowie unterschiedliche Formen derselben in textnahen Lektüren unter-
sucht. Siehe dazu neben den bereits zitierten Aufsätzen Dellinger 2009, Dellinger 2012b, Dellinger
2012d, Dellinger 2012e, Dellinger 2012f, Dellinger 2013b auch noch Dellinger 2012a und Dellinger 2012c
sowie Dellinger 2014, das zum Entstehungszeitpunkt der vorliegenden Studie noch nicht erschienen
war.
268 2.2. Die Götzen-Dämmerung

endgültige Selbstaufhebung oder eine neue vermittelte Selbstbehauptung entspringt, indem


durch den Zirkel ein neuer Ursprung der Wahrheit sich offenbart.609

Aus diesem Absatz geht hervor, dass es sich bei den von Jaspers beschriebenen
‚Selbstaufhebungen der Wahrheit‘ nicht primär um selbstreferentielle Effekte handelt,
sondern um die ihre eigenen Konsequenzen artikulierende Selbstanwendung eines
Begriffes, Schemas oder einer Methode auf sich selbst. Derartige Selbstanwendungen
unterscheiden sich von Selbstreferenzen insbesondere in ihrer Unmittelbarkeit. Wäh-
rend nämlich im Falle einer Selbstreferenz ein Begriff, ein Schema oder eine Methode
unmittelbar auf sich selbst verweist, besitzen Selbstanwendungen wie die Selbstauf-
hebung eine temporale Struktur. Erst nachdem sie den von Jaspers angesprochenen
Zirkel durchlaufen haben, kommen diese ‚zu sich selbst‘ und annullieren sich dabei
potentiell.610
Genau dieser prozessuale Charakter der Selbstaufhebung ist auch in den wei-
teren, sich mehrheitlich auf die ‚Selbstaufhebung der Moral‘ konzentrierenden und zu
einem großen Teil unabhängig voneinander durchgeführten Arbeiten der Forschung
betont worden. Der sich solcherart abzeichnende Fokus auf die prozessuale ‚Selbst-
aufhebung der Moral‘ scheint auf den ersten Blick in Anbetracht des vorliegenden
Textbestandes durchweg gerechtfertigt. So ist in drei der insgesamt nur sechs Beleg-
stellen umfassenden Verwendungen des ‚Terminus‘ durch Nietzsche selbst explizit
von besagter ‚Selbstaufhebung der Moral‘ die Rede.611 Deren prozessualer Charakter

609 Jaspers 1981 [1949], S. 189.


610 Jaspers selbst schließt im Rahmen seiner eigenen Auseinandersetzung die beiden von ihm in der
zitierten Passage vorgebrachten Optionen zur Deutung von Nietzsches Wahrheitsverständnis letztend-
lich als inadäquat aus und gelangt zu folgender alternativen Bestimmung desselben: Nietzsches
„Gedanken über die Wahrheit mußten, indem sie das leugnen, was sie zu ihrer Formulierung
brauchen, in unablässige Widersprüche geraten. Dieses Denken wäre nur eine sinnlose Konfusion,
wenn nicht damit Grenzen erfahren würden, die sich nicht anders als indirekt kundgeben können.
Diese Grenzen werden mit den durch die Theorie des Wahrseins gewonnenen Begriffen berührt und
damit entsteht erst die Erfülltheit dieses dann auch die Widersprüche als indirekte Zeiger unausweich-
lich benützenden Denkens. Die Theorie ist nicht Theorie eines so bestehenden Sachverhalts, sondern
philosophisches Ausdrucksmittel, und zwar erstens für den e x i s t e n t i e l l e n A p p e l l an wesentliche
Wahrheit als getragen von wesentlichem Leben, zweitens für die Möglichkeit eines das Leben t r a n s -
z e n d i e r e n d e n Innewerdens des Seins.“ (Jaspers 1981 [1949], S. 191)
Siehe zu dieser Deutung sowie zu Walter Kaufmanns Auslegung derselben: Stegmaier 2004,
S. 90.
611 Bei den angesprochenen drei Belegstellen handelt es sich um N VII 3, S. 28, Z. 2–8; M Vorrede 4
und den berühmten ‚Aphorismus‘ GM III 27. Die restlichen drei Belege finden sich in: NL 1870, KSA 7, 7
[174]; NL 1883, KSA 10, 20[10] und GM II 10.
Zur Kritik an dem aus diesen Belegen resultierenden ausschließlichen Fokus auf die ‚Selbst-
aufhebung der Moral‘ sowie den Resultaten der ihn paradigmatisch umsetzenden Studien von Schrö-
der, Grau und Vattimo siehe Zittel 1995, S. 9–13.
Zu Zittels eigener Deutung der „Selbstaufhebung der Moral als Moral“ siehe Zittel 1995, S. 90–96.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 269

wird insbesondere in einer dieser Belegstellen, dem Ende der nachträglichen Vorrede
zur Morgenröthe ersichtlich. Besagtes ‚Werksegment‘ lautet:

Aber nicht die l o g i s c h e n Werthurtheile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die
Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann: das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültig-
keit dieser Urtheile steht und fällt, ist, als Vertrauen, ein m o r a l i s c h e s Phänomen… Vielleicht
hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu thun? Vielleicht muss er noch Ein
Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander stellen? Und
wenn d i e s Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch
ist, — sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein? Denn es stellt in der That einen
Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt —
warum doch? A u s M o r a l i t ä t ! Oder wie sollen wir’s heissen, was sich in ihm — in u n s —
begiebt? denn wir würden unsrem Geschmacke nach bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist
kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein „du sollst“, auch wir noch gehorchen einem strengen
Gesetze über uns, — und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch
wir noch zu l e b e n wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch M e n s c h e n d e s
G e w i s s e n s : dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und
morsch gilt, in irgend etwas „Unglaubwürdiges“, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerech-
tigkeit, Nächstenliebe; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten; dass wir von
Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte; feind jeder jetzigen Art
Glauben und Christlichkeit; feind dem Halb- und Halben aller Romantik und Vaterländerei;
feind auch der Artisten-Genüsslichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möch-
te, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben — denn wir sind Artisten — ; feind, kurzum, dem
ganzen europäischen F e m i n i n i s m u s (oder Idealismus, wenn man’s lieber hört), der ewig
„hinan zieht“ und ewig gerade damit „herunter bringt“: — allein als Menschen d i e s e s Gewis-
sens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von
Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten,
wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres
innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich
selbst zu verneinen, weil er mit L u s t verneint! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel
wollt, — d i e S e l b s t a u f h e b u n g d e r M o r a l . — — (M Vorrede 4, KSA 3, S. 15f.)

In diesem 1886612 entstandenen Paratext finden sich zahlreiche thematische und


formale Parallelen zu den im Laufe dieser Studie bereits analysierten Abschnitten aus
der Götzen-Dämmerung: So setzt der Text mit jenem skeptizistisch anmutenden Zwei-
fel an den „l o g i s c h e n Werthurtheile[n]“ ein, welcher einem auch in GD Sokrates
und GD Vernunft begegnet. Ähnlich wie in Letzteren wird er dadurch begründet, dass
der Glauben an diese Werturteile als ein „m o r a l i s c h e s Phänomen“ ausgewiesen
wird. Jedoch unterscheidet sich M Vorrede 4 in der Eindeutigkeit dieser Zuweisung
von den derartige Phänomene weitaus deutungsoffener als Symptome ‚interpretieren-
den‘ Abschnitten aus der Götzen-Dämmerung. Ein weiterer zentraler Unterschied
besteht darin, dass sich der zweieinhalb Jahre früher entstandene Text mit der auf den
Eingangssatz folgenden Interrogatio direkt in die Tradition des „deutsche[n] Pessimis-

612 Vgl. KGW V/3, S. 661.


270 2.2. Die Götzen-Dämmerung

mus“ einschreibt. Genau mit diesem – das sollte die Lektüre des Endes von GD
Vernunft 6 gezeigt haben – versucht hingegen die Götzen-Dämmerung zu brechen.
Für das Verständnis der in M Vorrede 4 zur Darstellung gebrachten Selbstauf-
hebung bedeutend ist die zweite, ebenso rhetorische Frage, welche in ihrer Forderung
nach der Zusammenführung von „Glauben“ und dessen ‚Absurdität‘ – zugleich eine
intertextuelle Anspielung auf das „creo quia absurdum est“ der christlichen
Theologie – , die problematische Bedingtheit und Verwindung dieser beiden ‚Begriffe‘
in einem mehr als dunklen Bild zur Darstellung bringt. Dass eine derartige Zusam-
menführung fatale Folgen zeitigen könnte, scheint in besagter ‚Frage‘ in der Rede von
der „furchtbare[n] Weise“ mitzuschwingen.613
Nach einer erneuten selbstreferentiellen Affirmation der Teilhabe des Textes am
„deutsche[n] Pessimismus“ durch eine weitere Interrogatio werden die in dem zuvor
betrachteten Bild angedeuteten Folgen sowie die Genese der sich in ihm artikulieren-
den Moralkritik expliziert: „Denn es stellt in der That einen Widerspruch dar und
fürchtet sich nicht davor: in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt — warum
doch? A u s M o r a l i t ä t ! “
Hier kommt es offensichtlich zu einer selbstreflexiven Paradoxierung des eigenen
Denkens, die in der weiteren Folge des Abschnittes als notwendige Folge eines
historischen Prozesses ausgewiesen wird: Es ist die Redlichkeit der Moral selbst,
welche sich gegen sich selbst wendet, dadurch in einen ‚Widerspruch‘ mündet und so
letztendlich die Moral aufhebt. Die sich daraus ergebende Temporalisierung des Auto-
destruktionsprozesses wird im letzten Drittel von M Vorrede 4 noch einmal explizit
ausgesprochen, wenn dort das die Redlichkeit internalisiert habende „Gewissen[ ]“ als
das letzte Verwandtschaftsmerkmal der das Textstück in der ersten Person Plural
dominierenden Denk- und Fühlgemeinschaft „mit der deutschen Rechtschaffenheit
und Frömmigkeit von Jahrtausenden“ ausgewiesen wird. Dass es sich bei der im Text
zur Darstellung gebrachten Selbstaufhebung um ein Vollzugsgeschehen handelt,

613 Zur Deutung der ‚Selbstaufhebung‘ im Allgemeinen sowie deren Umsetzung im Textgeschehen
von M Vorrede 4 im Besonderen siehe neben den bereits zuvor erwähnten Forschungsbeiträgen auch
Dellinger 2013b, der dort ebenfalls die bisherige diesbezügliche Forschung kritisch zusammenfasst
und kommentiert, um dann letztendlich im Zuge textnaher Lektüren zentraler Passagen von Nietzsches
später Moralkritik definitorisch über sie hinauszugehen.
Dellinger gelangt derartig nicht nur zu einer präzisen Neubestimmung der ‚Selbstaufhebung‘,
sondern führt mit dem Terminus ‚Gegenlehren‘ noch einen weiteren in engem Zusammenhang mit
dem Selbstaufhebungsgeschehen stehenden Begriff zur Beschreibung der ‚Selbstbezüglichkeiten‘ in
Nietzsches späten Schriften ein: „Während es sich bei der Selbstaufhebung der Moral als Vollzug des
asketischen Ideals um eine Verneinung der Täuschung bis zum Kollaps des Wahrhaftigkeitsideals
(und des Imperativs des Nicht-Täuschens) handelt, kommt es im Rahmen der Gegenlehre zum
bewusst-strategischen Einsatz gegen-moralischer Täuschungen. Die beiden kritischen Strategeme
lassen sich zwar demgemäß im Hinblick auf ihren normativen Hintergrund differenzieren, sind jedoch
zugleich auch aufeinander bezogen, ergänzen einander wechselseitig und sind in Nietzsches Texten
oft aufs Engste verquickt.“ (Dellinger 2013b, S. 92)
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 271

wird dann abschließend im pointierten letzten Satz von M Vorrede 4 noch einmal
betont: „In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, — d i e S e l b s t -
a u f h e b u n g d e r M o r a l . — — “ (M Vorrede 4, KSA 3, S. 16)614
In Anbetracht des soeben Dargelegten wird man der von Gerd-Günther Grau in
seinem Beitrag zur ‚Selbstaufhebung‘ im Nietzsche-Handbuch vorgelegten Bestim-
mung derselben vorbehaltlos zustimmen:

Von einer Selbstaufhebung kann man insofern sprechen, als die großen (ideologischen) Ansätze
[…] durch die vom jeweiligen Glauben selbst geforderte ↑ ‚Redlichkeit‘ innerlich zerstört werden;
beim einzelnen Vertreter wie in der geschichtlichen Entwicklung. Charakteristisch ist dabei, daß
die Aufhebung ebenso ungewollt wie unbewußt, oft genug in gegenteiliger Absicht vertiefter
Begründung vollzogen wird615.

Aus Graus Definition geht hervor, dass der die Selbstaufhebung bestimmende Vollzug
nicht willkürlich erfolgt, sondern gar gegen die eigentlichen Intentionen des sie
Erleidenden eintreten kann.
Sowohl zu einer Ausweitung als auch Verschiebung des Verständnisses der mit
dem Begriff der Selbstaufhebung beschriebenen Phänomene hat 1995 die Publikati-
onsfassung der Diplomarbeit von Claus Zittel beigetragen. Die kurze Studie setzt mit
einer Kritik an der ihr vorausgehenden Forschungspraxis ein, insbesondere daran,
„daß die Selbstaufhebung eingegrenzt auf den Bereich der Moral betrachtet wird, […]
ohne daß sie dabei selber als Denkfigur thematisch würde.“616 Durch die Bezeichnung

614 Aufgrund dieses Vollzugscharakters handelt es sich bei der zuvor angesprochenen Paradoxie
nicht um einen Nietzsche so häufig vorgeworfenen performativen Selbstwiderspruch. Dies hat schon
Claus Zittel in seiner Studie zu den Selbstaufhebungsfiguren mit Nachdruck betont. Siehe dazu ins-
besondere die Fußnote 38 in Zittel 1995, S. 103f., in welcher Zittel die vermeintliche Selbstwidersprüch-
lichkeit aus sechs Gründen zurückweist.
Siehe dazu außerdem auch Werner Stegmaiers von Zittels und Graus Verständnis leicht abwei-
chende Bestimmung der ‚Selbstaufhebung‘, die jedoch zahlreiche Parallelen zu dem von ihm ent-
wickelten und im Lauftext ausführlich behandelten Paradoxie-Begriff aufweist: „Hat sich der Sinn
eines Dings, eines Organs, einer Institution im Wandel der Lebensbedingungen so verschoben, daß
der spätere Sinn nichts mehr vom früheren Sinn enthält und doch, auf dem Weg der Sinnverschie-
bung, aus diesem hervorgegangen ist, dann spricht Nietzsche von ‚Selbstaufhebung‘.“ (Stegmaier
1994, S. 82)
In Übereinstimmung mit dieser Deutung stellt Stegmaier dann dort auch fest: „Nietzsches Selbst-
aufhebungen sind nie ‚bei sich selbst‘, sie bleiben immer im Fluß der Lebensbedingungen. Sie
faszinieren Nietzsche, weil sie Extreme der Sinn- und Identitätsverschiebung sind, nicht weil sie deren
Überwindung ausmachen.“ (Stegmaier 1994, S. 89) Zu Stegmaiers Verständnis der Selbstaufhebung
siehe auch Stegmaier 1992b, S. 299f. und 314f.
Zum Vollzugscharakter der ‚Selbstaufhebung der Moral‘ siehe des Weiteren auch den ‚Aphoris-
mus‘ GM III 27, auf dessen vollständige Relektüre hier aufgrund seines paradigmatischen Status in den
bisherigen Forschungsbeiträgen zur Selbstaufhebung verzichtet wird.
615 Grau 2000, S. 324.
616 Zittel 1995, S. 9.
272 2.2. Die Götzen-Dämmerung

des in Nietzsches Texten nachvollziehbaren Selbstaufhebungsgeschehens als ‚Selbst-


aufhebungsfigur‘ betont Zittel im Gegensatz zu den bis dato durchgeführten Interpre-
tationen mit Nachdruck ein Spezifikum von Nietzsches Philosophie: Diese unterschei-
de sich von traditionellen Formen des Denkens insbesondere durch ihren figürlich-
performativen Charakter. Nicht zuletzt diese Kennzeichnung erlaubt es Zittel, das als
Denkfigur beschriebene Phänomen auch jenseits der dezidierten Verwendung des
Terminus der ‚Selbstaufhebung‘ zu erfassen und zu beschreiben. Zittels Studie weist
dementsprechend Variationen dieser Figur im Gesamtwerk Nietzsches nach und
bestätigt so drei der fünf an ihrem Anfang aufgestellten Hypothesen zur Bedeutung
der Selbstaufhebungsfigur für Nietzsches Philosophie, nämlich dass:617

- die Selbstaufhebungsfigur ein Leitmotiv, mehr noch: einen Grundzug des nietzscheanischen
Denkens darstellt;
- sie die konsequenteste Kritikstrategie Nietzsches ist;
- sie damit […] als ein Schlüsseltheorem für die Bewertung des Status der unterschiedlichsten
Einzelaussagen Nietzsches angesehen werden kann[.]618

Neben dieser Ausweitung der Bedeutung der Selbstaufhebungsfiguren für Nietzsches


Denken hat Zittel auch zu einer Präzisierung der Beschreibung von deren ‚Standard-
variante‘, der Selbstaufhebung der Moral, beigetragen: Während nämlich aus den
Deutungen dieses Phänomens, die Zittels Beschreibung desselben vorausgegangen
sind, nicht eindeutig hervorgeht, ob für dieses überhaupt, und wenn ja in welcher Art
und Weise selbstreflexive Momente von Bedeutung sind, sprich: inwieweit bei der
Selbstaufhebung der Moral in der Formulierung der jeweiligen Moral schon ein Selbst-
bezug auf diese vorhanden ist, oder ob es dabei gar zu einer Autoreflexion ihrer
eigenen Grundlagen kommt, hat Zittel klar gezeigt, dass es im Zuge des Selbstauf-

617 Es ist hier leider nicht möglich, en détail auf jede der von Zittel herausgearbeiteten Varianten
einzugehen, da eine derartige Auseinandersetzung mit den von ihm zum Beleg dieser Varianten
herangezogenen Stellen eine vollständige Relektüre besagter Passagen auf der Grundlage der leiten-
den methodologischen Vorgaben dieser Studie verlangen würde, die an manchen Punkten – ins-
besondere jedoch in Hinblick auf den Kontext-Begriff – stark von Zittels Vorgehen in seiner ihrem
Genre entsprechend sehr synoptischen Studie abweichen. Dennoch sei hier der Vollständigkeit halber
eine Liste der von Zittel eingeführten Varianten der Selbstaufhebungsfigur wiedergegeben. Diese sind:
die dionysische und die apollinische Variante der Selbstaufhebungsfigur in Die Geburt der Tragödie,
die ebenfalls dort zu findende Selbstaufhebungsfiguren des Sokratismus und des Staates, die Varia-
tionen der zuvor genannten im Spätwerk, die Selbstaufhebungsfigur der Sprache sowie die Selbst-
aufhebungsfigur der Moral (vgl. Zittel 1995).
618 Zittel 1995, S. 10. – Die anderen beiden Hypothesen Zittels, das sind die Behauptungen, dass die
Selbstaufhebungsfigur „den entscheidenden Ansatzpunkt markiert, um jenseits von vereinfachenden
Alternativen ein klärendes Licht auf die vermeintlichen Paradoxien, Selbstwidersprüche, Ambivalen-
zen“ (Zittel 1995, S. 10f.) in Nietzsches Denken zu werfen, sowie die These, dass die Selbstaufhebungs-
figur „das sich durch alle Werkphasen ziehende Prinzip der ‚tragischen‘ Philosophie Nietzsches
darstellt“ (Zittel 1995, S. 11), werden im Laufe dieses Kapitels in Hinblick auf das Textgeschehen in der
Götzen-Dämmerung noch einmal überprüft.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 273

hebungsprozesses eindeutig zur Selbstreflexion kommt.619 Diesen Sachverhalt, der


auch in der zuvor durchgeführten sporadischen Lektüre von M Vorrede 4 offengelegt
worden ist, hat Zittel noch einmal in seiner im Jahr 2000 publizierten Zarathustra-
Studie lakonisch auf den Punkt gebracht, indem er dort darauf verweist,

daß […] Versuche, die eigenen Voraussetzungen selbst einzuholen – im Unterschied zum Selbst-
aufhebungsbegriff Hegels – Nietzsche zufolge keine neue Basis ermöglichen. Im Gegenteil führen
die unumkehrbaren selbstreflexiven Zersetzungsprozesse nur dazu, erkennen zu müssen, daß
kein neuer Standpunkt sich denken läßt, der nicht seinerseits wieder der Selbstaufhebungslogik
verfallen muß.620

Wie dieser Passus belegt, geht Zittel nicht nur von selbstreflexiven Momenten inner-
halb des Selbstaufhebungsprozesses aus, sondern versteht diesen auch als einen
„unumkehrbaren […] Zersetzungsprozess“. Auf diesen Sachverhalt, insbesondere sei-
ne kognitiven Konsequenzen, wird am Ende der vorliegenden Studie noch einmal
gesondert einzugehen sein.
Den kleinsten gemeinsamen Nenner aus den soeben kurz vorgestellten, bis dato
von der Nietzscheforschung vorgelegten Untersuchungen zur Selbstaufhebung zie-
hend, kann man diese als eine prozessuale, ihre eigenen autodestruktiven Kon-
sequenzen reflektierende Selbstanwendung eines im Laufe dieses (Auflösungs-)Pro-
zesses partiell semantisch verschobenen ‚Begriffes‘ oder Schemas auf seinen/ihren
‚Ursprung‘ verstehen.
In unmittelbarer Nähe zur ‚Selbstaufhebung(sfigur)‘ bewegt sich der von Bernd
Magnus in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinen Nietzschelektüren
zum Tragen gebrachte Begriff der ‚self-consuming concepts‘. Wie Magnus’ Definition
desselben zeigt, ist diesem Terminus jedoch das selbstreferentielle Moment nicht von
Anfang an eingeschrieben: „By ‚self-consuming‘ I mean that the concept in question
requires as a condition of its intelligibility (or even its possibility) the very contrast it
wishes to set aside or would have us set aside.“621
Auffällig an dieser Definition ist, dass Magnus im Gegensatz zu deutschsprachi-
gen Forschern wie Zittel, der in seiner Rede von der Selbstaufhebungsfigur nachdrück-
lich den figurativen Charakter von den in Nietzsches Texten sich ereignenden Auto-

619 Ähnlich wie Zittel hat bereits 1989 Paul van Tongeren die ‚Selbstaufhebung der Moral‘ in Nietz-
sches später Moralkritik beschrieben, dabei jedoch auf die explizite Benennung der selbstreflexiven
Momente innerhalb dieses Selbstaufhebungsgeschehens verzichtet. Vgl. van Tongeren 1989, insbeson-
dere S. 130ff.
Van Tongeren betont dort die fatalen Konsequenzen dieses Prozesses, den auch er, wie sechs
Jahre später Zittel, als „Zersetzungsprozess“ liest: Die Schlussformel von M Vorrede 4 „besagt nicht,
daß die Moral aus ihrer Selbstkritik gleichsam wie ein Phönix aus der Asche wieder aufersteht,
sondern daß sie selbst ihren eigenen Untergang bewirkt“ (van Tongeren 1989, S. 131).
620 Zittel 2011 [2000], S. 127f.
621 Magnus 1989, S. 312.
274 2.2. Die Götzen-Dämmerung

destruktionen betont und diese derartig zugleich von traditionellen philosophischen


Darstellungs- und Argumentationsweisen absetzt, eindeutig von einem ‚Konzept‘
spricht. Insofern verwundert es kaum, dass Magnus besagte ‚Konzepte‘ insbesondere
in Nietzsches vermeintlich zentralen Lehren wie dem Willen zur Macht, der ewigen
Wiederkunft oder dem Übermenschen zu entdecken glaubt.622
Letztendlich kommt es auch in Magnus Beschreibung der ‚self-consuming con-
cepts‘ zu einer Betonung jener negativ-destruktiven Effekte, die den desaströsen Folgen
der Selbstaufhebungsfiguren um nichts nachstehen. Sowohl das sich aus diesen Folgen
ergebende Irritationsmoment als auch die Grunddefinition der ‚self-consuming con-
cepts‘ selbst bringen diese zugleich in ein Näheverhältnis zu einem weiteren, weitaus
etablierteren Begriff, mit welchem die Nietzscheforschung die großteils autodestrukti-
ven Irritationspraktiken seiner Texte zu erfassen versucht hat und der hier bereits im
Zuge der sporadischen Lektüre von M Vorrede 4 verwendet worden ist: die Paradoxie.
Diese unterscheidet sich zwar von Magnus ‚self-consuming concepts‘ dadurch,
dass ihr zumeist ein selbstreferentielles Moment innewohnt, deckt sich aber mit
diesen sowie mit Zittels Variante der Selbstaufhebungsfigur in ihren Irritationseffek-
ten. Werner Stegmaier, der sich mehrfach der Untersuchung ihrer Bedeutung für
Nietzsches Denken gewidmet hat, definiert sie wie folgt:

Logische Paradoxien entstehen, wenn Unterscheidungen, deren Werte einander negieren, mit
dem negativen Wert auf sich selbst bezogen werden, wenn z.B. jemand wahrheitsgemäß sagt,
dass er lügt, oder es als Unrecht verurteilt, nach Recht und Unrecht zu urteilen, oder die Menge
aller Mengen bildet, die sich nicht selbst enthalten.623

Stegmaier, dessen eigenes Paradoxie-Verständnis an dasjenige von Niklas Luhmann


anknüpft,624 deutet besagte Paradoxien im Gegensatz zu den in der Forschung weit
verbreiteten Lesarten der Selbstaufhebungen, welche diese als Inbegriff von Nietz-
sches in den Nihilismus führenden Erkenntniskritik erachten, durchaus positiv und
setzt sie derartig implizit von besagten Selbstaufhebungen ab. Voraussetzung dieser
positiven Auslegung von Nietzsches Paradoxierungen ist Stegmaiers Interpretation
von Nietzsches ‚Begriff des Begriffes‘, wie ihn dieser insbesondere in GM II 12 und 13
vorgelegt hat. Auf Grundlage der dort vorgebrachten ‚Bedeutungstheorie‘, in deren

622 Siehe dazu Magnus/Stewart/Milieur 1993, S. 21–34.


623 Stegmaier 2009, S. 446.
624 Siehe dazu insbesondere Stegmaier 2004, S. 94, Fußnote 22, wo Stegmaier feststellt, dass laut
Luhmann „Paradoxien eben dadurch, daß sie ein Denken nach bestimmten Unterscheidungen durch
den Selbstbezug dieser Unterscheidungen ins Oszillieren bringen und so blockieren, neue Anfänge im
Denken mit neuen Unterscheidungen [ermöglichen]. Durch die Blockierung sind die neuen Anfänge
zugleich vor neuerlichen Rekursen geschützt und können so Anfänge von Systemen sein […], Systemen
jedoch nun im Sinn der Systemtheorie, d.h. stets im Unterschied zu einer jeweiligen Umwelt, die sie
weiter zu Unterscheidungen irritiert. Sofern hier auf bloße Oszillationen gebaut wird, bleiben Parado-
xien weiterhin beunruhigend.“
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 275

‚Zentrum‘ die These „Die Form ist flüssig, der ‚Sinn‘ ist es aber noch mehr…“ (GM II 12,
KSA 5, S. 315) steht, wird es möglich, die von zahlreichen Exegeten als desaströs
erachteten Folgen der Paradoxien für Nietzsches eigenes Denken abzuwenden.625
Stegmaier nutzt dafür die in GM II 12 artikulierte dynamisch-prozessuale Komponente
von Nietzsches ‚Sinn-Begriff‘, um die in Nietzsches Texten offensichtlichen Parado-
xien zu ent-paradoxieren. Genau darin liegt der wesentliche Unterschied zu den die
prozessuale Komponente zwar ebenfalls betonenden, aber entgegengesetzt deuten-
den Lesarten der Selbstaufhebungen: Während diese davon ausgehen, dass trotz der
Prozessualität des Selbstaufhebungsgeschehens die in diesem statthabende Selbst-
anwendung eines Begriffes oder Schemas auf sich selbst auch der späteren – sprich:
bereits sinnverschobenen – Variante desselben den Boden unter den Füßen entzieht,
folgert Stegmaier aus der qua besagter dynamis auch im Zuge einer Selbstanwendung
unmöglich gewordenen Deckung zwischen einer früheren und einer späteren Version
eines Begriffes oder Schemas, dass dieser Akt nicht mehr zu Autodestruktionen im
strengen Sinne, sondern bloß zu temporären Irritationseffekten führt:

Man muss hier ([…] mit dem späten Wittgenstein) zwischen Sagen und Zeigen unterscheiden.
Wenn Nietzsche gezielt den sokratisch-aristotelischen Begriff des Begriffs paradoxiert, um ihn
wieder in einen heraklitischen Fluss zu bringen und die philosophischen Begriffe so wieder
alltagstauglich zu machen, so zeigt er das mit seiner ganzen philosophischen Schriftstellerei […].
Aber eben indem Nietzsche es zeigt statt auf Begriffe des Paradoxen bringt, nimmt er dem
heraklitischen Fluss das Paradoxe, entparadoxiert er ihn, lässt er ihn als selbstverständlich
erscheinen, was er – im Sinn der hinreichenden Eindeutigkeit der alltäglichen und philosophi-
schen Begriffe in ihren wechselnden Kontexten – ja auch ist.626

Mit der Unterscheidung von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ greift Stegmaier auf ein ‚Begriffspaar‘
zurück, das sich auch für die Auslegung von GD Vernunft als nützlich erwiesen hat.
Trotz dieser Parallelen von Stegmaiers und der im vorigen Kapitel eingesetzten Termi-
nologie sollte die Lektüre von GD Vernunft allerdings gezeigt haben, dass sich die dort
nachgewiesene Form des ‚Zeigens‘ sowohl in ihrem Modus als auch ihrem Gegenstand
von Stegmaiers Verwendung in der oben zitierten Passage unterscheidet: So steht im
Mittelpunkt von GD Vernunft nur indirekt ein Begriff – eben die ‚Vernunft‘ –, während
des Kapitels eigentliches ‚Zentrum‘ die autodeiktische Vorführung der idiosynkrati-
schen Bedingtheit dieses ‚Begriffes‘ anhand der Denk- und Reaktionsweisen des auto-
diegetischen Erzählers ist. Im Zuge dieser Vorführung kommt es jedoch nicht zu einer
vollkommenen Ent-Paradoxierung des Vorgeführten, sondern die schriftstellerischen

625 Siehe dazu und dem Folgenden auch Pichler 2010, S. 128ff. sowie den bereits mehrfach erwähnten
Artikel zum ‚Begriff‘ in NWB, S. 238–250.
Auf den oben angesprochenen vermeintlich desaströsen Folgen der in Nietzsches Texten auffind-
baren Paradoxien hat insbesondere Jürgen Habermas beharrt. Siehe zu dessen Nietzschedeutung
Habermas 2001 [1985], insbesondere S. 104–129 sowie Pichler 2010, S. 158f. sowie die Fußnote 111.
626 Stegmaier 2009, S. 449.
276 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Mittel werden gerade dazu eingesetzt, die vermeintlichen Paradoxien so eindeutig vor-
zuführen, dass auf deren tatsächlich paradoxe Ausformulierung verzichtet werden
kann.
Am Beispiel dieser trotz der Verwendung desselben Begriffsapparates gegebenen
Differenzen zwischen den verschiedenen Formen der Selbstbezüglichkeit in Nietz-
sches Texten offenbart sich noch einmal die Komplexität der hier beschriebenen
Phänomene. Dieser Sachverhalt belegt zugleich mit Nachdruck, dass eine Klärung
derselben wohl ausschließlich am konkreten ‚Textfall‘ möglich ist.
Eine derartige Orientierung an einem konkreten ‚Werksegment‘ hat zur Inkludie-
rung eines weiteren Begriffes in die hier nachgezeichnete ‚Debatte‘ geführt, der, wie
im Zuge der Darstellung der Nietzsches späte Schriften kennzeichnenden Schreib-
weisen bereits gezeigt wurde, auch in der jüngeren deutschsprachigen Nietzsche-
forschung immer mehr Beachtung findet, dabei jedoch selten im Kontext der Nietz-
sches Texte vermeintlich charakterisierenden ‚Selbstbezüglichkeiten‘ verhandelt
wird. Die Rede ist hier vom Begriff der ‚Selbstparodie‘ oder ‚self-parody‘, den Daniel
W. Conway im Zuge seiner Lektüre des „Versuchs einer Selbstkritik“ (GT Versuch,
KSA 1, S. 11–22) eingeführt hat.627 Conway deutet diese späte Vorrede als heraus-
ragendes Beispiel von Nietzsches Kritik der Modernität im Spätwerk, welche im
Gegensatz zum Frühwerk nicht auf eine „Artisten-Metaphysik“ hinauslaufe, sondern
zu einer „Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes“ (GT Versuch 7, KSA 1, S. 22) führe. Die in
diesen beiden unterschiedlichen Teloi zum Ausdruck kommende Verschiebung in
Nietzsches ‚Grundannahmen‘ beruhe laut Conway auf dessen nach Abschluss der
Geburt der Tragödie erlangten Einsicht, dass die dort von ihm vorgebrachte Kritik an
der Modernität sich derselben Fehler schuldig macht, mit welchen sie ihren dort stark
stilisierten Gegner – den Sokratismus – so aggressiv konfrontiert: Genauso wie sein
vermeintlicher ‚Gegner‘ rekurriere Nietzsches Kritik auf nicht objektivierbaren Krite-
rien, die er in GT Versuch in der Selbstbezeichnung seines 1872 vorgelegten ‚Erstlings‘
als „ein Stück Antigriechenthum und Romantik“ (GT Versuch 7, KSA 1, S. 21) selbst
auf den Begriff gebracht habe.628 Die damit einhergehende Wahrnehmung des in
Anbetracht der in Die Geburt der Tragödie gestellten diagnostischen Ansprüche
höchst problematischen „self-referential scope of his critique of modernity“629 habe
Nietzsche dann in GT Versuch in eine philosophische Tugend verwandelt:

The strategic self-parody that Nietzsche recommends in the Versuch is not limited to questions of
textual authority and literary mastery, but also enables the critical method that informs his later
works. Nietzsche’s art of this-worldly comfort thus transforms the self-referential scope of his
critical projects from a vicious problem to a philosophical advantage.630

627 Vgl. Conway 1992.


628 Vgl. Conway 1992, S. 348.
629 Conway 1992, S. 343.
630 Conway 1992, S. 347.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 277

Grundlage dieser produktiven Ausbeutung der ‚Selbstbezüglichkeiten‘ in Nietzsches


Spätwerk sei die in seinen späten Texten erfolgende Umsetzung der Einsicht, „that a
defensible critique of modernity must appeal only to immanent standards, and that
the best way to ensure a genuinely immanent critique would be to develop a critical
method whose scope is obviously and strategically self-referential“631. Laut Conway
handle es sich bei den Selbstparodien genau um eine solche Methode der Kritik.632
Conways ‚self-parody‘ fügt sich solcherart ziemlich genau zwischen Stegmaiers
Deutung der Paradoxie und Zittels Lesart der Selbstaufhebungsfigur ein, da sie einer-
seits genauso wie die Selbstaufhebungsfigur aufgrund der durch die Parodierung der
eigenen Ein- und Ansichten erfolgende Einklammerung derselben eine thetische-pro-
positionale Festschreibung dieser Ein- und Ansichten verbietet, andererseits jedoch
wie die Paradoxie im Stegmaier’schen Sinne nicht zu einer vollständigen Auto-
destruktion dieser Ein- und Ansichten führt, indem sie diese nicht eigentlich aussagt,
sondern ‚zeigt‘.
Zum besseren Verständnis der soeben gelieferten kurzen Synopse der bisherigen
Forschung zur Bedeutung und Funktion ‚selbstbezüglicher‘ Momente in Nietzsches
Denken seien im Folgenden ihre Resultate in einer Tabelle zusammengefasst. Dabei
werden zur Bestimmung besagter ‚Selbstbezüglichkeitsphänomene‘ neben der
Wolf’schen Selbstreferenz und Selbstreflexivität noch folgende weitere Kennzeichen
herangezogen:
– Prozessualität: Der Begriff der ‚Prozessualität‘ verweist auf die Tatsache, dass das
durch ihn beschriebene Textgeschehen eine historische oder kognitive Entwick-
lung zur Darstellung bringt, im Zuge derselben auch potentiell der Sinn der diese
Entwicklung beschreibenden oder vorantreibenden ‚Termini‘ verschoben wird.
– Performativität: In Anknüpfung an den gegenwärtigen Stand der literaturwissen-
schaftlichen Forschung zu den unterschiedlichen Formen textueller Performati-
vität wird hier und im Folgenden mit besagtem Begriff eine Sonderform der
strukturellen Performativität bezeichnet:633 die performative Selbstreferentiali-

631 Conway 1992, S. 349.


632 Conway stellt seinen Begriff der Parodie an keiner einzigen Stelle des hier verhandelten Aufsatzes
in ein Verhältnis zu der zum Zeitpunkt der Abfassung desselben in den Literaturwissenschaften bereits
sehr umfangreichen Auseinandersetzung mit inter- und intratextuellen Formen der Parodie. Insofern
verwundert es nicht, dass diejenigen deutschsprachigen Interpreten, die an diese Debatte angeknüpft
haben, wiederum Conways Aufsatz nur eingeschränkt berücksichtigen.
633 In Anbetracht der in der gegenwärtigen Literatur gegebenen Anwendung des Begriffes der ‚Per-
formativität‘ auf Texte vorliegenden starken Varianz von dessen Bedeutungsumfang stellt ein aus
Bernd Häsner, Henning S. Hufnagel, Irmgard Maassen, Anita Traninger bestehendes Autorenkollektiv
im Zuge seiner kritischen Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung zur Performativität von
Texten den Begriff der strukturellen Performativität der sogenannten funktionalen Performativität
gegenüber und verweist dabei zugleich darauf, dass diese beiden Konzepte „dabei nicht als einander
ausschließende Perspektiven, sondern als interdependent gedacht werden“ (Häsner/Hufnagel/Maas-
sen/Traninger 2011, S. 83) müssen. Laut besagtem Aufsatz verweise der Begriff der strukturellen
278 2.2. Die Götzen-Dämmerung

tät634. Diese unterscheidet sich von der Selbstreferenz dadurch, dass innerhalb
der Struktur eines Textes der auch in der Selbstreferenz vorliegende Selbstbezug
sich nicht bloß im Bezug eines semiotischen Elementes auf sich selbst erschöpft,
sondern das in besagtem semiotischen Element Ausgedrückte vom Text qua
dessen Darstellungsform – d.h. über und durch potentiell mehrere semiotische
Elemente desselben Textes – auch realisiert wird. Ein derartiger Vollzug ver-
meintlicher im Text artikulierter ‚Thesen‘ unterscheidet sich von der Selbstrefle-
xivität dadurch, dass die darstellerische Umsetzung besagter Thesen nicht ei-
gens im Textgeschehen artikuliert wird.
– Grad der Leserbeteiligung bei der Selbstanwendung:635 Diese Kategorie trägt der
Tatsache Rechnung, dass die Formen der ‚Selbstbezüglichkeiten‘ von der sie
offensichtlich reflektierenden Selbstreflexion über den bereits etwas versteck-
teren reflexiven Selbstverweis bis zu kaum mehr wahrnehmbaren formalen Ana-
logien reichen. Letzterer Fall wird aufgrund des zu seiner Wahrnehmung notwen-
dig hohen Grades der Leserbeteiligung in der folgenden Tabelle in der Spalte
‚Bedarf des Aktes der Selbstanwendung‘ gekennzeichnet.
– Autodestruktivität: Die Tatsache, dass eine These oder eine Theorie ihre eigenen
Grundannahmen untergräbt und sich derartig selbst aufhebt.

selbst- selbst- prozessual performativ Bedarf des Aktes autodestruktiv


referentiell reflexiv der Selbstanwen-
dung
Selbstaufhe- X X X X
bung
Paradoxie (X) X X
(nach
Stegmaier)

Performativität „im engeren Sinne auf die Machart eines Textes und bezeichnet die textuellen Strate-
gien und Strukturen, die der Inszenierung von Körperlichkeit, sinnlicher Präsenz oder ereignishaftem
Vollzug dienen“ (Häsner/Hufnagel/Maassen/Traninger 2011, S. 83). Funktionale Performativität ver-
schiebe dagegen „den Akzent von der Machart des Textes auf seine kulturelle Wirkmächtigkeit“
(Häsner/Hufnagel/Maassen/Traninger 2011, S. 84).
Zur Vielfalt der gegenwärtig kursierenden Performanz- und Performativitätskonzepte siehe auch
einführend: Wirth 2002.
634 Häsner/Hufnagel/Maassen/Traninger definieren den Begriff wie folgt: „[D]er Text stellt seine
eigene Medialität aus oder er ‚führt vor‘, wovon er spricht bzw. er ‚macht‘ etwas, was nicht in den in
ihm explizierten propositionalen Gehalten aufgeht, sondern diese übersteigt oder auch konterkariert.
In dem so generierten semantischen Überschuss kann sich ein kritisches oder parodistisches Potenzial
entfalten, es kann aber durchaus auch affirmativ wirksam werden.“ (Häsner/Hufnagel/Maassen/
Traninger 2011, S. 84)
635 Diese Kategorie verdanke ich einem Hinweis Jakob Dellingers.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 279

selbst- selbst- prozessual performativ Bedarf des Aktes autodestruktiv


referentiell reflexiv der Selbstanwen-
dung
self-consuming (X) X X
concepts
self-parody X X X
(Conway)

Auffällig an den soeben nachgezeichneten Deutungen der Forschung von den in


Nietzsches Texten festmachbaren ‚Selbstbezüglichkeiten‘ und Selbstaufhebungen ist,
dass sämtliche derselben – mit Ausnahme von Teilen von Claus Zittels Zarathustra-
Studie636 – trotz der von ihnen häufig betonten Prozessualität der beschriebenen
Phänomene deren Existenz fast ausschließlich konstatieren und an vermeintlichen
‚Thesen‘ in Nietzsches Texten festmachen, jedoch kaum auf die Umsetzung derselben
im eigentlichen Textgeschehen, d.h. auf deren potentielle Performativität, eingehen.
Diesem Manko soll im Zuge der Explikation der in dieser Studie verwendeten ‚Termini‘
‚Schleife‘ und ‚Faltung‘ Abhilfe geschaffen werden, erlauben diese beiden Metaphern
doch aufgrund der bereits ihren Standard-Bedeutungen eignenden dynamischen
Komponente, den im Textgeschehen nachvollziehbaren performativen Charakter der
‚Selbstbezüglichkeiten‘ sowie der diesen nahestehenden Selbstaufhebungen in den
Blick zu nehmen. Den Bezugsrahmen der hier nun einsetzenden ‚Begriffs-‘Bestim-
mung bilden abermals die bereits im Zuge der Synopse der Forschung verwendeten
Termini der ‚Selbstreferenz‘, ‚Selbstreflexivität‘ und ‚Metareferenz‘, in den ihnen von
Werner Wolf zugeordneten und im Kapitel 1.1. dieser Studie bereits referierten Bedeu-
tungen.
Eine zusätzliche Profilierung des Wolf’schen Begriffsapparates in Hinblick auf
den für die Wahrnehmung und Anwendung der ‚selbstbezüglichen Momente‘ notwen-
dige Beteiligung des Lesers wird möglich, wenn man diesen mit der Terminologie
eines weiteren Textes der Nietzscheforschung zusammenführt, der sich ebenfalls
explizit mit den ‚Selbstbezüglichkeiten‘ in Nietzsches späten ‚Texten‘ auseinander-
setzt. Die Rede ist hier von Sandro Zanettis kurzem Aufsatz „Im Spiegelkabinett der
Sprache – Figuren der Selbstbezüglichkeit am Beispiel einer Notiz aus dem Nachlass
Nietzsches“.637 Zanetti liefert dort eine Definition der ‚Selbstbezüglichkeit‘, die auch
für die vorliegende Studie von Nutzen ist, da sie in leicht adaptierter Form dazu
hinreicht, die Lücke zwischen den beiden von Wolf definierten Metaisierungsformen
des selbstreferentiellen Verweises und der tatsächlichen Selbstreflexion zu schließen.
Sie lautet: „Selbstbezüglichkeit kann in literarischen und philosophischen Texten als

636 Vgl. Zittel 2011 [2000].


637 Vgl. Zanetti 2000.
280 2.2. Die Götzen-Dämmerung

eine bestimmte Form des Sprechens über Sprache mit und in Sprache verstanden
werden.“638
Auf den ersten Blick scheint es sich bei der derartig bestimmten Selbstbezüglich-
keit nur um eine auf die Sprache beschränkte Form der Wolf’schen Selbstreflexion zu
handeln. Um sie von dieser sowie dem selbstreferentiellen Verweis in Hinblick auf
die Bestimmung des Grades der Leserbeteiligung eindeutig abzusetzen, ist daher die
Einführung eines zusätzlichen Unterscheidungskriteriums notwendig. Möglichkeiten
eines solchen werden ebenfalls von Zanettis Aufsatz geliefert. Dieser führt nämlich
eine weitere Unterscheidung der Selbstbezüglichkeiten ein, die für die Bestimmung
dieses Phänomens von Nutzen ist: Laut Zanetti könne man die Selbstbezüglichkeiten
in figurale, rezeptionsästhetische und thematische Selbstbezüglichkeiten ausdiffe-
renzieren. In Anbetracht der Wolf’schen Bestimmungen liegt es nahe, dasjenige, was
dieser als selbstreferentiellen Verweis bezeichnet mit der figuralen, die Selbstreflexi-
on hingegen mit der thematischen Variante von Zanettis Selbstbezüglichkeiten
gleichzusetzen. Bleibt also nur noch die rezeptionsästhetische Variante. Als solche
werde ich im Folgenden diejenigen Selbstverweise bezeichnen, die Phänomene der
Sprachlichkeit verhandeln, ohne dabei explizit ihre eigene Teilhabe an diesen Phäno-
menen thematisch werden zu lassen. Derartige Selbstverweise auf die eigene Sprach-
lichkeit benötigen für ihre Wahrnehmung einen weitaus höheren Grad der Leserbe-
teiligung und entsprechen somit Zanettis rezeptionsästhetischer Variante. Um sie
eindeutig von der weiterhin als Oberbegriff sämtlicher Phänomene der Selbstreferenz
verwendeten Selbstbezüglichkeit abzusetzen, werde ich sie von nun an als ‚Auto-
referenz‘ bezeichnen.
Aus dieser die ursprünglichen Definitionen leicht adaptierenden Zusammenfüh-
rung der Begriffsapparate von Wolf und Zanetti resultieren drei Formen der Selbst-
bezüglichkeit, welche im Folgenden zur Bestimmung und Ausdifferenzierung der
Metaphern der ‚Schleife‘ und ‚Faltung‘ herangezogen werden:639
a.) selbstreferentieller Verweis = jegliche Form grammatikalischer oder figuraler
Selbstbezüglichkeit (z.B. der Selbstbezug der Personalpronomen);

638 Zanetti 2000, S. 93.


639 Selbstverständlich ist die Trennung zwischen figuralen, rezeptionsästhetischen und themati-
schen Selbstbezüglichkeiten nie so eindeutig wie die nun folgende Unterteilung fingiert. Letztendlich
finden sich in den oben eingeführten drei Formen der Selbstbezüglichkeit sämtliche dieser Momente
realisiert. Sie unterscheiden sich jedoch in der semantischen Gewichtung, die dem figuralen, rezepti-
onsästhetischen und thematischen Selbstbezug in der jeweiligen ‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘ zukommt:
So besitzt zum Beispiel auch die oben re-definierte Selbstreflexion figurale und rezeptionsästhetische
Momente. Diese spielen in ihr aber aufgrund der Tatsache, dass die Selbstreflexion ihre Selbstbezüg-
lichkeiten eben eindeutig zu ihrem zentralen Thema macht, eine weitaus geringere Rolle als in den
anderen beiden ‚Figuren‘.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 281

b.) die Autoreferenz = jegliche Form des impliziten Selbstbezuges auf die eigene
Sprachlichkeit, deren Anwendung auf sich selbst eines sie wahrnehmenden Rezipien-
ten bedarf;640
c.) Selbstreflexion = Selbstbezüglichkeit, bei der Elemente eines Systems andere
desselben Systems, das System insgesamt oder Aspekte desselben zum Thema ma-
chen und (in ihren Folgen) reflektieren.
Ausgestattet mit diesem Begriffsapparat möchte ich mich als Erstes der Bestim-
mung der ‚Schleife‘ zuwenden. Dieser ‚Terminus‘ ist bis dato kaum zur Bezeichnung
der Selbstbezüglichkeiten in Nietzsches Texten zur Anwendung gekommen, weswe-
gen er sich für eine Ausweitung und Spezifizierung der Nomenklatur der verschiede-
nen Varianten der Selbstbezüglichkeiten im Werk Nietzsches anbietet.641

2.2.4.2. Autodeiktische Schleife (GD Sokrates, GD Vernunft)

Im Zuge der in den vorigen Kapiteln durchgeführten Lektüre von GD Sokrates und GD
Vernunft ist die diese Kapitel bestimmende Kritik an den ‚Idiosynkrasien der Philoso-
phen‘ als autodeiktisch ausgewiesen worden. Kennzeichen dieser autodeiktischen
Kritik ist, dass sie durch die im Textgeschehen nachvollziehbare Charakterisierung des
diese Kritik tragenden autodiegetischen Erzählers dessen eigene Idiosynkrasien kon-
sequent zur Darstellung bringt und solcherart zugleich als das temporäre Fundament
der seine Kritik leitenden Evaluationen ausweist. Der sich derartig offenbarende, das
Textgeschehen der beiden Kapitel insgeheim charakterisierende ‚performative‘ Selbst-

640 Eigentlich handelt es sich hierbei nur um eine Sonderform des selbstreferentiellen Verweisens, da
potentiell jede der in diesem Terminus zusammengefassten impliziten grammatikalischen oder figura-
len Selbstbezüglichkeiten vom sie wahrnehmenden Rezipienten auf sich selbst angewendet werden
kann. Da jedoch die hier im Folgenden als ‚Autoreferenz‘ bezeichnete Form des selbstreferentiellen
Verweisens ihr eigenes Medium – die Sprache – zum Gegenstand hat, erscheint es sinnvoll, sie in einen
eigenen Begriff zu bannen.
641 Die meines Wissens bisher einzigen definitorischen Reflexionen der ‚Schleife‘ in der deutsch-
sprachigen Nietzscheforschung hat Jakob Dellinger vorgelegt (vgl. Dellinger 2012f und Dellinger
2013a). Dellinger verwendet in diesen beiden Texten den von Douglas R. Hofstadter unter anderem
anhand von M. C. Eschers Bild „Zeichnen“ explizierten Terminus der ‚seltsamen Schleife‘ zur Kenn-
zeichnung des ‚Willens zur Macht‘-Geschehens (vgl. Dellinger 2012f, S. 326 und Dellinger 2013a, S.
179f.). Einen ersten eigenen Definitionsversuch, der hier im Folgenden partiell korrigiert und präzisiert
wird, liefere ich in Pichler 2013.
Abgesehen von diesen drei Aufsätzen verwendet auch Kleinwort 2008 die ‚Schleife‘ zur Kenn-
zeichnung der im Zentrum seines Textes stehenden Untersuchung der ‚Rückkopplung‘ als Störung der
Autor-Funktion, definiert sie dort aber nicht näher. Auf eine Berücksichtigung von Kleinworts Aufsatz
für die am Anfang dieses Kapitels gelieferte kurze Synopse des Forschungsstandes zur Bedeutung und
Funktion der Selbstbezüglichkeiten bei Nietzsche wird hier verzichtet, da besagter Text nicht primär
die philosophischen, sondern vorwiegend die literaturtheoretischen Konsequenzen von Rückkoppe-
lungen für die Autorfunktion in Texten von Nietzsche und Kafka in den Blick nimmt.
282 2.2. Die Götzen-Dämmerung

verweis führt letztendlich in eine selbstreferentielle Schleife, die als Schleife die Resul-
tate der in diesen Kapiteln vorgebrachten Kritik in eine latente Gefahr bringt, unter-
scheiden sich doch die dort vom autodiegetischen Erzähler vorgebrachten alternativen
philosophischen Positionen von denjenigen der von diesem kritisierten Philosophen
nicht eigentlich in ihrem ‚Ursprung‘ – auch sie sind idiosynkratisch –, sondern bloß in
ihrem Reflexionsniveau: Zentraler Unterschied zwischen der vom autodiegetischen
Erzähler und der von den ‚idiosynkratischen Philosophen‘ vertretenen Positionen ist
schlichtweg, dass der in besagten Texten in seinen Idiosynkrasien mehrfach markierte
Erzähler um die relational affektiert-reflektierte Bedingtheit seiner eigenen Evaluatio-
nen potentiell ‚weiß‘.642 Dieses potentielle ‚Wissen‘ schützt ihn jedoch nicht davor, dass
auch seine Position – genauso wie diejenigen der von ihm kritisierten Philosophen –
jederzeit von einer anderen Position aus durch die kritische Offenlegung seiner Idio-
synkrasien unterlaufen und aufgehoben werden kann. In dieser Offenheit zur Fremd-
aufhebung besteht eines der zentralen Charakteristika der dem Textgeschehen von GD
Sokrates und GD Vernunft eingeschriebenen autodeiktischen Schleife.
Die autodeiktische Schleife unterscheidet sich in den ihr soeben zugeschriebenen
Kennzeichen von sämtlichen der am Anfang dieses Kapitels synoptisch dargestellten,
von der Nietzscheforschung bisher freigelegten und auf den ‚Begriff‘ gebrachten For-
men der Selbstbezüglichkeit: So führt sie im Gegensatz zur Selbstaufhebung(sfigur)
nicht zu der für Letztere charakteristischen Autodestruktion. Zwar entbehrt auch die in
GD Sokrates und GD Vernunft vorgeführte Position des autodiegetischen Erzählers wie
diejenige des ebenso kritischen ‚Wir‘ aus M Vorrede 4 eines sie letztbegründenden
Fundaments. Das Fehlen eines solchen ist jedoch nicht das Resultat einer sich selbst
reflektierenden Selbstanwendung, sondern folgt aus der dem Text eingeschriebenen
Möglichkeit, auch die vom autodiegetischen Erzähler ‚vertretene‘ Position durch ‚Frei-
legung‘ ihrer Idiosynkrasien zu destruieren.643
GD Sokrates und GD Vernunft entbehren des Weiteren zwar nicht vollständig der
von Autoren wie Daniel Conway, Werner Stegmaier und Claus Zittel für Nietzsches
Spätwerk als charakteristisch ausgewiesenen autoparodierenden Komponente, soll-
ten aber dennoch nicht als konsequente Realisierung der Selbstparodie verstanden
werden. Gegen eine solche Lesart spricht insbesondere das die beiden Kapitel cha-
rakterisierende philosophische „Pathos“:644 Wohl finden sich insbesondere in den

642 Da in GD Vernunft nicht eindeutig ist, ob der autodiegetische Erzähler vom idiosynkratischen
Status seines eigenen Denkens eigentlich weiß, dieser jedoch im Textgeschehen offensichtlich vor-
geführt wird, ist im Folgenden immer bloß von dessen potentiellem ‚Wissen‘ die Rede.
643 Insofern ist es im gegebenen Fall treffender von ‚Fremd-‘ anstelle von ‚Selbstaufhebung‘ zu
sprechen. Siehe zu der im Begriff der ‚Fremdaufhebung‘ mitschwingenden Bedeutung des Lesers für
die eigentliche Realisierung von Nietzsches Texten zwar eingeschriebenen, in diesen jedoch nicht
explizit selbst reflektierten Subversionsmomenten auch die Fußnote 650.
644 Die Verwendung des Begriffes ‚Pathos‘ in Nietzsches Schriften ist von der Forschung vorwiegend
über die Auseinandersetzung mit der von Nietzsche selbst geprägten Metapher des „Pathos der Dis-
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 283

ersten Abschnitten von GD Vernunft zahlreiche parodistische Elemente, diese werden


jedoch im weiteren Verlauf des Textes immer mehr zurückgedrängt und durch alter-
native Subversionstechniken ersetzt, um schließlich am Ende des Kapitels in eine
affirmative Beschreibung des „tragische[n] Künstler[s]“ zu münden. Wie hier im
Folgenden gezeigt werden wird, stellt besagter Wechsel zwischen einer bereits bei der
Eröffnung eines Kapitels gesetzten Autosubversion qua Selbstparodie und deren
partielle Zurücknahme im weiteren Textverlauf einen Einzelfall im Textgeschehen der
Götzen-Dämmerung dar, dessen deutende Festsetzung stark von der interpretativen
Gewichtung der Chronologie besagten Textgeschehens abhängt. Nur derjenige Leser,
der das im ‚Handlungsverlauf‘ Spätere als das Eigentliche deutet, wird das affirmativ-
‚pathetische‘ Ende von GD Vernunft als temporäre Stillstellung der selbstparodis-
tischen Momente in besagtem Kapitel auslegen. Diese ‚erzähllogische‘ Besonderheit
des Textes realisiert ein subversives Kalkül, das man durchweg auf der erkenntnis-
kritischen Folie von Conways Aufsatz zur ‚self-parody‘ deuten kann: Ist nämlich
einmal die Bedingtheit jeglicher Beurteilungskriterien durchschaut, besteht nicht
mehr die Möglichkeit, die eigenen Kritiken aus einer Evaluationsbasis heraus zu
entwickeln, die selbst dieser Bedingtheit entbehrte. Um dennoch Kritik üben zu
können, ohne dabei hinter die soeben artikulierte ‚Einsicht‘ zurückzufallen, bietet es
sich an, eine Vorgehensweise zu wählen, die einerseits von Anfang an ihren eigenen
beschränkten Status – sprich: ihre Bedingtheiten – markiert, andererseits jedoch im

tanz“ (vgl. JGB 257, GM I 2, GM III 14 und GD Streifzüge 37) in den Blick genommen worden. Siehe zu
diesem einführend Brömsel 2000, Strobel 2009 sowie Stegmaier 2013.
Jüngst ist der Begriff allerdings auch jenseits dieser nietzscheschen Wortprägung vermehrt
untersucht worden. So konstatiert Enrico Müller ausgehend von einer Stelle aus einem Abschnitt zur
Geburt der Tragödie in Ecce homo, in welcher der Text direkt auf eine mich im folgenden Kapitel noch
eingehender beschäftigende Stelle aus GD Alten 4 referiert (vgl. EH GT 3, KSA 6, S. 312), dass Nietzsche
in seinem Spätwerk „sukzessive die ‚Umsetzung des Dionysischen in ein philosophisches Pathos‘ [EH
GT 3; A.P.] zur permanenten Interpretationspraxis habe [werden] lassen. Umsetzung bedeutet unter
diesen Voraussetzungen ein strategisches Verschieben von Begriffen des Logos zu Formen des Pathos
hin: und eben dies wäre keine Philosophie für oder gegen das Unbewusste, sondern ein Philosophie-
ren mit dem Unbewussten“ (Müller 2012, S. 27).
Dass dem hier sich in unmittelbarer Nähe der Idiosynkrasie bewegenden „Pathos“ nicht der im
Lauftext mehrfach angesprochene Ernst fehlt, hat unlängst Werner Stegmaier demonstriert. Stegmaier
zeichnet im Zuge einer Auseinandersetzung mit dem sechsten Hauptstück von JGB und der in diesem
an die Philosophie gestellten Anforderungen auch den in diesen mitschwingenden „pathetischen
Ernst in der Sache“ (Stegmaier 2013, S. 223) nach, zeigt dabei aber auch, wie dieser insbesondere durch
die schriftstellerische Form von Nietzsches späten Texten gebrochen wird, und führt letztendlich das
Pathos des späten Denkens Nietzsches auf dessen Individualisierung und Perspektivierung der Phi-
losophie zurück: „Wenn […] die Philosophie auf einen essentialistischen, metaphysischen Begriff auch
von sich selbst verzichtet, was bleibt dann anderes, um sie zu unterscheiden, als ihr Pathos, das
Pathos ihrer Selbstprivilegierung? Denn bestritte man das Recht, das sie sich selbst gibt, bestritte man
es wiederum aus diesem Recht.“ (Stegmaier 2013, S. 224)
Nicht zuletzt in dieser für Nietzsches spätes Denken unvermeidbaren Selbstprivilegierung mag
der Ernst seines späten philosophischen Pathos begründet liegen.
284 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Zuge der eigentlichen Kritik die diese Bedingtheiten zur Schau stellenden Techniken
partiell zurücknimmt, um solcherart überhaupt der Kritik fähig zu sein. Genau ein
solches Procedere scheint durch das erzähllogische Kalkül in Kapiteln wie GD Ver-
nunft umgesetzt zu werden: Indem dort bereits vom ersten Abschnitt an durch ver-
schiedene Formen der Selbstbezüglichkeit die Evaluationsbasis der im Kapitel vor-
gebrachten Kritiken eindeutig markiert wird, im weiteren Textgeschehen diese
Markierungen jedoch allmählich zurücktreten, um dann in den letzten Sätzen von GD
Vernunft 6 endgültig durch ein hoch affirmatives ‚Sprechen‘ ersetzt zu werden, wird
es möglich, die intendierten Kritiken umzusetzen, ohne dabei unter das ursprüngliche
Reflexionsniveau der Götzen-Dämmerung zurückzufallen.
Trotz der Übereinstimmungen in den ‚erkenntniskritischen Grundannahmen‘ von
GT Versuch und GD Vernunft differiert die Mehrheit der diese ‚Grundannahmen‘ im
Textgeschehen von GD Vernunft markierenden ‚Selbstbezüglichkeitsfiguren‘ an zwei
entscheidenden Punkten von der spezifischen Conway’schen Variante der ‚self-paro-
dy‘, deren einer bereits beim Nachvollzug des Textgeschehens von GD Vernunft in die
Bezeichnung der dort nachgewiesenen ‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘ als ‚autodeiktische
Schleife‘ miteingegangen ist. Es handelt sich dabei um das Phänomen der Autodeixis
selbst. Durch dieses die Figurengestaltung von GD Sokrates und GD Vernunft bestim-
mende Phänomen eignet der sich in besagte Kapitel einschreibenden Schleife auf der
textuell-materiellen Ebene ein Darstellungsmoment mehr als der Conway’schen Va-
riante der Selbstparodie.645 Deren performativer Charakter besteht laut diesem
schlichtweg darin, dass in GT Versuch die Position, aus der dort die Kritik an den
bisherigen Moralen vorgebracht wird, in ihrer Grundstruktur diesen nicht nur ähnelt,
sondern mit ihnen übereinstimmt. Dies ist auch bei der idiosynkratischen Kritik an
der Idiosynkrasie der Philosophen in GD Sokrates und GD Vernunft der Fall. Die
Darstellung dieser Kritiken geht dort jedoch über die bloße formale Übereinstimmung
in der idiosynkratischen Bedingtheit der kritisierenden und der kritisierten Positionen
hinaus, indem in der Figurengestaltung besagter Kapitel die angesprochenen Idio-
synkrasien explizit zur Darstellung gebracht werden und somit die ‚These‘ selbst noch
einmal auf einer weiteren Ebene ‚performativ‘ eingeholt wird. Wie im Zuge der Lektüre
von GD Vernunft gezeigt wurde, führt dort diese Darstellungsweise zu einer regelrech-
ten Hypertrophierung des autodiegetischen Erzählers, deren emphatischer Charakter
potentiell als ‚Selbstparodie‘ gelesen werden kann. Diese geht aber aufgrund besagter
zusätzlicher darstellerischer Elemente über Conways Verständnis derselben hinaus.
Dazu trägt außerdem auch die zuvor bereits angesprochene Erzähllogik in GD
Vernunft bei. Das Textgeschehen in GD Vernunft differiert nämlich von Conways ‚self-

645 In besagter Autodeixis besteht auch der zentrale Unterschied zu der ansonsten das Textgesche-
hen von GD Sokrates und GD Vernunft ebenfalls durchweg treffenden Bestimmung der ‚Selbstparodie‘
durch Claus Zittel (siehe dazu Kap. 2.1.2.3. sowie Zittel 2011 [2000], S. 124–128, insbesondere S. 127).
Laut dieser eignet der ‚Selbstparodie‘ jedoch ein selbstreflexiver Charakter, auf dessen Fehlen in GD
Sokrates und GD Vernunft im Lauftext noch eingegangen werden wird.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 285

parody‘ nicht nur dadurch, dass es über das bloße ‚performative‘ Verweisen hinaus-
geht, sondern auch durch den Sachverhalt, dass dort die im Zuge dieses Verweisens
zur Darstellung gebrachten parodistischen Elemente temporär zurückgenommen wer-
den, indem in GD Vernunft 6 die das Textgeschehen vorantreibenden Figuren – ins-
besondere der autodiegetische Erzähler – in der Wiedergabe der vier diesem zu-
geschriebenen Thesen auf eine durchweg ‚ernste‘ Art und Weise charakterisiert und
solcherart die selbstparodistischen Momente des Kapitels zum Verstummen gebracht
werden, ohne dadurch jedoch das Kapitel von dem ihm durch die autodeiktische
Schleife eingeschriebenen autosubversiven Potential zu befreien.
Ähnlich subtil wie die Unterschiede zwischen autodeiktischer Schleife und Con-
ways ‚self-parody‘ verhält sich Erstere zur Paradoxie. Wie diese wird auch besagte
Schleife durch selbstreferentielle Verweise gekennzeichnet. Und ebenfalls wie bei
dieser führen besagte selbstreferentielle Verweise dazu, dass GD Sokrates und GD
Vernunft die metaphilosophischen Voraussetzungen der in ihnen vorgebrachten phi-
losophischen Position nicht aussagen, sondern ‚zeigen‘. Im Unterschied zur Paradoxie
kommt es dabei jedoch im Textgeschehen nicht eigentlich zu einem Selbstwider-
spruch. Ein solcher entsteht erst postquem im Zuge einer das komplexe Textgeschehen
systematisierenden Rekonstruktion besagter metaphilosophischer Voraussetzungen.
Eine derartige Rekonstruktion der metaphilosophischen Annahmen von GD Sokrates
und GD Vernunft führt letztendlich zu folgendem selbstwidersprüchlichen Argument:

1.) Alle Philosophie ist ein Ausdruck der Idiosynkrasien ihres Urhebers.
2.) Idiosynkratisches Denken kann keinen allgemeingültigen Denkkriterien folgen.
3.) Was nicht allgemeingültigen Denkkriterien folgt, kann keinen Anspruch auf all-
gemeingültige Wahrheit erheben.
4.) Die Kritik an den Idiosynkrasien der Philosophen ist selbst idiosynkratisch.

Konklusion: Die Kritik an den Idiosynkrasien der Philosophen kann keinen Anspruch
auf allgemeingültige Wahrheit erheben.

Wesentlich für den nicht-selbstwidersprüchlichen Status der autodeiktischen Schlei-


fe ist nun, dass keine einzige der in dieser Rekonstruktion erstellten Prämissen im
Text selbst explizit artikuliert wird. GD Sokrates und GD Vernunft beschränken sich
ausschließlich auf die Vorführung derselben. Insofern handelt es sich bei dieser
Vorführung auch nur mehr bedingt um einen selbstreferentiellen Verweis im Sinne
Wolfs, da ein solcher die Explikation dessen, was vom Text vorgeführt wird, bedarf.
Eine derartige Ausformulierung der GD Sokrates und GD Vernunft insgeheim leiten-
den ‚Prämissen‘ sucht man in den beiden Kapiteln jedoch vergeblich. Diese Tatsa-
che, sprich: der Sachverhalt, dass die beiden zuvor analysierten Kapitel sich auf das
‚Zeigen‘ besagter metaphilosophischer Grundannahmen beschränken, ohne sie ex-
pressis verbis zu artikulieren, verbieten es einer sich an der Textualität der Kapitel
orientierenden Lektüre, diese in eine propositional-thetische Form zu überführen.
286 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Gerade in der Vermeidung einer derartigen Darstellungsweise sowie der damit


einhergehenden potentiellen Generierung eines nichtpropositionalen Wissens
scheint letztendlich der philosophische Mehrwert der autodeiktischen Schleife zu
liegen.646
Dennoch – und das darf keineswegs übersehen werden –, besitzt eine solche
autodeiktische Schleife ein subversives Potential, das auf einer höheren Reflexions-
ebene eindeutig zum Tragen kommt. Wendet man nämlich die im Zuge der syste-
matisierenden Rekonstruktion freigelegte und im Text nur vorgeführte metaphiloso-
phische Grundthese, dass alle Philosophie Ausdruck der Idiosynkrasien ihres
Urhebers sei, auf sich selbst an, folgt daraus, dass auch diese ‚These‘ selbst Resultat
einer solchen Idiosynkrasie sein muss. Das sich derartig ergebende, vom Leser
jederzeit einlösbare destabilisierend-subvertierende Moment führt potentiell in ei-
nen unendlichen Reflexionsprozess, in welchem die rekonstruierbaren Metaphiloso-
pheme und deren autodeiktische Vorführung niemals vollständig zur Deckung
kommen, da ein jedes Mal, wenn ein solches Metaphilosophem auf sich selbst
angewandt wird, sich dieses auf einer anderen Ebene wiederholte und der derartig
vom Leser qua Selbstanwendung katalysierte Reflexionsprozess niemals zum Still-
stand käme.647 Besagter Reflexionsprozess – darauf ist noch einmal mit Nachdruck
hinzuweisen – ist jedoch ausschließlich Resultat des Leseaktes und der während
diesem möglicherweise erfolgenden Rekonstruktion besagter Metaphilosopheme.648

646 Insofern kann man im Falle der autodeiktischen Schleife auch nur bedingt von deren performati-
vem Charakter im Sinne einer strukturellen Performativität sprechen, da die von besagter Schleife
performativ umgesetzte These im Text selbst nirgendwo explizit ausgesprochen wird und nur rekon-
struktiv erfassbar ist. Aus diesem Grund wurden im Lauftext im Zuge der Beschreibung der auto-
deiktischen Schleife sämtliche Begriffe aus dem Wortfeld der ‚Performativität‘ zwischen einfache
Anführungszeichen gesetzt.
647 In diesem Falle gilt also dasselbe, was Jakob Dellinger im Zuge seines überzeugenden Versuches
der Klärung der Frage, ob es beim Gebrauch des ‚Willen zur Macht‘-Motivs in Jenseits von Gut und Böse
zu einer ‚Deckung‘ zwischen dessen Charakterisierung und dem Vollzug desselben im Textgeschehen
kommt, festgestellt hat: „Jeder Anschein einer schließenden ‚Deckung‘ erweist sich […] selbst schon
wieder als gewaltsam-perspektivischer Interpretationsanspruch, sodass das Moment der ‚Entspre-
chung‘ ausschließlich im Akt seiner eigenen Relativierung aufscheinen kann.“ (Dellinger 2013a,
S. 184)
648 An diesem Punkt zeigt sich des Weiteren die Relevanz des von Paul de Man in seinen im
Kapitel 2.1.2.1. kritisch erörterten Nietzschelektüren aufgrund der diese bestimmenden Annahme des
universell rhetorischen Charakters der Sprache als das zentrale Kennzeichen von Nietzsches Werken
herausgearbeitete Moment der unendlichen Reflexion. Dieses ist jedoch eben nicht – wie von de Man
behauptet – ein Resultat des rhetorischen Charakters von Nietzsches Schriften, sondern der diesen
eingeschriebenen und nur durch den Nachvollzug durch den Leser reaktivierbaren Selbstbezüglich-
keiten. Gerade in der solcherart erneut freigelegten Reflexionsbewegung scheint eine Parallele zwi-
schen dem Textgeschehen von Nietzsches späten Schriften und den theoretischen Anstrengungen der
deutschen Frühromantik zu bestehen, mit dem Unterschied, dass der Leser in Nietzsches Schriften jene
Reflexionsbewegung reaktiveren kann, welche die Romantiker theoretisch, jedoch nicht primär in der
Darstellungsform ihrer eignen Schriften bereits realisiert haben.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 287

Der in eine autodeiktische Schleife mündende Text artikuliert diese hingegen nie-
mals selbst.649
Ähnlich, und doch in einem entscheidenden Punkt anders, verhält es sich mit der
zweiten im Zuge der Lektüre von GD Vernunft 5 dort nachgewiesenen ‚Selbstbezüg-
lichkeitsfigur‘. Auch die dort ebenfalls eine bedeutende Rolle innehabende, aus dem
selbstreferentiellen Verweis der ‚These‘, dass die Sprachmetaphysik, also die in den
semantisch-grammatischen Grundstrukturen jeder Sprache sedimentierten Grund-
annahmen, den sich der Sprache bedienenden Denker zum Irrtum „n e c e s s i t i r t “ (GD
Vernunft 5, EA 22), resultierende ‚Rück-Faltung‘ dieser ‚These‘ auf sich selbst wird in
GD Vernunft 5 nicht eigentlich selbst reflektiert, wenn man ‚Selbstreflexion‘ im
strengen Sinne Wolfs versteht. Dennoch – und darin besteht der zentrale Unterschied
zur autodeiktischen Schleife – wird die die Faltung katalysierende ‚These‘ vom allen
Sprechen und Schreiben zugrundeliegenden ‚verfälschenden‘ Sprachschematismus
in GD Vernunft 5 tatsächlich ausformuliert. Bei der sich durch diese explizite Aus-
formulierung realisierenden ‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘ handelt es sich eindeutig um
eine Autoreferenz im oben definierten Sinne. Auch diese bedarf – wie die autodeikti-
sche Schleife – eindeutig der ‚Mithilfe‘ des Lesers damit ihr Irritationspotential voll
zum Tragen kommt. Erst wenn Letzterer im Zuge einer nachvollziehenden Lektüre die
im Textgeschehen angelegte Autoreferenz qua Selbstanwendung auf besagtes Text-
geschehen ‚zurückfaltet‘, realisiert sich das in besagter Autoreferenz angelegte Sub-
versionspotential. Auch hier zeigt sich also noch einmal die immense Bedeutung des
Rezipienten bei der Entfaltung des in Nietzsches Schrift angelegten, jedoch nicht
immer qua Selbstreflexion eindeutig explizierten ‚Sinnpotentiales‘, bei dem es sich in
zahlreichen Fällen eigentlich um ein Subversionspotential handelt.650

649 Anders verhält es sich im ersten Hauptstück von JGB. Dort wird bereits im sechsten ‚Aphorismus‘
festgestellt, „was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers
und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ (JGB 6, KSA 5, S. 19). Durch die Artikulation
dieser eindeutig selbstbezüglichen ‚These‘ kommt es im Textgeschehen von JGB dementsprechend zur
Realisierung einer von der hier soeben beschriebenen ‚autodeiktischen Schleife‘ abweichenden
‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘.
650 Zur Rolle und Bedeutung des Lesers bei der konkreten Realisierung von Nietzsches ‚Subversions-
techniken‘ siehe erneut Dellinger 2012f., der dort – abermals im Zuge einer Beschäftigung mit dem
Subversionspotential des Willens zur Macht – feststellt: „Die durch die Techniken der Subversion
erzielte Leser-Involvierung ließe sich somit als konsequente Extension der inhaltlichen Problematik
verstehen: Der ihnen nachspürende Leser würde genötigt, auch noch den ‚perspektivischen‘ Charakter
seiner eigenen interpretativen Festlegungen mitzureflektieren.“ (Dellinger 2012f, S. 326)
Eine ähnlich stark die Bedeutung des Lesers für potentielle ‚Fremdaufhebungen‘ unterstreichen-
de Denkfigur hat Marcus Andreas Born – ohne dabei jedoch die besagten Phänomene auf den Begriff
zu bringen – im Zuge seiner Analyse des Psychologie-Motivs im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut
und Böse nachgewiesen (vgl. Born 2012b).
288 2.2. Die Götzen-Dämmerung

2.2.4.3. Ernste Selbstparodie (GD Moral)

Das Auftreten von ‚Selbstbezüglichkeitsfiguren‘ ist in der Götzen-Dämmerung aber


nicht nur auf die beiden hier exemplarisch zu deren Explikation herangezogenen
Kapitel und die dort nachgewiesenen autodeiktischen Schleifen beschränkt. Deren
sowohl intertextuell als auch in ihrer Subtilität komplexeste Variante findet sich in
einem Kapitel, das ein spätestens seit Nietzsches nachträglichen Vorreden von 1886/
87 für sein Denken zentrales Problem verhandelt, die Moral, und sich dabei – wie es
im späten „Versuch einer Selbstkritik“ heißt – „gegen die m o r a l i s c h e Ausdeutung
und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre“ (GT Versuch 5, KSA 1, S. 17) setzt.
Die Rede ist hier vom Kapitel „Moral als Widernatur“, dessen Abschnitte GD Moral
2 und 3 in dieser Studie bereits im Zuge der Bereitstellung der Intratexte für die Lektüre
von GD Vernunft im Kapitel 2.2.2.2. behandelt worden sind. Für die Nachzeichnung der
das Textgeschehen dieses Kapitels kennzeichnenden ‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘, die
sich wesentlich von den bisher dargestellten Varianten unterscheidet, sei kurz der
Anfang des Kapitels zusammengefasst: GD Moral 1 bietet ein kurzes Narrativ zum
bisherigen Umgang mit „Passion“ und „Leidenschaft“ in der Geschichte des Abend-
landes. Ausgehend von der geschichtsphilosophischen Hypothese, dass die kritisch-
moralische Auseinandersetzung mit den „Passionen“ und „Leidenschaften“ erst sehr
spät dazu führt, sie zu „‚vergeistigen‘“ (GD Moral 1, EA 28), wird in besagtem Abschnitt
konstatiert: „Die Leidenschaften und Begierden v e r n i c h t e n , bloss um ihrer Dumm-
heit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint uns
heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit.“ (GD Moral 1, EA 28f.)
Diese an die erste Person Plural gebundene Kritik dieser ‚moralischen‘ Praxis
wendet sich im weiteren Verlaufe von GD Moral 1 insbesondere gegen Christentum
und Kirche, die als exemplarische Vertreter dieses Vorgehens ausgewiesen werden,
um schließlich im letzten Satz in ein vernichtendes Urteil über dieses Procedere und
deren Agenten zu münden: „Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst
das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist l e b e n s f e i n d l i c h …“
(GD Moral 1, EA 29)
Bereits in diesem Abschnitt zeichnet sich somit eine Vorgehensweise ab, die das
gesamte Kapitel charakterisiert und deren problematischen Charakter Andreas Urs
Sommer im Nietzsche-Kommentar folgendermaßen zusammenfasst:

Auffällig am Kapitel „Moral als Widernatur“ ist die durchgehende moralische Argumentations-
weise, nämlich die Verunglimpfung der asketischen und christlichen Moralformen als schlecht,
weil sie den Lebensinteressen widerstreiten. Das (aufsteigende) Leben fungiert dabei als Maßstab
des Urteilens. Es scheint, als würde damit nur eine Moral (nämlich eine lebensbejahende) einer
anderen (nämlich einer lebensverneinenden) entgegengesetzt.651

651 Sommer 2012, S. 314.


2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 289

Die von Sommer angesprochene Gegenposition wird, nachdem in GD Moral 2 die in


der bereits im ersten Abschnitt dargestellte „radikale Feindschaft, die Todfeindschaft
gegen die Sinnlichkeit“ als „ein nachdenkliches Symptom“ ausgewiesen und als
Orientierungsrahmen zur Beurteilung der „ganze[n] Geschichte der Priester und Phi-
losophen, der Künstler“ (GD Moral 2, EA 30) vorgeschlagen wird, erstmals in GD Moral
3 eingehender vorgeführt. Dort setzt der Text der „radikale[n] Feindschaft“, welche
das Christentum und die Kirche gegenüber den Sinnen gehegt haben, eine ‚Vergeisti-
gung der Liebe und Feindschaft‘ entgegen, auf deren Bedeutung für den Status der
vom autodiegetischen Erzähler vorgebrachten Heterodoxien bereits im Kapitel 2.2.2.1.
eingegangen worden ist. Bereits im zweiten Satz dieses Abschnittes wird die eigentli-
che Konsequenz dieser ‚Vergeistigungen‘ expliziert: „Sie besteht darin, dass man tief
den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, dass man umgekehrt thut und
schliesst als man ehedem that und schloss.“ (GD Moral 3, EA 30f.)
In diesem Satz wird die „Vergeistigung der Feindschaft“ eindeutig als „Werth“
ausgewiesen und solcherart selbst moralisch ‚bewertet‘. Auch der Rest des Abschnittes
kennzeichnet sich durch seine durchgehend moralisch-wertende Vorgehensweise.
Dabei wird der ‚Wert der Feindschaft‘ insbesondere gegen die christlichen Werte aus-
gespielt, so wenn es zum Beispiel heißt: „Nichts ist uns fremder geworden als jene
Wünschbarkeit von Ehedem, die vom ‚Frieden der Seele‘, die c h r i s t l i c h e Wünsch-
barkeit“ (GD Moral 3, EA 31). Die hier aus der Perspektive eines kollektiven ‚Wir‘
erfolgende Abwertung der christlichen Variante des „Frieden[s] der Seele“ spielt im
weiteren Textverlauf von GD Moral 3 noch eine bedeutende Rolle. Auf dessen erstmalige
Nennung in dem soeben zitierten Satz nach einem kurzen kommentierenden Einschub,
der noch einmal die positive Wertung und immense Bedeutung der Feindschaft für die
in der Götzen-Dämmerung propagierte Persönlichkeitskonzeption unterstreicht652 –
„Man hat auf das g r o s s e Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet…“ (GD
Moral 3, EA 31) – , folgt eine Auflistung jener Fälle, in welchen der vermeintliche
„Frieden der Seele“ als „ein Missverständniss, — etwas A n d e r e s , das sich nur nicht
ehrlicher zu benennen weiss“ (GD Moral 3, EA 31f.), ausgewiesen wird.
Mit dem Ende von GD Moral 3 setzt dann eine Selbstreflexion des in den voraus-
gehenden Abschnitten umgesetzten Procederes ein, dessen autodestruktive Selbst-
bezüglichkeit das weitere Textgeschehen nicht zuletzt aufgrund seines Gegenstandes –
der Moral – in unmittelbare Nähe zu Claus Zittels Variante der Selbstaufhebungsfigur
führt. Dieser Reflexionsprozess wird spätestens mit dem letzten Satz von GD Moral 3

652 Siehe zu dieser unter anderem auch die ebenfalls selbstreferentiell auf den autodiegetischen
Erzähler verweisenden und im Folgenden noch eingehender behandelten Sätze aus GD Moral 6: „Aber
selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen wendet und zu ihm sagt: „so und so soll-
test d u sein!“ hört er nicht auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne
und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu
ihm sagen „ändere dich“ heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch…“ (GD Moral
6, EA 35)
290 2.2. Die Götzen-Dämmerung

inauguriert. Dieser lautet: „G ö t z e n - D ä m m e r u n g : wer weiss? vielleicht auch nur


eine Art ‚Frieden der Seele‘…“ (GD Moral 3, EA 32)
Liest man diese Äußerung als metareferentielle Interrogatio – wofür sowohl der
Verweis auf den qua Sperrung hervorgehobenen Titel des Werkes653 als auch die
häufige Verwendung dieser rhetorischen Figur im Text spricht –, kommt es zu schwer-
wiegenden Konsequenzen nicht nur für die in den Abschnitten 1 bis 3 von GD Moral
geübte Kritik an den christlich-kirchlichen Moralvorstellungen, sondern für sämtliche
im Werk vorgebrachte kritische Polemiken, da solcherart auch diese durch die in
besagter rhetorischer Frage erfolgende Selbstanwendung als Folge eines „Missver-
ständniss[es]“ zu deuten wären. In diesem Falle käme es also zu einer formalen
‚Deckung‘ der Bedingtheiten der im Zuge der Kritik an anderen moralischen Vorstel-
lungen propagierten Moral und der kritisierten Moral.654 Gerade in dieser ‚Deckung‘
bestünde dann auch die Differenz zu der insbesondere aus M Vorrede 4 und GM III 27
bekannten Selbstaufhebung der Moral durch die Moral: Ist diese nämlich eine Folge
der aus der Moralität selbst hervorgegangenen Redlichkeit, d.h., hebt sich dort die
Moral aus moralischen Gründen im Zuge einer selbstreflektierten Selbstanwendung
auf, käme es in GD Moral 3 zu einer durchweg anders gearteten Selbstaufhebung.
Zwar wäre auch diese die Folge einer Selbstreflexion. Diese Reflexion wäre jedoch
nicht wie diejenige in M Vorrede 4 und GM III 27 eindeutig moralisch bedingt, sondern
bloß das Resultat der durch die rhetorische Frage artikulierten Selbstanwendung der
in GD Moral 3 zuvor präsentierten These, dass jeglicher „Frieden der Seele“ ein „Miss-
verständniss“ sei.
Zur Überprüfung, ob es sich bei diesem Phänomen letztendlich tatsächlich um
eine Selbstaufhebungsfigur im Sinne Zittels handelt, ist zu klären, inwieweit der Text
in Anknüpfung an das Ende von GD Moral 3 dazu in der Lage ist, einen Standpunkt zu
entwickeln, der nicht selbst wieder der von ihm soeben freigelegten (Zerfalls-)Logik
verfällt.

653 Der metareferentielle Verweis ist im Druckmanuskript ein anderer, wie der Nietzsche-Kommentar
zeigt: „Umwerthung aller Werthe ‚Müssiggang eines Psychologen‘: auch eine Art ‚Frieden der Seele‘…“
(Sommer 2012, S. 323). Der Korrekturbogen bietet folgende Variante: „G ö t z e n – Hammer: wer weiß?
vielleicht auch eine Art – – – ‚Wie ein Psycholog Fragen stellt‘: – Auch diese Schrift ist, wie der ‚Fall
Wagner‘, vor Allem – – – “ (KSA 14, S. 416f.).
654 Siehe dazu auch Sommer 2012, S. 314f., wo dieser schreibt: „Da der Anspruch des Kapitels […]
aber als Problematisierung von Moral überhaupt gelesen werden kann, lässt sich das moralische
Argumentieren gegen Moral auch als Versuch verstehen, die innere Logik von Moral performativ ad
absurdum zu führen: N. würde dann zeigen, dass auch das jeweilige Gegenteil des gewohnten mora-
lischen Urteils gesagt und gedacht werden kann – dass man aber zugleich in der sprachlichen
Nötigung des (moralischen) Urteilens gefangen bleibt.“
Auf die von Sommer im Anschluss an die soeben zitierte Passage gezogene Konklusion – „So
ließe sich die Hinterabsicht des Kapitels als metamoralisch beschreiben, nämlich zu demonstrieren,
wie Moral funktioniert.“ (Sommer 2012, S. 315) – werde ich im Lauftext noch näher eingehen.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 291

In Anbetracht dieser Frage verwundert der Fortgang des Kapitels ein wenig.
Dieses setzt nämlich nach dem Abschluss von GD Moral 3 mit der soeben analysierten
selbstreflexiven Frage in GD Moral 4 die zuvor geübte Kritik gegen Christentum und
Kirche anscheinend ‚unbeeindruckt‘ fort und verallgemeinert sie sogar, wenn es in
der Mitte des Abschnittes heißt: „Die w i d e r n a t ü r l i c h e Moral, das heisst fast jede
Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt
gerade g e g e n die Instinkte des Lebens“ (GD Moral 4, EA 33). Die solcherart als
‚widernatürlich‘ ausgewiesenen Moralen werden dann am Ende des Abschnittes
explizit als „Feind des Lebens“ (GD Moral 4, EA 33) bezeichnet.
Die Irritation, welche diese Kritik in Anbetracht des am Ende von GD Moral 3
angedeuteten problematischen Status ihrer eigenen evaluativen Fundamente poten-
tiell beim aufmerksamen Leser auslöst, mag – zumindest partiell – mit dem fünften
Abschnitt schwinden. Dieser setzt mit einem Argument zum Nachweis der Selbst-
widersprüchlichkeit der Weltverneinung ein und mündet im Laufe von dessen Entfal-
tung in die Grundthese von GD Sokrates 2:655

Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie
sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück,
auch Etwas Andres begriffen: das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, L ü g n e r i s c h e einer solchen
Auflehnung. Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das
Symptom einer bestimmten Art von Leben: die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht
damit aufgeworfen. Man müsste eine Stellung a u s s e r h a l b des Lebens haben, und andrerseits
es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem
vom W e r t h des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen: Gründe genug, um zu begreifen, dass
das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. (GD Moral 5, EA 33f.)

So sehr dieses ‚Argument‘ in seiner Kritik der christlichen Moral überzeugen mag, so
sehr drängt sich in Anbetracht desselben allerdings erneut die Frage auf, wie es denn
um die diese Kritik vorbringende Position selbst beschaffen sein mag.
Eine Antwort auf diese Frage gibt der sechste und letzte Abschnitt von GD Moral.
In diesem scheint der Versuch unternommen zu werden, eine Position zu entwickeln,
die tatsächlich auf eine Beurteilung des Lebens zu verzichten in der Lage ist. Dies
deuten bereits die Eröffnungssätze des Abschnittes an:

Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen „so und so s o l l t e der
Mensch sein!“ Die Wirklichkeit zeigt uns einen entzückenden Reichthum der Typen, die Üppig-
keit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels: und irgend ein armseliger Ecken-
steher von Moralist sagt dazu: „nein! der Mensch sollte a n d e r s sein“?… (GD Moral 6, EA 34f.)

655 Auf die Beliebtheit und weite Verbreitung des in GD Moral 5 verwendeten Argumentes verweist
Sommer 2012, S. 327.
292 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Nach einer erneuten Kritik an den Weltverneinungsmoralen im Mittelabschnitt von GD


Moral 6 wird dann jener Menschen-‚Typus‘ eingeführt, der aus den Eingangssätzen die
notwendigen Konsequenzen für sein Handeln und Denken zu ziehen scheint:

Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn,
Begreifen, G u t h e i s s e n . Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, B e j a h e n d e zu
sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht
und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der k r a n k e n Vernunft im Priester
verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des
Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht, — w e l c h e n Vortheil? — Aber wir
selbst, wir Immoralisten sind hier die Antwort… (GD Moral 6, EA 35f.)

Die ersten beiden Sätze dieses Passus identifizieren das GD Moral bestimmende kollek-
tive ‚Wir‘ und mit diesem den Erzähler selbst mit dem Menschen-‚Typus‘ des „Immora-
listen“, der sich durch eine Denkweise auszeichnet, deren zentrale Charakteristika
klimaktisch am Ende des ersten Satzes ausgedrückt werden: Er kennzeichne sich ins-
besondere durch sein „für alle Art“ offenes „Verstehn, Begreifen, G u t h e i s s e n “ (GD
Moral 6, EA 35). Insbesondere die ersten beiden Kennzeichen – das Verstehen und
Begreifen – scheinen die wertende Praxis sämtlicher anderer, eben moralischer, Men-
schen-‚Typen‘ hinter sich zu lassen. Indem der ‚Immoralist‘ auf den in GD Moral 5 seiner
Unmöglichkeit überführten Versuch „eine Stellung a u s s e r h a l b des Lebens“ (GD Mo-
ral 5, EA 34) verzichtet und an dessen Stelle den Versuch, Letzteres zu verstehen und zu
begreifen, setzt, scheint sich in ihm erstmals eine ‚Lebensweise‘ anzubahnen, die sich
tatsächlich ‚jenseits von Gut und Böse‘ stellt. Erst mit dem „G u t h e i s s e n “ wird ein
Handlungs- und Denkmodus eingeführt, der eindeutig wertenden Charakter besitzt.
Hier ist jedoch zu fragen, ob das von diesem ‚Typus‘ propagierte allumfassende ‚Ja‘
nicht doch gravierend von der traditionellen moralischen Praxis abweicht, kennzeich-
net sich diese doch durch ihre binäre Urteilspraxis. Dass eine solche auch den ‚Immora-
listen‘ nicht ganz fremd ist, bestätigt dann allerdings der zweite Satz der soeben
zitierten Passage, in welchem die ‚Verneinung‘ als zwar seltene aber eben dennoch
auftretende Urteilsform bei den ‚Immoralisten‘ ausgewiesen wird. Dunkel erscheint
dann der daran anschließende Satz, welcher behauptet, dass die soeben gekennzeich-
nete Handlungs- und Denkweise der ‚Immoralisten‘ insbesondere auf der ‚Einsicht‘ in
„jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des
Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht“ (GD Moral 6, EA 36),
fußt. Was mag mit besagter „Ökonomie im Gesetz des Lebens“ sowie dem aus dieser
gezogenen „Vortheil“ gemeint sein? Der Abschnitt selbst gibt nur beschränkte Hin-
weise zu deren Bestimmung. Danach handelt es sich bei besagter „Ökonomie“ wohl um
ein Nützlichkeitskalkül,656 das dazu in der Lage ist, „alles Das […] auszunützen […], was

656 Die Gleichsetzung der ‚Ökonomie‘ mit einem ‚Nützlichkeitskalkül‘ wird insbesondere von der
Standardbedeutung derselben am Ende des 19. Jahrhunderts nahegelegt. Der Brockhaus von 1894–1896
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 293

der heilige Aberwitz des Priesters, der k r a n k e n Vernunft im Priester verwirft“ (GD
Moral 6, EA 36).
Was verwirft aber die kranke Vernunft im Priester außer dem Leben selbst? Und
gesetzt, dass sie außer besagtem Leben selbst ‚nichts‘ Weiteres verwirft, woraus
könnte dann die Ökonomie desselben ihren Nutzen und Vorteil ziehen? Wohl genau
aus der ‚Einsicht‘ und dem Nachvollzug in diese Verwerfungspraxis selbst: Indem der
‚Immoralist‘ anhand „der widerlichen species des Muckers, des Priesters, des Tugend-
haften“ (GD Moral 6, EA 36) das deren Wertungen insgeheim leitende Prinzip ‚er-
kennt‘657, kann das in ihm waltende ‚Leben‘ aus dieser ‚Einsicht‘ den Nutzen ziehen,
dass er selbst ihr entsprechend handelt bzw. – um es in Anbetracht der traditionelle
Freiheitskonzepte hinter sich lassenden Persönlichkeitskonzeption der Götzen-Däm-
merung adäquater auszudrücken – er sich den Konsequenzen dieser ‚Einsicht‘ nicht in
seinem Handeln widersetzt.
In eine derartige Richtung weisen auch die zahlreichen Parallelstellen zur „Öko-
nomie“ in Nietzsches Schriften aus den Jahren 1887/88. Der ‚Terminus‘ ist in den
Schriften von 1888 fünf Mal (vgl. GD Moral 6, AC Vorwort, EH UB 1, EH Schicksal 4,
NW Epilog 1), im Nachlass von 1887/1888 gar sieben Mal belegt. Dagegen stehen nur
jeweils zwei Belegstellen vor 1887.658 Allein diese Häufung spricht dafür, dass mit
besagtem ‚Begriff‘ auch ein neuer Topos 1887/88 in Nietzsches Denken Einzug gehal-
ten hat. Die Belegstellen des Begriffes im Nachlass aus dem Jahre 1887/88 beschrän-
ken sich auf zwei in diesen beiden Jahren von Nietzsche verwendete Arbeitshefte – W
II 2 und W II 5659 –, in welchen der Terminus in drei (W II 2) bzw. vier (W II 5)
Belegstellen auftaucht. Von diesen sieben Belegstellen, unter denen sich auch die
Vorstufe zu GD Moral 6 befindet,660 kreisen neben Letzterer zwei weitere eindeutig um

bestimmt sie wie folgt: „Ökonomie (grch., d.h. Haushaltung, Wirtschaft, s.d.), im allgemeinen jeder
wirtschaftliche zweck-entsprechende Betrieb, besonders die wirtschaftliche Thätigkeit in der Landwirt-
schaft (s. d.)“ (Brockhaus 1894–1896, Bd. 12, S. 558).
657 Besagte ‚Erkenntnis‘ unterscheidet sich von traditionelleren Formen des Erkennens insbesondere
dadurch, dass sie selbst durch die potentielle Selbstanwendung der erlangten ‚Einsichten‘ auf deren
Produzenten diese jederzeit subvertieren kann. Aufgrund dieser latenten Autosubversionsgefahr wer-
den hier und im Folgenden Termini aus dem Wortfeld des Erkennens zwischen einfache Anführungs-
zeichen gesetzt.
658 Es handelt sich dabei um GMD 1, KSA 1, S. 526 und M 179, KSA 3, S. 158 sowie NL 1875, KSA 7, 8[3]
und NL 1876, KSA 8, 19[79].
659 Beim Heft W II 2 handelt es sich um ein von Nietzsche im Herbst 1887 verwendetes schwarzes
Quartheft. Für weitere Details zu dessen Verwendungszeitraum sowie einer genaueren Manuskriptbe-
schreibung siehe den CD-ROM Nachbericht zur KGW IX/9, S. 212ff.
Beim Heft W II 5 handelt es sich um jenes Arbeitsheft, in dem sich auch die Mehrheit der
Vorstufen zur Götzen-Dämmerung befinden.
660 Auf eine Deutung derselben wird hier verzichtet, da sich die von ihr gelieferten Varianten kaum
von der letztendlich publizierten Fassung unterscheiden und daher keine neuen Aufschlüsse zur
Bedeutung des Begriffes liefern. Vgl. W II 5, S. 47.
294 2.2. Die Götzen-Dämmerung

eine GD Moral 6 verwandte Themenstellung:661 So widmet sich eine auf den Seiten 25
und 26 des Arbeitsheftes W II 2 zu findende, „Aesthetica.“ (W II 2, S. 25, Z. 1) über-
schriebene und mehrfach überarbeitete Aufzeichnung an ihrem Ende dem insbeson-
dere in GD Streifzüge 8–11 eine so zentrale Rolle spielenden „tragische[n] Künstler“.
Im Zuge dieser Beschäftigung findet sich auch folgender Beleg der „Ökonomie“, der
hier mit sämtlichen Überarbeitungen wiedergegeben wird:

Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein aesthet. Instinkt die ferneren Folgen
übersieht, daß er nicht kurzsichtig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im Großen
bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige {rechtfertigt und nicht nur …} nicht nur recht-
fertigt (W II 2, S. 26, Z. 42–48).

Hier werden das ‚Wissen‘ und die ‚Einsicht‘ in die durch Unterstreichung hervorgeho-
bene „Ökonomie im Großen“ dem „tragischen Künstler“ zugeschrieben und deren
Bejahung zugleich als Ausdruck von dessen Tiefe gedeutet. Ausdruck besagter „Öko-
nomie im Großen“ – und das scheint auch für die Verwendung des Ökonomiebegriffes
in GD Moral 6 relevant zu sein – ist das selbige „das Furchtbare, Böse, Fragwürdige
rechtfertigt“ (W II 2, S. 26, Z. 46–48). Führt man die hier erörterte „Ökonomie im

661 Nicht jedoch die anderen drei Belegstellen. Von diesen kreist W II 2, S. 61 um das Problem der
Rangordnung und verhandelt in diesem Kontext auch die „Ökonomie der menschl. {Menschen=}
Entwicklung“ (W II 2, S. 61, Z. 39–40).
Beim zweiten nicht direkt mit der Thematik von GD Moral übereinstimmenden Beleg handelt es
sich um eine Aufzeichnung zum Willen zur Macht, in der sich auch folgende Stelle findet: „– das, was
das Wachsthum im Leben ausmacht, ist die immer sparsamer u. weiter rechnende Ökonomie, welche
mit immer weniger Kraft immer mehr erreicht … Als Ideal das Princip des kleinsten Aufwandes …“ (W
II 2, S. 45, Z. 24–28)
Diese Stelle besäße nur dann ein Naheverhältnis zu der in GD Moral 6 verhandelten Thematik,
wenn man auch die Götzen-Dämmerung auf der Folie des Willens zur Macht deuten würde, und
derartig einer Lesart folgte, die in dieser Studie bereits mehrfach problematisiert wurde.
Ähnlich verhält es sich mit dem dritten nicht direkt thematisch mit der Problematik von GD Moral
6 verbundenen Beleg der „Ökonomie“ in Nietzsches Nachlass von 1887/88. Auch diese Aufzeichnung
verhandelt den ‚Begriff‘ im Zuge einer Kritik traditioneller Ursachen-Begriffe auf der Basis des Willens
zur Macht: „nicht bloß Constanz der Energie: sondern Maximal=Ökonomie des Ver brauchs: so daß
das Stärkerwerden wollen von jedem Kraftcentrum aus die einzige Realität ist, – nicht Selbstbewah-
rung, sondern Aneignung, Herrwerden, Mehrwerden, Stärkerwerden wollen“ (W II 5, S. 136, Z. 52–56).
In Anbetracht derartiger Stellen drängt sich letztendlich die Frage auf, ob mit der „Ökonomie im
Gesetz des Lebens“ aus GD Moral 6 nicht doch auf den Wille zur Macht angespielt wird. Gegen eine
derartig eindeutige Identifizierung spricht allerdings eine Parallelstelle aus Ecce homo, in welcher der
Wille zur Macht nur als eines von vielen die ‚Realität‘ ausmachenden Elemente gelistet wird. Besagte
Stelle lautet: „In der grossen Ökonomie des Ganzen sind die Furchtbarkeiten der Realität (in den
Affekten, in den Begierden, im Willen zur Macht) in einem unausrechenbaren Maasse nothwendiger
als jene Form des kleinen Glücks, die sogenannte ‚Güte‘“ (EH Schicksal 4, KSA 6, S. 368).
Der vierte und letzte Beleg der „Ökonomie“ findet sich ebenfalls im Arbeitsheft W II 5, wird dort
jedoch fern von jeglicher möglichen Assoziation mit dem Willen zur Macht in seiner Standardbedeu-
tung verwendet: „Keuschheit ist mitunter bloß die Ökonomie eines Künstler:“ (W II 5, S. 103, Z. 31).
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 295

Großen“ mit der „Ökonomie im Gesetz des Lebens“ aus GD Moral 6 zusammen – eine
Zusammenführung, welche zugleich den „tragischen Künstler“ und den ‚Immoralis-
ten‘ in ein unmittelbares Verhältnis bringt –, würde das für die Deutung des in GD
Moral 6 gezogenen Nutzens und Vorteiles bedeuten, dass Letztere darin bestünden,
dass der ‚Immoralist‘ eingedenk von besagter „Ökonomie im Gesetz des Lebens“ im
Gegensatz zu den zuvor kritisierten Niedergangs-Typen das Dasein trotz seiner Frag-
würdigkeit als Ganzes rechtfertigen und bejahen würde.
Für eine solche Lesart spricht auch eine weitere Parallelstelle aus dem Nachlass,
eine Aufzeichnung aus dem Arbeitsheft W II 5, in welcher der Utilitarismus in der
Moral unter anderem mithilfe folgender Feststellung kritisiert wird, die erst nach-
träglich in das Manuskript eingefügt wurde: „Sie haben keinen Begriff von der Öko-
nomie des Übels … großen Ö. die des Übels nicht zu entrathen weiß –.“ (W II 5, S. 23,
Z. 17 und 19)
Eine weitere – wenn nicht gar die aussagekräftigste – Verwendung des Begriffes
der ‚grossen Ökonomie‘ findet sich im „Epilog“ von Nietzsche contra Wagner. Dieser
eröffnet mit folgenden Sätzen:

Ich habe mich oft gefragt, ob ich den schwersten Jahren meines Lebens nicht tiefer verpflichtet
bin als irgend welchen anderen. So wie meine innerste Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige,
aus der Höhe gesehn und im Sinne einer g r o s s e n Ökonomie, auch das Nützliche an sich, —
man soll es nicht nur tragen, man soll es l i e b e n … A m o r f a t i : das ist meine innerste Natur. —
(NW Epilog 1, KSA 6, S. 436)

Die Stelle führt die „g r o s s e Ökonomie“ mit dem lange Zeit als eine der ‚zentralen
Lehren‘ Nietzsches gedeuteten Konzept des ‚amor fati‘ zusammen. Dieses in Nietz-
sches publizierten oder zur Publikation vorgesehenen Texten nur viermal belegte
‚Konzept‘,662 das – wie die Forschung herausgearbeitet hat663 – in unmittelbarer Nähe
zu Spinozas amor dei intelectualis steht, propagiert wie Letzteres eine unbedingte
Schicksalsbejahung, wie aus einer Explikation des amor fati im Ecce homo hervorgeht:

Meine Formel für die Grösse am Menschen ist a m o r f a t i : dass man Nichts anders haben will,
vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen,
noch weniger verhehlen — aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen —, sondern
es l i e b e n … (EH klug 10, KSA 6, S. 297)664

662 Neben dem im Lauftext zitierten NW Epilog 1 auch noch in FW 276, KSA 3, S. 521; EH klug 10, KSA
6, S. 297; EH WA 4, KSA 6, S. 363.
663 Siehe dazu einführend Groff 2009 und Stegmaier 2012, S. 533ff.
664 Siehe zur Bedeutung und Funktion der in EH klug 10 eine zentrale Rolle spielenden „Grösse am
Menschen“ Dellinger 2012a, der nachweist, dass „auch im zehnten Paragraphen von Warum ich so klug
bin […] sich einige Disharmonien und Brüche [finden], die es nahe legen, Nietzsches Gestus der
vorbehaltlosen All-Bejahung und den damit verbundenen ‚Anspruch auf das Wort Grösse‘ zu hinter-
fragen“ (Dellinger 2012a, S. 413).
296 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Genau die hier ausgedrückte uneingeschränkte Lebensbejahung scheint also auch am


Ende von GD Moral 6 gemeint zu sein, wenn dort auf die Frage, welchen Vorteil „jene
Ökonomie im Gesetz des Lebens“ (GD Moral 6, EA 36) aus besagten „N i e d e r g a n g s -
T y p e n “ zieht, geantwortet wird: „Aber wir selbst, wir Immoralisten sind hier die
Antwort…“ (GD Moral 6, EA 36)
Diese Antwort bringt den Textverlauf von GD Moral in Anbetracht der dort
spätestens ab dem Ende von GD Moral 3 offensichtlich werdenden Subversionen zu
einem auf den ersten Blick durchweg überraschend positiv-affirmativen Ende, wird
hier doch behauptet, dass im ‚Typus‘ des ‚Immoralisten‘ eine Denk- und Handlungs-
weise Gestalt annimmt, welche die Probleme der zuvor kritisierten und bis zum
Auftauchen der ‚Immoralisten‘ die moralischen Reflexionen sowie die auf diesen
aufbauenden Moralgebilde des Abendlandes bestimmenden Modi und Positionen
überwindet.665 Der ‚Immoralist‘ würde solcherart tatsächlich sämtliche bisherigen
binären Moralkonzeptionen hinter sich lassen, dabei jedoch aus einer ‚metamora-
lischen‘ Perspektive immer noch seine Moral – die absolute Lebensbejahung – ver-
treten. Zur Markierung dieses metamoralischen Faktums sowie der Vermeidung einer
Deutung des sich daraus ergebenden Standpunktes aus der Perspektive der bisheri-
gen Moralen scheinen die qua ‚Selbstbezüglichkeitsfiguren‘ erfolgenden Leserirrita-
tionen in GD Moral durchweg hinzureichen, zur konsequenten Selbstaufhebung des
vom ‚Immoralisten‘ vertretenen Standpunktes hingegen nicht.666 Dafür wäre der
textuelle Vollzug der Selbstanwendung der metamoralischen Einsicht qua Selbstrefle-
xion vonnöten, was GD Moral gerade in seinem affirmativen Ende konsequent zu
vermeiden scheint.
Dass durch eine derartig affirmative Lektüre des Endes von GD Moral allerdings
noch nicht das letzte Wort in Betreff der dort zum Einsatz gebrachten ‚Selbstbezüg-

665 Eine Aufschlüsselung der Funktion sowie des Status einer derartigen ausnahmslosen Lebens-
bejahung und Daseins-Affirmation auf Basis eines sehr starken interpretativen Zugriffes bietet bereits
die mittlerweile als ‚klassisch‘ zu bezeichnende Studie von Deleuze 2002 [1962]. Eine kurze kritische
Zusammenfassung derselben liefere ich in Pichler 2010, S. 25–30.
666 Ein derartiger Verzicht auf die konkrete textuelle Realisierung der ‚Selbstaufhebungsfigur‘ in der
Moralkritik der Götzen-Dämmerung macht aus einer die Genese von Nietzsches Gesamtwerk beachten-
de und die darin insbesondere 1888 offensichtlich werdende Werkpolitik berücksichtigenden Perspek-
tive durchweg Sinn: Aus einer solchen ließe sich behaupten, dass in Nietzsches Werk nach Abschluss
seiner Fundamentalkritiken in JGB und GM, die auch in GD Vorwort angekündigte Erholung und
Genesung vor der eigentlichen ‚Umwertung der Werte‘ in der Entwicklung einer ‚starken‘ Position liegt,
die einerseits die Resultate des ihr vorausgegangenen kritischen Projektes berücksichtigt und sich in
Anbetracht derselben jenseits von jeglichem Letztbegründungsanspruch bewegt und diesen Sachver-
halt durch den subtilen Einsatz diverser Subversionstechniken im Text markiert, anderseits dennoch
nicht darauf verzichtet, eine temporär gültige Evaluationsbasis zu entwickeln. Als eine solche wären
dann die ‚Immoralisten‘ zu verstehen.
Als Konsequenz der soeben vorgebrachten Lesart ist die in der Fußnote 618 wiedergegebene
These Zittels, dass die Selbstaufhebungsfigur „das sich durch alle Werkphasen ziehende Prinzip der
‚tragischen‘ Philosophie Nietzsches darstellt“ (Zittel 1995, S. 11), zurückzuweisen.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 297

lichkeitsfiguren‘ gesprochen ist, offenbart sich im Zuge einer noch aufmerksameren


Lektüre von GD Moral 6. Gerade dessen soeben so affirmativ gelesener letzter Ab-
schnitt realisiert nämlich auf eine höchst subtile Art und Weise, welche, um über-
haupt wahrgenommen werden zu können, eine starke Beteiligung des Lesers ver-
langt, eine Variante der zuvor bereits vorgestellten ‚Selbstbezüglichkeitsfiguren‘.
Diese wird offensichtlich, wenn man das Ende von GD Moral 6 mit zwei Sätzen vom
Anfang desselben Abschnittes, in welchen die dort vorgebrachte Kritik an den bishe-
rigen „Eckensteher[n] von Moralist[en]“ (GD Moral 6, EA 35) präzisiert wird, zusam-
menführt. Die beiden besagten Sätze lauten:

Er [= der Moralist; A.P.] weiss es sogar, wie er sein sollte, dieser Schlucker und Mucker, er malt
sich an die Wand und sagt dazu „ecce homo!“… Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den
Einzelnen wendet und zu ihm sagt: „so und so solltest d u sein!“ hört er nicht auf, sich lächerlich
zu machen. (GD Moral 6, EA 35)

Genau die hier nachgezeichnete Form des ‚Sich-lächerlich-machens‘ wird in den


letzten Sätzen von GD Moral 6 ohne Einschränkung umgesetzt, wenn der autodiegeti-
sche Erzähler dort behauptet:

Wir verneinen nicht leicht, wir suchen unsre Ehre darin, B e j a h e n d e zu sein. Immer mehr ist
uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht und auszunützen
weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der k r a n k e n Vernunft im Priester verwirft, für
jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen species des Muckers, des
Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht, — w e l c h e n Vortheil? — Aber wir selbst, wir
Immoralisten sind hier die Antwort… (GD Moral 6, EA 36)

Wie die Stelle belegt, reicht der performative Grad besagter Umsetzung sogar soweit,
dass GD Moral 6 in seinem letzten Satz mit einer Variation jenes „ecce homo!“ (GD
Moral 6, EA 36) endet, dessen Betonung als zentrales Charakteristikum der Praxis der
moralisierenden „Schlucker und Mucker“ (GD Moral 6, EA 35) ein paar Sätze zuvor im
selben Abschnitt herausgestellt wurde, wenn der Erzähler voller Pathos auf das auch
ihn vermeintlich inkludierende Kollektiv der ‚Immoralisten‘ als Paradebeispiel der
von ihm verhandelten Bejahungspraxis verweist und solcherart paradigmatisch eine
Variante der Selbstparodie realisiert.
Ist diese autoparodistische Komponente von GD Moral 6 einmal freigelegt, eröffnen
sich schnell weitere Details von deren Umsetzung. So gerät zum Beispiel die in dem auf
die Feststellung, dass das ‚Immoralisten‘-Kollektiv, ‚seine Ehre darin suche, bejahend
zu sein‘, folgende Kritik an den bisherigen Moralisten in ein parodistisches Licht, wenn
dort in einer in höchstem Grade negativ-verneinenden Sprache von der „k r a n k e n Ver-
nunft“ besagter „widerlichen species“ ‚gesprochen‘ wird. Ist das tatsächlich die Spra-
che von jemandem, der „Ehre darin [sucht], B e j a h e n d e [ r ] zu sein“? Wohl kaum.
Eine zusätzliche, insbesondere epistemologisch höchst relevante Dimension er-
hält das selbstparodistische Ende von GD Moral 6 schließlich, wenn man einen
weiteren intertextuellen Verweis zur Bestimmung der in GD Moral 6 selbst nicht näher
298 2.2. Die Götzen-Dämmerung

bestimmten „Ökonomie im Gesetz des Lebens“ heranzieht. Bei besagtem Intertext


handelt es sich um einen Satz aus keinem geringeren ‚Aphorismus‘ als demjenigen in
Nietzsches Werk, der neben M Vorrede 4 die wohl umfangreichste Bestimmung der
Selbstaufhebung der Moral in selbigem liefert. Besagter Satz findet sich nämlich in
GM III 27 und lautet:667

Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so
will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der n o t h w e n d i g e n „Selbstüberwindung“ im Wesen
des Lebens, — immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf: „patere legem, quam ipse
tulisti.“ (GM III 27, KSA 5, S. 410)

In Anbetracht dieses intertextuellen Bezuges, durch welchen sich die „Ökonomie im


Gesetz des Lebens“ als „Gesetz der n o t h w e n d i g e n ‚Selbstüberwindung‘“ deuten
lässt, scheint die von Andreas Urs Sommer vorgebrachte These, dass GD Moral ver-
sucht „die innere Logik von Moral performativ ad absurdum zu führen“668, um
solcherart ‚metamoralisch‘ das Funktionieren von Moral einzuholen, für besagtes
Kapitel uneingeschränkt zuzutreffen: So kommt es in diesem an zahlreichen Stellen,
insbesondere jedoch durch die potentiell als Interrogatio lesbare Frage am Ende von
GD Moral 3, zu einer die eigene Position subvertierenden Selbstanwendung der im
Text selbst artikulierten These, dass man als Lebender das Leben nicht beurteilen
könne, da jede dies versuchende Moral selbst Ausdruck einer bestimmten Lebens-
weise sei. Das Kapitel bleibt bei dieser Selbstanwendung jedoch nicht stehen, sondern
versucht sich nach deren erstmaliger Anwendung an der Entwicklung einer Position,
die sich auf den ersten Blick tatsächlich ‚jenseits von Gut und Böse‘ bewegt, aus
welcher allerdings weiterhin bisherige Moralen abgeurteilt werden. Solcherart kommt
es vor allem in der zweiten Hälfte des Kapitels „Moral als Widernatur“ zu einem
Changieren der Darstellungsweise zwischen autodestruktiven Selbstanwendungen
der dort vorgetragenen Thesen auf das meist in der 1. Person Plural als zentraler Agent
des Kapitels auftretende ‚Immoralismus‘-Kollektiv und dessen Affirmation. Diese den
Text kennzeichnende Pendelbewegung zwischen Subversion und Affirmation des
dort propagierten ‚Immoralismus‘ mündet am Ende von GD Moral 6 in eine ‚ernste
Selbstparodie‘ des bei einer ersten Lektüre noch potentiell als im Textgeschehen
bevorzugt erscheinenden Standpunktes des ‚Immoralisten‘ durch den sich selbst als
einen solchen ausweisenden Erzähler. Solcherart führt GD Moral und der dort reprä-
sentierte ‚Immoralismus‘ in eine Position, die zwar einerseits tatsächlich die innere
Logik von Moral vorführt, deren Standardvariante dabei aber zugleich zu verlassen
versucht und sich solcherart der eindeutigen ‚Selbstaufhebung‘ entzieht, ohne dabei
jedoch des für Nietzsches spätes Werk charakteristischen Subversionspotentials zu

667 Ich verdanke die Berücksichtigung dieses Intertextes der Kritik, welche Jakob Dellinger an einer
früheren Fassung dieses Kapitels geübt hat.
668 Sommer 2012, S. 315.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 299

entbehren. GD Moral gelingt dies, indem in ihm anhand des dort auftretenden
‚Immoralismus‘-Kollektivs das Funktionieren der Moral anhand einer auf den ersten
Blick gegen-moralischen ‚Urteilspraxis‘ vorgeführt wird, deren Evaluationsbasis sich
von derjenigen der bisherigen Moralen nur dadurch unterscheidet, dass in ihr ein
‚Wissen‘ um deren niemals vollständig aufdeckbaren Bedingtheiten sowie ein sich in
diesen Bedingtheiten verbergendes Selbstaufhebungspotential mitschwingt, welches
das Kapitel in seinem letzten Abschnitt in Form einer ‚ernsten Selbstparodie‘669
einlöst. Wichtig hierbei ist, dass die von Andreas Urs Sommer betonten ‚metamora-
lischen Einsichten‘ in GD Moral nicht eigentlich artikuliert, sondern im Textgeschehen
anhand der Urteilspraxis des Immoralisten-Kollektives bloß vorgeführt werden, wo-
durch es dem Kapitel gelingt, die Unumgänglichkeit des Wertens auch in Anbetracht
der vermeintlichen ‚Kenntnis‘ dieses Sachverhaltes jenseits seiner expliziten proposi-
tionalen Artikulation zur Darstellung zu bringen. Solcherart gelangt der Text zur
Schaffung einer moralisch-immoralischen Position, die zwischen der Tragik des ‚Wis-
sens‘ um die unvermeidbare und niemals vollständig einsehbaren Bedingtheiten ihrer
eigenen Evaluationspraktiken und der heiter-ironischen Inanspruchnahme dieses

669 Der Begriff der ‚ernsten Parodie‘ findet sich bei Genette, der auf ihn im Zuge seiner Ausdifferenzie-
rung transtextueller Beziehungen zurückgreift. Im Zuge dieser Verwendung verweist Genette darauf,
dass der Begriff durch die Zusammenführung zweier Ausdrücke, „die in ihrer gewöhnlichen Verwen-
dung ein Oxymoron bilden würden […,] darauf hinweisen [wolle; A.P.], daß man bestimmten Gattungs-
formen mit einer rein funktionalen Definition nicht gerecht werde“ (Genette 1993, S. 42). In dem im
Anschluss an diese Überlegungen entwickelten sechsgliedrigen Schema hypertextueller Verfahren
taucht besagtes ‚Oxymoron‘ nicht mehr auf, sondern scheint in die Form der ‚Transposition‘ einge-
gangen zu sein.
Am Beispiel von Thomas Mann Doktor Faustus zeigt Genette jedoch, wie Texte zwischen ver-
schiedenen Registern pendeln können, und stellt dabei fest, dass es sich dabei um „eine neue Nuance,
eine neue Verwischung von Grenzen, wie sie großen Werken eigen ist“ (Genette 1993, S. 45), handle.
Genau eine solche scheint auch im Falle der Götzen-Dämmerung vorzuliegen, da diese weder in
Form noch im Inhalt eindeutig ihren philosophischen Hypotexten entspricht, noch sich eindeutig auf
eines der sechs von Genette eingeführten Register – ironisch, spielerisch, humoristisch, satirisch,
polemisch, ernst (vgl. Genette 1993, S. 46) – festlegen lässt. Tendenziell scheint bei ihr eine Orientie-
rung an traditionellen Fragestellungen in neuer Form vorzuherrschen, was sie nach Genettes Schema
eigentlich zu einer Travestie machen würde. Durch die neue Form kommt es in der GD aber auch zu
einem stark satirischen Moment, bei dem es sich nach dem Verständnis von Genette um ein Kenn-
zeichen der Persiflage handelt. Für diese Zuordnung sprechen auch die im Text allgegenwärtigen
Überzeichnungen der Idiosynkrasien der vom Sprecher-Ich kritisierten Philosophen. Da in der Götzen-
Dämmerung aber aufgrund des hier bereits mehrfach angesprochenen Ernstes dem die Persiflage
kennzeichnenden satirischen Moment entgegengesteuert wird, dieser sich aber auch nicht zur Kenn-
zeichnung als Transposition eignet, des Weiteren der Begriff der Parodie bzw. Selbstparodie in der
Nietzscheforschung bereits etabliert ist, erschien für die vorliegende Studie die Bezeichnung der
‚ernsten (Selbst)Parodie‘ als sinnvoll. Im Verständnis der Selbstparodie folgt sie Zittel (siehe dazu das
Kap. 2.1.2.3. sowie Zittel 2011 [2000], S. 127).
300 2.2. Die Götzen-Dämmerung

‚Wissens‘ changiert, welche nicht zuletzt aufgrund der ästhetischen Darstellung die-
ses ‚Wissens‘ den Rahmen traditionellen Moralphilosophierens sprengt.670

2.2.4.4. Performative Schleife (GD Verbesserer)

Diese metamoralischen ‚Einsichten‘ werden in einem weiteren Kapitel der Götzen-


Dämmerung ‚erzähllogisch‘ folgerichtig fortgeführt, wobei es zum Auftreten einer wei-
teren ‚Selbstbezüglichkeitsfigur‘ – einer Variante der Schleife – im Textgeschehen
kommt. Die Rede ist hier von GD Verbesserer, auf das im Zuge der Erarbeitung der für
die Lektüre von GD Vernunft unerlässlichen intratextuellen Kontexte bereits im Kapi-
tel 2.2.2.3. näher eingegangen worden ist. Im Rahmen dieser Lektüre wurden insbeson-
dere die sprachphilosophischen und methodologischen Konsequenzen des in GD Ver-
besserer 1 eingeführten ‚Symptomatologie‘-Begriffes freigelegt. Allein durch diese auch
für die Kritik der ‚Idiosynkrasien der Philosophen‘ so zentrale ‚Methode‘ kommt es zu
starken intratextuellen Rückkoppelungen zwischen GD Verbesserer und den bereits
ausführlich analysierten Kapiteln GD Sokrates und GD Vernunft. Trotz dieses dichten
intratextuellen Verweisungsgeflechtes zwischen besagten Kapiteln differieren die in
diesen festmachbaren Schleifen jedoch voneinander. Diese Unterschiede sind unter
anderem durch die unterschiedliche Figurengestaltung bedingt. Zwar wird auch in GD
Verbesserer das es bestimmende Narrativ bereits im ersten Satz an die Optik des auto-
diegetischen Erzählers gebunden. Dieser spielt dann jedoch im weiteren Verlauf dessel-
ben eine weitaus geringere Rolle, als ihm in GD Sokrates und GD Vernunft zukommt. GD
Verbesserer 1 eröffnet mit den folgenden Sätzen:

Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich j e n s e i t s von Gut und Böse zu stellen, —
die Illusion des moralischen Urtheils u n t e r sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer
Einsicht, die von mir zum ersten Male formulirt worden ist: d a s s e s g a r k e i n e m o r a l i s c h e n
T h a t s a c h e n g i e b t . Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an
Realitäten glaubt, die keine sind. (GD Verbesserer 1, EA 51)

670 Die zunehmende Subtilisierung des Einsatzes von ‚Selbstbezüglichkeitsfiguren‘ in Nietzsches


Spätwerk zeigt sich nicht nur in dem soeben aufgebrachten interpretativen Aufwand zu deren Freile-
gung, sondern auch in der Textgenese von Nietzsches Werken aus dem Jahre 1888. Im Falle der Götzen-
Dämmerung konnte sie bereits im Kapitel 2.1.2.2. durch die Gegenüberstellung von GD Alten 1 und 2 mit
einer früheren Fassung dieser Abschnitte und der dabei nachgewiesenen Streichung der Petronius-
Referenz angedeutet werden, welche im Falle ihrer Übernahme in den Drucktext weitaus stärker als die
letztendlich in der publizierten Fassung von GD Alten 1 und 2 auftretenden literarischen Vorbilder
Sallust und Horaz auf die Bedeutung von Selbstparodien für die Poeseologie der Götzen-Dämmerung
selbst verwiesen hätte. Genau in besagter Subtilisierung der Subversionstechniken scheint auch einer
der wesentlichen Gründe zu liegen, warum Texte wie die Götzen-Dämmerung lange Zeit schlichtweg als
ideologisch-affirmative Texte Nietzsches gedeutet wurden.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 301

Schon diese drei Eingangssätze weisen gravierende Unterschiede zur Darstellungs-


weise von GD Sokrates und GD Vernunft auf, welche letztendlich dazu führen, dass
die GD Verbesserer eingeschriebene Schleife von der autodeiktischen Schleife aus GD
Sokrates und GD Vernunft differiert. So kommt es zum Beispiel bereits im ersten Satz
zu einem jedem Nietzscheleser offensichtlichen intertextuellen Verweis auf ein frühe-
res Werk desselben Autors. Derartige intertextuelle Bezugnahmen finden sich zwar
auch in anderen Kapiteln des Textes, man denke nur an den Rückbezug auf die Geburt
der Tragödie in GD Sokrates 2, sie stehen jedoch nirgendwo sonst in der Götzen-
Dämmerung direkt am Anfang eines Kapitels.
Indem GD Verbesserer 1 bereits in seinem ersten Satz das darauffolgende Text-
geschehen an Jenseits von Gut und Böse anbindet, bricht das Kapitel mit jener auf
intratextuelle Stringenz hinauslaufenden Schreibweise, die insbesondere GD Ver-
nunft zu charakterisieren scheint. Exponiert sich dort ein autodiegetischer Erzähler
im Zuge seiner Kritik an den ‚Idiosynkrasien der Philosophen‘ und bringt dabei
seine eigenen Idiosynkrasien autodeiktisch zur Darstellung, führt der intertextuelle
Bezug am Anfang von GD Verbesserer 1 zu einer alternativen Profilierung seines
Protagonisten, da dem in ihm auftretenden autodiegetischen Erzähler qua inter-
textueller Referenzen eine Vielzahl zusätzlicher Charakterisierungsmöglichkeiten
zukommt. Zugleich offenbart sich in dieser Bezugnahme auf einen früheren Text
erneut jene die Schriften von 1888 charakterisierende Tendenz zur Werkpolitik, auf
die die Nietzscheforschung in jüngster Zeit immer stärker ihre Aufmerksamkeit
lenkt.
Der Satz selbst inszeniert durch den Gebrauch der graphematisch hervorgeho-
benen Präpositionen ‚jenseits‘ und ‚unter‘ eine Stellung zur ‚Moral‘, welche das
Kapitel in seiner nur eingeschränkten Umsetzbarkeit dann in den Abschnitten 2 bis 4
anhand der dort einander gegenübergestellten ‚moralischen Konzepte‘ der „Züch-
tung“ und „Zähmung“ vorführt. Nicht zuletzt in diesem Sachverhalt offenbart sich der
erzähllogische Topos von GD Verbesserer innerhalb des intratextuellen und inter-
textuellen Kosmos von Nietzsches Schriften: Ist nämlich einmal der ‚Selbstauf-
hebungsprozess der Moral als Moral‘ sowie die trotz desselben unumgehbare Notwen-
digkeit des Werten-müssens ‚erkannt‘, wird man, gerade wenn man ‚weiss‘, dass es
„k e i n e m o r a l i s c h e n T h a t s a c h e n g i e b t “, sich „die Illusion des moralischen
Urtheils“ potentiell strategisch zu Nutze zu machen wissen.671 Der zweite Satz des
zuvor zitierten Passus – zugleich ein weiterer versteckter intertextueller Verweis auf
eine andere Schrift Nietzsches672 – liefert solcherart die theoretische Voraussetzung
des in den anschließenden Abschnitten vorgeführten Moralverständnisses. Genau

671 Siehe dazu auch Dellinger 2013b.


672 Bei dem angesprochenen Text handelt es sich um Zur Genealogie der Moral, wie auch Sommer im
Nietzsche-Kommentar feststellt: „Dem Sinn nach ist dies eine Grundaussage von GM (vgl. z.B. [GM] II 12
u. III 12), die Formulierung hingegen ist neu und taucht [… hier; A.P.] zum ersten Mal auf“ (Sommer
2012, S. 359).
302 2.2. Die Götzen-Dämmerung

darin – also in der Tatsache, dass in GD Verbesserer bereits an dessen Anfang die
These, dass es keine moralischen Tatsachen gebe, artikuliert und dann in den Ab-
schnitten 2 bis 4 anhand zweier Paradigmata vorgeführt wird673 – besteht der zweite
gravierende Unterschied zur autodeiktischen Schleife von GD Sokrates und GD Ver-
nunft.
Charakterisiert sich diese insbesondere dadurch, dass die ihr vermeintlich zu-
grundliegende Hauptthese an keiner einzigen Stelle der beiden Kapitel artikuliert wird
und solcherart bloß rekonstruktiv erfasst werden kann, setzt GD Verbesserer eindeutig
mit einer starken These ein, die dann exemplarisch vorgeführt wird. Auf diesen Sach-
verhalt verweist auch Andreas Urs Sommer im Nietzsche-Kommentar:

Es wird in diesem Kapitel also das Funktionieren moralischen Urteilens demonstriert (nämlich
etwas für ‚besser‘ zu halten als etwas anderes) und zugleich einleitend gesagt, dass Moral nur
eine „Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine Missdeutung“ ([KSA 6, S.] 98,
10f.) sei. Anders gesagt ist Moral immer ein Symptom eines spezifischen Lebens, dessen Präferen-
zen es zum Ausdruck bringt. Es gibt damit keine objektive Warte, von der aus Moral beurteilt
werden könnte. Genau dies zeigt das Kapitel.674

Hat man es in diesem Fall dann überhaupt noch mit einer Schleife zu tun oder setzt
GD Verbesserer nicht eigentlich seine Grundthese performativ um, ohne dabei auf
irgendeines der in Nietzsches Spätwerk so häufig auftretenden Irritationsmittel zu-
rückzugreifen? Auf den ersten Blick scheint Letzteres der Fall zu sein. In dem auch
von Sommer herausgestellten Zusammenspiel von These und deren Umsetzung äh-
nelt GD Verbesserer weitaus mehr dem ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und
Böse als GD Sokrates und GD Vernunft. Dennoch führt der ‚Metakommentar‘ am Ende
von GD Verbesserer 1 – sprich die These, dass Moral bloß Zeichenrede, bloß Sympto-
matologie sei – letztendlich zu eben jener potentiell unendlichen Reflexion, die auch
im Zuge der Rekonstruktion der die zuvor analysierten Kapitel bestimmenden auto-
deiktischen Schleife zugrundeliegenden Hauptthese freigelegt wurde: Auch die Be-
hauptung, dass jede Moral bloß ein Symptom sei, öffnet durch Anwendung der von
dieser These nahegelegten Folgerung, dass nicht nur jede Moral, sondern überhaupt
jedes Deutungsmuster Symptom eines bestimmten Lebens sei, auf sich selbst jenen
potentiell unendlichen Regress, der die Position des autodiegetischen Erzählers in
GD Sokrates und GD Vernunft subvertiert. Insofern – und das ist der Clou des
Kapitels – entspricht dieses nur bedingt seiner zweiten zentralen These, nämlich der
an dessen Ende stehenden ‚Formel‘: „a l l e Mittel, wodurch bisher die Menschheit

673 Ich folge in der Unterteilung von GD Verbesserer in die den theoretischen Rahmen setzenden
‚Rahmenerzählungen‘ in GD Verbesserer 1 und 5 und die diese vorführenden Abschnitte 2 bis 4 Andreas
Urs Sommer, der am Anfang des Abschnittes zu besagtem Kapitel im Nietzsche-Kommentar ebenfalls
zwischen einer „narrative[n] Rahmung“ und der ‚Inszenierung‘ der dort artikulierten Grundthesen in
GD Verbesserer 2–4 unterscheidet (vgl. Sommer 2012, S. 358).
674 Sommer 2012, S. 358.
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 303

moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus u n m o r a l i s c h . —“ (GD


Verbesserer 5, EA 57). GD Verbesserer bestätigt diese These nur dann, wenn man der
ihr eingeschriebenen Chronologie glauben schenkt, d.h. dem im oben zitierten Satz
durch das „bisher“ eindeutig markierten Bruch zwischen den bisherigen Moralen und
dem über diese vermeintlich hinausgehenden, bereits in GD Moral eingeführten und
dann auch wieder in GD Verbesserer propagierten ‚Immoralismus‘ in seinen Grund-
annahmen folgt: In Anbetracht der Tatsache, dass der im Kapitel selbst zur Anwen-
dung gebrachte ‚Immoralismus‘ selbst zu so etwas wie der leitenden ‚moralischen
Vorstellung‘ des autodiegetischen Erzählers wird, transformiert sich die in der Formel
ausgedrückte These in eine aus dessen eigener Perspektive durchweg ‚moralische‘
Einsicht, wenn man unter einer solchen jene ‚Handlungsimplikationen‘ versteht, die
aus der ‚Erkenntnis‘ anthropologischer Grundkonstanten folgen, und führt so das
ganze Kapitel an einen Punkt, welcher ‚erzähllogisch‘ durchweg konsequent er-
scheint. Dieser besteht darin, dass die ‚immoralische‘ Position des autodiegetischen
Erzählers, aus welcher dieser den ‚unmoralischen‘ Ursprung der Mehrheit der bisheri-
gen Moralen freilegt, selbst aus den bisherigen Positionen immanenten Kriterien als
‚moralisch‘, d.h. den Handlungsimplikationen von ihren Grundansichten entspre-
chend, zu deuten wäre. Der in GD Verbesserer propagierte ‚Immoralismus‘ kann
dementsprechend als die erste ‚moralische‘ Moral gelesen werden, unterläuft derartig
aber seinen eigenen Anspruch, vollständig mit den bisherigen Moralen zu brechen,
da seine Moralität den Kriterien eben dieser Moralen entspricht. GD Verbesserer zeigt
insofern – darin stimme ich mit Andreas Urs Sommer überein –, dass alle bisherigen
Moralen aus einer unmoralischen Ausdeutung gewisser Phänomene hervorgegangen
sind, folgt derartig jedoch noch deren Deutungsschemata. Die im Text selbst impli-
zierte Moral – der ‚Immoralismus‘ – bricht so nicht vollständig mit der bisherigen
abendländischen Tradition, setzt sich aber von dieser dennoch insofern ab, als ihr
eigenes ‚moralisches Procedere‘ nicht nur aus der Missdeutung gewisser Phänomene,
sondern dem ‚Wissen‘ über diese Praxis folgt. Insofern deutet zwar auch der ‚Immo-
ralismus‘ diese Phänomene fehl, behauptet aber nicht, dies nicht zu tun, wodurch er
im Vergleich zu den bisherigen Moralen sowie aufgrund von deren Beurteilungs-
kriterien, wenn er schon nicht ‚moralischer‘ ist, so doch auf einer anderen kognitiven
Ebene liegt. Genau darin, im kognitiven Status des ‚Immoralismus‘, nicht jedoch in
seiner bereits in GD Moral parodierten vermeintlichen ‚Immoralität‘, besteht der
innovative Charakter der in GD Moral und GD Verbesserer ästhetisch zur Darstellung
gebrachten Positionen. Dennoch entgeht letztendlich auch der ‚Immoralismus‘ nicht
der Gefahr, manche der ihn bedingenden Momente des ihn artikulierenden spezi-
fischen Lebens zu übersehen, wodurch er in die zuvor beschriebene performative
Schleife führt.675

675 Es handelt sich insofern bei dem in GD Verbesserer handlungstragenden ‚Immoralisten‘ um


Vertreter von ‚Gegenlehren‘ im Sinne Jakob Dellingers (vgl. Dellinger 2013b).
304 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Genau in diesem Wechsel der Subversionstechnik besteht die wohl werkpolitisch


motivierte und zuvor bereits angesprochene ‚erzähllogische‘ Kohärenz in der werk-
kompositorischen Gestaltung der Moralkritik in der Götzen-Dämmerung: Während in
GD Moral alle bisherigen Moralen in intertextueller Anknüpfung an die Moralkritik
der Schriften von 1886/87 einer finalen Kritik unterzogen werden und dabei zugleich
partiell das Funktionieren moralischen Urteilens performativ vorgeführt wird, um
parallel dazu in den ‚Immoralisten‘ eine in ihrem Umgang mit der Moral alternativ
umgehenden Menschen-‚Typus‘-Konzeption zu entwickeln, die erst im letzten Ab-
schnitt des Kapitels in eine ernste Parodie geführt wird, kann der durch diese Selbst-
anwendung in die Problematik jeglichen moralischen Urteilens einsichtig gewordene
Leser das auch dem ‚Immoralismus‘ inhärente Subversionspotential, das dann in GD
Verbesserer 1 durch die Zurückweisung der Existenz von moralischen Tatsachen
sowie durch die ebenfalls dort vorgebrachte Hypothese, dass jegliche Weltdeutung
potentiell Symptom einer bestimmten Lebensweise sei, zu seinem Höhe- und End-
punkt führen, indem er es im Zuge der Lektüre von GD Verbesserer letztendlich einlöst
und sich solcherart in die sich daraus ergebende Schleife ‚einschreibt‘.
Dies bedeutet jedoch zugleich, dass es sich bei der soeben nachvollzogenen
Destruktionsbewegung nicht eigentlich um eine ‚Selbstaufhebungsfigur‘, sondern
eben um die im Textgeschehen von GD Verbesserer nachgezeichnete Schleife handelt.
Diese unterscheidet sich von der Selbstaufhebungsfigur der Moral aus M Vorrede 4 und
GM III 27 dadurch, dass sie eben nicht eine Folge der – wie die freigelegten inter-
textuellen Verweise belegen – bereits als vollzogen vorausgesetzten Selbstanwendung
moralischer Prinzipien auf sich selbst ist, sondern das Resultat des sich über die Selbst-
anwendung der in GD Sokrates und GD Vernunft bloß autodeiktisch vorgeführten und
in GD Moral 5 dann in einer Variation artikulierten These, dass „das Leben selbst […]
uns [zwingt] Werthe anzusetzen,“ dass „das Leben selbst werthet durch uns, w e n n wir
Werthe ansetzen“ (GD Moral 5, EA 34), auf den diese These artikulierenden, selbst
‚lebenden‘ autodiegetischen Erzähler und der sich dadurch eröffnenden potentiell
unendlichen Reflexionsbewegung. Anhand des Konzeptes der ‚Immoralisten‘ führt die
Götzen-Dämmerung vor, dass besagte Schleife nicht zur Handlungs- und Wertungs-
unfähigkeit des partiell ihrer einsichtig werdenden Sprecher-Ichs führt. Auch das ver-
meintliche ‚Wissen‘ um den idiosynkratischen Ursprung von seinen (Wert-)Urteilen
hindert dieses nicht daran, diese weiter zu fällen, da es die idiosynkratische Quelle
seines Handelns und Denkens zwar einsehen und gutheißen, jedoch nicht unterdrü-
cken kann, ohne dass diese Unterdrückung selbst wieder als Idiosynkrasie erscheinen
würde. Hier ist das Leben, das durch den autodiegetischen Erzähler wertet, offensicht-
lich stärker als seine vermeintliche Einsicht in diesen Sachverhalt selbst. Gerade darin
unterscheidet er sich zugleich von seinen lebensverneinenden Antagonisten: Während
diese aufgrund ihrer Idiosynkrasien das bisherige Leben verdammen und durch ihre
moralischen Wertungen noch weiter verarmen, gelangt jener trotz – oder sollte man gar
sagen: gerade wegen – seines ‚Wissens‘ um den idiosynkratischen Ursprung seiner
Weltbejahung zu einer ‚Lebensweise‘, auf die ich im nächsten Kapitel noch etwas
2.2.4. Autodeixis, Schleife und Selbstparodie: Nietzsches subvertierende Schrift 305

ausführlicher eingehen werde. Bereits hier kann jedoch schon festgestellt werden, dass
mit den ‚Immoralisten‘ ein Menschen-‚Typus‘ eingeführt wird, der sich durch die
Integration jenes von ihm selbstreflektierten Zersetzungsprozesses – auf welchen in
„jene[r] Ökonomie im Gesetz des Lebens“ angespielt wird, von dem GD Moral 6
spricht – sich diesen zunutze macht und so in eine Lebensform mündet, deren pro-
zessualer Charakter nicht zuletzt durch den eine seltsame Schleife bildenden Wechsel
von Autosubversion und Rekonstitution der eigenen Positionen bestimmt wird. Diese
Prozessualität ähnelt – das sollte aus dem bisher Erörterten eindeutig hervorgehen –
keineswegs einem historischen Prozess des allmählichen Erkenntnisfortschrittes à la
Hegel, ja sie führt eigentlich zu überhaupt keinem neuen Wissen, wenn man unter
einem solchen den propositionalen Ausdruck eines gerechtfertigten und wahren Glau-
bens versteht. Wie und welche alternativen Wissensformen in philosophischen Texten
wie der Götzen-Dämmerung gestiftet werden, werde ich im dritten Teil dieser Studie
erörtern.

2.2.4.5. Selbstbezüglichkeitsfiguren in der GD (Überblick)

Versucht man sich – wie schon zuvor am Ende der Synopse der bisherigen Beschäfti-
gung der Nietzscheforschung mit in dessen Schriften auftretenden Selbstbezüg-
lichkeiten – auch für deren soeben nachgezeichneten Varianten an einer tabellari-
schen Darstellung, ergibt sich folgendes Bild:

selbst- selbst- prozes- performativ Bedarf des autode-


referen- reflexiv sual Aktes der struktiv
tiell Selbstanwendung
Autodeiktische Schleife (X) (X) X (X)
(GD Sokrates,
GD Vernunft)
Performative Schleife X X X
(GD Verbesserer)
Ernste Selbstparodie X X X (X)
(GD Moral)
Faltung X (X) X
(GD Vernunft 5)

Die anhand ausgewählter Kapitel der Götzen-Dämmerung durchgeführte Analyse der


Bedeutung und Funktion der diesem späten Werk Nietzsches eingeschriebenen
Selbstbezüglichkeiten zusammenfassend, kann bereits hier festgehalten werden, dass
sich in besagtem Buch durch die sein Textgeschehen bestimmenden Varianten selbst-
bezüglicher Figuren wie die Faltung und die Schleife eine Schreibweise realisiert, die
306 2.2. Die Götzen-Dämmerung

den Rahmen traditionellen Philosophierens eindeutig verlässt. An dessen Stelle tritt


eine in hohem Grade selbstbezügliche Darstellungsform, die sich konsequent der
thetisch-propositionalen Festschreibung der in ihr durchweg präsenten ‚Thesen‘ ent-
zieht, indem sie diese entweder bloß vorführt oder durch variable Techniken der
Autosubversion parodiert und so wieder in Fluss bringt.

2.2.5. Das Dionysische als physio-ästhetisches Mythopoem und


poeseologische Metapher

Kehrt man von der soeben durchgeführten Beschreibung und Klassifikation der Selbst-
bezüglichkeitsfiguren in der Götzen-Dämmerung zu der am Ende des Kapitels 2.2.3.
noch offen gelassenen Frage nach der Bedeutung und Funktion des ‚Dionysischen‘
bzw. des dionysischen Künstlers in besagtem Werk zurück, wird man diese Fragen
nicht mehr ohne die sich im Zuge der Beschreibung der Selbstbezüglichkeiten freigeleg-
ten Problemkonstellationen beantworten können. Dass eine derartige Zusammenfüh-
rung des ‚Dionysischen‘ mit den soeben erläuterten Problemen der Selbstbezüglichkeit
nicht nur fruchtbar, sondern auch intratextuell gerechtfertigt ist, soll im vorliegenden
Kapitel im Zuge der Lektüre der noch nicht behandelten ‚Aphorismen‘ der Götzen-
Dämmerung, in welchen einem ebenfalls „jenes wundervolle Phänomen […], das den
Namen des Dionysos trägt“ (GD Alten 4, EA 136), begegnet, demonstriert werden.
Zu diesen ‚Aphorismen‘ zählen – neben den bereits analysierten Werksegmenten
GD Vernunft 6 sowie GD Streifzüge 10 und 11 – noch vier weitere ‚Texte‘ aus der
Götzen-Dämmerung, nämlich GD Streifzüge 19, GD Streifzüge 49 sowie GD Alten 4 und
5. Insbesondere deren Erster, GD Streifzüge 19, scheint auf den ersten Blick kaum
neue Anhaltspunkte zum besseren Verständnis der Bedeutung und Funktion des
‚Dionysischen‘ in der Götzen-Dämmerung zu liefern. Dies verwundert, knüpft der
„S c h ö n u n d h ä s s l i c h“ betitelte ‚Aphorismus‘ doch direkt an die ästhetischen
Reflexionen aus GD Streifzüge 8–11 an und führt die dort entwickelten physio-ästheti-
schen Grundannahmen unter anderem gegen jene Ästhetiken ins Feld, die ein objek-
tiv-perspektivenunabhängiges ‚Schönes an sich‘ propagieren:

— Nichts ist bedingter, sagen wir b e s c h r ä n k t e r , als unser Gefühl des Schönen. Wer es
losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und
Boden unter den Füssen. Das „Schöne an sich“ ist bloss ein Wort, nicht einmal ein Begriff. Im
Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit; in ausgesuchten Fällen betet er
sich darin an. (GD Streifzüge 19, EA 86)

Im Gegensatz zu der zu Nietzsches Lebzeiten insbesondere in Paris ansässigen literari-


schen Avantgarde, deren zentrale Repräsentanten wie Charles Baudelaire das schon
1853 von Karl Rosenkranz in der Ästhetik des Häßlichen in seiner Bedeutung für die
Kunst untersuchte Hässliche endgültig als ein wesentliches Grundmoment in ihre
Ästhetiken sowie ihr künstlerisch-literarisches Schaffen integrierten, propagiert der
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 307

hier zitierte Passus ein Ästhetikverständnis, das nicht nur zu besagter Avantgarde,
sondern auch zum Schönheitsbegriff der philosophischen Tradition – insbesondere
demjenigen Platons und Kants – in Opposition steht.676 Dabei greift der Text auf das
bereits in GD Streifzüge 9 in den ästhetischen Diskurs eingeführte Charakteristikum der
Kunst als Resultat des dem berauscht-dionysischen Künstler notwendigen „Verwan-
deln-müssen in’s Vollkommene“ (GD Streifzüge 9, EA 77) zurück und schränkt dessen
Reichweite ein, indem er den Gültigkeitsanspruch des von einem solchen Künstler
produzierten Schönen auf den Bereich des Menschen reduziert: Nur auf der Folie der
hier apodiktisch als anthropologische Konstante gesetzten „Lust des Menschen am
Menschen“ habe besagte ‚Schönheit‘ Geltung, jenseits derselben existiere sie nicht
einmal, sei „bloss ein Wort“. Was aus der Perspektive von objektivistischen Ästhetiken
allerdings wie ein Manko erscheint – der bedingt-relative, bloß anthropomorphe Cha-
rakter des Schönen –, garantiert zugleich die ebenfalls bereits in GD Streifzüge 8–11 in
den Vordergrund tretende lebensbejahende Tendenz einer den Menschen als Vollkom-

676 Die zentrale Rolle dieser Kritik an der philosophischen Tradition, insbesondere an Kants interes-
selosem Wohlgefallen, in GD Streifzüge 19 betonen ebenfalls sowohl Sommer (vgl. Sommer 2012,
S. 459f.) als auch Gori und Piazzesi (vgl. Gori/Piazzesi 2012, S. 232f.) in ihren GD-Kommentaren. Laut
Sommer sei die „Lust des Menschen am Menschen“ „die genaue Kontrafaktur eines interesselosen
Wohlgefallens“ (Sommer 2012, S. 459).
Die eigentliche Kritik an der im Lauftext angesprochenen Ästhetik des Hässlichen bzw. am
Hässlichen überhaupt liefert erst GD Streifzüge 20, indem es die negativen Effekte des Hässlichen im
Kontext der Degenerescenz und Dekadenz-Problematik der Götzen-Dämmerung ausbuchstabiert:
„Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön: auf dieser Naivetät ruht alle Aesthetik, sie ist deren e r s -
t e Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu: Nichts ist hässlich als der e n t a r t e n d e
Mensch, — damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. — Physiologisch nachgerechnet,
schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht; er
büsst thatsächlich dabei Kraft ein. […] Das Hässliche wird verstanden als ein Wink und Symptom der
Degenerescenz: was im Entferntesten an Degenerescenz erinnert, das wirkt in uns das Urtheil ‚häss-
lich‘. Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art Unfreiheit,
als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe, die Form der Auflösung, der Verwesung,
und sei es auch in der letzten Verdünnung zum Symbol — das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor,
das Werthurtheil ‚hässlich‘. Ein H a s s springt da hervor: wen hasst da der Mensch? Aber es ist kein
Zweifel: den N i e d e r g a n g s e i n e s T y p u s . Er hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung
heraus; in diesem Hass ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, — es ist der tiefste Hass, den es giebt.
Um seinetwillen ist die Kunst t i e f … “ (GD Streifzüge 20, EA 87f.)
Während der Anfang dieses Werksegmentes auf zahlreiche der aus anderen Abschnitten der
Götzen-Dämmerung bereits bekannte Topoi der Degenerscenz- und Dekadenzthematik zurückgreift,
zeigt dessen Ende, dass auch die Götzen-Dämmerung das Hässliche aus der Kunst nicht eigentlich
verbannen möchte, sondern sogar konstatiert, dass diese gerade diesem ihre Tiefe verdanke. Im
letzten Satz von GD Streifzüge 20 übernimmt derartig das Hässliche in der Kunst eine zentrale Funk-
tion für den dem Text unterschwellig eingeschriebenen Umwertungsprozess, da es sich aufgrund der
durch es provozierbaren Reaktionen hervorragend zum Katalysator für einen solchen Prozess zu
eignen scheint.
308 2.2. Die Götzen-Dämmerung

menes vorstellenden Ästhetik. Dies bestätigen die darauffolgenden Sätze des ‚Aphoris-
mus‘, welche zugleich weitere Erklärungen für diesen Sachverhalt liefern:

Eine Gattung k a n n gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen. Ihr u n t e r s t e r In-
stinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung, strahlt noch in solchen Sublimitäten aus.
Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft, — er v e r g i s s t sich als deren
Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach! nur mit einer sehr menschlich-all-
zumenschlichen Schönheit… (GD Streifzüge 19, EA 86)

Als Ursache für die in der Produktion eines anthropomorphen Schönen und der mit
dieser einhergehenden Selbstbejahung des sie produzierenden Künstlers wird hier ein
„Instinkt […] der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung“ ausgewiesen:677 Aufgrund
der im ‚Aphorismus‘ bloß gesetzten Existenz desselben könne eine Gattung gar nicht
anders als sich selbst in ihrer ästhetischen Produktion zu verherrlichen und zu
bejahen. In den an diese Setzung anschließenden Sätzen aus der soeben zitierten
Passage werden die fatalen epistemologischen Folgen dieses Instinktes ausgespro-
chen und solcherart der bereits in der Eröffnung des ‚Aphorismus‘ betonte ‚mensch-
lich-allzumenschliche‘ Status der im Text verhandelten Schönheit abermals unter-
strichen und im Anschluss an drei Auslassungspunkte auf folgende Formel gebracht:
„Im Grunde spiegelt sich der Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm
sein Bild zurückwirft: das Urtheil ‚schön‘ ist seine G a t t u n g s - E i t e l k e i t …“ (GD
Streifzüge 19, EA 86) Einerseits fügt sich die mit dem Ausdruck der „G a t t u n g s -
E i t e l k e i t“ auf den ‚Begriff‘ gebrachte Reduktion des Schönen auf eine vermeintlich
anthropologische Konstante nahtlos in die bereits in GD Streifzüge 8–11 gelieferte
Beschreibung der Bedeutung der Beteiligung des dionysischen Künstlers an den von
ihm geschaffenen Produkten. Andererseits wird dadurch der dort in den Begriff des
„I d e a l i si r e n [ s ] “ gebannte Sachverhalt, dass der berauschte Künstler im Zuge sei-
ner ästhetischen Tätigkeit sein dabei gegebenes „Gefühl der Kraftsteigerung“ (GD
Streifzüge 8, EA 76) an die Dinge abgebe, in seiner in GD Streifzüge 8–11 durchweg
noch gegebenen Exklusivität stark eingeschränkt. Erscheint dort der dionysische
Künstler als starker Gegentypus zu den in der Götzen-Dämmerung ansonsten kritisier-
ten décadents, verliert der ihm zuvor verliehene Stärke-Status durch die Relativierung
des Schönheitsbegriffes in GD Streifzüge 19 an Umfang.
Bewegt sich der ganze ‚Aphorismus‘ GD Streifzüge 19 durch die soeben nach-
gezeichnete intratextuelle Anbindung an die in GD Streifzüge 8–11 entwickelte Phy-

677 Zum „Instinkt der Selbsterhaltung“ siehe Sommer 2012, S. 532. – Sommer weist dort als ‚Quelle‘
des in der Götzen-Dämmerung neben GD Streifzüge 19 nur noch einmal – in GD Streifzüge 44 – belegten
Ausdrucks Harald Höffdings 1887 erschienene Psychologie in Umrissen auf Grundlage der Erfahrung
aus. GD Streifzüge 19 scheint der von Sommer aus Höffding 1887, S. 306 zitierten Stelle in deren
Konzeption des ‚Instinkts der Selbsterhaltung‘ ungebrochen zu folgen (Sommer 2012, S. 532), was in
Anbetracht der ansonsten in Nietzsches Texten üblichen Rekontextualisierung aus etwaigen Hypotex-
ten übernommener Konzepte und Begriffe durchweg verwundern mag.
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 309

sio-Ästhetik von seinen ersten Sätzen an im Kontext des in dieser ‚Aphorismenkette‘


entwickelten Konzeptes des dionysischen Künstlers, taucht ein Ausdruck aus der
Wortfamilie des ‚Dionysischen‘ erst an seinem Ende auf, ohne dabei jedoch die
soeben freigelegten intratextuellen Bezüge weiter zu vertiefen. Bei besagtem ‚Begriff‘
handelt es sich nämlich nicht um den dionysischen Künstler, sondern um den Gott
Dionysos selbst, der am Ende des Textes in einem kurzen Dialog seinen Auftritt hat.
Zu dessen besserem Verständnis sind auch noch die ihm vorausgehenden und bis
dato nicht zitierten Sätze aus GD Streifzüge 19 wiederzugeben, mit welchen zugleich
die Wendung besagten ‚Aphorismus‘ ins Satirische eingeleitet wird. Sie lauten:

Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in’s Ohr flüstern: ist wirklich damit
die Welt verschönt, dass gerade der Mensch sie für schön nimmt? Er hat sie v e r m e n s c h l i c h t :
das ist Alles. Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das Modell des
Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines höheren Geschmacksrichters aus-
nimmt? Vielleicht gewagt? vielleicht selbst erheiternd? vielleicht ein wenig arbiträr?… (GD
Streifzüge 19, EA 86f.)

Hier wird endgültig die das Textgeschehen des ‚Aphorismus‘ kennzeichnende Ver-
kleinerung des ‚grossen Menschen‘ – sprich: des dionysischen Künstlers – durch die
Relativierung des an diesen unmittelbar gebundenen Schönheitsbegriffes zu ihrem
Ende geführt: Ist einmal der anthropomorphe Charakter des Schönen und seine damit
gegebene Abhängigkeit vom Menschen und dessen „G a t t u n g s - E i t e l k e i t“ freige-
legt, erscheint auch die mittels besagten „Modell[s] des Schönen“ zur Darstellung
gebrachte Vollkommenheit in einem anderen Licht. Den damit einhergehenden po-
tentiellen Statusverlust des Schönen deutet der Text in drei von Hans Gerald Hödl
treffend als „ironisch-distanzierend“678 bezeichneten rhetorischen Fragen am Ende
des zuvor zitierten Passus an. Dafür, dass es diesbezüglich nicht nur bei einer
Andeutung bleibt, sorgt das den ‚Aphorismus‘ abschließende Gespräch zwischen dem
Gott Dionysos, der hier die Rolle des „höheren Geschmacksrichters“ übernimmt, und
seiner menschlichen Geliebten Ariadne:

678 Hödl 2009, S. 590. – So sehr ich Hödl in seiner Bestimmung des Endes von GD Streifzüge 19 als
Satire folge, so wenig überzeugend finde ich dessen Grundverständnis von besagtem ‚Aphorismus‘,
nach welchem dieser die Frage verhandle, „ob die ‚Verschönerung‘ der Welt mit d[ ]er ‚Gattungseitel-
keit‘ eigentlich wünschenswert“ (Hödl 2009, S. 590) sei. In Anbetracht der im vorigen Kapitel nach-
gewiesenen regelmäßigen Brechungen der im Text vorgeführten eigenen (Gegen-)Positionen qua
Selbstbezüglichkeitsfiguren scheint es sich bei GD Streifzüge 19 vielmehr um einen ‚Aphorismus‘ zu
handeln, der ebenfalls solche Subversionseffekte zeitigt, indem er das in GD Streifzüge 8–11 gelieferte
positive Bild des dionysischen Künstlers bricht, ohne dabei jedoch auf die ansonsten in der GD häufig
für diesen Effekt zum Einsatz gebrachten Selbstbezüglichkeitsfiguren zurückzugreifen. Dies hat auch
Folgen für den direkt drauffolgenden ‚Aphorismus‘ GD Streifzüge 20, der an seinem Anfang auf
zahlreiche der zentralen Topoi der Dekadenzthematik der Götzen-Dämmerung zurückgreift. Auch diese
erscheinen in Anbetracht der ihm vorausgehenden Brechungen in einem anderen, weniger dogmati-
schen Licht.
310 2.2. Die Götzen-Dämmerung

„Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren?“ fragte Ariadne einmal bei einem
jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. „Ich finde eine Art
Humor in deinen Ohren, Ariadne: warum sind sie nicht noch länger?“ (GD Streifzüge 19, EA 87)

Wie Hödl in Anknüpfung an Salaquarda feststellt, steht Ariadne hier für die im
restlichen ‚Aphorismus‘ über die Relativität ihres Schönheitsbegriffes aufgeklärte
Menschheit.679 Indem Dionysos sich in dem kurzen Dialog über die mangelhafte
Länge der Ohren seiner Geliebten lustig macht, beweist er nicht nur seine halkyo-
nische Heiterkeit, sondern zweifelt – auch darauf hat schon Hödl hingewiesen – an
ihrer Schönheit und bestätigt somit noch einmal die eingeschränkte Gültigkeit des
durch Ariadne repräsentierten menschlichen Schönheitsideals. Insbesondere das der
Beschreibung desselben in GD Streifzüge 8–11 innewohnende Pathos wird durch die
Feststellung des Dionysos, dass er „eine Art Humor“ in Ariadnes Ohren finde, ins
Lächerliche gezogen.
Hat man es also in GD Streifzüge 19 mit keinem geringeren Ausdruck aus der
Wortfamilie des ‚Dionysischen‘ zu tun als dem Namensgeber der Wortfamilie selbst,
der durch seinen illustrativ-satirischen Auftritt nicht nur den ‚Argumentationsgang‘
des ‚Aphorismus‘ zu Ende führt, sondern auch zu einer weiteren Profilierung des
ebenfalls seinen Namen als Adjektivattribut tragenden dionysischen Künstlers bei-
trägt, findet sich im letzten Text aus den „Streifzügen eines Unzeitgemässen“, der
ebenfalls auf einen ‚Begriff‘ aus besagter Wortfamilie zurückgreift, in der dort gegebe-
nen Verwendung desselben eine weitere Nuance von dessen vielfältigem und in der
Götzen-Dämmerung nicht nur voll ausgeschöpftem, sondern auch produktiv erweiter-
tem Bedeutungsangebot.680

679 Für eine derartige Deutung spricht auch eine Aufzeichnung in brauner Tinte aus dem Arbeitsheft
W II 7, die dort der ‚Vorstufe‘ von GD Streifzüge 19 direkt vorausgeht. Auch in dieser wird der
anthropozentrischen Perspektive diejenige des Dionysos gegenübergestellt und im Anschluss daran
nicht nur die Vermutung geäußert, dass für diesen „der Mensch trotzalledem etwas sehr Häßliches sein
könnte“ (W II 7, S. 132, Z. 10), sondern folgendermaßen illustriert: „Er kritisirt zum Beispiel das
menschl. Gesicht, er zweifelt, daß die Nase aus einer hohen Schön-heits-Regel ausgedacht ist. Er zieht
den Menschen an seinen Ohren: er findet in den Ohren eine Art Humor, doch keine Würde“ (W II 7,
S. 132, Z. 14–20).
Auch die Repräsentation der Menschheit durch Ariadne findet sich bereits in einem anderen
veröffentlichten Werk Nietzsches, nämlich am Ende des ‚Aphorismus‘ 296 von Jenseits von Gut und
Böse, wo ebenfalls ein Dialog, jedoch nicht zwischen Dionysos und Ariadne, sondern zwischen dem
Sprecher-Ich und besagtem Gott inszeniert wird (vgl. JGB 295, KSA 5, S. 239). Der dort explizit
artikulierte Wunsch des Dionysos, den Menschen noch „stärker, böser und tiefer; auch schöner“ (JGB
295, KSA 5, S. 239) zu machen, fügt sich direkt in die in GD Streifzüge 19 erfolgende Kritik am
menschlichen Schönheitsbegriff. Was es dann jedoch bedeutet, dass besagte Schönheit in der Götzen-
Dämmerung das Produkt eines dionysischen Künstlers ist, wird am Ende dieses Kapitels erläutert.
680 Die in GD Streifzüge 19 gegebene ‚Bedeutungsdimension‘ des ‚Dionysischen‘, d.h. die Tatsache,
dass dort der antike Gott in einem ihm auch in der Antike schon zukommenden Kontext als literari-
sches Beispiel zum Zwecke der Explikation der im Text verhandelten philosophischen Problemkon-
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 311

Die Rede ist hier von GD Streifzüge 49, in welchem ein Goethe-Bild inszeniert
wird,681 das den Weimarer Dichter als ‚starken Gegen-Typus‘ zu den in den „Streifzü-
gen eines Unzeitgemässen“ zuvor kritisierten literarischen, wissenschaftlichen und
philosophischen décadents etabliert.682 Für dieses ‚Portrait‘ greift der Text auf jene
Mittel der Figurengestaltung zurück, die dem Leser der Götzen-Dämmerung bereits aus
GD Sokrates und der dort für die Präsentation des Sokrates angewandten Darstellungs-
methode bekannt sind und die sich dadurch charakterisiert, dass eine realhistorische
Persönlichkeit als zwischen herausragendem Individuum und Typus synekdocheisch
changierende literarische Figur die Bühne von Nietzsches Text betritt.683
Bereits im Eröffnungssatz, des schlichtweg „G o e t h e“ überschriebenen ‚Aphoris-
mus‘ wird diese Tendenz offensichtlich:

G o e t h e — kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches: ein grossartiger Versuch, das
achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein H i n a u f kom-
men zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses
Jahrhunderts. — (EA 126)

Der gerade noch in GD Streifzüge 48 kritisierten Variante jener insbesondere von


Rousseau propagierten „Rückkehr zur Natur“ wird hier die Goethe’sche Variante
derselben gegenübergestellt, die sich von Ersterer dadurch unterscheidet, dass es sich
bei ihr um ein „H i n a u f kommen zur Natürlichkeit der Renaissance“ und damit um

stellation auftritt, fehlt in der ansonsten höchst umfangreichen Auflistung der Bedeutungen des
‚Dionysischen‘ im Nietzsche-Wörterbuch. Siehe dazu: NWB, S. 629ff.
681 Zum Topos des in GD Streifzüge 50 gelieferten Goethe-Bildes innerhalb der Nietzsche zeitgenössi-
schen Goetheforschung siehe die Stellenkommentare in Sommer 2012, S. 551–555.
682 Diese Funktion des in GD Streifzüge 49–51 gelieferten Goethe-Bildes wird insbesondere anhand
des Endes von GD Streifzüge 49 ersichtlich, welches, nachdem sich der ‚Aphorismus‘ an einer Kritik der
rousseauschen „Rückkehr zur Natur“ (EA 125) sowie der von der Aufklärung und der französischen
Revolution propagierten „Lehre von der Gleichheit“ (EA 126) abarbeitet, mit folgendem Satz die Kritik
an dieser ‚modernen Idee‘ sowie den ‚Aphorismus‘ selbst beschließt: „ — Ich sehe nur Einen, der sie
empfand, wie sie empfunden werden muss, mit E k e l — Goethe…“ (GD Streifzüge 49, EA 126)
683 Aus dieser Darstellungsweise entspringt nicht zuletzt die hohe Komplexität der in Nietzsches
Spätwerk an zahlreichen Punkten durchweg fiktionalisierten realhistorischen Persönlichkeiten, wel-
che dadurch sowie durch die sie jeweils in ihrer Kennzeichnung mitbestimmenden Kontexte nur durch
höchst aufwendige und komplexe Analysen – wenn überhaupt – ‚auf den Begriff gebracht‘ werden
können. Im Falle von Nietzsches Verständnis der Weimarer Klassik bzw. Goethes hat diesen Sach-
verhalt Claus Zittel präzise auf den Punkt gebracht: „Die Schwierigkeiten, die sich einstellen, will man
Nietzsches Verhältnis zur Weimarer Klassik taxieren, resultieren (wie bei Nietzsche immer) aus dessen
fast nie eindeutig auf einen einzigen Sinn hin festzuklopfenden Aussagen. Nietzsche formuliert
bekanntlich stets doppelbödig, ironisch gebrochen, kontextabhängig, seine allusionsreiche, inter-
textuelle Schreibweise ergeht sich permanent in einem vielschichtigen ästhetischen Verweisungsspiel.
Angesichts der Fülle an Referenzen auf sehr viele unterschiedliche Autoren besteht daher die Gefahr,
daß bei der Auskoppelung eines bestimmten Verhältnisses dieses einseitig überbetont oder gar in
Gestalt einer monokausalen Einflußthese zur Nietzsche-Gesamtauslegung verallgemeinert wird.“ (Zit-
tel 2006, S. 333f.)
312 2.2. Die Götzen-Dämmerung

die Reaktivierung jener schöpferischen Kräfte der Welt und Lebensbejahung handelt,
welche das Zentrum von Nietzsches Renaissance-Verständnis ausmachen.684 Nicht
zuletzt durch diese Rückbindung an die Renaissance wird es möglich, Goethe zu
einem europäischen Ereignis zu stilisieren.685 Wesentlich für den herausragenden
Status Goethes in GD Streifzüge 49 ist auch die Tatsache, dass er jene Instinkte seines
Jahrhunderts – der Text spricht gar von den „stärksten“ (EA 126) – überwinden
konnte, die in der Götzen-Dämmerung fast durchgehend negativ konnotiert werden:
„die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das
Unreale und Revolutionäre“ (EA 126). Zu deren Überwindung habe Goethe „die His-
torie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza […], vor Allem die
praktische Thätigkeit“ „zu Hülfe“ (EA 126) genommen und so, dabei sich zugleich
‚mitten ins Leben stellend‘, das erreicht, „[w]as er wollte, das war T o t a l i t ä t“ (EA
126). Letztendlich bekämpfte auch er das in der Götzen-Dämmerung ebenfalls im
Zentrum der Kritik stehende „Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille“
(EA 126) und „disciplinirte sich zur Ganzheit, […] s c h u f sich…“ (EA 127).
In der zweiten Hälfte von GD Streifzüge 49 werden die soeben zitierten Charakte-
ristika Goethes noch einmal zusammengeführt und er dabei vollends zum Gegen-
Typus und Anti-décadent stilisiert:

Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters, ein überzeugter Realist: er sagte Ja zu
Allem, was ihm hierin verwandt war, — er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissi-
mum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblich-
keiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der
sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark
genug zu dieser Freiheit ist; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus
Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem
Vortheile zu brauchen weiss; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn
die S c h w ä c h e , heisse sie nun Laster oder Tugend… (GD Streifzüge 49, EA 127)

An die Stelle des physiologischen Niedergangs der bereits in GD Sokrates dargestell-


ten griechischen décadents und der gegen diese und die damals vermeintlich wüten-
den Niedergangs-Instinkte nach dem dort gelieferten Narrativ von Sokrates zur Be-
kämpfung derselben ins Feld geführten und dabei zugleich zum Tyrannen gemachten
Vernunft tritt in dieser Passage mit Goethe ein Persönlichkeitstypus, der fern von den
in GD Sokrates beschriebenen und in ihren Denk- und Handlungsweisen vorgeführten
Niedergangstypen und jenseits der dort selbst als dekadent ausgewiesenen Trennung
von Instinkt und Vernunft sich „den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit
zu gönnen wagen darf“, da er stark genug dafür gewesen sei. Nach dem soeben

684 Siehe zu dieser Charakteristik wie zu Nietzsches Renaissance-Verständnis überhaupt: Vivarelli


2009b.
685 Zum Bild der Deutschen in der Götzen-Dämmerung siehe GD Deutsche (EA 58–68) sowie Rupschus
2013.
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 313

zitierten Passus führe diese Stärke, die hier zwar partiell in ihrer Entstehung rekon-
struiert wird, ohne dabei jedoch konkrete lebenspraktische Hinweise zur ihrer Auto-
konstitution zu liefern, zu guter Letzt auch zum ‚Immoralismus‘, gebe es doch für
einen solchen starken Menschen „nichts Verbotenes mehr“. Der Glauben eines sol-
cherart sich in Goethe realisierenden Menschen-Typus wird dann am Ende des Ab-
schnittes auf den Begriff gebracht:

Ein solcher f r e i g e w o r d n e r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten
im All, im G l a u b e n , dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und
bejaht — e r v e r n e i n t n i c h t m e h r … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen
Glauben: ich habe ihn auf den Namen des D i o n y s o s getauft. — (GD Streifzüge 49, EA 127)

Der hier beschriebene dem Bedeutungsfeld des ‚Dionysischen‘ eine neue Dimension
hinzufügende ‚dionysische Glauben‘ scheint auf den ersten Blick zahlreiche jener
Denk- und Handlungsweisen in sich zu vereinen, die bereits dem tragisch-dionysi-
schen Künstler zugeschrieben worden sind: Auch er beinhaltet ein Ja-Sagen „zu allem
Fragwürdigen und Furchtbaren selbst“ (GD Vernunft 6, EA 25), auch er führt zu einer
Bereicherung des mit ihm einhergehenden Zustandes „aus seiner eigenen Fülle“ (GD
Streifzüge 9, EA 77), auch durch ihn scheint der „Mensch dieses Zustandes […] die
Dinge“ (GD Streifzüge 9, EA 77) zu verwandeln. Dennoch existiert ein Punkt, an
welchem sich der in GD Streifzüge 49 anhand von Goethe exemplifizierte ‚dionysische
Glaube‘ vom Zustand des berauschten dionysischen Künstlers unterscheidet, handelt
es sich bei ihm doch expressis verbis um einen Glauben und eben nicht um einen
Zustand. Als ein solcher bewegt er sich kognitiv auf einer anderen Ebene als der in GD
Streifzüge 8–11 beschriebene Rausch. Ist dieser eindeutig das Resultat eines instinkti-
vierten und universellen Leibgeschehens und kennzeichnet sich dementsprechend
durch eine Unmittelbarkeit, die in GD Streifzüge 10 in dem dort artikulierten Cha-
rakteristikum der „Unfähigkeit, nicht zu reagieren“ (GD Streifzüge 10, EA 78) ihren
prägnantesten Ausdruck findet, kann der dionysische Glaube als Glaube, – auch
wenn er „der höchste aller möglichen Glauben“ ist, wie es in GD Streifzüge 49 heißt –
jederzeit seinen handlungsleitenden Status einbüßen.
Sowohl dieser Unterschied als auch die im oben zitierten Passus graphematisch
hervorgehobene Tatsache, dass ein derartiger Glaube nicht mehr verneine, spielen
auch in den letzten beiden ‚Aphorismen‘ der Götzen-Dämmerung, die sich dem Phäno-
men des ‚Dionysischen‘ widmen, eine bedeutende Rolle.
Wie bereits im Zuge der im Kap. 2.1.2.2. erfolgten, sehr sporadischen und die
potentiellen poeseologischen Metakommentare fokussierenden Lektüre von GD Alten 1
festgestellt wurde, handelt es sich bei dem Kapitel „Was ich den Alten verdanke“ um
einen erst im Rahmen der Fahnenkorrekturen der Götzen-Dämmerung beigefügten Text.
Wie auch Sommer und Gori/Piazzesi in ihren Nietzsche-Kommentaren anmerken, ist
dieser in Hinblick auf die Gesamtgenese der Götzen-Dämmerung exklusive Status von
GD Alten trotz seiner letztendlichen Eingliederung in besagtes Werk auch in der
schließlich publizierten Fassung immer noch ersichtlich: So führe das Kapitel zum
314 2.2. Die Götzen-Dämmerung

Beispiel als einziges der Götzen-Dämmerung ein ‚Ich‘ im Titel.686 Nicht zuletzt darin
offenbare sich dessen ursprünglicher Entstehungskontext, handelte es sich bei der
ursprünglichen Fassung von GD Alten doch um den sogenannten „Ur-Ecce-homo“, d.h.
einen ersten ‚autosymptomatologischen‘ Entwurf Nietzsches. Insbesondere dieser
‚autosymptomatologische‘ Charakter ist bei der Lektüre besagten Kapitels stets mit-
zubedenken, führt er doch potentiell zu jenen im Laufe dieser Studie bereits mehrfach
angesprochenen werkpolitischen Strategien, die sowohl die Vorreden von 1886/87 als
auch die eigentliche ‚Autosymptomatologie‘ Ecce homo kennzeichnen.687 Dass ver-
meintliche werkpolitische Tendenzen nicht notwendig zu einem tatsächlichen werk-
kompositorischen Bruch zwischen GD Alten und dem Rest der Götzen-Dämmerung
führen, sollte bereits die Lektüre von GD Alten 1 im Kap. 2.1.2.2. gezeigt haben. Die dort
vorgebrachte Hypothese, dass die Streichung der im „Ur-Ecce-homo“ noch gegebenen
Petronius-Referenz aus der Gruppe der literarischen Vorbilder und Lehrer der letzt-
endlich publizierten Fassung die stärkere Profilierung des intratextuellen Ichs gegen-
über der laut GD Sokrates mit Sokrates einsetzenden europäischen décadence-Bewe-
gung bewirke, ist von den anschließenden Lektüren der vorliegenden Studie bestätigt
worden, haben diese doch insbesondere in GD Sokrates und GD Vernunft die dort qua
Autodeixis erfolgende und sich solcherart partiell selbst unterlaufende Stiftung einer
im Text der Götzen-Dämmerung anhand des ihn dominierenden intratextuellen Ichs
vorgeführten Gegenposition freilegen können. Für diese Lesart spricht auch der weitere
Textverlauf von GD Alten, der noch sporadisch referiert werden soll, bevor ich mich
endgültig der dort verhandelten Dionysos-Thematik zuwende. Auch in GD Alten 2
kommt es zu einer aus dem Gesamtkontext der Götzen-Dämmerung zu deutenden
Zurückweisung zentraler Repräsentanten der griechischen Klassik, die sich ebenso aus
der daraus erfolgenden Stärkung des anti-dekadenten Status des intratextuellen Ichs

686 Vgl. Gori/Piazzesi 2012, S. 253 und Sommer 2012, S. 558.


687 Diese werkpolitischen Tendenzen betont insbesondere Sommer, wenn er – ohne sie als solche zu
bezeichnen – bereits in seinem „Überblickskommentar“ zur Götzen-Dämmerung in Bezug auf GD Alten
feststellt, dass besagtes Kapitel „vor allem zeigen [möchte], dass die ‚Umwerthung aller Werthe‘ seit
der Geburt der Tragödie […] N.s bestimmendes Lebensmotiv darstellt“ (Sommer 2012, S. 205f. – siehe
dazu auch S. 559). Auf dieser Folie deutet Sommer auch den hier im Lauftext später noch eingehender
behandelten Schlusssatz von GD Alten 5 (vgl. EA 140) als „Markierung d[ ]er ‚Wiederkunft‘ eines
Lebensthemas“ (Sommer 2012, S. 206).
Wie bereits im Kapitel 2.2.2.1. angemerkt, verweist Sommer in diesem Kontext, sich dabei auf
Stern 2009 beziehend, zugleich auf die Möglichkeit, dass man die Götzen-Dämmerung aufgrund der
vermeintlichen Tatsache, dass sie „kein homogener Text“ (Sommer 2012, S. 206) sei, als ein Beispiel
für jenen „Stil der décadence“ (WA Brief 7, KSA 6, S. 27) lesen könnte, welcher in Der Fall Wagner
kritisiert wird. Gegen eine derartige auf den ersten Blick in Anbetracht der in der Götzen-Dämmerung
zum Einsatz kommenden unterschiedlichen Textsorten durchweg plausibel erscheinenden Lektüre
spricht letztendlich die im Lauftext eingehend beschriebene intratextuelle Verflechtung der einzelnen
Kapitel und Abschnitte des Buches, das sich nicht zuletzt über diverse formale und denkstilistische
Leitmotive fern der in WA Brief 7 gegebenen Charakteristika der „l i t t e r a r i s c h e décadence“ (WA
Brief 7, KSA 6, S. 27) bewegt.
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 315

verstehen lässt. Stark irritiert hat die Forschung insbesondere die Eröffnung von GD
Alten 2, in welcher der sich bereits im vorigen Abschnitt auf Horaz und Sallust als
Vorbilder seiner Schreibweise berufende autodiegetische Erzähler jeglichen Einfluss
von Seiten der Griechen auf seine Denk- und Schreibweise negiert und sich dadurch in
Opposition zu seinem anscheinend so graecophilen Verfasser begibt:688

Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke; und, um es geradezu
herauszusagen, sie k ö n n e n uns nicht sein, was die Römer sind. Man l e r n t nicht von den
Griechen — ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um „klassisch“ zu
wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt! Wer hätte es je o h n e die Römer
gelernt!… (GD Alten 2, EA 131)

Die hier konstatierte Inexistenz eines Einflusses der Griechen auf die literarisch-philo-
sophischen Praktiken des hier offensichtlich poeseologischen Autoreflexionen nach-
gehenden autodiegetischen Erzählers zeitigt – jenseits des vermeintlichen Bruches mit
der kaum bezweifelbaren Bedeutung der Griechen für den Verfasser der Götzen-Däm-
merung selbst – zahlreiche Konsequenzen für das Verständnis des sich hier vermeint-
lich selbstbeschreibenden intratextuellen Ichs. Deren erste besteht in der erneuten
Affirmation der in GD Alten 1 behaupteten literarischen Anknüpfung an Horaz und
Sallust sowie der damit einhergehenden Bestätigung der hinter dieser Anknüpfung im
Kap. 2.1.2. der vorliegenden Studie nachgewiesenen sprachphilosophischen Problema-
tik. Damit einher geht eine Bekräftigung des durch den gesamten Textverlauf der
Götzen-Dämmerung propagierten Bildes des intratextuellen Ichs als eines vornehmen
Anti-décadents, der sich von den von ihm kritisierten décadents letztendlich nur im
potentiellen ‚Wissen‘ um die idiosynkratischen Bedingtheiten seiner eigenen Hand-
lungs- und Denkweisen und deren uneingeschränkte Anerkennung unterscheidet.689
Genau diese Seite des im Text der Götzen-Dämmerung vorgeführten ‚Charakters‘ des
autodiegetischen Erzählers wird im weiteren Verlauf von GD Alten 2 noch verstärkt,
indem sich dieser nach der soeben zitierten Texteröffnung einer harschen Platon-Kritik
widmet, die sich sehr nahe an der Sokrates-Kritik aus GD Sokrates bewegt und solcher-
art offenbar einen rein strategischen Zweck erfüllt: Indem Platon hier als „e r s t e r déca-
dent des Stils“ (EA 132) als „abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen“ (EA 132)

688 Paradigmatisch für diese Irritation steht Müller 2005, S. 245–253, dessen dort erfolgende Lektüre
von GD Alten bei der in GD Alten zurückgewiesenen Bedeutung der Griechen für das intratextuelle Ich
der GD ansetzt. Zu Müllers Deutung siehe die Fußnote 692.
689 Wie in dieser Studie mehrfach betont, feit dieser Unterschied auch das intratextuelle Ich letzt-
endlich nicht davor, potentiell selbst décadent zu sein. Dies wird allerdings, das sollten die bisherigen
Lektüren gezeigt haben, weitaus subtiler ‚artikuliert‘ als bisher in der Forschung angenommen,
nämlich nicht durch die GD-interne Umsetzung einer poeseologischen Metareferenz aus einem ande-
ren Text Nietzsches, sondern durch den Einsatz unterschiedlicher Selbstbezüglichkeitsfiguren.
316 2.2. Die Götzen-Dämmerung

als Schüler der Ägypter690 und Urvater des Christentums ausgewiesen wird, wird er
zugleich zusammen mit seinem Lehrer Sokrates zum Ahnherrn und Inbegriff jener
philosophischen Bewegung, der sich das intratextuelle Ich durch die ganze Götzen-
Dämmerung, insbesondere jedoch in GD Vernunft, entgegensetzt. Die Ablehnung Pla-
tons ist intratextuell also mehr als gerechtfertigt. Genauso folgerichtig erscheint dann
auch die die zweite Hälfte von GD Alten 2 bestimmende Parteinahme des intratextuellen
Ichs für Thukydides, komme in ihm doch „die S o p h i s t e n - C u l t u r , will sagen
die R e a l i s t e n - C u l t u r , zu ihrem vollendeten Ausdruck“ (EA 133). Das darauf im
Anschluss gegebene Thukydides-Porträt, in welchem dieser konsequent der grie-
chischen Dekadenz-Bewegung gegenübergestellt wird,691 scheint fern jeglichen real-
historischen Anspruchs zu erfolgen und ausschließlich der weiteren Autoprofilierung
des intratextuellen Ichs als einer starken Gegenposition zu der mit Sokrates und Platon
einsetzenden europäischen décadence-Bewegung zu dienen. Von einem textkomposi-
torischen Bruch zwischen GD Alten und dem Rest der Götzen-Dämmerung kann also
keineswegs die Rede sein.692

690 Der Text spricht davon, dass man teuer dafür bezahlt habe, „dass dieser Athener bei den Ägyptern
in die Schule gieng“ (GD Alten 2, EA 132f.).
691 Der besagte Passus lautet: „In ihm kommt die S o p h i s t e n - C u l t u r , will sagen die R e a l i s t e n -
C u l t u r , zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts
losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als
die d é c a d e n c e des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung
jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag.
Der M u t h vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein
Feigling vor der Realität, — f o l g l i c h flüchtet er in’s Ideal; Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich
behält er auch die Dinge in der Gewalt…“ (GD Alten 2, EA 133f.)
692 Im Gegensatz zu der soeben erfolgten Deutung von GD Alten 2 deutet Enrico Müller die dort
erfolgende Zurückweisung der Bedeutung der Griechen für Nietzsches eigenes Schreiben eingedenk
der Nietzsches philosophisches Selbstverständnis seit seiner frühesten Beschäftigung mit der antiken
Philosophie bedrohenden, alternativen medialen Praktiken des so wirkungsmächtigen Zweigespanns
Sokrates-Platon, welche sich im Falle Sokrates durch einen vollständigen Verzicht auf Verschriftli-
chung seines Denkens, bei Platon durch ein dialogisches Schreiben kennzeichne. Diese beiden
Praktiken führen, genauso wie Nietzsches ‚monologisches Schreiben‘, dazu, dass sich aus ihnen keine
statischen Lehren rekonstruieren lassen (vgl. Müller 2005, S. 247f.), waren in ihrer „spezifischen
Anlage jedoch so wirksam, dass [sie] gleichsam zur Interpretation nötigt[en]“ (Müller 2005, S. 248).
Genau dieser Sachverhalt habe laut Müller Nietzsche letztendlich dazu geführt, in GD Alten „einen
Zusammenhang wechselseitiger Bezugnahme und polemischer Abgrenzung“ (Müller 2005, S. 251)
zwischen den dort präsentierten Antagonisten Sokrates/Platon und Thukydides/die Sophisten zu
formulieren. In Anbetracht von diesem wechselseitigen Zusammenhang schließt Müller, dass Nietz-
sche erkannt habe, dass aufgrund der angesprochenen „Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, ja gegen-
läufiger Sinnstiftungen, […] weder für Athen und insofern die Griechen noch für die von ihnen aus-
gehende Wirkung eine Auslegung im Sinne normativer, ‚imperativischer‘ Orientierung“ (Müller 2005,
S. 251) gestattet sei. Da jedoch, so Müller, Nietzsches eigenstes philosophisches Projekt in der Ver-
meidung einer solchen normativ-imperativischen Orientierung bestand, könne man schließen, dass er
eigentlich weitaus mehr von den Griechen als von den Römern gelernt habe (vgl. Müller 2005, S. 253).
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 317

Ähnlich verhält es sich mit GD Alten 3, in welchem der autodiegetische Erzähler


historisch weiterschreitet und sich nun kritisch den klassischen Varianten der deut-
schen Antikedeutung zuwendet. Dabei wird gleich am Anfang die klassizistische
Griechendeutung eines Winckelmann durch die Kennzeichnung des auch von der
Weimarer Klassik propagierten Konzeptes der „‚schönen Seele‘“ sowie der auf Aristo-
teles zurückgehenden „‚goldene[n] Mitte‘“ als „niaiserie allemande“ zurückgewiesen
(vgl. GD Alten 4, EA 134) und ihr die Antikedeutung des intratextuellen Ichs, welches
dabei gleich eingangs explizit auf den seit GD Vorwort als denkstilistisches Leitmotiv
im Textgeschehen präsenten Psychologietopos verweist,693 entgegengesetzt.694 Die
Quintessenz dieses alternativen Blicks auf die Antike findet sich am Ende des Ab-
schnittes und fügt sich abermals nahtlos in die auch schon in GD Alten 1 und 2
vorgebrachte Selbstbeschreibung des autodiegetischen Erzählers als Entdecker und
Bekämpfer der griechischen décadence:695

Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermännerei
der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, w a s im Grunde hellenisch sei!…
Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten,
den vornehmen Geschmack ( — gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth
der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens). Die sokratischen Tugenden wurden gepre-
digt, w e i l sie den Griechen abhanden gekommen waren: reizbar, furchtsam, unbeständig, Ko-
mödianten allesammt, hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu lassen. Nicht,

So überzeugend Müllers Ausführungen im Kontext des von ihm praktizierten impliziten Biographis-
mus auch sein mögen, so wenig Relevanz besitzen sie für einen Ansatz wie den hier vorliegenden,
dessen zentralen lektüremethodologischen Prämissen die stets höchst spekulative Rekonstruktion von
den die Schreibprozesse leitenden und die aus diesen hervorgegangen Texturen semantisch bestim-
menden persönlichen Erfahrungen ihres Verfassers verbieten. Letztendlich gelingt es Müller in besag-
ter Deutung auch nicht, einen textintern plausiblen Grund für die Leugnung der Bedeutung der
Griechen für das intratextuelle Ich in GD Alten zu liefern. Wie ich hier im Lauftext zu zeigen versucht
habe, lässt sich ein solcher Grund jedoch aus der Gesamtbewegung der publizierten Fassung des
Textes der Götzen-Dämmerung rekonstruieren.
693 Die diesbezügliche Sätze lauten: „[…] vor dieser ‚hohen Einfalt‘, einer niaiserie allemande zugu-
terletzt, war ich durch den Psychologen behütet, […]“ (GD Alten 3, EA 134).
694 Zur Texteröffnung und der „schönen Seele“ sowie der „goldene[n] Mitte“ siehe auch Sommer
2012, S. 572f., zur „goldene[n] Mitte“ auch Gori/Piazzesi 2012, S. 257.
695 Am Anfang der Entwicklung des vom intratextuellen Ich propagierten alternativen Griechen-
bildes findet sich auch eine weitere der wenigen namentlichen Erwähnungen des Willens zur Macht in
der Götzen-Dämmerung. Die diesbezügliche Passage lautet: „Ich sah ihren stärksten Instinkt, den
Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, — ich sah alle ihre
Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen E x p l o -
s i v s t o f f sicher zu stellen.“ (GD Alten 3, 134)
Hier wird der Wille zur Macht als Instinkt und Trieb gekennzeichnet und somit – wie auch schon
in GD Streifzüge 20 (vgl. EA 109) – in das im Laufe dieser Studie bereits mehrfach angesprochene, die
anthropologischen Grundannahmen der GD zum Ausdruck bringende physio-psychologische Men-
schenbild integriert.
318 2.2. Die Götzen-Dämmerung

dass es Etwas geholfen hätte: aber grosse Worte und Attitüden stehen décadents so gut… (GD
Alten 3, EA 135)

Dieser Passus nimmt die Grundthematik aus GD Sokrates wieder auf und führt das
dort gezeichnete Bild durch die Einführung einer neuen Nuance in einer laut Andreas
Urs Sommer insbesondere gegen Leopold Schmidt gerichteten Polemik weiter:696 Ist
in GD Sokrates nämlich davon die Rede, dass Sokrates mit der Vernunft den „G e g e n -
t y r a n n e n“ (GD Streifzüge 9, EA 15) zur damals überall herrschenden Instinkt-Anar-
chie schuf, heißt es nun, dass die von ihm gepredigten Tugenden den Athenern
abhandengekommen waren. Ohne diesen Sachverhalt näher zu bestimmen, wird
dann im letzten Satz von GD Alten 3 mit dem Verweis darauf, dass auch die sokrati-
schen Tugenden nichts gegen die allgemeine décadence geholfen hätten, noch einmal
die in GD Sokrates 11 artikulierte These, dass es „ein Selbstbetrug seitens der Phi-
losophen und Moralisten [sei], damit schon aus der décadence herauszutreten, dass
sie gegen dieselbe Krieg machen“ (GD Sokrates 11, EA 16) aufgerufen und über diesen
intratextuellen Bezug auch die Position des autodiegetischen Erzählers durch die sich
solcherart eröffnende Möglichkeit der Einschreibung desselben in die mit dieser These
einhergehende Schleife unter décadence-Verdacht gestellt.
GD Alten scheint sich jedoch auf diese qua intratextuellen Bezug erfolgende
Leserirritation zu beschränken, wird doch in dessen letzten beiden Abschnitten die
GD Alten 1–3 mehrheitliche bestimmende Tendenz zur Autoprofilierung des intra-
textuellen Ichs als Anti-décadent ohne weitere Berücksichtigung der soeben nach-
gewiesenen potentiellen Brechung weitergeführt.697 In den beiden letzten Kapiteln
tritt zu dieser allgemeinen Tendenz noch ein weiterer Aspekt hinzu, in welchem das
eigentliche Interesse des vorliegenden Kapitels liegt: das Dionysische. Mit einem
Verweis auf dasselbe eröffnet bereits GD Alten 4:

696 Zu Leopold Schmidt siehe Sommer 2012, S. 574f.


697 Auch hier zeigt sich noch einmal die Subtilität der in der Götzen-Dämmerung eingesetzten Sub-
versionstechniken.
Diese Subtilität scheint auch einem ansonsten so genauen Leser wie Heinrich Detering entgangen
zu sein, dessen Nachvollzug des Dionysos-Bildes der Götzen-Dämmerung sich an zahlreichen Punkten
in unmittelbarer Nähe der hiesigen Ausführungen bewegt, so zum Beispiel, wenn Detering darauf
verweist, dass es in der Gestalt des Dionysos zu einer Verschmelzung von „griechischer und eigener
Privatmythologie“ komme, „in der das philosophisch-abstrakte Konzept des ‚Dionysischen‘ personifi-
ziert“ werde, und dann daraus schließt: „Einerseits ist der Begriff ein Name, verkörpert sich das
Konzept als Figur. Andererseits reduzieren sich Figur und Name zunehmend auf Allegorien eines
Begriffs, der dank dieser Allegorie erzählt werden kann.“ (Detering 2010, S. 58) Im Anschluss daran
stellt Detering jedoch fest: „Souveräner Herr der Erzählung ist derjenige, in dessen Macht und
Belieben es steht, einen ‚Glauben‘ als ‚den höchsten‘ festzusetzen“ (Detering 2010, S. 58).
Hier wird dem autodiegetischen Erzähler der Götzen-Dämmerung eine Souveränität zugestanden,
welcher er in Anbetracht der gerade ihn kennzeichnenden Autosubversionen nicht mehr entsprechen
kann.
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 319

Ich war der erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmen-
den hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des
Dionysos trägt: es ist einzig erklärbar aus einem Z u v i e l von Kraft. (GD Alten 4, EA 136)

Das in dieser Passage einem „noch reichen und selbst überströmenden hellenischen
Instinkt[ ]“ zugeordnete Phänomen des ‚Dionysischen‘ deckt sich vollständig mit der
Beschreibung des dionysischen Künstlers aus GD Streifzüge 8–11. Auch dort wird es
als das Überströmen „aus einem Z u v i e l von Kraft“ ausgewiesen. Die unmittelbare
Nähe zum Instinkt sowie die Bezeichnung besagten Sachverhaltes als Phänomen legt
des Weiteren nahe, den ‚Begriff‘ des Dionysischen hier als deskriptiven Terminus für
den ‚Gesamtzustand einer Person bzw. Personengruppe‘ und solcherart als Resultat
der die Götzen-Dämmerung insgeheim leitenden symptomatologischen Heuristik zu
begreifen. Diese Übereinstimmung mit GD Streifzüge 8–11 wird jedoch im weiteren
Verlauf des ‚Aphorismus‘ erschüttert, da es in diesem zu einer Erweiterung des
Bedeutungspotentials besagten ‚Terminus‘ kommt. Dieser Erweiterung geht eine, in
der Erstausgabe eineinhalb Seiten umfassende Kritik an der Deutung des zu Nietz-
sches Lebzeiten als einer der führenden deutschen Altphilologen geltenden Christian
August Lobeck voraus.698 Im Zuge dieser Kritik, die abermals eine werkpolitische
Funktion besitzt und zur weiteren Herausarbeitung des Profils des autodiegetischen
Erzählers beiträgt, wird Lobecks Deutung des „orgiastischen Ursprungs“ jenes „so
befremdlichen Reichthum[s] an Riten, Symbolen und Mythen“ letztendlich als bloß
„verächtliches Geschwätz“ abgetan (vgl. EA 136f.).699 An diese umfangreiche Lo-
beck-Kritik schließt eine ebenso gewichtige Kritik an Goethe an, die in direkter
Opposition zum zuvor behandelten Goethe-Bild aus GD Streifzüge 49–51 steht, und
solcherart sowohl die Ambivalenz in Nietzsches Goethebild als auch dessen Abhän-
gigkeit vom jeweiligen werkinternen Kontext und den diesen leitenden Problemkon-
stellationen bestätigt.700 Erst nach dieser expliziten Distanzierung zu Goethe setzt
die eigentliche Entwicklung der vom intratextuellen Ich propagierten Deutung des
‚dionysischen Phänomens‘ ein:

Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht
sich die G r u n d t h a t s a c h e des hellenischen Instinkts aus — sein „Wille zum Leben“. W a s ver-

698 Zu Lobeck siehe Sommer 2012, S. 575ff. und Gori/Piazzesi 2012, S. 258.
699 Laut Sommer, der sich dabei auf Crescenzi stützt, handle es sich bei der diesen Abschnitt von GD
Alten 4 leitenden ‚Quelle‘ nicht eigentlich um Lobecks Aglaophamus, sondern um das Nachwort von
Franz Anton von Besnard zu einer Ausgabe von Arnobius des Älteren Adversus gentes. Vgl. Sommer
2012, S. 576.
700 Die diesbezügliche Stelle lautet: „Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff „griechisch“
prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente
finden, aus dem die dionysische Kunst wächst, — mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht
daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele
ausgeschlossen hätte. F o l g l i c h v e r s t a n d G o e t h e d i e G r i e c h e n n i c h t . “ (GD Alten 4, EA 137f.)
320 2.2. Die Götzen-Dämmerung

bürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens;
die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben über
Tod und Wandel hinaus; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch
die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das g e s c h l e c h t l i c h e Symbol
das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmig-
keit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten
und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der S c h m e r z heilig gesprochen: die „Wehen
der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, — alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-
Verbürgende b e d i n g t den Schmerz… Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille
zum Leben sich ewig selbst bejaht, m u s s es auch ewig die „Qual der Gebärerin“ geben… (GD Alten
4, EA 138)

Bereits im ersten Satz dieser Passage wird der „dionysische Zustand“ ‚psycho-
logisch‘ als „die G r u n d t h a t s a c h e des hellenischen Instinkts“ ausgewiesen und
dann nach der graphematisch markierten Zäsur durch einen Geviertstrich noch
näher als „‚Wille zum Leben‘“ bestimmt. Als ein solcher steht er automatisch der
sich gegen besagtes Leben selbstzerstörerisch wendenden und mit Sokrates einset-
zenden décadence-Bewegung entgegen. Das hier zum Einsatz gebrachte deskriptive
Vokabular – insbesondere die Ausdrücke „Psychologie“ und „Zustand“ – verbürgen
zugleich, dass es sich auch bei der Freilegung des „Wille[ns] zum Leben“ um ein
Resultat der ‚symptomatologischen Heuristik‘ handelt. Als ein solches wird die
vermeintliche „G r u n d t h a t s a c h e“ zugleich impliziter an die idiosynkratische Deu-
tungspraxis des autodiegetischen Erzählers zurückgebunden. Selbiger führt in den
folgenden Sätzen seine ‚psychologische Deutung‘ besagten Phänomens fort.701 Da-
bei werden der „Wille zum Leben“ und der diesen mit sich bringende dionysische
Zustand zu den Kronzeugen jener lebenssteigernden Lebensbejahung, die vom intra-
textuellen Ich durch den ganzen Text der Götzen-Dämmerung hindurch den von GD
Sokrates an ‚kriegerisch ausgehorchten‘ „N i e d e r g a n g s - T y p e n“ (GD Sokrates 2,
EA 10) gegenübergestellt wird. Auffällig an der hier gegebenen Beschreibung der
Konsequenzen besagten Zustandes ist, dass er eine „ewige Wiederkehr des Lebens“
verbürgen solle, die hier als ein „Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die
Mysterien der Geschlechtlichkeit“ ausgewiesen wird. Derartig wird die vor allem in
Also sprach Zarathustra häufig als vermeintlich zentrale Lehre gelesene „ewige

701 Laut Sommer, der sich dabei auf Ebanoidse 1998 beruft, sei gerade die folgende Passage –
„W a s verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien? Das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des
Lebens; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht; das triumphirende Ja zum Leben
über Tod und Wandel hinaus; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch
die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das g e s c h l e c h t l i c h e Symbol das
ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit.“ (GD
Alten 4, EA 138) – nicht so sehr Resultat einer innovativen Deutung Nietzsches, sondern weise zahl-
reiche Parallelen zu Besnards Deutung von besagtem Phänomen im bereits angesprochenen Nachwort
zur Ausgabe des Arnobius auf (vgl. Sommer 2012, S. 577f.).
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 321

Wiederkehr“ zu einer bloßen Konsequenz des in GD Alten 4 beschriebenen Phäno-


mens des Dionysischen degradiert, was eine ansonsten gern an dieses nietzschesche
‚Grundwort‘ herangetragene kosmologische Deutung desselben verunmöglicht,
weist doch dessen hier gegebene Verwendung auf keinen anderen Sachverhalt hin
als denjenigen, dass eine sich im dionysischen Zustand befindende Person(engrup-
pe) durch das in diesem Zustand gegebene „Z u v i e l von Kraft“ dazu geführt wird,
auch in Anbetracht sämtlicher Schattenseiten des menschlichen Daseins dieses zu
bejahen. Letztendlich wird hier also die „ewige Wiederkehr“ ebenfalls in das phy-
sio-psychologische Menschenbild der Götzen-Dämmerung integriert und im Kontext
desselben als Folge eines aus dem dionysischen Zustand geborenen Grundinstinktes
ausgewiesen. Diese unmittelbare Anbindung des vermeintlichen Grundwortes an
das Leibgeschehen wird in der oben zitierten Passage zusätzlich durch dessen
unmittelbare Nähe zu Ausdrücken der Fortpflanzung, die als solche ebenfalls das
Weiterleben des Menschen garantieren, unterstrichen. Die derartig vollzogene Pro-
longierung der Lebensbejahung entdeckt der autodiegetische Erzähler schließlich
auch in der Tatsache, dass in „der Mysterienlehre der S c h m e r z heilig gesprochen“
wird.
Im Anschluss daran wird im Satz „Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt,
damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, m u s s es auch ewig die ‚Qual
der Gebärerin‘ geben…“ eben dieser Schmerz als eine notwendige Grundbedingung
alles Schaffens gesetzt. Diese Setzung mag zwar auf den ersten Blick paradox
erscheinen, besagte Paradoxie löst sich aber auf der Folie des zuvor in GD Alten 4
Artikulierten auf: Da das Fortbestehen des Ja-Sagens zum Leben vom Fortbestehen
eines des dionysischen Zustandes empfänglichen Menschentypus abhängig ist und
ein solches Fortbestehen nur über die Fortpflanzung besagten Typus erfolgen kann,
besagte Fortpflanzung aber unmittelbar an die Geburt und den bei dieser gegebe-
nen Schmerz gebunden ist, wird der Schmerz tatsächlich zur Voraussetzung dafür,
dass „die ewige Lust des Schaffens“ weiterbestehe. In den beiden an die soeben
gelesene Passage anschließenden Sätzen wird die zuvor gelieferte Charakteristik
explizit auf den ‚Begriff‘ des Dionysos gebracht und dabei zugleich im Zuge einer
Metareflexion über die altgriechischen Dionysien in seinem Wert bestimmt:

Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos: ich kenne keine höhere Symbolik als diese g r i e c h i s c h e
Symbolik, die der Dionysien. In ihr ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens,
zur Ewigkeit des Lebens, religiös empfunden, — der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als
der h e i l i g e Weg… (GD Alten 4, EA 138f.)

Während in diesen beiden Sätzen die Übereinstimmung dieses Konzepts des Lebens
mit der durch die ganze Götzen-Dämmerung als insgeheimer Orientierungspunkt der
Beurteilungspraktiken des diese bestimmenden intratextuellen Ichs fungierenden,
universellen Lebensbejahung noch einmal bestätigt wird, wendet sich der auto-
diegetische Erzähler im darauffolgenden Abschnitt GD Alten 5 eingangs der Über-
322 2.2. Die Götzen-Dämmerung

tragung der von ihm soeben entwickelten ‚Begrifflichkeit‘ in die Tragödientheorie


zu:702

Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb
dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des t r a -
g i s c h e n Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten miss-
verstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für den Pessimismus der Hellenen
im Sinne Schopenhauer’s zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung
und G e g e n - I n s t a n z zu gelten hat. (GD Alten 5, EA 139)

Auch in dieser Passage wird abermals die im Zuge der Lektüre von GD Alten nun
bereits mehrfach nachgewiesene intratextuelle Verwobenheit der einzelnen Abschnit-
te und Kapitel der Götzen-Dämmerung greifbar: Die zwei soeben zitierten Sätze führen
nämlich nicht nur die Überlegungen von GD Alten, diese dabei auf die Tragödien-
theorie übertragend, fort, sondern knüpfen dabei zugleich direkt an das Ende von GD
Vernunft 6 an. Wurde dort der tragisch-dionysische Künstler den Pessimisten gegen-
übergestellt und von diesen unter anderem dadurch unterschieden, dass er „den
Schein höher schätzt als die Realität“ (EA 25) – Schein jedoch verstanden als „die
Realität n o c h e i n m a l“ (EA 25) –, wird hier diese dem tragischen Künstler zu-
geschriebene und ihn zugleich auszeichnende Kompetenz mit dem in den Dionysien
beobachtbaren Orgiasmus zusammengeführt und damit als Ausdruck jenes Grund-
instinktes ausgewiesen, der am Ende von GD Alten 4 beschrieben worden ist. Durch
die solcherart auch ihm zukommende universelle Lebensbejahung, welche sich nach
der zitierten Passage nicht zuletzt in der griechischen Tragödie ausdrücke, wird diese
als Darstellung und Produkt eines solchen Typus notwendig zur „G e g e n - I n s t a n z“
jeglichen weltverneinenden Pessimismus. In den Folgesätzen wird diese bejahende
Tendenz auch dem tragischen Dichter zugeschrieben und dabei eine weitere Facette
des Dionysischen offengelegt:

Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen; der Wille zum
Leben, im O p f e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend — d a s nann-
te ich dionysisch, d a s errieth ich als die Brücke zur Psychologie des t r a g i s c h e n Dichters. (GD
Alten 4, EA 160)

Der auch diesen Abschnitt perspektivisch bestimmende und sich erneut als Psycho-
loge selbstcharakterisierende autodiegetische Erzähler deutet aus dem zuvor ent-
wickelten Verständnis des Dionysischen nun auch das die Tragödie charakterisieren-

702 Dieser Übertragung geht im Text von GD Alten noch ein Satz voraus, der, zugleich GD Alten 4
beschließend, die dort gelieferte Beschreibung des Dionysischen durch Betonung des für dieses so
wesentlichen Moments der Geschlechtlichkeit dem Ressentiment des Christentums entgegensetzt:
„Erst das Christenthum, mit seinem Ressentiment g e g e n das Leben auf dem Grunde, hat aus der
Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht: es warf K o t h auf den Anfang, auf die Voraussetzung
unseres Lebens…“ (GD Alten 4, EA 139)
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 323

de Opfer ihres Heldens – oder „seiner höchsten Typen“ wie es im Text heißt – als
Ausdruck des „Wille[ns] zum Leben“. In der Applikation des Dionysischen auf die
antike Tragödie fortfahrend wird dann dieses primär leicht irritierende Merkmal des
Dionysischen weiter erläutert:

N i c h t um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen
Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen — so verstand es Aristoteles —: sondern
um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , — jene
Lust, die auch noch die L u s t a m V e r n i c h t e n in sich schliesst… (GD Alten 5, 139f.)

Das bereits in GD Streifzüge 8–11 dem sich in einem dionysischen Zustand befinden-
den Künstler eignende und in GD Alten 4 dann abermals explizierte „Z u v i e l von
Kraft“ führt letztendlich dazu, dass auch die „L u s t a m V e r n i c h t e n“ zu einem
integrativen Bestandteil des Dionysischen wird. In ihr sieht das intratextuelle Ich
zugleich jene „Lust des Werdens s e l b s t“ realisiert, die auch in GD Vernunft – dort
jedoch nicht als Lust, sondern als vermeintliche Ontologie – durch die dort erfolgende
temporäre Parteiergreifung des intratextuellen Ichs für Heraklit gegenüber dem
„Ägypticismus“ (GD Vernunft 1, EA 18) der in ihren Idiosynkrasien dargestellten
Philosophen eine bedeutende Rolle spielt. Liest man dieses Lob der „Lust des Wer-
dens s e l b s t“ eingedenk dieses Kontextes auf der Folie einer Philosophie des Wer-
dens, offenbart sich der hohe metareflexiv-autopoeseologische Gehalt der in GD Alten
vorgelegten Deutung des Dionysischen. Genau über diesen lässt sich auch das die
Nietzscheforschung seit langem faszinierende Ende von GD Alten 5 deuten:

Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng — die „Geburt der
Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden
zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst — ich, der letzte Jünger des Philosophen
Dionysos, — ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft… (GD Alten 5, 140)

Vernachlässigt man hier die insbesondere im Satz vor dem Semikolon wieder eindeu-
tig hervortretende werkpolitische Tendenz des soeben zitierten Abschlusssatzes von
GD Alten 5 und fokussiert sich insbesondere auf dessen Ende und die dort zu findende
Selbstbestimmung des intratextuellen Ichs als „letzte[m] Jünger des Philosophen
Dionysos“, als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“, bietet sich auf dem Hintergrund
des soeben nachvollzogenen Verständnisses des ‚Dionysischen‘ in der Götzen-
Dämmerung sowie unter Berücksichtigung der Bedeutung der im vorigen Kapitel
beschriebenen Selbstbezüglichkeitsfiguren folgende Deutung für das Ende von GD
Alten und damit auch für das ‚Dionysische‘ selbst an: Indem sich das intratextuelle
Ich als Jünger des hier erstmals als Philosophen bezeichneten Dionysos bestimmt,
eröffnet es seine Anhängerschaft an jenen dionysischen Glauben, der insbesondere in
GD Streifzüge 49 entwickelt worden ist. Wie die weiteren Bedeutungsebenen des
‚Dionysischen‘ zeigen, nach welchen unter diesem nicht nur ein Glaube, sondern
insbesondere auch ein bestimmter Gesamtzustand des Instinkthaushaltes einer Per-
son zu verstehen ist, der sich insbesondere durch ein „Z u v i e l von Kraft“ auszeichnet
324 2.2. Die Götzen-Dämmerung

und sich dank dieses Zustandes zugleich in Opposition zu sämtlichen Formen der
décadence stellt, kann ein sich dem Glauben an diesen Zustand zuschreibendes
Individuum, insbesondere wenn es wie in der Götzen-Dämmerung mit dem selbst
idiosynkratisch denkenden und handelnden ‚Entdecker‘ besagten Glaubens identisch
ist, als bereits partiell an diesem Zustand teilhabendes verstanden werden. Der
solcherart selbst zum starken Glauben werdende Glauben des intratextuellen Ichs
wird derartig zu dem von ihm selbst partiell bewusst gemachten Fundament seiner im
Zuge der Götzen-Dämmerung konsequent vorgeführten Gegenpositionen. Für das
Gesamtgeschehen der Götzen-Dämmerung bedeutet dies, dass letztendlich die in ihr
propagierten Gegenpositionen, Nietzsches Heterodoxien, im Mythopoem des Dionysi-
schen kulminieren, welches als Mythopoem mühelos die Funktion der Anti-Lehren
aus Also sprach Zarathustra übernimmt, ja manche der dort präsentierten Anti-
Lehren – wie z.B. die ewige Wiederkunft – sogar, sie dabei zugleich semantisch
verschiebend, in sich integriert. Da jedoch besagtes Mythopoem im Textgeschehen
selbst als Einsicht des dieses Geschehen insgeheim leitenden autodiegetischen Erzäh-
lers ausgewiesen wird, eines Erzählers, dessen eigene ‚Unzuverlässigkeit‘ nicht zu-
letzt in den dem Text eingeschriebenen Schleifen, Faltungen und ernsten Selbstparo-
dien zum Ausdruck kommt, entfernt es sich nicht nur in seinem per se schon
spezifischen Status als Mythopoem, sondern zugleich aufgrund der sich solcherart
ergebenden Rückkoppelung an die Bedingtheiten des selbst idiosynkratischen Erzäh-
lers von sämtlichen traditionellen philosophischen ‚Lehren‘ und stiftet so eine von
diesen abweichende Variante der Weltauslegung. Dies bedeutet zugleich, dass das
am Ende von GD Alten sich als „Lehrer der ewigen Wiederkunft“ selbstbestimmende
intratextuelle Ich, nicht eigentlich Lehrer einer bestimmten Lehre ist, sondern durch
den gesamten Textverlauf der Götzen-Dämmerung sich selbst und den Einfluss eines
bestimmten Glaubens – des dionysischen – und des mit diesem Glauben einhergehen-
den und ihn zugleich bestimmenden instinktiven Gesamtzustandes seiner selbst
exemplarisch vorführt.703
Solcherart kommt der Handlungsverlauf der Götzen-Dämmerung mit dem an
ihrem Ende propagierten dionysischen Glauben zur Deckung: Wenn dem Dionysi-

703 Insofern ist Mazzino Montinari und dem ihm darin folgenden Hans Gerald Hödl (vgl. Hödl 2009,
S. 536) zu widersprechen, nach deren Lesarten „[n]icht eine Systematik des Willens zur Macht, sondern
dessen Aufhebung im Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen […] der philosophische Sinn
der Götzen-Dämmerung“ (Montinari 1984, S. 79) sei.
Wie die soeben gelieferte Lektüre ausgewählter Kapitel der Götzen-Dämmerung gezeigt haben
sollte, ist es nicht möglich, deren philosophischen Sinn in eine Proposition zu fassen. Das Telos des
Textes besteht offenbar gerade nicht in der Artikulation einer bestimmten philosophischen Lehre,
sondern führt auf der Basis von in ihm temporär gesetzter Thesen eine dynamische Form des Phi-
losophierens, welche in GD Alten in die poeseologische Metapher des ‚Dionysischen‘ gefasst wird,
anhand eines bestimmten philosophischen Charakters – dem intratextuellen Ich – vor. Zum kogniti-
ven Status der im Laufe dieses Textgeschehens dem Leser sich ereignishaft eröffnenden philosophi-
schen Einsichten siehe den folgenden Teil der vorliegenden Studie.
2.2.5. Das Dionysische als Mythopoem und poeseologische Metapher 325

schen, wie es insbesondere in GD Alten 4 und 5 charakterisiert wird, zu guter Letzt


jene „Lust am Vernichten“ eignet, die im Textgeschehen durch die zahlreichen Auto-
subversionen des intratextuellen Ichs umgesetzt wird, kann an diesem Punkte nicht
mehr entschieden werden, wohin sich besagtes intratextuelle Ich motiviert durch
seine eigenen Idiosynkrasien bewegt. So wird der Begriff des Dionysischen im End-
effekt zur zentralen poeseologischen Metapher der Götzen-Dämmerung, beschreibt
besagter ‚Terminus‘ doch nichts anderes als die im Textgeschehen angelegte unend-
liche Fortschreibung von sich selbst, die in diesem dynamischen Prozess auch die
Autodestruktion der eigenen Positionen nicht ausschließt, ja durch subversive Prakti-
ken wie die ernste Parodie an manchen Stellen des Buches bereits einlöst. Der Text
der Götzen-Dämmerung realisiert derartig letztendlich jenes Denken des Werdens, das
bereits in GD Vernunft angedeutet wird und sich in seinen spezifischen Eigenheiten
jeglicher apophantischen Aussage entzieht.704 An die Stelle eines solchen apophanti-
schen Sprechens tritt in der Götzen-Dämmerung eine Form des ‚dionysischen‘ Phi-
losophierens, welches ein unmittelbar an die Textur des Buches und die sich auf
dieser realisierende ästhetische Darstellungsform gebundenes dynamisches Denken
umsetzt, das seine eigenen bloß temporär gültigen Bedingtheiten, wenn es diese auch
nicht vollständig artikuliert, mehrheitlich autodeiktisch-performativ zur Anschauung
bringt. Eine philosophische Lehre im traditionellen Sinne bleibt diesem Denken ver-
wehrt. Stattdessen realisiert es eine im doppelten Wortsinne kunstvolle Philosophie,
die sich nur temporär festlegt und nur über den Nachvollzug dieser temporären Fest-
legungen im Textgeschehen in ihrer Ereignishaftigkeit erfasst werden kann.

704 Eine derartige Gesamtinterpretation der Götzen-Dämmerung insinuiert auch Andreas Urs Sommer
am Ende seines Überblickkommentars, ohne dabei jedoch auf den autopoeseologischen Charakter des
‚Dionysischen‘ einzugehen: „Ein Philosophieren, das das Werden privilegiert, kann allenfalls durch
Setzungen, die immer durch entgegenstehende Setzungen konterkariert werden, seinen angemesse-
nen Ausdruck finden. Auch im Blick auf die fundamentale Sprachkritik, die insbesondere in GD [ ]
Vernunft[ ] 5 […] und in GD Streifzüge […] 26 artikuliert wird (wo die Struktur von Sprache dafür
verantwortlich gemacht wird, dass wir in bestimmten Kategorien denken, die vielleicht keinen Anhalt
in der Realität haben), gilt dieser Selbstaufhebungszwang: Sprachkritik kann sich nur sprachlich
äußern; daher muss Sprache in GD alle Setzungen immer wieder suspendieren, um auf die Möglichkeit
einer Wirklichkeit jenseits der sprachlichen Denkzwänge aufmerksam zu machen.“ (Sommer 2012,
S. 207)
Zwar folgt die soeben vorgelegte Deutung der Götzen-Dämmerung der hier von Sommer vor-
geschlagenen Lektüre in ihrer Grundtendenz, differenziert aber den Sommer’schen Vorschlag weiter
aus, indem sie nicht bei der bloßen Feststellung des Selbstaufhebungszwanges stehen bleibt, sondern
an dessen Stelle die konkrete Beschreibung der vielfältigen Varianten von in der GD isolierbaren
Selbtsbezüglichkeitsfiguren setzt.
3. Teil: Text, Konstellation und (Selbst-)Reflexion: Die
ästhetischen Darstellungsformen der Götzen-
Dämmerung und ihre Folgen für Philosophie
und Literaturtheorie
3.1. Der Status der Darstellungsform in aktuellen
literaturtheoretischen und philosophischen
Diskursen
Die im vorigen Teil dieser Studie vollzogene Lektüre ausgewählter Kapitel von Fried-
rich Nietzsches Götzen-Dämmerung hat nachdrücklich gezeigt, dass dieses späte Werk
des Röckener Pfarrerssohnes eine Form philosophischen Denkens realisiert, die un-
mittelbar an die Textur des Buches und das sich auf dieser manifestierende Text-
geschehen gebunden ist. Im Rahmen des Nachvollzuges des Textgeschehens der
Götzen-Dämmerung konnten zahlreiche Spezifika des sich darin manifestierenden
und an eine höchst individuelle Darstellungsform gebundenen Denkens herausgear-
beitet werden. Dieses kennzeichnet sich insbesondere durch seine Abweichung von in
der abendländischen Philosophie regelrecht als obligatorisch erachteten formalen
Modi und inhaltlichen Topoi wie die Vermeidung von Selbstbezüglichkeiten und
Selbstwidersprüchen, die Klarheit der Darstellung, der Fokus auf argumentative
Kohärenz und der Verzicht auf ‚persönliche‘ und nicht szientifisch-narrative Elemen-
te. An deren Stelle tritt in der Götzen-Dämmerung eine Schreibweise, die auf Grund-
lage metanarrativer Äußerungen des Textes selbst als ‚dionysisch‘ bezeichnet wurde
und sich vor allem durch ihren selbstbezüglichen und rhetorisch-narrativen, die
jeweilige Erzählinstanz betonenden Charakter kennzeichnet.
Diese Schreibweise soll im Folgenden mit aktuellen Debatten zur kognitiven
Bedeutung ästhetischer Darstellungsformen für die Philosophie konfrontiert und zu
deren Adaption nutzbar gemacht werden. Derartig verlässt die vorliegende Studie den
im zweiten Teil dominierenden textnahen Rahmen und betritt das Feld der gegen-
wärtigen philosophischen und literaturtheoretischen Diskurse. Ein derartiger diskur-
siver Wechsel führt unvermeidbarerweise zur Suspendierung von für den voraus-
gehenden Teil dieser Arbeit noch zentralen methodologischen Prämissen. So wird es
im Folgenden nicht mehr möglich sein, die dort gegebene Textnähe aufrechtzuerhal-
ten. An deren Stelle tritt die Konfrontation der im Zuge der textnahen Lektüre gewon-
nenen Resultate mit aktuellen Debatten.
Neben dem Verlust der Textnähe führt eine derartige Einschreibung der Lektüre-
resultate in umfangreichere, zumeist material-ästhetische Momente ausblendende
Diskurse auch zu einer Entindividualisierung dieser Resultate, deren Erarbeitung im
Zuge des Nachvollzuges des Textgeschehens der Götzen-Dämmerung noch in unmit-
telbarer Nähe von deren material-ästhetischer ‚Darstellungs-Logik‘ erfolgte. Zwar
bewegt sich auch eine solche Lektüre, sobald sie beschreibend auf die Begrifflichkeit
eines bestimmten Textes zugreift, bereits jenseits von dessen konkreten semantischen
Mikrokontexten, verlässt jedoch diese – zumindest im Zuge eines mimetisch-nach-
vollziehenden und zugleich autoreflexiven, ‚hermeneutisch-textphilologischen‘ An-
satzes, wie dem hier im zweiten Teil der vorliegenden Studie praktizierten – niemals
vollständig. Um die in der Lektüre nachgewiesene hohe Individualität der Darstel-
330 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

lungsform der Götzen-Dämmerung auch in der nun erfolgenden Zusammenführung


derselben mit derartige Individualitäten aufgrund ihres terminologischen Charakters
meist ausblendenden Diskursen zu markieren, werden im Folgenden aus diesen Dis-
kursen übernommene deskriptive Begriffe, die zur Beschreibung der Phänomene der
Götzen-Dämmerung herangezogen werden, im Falle ihres partiellen Abweichens von
eben diesen Phänomenen zwischen einfache Anführungszeichen gesetzt.

3.1.1. Erkenntnis und Darstellung, eine Frage der Zuständigkeit?


Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur
Für die hier angestrebte Zusammenführung der Lektüreresultate der vorliegenden
Studie mit aktuellen theoretischen Debatten und Diskursen ist zuallererst zu klären,
welche Diskurse für besagte Resultate eigentlich zuständig sind. Prinzipiell gehört
die Frage nach dem Einfluss der auf einem materiellen Textträger niedergelegten
Darstellungsformen auf die potentielle Wissensgenerierung durch diesen Text in den
Bereich der Erkenntnistheorie.705 Gerade in aktuellen erkenntnistheoretischen Studi-
en sucht man sie jedoch vergeblich. Spätestens seit dem Aufkommen des Verifikatio-
nismus im logischen Empirismus des Wiener Kreises und der diesem in seinem
Fokus auf den wahrheitswertfähigen Aussagesatz folgenden (analytischen) Sprach-
philosophie scheint die Beschäftigung mit derartigen Fragestellungen aus der Er-
kenntnistheorie in andere Diskurse, insbesondere die philosophische Ästhetik,
abgewandert zu sein.706 Zu einer öffentlichkeitswirksamen Wiederaufnahme der
eigentlich erkenntnistheoretischen Frage nach der Bedeutung der materiellen Logik
und Darstellungsform philosophischer Texte kam es erst wieder im Zuge der im
Kapitel 1.1. bereits kurz angesprochenen, von Jürgen Habermas losgetretenen Debat-
te über die Folgen der „Einebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie
und Literatur“, so der Titel des bekannten Exkurses in Habermas Der philosophische
Diskurs der Moderne. Habermas wendet sich dort insbesondere gegen die damals
immer stärker werdende Bewegung der Dekonstruktion und deren tendenzielle Pro-

705 Darauf hat auch jüngst Hans Feger in seiner Einleitung zum Handbuch Philosophie und Literatur
hingewiesen. Vgl. Feger 2012, S. 1.
706 Insbesondere Rudolf Carnaps rigorose Trennung zwischen der Philosophie als Wissenschaft, die
sich auf Logik sowie die logische Verknüpfung empirisch überprüfbarer Protokollsätze zu beschränken
habe, und Literatur als welterschließende Kunst wird in der aktuellen Debatte zur Problemkon-
stellation „Philosophie und Literatur“ häufig als radikalstes Beispiel der philosophischen Position
einer Unüberbrückbarkeit des Gattungsunterschiedes zwischen den beiden Schreibweisen herangezo-
gen. Siehe dazu Fulda/Matuschek 2009, insbesondere S. 189f.
Jan Urbich bezeichnet den von Autoren wie Carnap, Ingarden oder Hamburger vorgebrachten
Einwand gegen die Erkenntnisfähigkeit der Literatur bzw. sich literarischer Darstellungsformen bedie-
nender Texte als den „analytische[n] Vorbehalt“. Dieser beruhe auf der Behauptung eines referentiel-
len Defizites der Literatur. Vgl. Urbich 2010, S. 33–40.
3.1.1. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur 331

pagierung eines universellen Textes bzw. einer allumfassenden ‚Philosophie der


Schrift‘, der er dabei zugleich ihren exklusiv-innovativen Status nimmt, indem er sie
in die durch die Namen Nietzsche, Heidegger und Adorno verbürgte Tradition einer
„totalisierende[n] Selbstkritik der Vernunft“707 einschreibt. Habermas äußert in be-
sagtem Text die Befürchtung, dass „das philosophische Denken, wenn es gemäß
Derridas Empfehlung von der Pflicht Probleme zu lösen, entbunden und literatur-
kritisch umfunktioniert wird, nicht nur seines Ernstes, sondern seiner Produktivität
und Leistungsfähigkeit beraubt“708 werde. Letzteres, d.h. die Fähigkeit zu leistungs-
fähiger philosophischer Kritik, bedarf nach Habermas der Orientierung am Ideal
kommunikativen Handelns, das sich gerade durch die Zähmung der von den Ver-
tretern der Dekonstruktion in den Vordergrund gerückten omnipräsenten rhetori-
schen Effekte der Sprache auszeichne. Erst durch diese Zähmung werde die Kon-
stitution von Geltungsansprüchen ermöglicht, „die über die Horizonte des jeweils
bestehenden Kontextes hinauszielen“709.
Ähnlich rigoros wie Habermas erscheint auch die Position seiner damaligen
Gegenspieler, d.h. diejenige von Autoren wie Jacques Derrida, Paul de Man, Jonathan
Culler und Richard Rorty. Auch diese Gruppe eint die Tendenz, starke (sprach-)phi-
losophische Vorannahmen in die eigentliche Debatte zu tragen. So geht – um nur ein
repräsentatives Beispiel aus dieser Gruppe zu geben – der bereits in den Kapiteln 1.1.
und 2.1.2.1. eingehender behandelte Paul de Man von einer Dominanz der rhetorisch-
figürlichen über die grammatisch-logische Funktion der Sprache aus und schließt
daraus: „Rhetorik ist die radikale Suspendierung der Logik und eröffnet schwindel-
erregende Möglichkeiten referentieller Verirrung.“710
Die umfangreichsten Versuche die beiden Positionen produktiv zusammenzufüh-
ren, stammen von Richard Rorty. Obwohl dieser ursprünglich dem ‚dekonstruktivisti-
schen‘ Lager zugehörte und von Habermas als Repräsentant desselben auch explizit
kritisiert wurde, stand er Habermas durch seinen pragma(tis)tischen Ansatz um
einiges näher als Autoren wie de Man. Noch 1995 – d.h. zehn Jahre nach dem
eigentlichen Höhepunkt besagter Debatte – verfasste Rorty einen Aufsatz mit dem
Titel „Habermas, Derrida und die Aufgabe der Philosophie“, in welchem er zwischen
Habermas’ Position, in deren Zentrum nach Rorty „eine für liberale Gesellschaften
charakteristische Praxis [stehe], bei der als wahr behandelt wird, worauf man sich im
Laufe einer frei geführten Diskussion einigen kann“711, und derjenigen der ‚Dekon-
struktivisten‘, die nach Habermas die ernsthafte Sprache als einen Sonderfall der
nicht-ernsthaften Sprache betrachten und solcherart die Existenz von „kommunikati-
ve[n] Praktiken […], für die das Argumentieren unter Bezugnahme auf Standardregeln

707 Habermas 2001 [1985], S. 219.


708 Habermas 2001 [1985], S. 246.
709 Habermas 2001 [1985], S. 242.
710 De Man 1988b [1979], S. 40.
711 Rorty 2003 [1995], S. 446.
332 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

wesentlich ist,“712 leugnen, zu vermitteln suchte. Rortys Vermittlungsvorschlag be-


steht letztendlich darin in Anknüpfung an das von ihm in Kontingenz, Ironie und
Solidarität entwickelte Modell des liberalen Ironikers den beiden Positionen unter-
schiedliche innerweltliche Betätigungsfelder zuzuordnen und solcherart deren Diffe-
renz jenseits starker metaphysischer Annahmen aufrechtzuerhalten.713
Auffällig an der hier soeben sehr sporadisch nachgezeichneten Debatte ist vor
allem, dass die Auseinandersetzung auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau und
somit fern von den eigentlichen Texten geführt wurde. Anstatt sich den verhandelten
Problemen angemessen, d.h., auch auf einer textanalytischen Ebene zu nähern,
dominierte eine Zugangsweise, die stark von Präsuppositionen geprägt war, welche
sich dann auch in den tatsächlichen, meist erst a posteriori erfolgten ‚Textanalysen‘
niederschlug.
Dies änderte sich anfangs der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als man
sich nach einem vermeintlichen „Friedensschluss“714 zwischen den sich gegenüber-
stehenden Lagern, mit dem eine Zurücknahme des expliziten Versuches einer Ein-
ebnung des Gattungsunterschiedes zwischen Philosophie und Literatur einherging,
erstmals wieder konkreter den philosophischen Texten zuwandte und ausgehend von
diesen eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffes propagierte.715 Seit damals figuriert
die hier nachgezeichnete Diskussion über die Bedeutung literarischer Formen für die
Erkenntnisleistungen der Philosophie unter dem Etikett „Philosophie und Literatur“
bzw. „Literarische (Darstellungs)Formen der Philosophie“. Im Zuge der unter diesen
Etiketten erfolgten – und immer noch erfolgenden – Neuakzentuierung kam es durch
den bereits angesprochenen Verzicht auf die stark überzogenen Positionen der ur-
sprünglichen Debatte zu einer Aufweichung der zuvor noch als unüberwindbar er-
scheinenden Gegensätze zwischen den Vertretern der beiden zuvor charakterisierten
Gruppen, was letztendlich zu subtileren Analysen der Übereinstimmungen und Diffe-

712 Rorty 2003 [1995], S. 452. – Hierbei handelt es sich um Rortys stark verkürzte Rekonstruktion von
Habermas’ zentralem Argument in Habermas 2001 [1985], S. 227f.
713 Im Zuge dieser Vermittlung wird jedoch insbesondere an einem Punkt die Übereinstimmung
Rortys mit den von Habermas als Vertreter einer vernunftkritischen Bewusstseinsphilosophie etiket-
tierten Denkern wie Dewey, Heidegger, Nietzsche oder Derrida offensichtlich, und zwar dann, wenn
Rorty sich ihre Position eines „‚linguistischen Historismus‘“ zuschreibt und diesen gegen Habermas
„Drang nach allgemeiner Geltung“ ausspielt (vgl. Rorty 2003 [1995], S. 458f.).
714 Vgl. Horn/Menke/Menke 2006, S. 8.
715 Paradigmatisch für diesen Richtungswechsel steht der 1990 publizierte Sammelband Literarische
Formen der Philosophie (vgl. Gabriel/Schildknecht 1990), in dessen erstem Beitrag einer der beiden
Herausgeber, Gottfried Gabriel, konstatiert: „Der Leitgedanke ist, Argumente für eine Erweiterung des
Erkenntnisbegriffs über den Begriff der propositionalen Erkenntnis hinaus beizubringen. Damit wird
einer einseitigen Orientierung der Philosophie an der Wahrheit im Sinne der Aussagenwahrheit ent-
gegengetreten. Dieser Wahrheitsbegriff als solcher soll jedoch keineswegs in Frage gestellt werden,
auch nicht für die Philosophie. […] Worauf es also ankommt, ist eine Erweiterung des Erkenntnis-
begriffs im Sinne einer größeren Vielfalt, einer Unterscheidung verschiedener Erkenntnisweisen.“
(Gabriel 1990, S. 1)
3.1.1. Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur 333

renzen zwischen den Gattungen Philosophie und Literatur führte. So hat zum Beispiel
2006 ein aus Eva Horn, Bettine und Christoph Menke bestehendes Autorenkollektiv
im Rahmen ihrer Einleitung zu einem Literatur als Philosophie – Philosophie als
Literatur betitelten Sammelband einen höchst komplexen Alternativvorschlag zu den
starken Positionen der achtziger Jahre in Betreff des Verhältnisses von Philosophie
und Literatur geliefert. Anstelle einer rigorosen und unvermittelbaren Trennung der
beiden ‚Schreibweisen‘ plädierte man dafür, dass „Literatur und Philosophie […] sich
voneinander jeweils ineinander“716 differenzieren:

Philosophie als Schreibweise oder ‚Literatur‘ beschreibt also eine doppelte Perspektive: von
außen auf die Philosophie von der Literatur her; aber auch von innen eine Relation der Phi-
losophie auf sich selbst. Zu sich als ‚Literatur‘ oder ‚Schreibweise‘ hat die Philosophie sich im
Verlauf ihrer Geschichte in verschiedener Weise verhalten; indem sie sich der Literatur (als ihrem
Gegenstand oder Medium) zugewendet oder gerade von ihr abgewendet hat. Sie kann aber diesen
Zug nicht ausschließen, ohne sich darin auf das Ausgeschlossene negativ zu beziehen, ohne also
einen ihr eigenen Zug zu vergessen. Die These dieses notwendigen Bezugs ist eine literarische […]
Behauptung über die Philosophie, die aber der Philosophie von innen angehört.717

In diesem Differenzierungsversuch wird der zuvor bereits angesprochene Sachverhalt


ersichtlich, dass es nun nicht mehr um die Ziehung oder Aufhebung rigider Grenzen
zwischen Philosophie und Literatur geht, sondern dass an deren Stelle – zumindest
bei Horn, Menke und Menke – die Forderung nach einem Nachvollzug der an man-
chen Stellen innigen Verwindung von Philosophie und Literatur getreten ist.718 Im

716 Horn/Menke/Menke 1998, S. 8.


717 Horn/Menke/Menke 1998, S. 9.
718 Folgt man den Kritiken Gideon Stienings, scheint diese erneute Ausdifferenzierung der ursprüng-
lichen Fragestellung zum Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur für die unter
anderem von Joseph Vogl in Anknüpfung an Michel Foucaults Diskursanalyse entwickelte ‚Poetologie
des Wissens‘ nicht zu gelten. Laut Vogl lenke diese „[e]rstens […] ihr Interesse nicht auf die Einheit der
Disziplinen, Wissenschaften und Diskurse, sondern auf eine Aussageverkettung, die in einer trans-
versalen Linie die verschiedenen Gebiete schneidet, ohne deren innere Kohärenz zu beeinträchtigen“
(Vogl 1997, S. 118) und orientiere sich dabei „[z]weitens […] nicht am Gesagten, sondern am Sagen und
folgt damit der These, daß jede Wissensform einen eigenen performativen Charakter, eigene Formen
der Darstellung und der Inszenierung entwickelt“ (Vogl 1997, S. 121).
Stiening kritisiert an diesem Forschungsansatz erstens dessen in seiner Überlegenheit gegenüber
historischen Kontinuitätsthesen unbegründete Tendenz zur radikalen Historisierung (vgl. Stiening
2007, S. 235f.) und zweitens die damit verbundene Verflachung des Wissensbegriffes mit der eine
Einebnung des Unterschiedes von Text und Kontext einhergehe: „Die schlichte Negation der Differen-
zen zwischen Text und Kontext, zwischen internen und externen Faktoren der wissenschafts- oder
literaturhistorischen Entwicklungen im Zeichen der Wissensgeschichte geht konsequent einher mit
der wissenspoetologischen Nivellierung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Dichtung.“
(Stiening 2007, S. 241)
Ein Verweis auf diese Debatte ist für die vorliegende Studie insofern von Nöten, da sie einerseits
zur Sensibilisierung im Umgang mit den unterschiedlichen in der gegenwärtigen Forschung kursie-
334 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

Zuge der Nachzeichnung der „spiegelbildliche[n] Entsprechung der beiden Asym-


metrien, die Philosophie und Literatur so verbinden, dass sie ihren unversöhnlichen
Gegensatz in ihrer unauflöslichen Verknüpfung wiederholen und bekräftigen“719,
liefern die Autoren auch eine erste Bestimmung jener Momente, in welchen Philoso-
phie an Literatur und Literatur an Philosophie teilhaben: Im Falle der Philosophie
geschehe dies in dem Augenblick, in welchem sie „ihre eigene Bestimmtheit als
Schreibweise ernst“ nehme; im Falle der Literatur genau dann, wenn literarische
Werke „auf sich selbst referieren und sich in ihrer Verfasstheit selbst zum Gegenstand
werden“.720
Diese Beschreibung des Philosophisch-Werdens der Literatur greift eine Kenn-
zeichnung auf, die in der gegenwärtigen Literaturtheorie häufig als eines der zen-
tralen Charakteristika des literarischen Kunstwerks herangezogen wird: die (Selbst-)
Reflexion. Begreifen Horn, Menke und Menke diese eindeutig als genuin philosophi-
sche Tätigkeit, wurde sie jüngst von Autoren wie Bernd Auerochs, Georg Bertram und
Jan Urbich in Anknüpfung an Theoreme der Ästhetik der Moderne ins Zentrum von
deren Überlegungen zum Begriff der Literatur gestellt.
Im Folgenden sollen daher die ‚Kernthesen‘ der Überlegungen besagter Autoren
nachgezeichnet werden, werfen sie doch nicht nur ein Licht auf aktuelle literatur-
theoretische Diskussionen, sondern behandeln dabei zugleich zahlreiche der Fragen,
die auch im Mittelpunkt des Diskurses zum Verhältnis von „Philosophie und Litera-
tur“ stehen.

3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs

Einen hervorragenden Einstieg in diejenigen Untersuchungen, welche dem Reflexi-


onsbegriff eine wesentliche Rolle zur Bestimmung der ‚Literarizität‘ zugestehen, bietet
ein „Literatur und Reflexion“ betitelter Aufsatz von Bernd Auerochs. Ziel desselben ist
es festzustellen, „in welcher Weise das Denken konstitutiv für die literarische Rede
ist“721. Bereits in dieser Fragestellung zeigt sich die unmittelbare Nähe des im Zuge
desselben entwickelten Literaturbegriffes zur Philosophie, wird dieser doch aus der
Untersuchung des kognitiven Potentials des literarischen Kunstwerks entwickelt.
Dabei greift Auerochs auf einen Reflexionsbegriff zurück, dessen geistesgeschicht-

renden und teilweise stark miteinander konkurrierenden Wissenskonzepten beiträgt und andererseits
darauf aufmerksam zu machen hilft, dass sich die hier vorliegende Untersuchung trotz des auch in ihr
gegebenen Fokus auf textinterne Performanz- und Inszenierungsphänomene gerade in ihrem Fokus
auf die Textualität und den damit einhergehenden Ausschluss textexterner Phänomene von den
‚Poetologien des Wissens‘ unterscheidet.
719 Horn/Menke/Menke 1998, S. 10.
720 Horn/Menke/Menke 1998, S. 7.
721 Auerochs 2010, S. 265.
3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs 335

liche Entstehung selbst an der Grenze von Philosophie und Literatur(wissenschaft) zu


verorten ist. Die Rede ist hier vom Reflexionsverständnis der deutschen Frühroman-
tik, insbesondere desjenigen von Friedrich Schlegel sowie dessen weiterentwickelte
Variante aus Walter Benjamins Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen
Romantik. Laut Auerochs habe Schlegel in seiner Rezension von Wilhelm Meisters
Lehrjahren „erstmals die innere Selbstbezüglichkeit eines literarischen Textes und
seinen sich im Verlauf des Textes langsam entfaltenden und steigernden selbstreflexi-
ven Zusammenhang in den Mittelpunkt“722 einer literaturwissenschaftlichen Interpre-
tation gestellt, ein Ansatz, der dann 125 Jahre später von Benjamin durch dessen
Bestimmung des Kunstwerkes als Reflexionsmedium und somit eigentlichem Ort der
Reflexion weitergeführt wurde.723
Auerochs gelangt zu diesem Verständnis der Reflexion über eine kurze Nach-
zeichnung der philosophischen Begriffsgeschichte des Terminus, im Zuge derer er
zeigt, dass der Reflexionsbegriff seit seinem frühesten Auftreten im englischen Empi-
rismus des 17. und 18. Jahrhunderts bereits zahlreiche derjenigen Kennzeichen, die
ihm auch noch von Schlegel und Benjamin zugeschrieben wurden, beinhaltete,
nämlich den „Bezug auf etwas anderweitig bereits Vorgegebenes, Nachträglichkeit,
Distanz, Abstandnahme“724. Im Anschluss an diese kurze Begriffsgeschichte wird die
Reflexivität des literarischen Textes über die Auseinandersetzung mit konkreten Bei-
spielen der Literaturgeschichte durch die Bestimmung zweier zentraler Eigenschaften
derselben weiter konkretisiert: „ihre[r] Implizitheit und ihre[r] Konkretheit“725. Unter
der Implizitheit der Reflexion im literarischen Text versteht Auerochs die Tatsache,
dass literarische Kunstwerke durch die von ihnen gestifteten multiplen und komple-
xen intratextuellen Relationen ihrer einzelnen semantisch valenten Momente einen
Reflexionszusammenhang bilden, in welchem sich „die propositionale Normalform
des Denkens in einer Weise [übersteigt], die selbst propositional nicht wieder einhol-
bar ist“726. Die sich solcherart ergebende Sphäre des Allgemeinen werde dabei
zugleich permanent in Kontakt mit dem Konkreten des Textes gebracht. Dies führe
letztendlich dazu, dass man im literarischen Kunstwerk zwischen zwei Arten der

722 Auerochs 2010, S. 285.


723 Vgl. Auerochs 2010, S. 285. – In Benjamins Dissertation heißt es diesbezüglich: „Die Theorie der
Gegenstandserkenntnis ist durch die Entfaltung des Reflexionsbegriffs in seiner Bedeutung für den
Gegenstand bestimmt. Der Gegenstand, wie alles Wirkliche, liegt im Reflexionsmedium. Das Reflexi-
onsmedium ist aber methodisch oder erkenntnistheoretisch angesehen das Medium des Denkens,
denn es ist nach dem Schema der Reflexion des Denkens, der kanonischen Reflexion, gebildet. Zur
kanonischen Reflexion wird diese Reflexion des Denkens, weil in ihr am evidentesten die beiden
Grundmomente aller Reflexion sich ausgeprägt finden: Selbsttätigkeit und Erkennen. Denn in ihr wird
dasjenige reflektiert, gedacht, was doch allein reflektieren kann: das Denken.“ (Benjamin 2008 [1919],
S. 58)
724 Auerochs 2010, S. 269.
725 Auerochs 2010, S. 274.
726 Auerochs 2010, S. 276.
336 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

Reflexion zu unterscheiden habe: Deren erste bildet die auf dem Autonomiepostulat
der modernen Kunst durch intratextuelle Relationen zwischen den einzelnen multiple
Verweisungszusammenhänge bildenden Momenten gestiftete reflexive Beziehung
(innerhalb) des jeweiligen literarischen Kunstwerks. Auerochs bezeichnet sie in An-
knüpfung an Schlegel und Benjamin als „innere Reflexion“ und kritisiert deren Einge-
schränktheit auf das einzelne Werk sowie den damit einhergehenden Mangel an
denkender Zuwendung zur Welt.727 Diesen Mangel kompensiert Auerochs durch
Rückgriff auf Arthur C. Dantos Begriff der „aboutness“, unter welchem er die Tatsache
versteht, dass Kunstwerken stets auch der Status des ‚Über-etwas-Sein‘ zukommt.
Genau darin sieht Auerochs jenes Moment realisiert, das auch schon in der frühesten
Verwendung des Reflexionsbegriffes diesem engeschrieben war, nämlich, dass Re-
flexion stets auch eine innehaltende Distanznahme zu ihrem Denkgegenstand kenn-
zeichne.728 Über diese Form der „äußeren Reflexion“ wird für ihn der Weltbezug des
fiktionalen literarischen Kunstwerks gewährleistet. Erst über diesen in besagter zwei-
ter Reflexionsform realisierten Bezug ist letztendlich für Auerochs der Erkenntniswert
der literarischen Reflexion gesichert.
Auerochs Ansatz wurde 2012 von Jan Urbich im Schlussteil seiner umfangreichen
Studie zur Darstellung bei Walter Benjamin aufgegriffen und ausgebaut. Auch für
Urbich kennzeichnet sich die ‚schöne Literatur‘ bzw. das literarische Kunstwerk durch
eine „innere Reflexivität“729. Diese gewährt auch für ihn den Status der Literatur als
einer Art des Denkens, die nicht in der archivierenden Reproduktion von bereits
generiertem Wissen aufgeht.730 An deren Stelle tritt laut Urbich in der Literatur ein
kognitiver Prozess, der wesentlich an die aus ihren Darstellungsverfahren entsprin-
genden „formensprachlichen Verweisungszusammenhänge“731 gebunden ist:

Die Bedeutungselemente des literarischen Werkes stehen in einem wechselseitigen Verhältnis


der Spiegelung, Weiterführung, Widersprüchlichkeit, Transformation, Überschreibung, im Gan-
zen: der wechselseitigen Kommentierung, d. h. des Aneinander-Sprechendwerdens, das struktu-
rell als ein Anderswerden des Eigenen im und durch das Andere, und damit als Reflexions-
verhältnis, begriffen werden muss.732

727 Auerochs 2010, S. 286.


728 Vgl. Auerochs 2010, S. 286f.
729 Urbich 2012, S. 477.
730 Die Möglichkeit einer solchen Wissensarchivierung durch Literatur wird von Urbich in Anbetracht
der Ausdifferenzierung der Wissensgenerierungsprozesse in der Moderne überhaupt angezweifelt (vgl.
Urbich 2012, S. 477f.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass Urbich der Literatur sämtliche kognitiven
Kompetenzen abspricht, sondern führt dazu, dass er der Literatur eine eigene Rolle in der Vielzahl
gegenwärtiger epistemischer Prozesse zuordnet.
731 Urbich 2012, S. 478.
732 Urbich 2012, S. 479.
3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs 337

Dieses Reflexionsverhältnis, das Urbich auch explizit von einem eingeschränkten


philosophischen Reflexionsbegriff absetzt,733 führt in der in ihm vollzogenen Auto-
deixis des Strukturgesetzes eines literarischen Werkes zu dessen objektiver Reflexion:
„Damit ist der konstitutive Selbstbezug des Ganzen der literarischen Darstellung auf
sich selbst bezeichnet.“734 Direkte Folge der mit dieser Selbstreflexion einhergehen-
den Offenlegung der eigenen Bedingtheiten und Präsuppositionen eines literarischen
Kunstwerkes ist dessen damit eng verknüpfte kritische Tendenz. In Anknüpfung an
den solcherart entwickelten Kritikbegriff gelangt Urbich zu einer Bestimmung des sich
im literarischen Kunstwerk manifestierenden Rationalitätsprinzips:

Die „innere Form“ von schöner Literatur kann als Öffnung des Rationalitätsprinzips begriffen
werden, wo sie eine andere Weise des Begründungs- und Erklärungszusammenhangs als den von
Aussagesätzen und ihrer Argumentationsmuster verwirklicht. Denn nichts in ihr wird nicht durch
die reflexive Art und Weise seiner Darstellung auf den umfassenden Zusammenhang der Form
hin durchsichtig, von dem es abhängt und durch den es sich als Bedingtes weiß.735

733 Darunter versteht Urbich jene Formen der philosophischen Reflexion, „welche durch die argu-
mentationslogische Finalität ihrer Prozeduren im Hinblick auf den definitorischen Begriff gekenn-
zeichnet ist“ (Urbich 2012, S. 479).
734 Urbich 2012, S. 482. – Siehe auch S. 486, wo Urbich schreibt: „Ästhetische Selbstbezüglichkeit
prägt den dargestellten Inhalten erst ihr Dargestelltsein auf und bildet so die transzendentale Grund-
lage ihrer Verwirklichung; sie ist konstitutiv für jede bestimmte Darstellungsleistung und nichts von
außen Hinzukommendes.“
735 Urbich 2012, S. 488. – Selbstverständlich handelt es sich bei dem hier von Urbich propagierten
Rationalitätsprinzip nicht um ein Resultat seiner eigenen Studie, sondern um eine Reaktivierung von
Grundauffassungen aus jenem geistesgeschichtlichen Denk- und Traditionszusammenhang den Ur-
bich mit Benjamin behandelt und in den er sich letztendlich unter Berücksichtigung aktueller Debatten
in der Literaturtheorie wieder einschreibt. So findet sich eine Variante des besagten Rationalitäts-
prinzips samt seiner Anbindung an die Darstellungsform zum Beispiel auch in Theodor W. Adornos
Negativer Dialektik. Dort heißt es: „Dies mag erklären helfen, warum der Philosophie ihre Darstellung
nicht gleichgültig und äußerlich ist, sondern ihrer Idee immanent. Ihr integrales Ausdrucksmoment,
unbegrifflich-mimetisch, wird nur durch Darstellung – die Sprache – objektiviert. […]; wo sie [= die
Philosophie; A.P.] des Ausdrucksmoments und der Pflicht zur Darstellung sich begibt, wird sie der
Wissenschaft angeglichen. Ausdruck und Stringenz sind ihr keine dichotomischen Möglichkeiten. Sie
bedürfen einander, keine ist ohne das andere.“ (Adorno 2003b [1966], S. 29)
Auf der selben geistesgeschichtlichen Folie hat auch schon Claus Zittel im Zuge seines Nachvoll-
zuges des ästhetischen Kalküls von Also sprach Zarathustra dieses, ohne es dabei zur ‚inneren Form‘
von Literatur überhaupt zu erheben, als ein dichtes Verweisungsgeschehen beschrieben und traditio-
nellen linearen Argumentationsmustern der Philosophie gegenübergestellt. Im Unterschied zu Ur-
bichs an manchen Punkten durchweg von einem hegelianischen Erkenntnisoptimismus getragenen
Ansatz führt besagter Reflexionsprozess in Also sprach Zarathustra laut Zittel jedoch nicht zu jener
Durchsichtigkeit, welche Urbich für die innere Reflexion der schönen Literatur reklamiert, sondern
realisiere den qua Selbstparodie und Selbstaufhebung vorgeführten erkenntniskritischen Nihilismus
Nietzsches. Vgl. Zittel 2011 [2000].
338 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

Dennoch – und auch hier folgt Urbich Auerochs – führe die soeben beschriebene
„innere Reflexivität“ des literarischen Kunstwerkes nicht zu dessen regelrecht solipsis-
tischem Abschluss gegenüber der außerästhetischen Wirklichkeit, sondern garantiere
aufgrund der ihr auch von Urbich in Anknüpfung an Danto zuerkannten „aboutness“
deren Welthaltigkeit. Zur Beschreibung der sich daraus ergebenden welterschließen-
den Kompetenz des literarischen Kunstwerks entwickelt Urbich schließlich einen
Medienbegriff, der stark von den diesbezüglichen Standardüberlegungen der Medien-
philosophie differiert, da er die Materialität des literarischen Kunstwerkes zwar nicht
negiert, sie jedoch literaturontologisch vom im Reflexionsprozess reflektierten seman-
tischen Geschehen absetzt: „Das Medium der Literatur ist das, was die Literatur selbst
zum einzigen Thema hat und durch das sie zugleich einzig ihre Inhalte artikuliert: die
Kultur selbst.“736
Genau das hier erneut virulent werdende Problem der Welthaltigkeit von Literatur
bildet auch den zentralen Topos eines weiteren literaturtheoretischen Beitrages, der
ebenfalls um die Frage der Selbstbezüglichkeit von Literatur kreist. Die Rede ist hier
von Georg W. Bertrams Aufsatz „Selbstbezüglichkeit und Reflexion in und durch
Literatur“737. Bertram schränkt dort im Gegensatz zu Auerochs und Urbich die Bedeu-
tung des selbstreflexiven Moments von Literatur von Anfang an ein, indem er das Ziel
seines Aufsatzes ‚bloß‘ in dem Versuch sieht, „den Zusammenhang von Selbstbezüg-
lichkeit und Reflexion im literarischen Sprachgebrauch verständlich zu machen“738.
Dementsprechend geht es in seinem Beitrag nicht primär um die vom literarisch-
ästhetischen Kunstwerk durch die an und in ihm nachvollziehbaren Selbstreflexions-
prozesse ausgelösten genuinen Erkenntnisleistungen desselben, sondern darum die
Besonderheiten des Sprachgebrauches in Texten der ‚schönen Literatur‘ freizulegen,
in welchen Bertram zugleich die differentia specifica von Literatur erkennt.
Deren Sprachgebrauch charakterisiere sich nach Bertram durch folgende drei
Kennzeichen: (1) „Für literarische Texte ist […] charakteristisch, dass sie in besonderer
Weise in ihre sprachliche Gestalt investieren, womit verbunden ist, dass diese sprach-
liche Gestalt als solche für die Bedeutung des Texts relevant ist.“739 Bertram greift hier

736 Urbich 2012, S. 489. – Voraussetzung für diese Definition ist Urbichs dieser vorausgehende
Unterscheidung zwischen Material(ität) und Medium: „Das Material der Literatur ist die Schrift, d.h.
die Logik der Signifikanten und ihre sedimentierten historischen Regelkreise; das Medium der Literatur
ist die Sprache, d.h. die intensionale Reichweite der sprachlichen Funktionen. An der Sprache sind
Material und Medium als Präsenz- und Funktionsbereich derselben Substanz unterschieden, ohne
deshalb deckungsgleich zu agieren. Aus der hier vorgeschlagenen Perspektive ist das eigentliche
Medium der Literatur das, auf dem Literatur als gänzliches Kulturprodukt aufsitzt.“
Im Anschluss daran kann Urbich dann auch feststellen: „Literatur ist aufs Engste in die Diskurse,
Denkformationen, Idiome, Darstellungsgewohnheiten und Haltungen lebensweltlicher Praxis einge-
bunden.“ (Urbich 2012, S. 492)
737 Vgl. Bertram 2010.
738 Bertram 2010, S. 390.
739 Bertram 2010, S. 391.
3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs 339

auf die im Kapitel 1.2. vorgestellte Kennzeichnung Roman Jakobsons zurück, welche
auch von Jürgen Habermas hervorgehoben wurde und in die Formel von der Literatur
als einem „Reflexivwerden der sprachlichen Ausdrucksformen“740 gebracht worden
ist. (2) Das zweite zentrale Kennzeichen des Sprachgebrauchs in der ‚schönen Litera-
tur‘ bestehe darin, dass die in ihr artikulierten Aussagen keinen Wahrheitsanspruch
erheben: „Aussagen in literarischen Texten beziehen sich oftmals nicht auf Gegen-
stände der Welt und sind nicht mit einem Wahrheitsanspruch verbunden. Die Bedeu-
tung literarischer Texte konstituiert sich in anderer Art und Weise.“741 (3) Als drittes
und letztes Kennzeichen führt dann auch Bertram die welterschließende Funktion
von Literatur an: „Die Auseinandersetzung mit Literatur führt oftmals zu einer ver-
änderten Weltsicht. Literarische Texte vermitteln Einsichten in Bezug auf die Welt
außerhalb dieser Texte“742.
Im Anschluss an die Entwicklung dieser drei Kennzeichen widmet sich Bertram
den Problemen, die sich für das dritte Kennzeichen ergeben, wenn man es mit Hilfe
von Nelson Goodmans Begriff der ‚Exemplifikation‘ zu erfassen versucht. Er zeigt
dabei, dass von den beiden nach Goodman die Exemplifikation kennzeichnenden
Effekten, nämlich die Veränderung unserer Einstellung gegenüber der Sprache sowie
gegenüber sonstigen Gegenständen in der Welt, nur das erste Kennzeichen haltbar ist,
da es nicht möglich sei, dass im spezifischen Sprachgebrauch des literarischen Kunst-
werks die dort zum Einsatz gebrachte Sprache sich sowohl auf sich selbst als auch auf
die Welt beziehe.743 Im Zuge dieser Kritik an Goodmans Begriff der Exemplifikation
versucht Bertram einen alternativen Weg zur Freilegung der welterschließenden Kraft
von Literatur zu entwickeln und gelangt dabei zu einer weiteren Bestimmung der
Selbstbezüglichkeiten im literarischen Text. Notwendige Voraussetzung der Wahr-
nehmung der Eigenheiten eines literarischen Kunstwerkes sei nach Bertram der aktive
Nachvollzug des Textgeschehens desselben. Ausgehend von dieser These zeigt Bert-
ram, darin Goodman weiter korrigierend, dass der von diesem ins Spiel gebrachte
Begriff der Exemplifikation zu kurz greift, da er die in diesem vermeintlich erfassten
Selbstbezüglichkeiten ausschließlich in Hinblick auf einzelne Elemente nicht jedoch
auf das relationale Verhältnis verschiedener oder sämtlicher Elemente eines Kunst-
werkes beziehe:

740 Habermas 2001 [1985], S. 240.


741 Bertram 2010, S. 392.
742 Bertram 2010, S. 393.
743 Bertrams konkrete Kritik bedient sich eines Vergleiches zwischen Goodmans Verständnis der
Exemplifikation und der herkömmlichen Probe. Während das Procedere bei Letzterer über Konventio-
nen geregelt sei und diese sich außerdem über eine konkrete Teilhaberelation an dem von ihr
untersuchten Material kennzeichne, ermangle die Exemplifikation dieser beiden Charakteristika:
„Wenn überhaupt eine Teilhabe-Relation im Spiel ist, dann nur eine, die durch den Selbstbezug des
Kunstwerks etabliert ist: Dieses verweist auf seine eigene sinnlich-materiale Gestaltung. Wenn man es
allerdings in dieser Weise versteht, wird nicht verständlich, inwiefern das Kunstwerk einen Beitrag zur
Veränderung der Weltsicht zu leisten vermag.“ (Bertram 2010, S. 400)
340 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

Mit dieser These aber kommt ein Aspekt ins Spiel, der sich mit Goodmans Begriff der Exemplifika-
tion nicht hat klären lassen. Es handelt sich darum, dass die selbstbezügliche Verfasstheit des
Kunstwerks auf Beziehungen basiert, die zwischen seinen Elementen konstituiert sind. Dass eine
metrische Eigenart in einem literarischen Text auffällig wird, ist genau in dieser Weise zu
erklären. Es handelt sich nicht um die Eigenschaft eines Elements in dem Text. Es handelt sich
um einen Zusammenhang, der zwischen unterschiedlichen Elementen besteht. Die Selbstbezüg-
lichkeit eines literarischen Texts konstituiert sich dadurch, dass Elemente in einem Text wechsel-
seitig aufeinander verweisen und aus solchen Verweisungen heraus bestimmt sind.744

Genau dieser Sachverhalt, sprich die vermeintliche Tatsache, dass sich der Gehalt von
literarischen Texten über hochkomplexe textinterne Relationen zwischen dessen
einzelnen semantisch valenten Elementen konstituiere, bildet eine Kernthese jüngerer
Studien zur Sinnkonstitution in literarisch-ästhetischen Texten.745 Auf deren Grund-
lage gelingt Bertram letztendlich auch die Sicherung der welterschließenden Funk-
tion von Literatur. Dafür führt Bertram diese mit den zentralen Charakteristika der
verstehenden Auseinandersetzung mit literarischen Texten zusammen. Diese kenn-
zeichnen drei Elemente: der „Nachvollzug der sprachlichen Gestalt, die Entwicklung
von Vorstellungen und die Entwicklung von Artikulationen in Bezug auf die sprach-
liche Gestalt und auf die entwickelten Vorstellungen“746. Zur Welterschließung kom-
me es letztendlich dadurch, dass ein Leser/eine Leserin „sich im Nachvollzug eines
literarischen Texts auf ihre eigenen zukünftigen Praktiken“747 beziehe. Der solcherart
gestiftete Weltbezug des literarischen Kunstwerkes unterscheidet sich eindeutig von
der emphatischen Feststellung der Erkenntnisleistungen von Literatur, wie sie einem
in den Beiträgen von Auerochs und Urbich begegnen.748
Wie die soeben kurz referierten Beiträge zur Frage nach der Bedeutung der
(Selbst-)Reflexion für das literarisch-ästhetische Kunstwerk gezeigt haben, spielt in
der diesbezüglichen Auseinandersetzung die Frage nach den kognitiven Kompeten-
zen des literarisch-ästhetischen Kunstwerkes eine zentrale Rolle. Durch diese Frage

744 Bertram 2010, S. 402.


745 In der Nietzscheforschung hat sie insbesondere Claus Zittel für seine Deutung von Also sprach
Zarathustra produktiv gemacht, dabei jedoch im Gegensatz zu Bertram auch den fiktionalen Charakter
besagter Texte in seine Überlegungen miteinbezogen.
746 Bertram 2010, S. 404.
747 Bertram 2010, S. 405.
748 Dies belegt auch das Bertrams Beitrag abschließende Fazit. In diesem heißt es bloß: „Die Welt
muss als der Raum begriffen werden, in dem diejenigen, die literarische Texte lesen, auf ihre Zukunft
bezogen sind. Literarische Texte sind ein Medium der Konstitution von Selbstverhältnissen – von
Selbstverhältnissen, aus denen heraus die Weltverhältnisse der Leser beziehungsweise Hörer dieser
Texte entwickelt sind. Im Rahmen solcher Selbstverhältnisse können literarische Texte Muster für die
Welt abgeben.“ (Bertram 2010, S. 407f.) Im Begriff des ‚Musters‘ nimmt bei Bertram eindeutig die
pragmatische Dimension von Literatur die Überhand über deren vermeintliche epistemische Funktion.
Sein Aufsatz nähert sich so dem Literaturverständnis des späten Richard Rorty an, der ebenfalls in der
Schaffung von Selbstentwürfen die zentrale Kompetenz von literarischen Kunstwerken sieht.
3.1.2. Der literaturtheoretisch-ästhetische Diskurs 341

partizipieren die soeben behandelten Artikel zugleich an einem Forschungsfeld, das


in den letzten Jahren Hochkonjunktur hatte und unter dem Namen „Literatur und
Wissen“ figuriert. Wie der Name dieses in zahlreichen geisteswissenschaftlichen
Disziplinen angesiedelten Forschungsfeldes schon zeigt, untersucht es unter den
verschiedensten Perspektiven das Verhältnis von Literatur und Wissen.749
Es ist im Rahmen der vorliegenden Studie weder möglich noch notwendig, einen
vollständigen Überblick über die umfangreiche und weit verzweigte „Literatur und
Wissen“-Debatte zu liefern. Dennoch erscheint es sinnvoll, durch den Rückgriff auf
Forschungsbeiträge aus diesem Diskussionszusammenhang, die sich bereits an einer
ersten Ordnung der leitenden Fragestellungen und zentralen Topoi dieses For-
schungsfeldes versucht haben, einen sporadischen Überblick der dort behandelten
Problemkonstellationen sowie der aus diesen folgenden Problemlösungsvorschläge
zu liefern, um diese dann in Hinblick auf ihre Anschluss- und Tragfähigkeit für die
leitenden Fragestellungen dieser Studie zu evaluieren. Dies bedeutet also, dass hier
im Folgenden insbesondere jene Richtungen der „Literatur und Wissen“-Debatte
berücksichtigt werden, welche sich der Frage nach den kognitiven und epistemischen
Kompetenzen und Folgen von Textualität und literarisch-ästhetischer Darstellungs-
formen widmen.
Wendet man sich aus dieser Perspektive dem besagten Forschungsfeld zu, fällt
schnell auf, dass besagte Fragestellungen in ihm nicht die herausragende Rolle
spielen, die man in Anbetracht des Namens der Debatte eigentlich erwarten würde.
Zahlreiche der sich selbst der „Literatur und Wissen“-Debatte zuschreibenden Beiträ-
ge setzen die Existenz von Wissen in literarischen Texten zumeist bereits stillschwei-
gend voraus und konzentrieren sich dementsprechend auf die Klassifikation der in
Literatur vorhandenen Wissensformen sowie auf die Untersuchung der damit einher-
gehenden Zirkulationsformen von Wissen.750 Insofern verwundert es nicht, dass

749 Einen hervorragenden Einstieg und Überblick über die bisherige Forschung bietet Köppe 2011, auf
dessen Beiträge sich meine folgenden Ausführungen auch vorwiegend stützen werden. Innerhalb der
„Literatur und Wissen“-Debatte existieren auch Ansätze, die von einer „nicht aufhebbare[n] Differenz
zwischen Literatur und Wissen“ (Geisenhanslüke 2010, S. 10) ausgehen.
750 Exemplarisch für diesen Fokus steht der ebenfalls in dem von Tilman Köppe herausgegebenen
Sammelband publizierte Aufsatz „Intention, Korrelation, Zirkulation. Zu verschiedenen Konzeptionen
der Beziehung zwischen Literatur, Wissenschaft und Wissen“ von Olav Krämer, in dem dieser mit Hilfe
der titelgebenden Begriffe die verschiedenen Forschungsansätze, welche das Verhältnis von Literatur
und Wissen untersuchen, zu ordnen versucht. Dabei versammelt er unter der Überschrift der „Intenti-
on“, diejenigen Forschungsansätze, deren konstitutives Merkmal darin bestehe, dass sie „diese Bezie-
hungen durch den Rekurs auf die Kenntnisse und die angenommenen Intentionen des Autors des
literarischen Textes“ (Krämer 2011, S. 80) erklären. Im Gegensatz dazu konzentrieren sich ‚korrelative
Ansätze‘ auf die „Feststellung von überindividuellen Trends in der Literatur und ihren Beziehungen zu
wissenschaftlichen Entwicklungen“ (Krämer 2011, S. 88). Am voraussetzungsreichsten seien jedoch
die ‚Zirkulations-Untersuchungen‘, zu denen auch die zuvor bereits kurz verhandelte Poetologie des
Wissens zählt: „Die grundlegenden Annahmen über Wissen besagen, dass Wissen stets innerhalb von
Wissensordnungen hervorgebracht werde, die durch bestimmte Regeln und Verfahren der Aussagen-
342 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

jüngst Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase in einem Aufsatz, der sich der Systemati-
sierung der Problemkonstellationen des Forschungsfeldes widmet, als eines der sechs
von ihnen aus der bisherigen Debatte rekonstruierten Problemfelder die Frage identifi-
zieren, inwieweit Literatur dazu in der Lage sei, neues Wissen zu produzieren.751
Am Anfang der eigentlichen Beschäftigung mit dieser Frage differenzieren Danne-
berg und Spoerhase diese weiter aus, indem sie danach fragen, (1) ob Literatur durch
bestimmte Darstellungsweisen neues Wissen veranschaulichen könne, (2) ob Litera-
tur eine Wissensquelle sein kann, indem sich aus ihr neues Wissen gewinnen lasse,
und (3) ob Literatur neues Wissen gar verbürgen könne, woraus sich die Subfragen
ergeben, (3.a) ob Literatur das von ihr vermeintlich gelieferte neue Wissen rechtfer-
tigen könne oder (3b) ob Literatur „nichtpropositionale Eigenschaften besitze[ ] (‚zei-
gen‘), aus denen sich eine solche Bürgschaft (ohne die Angabe von Gründen) erschlie-
ßen“752 lasse.753
Mit der Frage 3b betreten die beiden Autoren jenes Feld, das ebenfalls sowohl im
genuin philosophischen „Literatur und literarische Darstellungsformen“-Diskurs754

bildung und insbesondere durch spezifische Darstellungsformen charakterisiert seien, und dass diese
Formen das hervorgebrachte Wissen entscheidend prägen, indem sie etwa mögliche Objekte des
Wissens und Zugangsweisen zu ihnen festlegen.“ (Krämer 2011, S. 99)
All diesen Ansätzen ist offensichtlich gemeinsam, dass man in ihnen von einer Untersuchung der
Wissensgenerierung in und durch Literatur bzw. sich literarisch-ästhetischer Darstellungsformen
bedienender Texte absieht.
751 Vgl. Danneberg/Spoerhase 2011, S. 29.
Welche marginale Rolle die Frage nach innovativen Erkenntnissen in literarischen Texten in der
„Literatur und Wissens“-Debatte ansonsten spielt, belegt auch eine Liste aus einem sich ebenfalls der
Ordnung des Forschungsfeldes widmenden Beitrag von Tilman Köppe. Dieser entwickelt dort drei
Ordnungsschemata – „‚Literatur‘ und ‚Wissen‘ im Modell der literarischen Kommunikation“, „Wis-
sensbezogene Leistungen von Literatur“ und „Literaturwissenschaftliche Arbeitsfelder“ – anhand
derer er aktuelle und noch zu stellende Fragestellungen für das Forschungsfeld ausbuchstabiert. In
dem für die Frage nach dem Potential zur Wissensgenerierung relevanten Schema „Wissensbezogene
Leistungen von Literatur“, das sich den verschiedenen Funktionen von Literatur widmet, liefert Köppe
folgende „(offene) Liste“ möglicher Funktionszuschreibungen: „Literatur ergänzt/erweitert Wissen; –
Literatur vermittelt Wissen; – Literatur veranschaulicht Wissen; – Literatur popularisiert Wissen; –
Literatur problematisiert Wissen; – Literatur antizipiert Wissen; – Literatur partizipiert an der Kon-
zeptualisierung eines Wirklichkeitsbereichs (und strukturiert den Bereich des für uns Wissbaren); –
Literatur setzt (für ein angemessenes Verständnis) Wissen voraus; – Literatur enthält Wissen; –
Literatur ist (eine Form von) Wissen“ (Köppe 2011, S. 6).
Wie diese Liste zeigt, handelt es sich bei der Frage nach der Wissensgenerierung durch Literatur
nur um ein Problemfeld unter vielen, dem sich die „Literatur und Wissen“-Debatte widmet.
752 Danneberg/Spoerhase 2011, S. 59.
753 Vgl. Danneberg/Spoerhase 2011, S. 59. – Anzumerken ist hier, dass Danneberg und Spoerhase
stets von der Standarddefinition des Wissens als gerechtfertigtem, wahren Glauben ausgehen.
754 Siehe zu diesem Forschungsfeld neben dem zuvor bereits erwähnten Sammelband von Gabriel/
Schildknecht 1990 auch Bowman 2007, in dessen Einleitung der Herausgeber feststellt: „Verglichen
mit einer bestimmten Art des Könnens, dem Beherrschen eines komplexen Sets an Gewichtungen,
Wertungen, Strategien des Fragens, der Kritik der Untersuchung […], ist das Wissen (verstanden als
3.1.3. Der philosophische Diskurs 343

als auch in jenen literaturtheoretischen Arbeiten, die versuchen, einen Literatur-


begriff über die Bestimmung der zentralen Funktionen von Literatur zu stiften und
sich nicht expressis verbis in die „Literatur und Wissen“-Debatte einschreiben, eine
zentrale Rolle spielen. Ausgehend von der Feststellung, dass besagte Frage „bekannt-
lich als sehr strittig“755 gelte, beantworten Danneberg und Spoerhase diese mit
folgender These:

Ein neues Wissen mag sich zwar in Literatur finden, es ist aber nicht zeitgleich als neu wahrnehm-
bar. Voraussetzung für seine Wahrnehmung als neu ist, dass dieses Wissen bereits bekannt ist,
und zwar als Wissen im propositionalen Gehalt und in nichtliterarischen Texten.756

Im Hintergrund dieser Hypothese scheint die Auffassung zu stehen, dass es nicht-


propositionales Wissen letztendlich in einem starken Sinne, d.h. jenseits seiner
potentiellen Überführbarkeit in Propositionen, nicht geben könne. Dafür sprechen
auch die weiteren Überlegungen von Danneberg und Spoerhase, insbesondere die
von ihnen im Zuge der Behandlung der fünften Problemkonstellation des For-
schungsfeldes „Literatur und Wissen“ gegebenen Antworten auf den in diesem von
den Autoren als das Problemfeld von „Exemplifikation und Wissen in Literatur“
bezeichneten Fragenkomplex. Dort vertritt das Verfasserduo die These, dass „[d]er
nichtpropositionale Gehalt und damit das unter Umständen im Text auftretende
Wissen […] sich immer im Rückgriff auf die Exemplifikationsrelation (im Sinne Good-
mans) rekonstruieren und gegebenenfalls propositional in einer Interpretation darle-
gen“757 lasse.

3.1.3. Der philosophische Diskurs

Genau dieser Position ist von Teilnehmern an anderen Diskursen, die sich ebenfalls
der Frage nach der epistemischen Relevanz literarisch-ästhetischer Darstellung wid-
men, entschieden widersprochen worden. Die diesbezüglichen Positionen von Auer-
ochs und Urbich sind hier bereits ausführlich beschrieben worden. Ähnliche Thesen
finden sich auch in der in der deutschsprachigen Philosophie geführten Diskussion

propositionales Wissen, d.h. Wissen von Aussage-Wahrheiten) von vergleichsweise untergeordneter


Bedeutung. Bei der Vermittlung solchen nichtpropositionalen Wissens-wie spielen aber gerade die
Darstellungsformen der Philosophie […] die entscheidende Rolle.“ (Bowman 2007, S. 12)
755 Danneberg/Spoerhase 2011, S. 60.
756 Danneberg/Spoerhase 2011, S. 61.
757 Danneberg/Spoerhase 2011, S. 65. – Das Autorenduo begründet diese These, indem es darauf
verweist, dass es „faktisch nur drei Relationen [gebe], auf die sich jede Bedeutungszuschreibung an
einen Text zurückführen lässt: Denotations-, Exemplifikations- und Analogierelation“ (Danneberg/
Spoerhase 2011, S. 66), um im Anschluss daran den Exemplifikationsbegriff zu problematisieren (vgl.
Danneberg/Spoerhase 2011, S. 66).
344 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

zur Bedeutung literarischer Darstellungsformen für dieselbe. Paradigmatisch für diese


Debatte stehen – neben den Arbeiten von Gottfried Gabriel – die Untersuchungen von
Christiane Schildknecht.758 Einen Überblick über ihre diesbezüglichen Grundannah-
men hat Schildknecht vor kurzem in einem Beitrag, der einen Sammelband zur
Bedeutung der Darstellungsform in der idealistischen deutschen Philosophie und
Ästhetik mit dem vielsagenden Titel Darstellung und Erkenntnis eröffnet, selbst gelie-
fert. Die dort präsentierten Thesen seien hier kurz zusammengefasst.
Ausgehend von dem Verweis auf den in der abendländischen Philosophie be-
kannten Topos, dass, obwohl das „Faktum einer Vermittlung philosophischer The-
men und Reflexionen in literarischem Gewande“759 unbestritten sei, deren Relevanz
stets umstritten gewesen sei und immer noch ist, entwickelt Schildknecht ihre diesem
Topos diametral entgegengesetzte Position. Auffällig an dieser ist, dass Schildknecht
von Anfang an bloß von der Vermittlung „eines bestimmten Verständnisses von
philosophischer Erkenntnis“760, nicht jedoch von der Generierung einer solchen
durch den Einsatz von alternativen Darstellungsmitteln in der Philosophie ‚spricht‘.761
Mit der Akzeptanz der Möglichkeit einer solchen Vermittlung gehe laut Schildknecht
die Anerkennung nichtpropositionaler Erkenntnisformen einher. Diese bestimmt sie
wie folgt:

Mit diesem sehr weiten Begriff des Nichtpropositionalen sind Formen des Erkennens gemeint,
deren epistemische Relevanz dort beginnt, wo Begriffe, Gründe und/oder Satzwahrheit nicht
(oder nicht mehr) tragen, wo Erkenntnis prinzipiell nicht oder nicht in einem ihr adäquaten Sinne
ausgesagt werden kann und damit in Opposition zur propositionalen, d.h. aussageartigen Struk-
tur des Urteils bzw. des Satzes steht.762

Erst durch die Akzeptanz der Existenz dieses Nichtpropositionalen sei es möglich, die
philosophische Relevanz literarischer Darstellungsverfahren für die Philosophie zu
erfassen. Das Nichtpropositionale fange laut Schildknecht jene Erkenntnisformen ein,
„die die Propositionsförmigkeit von Wissen (oder wissenschaftlicher Erkenntnis)
entweder auf der logisch-syntaktischen Ebene negieren oder diese in unterschiedli-
cher Hinsicht transzendieren“763. Kennzeichnend für derartige Erkenntnisformen sei

758 Zu den Unterschieden zwischen den Ansätzen von Gabriel und Schildknecht siehe unter anderem
Bowman 2007, S. 16f., wo dieser zeigt, dass Gabriel immer noch an der zentralen Rolle des proposi-
tionalen Wissens festhält, den sich daraus ergebenden Erkenntnisbegriff jedoch um Formen nicht-
propositionalen Wissens erweitert, während Schildknecht von einer Fundierung des Propositionalen
im Nichtpropositionalen ausgeht.
759 Schildknecht 2007, S. 31.
760 Schildknecht 2007, S. 32.
761 Als Standardformen philosophischer Darstellung weist Schildknecht „Deutlichkeit der Begriffe,
Angabe von Gründen bzw. argumentativ-inferentielle Struktur [und] Satzwahrheit“ (Schildknecht
2007, S. 32) aus.
762 Schildknecht 2007, S. 32.
763 Schildknecht 2007, S. 32.
3.1.3. Der philosophische Diskurs 345

das Problem der Unsagbarkeit.764 Im Anschluss an eine Ausbuchstabierung besagten


Problems rekonstruiert Schildknecht dann vier epistemische Felder, in welchen das
qua literarischer Darstellungsform vermittelte Nichtpropositionale eine entscheiden-
de Rolle spiele.
Dabei handle es sich erstens um Erkenntnisse des Ethischen, „die weder ver-
mittels der Anerkennung einer Aussage als wahr erworben werden, noch in Form von
Sätzen direkt vermittelt werden“765 können. Ohne auf deren konkreten Darstellungs-
modi einzugehen, verweist Schildknecht auf Lichtenberg, Kierkegaard und Wittgen-
stein als Vertreter dieser Gruppe, die insbesondere der Einsicht gefolgt seien, dass
gerade in der Ethik zwischen dem knowing-how und dem knowing-that zu unterschei-
den sei. Des Weiteren haben Lichtenberg und Kierkegaard die „Gebundenheit ethi-
scher Erkenntnis an den subjektiv-existentiellen Standpunkt zum Tragen“766 ge-
bracht. Auch in diesem Falle verzichtet Schildknecht auf einen Hinweis auf die
konkreten darstellerischen Konsequenzen dieser Einsicht.767
Beim zweiten relevanten epistemischen Feld handle es sich um „Erkenntnis im
Bereich des Subjektiven, die auf Selbstkenntnis bzw. Selbstvertrautheit und/oder
Selbsterfahrung im Sinne existentieller Verfaßtheit“768 basiere und sich dementspre-
chend der Artikulation in auf Allgemeingültigkeit abzielenden Aussagesätzen entzie-
he. Schildknecht listet als Repräsentanten dieser Auffassung abermals Lichtenberg
und Kierkegaard sowie Petrarca [sic], Montaigne und Descartes.
Als dritte Form nennt Schildknecht „Erkenntnis im Bereich des Fundamentalen,
die die begründende Rechtfertigung basaler Begriffe und kategorialer Unterscheidun-
gen betrifft“769. Vertreter dieser Gruppe seien Locke, Kant, Frege, Heidegger und
Derrida. Auf derartige Erkenntnisse treffe zugleich jene Unmöglichkeit sinnvoller
Aussagbarkeit zu, von der Schildknecht ausgegangen war. Vermittelt werden können

764 Schildknecht differenziert dieses Problem in Anknüpfung an Gottfried Gabriel folgendermaßen


aus: „Dabei gilt es zunächst zwischen Unsagbarkeit im Sinne der Negierung sinnvoller Aussagbarkeit
einerseits und Unsagbarkeit im Sinne der Unmöglichkeit von Aussagbarkeit andererseits zu differen-
zieren. Unsagbarkeit im Sinne der Unmöglichkeit von Aussagbarkeit kann ihrerseits wiederum zweier-
lei bedeuten: prinzipiell, d.h. ohne wesentliche Modifikation des Gegenstandes nicht mögliche Aus-
sagbarkeit oder aber nicht auf vollständige Weise mögliche Aussagbarkeit.“ (Schildknecht 2007, S. 33)
765 Schildknecht 2007, S. 33.
766 Schildknecht 2007, S. 33.
767 Dieser Mangel an Exemplifikation der eigenen Thesen – Schildknecht beschränkt sich auf die
bloße Nennung literarischer Formen wie der Meditation und des Essays – zieht sich durch ihren ganzen
Aufsatz und führt letztendlich dazu, dass dieser selbst fast ausschließlich in Propositionen über nicht-
propositionale Erkenntnis spricht. Obwohl dieser Sachverhalt primär der Kürze von Schildknechts
Beitrag geschuldet sein mag, führt dieser derartig jenen bereits im ersten Teil der vorliegenden Studie
kritisierten Ansatz über philosophische Texte bloß aus der sicheren Distanz der eigenen philosophi-
schen Vorannahmen zu sprechen/schreiben, unbekümmert fort.
768 Schildknecht 2007, S. 34.
769 Schildknecht 2007, S. 34
346 3.1. Der Status der Darstellungsform in Literaturtheorie und Philosophie

diese nur „unter Rekurs auf Erläuterungen, die die jeweilige kategoriale Unterschei-
dung mit Hilfe metaphorischer Elemente klären“770.
Als vierte und letzte Erkenntnisform führt Schildknecht noch die ästhetischen
Erkenntnisse an: Deren Nichtpropositionalität folge einerseits aus deren Suspendie-
rung des Wahrheitsanspruches aufgrund ihrer Fiktionalität sowie andererseits auf-
grund der Tatsache, dass sich das Besondere des ästhetischen Gebildes in Anbetracht
von dessen komplexer anschaulichen Fülle nicht auf allgemeine Begriffe bringen
lasse: „Ästhetische Erfahrung ist reichhaltiger als das begriffliche Instrumentarium
ihrer Mitteilung“771.
Im Anschluss an diesen Durchlauf durch die Felder und Formen nichtproposi-
tionaler Erkenntnisse gelangt Schildknecht schließlich ex negativo zu einer begriff-
lichen Eingrenzung derselben anhand von zwei Kriterien. Nichtpropositional seien
sämtliche Erkenntnisse, die eines der beiden folgenden Kriterien nicht erfüllen:

(1) Das Kriterium der Wahrheitswertfähigkeit, demzufolge eine notwendige und hinreichende
Bedingung für Propositionalität eine Struktur ist, die dem Gehalt von Aussage- oder Behaup-
tungssätzen entspricht (,daß p‘), verbunden mit einem sich daraus ergebenden Anspruch auf
Wahrheitswertfähigkeit.
(2) Das Kriterium der Begrifflichkeit, demzufolge Begrifflichkeit eine notwendige, aber nicht
hinreichende Bedingung für Propositionalität ist.772

Am offensichtlichsten werde die Existenz des Nichtpropositionalen sowie die damit


einhergehenden Probleme vermeintlicher logischer Unaussagbarkeit bei den phi-
losophischen Grundbegriffen und Grundunterscheidungen, da „für grundlegende
Begriffe, die das Resultat wissenschaftlicher Analyse sind, gilt, daß sie ihrerseits
nicht ad infinitum analysiert werden, d.h. selbst nicht noch einmal zum Gegenstand
einer analytischen Definition gemacht werden können,“ während „für grundlegende
(in diesem Sinne ,kategorial‘ genannte) Unterscheidungen gilt, daß sie innerhalb
des Begriffssystems, dessen Fundament sie bilden, ihrerseits nicht noch einmal
Gegenstand sinnvoller Rede sein können“.773 Aufgrund dieser logischen Paradoxien
bediene sich die Philosophie gerade bei der Stiftung ihrer Grundbegriffe und Grund-
unterscheidungen alternativer Begründungsformen wie der nicht behauptenden
oder metaphorischen Rede.774 Letztendlich plädiert Schildknecht dafür, „[a]nge-

770 Schildknecht 2007, S. 35.


771 Schildknecht 2007, S. 36.
772 Schildknecht 2007, S. 36.
773 Schildknecht 2007, S. 38.
774 Vgl. Schildknecht 2007, S. 38. – Hier sei schon vor der eigentlichen Zusammenführung der
Lektüreresultate dieser Studie mit der Schildknecht’schen Systematik auf einen Mangel derselben
hingewiesen. Schildknecht unterscheidet in ihrem Beitrag zwischen dem literarischen und dem phi-
losophischen Gebrauch von Metaphern, indem sie behauptet, dass in der Philosophie „[a]nders als im
Falle der Literatur […] das konnotative Potential von Metaphern jedoch nicht in der Weise freigesetzt
3.1.3. Der philosophische Diskurs 347

sichts der Diskrepanz zwischen propositionalen und nichtpropositionalen Formen


des Erkennens […] deren Zusammenspiel […] als eine Stufung im Sinne einer
Begründung oder Fundierung des Propositionalen durch das Nichtpropositionale“775
zu begreifen.
Jenseits des in Schildknechts Aufsatz dominierenden Fokus auf die Vermittlung
nichtpropositionaler Erkenntnisse durch literarische Darstellungsformen in der Phi-
losophie haben sich auch zahlreiche andere Beiträge aus dem Umfeld des zuvor als
„Philosophie und literarische Darstellungsform“ ausgewiesenen Diskurses der Bedeu-
tung und Funktion der Darstellungsform in der Philosophie zugewandt. So beschäf-
tigten sich zum Beispiel Daniel Fulda und Stefan Matuschek in einem Aufsatz mit den
‚literarischen Formen in der Philosophie‘ und entwickeln dort ein vierteiliges Schema,
nach welchem sie die Vielfalt literarisch-philosophischer Texte bzw. den Einsatz
literarisch-ästhetischer Darstellungsformen in philosophischen Texten zu ordnen ver-
suchen. Nach diesem existieren vier Funktionsunterscheidungen, nach welchen man
den philosophischen Einsatz literarisch-ästhetischer Darstellungsformen gliedern
könne: „1. Vermittlung, 2. Heuristik, 3. Ausdruck und 4. Kritik“776. Bei der Vermittlung
handle es sich wie auch schon bei Schildknecht bloß um „eine sekundäre philosophi-
sche Funktion […], weil sie nicht selbst philosophische Erkenntnisse hervorbringt,
sondern als ein zweiter Schritt an eine vorausgehende Erkenntnis“777 anschließe. Im
Gegensatz dazu bestehe die heuristische Funktion darin, dass literarische Formen
„ihrerseits das Medium philosophischer Reflexion sein“778 können. Näher an der
Literatur als an der Philosophie ist die dritte Funktion anzusiedeln, die sogenannte
Ausdrucksfunktion. Diese bestehe darin, dass „eine literarische Form als Ausdruck
von Philosophie bezeichne[t] [werden kann], wenn in ihr die grundsätzliche Über-

[wird; A.P.], daß ein den Begriffen gegenüber uneinholbarer Überschuß entsteht, sondern es vielmehr
der maximalen Versinnlichung des begrifflich Einfachen“ (Schildknecht 2007, S. 39) diene.
Eine derartige Trennung zwischen literarischer und philosophischer Metaphernverwendung
bringt nicht nur die Schildknechts Aufsatz leitende Fragestellung nach der Bedeutung von literari-
schen Darstellungsformen in der Philosophie in Gefahr, zur bloßen Platitude zu werden, sondern
überzeugt auch aus einer textanalytischen und sprachphilosophischen Perspektive nicht. Um dies zu
tun, müsste Schildknecht eine Erklärung liefern, welche besonderen Eigenschaften des philosophi-
schen Textes dazu führen, dass in ihm – im Gegensatz zum literarischen Text – die Metapher plötzlich
ihr polysemisches Potential verliert. Die bloße Zugehörigkeit eines Textes zur ‚philosophischen
Schreibweise‘ reicht dafür bei weitem nicht aus, da sich besagte Schreibweise in der von ihr voll-
zogenen Konstitution des Textgehaltes primär von keiner anderen Textsorte unterscheidet. Auch
Schildknechts Beschreibung der ‚erläuternden Metaphern‘ in der Philosophie als „methodologische
Zwitterwesen“ – sie seien aus ästhetischer Perspektive bereits ‚tot‘ und daher Katachresen, aus
philosophisch-begrifflicher jedoch ‚aktive‘ Katachresen (vgl. Schildknecht 2007, S. 40) – kann diesem
Mangel keine Abhilfe schaffen.
775 Schildknecht 2007, S. 41.
776 Fulda/Matuschek 2009, S. 191.
777 Fulda/Matuschek 2009, S. 191f.
778 Fulda/Matuschek 2009, S. 194.
348 Exkurs

zeugung eines philosophischen Ansatzes“779 stecke. Wieder näher an der eigentlichen


philosophischen Tätigkeit bewegt sich hingegen die Kritik, unter welcher das Auto-
renduo eine „besondere Weise, in der literarische Formen zum Ausdruck von Philo-
sophie werden“780, begreifen.
Wie sich die Lektüreresultate des zweiten Teils der vorliegenden Studie zu den
hier vorgestellten Diskursen und Debatten verhalten sowie welche Modifikationen
derselben aus deren Ergebnissen resultieren, wird im Folgenden zu überprüfen sein.

Exkurs: Die Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung im Lichte


der „Erkenntniskritischen Vorrede“ von Walter Benjamins
Ursprung des deutschen Trauerspiels

Vor der eigentlichen Einschreibung der Lektüreresultate dieser Studie in die soeben
kurz skizzierten aktuellen Debatten in Philosophie und Literaturtheorie erscheint es
sinnvoll, eben diese Resultate mit der ‚Begrifflichkeit‘ jenes Textes zu konfrontieren
und zusammenzuführen, aus welcher ein zentraler ‚Terminus‘ bereits mehrfach zur
Kennzeichnung der Darstellungsform und Schreibweise der Götzen-Dämmerung he-
rangezogen wurde. Die Rede ist hier vom ‚Begriff‘ der Konstellation, welcher in der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ von Walter Benjamins Habilitationsschrift Ursprung
des deutschen Trauerspiels in die philosophisch-ästhetische Terminologie eingeführt
worden ist und der auch dort bereits zur Kennzeichnung eines radikalen Bruchs der in
der „Vorrede“ zur Darstellung gebrachten philosophisch-ästhetischen Theorie mit
ihren zeitgenössischen Standardvarianten herangezogen wurde. Durch eine derartige
Zusammenführung der Lektüreresultate dieser Studie mit einem anderen sich eben-
falls jenseits konventioneller philosophischer und philologischer Denk- und Schreib-
praktiken positionierenden Werk der abendländischen Philosophie- und Philologie-
geschichte wird es möglich, einerseits den hier bereits mehrfach angesprochenen
hermeneutischen Fehler zu umgehen, Nietzsches Denken unreflektiert in traditionel-
lere und von diesem eindeutig unterlaufene Begrifflichkeiten einzuschreiben, um so
andererseits den Boden für eine reflektierte Konfrontation von Nietzsches Denkweise
mit auf eine solche Terminologie zurückgreifenden Diskursen zu bereiten.
Benjamins Trauerspielbuch bietet sich zur Vorbereitung besagter Konfrontation
nicht nur an, weil in ihm der ‚Begriff‘ der Konstellation erstmals zu einem tragenden
philosophischen Konzept erhoben wurde, sondern auch weil gerade dieser Text –
insbesondere die „Erkenntniskritische Vorrede“ – in letzter Zeit häufig zum Gegen-
stand von Analysen geworden ist, die sich mit der Bedeutung und Funktion der

779 Fulda/Matuschek 2009, S. 195.


780 Fulda/Matuschek 2009, S. 196.
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 349

ästhetischen Darstellungsform für Philosophie und Philologie auseinandergesetzt


haben.781
Trotz dieser beinahe als ‚ideal‘ zu bezeichnenden Voraussetzungen ist vor der
Zusammenführung mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass Benjamins Text, gerade
aufgrund der analog zu Nietzsches veröffentlichten Werken in ihm erfolgenden inno-
vativen Sprachverwendung von Nietzsches eigenem Sprachgebrauch stark abweicht.
In Anbetracht der solcherart auch für Benjamins Buch zu konstatierenden hochindivi-
duellen Schreibweise ist davon auszugehen, dass eine Konfrontation und Zusammen-
führung derselben mit den Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung eine partielle
Einebnung der nicht zu verleugnenden Differenzen zwischen den jeweiligen Sprach-
gebräuchen der beiden Texte mit sich bringen wird.782 Um diese Nivellierung so
gering wie möglich zu halten, wird in einem ersten Schritt eine kurze Synopse der
philosophisch-ästhetischen Reflexionen und Darstellungspraxis der „Erkenntniskriti-
schen Vorrede“ von Benjamins Habilitationsschrift geliefert und erst im Anschluss an
dieselbe die in diesem Text präsentierte ‚Metatheorie‘ einer ästhetischen Darstellungs-
form mit den Schreibweisen der Götzen-Dämmerung zusammengeführt. Zwar kann
auch solcherart die zuvor angesprochene Nivellierung nicht vollständig vermieden
werden. Dennoch erlaubt dieses Procedere, auch die Eigenheiten von Benjamins
eigener Schreibweise zu betonen und ermöglicht so, den trotz aller Parallelen nicht

781 Siehe dazu insbesondere Urbich 2012, dessen Darstellung bei Walter Benjamin. Die ‚Erkenntnis-
kritische Vorrede‘ im Kontext ästhetischer Darstellungstheorien der Moderne betitelte Studie sich jedoch
von Anfang an in Opposition zum Mainstream der Benjaminforschung stellt, indem sie sich als For-
schungsziel setzt, „nicht, was Benjamin ‚wirklich gemeint‘ hat, sondern welche Potentiale kategorialer
Reflexion sich aus der Reichhaltigkeit und gedanklichen Präzision seiner Theoreme ergeben“ (Urbich
2012, S. 27), freizulegen. Explizites Telos seiner Arbeit ist es, „Benjamins Theorem der ‚Wahrheits-
förmigkeit‘ literarischer Formensprache vor der Folie des zweiwertig-antinomischen kantischen Er-
kenntnismodells und in Bezug auf den Darstellungsmodus der Literatur näher zu untersuchen“
(Urbich 2012, S. 3).
Folge dieses Zuganges ist eine in der Benjaminforschung nicht unumstrittene Reaktivierung des
hegelschen Denkens für die Deutung der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des Trauerspielbuches.
782 Diese auch in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ selbst reflektierten Charakteristika der Benja-
min’schen Schreibweise haben insbesondere für die hier nun einsetzende synoptische Präsentation
der in ihr niedergelegten ‚Darstellungstheorie‘ eine bedeutende lektüremethodologische Konsequenz:
Es ist nämlich aufgrund derselben – wie auch schon bei der Lektüre der Götzen-Dämmerung –
notwendig, sich so nahe wie möglich an der Textur des Orginaltextes zu halten. Nur auf diesem Wege
kann vermieden werden, dass man durch die Einführung einer dem Textgeschehen fremden Termino-
logie die in diesem tatsächlich gegebene aus den Augen verliert.
Aufgrund dieses Vorgehens sowie in Anbetracht des hier gegebenen Telos der synoptischen
Beschreibung der ‚Darstellungstheorie‘ der „Erkenntniskritischen Vorrede“ wird des Weiteren auf eine
Diskussion der umfangreichen Forschungsliteratur zu besagtem Werksegment im Lauftext fast durch-
gehend verzichtet. Verweise auf die akademische Debatte finden sich dementsprechend – ohne
jedwelchen Anspruch auf eine im gegebenen Rahmen weder notwendige noch erfüllbare
Vollständigkeit – vorwiegend in den Fußnoten.
350 Exkurs

gerade minimalen formalen und inhaltlichen Unterschieden zwischen Benjamins und


Nietzsches Denkstil partiell gerecht zu werden.783
Bereits der erste Satz der „Erkenntniskritischen Vorrede“ stellt die immense
Bedeutung der Darstellung für die Philosophie heraus, wird in ihm doch ohne Um-
schweife konstatiert: „Es ist dem philosophischen Schrifttum eigen, mit jeder Wen-
dung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen.“784 Noch im selben
Abschnitt785 der Vorrede wird das diesem apodiktischen Eröffnungssatz eingeschrie-
bene Verständnis der Philosophie im Zuge einer Abgrenzung derselben von den
‚positiven‘ Wissenschaften expliziert. Der Text greift für diese Ausdifferenzierung auf
eine primär bloß gesetzte Unterscheidung zwischen philosophischer „Wahrheit“ und
wissenschaftlicher „Erkenntnis“ zurück, die unmittelbare Konsequenzen für die be-
reits im Eingangssatz artikulierte Bedeutung der Darstellungsform zeitigt: „Will die
Philosophie nicht als vermittelnde Anleitung zum Erkennen, sondern als Darstellung
der Wahrheit das Gesetz ihrer Form bewahren, so ist der Übung dieser ihrer Form,
nicht aber ihrer Antizipation im System, Gewicht beizulegen.“ (GS I 1, S. 208)
Als Paradigma einer derartigen „Darstellung der Wahrheit“ wird der Traktat aus-
gewiesen (GS I 1, S. 208ff.), dessen Beschreibung nicht nur die bereits zuvor im Text
artikulierten Unterschiede zwischen der die ‚Wahrheit darstellenden‘ Philosophie und
den sich in „sachgemäße[r] Didaktik“ (GS I 1, S. 207) manifestierenden Wissenschaften
vertieft,786 sondern auch weitere konkrete Merkmale des bis an diesen Punkt durch-
weg dunklen Wahrheitsverständnisses der „Erkenntniskritischen Vorrede“ liefert:

783 Sowohl philologisch-hermeneutische als auch rekonstruktiv-aktualisierende Zusammenführun-


gen und Vergleiche zwischen den Denk- und Schreibweisen Nietzsches und Benjamins sind bis dato
eine Seltenheit, was in Anbetracht des Umfanges, den mittlerweile sowohl die Nietzsche- als auch die
Benjaminforschung erreicht haben, durchweg verwundern mag. Die bisherigen Vergleiche beschrän-
ken sich vorwiegend auf zurückhaltende Untersuchungen der Parallelen und Differenzen zwischen
den Werken der beiden Denker. Richtungsweisend ist immer noch Pfotenhauer 1978, der sich zwar
primär auf die expliziten Nennungen Nietzsches in Benjamins Schriften sowie die aus Benjamins später
Geschichtsphilosophie resultierenden Differenzen von dessen Denken zu Nietzsches Philosophie be-
schränkt, dabei jedoch auch zumindest die denkstilistischen und darstellungsästhetischen Parallelen
andeutet (vgl. Pfotenhauer 1978, S. 103f.).
784 Benjamin 1991, S. 207. – Von nun an wird Benjamins Vom Ursprung des deutschen Trauerspiels
den Konventionen der deutschsprachigen Benjaminforschung folgend mit der Sigle GS I 1 sowie der
Seitenangabe in runden Klammern im Lauftext zitiert.
785 Es ist in der Benjaminforschung üblich, die sechzehn Textsegmente der „Erkenntniskritischen
Vorrede“ als ‚Abschnitte‘ zu bezeichnen.
786 Siehe dazu insbesondere die auf den Eröffnungssatz folgenden Sätze: „Zwar wird es in seiner
abgeschlossenen Gestalt Lehre sein, solche Abgeschlossenheit ihm zu leihen aber liegt nicht in der
Gewalt des bloßen Denkens. Philosophische Lehre beruht auf historischer Kodifikation. So ist sie denn
auch more geometrico nicht zu beschwören. Wie deutlich es Mathematik belegt, daß die gänzliche
Elimination des Darstellungsproblems, als welche jede streng sachgemäße Didaktik sich gibt, das
Signum echter Erkenntnis ist, gleich bündig stellt sich ihr Verzicht auf den Bereich der Wahrheit, den
die Sprachen meinen, dar.“ (GS I 1, S. 207)
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 351

Darstellung ist der Inbegriff ihrer [= der Traktate; A.P.] Methode. Methode ist Umweg. Darstellung
als Umweg – das ist denn der methodische Charakter des Traktats. Verzicht auf den unabgesetz-
ten Lauf der Intention ist sein erstes Kennzeichen. Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem
an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste
Daseinsform der Kontemplation. Denn indem sie den unterschiedlichen Sinnstufen bei der
Betrachtung eines und desselben Gegenstandes folgt, empfängt sie den Antrieb ihres stets
erneuten Einsetzens ebenso wie die Rechtfertigung ihrer intermittierenden Rhythmik. Wie bei der
Stückelung in kapriziöse Teilchen die Majestät den Mosaiken bleibt, so bangt auch philosophi-
sche Betrachtung nicht um Schwung. Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen;
nichts könnte mächtiger die transzendente Wucht, sei es des Heiligenbildes, sei’s der Wahrheit
lehren. Der Wert von Denkbruchstücken ist um so entscheidender, je minder sie unmittelbar an
der Grundkonzeption sich zu messen vermögen und von ihm hängt der Glanz der Darstellung im
gleichen Maße ab, wie der des Mosaiks von der Qualität des Glasflusses. Die Relation der
mikrologischen Verarbeitung zum Maß des bildnerischen und des intellektuellen Ganzen spricht
es aus, wie der Wahrheitsgehalt nur bei genauester Versenkung in die Einzelheiten eines Sach-
gehalts sich fassen läßt. (GS I 1, S. 208)

Auch in dieser Passage wird auf eine Kontrastierung des von ihr artikulierten Wahr-
heitsverständnisses mit zeitgenössischen oder traditionelleren Wahrheitskonzeptio-
nen verzichtet. An die Stelle einer derartigen sich durch Abgrenzung von der Tradition
konkretisierenden Schreibweise tritt ein Explikationsmodus, der, indem er über sich
selbst reflektiert, sich zugleich realisiert und solcherart darstellerisch das von ihm
Artikulierte bereits einholt.787 Im Mittelpunkt dieser performativ-reflexiven Präsentati-
on steht neben dem Wahrheitsbegriff selbst jene „philosophische Betrachtung“, die
durch die „genaueste[ ] Versenkung in die Einzelheiten eines Sachgehalts“ den „Wahr-
heitsgehalt“ desselben zu fassen weiß. Eine derartige Betrachtung, deren Modus hier
als „Kontemplation“ bezeichnet wird, ist unmittelbar auf jene Form der Darstellung
angewiesen, welche sich von der Tradition insbesondere durch die Suspendierung
jeglicher Intentionalität absetzt, an deren Stelle ein sich aus unterschiedlichen Per-
spektiven an „Einzelne[s] und Disparate[s]“ herantretendes Denken tritt, welche das
Textstück durch den Vergleich mit der mittelalterlichen Mosaiktechnik zu fassen ver-
sucht. Neben diesem Bild, auf das im Folgenden noch näher einzugehen sein wird,
bietet vor allem die am Ende der zitierten Passage erfolgende Gegenüberstellung von
Wahrheits- und Sachgehalt einen ersten Anhaltspunkt zur Beschreibung der in der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ erfolgenden Gegenüberstellung von „Wahrheit“ und
„Erkenntnis“. Diese wird vom Text selbst, darin abermals seine eigene Darstellungs-
theorie umsetzend, erst im nächsten Abschnitt wieder aufgenommen und folgenderma-
ßen konkretisiert:

787 Eine derartige performative Schreibweise realisiert nicht nur im Ursprung des deutschen Trauer-
spiels, sondern sie findet sich auch in anderen Texten Benjamins. So verwendet zum Beispiel Tilman
Lang in seiner Mimetisches oder semiologisches Vermögen betitelten Studie zu Benjamins Begriff der
Mimesis die hier soeben wiedergegebene Stelle zur Beschreibung des Darstellungsmodus von Benja-
mins späten Texten zur Sprachphilosophie. Vgl. Lang 1998, S. 30.
352 Exkurs

Wenn Darstellung als eigentliche Methode des philosophischen Traktates sich behaupten will, so
muß sie Darstellung der Ideen sein. Die Wahrheit, vergegenwärtigt im Reigen der dargestellten
Ideen, entgeht jeder wie immer gearteten Projektion in den Erkenntnisbereich. Erkenntnis ist ein
Haben. Ihr Gegenstand selbst bestimmt sich dadurch, daß er im Bewußtsein – und sei es
transzendental – innegehabt werden muß. Ihm bleibt der Besitzcharakter. Diesem Besitztum ist
Darstellung sekundär. Es existiert nicht bereits als ein Sich-Darstellendes. Gerade dies aber gilt
von der Wahrheit. Methode, für die Erkenntnis ein Weg, den Gegenstand des Innehabens – und
sei’s durch die Erzeugung im Bewußtsein – zu gewinnen, ist für die Wahrheit Darstellung ihrer
selbst und daher als Form mit ihr gegeben. Diese Form eignet nicht einem Zusammenhang im
Bewußtsein, wie die Methodik der Erkenntnis es tut, sondern einem Sein. (GS I 1, S. 209)

Aus diesem Absatz lassen sich auf dem Hintergrund des bisher Festgestellten folgen-
de Bestimmungen herausschälen: „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ unterscheiden sich
sowohl in ihrem Gegenstandsbereich als auch in ihrem ‚Zugriff‘ auf denselben.
Während die „Wahrheit“ sich innerhalb und durch das Geflecht der „Ideen“, welche
zugleich ihren Gegenstand – ein Sein – ausdrücken, realisiert und zur Darstellung
bringt, zielt die „Erkenntnis“, dabei von der Darstellungsform unabhängig, auf ein
‚intellektuelles Besitztum‘ ab. In Anbetracht der im I. Abschnitt der „Erkenntniskriti-
schen Vorrede“ erfolgenden Ausweisung der „Erkenntnis“ als kognitivem Modus der
positiven Wissenschaften ist in Hinblick auf die in der zitierten Passage gegebene
Bestimmung, dass sie „im Bewußtsein – und sei es transzendental – innegehabt
werden muß“ (GS I 1, S. 209), zu vermuten, dass es sich bei ihr um die Standardform
des Wissens, verstanden als gerechtfertigter wahrer Glaube, handelt.788 Was ist dann
aber die vermeintliche „Wahrheit“ und worin unterscheidet sich deren Darstellungs-
form sowie ihr Gegenstand, der als die ein Sein ausdrückenden „Ideen“ ausgewiesen
wird, von besagter „Erkenntnis“, die ja selbst Anspruch auf Wahrheit erhebt?
Einerseits scheint es offensichtlich einen Unterschied in der temporalen Struktur
der ‚kognitiven‘ Gegenstände von „Erkenntnis“ und „Wahrheit“ zu geben, da man die
Erstere besitzen kann, während die Zweite sich bloß realisiert. Andererseits wird am
Ende des zitierten Passus gerade das „Sein“, seines Zeichens Inbegriff statischer
Ontologien, als Gegenstand der „Wahrheit“ und eben nicht der „Erkenntnis“ aus-
gewiesen. Zum besseren Verständnis dieses „Seins“-Begriffes ist es hilfreich, sich der
unmittelbar mit ihm verknüpften Darstellung der Ideen im VI. Abschnitt der „Erkennt-
niskritischen Vorrede“ zu widmen. Diese nimmt, nachdem in den Abschnitten III-V
eine Adaption von Platons Ideenlehre aus dem Symposion erfolgt und in Anschluss an
diese das Verhältnis von Begriff und Idee bestimmt wird, die Unterscheidung von
„Wahrheit“ und „Erkenntnis“ wieder auf:

788 Als alternative Folie für den in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ zurückgewiesenen Erkennt-
nisbegriff bietet sich – nicht zuletzt aufgrund der zur Beschreibung desselben in der Vorrede ver-
wendeten Begriffsapparates – die Philosophie Kants an.
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 353

Der Gegenstand der Erkenntnis als ein in der Begriffsintention bestimmter ist nicht die Wahrheit.
Die Wahrheit ist ein aus Ideen gebildetes intentionsloses Sein. Das ihr gemäße Verhalten ist
demnach nicht ein Meinen im Erkennen, sondern ein in sie Eingehen und Verschwinden. Die
Wahrheit ist der Tod der Intention. […] Als ein Ideenhaftes ist das Sein der Wahrheit verschieden
von der Seinsart der Erscheinungen. Also erfordert die Struktur der Wahrheit ein Sein, das an
Intentionslosigkeit dem schlichten der Dinge gleicht; an Bestandhaftigkeit aber ihm überlegen
wäre. Nicht als ein Meinen, welches durch die Empirie seine Bestimmung fände, sondern als die
das Wesen dieser Empirie erst prägende Gewalt besteht die Wahrheit. (GS I 1, S. 216)

Hier wird bereits im ersten Satz der ‚Erkenntnisgegenstand‘ als ein durch die „Begriffs-
intention“ zu bestimmender und bestimmbarer ausgewiesen und somit die bereits
zuvor geäußerte Vermutung, dass es sich bei dem von der „Erkenntniskritischen Vor-
rede“ verhandelten Verständnis der „Erkenntnis“ um den Erkenntnisbegriff der Benja-
min zeitgenössischen positiven Wissenschaften handelt, wenn schon nicht vollständig
bestätigt, so doch zumindest bestärkt, steht doch der Terminus der intentio im Zentrum
scholastischer Erkenntnistheorien und bezeichnet dort die Repräsentation eines Objek-
tes im Bewusstsein bzw. das Gerichtetsein des Bewusstseins auf ein Objekt. Auf diesem
philosophiegeschichtlichen Hintergrund kann dann auch die in der „Erkenntniskriti-
schen Vorrede“ präsentierte Variante der „Erkenntnis“, verstanden als ein in der Be-
griffsintention bestimmter einzelner Gegenstand, als das Resultat eines auf einem
adäquationstheoretischen Wahrheitsbegriff fußenden kognitiven Prozesses gedeutet
werden.
Laut der oben zitierten Passage unterschiedet sich von dieser die „Wahrheit“
gerade dadurch, dass sie jeglicher Intentionalität entbehrt. Im Anschluss an diese,
auch schon im I. Abschnitt des Textes artikulierte Feststellung kommt es zu einer
ontologischen Ausdifferenzierung zwischen der den Gegenstand der „Erkenntnis“
bildenden „Seinsart der Erscheinungen“ und der Seinsweise der Ideen, welche die
intentionslose „Wahrheit“ zum Ausdruck bringt: Letztere bestimme erst das Wesen
der Empirie, sie sei deren „prägende Gewalt“. Heißt das, dass der Benjamin’sche Text
schlichtweg auf jene in der abendländischen Metaphysik weitverbreitete, zwischen
dem ‚wahren Sein‘ und den Erscheinungen der Empirie unterscheidende Zwei-Welten-
Ontologie zurückgreift? Insbesondere der im II. und III. Abschnitt der Vorrede erfol-
gende Rückgriff auf die Ideenlehre Platons scheint diese Vermutung zu bestätigen.
Dass man es hier allerdings nicht eigentlich mit einer schlichten Wiederaufnahme
jener Variante der abendländischen Metaphysik, die in Platons mittleren Dialogen ihre
erste Ausgestaltung fand, zu tun hat, wird ersichtlich, wenn man einen Blick auf das
weitere Textgeschehen des VI. Abschnittes wirft. Dieser setzt folgendermaßen fort:789

789 Es ist im Rahmen der vorliegenden Studie nicht möglich, sich in extenso der Forschungsdebatte
um den Wahrheitsbegriff in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ im Besonderen sowie von Benjamins
Wahrheitsverständnis im Ganzen zu widmen, dessen jüngere Auslegungen stark voneinander diver-
gieren. So deutet Jean-Michel Palmier das Wahrheitskonzept der „Erkenntniskritischen Vorrede“ aus
dem sich in ihm vollziehenden Bruch mit Kantischen, neukantianischen und phänomenologischen
354 Exkurs

Das aller Phänomenalität entrückte Sein, dem allein diese Gewalt eignet, ist das des Namens. Es
bestimmt die Gegebenheit der Ideen. Gegeben aber sind sie nicht sowohl in einer Ursprache,
denn in einem Urvernehmen, in welchem die Worte ihren benennenden Adel unverloren an die
erkennende Bedeutung besitzen. (GS I 1, S. 216)

In diesen beiden Sätzen wird der Seinsbegriff mit Hilfe einer sprachphilosophischen
Konzeption erläutert, die in ihrer Dunkelheit derjenigen des auf den ersten Blick
traditionellen Kontexten enthobenen Seinsbegriffes um nichts nachsteht. Die im
ersten der beiden Sätze gemachte Behauptung, dass das Sein aller Phänomenalität
entrückt sei, scheint auf den ersten Blick die vermutete Existenz einer dem hier
beschriebenen Konzept zugrundeliegenden Zwei-Welten-Ontologie zu bestätigen.790

Positionen sowie aus der parallel zu diesem Bruch erfolgenden Wiederaufnahme zentraler Momente
der romantischen Ästhetik. Laut Palmier sei für Benjamin dementsprechend „Wahrheit […] die Dar-
stellung ihrer selbst als Form, die über das Bewußtsein hinausgeht und zu einem Sein gehört“ (Palmier
2009, S. 716).
Jan Urbich geht in seiner Deutung des in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ ‚artikulierten‘ Wahr-
heitsverständnisses einen Schritt über Palmier hinaus, indem er die diesem ‚Konzept‘ eingeschriebene
Differentialität mit Nachdruck betont: „Wahrheit wird dabei zuerst als zeitliches, historisch progressi-
ves Konzept (‚Wendung‘) entworfen und an die intrinsische Zeitlichkeit ihrer Darstellung rückgebun-
den. In der Exteriorität der Wahrheit wird diese als wurzelnd in einem messianischen Außer-Sich-Sein
und so als Ungleichzeitigkeit mit sich selbst verstanden. Damit nimmt die Differentialität der Wahr-
heit, d.h. ihr wesentliches Bestimmtsein durch Unterschiede an sich selbst und zu sich selbst, von
Anfang an eine konstitutive Funktion für die Repräsentationsrolle der Darstellung ein.“ (Urbich 2012,
S. 322)
Während also insbesondere in Betreff des Vollzugscharakters der Wahrheit Übereinstimmung in
der Forschung zu herrschen scheint, wird das von Urbich angesprochene differentielle Moment
derselben durchweg kontrovers verhandelt. So wird zum Beispiel in Michael Bröckers Artikel zur
„Sprache“ in Benjamins Begriffe ein solches ausgeschlossen, wenn dieser dort feststellt: „Indem er [=
der Philosoph; A.P.] mit Hilfe der Begriffe die Phänomene zu einem Bild der Wahrheit konfiguriert,
überführt er sie aus dem Bezirk der Kontingenz und des Nichtseienden in den des Seins“ (Bröcker 2011,
S. 756).
790 Gegen ein rein ontologisches Verständnis der Ideen und dem von diesen zur Darstellung gebrach-
ten Sein wenden sich unter anderem Sven Kramer und Jean-Michel Palmier.
Grundlage von Kramers Zurückweisung eines derartigen Verständnisses der Idee, welche er auf
der Folie von Goethes Begriff des Ideals liest, ist seine Auslegung von Benjamins Überwindung
traditioneller Deutungen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. Im Zuge desselben „durchdringen sich in
ihm [= Benjamins Denken; A.P.] immer wieder die subjektiven Vermögen mit Einflüssen, die dem
Subjekt vorausgehen“ (Kramer 2003, S. 61). Dieses Zusammenspiel manifestiere sich nach Kramer
auch in der Bestimmung der Idee als „objektive Interpretation“ (GS I 1, S. 214) der Phänomene und
führe letztendlich zu einer Zähmung des im Begriff der sich offenbarenden Wahrheit artikulierenden
„objektivistische[n], essenzialistische[n] Extrem[s]“ (Kramer 2003, S. 62) von Benjamins Philosophie.
Der in Kramers Zurückweisung einer rein ontologischen Lektüre der Idee hervortretente paradoxe
Charakter derselben – sie wird einerseits im jeweiligen Werk aus dessen Elementen konstelliert und
geht dabei an manchem Punkte über konkrete Momente besagter Elemente hinaus, indem sie die sie
konstellierenden Elemente zugleich objektiv interpretiert – tritt auch in Palmiers Auseinandersetzung
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 355

Deren Vermittlung erfolgt mit Hilfe eines Sprachverständnisses, das – wie unter
anderem Winfried Menninghaus gezeigt hat791 – die frühen sprachphilosophischen
Spekulationen Benjamins wieder aufnimmt und fortführt. Dieses Sprachverständnis
wird ein paar Sätze weiter anhand seines Verhältnis zu dem zentralen ‚Terminus‘ der
„Idee“ weiter konkretisiert:

Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in
welchem es Symbol ist. Im empirischen Vernehmen, in welchem die Worte sich zersetzt haben,
eignet nun neben ihrer mehr oder weniger verborgenen symbolischen Seite ihnen eine offen-
kundige profane Bedeutung. Sache des Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des
Wortes, in welchem die Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen
gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinen Primat wieder einzusetzen. (GS I 1,
S. 216f.)

Hier kommt es zu einer Wiederaufwertung des im Zuge der im IV. Abschnitt der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ noch im Rahmen der dort erstmals erfolgenden und
in den Abschnitten VII bis XI wiederaufgenommenen Begriffskritik diffamierten „Wor-
tes“ durch die Einführung bzw. Wiederaufnahme eines Sprachverständnisses, das
dem schriftlichen Zeichen neben der von ihm repräsentierten ‚profanen Bedeutung‘
auch einen symbolischen Gehalt zugesteht.792 Laut Winfried Menninghaus kommt es
dabei zu einer „sprachphilosophische[n] Differenzierung der Sprache in zwei Spra-

mit dem ontologischen Status der Idee zu Tage. Dieser konstatiert: „Die Idee ist für Benjamin keine
reine ontologische Bestimmung oder ein Modell. Ihrer Natur nach ist sie nicht ‚eine‘, es handelt sich
um eine Kristallisation von Elementen.“ (Palmier 2009, S. 726) Dennoch ist auch für Palmier „ihre
Existenz nicht von den Phänomenen abhängig“ (Palmier 2009, S. 727).
791 Menninghaus geht in seiner bekannten Benjamins ‚Theorie der Sprachmagie‘ gewidmeten Studie
sogar soweit, aufgrund einer brieflichen Äußerung Benjamins, in welcher dieser behauptet, dass die
„Ideenlehre“ der „Erkenntniskritischen Vorrede“ ein „frisiertes Stadium“ (Benjamin, Briefe zitiert nach
Menninghaus 1995 [1980], S. 80) seiner frühen Spracharbeit sei, für die Lektüre eben dieser Vorrede die
methodologische Prämisse aufzustellen, dass für das „Verständnis [derselben; A.P.] der Rekurs auf
den Sprachaufsatz nicht nur legitim, sondern geradezu zwingend“ (Menninghaus 1995 [1980], S. 80)
sei.
792 Hier ist darauf hinzuweisen, das besagte Begriffskritik, obwohl schon in den früheren Abschnitten
präsent – so zum Beispiel, wenn in Abschnitt IV festgestellt wird, dass das „Allgemeine als ein Durch-
schnittliches darlegen zu wollen, […] verkehrt“ (GS I 1, S. 215) sei – erst in den Abschnitten VII bis XI in
der dort durchgeführten kritischen Absetzung der ‚kontemplativen Einsicht in die Ideen‘ von Induktion
und Deduktion zu ihrem eigentlichen Höhepunkt gelangt. Im Zuge derselben wird deutlich, dass
Benjamins Ideentheorie der Vorrede sich eindeutig von der „platonische[n] Hypostasierung von All-
gemeinbegriffen wie ‚Gattungen‘ etc.“ (Urbich 2012, S. 223) absetzt.
Dasselbe gilt für induktiv gewonnene Artbegriffe, die ihres impliziten Psychologismus überführt
werden: „Bei der so entstandenen Häufung von Fakten […] [bleibt] der Untersuchung, die, um das
‚Gemeinsame‘ zu ergründen, dieser Stapelei sich unterzog, nichts in Händen […] als einige psycho-
logische Daten, die in der Subjektivität […] des […] Normalbürgers das Verschiedengeartete durch die
Gleichheit einer ärmlichen Reaktion zur Deckung bringen.“ (GS I 1, S. 219) Siehe dazu auch ausführ-
licher Urbich 2012, S. 220–223.
356 Exkurs

chen: die mitteilend-semiotische und die magisch-unmittelbare“793. Dieses Sprach-


verständnis ermöglicht letztendlich eine Rehabilitierung des ‚Begriffes‘, der zum Ver-
mittler zwischen den empirischen „Phänomenen“ und der „Idee“ wird. Bereits am
Ende des V. Abschnittes wird diese Vermittlungsfunktion des Begriffes im Anschluss
an die dort ebenfalls zu findende Zurückweisung des traditionellen Verständnisses
des Allgemeinbegriffes dargelegt, wenn es am Ende des Abschnittes heißt:

Die Einsammlung der Phänomene ist die Sache der Begriffe und die Zerteilung, die sich kraft des
unterscheidenden Verstandes in ihnen vollzieht, ist um so bedeutungsvoller, als in einem und
demselben Vollzuge sie ein Doppeltes vollendet: die Rettung der Phänomene und die Darstellung
der Ideen. (GS I 1, S. 215)

In Anbetracht dieser Rehabilitierung des zuvor diskreditierten Begriffes stellt sich die
Frage, worin sich die hier angesprochene ‚begriffliche Zerteilung‘ eigentlich von der
begrifflichen „Erkenntnis“ unterscheidet.794 Die Antwort auf diese mehr als berechtig-
te Frage führt einen in den Kern der Benjamin’schen ‚Darstellungstheorie‘, welche im
V. Abschnitt der „Erkenntniskritischen Vorrede“ ausformuliert wird. Der Abschnitt
setzt mit folgenden Sätzen ein:

Der Stab von Begriffen, welcher dem Darstellen einer Idee dient, vergegenwärtigt sie als Kon-
figuration von jenen. Denn in Ideen sind die Phänomene nicht einverleibt. Sie sind in ihnen nicht
enthalten. Vielmehr sind die Ideen deren objektive virtuelle Anordnung, sind deren objektive
Interpretation. Wenn sie die Phänomene weder durch Einverleibung in sich enthalten, noch sich
in Funktionen, in das Gesetz der Phänomene, in die ‚Hypothesis‘ verflüchtigen, so entsteht die
Frage, in welcher Art und Weise sie denn die Phänomene erreichen. Und zu erwidern ist darauf:
in deren Repräsentation. Als solche gehört die Idee einem grundsätzlich anderen Bereiche an als
das von ihr Erfaßte. (GS I 1, S. 214)

In dieser Passage werden endgültig die epistemologischen Konsequenzen der zuvor


bereits dargelegten dualistischen Konzeption des sprachliche Zeichens bzw. des
Begriffes ersichtlich: Indem sich die „Zerteilung“ der Begriffe in „dingliche[ ] Elemen-
te“ zur Idee genauso verhält wie die Elemente der Phänomene zu den Ideen selbst
können auch Letztere über die Elemente der Begriffe erfasst werden.795 Die sprach-

793 Menninghaus 1995 [1980], S. 82. – Siehe zum frühen Sprachverständnis Benjamins auch Bröcker
2011, insbesondere S. 740–751.
794 Explizit stellt diese Frage Menninghaus 1995 [1980], S. 87.
795 Menninghaus 1995 [1980], S. 88. – An diesem Punkte ist die Vorstufe zum Trauerspielbuch um
einiges eindeutiger als die letztendlich publizierte Fassung. Über das Verhältnis von Phänomen,
Begriff und Idee heißt es dort: „Die Begriffe, jene vermittelnden Wesen nun, sind eben von der Seite der
Idee her deren [= der Wahrheit; A.P.] Teile, von der Seite der Phänomene her deren Elemente. Sie retten
die Phänomene eben dadurch, daß sie in der Aufteilung in Elemente ihnen Anteil geben an dem Sein
der Ideen als deren Teile. […] Die Unterscheidung in Begriffen ist über den Verdacht jedweder
zerstörerischen Spitzfindigkeit nur dort gesichert, wo sie auf jene Bergung der Phänomene in den Ideen
[…] es abgesehn hat. Durch ihre Vermittlerrolle verleihen die Begriffe den Phänomenen Anteil am Sein
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 357

lichen Zeichen bzw. Begriffe denotieren die Ideen nicht direkt, sondern (re-)präsentie-
ren sie. Die hier beschriebene (Re-)Präsentationsform unterscheidet sich konsequen-
terweise gravierend von traditionellen sprachphilosophischen Zeichentheorien, nach
welchem ein beliebiger sprachlicher Signifikant ein konventionell festgelegtes Signifi-
kat repräsentiert:

Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst:
sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene
und in keiner Weise können diese Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft
sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen. […] Die Ideen
sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen
erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich. (GS I 1, S. 214)

Indem die Begriffe aus den Phänomenen Elemente derselben herauslösen, bezeich-
nen sie nicht nur diese in einem ‚profanen Sinne‘, sondern bringen parallel dazu auch
die in diesen Phänomenen waltende „prägende Gewalt“ – die Idee – zum Ausdruck:
„[D]ie begrifflichen ‚Zerteilungen‘ und ‚Stationen der Betrachtung‘ leisten ‚nicht an
sich selbst‘ oder in ihrer Addition bzw. logischen Kette, sondern erst in ihrer dis-
kontinuierlichen ‚Konfiguration‘ das Darstellen der Sprachidee“796.
Überträgt man Benjamins Konstellationsbegriff auf literarisch-wissenschaftliche
Texte, folgt aus diesem, dass die sprachlichen Zeichen eines solchen Textes nicht nur
qua deren historisch festgelegter Standardbedeutungen einen Bedeutungszusammen-
hang stiften, sondern synchron zu diesem, einen das Textgeschehen prägenden
Sinnzusammenhang – dessen Idee – zur Darstellung bringen. Anders formuliert: Ein
literarisch-wissenschaftlicher Text bildet, wenn er die hier von Benjamin beschriebe-
ne Darstellungsform realisiert, eine semiotische Konstellation, die neben den konkre-
ten sprachlichen auch noch eine zusätzliche Sinndimension (re-)präsentiert; umge-
kehrt weist diese Konstellation auch den Standardbedeutungen einen Platz im
semiotischen Gefüge des Textes zu.
Jenseits dieser Applikation des Konstellationsbegriffes auf die Text- und Literatur-
theorie, die hier später noch für die Beschreibung der konstellativen Darstellungsform
der Götzen-Dämmerung von Nutzen sein wird, lichten sich eingedenk dieses Konzep-
tes auch die im Begriff der „Kontemplation“ kulminierenden methodologischen Re-
flexionen der „Erkenntniskritischen Vorrede“. Für ein Denken, das sich die ‚Einsicht‘
in die Ideen qua Erfassung von deren Konstellation als eigentliches Telos gesetzt hat
und das auf dem Wege zu diesem Ziel auch noch die ‚Phänomene retten‘ möchte,
wird – wie es im I. Abschnitt der Vorrede heißt – „das unablässige Atemholen […] die
eigenste Daseinsform“ (GS I 1, S. 208). Nur solcherart kann es „den unterschiedlichen

der Idee. Aber eben diese Vermittlerrolle macht sie tauglich zu der andern, gleich ursprünglichen
Aufgabe der Philosophie: der Darstellung der Ideen. Indem die Rettung der Phänomene sich vermittels
der Ideen vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie.“ (GS I 1, S. 934)
796 Menninghaus 1995 [1980], S. 88.
358 Exkurs

Sinnstufen bei der Betrachtung eines und desselben Gegenstandes“ (GS I 1, S. 208)
folgen und so jedem einzelnen Mosaikteilchen jene Aufmerksamkeit schenken, die
zur Erfassung von dessen individuellem Charakter sowie des aus den verschiedenen
Mosaikteilchen in potentieller Diskrepanz zu deren jeweiliger Individualität von die-
sen konfigurierten Bildes notwendig ist.797
Dieser bereits im I. Abschnitt der „Erkenntniskritischen Vorrede“ ausführlich
verhandelte Kontemplationsbegriff wird im XI. Abschnitt im Zuge der dort erfolgen-
den Weiterführung der Kritik an der Deduktion wiederaufgenommen.798 Im Anschluss
an diese Kritik wird mit der Einführung eines alternativen Verständnisses von „Ur-
sprung“ dem Seinsverständnis der Vorrede eine weitere bedeutsame Nuance hin-
zufügt. Diese habe „wiewohl durchaus historische Kategorie, […] mit Entstehung
dennoch nichts gemein“ (GS I 1, S. 226):

Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Ent-
springendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine
Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen
gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine
Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvoll-
endetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein. In jedem Ursprungsphänomen bestimmt
sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich aus-
einandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. Also hebt sich der
Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und
Nachgeschichte. Die Richtlinien der philosophischen Betrachtung sind in der Dialektik, die dem
Ursprung beiwohnt, aufgezeichnet. Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und
Wiederholung durcheinander sich bedingt. (GS I 1, S. 216)

Wie diese Passage belegt, kommt es durch die Einführung des „Ursprungs“ zu einer
Dynamisierung der Idee und derartig zugleich zu einer gewichtigen Verschiebung in

797 Auf diesen Sachverhalt, sprich die Tatsache, dass eine derartig verstandene Kontemplation zwar
nicht beim einzelnen Element stehen bleibt und dennoch jedem Element eines untersuchten Phäno-
mens die ihm gebührende Beachtung schenkt, verweist auch David S. Ferris, wenn er im Zuge seiner
sich den adäquaten Lektüremethoden von Benjamins Oeuvre widmenden „Introduction“ zum Cam-
bridge Companion to Walter Benjamin feststellt: „The end effect is to induce a contemplation, but not
simply the contemplation of a single object as would be the case when we understand contemplation
to describe the way in which our thought can be wholly preoccupied by whatever we direct our
attention toward. Rather, contemplation is here understood as a process in which the different levels of
meaning that can be attached to the original object are recognized and experienced.“ (Ferris 2006, S. 4)
798 So heißt es dort: „Für die wahre Kontemplation dagegen verbindet sich die Abkehr vom dedukti-
ven Verfahren mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigem Zurückgreifen auf die
Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange
ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist.“ (GS I 1, S. 225)
Anhand des hier zum Ausdruck kommenden Verständnisses der Kontemplation wird die in der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ erfolgende Ablehnung einer Ersetzung der Schlussverfahren der
Induktion und Deduktion durch eine intelligible Anschauung verständlich.
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 359

der in der Vorrede selbst als platonisch bezeichneten „Ideenlehre“. Die qua Kontem-
plation erfolgende Einsicht in die sich im Werke konstellierende Idee wird hier als
eine notwendig doppelte ausgewiesen. Diese Doppelheit ist eine Folge der durch das
Konzept des Ursprungs der Idee miteingeschriebenen Geschichtlichkeit derselben.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass in einem historisch determinierten Werk die
sich in ihm zur Darstellung bringende Idee sowohl ihren jeweiligen geschichtlichen
Ort – eben ihren Ursprung – als auch ihre potentielle Endform zum Ausdruck bringt.
Insofern ist die Idee zeitlich determiniert und atemporal zugleich. Ihr Wesen tritt erst
im Zuge einer Berücksichtigung sämtlicher ihrer Extreme zu Tage und offenbart dabei
zugleich seinen monadologischen Charakter:

Denn der Seinsbegriff der philosophischen Wissenschaft ersättigt sich nicht am Phänomen,
sondern erst an der Aufzehrung seiner Geschichte. Die Vertiefung der historischen Perspektive in
dergleichen Untersuchungen kennt, sei es ins Vergangene oder ins Künftige, prinzipiell keine
Grenzen. Sie gibt der Idee das Totale. Deren Bau, wie die Totalität sie im Kontrast zu der ihr
unveräußerlichen Isolierung prägt, ist monadologisch. (GS I 1, S. 228)

Erst auf diesem Hintergrund wird es verständlich, wie die Idee trotz ihrer ‚Ursprüng-
lichkeit‘ „objektive Interpretation“ der Phänomene sein kann: Indem die Idee „virtu-
ell, also der Potenz nach, noch die Historizität des Werks erfasst“799, kann sie letzt-
endlich dessen eigentliches Sein feststellen: „Die Idee ist Monade. Das Sein, das da
mit Vor- und Nachgeschichte in sie eingeht, gibt in der eigenen verborgen die ver-
kürzte und verdunkelte Figur der übrigen Ideenwelt“ (GS I 1, S. 228). Wie diese
Bestimmung belegt, löst sich durch die Wiedereinführung der Monade die die gesam-
te „Erkenntniskritische Vorrede“ kennzeichnende Spannung zwischen der Bestim-
mung der Idee als transzendent und dementsprechend von den Phänomenen un-
abhängig mit der synchron zu dieser Bestimmung erfolgenden Charakterisierung
derselben als immanent und dem Werden anheimgegeben auf: In der bzw. den Ideen
manifestiert sich einerseits die den sie (re)präsentierenden Phänomenen eignende
Historizität, andererseits wird Letztere, dadurch das die Idee zugleich aufgrund ihres
monadologischen Charakters „in sich die Miniatur des Ganzen trägt“ (GS III 1, S. 51),
aus einem messianisch verstandenen Ende der Geschichte heraus suspendiert, was

799 Kramer 2003, S. 66. – Die diesen Sachverhalt zum Ausdruck bringende Primärstelle findet sich am
Anfang des Abschnittes zur Monadologie. Sie lautet: „Die philosophische Geschichte als die Wissen-
schaft vom Ursprung ist die Form, die da aus den entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der
Entwicklung die Konfiguration der Idee als der durch die Möglichkeit eines sinnvollen Nebeneinanders
solcher Gegensätze gekennzeichneten Totalität heraustreten läßt. Die Darstellung einer Idee kann
unter keinen Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen
Extreme nicht abgeschritten ist; Das Abschreiten bleibt virtuell. Denn das in der Idee des Ursprungs
Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen
würde. Innen erst kennt es Geschichte, und zwar nicht mehr im uferlosen, sondern in dem aufs
wesenhafte Sein bezogenen Sinne, der sie als dessen Vor- und Nachgeschichte zu kennzeichnen
gestattet.“ (GS I 1, S. 227)
360 Exkurs

die Idee dazu befähigt, den Phänomenen ihr Siegel aufzudrücken und solcherart zu
deren „prägende[r] Gewalt“ zu werden.

Versucht man sich an einer Zusammenführung der soeben sehr sporadisch referierten
‚Darstellungstheorie‘ aus Walter Benjamins „Erkenntniskritischer Vorrede“ aus dem
Ursprung des deutschen Trauerspiels mit den Resultaten der Lektüre von Nietzsches
Götzen-Dämmerung zum Zwecke der Erhellung der in Letzterer vorherrschenden Dar-
stellungsform und Schreibweise, bietet sich als Ausgangspunkt ein Vergleich der
sprachphilosophischen Grundannahmen der beiden Texte bzw. der sich in diesen
manifestierenden Philosophien an, scheint doch gerade im Fokus auf sprachphiloso-
phische Problemkonstellationen eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen den bei-
den Werken zu bestehen. Diese geht entschieden über den bloßen Fokus auf besagte
Problemkonstellationen hinaus, da beide Texte – wie überhaupt das Gesamtwerk der
beiden Denker – sich in einer Kritik und partiellen Verabschiedung der korrespon-
denztheoretischen Wahrheitsauffassung treffen.800 Sowohl Nietzsches als auch
Benjamins Gesamtwerk beziehen einen ihrer zentralen Innovationsimpulse aus der
kritischen Auseinander- und Absetzung von dieser so wirkungsmächtigen ‚Wahrheits-
theorie‘ und sowohl die Götzen-Dämmerung als auch die „Erkenntniskritische Vor-
rede“ verzichten, trotz des immensen Stellenwertes den die Kritik an der vermeintli-
chen adaequatio rei ad intellectum in den Schriften der beiden Autoren innehat, auf
eine konkrete kritische Zurückweisung derselben. An Stelle einer solchen direkten
Kritik tritt in den beiden hier verhandelten Texten eine bloß implizite Verabschiedung
besagter Adäquationstheorie, die sich insbesondere aus deren kritischer Auseinander-
setzung mit dem ‚Begriff des Begriffes‘ rekonstruieren lässt. Sowohl in der Götzen-
Dämmerung als auch in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ Benjamins wird das
traditionelle Verständnis des Allgemeinbegriffes verstanden als der „Inbegriff aller
Merkmale, die wir als das Wesen einer Sache bestimmend, constituierend in einer
Reihe von Urteilen aussagen können“801 als unhaltbar zurückgewiesen und durch
alternative Konzepte – die Figurengestaltung bei Nietzsche, die Idee bei Benjamin –
ersetzt. Im Zuge dieser Ersetzung werden besagte Alternativen nicht nur theoretisch
reflektiert, sondern auch textintern realisiert, was in beiden Fällen zu einer Form des
konstellativen Schreibens führt, die nun im Folgenden erhellt werden soll.
Trotz besagter Parallelen – dies sollte die Zusammenfassung der zentralen Topoi
der „Erkenntniskritischen Vorrede“ bereits gezeigt haben – unterschieden sich die
beiden Texte an entscheidenden Punkten in ihren im Anschluss an die Zurückwei-
sung der Korrespondenztheorie entwickelten und partiell darstellerisch umgesetzten

800 Zum erkenntnistheoretischen Kontext dieser bei Benjamin nicht explizit gemachten Kritik siehe
unter anderem Bröcker 2011 und dort insbesondere die S. 753f., auf welchen Bröcker die zwei in der
„Erkenntniskritischen Vorrede“ entwickelten Wissenschafts- und Wahrheitsbegriffe einander gegen-
überstellt und aus ihrem geistesgeschichtlichen Kontext deutet.
801 Eisler 1904, S. 125.
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 361

Sprach- und ‚Erkenntnistheorien‘. Diese Unterschiede lassen sich sehr leicht über die
ebenfalls voneinander divergierenden Wahrheitskonzeptionen rekonstruieren.802
Während in der Götzen-Dämmerung sämtliche Zwei-Welten-Ontologien samt der mit
ihnen einhergehenden Sprach- und Erkenntnistheorien auf Basis eines selbstbezüg-
lichen Holismus als Dekadenzphänomene zurückgewiesen werden, scheint die „Er-
kenntniskritische Vorrede“ auf den ersten Blick genau eine solche Zwei-Welten-
Ontologie durch ihre Unterscheidung von „Idee“ und „Phänomen“ zu propagieren
und solcherart den nominalistisch erscheinenden Sprachdeterminismus der Götzen-
Dämmerung durch eine magisch-utopische Sprachauffassung zu ersetzen. Zwar lässt
die „Erkenntniskritische Vorrede“ letztendlich besagten Dualismus hinter sich, indem
sie auf das bereits aus Benjamins frühen Spracharbeiten bekannte ‚Konzept‘ des
adamitischen Namens rekurriert, in welchem sich die Idee zu Darstellung bringt,803
verlässt so aber zugleich jenen Sprachskeptizismus, der Nietzsches Sprachdenken seit
seinem Frühwerk kennzeichnet. Diese Differenzen in der Sprachtheorie führen letzt-
endlich dazu, dass die epistemologische Alternative der „Erkenntniskritischen Vor-
rede“ zu traditionellen Erkenntnisformen, sprich: die „Idee“, genauso wie das sie im
weiteren Werk Benjamins ersetzende „dialektische Bild“ sich durch ihren utopisch-
metaphysisch Charakter von den in der Götzen-Dämmerung eingeführten, alternativen
Erkenntnisformen abweicht. Letztere werden in besagtem Text nur mehr implizit –
über die Schreib- und Denkpraktiken des ‚Dionysischen‘ – bezeichnet und unterschei-
den sich von der „Idee“ insbesondere dadurch, dass sie im Zuge ihrer Darstellung
durch die ihnen eingeschriebenen Selbstbezüglichkeiten die in Benjamins Spätwerk
allgegenwärtige Spannung zwischen objektiver Darstellung der „Idee“ und dem diese
darstellenden materialistischen Kritiker mit Hilfe eines Persönlichkeitskonzeptes,
welches die relational-bedingte Struktur des Kritikers in ihre Präsentationsform auf-
nimmt, auflöst.804

802 Die Rede von einer in der Götzen-Dämmerung artikulierten Wahrheits- und Erkenntnistheorie mag
verwundern, wurde doch im Zuge der Lektüre ausgewählter Kapitel besagten Textes gezeigt, dass
dieser derartige Theorien nicht nur durchgehend destruiert, sondern expressis verbis zurückweist.
Dennoch sind auch der Götzen-Dämmerung wahrheits- und erkenntnistheoretische Prämissen einge-
schrieben, welche die in ihr vorgebrachten Kritiken stützen. Diese werden jedoch mehrheitlich nicht
als explizite Theorien ausformuliert, sondern realisieren sich bloß im Textgeschehen. Dieser Sach-
verhalt ist im Folgenden, wenn von der ‚Wahrheits-‘ und ‚Erkenntnistheorie‘ der Götzen-Dämmerung
gesprochen wird, stets mitzubedenken.
803 Bröcker kommentiert diesen Sachverhalt wie folgt: „Benjamin will sich hier gegen zwei erkennt-
nistheoretische und ontologische Vorstellungen abgrenzen: gegen die aristotelische Synthesis von
Hyle und Eidos, durch die das Eidos als in den Dingen prädikativ Faßbares erscheint und gegen Kants
Bestimmung der intellektualen Anschauung eines Vermögens der Vernunft, bestimmte Erkenntnis-
gegenstände hervorzubringen. Die Idee selbst ist weder dinglich noch ein Gedachtes.“ (Bröcker 2011,
S. 757)
804 Diese Problematik findet sich auch in Benjamins Spätwerk, insbesondere in der dort entwickelten
materialistischen Geschichtsphilosophie, in welcher es zu einer immensen Spannung zwischen „[t]he
362 Exkurs

Dass trotz dieser auf den ersten Blick als in ihrer Distanz unüberbrückbar erschei-
nenden Erkenntnis-, Wahrheits- und Sprachkonzeptionen der beiden Bücher diese
immer noch Wesentliches gemeinsam haben, wird durch die Besinnung auf den Kern
der im Trauerspielbuch propagierten ‚Wahrheitstheorie‘ ersichtlich. Diesen charakte-
risieren Hartmut Böhme und Yvonne Ehrenspeck folgendermaßen:

Wahrheit wird – anders als begriffliche Erkenntnis – nicht gefaßt als argumentativ rechtfertig-
barer Gehalt von Ideen, sondern als Ereignis. Wie Kunst Ereignis ist, so auch Philosophie, weil
diese wie jene Form ist. Insofern kommt es elementar auf die Darstellung und den Stil von
Wahrheit an. Ja, man kann sagen: Für Benjamin ist Wahrheit mit Darstellung identisch, in dem
doppelten Sinn, wonach ‚Darstellung‘ sowohl Repräsentation wie Erzeugung ist.805

Versteht man unter dem Benjamin’schen ‚Sein‘ nicht jene statisch-parmenideische


Ontologie, die in GD Vernunft zahlreicher harscher Kritiken ausgesetzt ist, sondern
ein temporär-relationales ‚Wesensgeflecht‘ im Sinne des Benjamin’schen Konzeptes
des „Ursprungs“ und vernachlässigt den trotz allem in der „Erkenntniskritischen
Vorrede“ gegebenen metaphysischen Status der magischen Seite des dort in der
„Idee“ kulminierenden Sprachverständnisses, eröffnet sich ein Denkraum, der es
durch die minimale Adaption der in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ zum Einsatz
gebrachten Begrifflichkeit gestattet, diese auch für die Deskription des Darstellungs-
verfahrens der Götzen-Dämmerung fruchtbar zu machen. Sieht man nämlich ab vom
bei Benjamin unleugbaren metaphysischen Restcharakter seines Seinsverständnisses
und liest den im XII. Abschnitt der „Erkenntniskritischen Vorrede“ formulierten
Satz – „Damit bestimmt die Tendenz aller philosophischen Begriffsbildung sich neu
in dem alten Sinn: das Werden der Phänomene festzustellen in ihrem Sein.“ (GS I 1,
S. 228) – auf dem Hintergrund der in der Götzen-Dämmerung autoreflektierten sowie
konsequent umgesetzten symptomatologischen Vorgehensweise, d.h. als den „Ver-
such das {Heraklitische} Werden irgendwie zu beschreiben u in Zeichen abzukürzen
(in eine Art von {scheinbarem Sein} Seiendem {gleichsam} zu übersetzen – {u zu
mumisiren})“ (W I 4, S. 28), treten die kognitiv relevanten Parallelen zwischen Benja-
mins und Nietzsches ästhetischer Darstellungsform zu Tage.806

claim to the objective truth of dialectical images, and the need to articulate this claim while never-
theless explaining the role of the materialist critic“ (Penksy 2006, S. 181) kommt.
Palmier macht sie in der „Erkenntniskritischen Vorrede“ an der aus Benjamins Kantkritik resultieren-
den Verabschiedung des transzendentalen Subjekts fest, die für ihn ebenfalls problematisch wird,
„wenn die Erkenntnis Objektivität beanspruchen soll“ (Palmier 2009, S. 717).
805 Böhme/Ehrenspeck 2007, S. 461. – Siehe dazu auch die Bestimmung des Zusammenhangs von
„Idee“ und „Wahrheit“ in Urbich 2012, S. 195: „Die[ ] Ideen werden in sprachlich dichten Denkbewe-
gungen als Darstellungsgebilde bezeichnet, welche ihr Wahrsein aus eben der Formlogik der Dar-
stellung beziehen, durch die sie hervortreten.“
806 Wie hier zuvor bereits mehrfach angedeutet wurde, eignet letztendlich auch der Benjamin’schen
„Idee“ jener temporäre Status, der in den Schriften von Nietzsches Spätwerk den dort zum Einsatz
gebrachten ‚Termini‘ sowie den von diesen zur Darstellung gebrachten „Ideen“ so offensichtlich einge-
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 363

Als gemeinsamer Ausgangspunkt der beiden Texte kann dann die bereits mehrfach
angesprochene, in den beiden Texten realisierte Kritik an der Korrespondenztheorie der
Wahrheit sowie auf dieser aufbauender Wissens- und Erkenntniskonzeptionen be-
stimmt werden. In Folge dieser Kritik sind weder Benjamins „Erkenntniskritische Vor-
rede“ noch Nietzsches Götzen-Dämmerung dazu in der Lage, ‚Erkenntnistheorien‘ zu
propagieren, die den von ihnen kritisierten Varianten ähneln. Dies führt zur Entwick-
lung von Schreibweisen, welche die zentralen Prämissen besagter Varianten hinter sich
lassen und durch eine spezifisch ästhetische Darstellungsform nicht nur vorführen,
sondern komplementieren und zu überwinden trachten. Während jedoch in der „Er-
kenntniskritischen Vorrede“ die dafür entwickelte und zugleich im Zuge ihrer Reflexion
umgesetzte Darstellungsform zur Realisierung einer zwar bloß temporären, für diesen
Zeitraum jedoch objektiv-verbindlichen Seinskonzeption führt, stellt in der Götzen-
Dämmerung die dort zum Einsatz gebrachte konfigurierend-konstellative Darstellungs-
form eine direkte Reaktion auf die erkenntniskritisch-sprachphilosophische These dar,
dass der Standardgebrauch einer Sprache die in diese eingeschriebene Metaphysik
unweigerlich reproduziert. Ziel der konstellativen Schreibweise von Nietzsches Text ist
es dementsprechend, die ihm zentrale ‚Idee‘, dass jede Philosophie, d.h. jegliche Welt-
auslegung, das Resultat der Idiosynkrasien ihres Urhebers ist, in einer Art und Weise
zur Darstellung zu bringen, welche diesen Gehalt, der durch seine Ausformulierung in
apophantischen Sätzen unweigerlich in unüberwindbare Widersprüche führt, dennoch
als seinen eigentlichen ‚Wahrheitsgehalt‘ artikuliert. Dem Text gelingt dies, indem er
auf eine direkte Artikulation besagter ‚Idee‘ in Form einer propositionalen Aussage
verzichtet und sie an deren Stelle autodeiktisch zur Darstellung bringt. Synchron zu

schrieben ist, handelt es sich doch auch bei der „Idee“ aus der „Erkenntniskritischen Vorrede“ um die
qua Kontemplation freigelegte Seinsweise ästhetischer Objekte einer bestimmten historischen Epoche,
die letztendlich partiell auch deren ‚Wesen‘ mitbestimmt.
Während jedoch bei Benjamin die „Idee“ nach ihrer einmaligen Freilegung als ‚erkannt‘ zu
erachten ist, ihr also eine „gewisse[ ] Zeitlosigkeit“ (Palmier 2009, 716) zukommt, fehlt eine solche dem
Nietzsche’schen ‚Erkenntnissubjekt‘ vollständig, woraus folgt, dass die von diesem ‚symptomatolo-
gisch‘ freigelegte ‚Ideen‘ sich im Zuge einer später erfolgenden erneuten ‚symptomatologischen
Lektüre‘ durch ein anderes ‚Erkenntnissubjekt‘ in ihrem ‚Wahrheitsgehalt‘ von früheren Fassungen
unterscheiden können.
Obwohl Benjamins Konzept der „Idee“ diese bei Nietzsche dem ‚Erkenntnissubjekt‘ geschuldete,
bloß temporale Gültigkeit entbehrt, eignet auch dieser aufgrund ihrer „Ursprünglichkeit“ ein Moment
der Unvollständigkeit: „Die Rettung der Phänomene impliziert nach Benjamin nicht Versöhnung in
einer abgeschlossenen Geschichte oder in einer harmonisch vollendeten Ganzheit […]. Benjamins
Begriff des Ursprungs unterscheidet sich trotz seines restaurativen Impulses von ontotheologischem
Denken. Er denkt erstmalig die historische Unabgeschlossenheit solcher Restauration mit und ver-
weist sie in eine messianisch begriffene Zukunft, in der sich die Restauration erst vollenden kann: in
der Erlösung als dem Ende der Geschichte.“ (Böhme/Ehrenspeck 2007, S. 464f.)
Genau ein solches Ende der Geschichte ist für die Götzen-Dämmerung nicht mehr denkbar,
weswegen in besagtem Text die Unabgeschlossenheit jeglicher symptomatologischer „Restauration“
sich ad infinitum prolongiert.
364 Exkurs

dieser autodeiktischen Präsentation dieser ‚Idee‘ werden von der Götzen-Dämmerung


auch deren Konsequenzen für traditionellere Welt- und Wahrheitskonzeptionen vor-
geführt, indem diese durch den Einsatz rhetorisch-parodistischer Schreibweisen ad
absurdum geführt werden. Dies führt letztendlich dazu, dass durch die verschiedenen
Formen der der Götzen-Dämmerung eingeschriebenen Selbstbezüglichkeitsformen die
in derselben artikulierten ‚Einsichten‘, wenn man sie auf der Folie eines propositiona-
len Wissensverständnisses liest, qua Rückfaltung der im Text bloß gesetzten zentralen
Prämissen auf sich selbst selbst aufheben.807 Wie im Ursprung des deutschen
Trauerspiels können auch die eigentlichen philosophischen ‚Einsichten‘ der Götzen-

807 In Anbetracht der unmittelbaren Anbindung der im Zuge dieser Studie freigelegten
Selbstbezüglichkeitsfiguren – insbesondere der autodeiktischen Schleife – an die Figurengestaltung
der Götzen-Dämmerung, die in der vorliegenden Studie bis dato als ein synekdocheisches Changieren
zwischen Individuum und Typus beschrieben worden ist, ist zu Fragen, ob es sich bei dieser Figuren-
gestaltung nicht eigentlich um den permanenten Einsatz der rhetorischen Figur der Prosopopeia
handelt und, falls sich diese Vermutung bestätigen sollte, ob sich über den Einsatz besagter Figur, die
sich ja unmittelbar im Anziehungsbereich der Allegorie bewegt (vgl. Groddeck 2008, S. 189), nicht
noch eine weitere Parallele zwischen der Götzen-Dämmerung und Benjamins Trauspielbuch über die in
Letzterem ebenso zentrale Allegorie herstellen ließe. Deutungen des Allegorie-Begriffes aus dem Trau-
spielbuch wie die folgende von Bettine Menke scheinen eine derartige Parallele auf den ersten Blick
nahezulegen: „Allegorien bedeuten nicht bloß ein anderes, statt mimetisch darzustellen, sondern
bedeuten, indem sie das von ihr Präsentierte dementieren, und damit Vorstellung und Bedeutung
auseinandersetzen.“ (Menke 2011, S. 223) Genau dieses Auseinandertreten zwischen dem ‚Selbstver-
ständnis‘, das den in der Götzen-Dämmerung potentiell als Prosopopeia lesbaren zentralen Figuren wie
Sokrates zugeschriebenen werden kann, und ihrer symptomatologischen ‚Aushorchung‘ durch den
autodiegetischen Erzähler bildet ein zentrales Moment des Textgeschehens von Nietzsches Buch.
Dieses Auseinandertreten erreicht in der Einschreibung des intratextuellen Ichs qua Selbstbezüglich-
keitsfiguren in diesen allegorischen Prozess, d.h. in der durch besagte Figuren sich offenbarenden
Diskrepanz zwischen deren ‚Selbstbeschreibungen‘ und der diese insgeheim leitenden ihnen selbst
potentiell verborgenen Idiosynkrasien, ihren Höhepunkt. Dieses Phänomen wird auch von Menke in
ihrer Deutung des Allegorie-Begriffes betont, nach welcher Allegorien „gerade das Nichtsein dessen,
was sie vorstellen‘“ (Menke 2011, S. 223), bedeuten.
Eine derartige Zusammenführung von Benjamins Allegorie-Begriff mit Nietzsches Darstellungs-
verfahren hat Claus Zittel in Hinblick auf den Zarathustra als fehlgehende Vereinfachung des weitaus
komplexeren Textgeschehens von Nietzsches ‚Hauptwerk‘ zurückgewiesen (vgl. Zittel 2011 [2000],
S. 115). Zittels Zurückweisung einer derartigen Zusammenführung fußt jedoch vornehmlich auf dessen
Lektüre des Zarathustra auf Basis des von ihm selbst entwickelten Verständnisses der Selbstauf-
hebungsfigur, welche er als das Textgeschehen von Za bestimmend erachtet und die es verunmögli-
che, dass in Nietzsches Text „endliche Verfahren allegorisch auf ein ‚Unendliches‘ verweisen können“
(Zittel 2011 [2000], S. 115). In Anbetracht der Tatsache, dass in dieser Studie die alleinige Gültigkeit der
Selbstaufhebungsfigur für das Textgeschehen der Götzen-Dämmerung zurückgewiesen worden ist
(vgl. Kap. 2.2.4.), scheint dieser Zarathustra-spezifische Einwand gegenüber der Existenz allegorischer
Darstellunsgverfahren im Sinne Benjamins für diesen Text Nietzsches nicht zu greifen. Abgesehen
davon entwickelt Zittel selbst im Anschluss an besagte Kritik an der Lektüre des Zarathustra in
Abgrenzung zu Benjamins Allegorie-Verständnis einen Allegorie-Begriff, der sich mit demjenigen
Menkes durchweg deckt, so wenn er zum Beispiel im Zuge eines Referats des Allegorie-Verständnisses
von Heinz Schlaffer feststellt, dass die Allegorie im Gegensatz zum Symbol den Vorzug besitze,
Benjamins „Erkenntniskritische Vorrede“ und die GD 365

Dämmerung jenseits ihrer Realisierung im Textgeschehen nicht mehr in apophantische


Sätze gefasst werden, sondern bloß über den Nachvollzug eben dieses Textgeschehens
ereignishaft erfahren werden. Die sich darin offenbarende Bindung des philosophi-
schen Denkens an die ästhetische gestaltete Textur eines philosophischen Werkes geht
in der Götzen-Dämmerung gar soweit, dass in ihr nicht nur die zentralen ‚Einsichten‘,
sondern auch die Einführung seiner grundlegenden ‚Termini‘ einem konstellativen
Darstellungsverfahren folgt. Dies gilt insbesondere für den Text leitmotivisch bestim-
mende ‚Begriffe‘ wie Krieg, Psychologie, Fall, tragischer Künstler, Pessimismus, Wille
zur Macht oder das Dionysische, die in Nietzsches Text nur in seltenen Fällen eine
‚profane Bedeutung‘ besitzen und deren primärer semantischer Gehalt bereits zumeist
das Resultat besagten konstellativen Verfahrens ist.
Insofern bestätigt der Text der Götzen-Dämmerung schon auf seiner Begriffsebene
die Feststellung aus dem Eröffnungssatz der „Erkenntniskritischen Vorrede“ des
Trauerspielbuches, dass es dem philosophischen Schrifttum eigne, „mit jeder Wen-
dung von neuem vor der Frage der Darstellung zu stehen“ (GS I 1, S. 207).
Welche Konsequenzen dieses Darstellungsverfahren letztendlich für die aktuellen
Debatten zum Verhältnis von Philosophie und literarisch-ästhetischer Darstellungs-
form sowie den Möglichkeiten nichtpropositionalen Wissens zeitigt, wird das folgen-
de Kapitel zu klären versuchen.

„Diskrepanzen zwischen Erscheinung und Sinn, Inkongruenzen zwischen Gestalt und Bedeutung
darstellbar zu machen“ (Zittel 2011 [2000], S. 115).
Gewichtiger als Zittels Einwand erscheint daher für eine auf Benjamins Allegorie-Begriff fußende,
potentielle allegorische Lesart von Nietzsches Figurengestaltung in der Götzen-Dämmerung die Fest-
stellung Burkhardt Lindners, dass Benjamin sein Allegorie-Verständnis sowohl im Trauerspielbuch
als auch im Spätwerk „[i]n […] strenge[r] Bindung an eine Epochenproblematik und an eine bestimmte
Werkform […] entfaltet“ (Lindner 2011, S. 50) habe. Dies würde bedeuten, dass eine Applikation
desselben auf andere Epochen- und Werkzusammenhänge notwendig eine Verschiebung von dessen
Gehalt mit sich brächte. Eine derartige Sinnverschiebung scheint jedoch kein hinreichendes Argument
dafür zu sein, auf das heuristische Potential einer solchen Zusammenführung tatsächlich zu ver-
zichten.
Zur bisherigen Deutung der Bedeutung der Prosopopeia für Nietzsches Schreibweisen siehe Saar
2007, S. 137f.
3.2. Philosophie als ästhetischer Text: Epistemische
und epistemologische Konsequenzen der
Darstellungsformen der Götzen-Dämmerung
Kehrt man von dem soeben gelieferten kurzen Exkurs zu den leitenden Fragestel-
lungen dieses Teils der vorliegenden Studie zurück, kann man in Anbetracht der
Resultate besagten Exkurses bereits feststellen, dass sich der Text der Götzen-Dämme-
rung genau an der Schnittstelle der im Kapitel 3.1. sporadisch rekonstruierten Debat-
ten und Diskurse über das Verhältnis und die Interaktion von Philosophie und
Literatur bewegt, kommt es in ihm doch aus genuin philosophischen Gründen zur
Aktivierung jenes kritisch-heuristischen Potentials literarisch-ästhetischer Darstel-
lungsformen, welches in den letzten Jahren immer stärker ins Zentrum literaturtheo-
retischer Arbeiten gerückt ist. Bevor im Folgenden die Konsequenzen dieser Darstel-
lungsform(en) für die epistemologischen Debatten der Gegenwart herausgearbeitet
werden sollen, ist noch kurz das hier gegebene Verständnis, worum es sich bei
besagter ‚literarisch-ästhetischer Darstellungsform‘ handelt, ausgehend von der im
Kapitel 1.1. vorgebrachten Eingangsdefinition weiter zu spezifizieren, um dann aus-
gehend von derselben über eine Charakteristik von deren Spezifika in der Götzen-
Dämmerung zur Beschreibung von deren epistemischen und epistemologischen Kon-
sequenzen fortzuschreiten.
Im Kapitel 1.1. sind als literarisch-ästhetische Darstellungsformen zwei Stil- bzw.
Darstellungsmittel bezeichnet worden, die häufig aufgrund ihres unszientifischen
Charakters aus an den Naturwissenschaften orientierten philosophischen Ansätzen
verbannt werden: der Einsatz rhetorischer Figuren und Tropen sowie das Auftreten
von Selbstbezüglichkeiten. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der aktuellen Dis-
kussion zur Bedeutung ästhetischer Darstellungsformen in Literatur und Philosophie
im Kapitel 3.1. konnte insbesondere die Funktion und Bedeutung derartiger selbst-
bezüglicher Elemente weiter ausdifferenziert werden. Dabei wurde einerseits gezeigt,
dass Selbstbezüglichkeiten in Form der Selbstreflexion nicht nur in der Literatur,
sondern auch in bestimmten philosophischen Strömungen im Rahmen der in diesen
häufig vollzogenen Untersuchung der Bedingungen und Grenzen des eigenen Denk-
ansatzes eine bedeutende Rolle spielen. Andererseits konnten über die Beschäftigung
mit jüngeren Aufsätzen zu den zentralen Charakteristika des literarischen Kunstwerks
die auch in diesem häufig anzutreffenden Formen der Selbstreflexion näher bestimmt
werden. So konnte gezeigt werden, dass in der aktuellen Debatte Selbstreflexions-
phänomene in der Literatur häufig als Ausdruck von ihrem Philosophisch-Werden
verstanden werden und solcherart als zentrales Merkmal jener literarisch-ästheti-
schen Texte ausgewiesen werden, denen man eine bestimmte epistemische Funktion
und Kompetenz zugesteht. Mit diesem Zugeständnis geht zumeist eine Ausdifferenzie-
rung des Reflexionsgeschehens im literarischen Text in die Formen der ‚inneren‘ und
der ‚äußeren‘ Reflexion einher. Während sich Erstere noch in unmittelbarer Nähe des
3.2. Philosophie als ästhetischer Text 367

starken Autonomiepostulates der Ästhetik der Aufklärung bewegt und als eine häufig
bloß implizite Reflexion der einzelnen sowohl thematisch als auch formal für das
Singeschehen relevanten Elemente eines einzelnen Werks verstanden wird, garan-
tiere insbesondere die ‚äußere‘ Reflexion die Weltbezogenheit und Erkenntnisfähig-
keit des literarischen Kunstwerks. Bei dieser Differenzierung ist zu beachten, dass
gerade die auf den ersten Blick weltferne ‚innere Reflexivität‘ dazu in der Lage zu sein
scheint, neue bzw. alternative Weltzugänge zu entwickeln, da sie in manchen Werken
zu einer beinahe vollständigen Durchdringung ihrer Strukturgesetze führe und so
partiell die Entwicklung alternativer ‚Rationalitätsprinzipien‘ erlaube.
Wendet man sich mit diesem Deskriptionsapparat sowie dem diesem eingeschrie-
benen ersten Vorverständnis der Bedeutung und Funktion literarisch-ästhetischer
Darstellungsformen für die Philosophie den Lektüreresultaten des zweiten Teils der
vorliegenden Studie zu, so wird man sogleich feststellen, dass die Mehrheit der soeben
noch einmal zusammengefassten Phänomene im Zuge der Lektüre ausgewählter
Kapitel von Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung im Textgeschehen derselben
nachgewiesen werden konnten. So wurden dort zahlreiche rhetorische Figuren und
Tropen freigelegt und in ihrem konkreten Werkkontext in ihrer Funktion bestimmt. Im
Zuge der Auseinandersetzung mit diesen rhetorischen Stilmitteln konnte gezeigt wer-
den, dass ihr Einsatz letztendlich zu einem Bruch der Darstellungsform der Götzen-
Dämmerung mit den traditionellen Standard-Darstellungsformen der Philosophie
führt: An deren Stelle tritt in Nietzsches 1889 publiziertem Werk eine stark ästhetisierte
Schreibweise, in deren Folge es zur Ausbildung eines komplexen Geflechts dichter
Zeichenfolgen kommt. Ein derartiges dichtes Zeichengeflecht unterscheidet sich von
auf inferentiellen Schlussverfahren aufbauenden Darstellungsweisen insbesondere
dadurch, dass in ihm an die Stelle eindeutiger Folgerungsbeziehungen zwischen
einzelnen Sätzen ein stark kontextabhängiger intra- und intertextueller Verweisungs-
zusammenhang tritt, von welchem an manchen Punkten nicht nur die Bedeutung
eines einzelnen Satzes oder Passus, sondern gar die eines einzelnen ‚Terminus‘
abhängt. Wie gezeigt werden konnte, spielen in diesem Sinngeflecht auch nichtalpha-
betische Zeichenfolgen eine bedeutende Rolle. Das zentrale Spezifikum dieser eindeu-
tig als literarisch-ästhetisch klassifizierbaren Darstellungsweise bildet aber die Figu-
rengestaltung. Diese charakterisiert sich durch das sie prägende synekdocheische
Changieren zwischen Individuum und Typus, welches man – wie der Vergleich mit
Benjamin gezeigt hat – potentiell auch als prosopopeisch bezeichnen könnte. Da-
neben greift die Götzen-Dämmerung zur Profilierung der in ihr die Bühne des Textes
betretenden Charaktere bevorzugt auf narrative Darstellungselemente zurück, was zu
einem Zurücktreten der für die Philosophie häufig als kennzeichnend erachteten
argumentativen Struktur hinter ein auf einzelnen Charakteren bzw. Figuren fußendes
fiktionales Handlungsgeschehen führt. Im Zentrum desselben steht ein am Text-
geschehen beteiligter autodiegetischer Erzähler, anhand von dessen Urteilen und
‚Handlungen‘ der Text seine eigenen philosophischen Positionen nicht nur entwickelt,
sondern auch vorführt.
368 3.2. Philosophie als ästhetischer Text

An diese Figur, die man als den ‚eigentlichen‘ Protagonisten des Werkes bezeich-
nen kann, ist auch die Mehrheit der im Textgeschehen sich realisierenden Reflexions-
bewegungen gebunden. Diese charakterisieren sich, mit Ausnahme der in ihrer meta-
referentiellen Reichweite stark variierenden poeseologischen Metareflexionen,
insbesondere dadurch, dass sie zumeist Momente ‚innerer‘ mit Momenten ‚äußerer‘
Reflexivität verbinden. Gerade in dieser Verbindung von in ‚bloß‘ literarisch-ästheti-
schen Texten ansonsten zumeist eindeutig trennbaren Reflexionsbewegungen offen-
bart sich der genuin philosophische Charakter von Friedrich Nietzsches Götzen-Däm-
merung, die ein jedes Mal, wenn sie ihre eigene Form oder das sie charakterisierende
Vorgehen reflektiert, im Zuge dieser Selbstreflexionen durch den dabei erfolgenden
Einbezug des Lesers immer auch die innerweltliche Reichweite und Folgen dieser
Reflexionsbewegung miteinbezieht. Dies gilt für sämtliche der im Kapitel 2.2.4. nach-
gewiesenen Selbstbezüglichkeitsfiguren.
Unter ständigem Rückbezug auf die soeben noch einmal zusammengefassten
Spezifika der Darstellungsweise von Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung ist nun
abschließend zu fragen, worum es sich epistemisch bei den von Texten wie der
Götzen-Dämmerung narrativ vorgeführten und selbstreflexiv sowohl eingeholten als
auch partiell unterlaufenen ‚Einsichten‘ handelt. Wissen im Sinne der Standarddefi-
nition des Wissens als gerechtfertigter wahrer Glaube wird von besagtem Text offen-
sichtlich nicht produziert, wendet sich dieser doch gerade gegen diese Wissensdefi-
nition und zwei seiner grundlegenden Elemente, nämlich die Adäquationswahrheit
sowie die rationale Rechtfertigung durch Gründe, an deren Stelle ein komplexes
relationales Netz physio-ästhetischer Rechtfertigungen tritt. In Anbetracht dieses
Sachverhaltes drängt es sich auf, die hier zu bestimmenden ‚Einsichten‘ primär aus
ihrer Gegen-Stellung zu traditionelleren Wissenskonzepten zu bestimmen. Texte wie
die Götzen-Dämmerung zeichnen sich allerdings gegenüber anderen diese Konzepte
kritisierenden Unterfangen noch zusätzlich dadurch aus, dass sie das Scheitern
derselben nicht nur konstatieren, sondern im eigenen Textgeschehen auch vorführen.
Bei einem solchen Procedere handelt es sich um eine Form der performativen Kritik,
die konsequent die von ihr zurückgewiesenen Konzepte auf sich selbst anwendet und
derartig unter ständigem Bezug auf den von ihr kritisierten Denkraum diesen zugleich
verlässt. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass parallel zu dem durch den
soeben beschriebenen Kritikprozess aus diesem qua Selbstvorführung geschaffene
‚Einsichten‘ in gängige Wissensgenerierungen, diese auf einer narrativ-ästhetischen
(Meta-)Ebene zur Darstellung gebracht werden und sich dabei durch den permanen-
ten Selbstverweis auf die eigene Narrativität dieses Verfahrens von traditionellen
Wissensformen eindeutig absetzen, in Texten wie Friedrich Nietzsches Götzen-Däm-
merungen auch noch alternative ‚Einsichten‘ vorgeführt werden, die sich ebenfalls
jenseits des traditionellen Wissens bewegen.
Versteht man unter Philosophie diejenige Disziplin, die sich primär mit den
Bedingungen und Möglichkeiten von Erkenntnis und Wissen auseinandersetzt und
dementsprechend selbst nicht eigentlich ein solches traditionelles Wissen schafft,
3.2. Philosophie als ästhetischer Text 369

sondern Metareflexionen über dieses anstellt, zeigt sich, dass es sich bei der Götzen-
Dämmerung und der ersten von dieser transportierten Gruppe von ‚Einsichten‘ letzt-
endlich um eine historisierte und auf einzelne Personen oder Personengruppen
fokussierte Variante eines solchen erkenntnistheoretischen Unternehmens handelt,
das sich von den ihr zeitgenössischen Hauptströmungen jedoch in mehrfacher Hin-
sicht unterscheidet, sodass man die in der Götzen-Dämmerung realisierte Variante
nicht mehr als Erkenntnistheorie bezeichnen kann. Während man unter dieser am
Anfang des 20. Jahrhunderts noch „jene[n] Teil der Philosophie [verstand], der zu-
nächst die Tatsachen des Erkennens als solche beschreibt, analysiert, genetisch
untersucht […] und dann vor allem den Wert der Erkenntnis und ihrer Arten, Gültig-
keitsweise, Umfang [und] Grenzen […] prüft“808, und welcher solcherart als Metare-
flexion nur unter der Gefahr des performativen Selbstwiderspruches selbst als eine
Form der von ihm untersuchten bzw. zu entwickeln versuchten Wissensformen be-
trachtet werden kann, meidet Nietzsches Götzen-Dämmerung solche performativen
Selbstwidersprüche nicht, sondern integriert sie auf subtile Art und Weise in das
eigene Textgeschehen. Konsequenterweise wird im Zuge dieses Procederes die zweite
Gruppe der ‚Einsichten‘ des Textes – d.h. dasjenige, was in Benjamins Trauerspiel-
buch als Idee bezeichnet wird – nicht mehr in Form apophantischer Aussagesätze
artikuliert, sondern durch das komplexe Textgeschehen der Götzen-Dämmerung sowie
durch die variablen diese kennzeichnenden Formen der Selbstbezüglichkeit konstel-
lativ zur Darstellung gebracht. Dies gilt insbesondere für die zentrale ‚These‘ vom
idiosynkratischen Gehalt allen Philosophierens, die in besagtem Werk nur mehr auto-
deiktisch vorgeführt wird, wodurch sie sich der konkreten autodestruktiven Rück-
faltung auf sich selbst entzieht.
Wie verhält sich nun aber ein derartiges nur im und durch einen Text realisier-
bares Denken, dessen zentrale ‚Einsichten‘ an den Nachvollzug des Textgeschehens
durch den Leser gebunden sind, zu den im Kapitel 3.1. rekonstruierten zeitgenössi-
schen Diskursen? Aus dem bisher Dargelegten geht hervor, dass sämtliche der zen-
tralen im Textgeschehen der Götzen-Dämmerung realisierten ‚Einsichten‘ die von
Christiane Schildknecht ausformulierten, im Kapitel 3.1. vorgestellten Kriterien der
Nichtpropositionalität erfüllen, da sie weder wahrheitswertfähig sind, noch dem
Kriterium der Begrifflichkeit entsprechen. Dies gilt insbesondere für jene ‚Einsichten‘,
die an die drei im Kapitel 2.2.4. freigelegten Formen der Selbstbezüglichkeit gebunden
sind. Deren epistemischer Status soll im Folgenden etwas genauer betrachtet werden.
Von den an die Selbstbezüglichkeitsfiguren der autodeiktischen und performati-
ven Schleife sowie der ernsten Selbstparodie gekoppelten ‚Einsichten‘ bewegen sich
diejenigen, die an die autodeiktische Schleife gebunden sind, am entferntesten von
traditionellen Formen des Wissens. Dazu trägt insbesondere der im Kapitel 2.2.4.
ausführlich verhandelte Sachverhalt bei, dass besagte ‚Einsichten‘ im Text der Göt-

808 Eisler 1904, Bd. 1, S. 298.


370 3.2. Philosophie als ästhetischer Text

zen-Dämmerung selbst kein einziges Mal in Satzform artikuliert werden, sondern dass
sie bloß über die spezifische Darstellungsform in ausgewählten Kapiteln des Buches
zum Ausdruck gebracht werden. Wie der Vergleich mit Walter Benjamins „Erkennt-
niskritischer Vorrede“ gezeigt hat, bedient sich die Götzen-Dämmerung dabei eines
konstellativen Darstellungsverfahrens, das auf zahlreiche konkrete Darstellungsmit-
tel zurückgreift. Deren zentrales besteht in der Realisierung eines herausragende
Figuren der europäischen Geistesgeschichte fokussierenden Narrativs, im Zuge des-
selben diese Figuren durch den Einsatz von rhetorischen Figuren und Tropen in ihrer
Individualität vorgeführt werden und solcherart exemplarisch den idiosynkratischen
Charakter ihres Denkens und Handelns zur Darstellung bringen. Im Kapitel „Die
‚Vernunft‘ in der Philosophie“ gilt dies sowohl für den dieses durch seine Perspektive
dominierenden autodiegetischen Erzähler als auch für die von ihm in besagtem
Kapitel kritisierten ‚idiosynkratischen Philosophen‘. Resultat dieses Darstellungsver-
fahrens ist die konstellativ-autodeiktische Vermittlung der Einsicht in den uneinge-
schränkt idiosynkratischen Charakter alles menschlichen Fühlens, Denkens und Han-
delns. Diese Einsicht ist vollständig an das sich auf der konkreten Textur der Götzen-
Dämmerung realisierende Sinngeschehen gebunden, was dazu führt, dass diese eine
Variante jenes alternativen ‚Rationalitätsprinzips‘ realisiert, dessen Umsetzung Jan
Urbich als ein wichtiges Kennzeichen des modernen literarischen Kunstwerkes aus-
gewiesen hat. Wie in diesen kommt es auch in „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“
durch das dort umgesetzte konstellativ-autodeiktische Darstellungsverfahren zur Vor-
führung eines gegenüber traditionellen Argumentationsmustern alternativen Begrün-
dungs- und Erklärungszusammenhanges, aus welchem die ‚Einsicht‘ bzw. – um mit
Benjamin zu sprechen – die ‚Idee‘ des idiosynkratischen Charakters alles mensch-
lichen Fühlens, Denkens und Handelns hervortritt. Dies bedeutet zugleich, dass im
Kapitel „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ die literarische Darstellungsform jene
kritisch-heuristische Funktion übernimmt, die ihr bereits als Potential von Autoren
wie Fulda und Matuschek zugestanden worden ist. Das solcherart vom Text generierte
‚Wissen‘ ist in Form von apophantischen Sätzen nicht mehr vermittelbar, da die
Überführung desselben in eine derartige Satzform sofort in Paradoxien führt, wie im
Zuge des im Kapitel 2.2.4.2. erfolgten Versuchs der argumentativen Rekonstruktion
der autodeiktischen ‚Einsichten‘ von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ gezeigt
wurde.
Das Kapitel „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ vermeidet zunächst den unmittel-
baren Eindruck des Paradoxen, indem es seine zentrale ‚Idee‘ eben nicht aussagt,
sondern ‚zeigt‘. Wesentlich für diese Darstellungsform ist nun aber, dass sie bei dem
durch ihr zeigendes Verfahren möglich gewordenen Vermeiden der Paradoxie nicht
verharrt, sondern im eigentlich nicht-paradoxen Akt des Zeigens zugleich den para-
doxen Charakter ihrer zentralen ‚Idee‘ vorführt. Genau in diesem Darstellungsmodus,
d.h. in besagter Form des ‚Zeigens‘, die es dem Text erlaubt seine durchweg paradoxe
‚Grundidee‘ zur Darstellung zu bringen, ohne diese explizit als Paradoxie zu artikulie-
ren, ähnelt das an die autodeiktische Schleife gebundene ‚Zeigen‘ der Götzen-Dämme-
3.2. Philosophie als ästhetischer Text 371

rung der wohl bekanntesten Verwendung besagter Darstellungsform in der abend-


ländischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Die Rede ist hier von Ludwig Wittgen-
steins Logisch-philosophischer Abhandlung, besser bekannt unter dem Titel Tractatus
logico-philosophicus. Auch in diesem Text spielt die Darstellungsform des ‚Zeigens‘
eine zentrale Rolle. Wie im Folgenden gezeigt werden wird, weicht deren Bedeutung
und Funktion in Wittgensteins berühmter Abhandlung von der autodeiktischen Va-
riante in Nietzsches Götzen-Dämmerung jedoch einerseits aufgrund der Problemkon-
stellationen, auf welche die beiden Texte durch den Einsatz dieser Darstellungsform
reagieren, ab, trifft sich dabei allerdings andererseits in ihrer fundamentalen Rolle,
die sie auch für die Denkbewegung des Tractatus innehat, wieder mit Nietzsches Text.
Die Unterscheidung von ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ in Wittgensteins Tractatus stellt
bekannterweise eine Reaktion auf eine von Bertram Russells Typenlehre zu vermeiden
versuchte mengentheoretische Antinomie dar.809 In der Auseinandersetzung mit
derselben stieß Wittgenstein auf ein grundlegendes metaphilosophisches Problem:

Wittgenstein saw […], what Frege and Russell had not seen: that the search for nonempirical truth
about the conditions of the possibility of describability raises the self-referential problem of its
own possibility. […] Frege and Russell had trouble explaining how knowledge of what they called
„logic“ was possible. The problem was that logic seemed to be an exception to the conditions
which it itself laid down.810

Konkret bedeutet das nichts anders als dass, wenn man wie Wittgensteins Tractatus
die Logik zur Grundlage jeglichen sinnvollen Sprechens zu machen versucht,811 man
sich in unüberwindbaren Widersprüchen verfängt, wenn man dabei auf jenes Spre-
chen zurückgreift, dass man eigentlich qua Logik begründen möchte. Genau in
diesem Vorgehen sieht der Tractatus den Fehler Russells wie unter anderem die
folgende Stelle belegt: „Der Irrtum Russells zeigt sich darin, daß er bei der Aufstellung
der Zeichenregeln von der Bedeutung der Zeichen reden mußte.“812 Die eigentliche
Problematik eines solchen Vorgehens wird im nächsten Paragraphen nachgereicht:
„Kein Satz kann etwas über sich selbst aussagen, weil das Satzzeichen nicht in sich
selbst enthalten sein kann, (das ist die ganze ‚Theory of types‘).“813

809 Siehe dazu einführend Kenny 2008 [1972], S. 31–57.


810 Rorty 2008, S. 54.
811 Darüber, dass das zentrale Anliegen des Tractatus darin besteht, die Logik zur transzendentalen
Grundlage alles Sagbaren zu machen, herrscht in der traditionellen Wittgensteinforschung Einigkeit.
Siehe dazu einführend Vossenkuhl 2001, insbesondere S. 40ff., und Glock 2010 sowie den Paragraphen
6.13 des Tractatus selbst: „Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist
transcendental.“ (Wittgenstein 2003, S. 98)
Eine alternative Lesart des Tractatus, nach welcher auch dieser wie Wittgensteins späte Schriften
rein ‚therapeutische‘ Ziele verfolgt, wurde von den Autoren in Crary/Read 2000 entwickelt. Siehe zu
diesem Ansatz einführend Crary 2000.
812 Wittgenstein 2003, S. 26.
813 Wittgenstein 2003, S. 26.
372 3.2. Philosophie als ästhetischer Text

Wie hat unter diesen Voraussetzungen dann aber eine ‚transzendentale‘ Logik zu
verfahren, wenn einerseits gewährleistet werden soll, dass diese das sinnvolle Spre-
chen apriorisch begründet – was jedoch bedeutet, dass sie sich fern eines konventio-
nellen und arbiträren Kalküls zu bewegen hat –, dabei aber andererseits autonom,
also ohne Rückgriff auf das von ihr Beschriebene, dieses nicht nur begründen,
sondern auch in seinem Funktionieren erläutern soll? Die Antwort des Tractatus
darauf lautet schlichtweg:

Was in den Zeichen nicht zum Ausdruck kommt, das zeigt ihre Anwendung. Was die Zeichen
verschlucken, das spricht ihre Anwendung aus.814
Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm. // Was sich in der
Sprache spiegelt, kann sie nicht darstellen. // Was sich in der Sprache ausdrückt, können wir nicht
durch sie ausdrücken. // Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit. // Er weist sie auf.815
Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.816

Die Unterscheidung von Sagen und Zeigen ermöglicht dem Tractatus also die Fundie-
rung des sinnvollen Sprechens in der logischen Form der Sätze, welche sich selbst
fern paradoxer Selbstreferenzen bewegt und in der von ihr fundierten Form des
Sprechens dementsprechend nicht mehr sinnvoll ausgesagt werden kann.
Dient im Tractatus die Unterscheidung zwischen Sagen und Zeigen letztendlich
der Exklusion potentieller Selbstreferenzen und der Einführung und Festigung eines
szientifischen Sinnkriteriums, folgt der Einsatz des zeigenden Darstellungsverfahrens
in „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ gerade dem gegenteiligen Zweck. Ziel desselben
ist es weder etwaigen Selbstbezüglichkeiten zu entgehen, noch eine Grenze zwischen
sinnvollen und unsinnigen Aussagen zu etablieren, sondern eben diese Grenze qua
Selbstbezüglichkeitsfiguren zu unterwandern, um solcherart zu veranschaulichen,
dass besagte Grenze selbst auf ihren Grundannahmen widersprechenden Vorausset-
zungen basiert. Trotz des alternativen Procederes scheint genau dasselbe Ziel auch
der vorletzte Paragraph des Tractatus als sein eigentliches auszuweisen. Anhand von
dessen konkreter Formulierung lassen sich die zentralen Unterschiede in der Bedeu-
tung und Funktion des Zeigens in Wittgensteins Tractatus und dem Kapitel „Die
‚Vernunft‘ in der Philosophie“ weiter herausarbeiten. Der mit der Nummer 6.54 ver-
sehene Paragraph lautet:

Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig
erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muß sozusagen die
Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.)
Er muß die Sätze überwinden, dann sieht er die Welt richtig.817

814 Wittgenstein 2003, S. 26.


815 Wittgenstein 2003, S. 40.
816 Wittgenstein 2003, S. 40.
817 Wittgenstein 2003, S. 110.
3.2. Philosophie als ästhetischer Text 373

Aus besagtem Paragraphen geht hervor, dass auch für den Tractatus die ‚Einsicht‘
wesentlich ist, dass die Bedingungen dessen, was im Laufe des Textes gezeigt wird –
die Bedingungen und Grenzen des sinnvoll Sagbaren –, sich jenseits besagter Grenzen
bewegen. In dieser Einsicht stimmt Wittgensteins Text bis zu einem gewissen Punkte
mit der zentralen Aussage von „Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie“ überein, demons-
triert dieses Kapitel doch ebenfalls, dass die eigentlichen Bedingungen dessen, was
die bisherigen Philosophen, in den Begriff der ‚Vernunft‘ gebannt haben, sich jenseits
von dessen eigenen Kriterien bewegen. Weiter als bis zu dieser ‚Einsicht‘ reichen die
Übereinstimmungen in der Funktion des Zeigens für die beiden Texte jedoch nicht:
Wie die soeben zitierte Textstelle aus dem Tractatus belegt, führt in ihm die durch den
Darstellungsmodus des Zeigens vermittelte ‚Einsicht‘ letztendlich zu deren Durch-
streichung, sprich zu der ‚Erkenntnis‘, dass besagte ‚Einsicht‘ nicht in eine sinnvolle
Aussage gebracht werden kann, wodurch sich sämtliche diese ‚Einsicht‘ explizieren-
den Sätze des Textes, von denen einige hier zuvor zitiert worden sind, als unsinnig
erweisen. Anders verhält es sich in der Götzen-Dämmerung. Diese macht sich nach der
autodeiktischen Vorführung ihrer zentralen ‚Idee‘ deren paradoxe Konsequenzen zu
Nutze und instrumentalisiert sie insbesondere in den Kapiteln „Moral als Widernatur“
und „Die Verbesserer der Menschheit“ dazu, über die performative Kritik an der
bisherigen Moral neue metamoralische ‚Einsichten‘ zu vermitteln. Diese ‚Einsichten‘
bewegen sich aufgrund ihres im gesamten Text autodeiktisch oder performativ
vorgeführten – also von diesem ‚gezeigten‘ –, idiosynkratischen Charakters jedoch
bereits jenseits der richtig/falsch-Distinktion, die am Ende des Tractatus wieder zum
Greifen kommt, und unterscheiden sich dadurch in ihrem epistemischen Status von
denjenigen des Tractatus.
Insofern ist die von Lutz Danneberg und Carlos Spoerhase vorgebrachte und im
Kapitel 3.1. vorgestellte These zurückzuweisen, dass in Literatur, an deren Fiktionali-
tät auch Nietzsches Götzen-Dämmerung durch den Rückgriff auf die narrative Präsen-
tationsform partizipiert, neues Wissen zwar auffindbar, jedoch nicht wahrnehmbar
sei, insofern es nicht bereits zuvor „als Wissen im propositionalen Gehalt und in
nichtliterarischen Texten“818 artikuliert worden ist. Wie die Lektüre von „Die ‚Ver-
nunft‘ in der Philosophie“ gezeigt hat, trifft diese Charakterisierung auf die dort
vermittelten ‚Einsichten‘ nicht zu. Zwar sind diese im Rahmen des lesenden Nachvoll-
zuges beschreibend ‚ausgesagt‘ worden, entziehen sich aber letztendlich der Über-
führung in Propositionen. Dementsprechend handelt es sich bei dem in „Die ‚Ver-
nunft‘ in der Philosophie“ zur Darstellung gebrachten ‚Wissen‘, auch nicht um ein
Wissen, das jenseits seiner intratextuellen Realisierung ‚als propositionales Wissen in
nicht narrativen Texten‘ bereits artikuliert worden ist, sondern um ein ‚Wissen‘, das
im lesenden Nachvollzug der vertikal und horizontal verflochtenen, semantisch
valenten alphabetischen und nicht alphabetischen Zeichen der Götzen-Dämmerung

818 Danneberg/Spoerhase 2011, S. 12.


374 3.2. Philosophie als ästhetischer Text

und nur in diesen generiert wird. Insofern eignet diesem ‚Wissen‘ jene ‚Ereignishaftig-
keit‘, welche bereits Christian Schärf der Sprachartistik des essayistischen Schreibens
des späten Nietzsche zugestanden hat.819 Zugleich unterläuft GD Vernunft derartig
den von Forschern wie Christiane Schildknecht praktizierten Fokus auf die bloße
Vermittlung von Wissen in sich literarisch-ästhetischer Darstellungsformen bedienen-
den philosophischen Texten. Dementsprechend verwundert es wohl kaum, dass das
derartig generierte Wissen in keines der ersten drei von Schildknecht für derartig
literarisch-ästhetische Wissensformen relevanten epistemischen Felder fällt. Bei dem
von GD Vernunft durch das autodeiktisch-konstellative Darstellungsverfahren gene-
rierten ‚Wissen‘ vom idiosynkratischen Charakter alles menschlichen Fühlens, Den-
kens und Handelns handelt es sich weder um eine ethische Einsicht noch eine
Erkenntnis im Bereich der Selbsterfahrung,820 noch um eine „Erkenntnis im Bereich
des Fundamentalen“; zumindest nicht, wenn man unter diesem – wie Schildknecht –
„die begründende Rechtfertigung basaler Begriffe und kategorialer Unterscheidun-
gen“821 begreift. Zwar bildet die ‚Einsicht‘ in die Idiosynkrasie die Grundlage sämtli-
cher weiterer Wertungs- und Deutungsprozesse der Götzen-Dämmerung, schafft diese
jedoch nicht auf Basis einer traditionellen Begriffsarbeit, sondern durch das ästheti-
sche Verfahren der Konstellation. Insofern handelt es sich bei besagter ‚Einsicht‘ um
eine „ästhetische Erkenntnis“. Diese ist jedoch in der Götzen-Dämmerung – das sollte
der Nachvollzug des komplexen Darstellungsverfahrens in GD Vernunft gezeigt

819 Siehe zu Schärfs Nietzschedeutung die Fußnoten 239 und 248.


820 Gerade in Betreff einer derartigen Selbsterfahrung scheint die autodeiktische Darstellungsform
der Götzen-Dämmerung überraschende Resultate zu zeitigen, führt sie doch dazu, dass die Figuren des
Textes je stärker sie sich in und durch ihre Idiosynkrasien profilieren, desto mehr der Selbsterkenntnis
entziehen, da derartig die physio-ästhetischen Bedingungen ihrer Idiosynkrasien sich immer weiter
ausdifferenzieren und solcherart eine Komplexität erlangen, die ihre vollständige Erfassung ver-
unmöglicht. Der sich solcherart im Textgeschehen durch unterschiedliche Selbstbezüglichkeitsfiguren
realisierenden Reflexionsbewegung eignet dabei genau jenes Kennzeichen, das auch schon die Re-
flexionsphilosophie des frühen deutschen Idealismus und der Frühromantik beschäftigt hat: „Be-
wusstsein und dessen Steigerung in der Reflexion können […], die performative und emotive Einheit
des Selbst […] nicht erklären. Der Einheitsgrund des Absoluten als die jeder Relation entzogene
Identität (so Schelling, Novalis, Schlegel, Hölderlin und Jacobi) könne nicht durch die trennende und
vergegenständlichende Reflexion verständlich gemacht werden. […] Für die Konstitution des Ich folgt
daraus eine fundamentale Schizophrenie: geteilt zu sein zwischen dem Selbstgefühl einer Einheit mit
sich im Handeln und der Selbstentzweiung im Denken seiner selbst.“ (Urbich 2012, S. 403ff.)
In Hinblick auf die Bedeutung des historisch-empirischen Autors für das intratextuelle Ich in der
Götzen-Dämmerung bedeutet dies zugleich, dass gerade aufgrund der Tatsache, dass sich Letzteres in
besagtem Text autodeiktisch in verschiedene Schleifen einschreibt, dass es aufgrund der diese
Schleifen kennzeichnenden Reflexionsbewegung nicht mehr identifizierend auf einen eindeutigen
Ursprung – sei dieses nun ein Selbst oder der historisch-empirische Autor – zurückgeführt werden
kann. Was dem Leser an Deutungsrelevantem bleibt, ist nur mehr diese dem Text eingeschriebene
Reflexionsbewegung. Für deren Nachvollzug ist eine Einsicht in deren Ursprung hingegen nicht nur
unmöglich, sondern letztendlich irrelevant.
821 Schildknecht 2007, S. 34.
3.2. Philosophie als ästhetischer Text 375

haben – als „ästhetische Erfahrung“ nicht „reichhaltiger als das begriffliche Instru-
mentarium ihrer Mitteilung“822, wie es Schildknecht für diese Erkenntnisform kon-
statiert, sondern entsteht erst aufgrund des aus dem semantischen Netz der einzelnen
semantisch valenten Elemente besagten Buches sich generierenden Darstellungsver-
fahrens, das in seiner ästhetischen Komplexität zwar jedes traditionell begriffliche
Instrumentarium weit hinter sich lässt, jedoch letztendlich auf der durch die konstel-
lative Darstellungsweise semantisch potenzierten Bedeutung der im Text verwende-
ten Sprachzeichen fußt. Nicht die Unmöglichkeit des tatsächlichen Ausdrucks der
zentralen ‚Einsicht‘ von GD Vernunft charakterisiert deren ästhetischen Charakter,
sondern die propositional nicht reduzierbare hohe Komplexität desselben macht
deren Eigenheit aus.
Ähnlich und doch anders verhält es sich auch bei den an die anderen beiden in der
Götzen-Dämmerung realisierten Selbstbezüglichkeitsformen gekoppelten und zu-
gleich durch diese vermittelten bzw. generierten ‚Einsichten‘. Diesen kommt dement-
sprechend auch ein anderer epistemischer Status zu als der unmittelbar an das kom-
plexe Textgeschehen des Buches gebundenen ‚Einsicht‘ in die Idiosynkrasien. So
bildet die in GD Vernunft generierte ‚Einsicht‘ in besagte ‚Idiosynkrasien‘ bereits die
Grundlage für die sich über die ernste Selbstparodie in GD Moral zur Darstellung
bringenden ‚Erkenntnisse‘. Diese charakterisieren sich dadurch, dass sie das Resultat
der Vorführung der Folgen des idiosynkratischen Status des menschlichen Fühlens,
Denkens und Handelns für die Moral darstellen und solcherart nicht nur als eine Form
‚metamoralischer Erkenntnis‘ bezeichnet werden können, sondern diese auch auf-
grund der ihr eingeschriebenen Reflexionsbewegung noch einmal selbst reflektieren,
wobei sie die Folgen der Überführung dieser ersten ‚Erkenntnis‘ in den traditionellen
philosophischen Diskurs in sich selbst aufnehmen und deren stets notwendiges Schei-
tern qua Autodestruktion veranschaulichen. Dadurch wird eine ‚Erkenntnisform‘ ge-
neriert, die sich ebenfalls durch ihre ‚Ereignishaftigkeit‘ auszeichnet, sich in dieser
aber – wie auch schon die qua autodeiktische Schleife vermittelten ‚Einsichten‘ –
zugleich für eine Perpetuierung durch den sie kritisch nachvollziehenden Leser öffnet.
Dies führt letztendlich zur Stiftung einer unendlichen Denkbewegung, die im konkre-
ten Text ihr zentrales Reflexionsmedium besitzt. Durch die unmittelbare Einbindung
des Lesers in die sich derartig realisierende Reflexionsbewegung mündet auch diese
niemals in ein propositional stillstellbares Wissen, sondern überträgt das von ihr zur
Anschauung Gebrachte dem Leser als ein von diesem ‚Fortzuschreibendes‘. Als sol-
cherart der unendlichen reflexiven Weiterverarbeitung aufgegebenes, dynamisches
knowing how überschreitet der Text der Götzen-Dämmerung sämtliche in den gegen-
wärtigen epistemologischen und erkenntnistheoretischen Debatten behandelten Wis-
sensformen, was eine Bestimmung von dessen epistemischen Status im Rahmen der
von diesen Debatten zur Verfügung gestellten Begrifflichkeiten unmöglich macht. An

822 Schildknecht 2007, S. 36.


376 3.2. Philosophie als ästhetischer Text

deren Stelle kann nur mehr jener deskriptive Nachvollzug der sich im Textgeschehen
manifestierenden ernsten Selbstparodie treten, wie sie diese Studie im Kapitel 2.2.4.3.
geliefert hat. Jenseits derselben ist eine konkrete Bestimmung des epistemischen
Status derselben jedoch zum Scheitern verurteilt.
Dies gilt auch für die dritte und letzte in der Götzen-Dämmerung an eine Selbst-
bezüglichkeitsfigur gebundenen ‚Einsicht‘, nämlich die in GD Verbesserer über die
diesem Kapitel eingeschriebene performative Schleife zur Darstellung gebrachte ‚Er-
kenntnis‘. Wie bereits im Zuge der Lektüre von GD Verbesserer im Kapitel 2.2.4.4.
gezeigt worden ist, knüpft diese direkt an die in GD Moral durch die dort realisierte
ernste Selbstparodie vermittelte ‚metamoralische Erkenntnis‘ von der physio-ideologi-
schen Bedingtheit jeglichen moralischen Standpunktes an und führt anhand der
Gegenüberstellung zweier sich ausschließender moralischer Positionen die in dieser
‚metamoralischen Erkenntnis‘ implizierte ‚Einsicht‘ in die Unmöglichkeit eines objek-
tiven Metastandpunktes zur Beurteilung unterschiedlicher Moralen vor.
Für die gegenwärtigen philosophischen und literaturtheoretischen Debatten zur
epistemischen Bedeutung und Funktion sich literarisch-ästhetischer Darstellungsfor-
men bedienender philosophischer Texte bedeutet der soeben nachgewiesene Sach-
verhalt, dass sich ein Text wie Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung zu einem
großen Teil den von besagten Diskursen angebotenen Begriffsapparaten entzieht,
dass diese dazu angehalten werden sollten, diese weiter zu adjustieren. Eine derartige
Adjustierung darf allerdings – auch dies hat die Lektüre der Götzen-Dämmerung
gezeigt – nicht, wie es bisher üblich war und wohl noch ist, fern ihres eigentlichen
Gegenstandes, der philosophischen Texte, erfolgen, sondern muss sich von Anfang
an in unmittelbarer Nähe derselben bewegen. Nur so wird es möglich sein, jene
Momente von die Standardbegrifflichkeit stets übersteigenden und zum Kunstwerk
tendierenden, eine literarisch-ästhetische Darstellungsweise umsetzenden philoso-
phischen Texten zumindest ex negativo anzudeuten, um sich so den diesen komple-
xen Werken eignendem Reflexionsprozess anheimzugeben. Nicht zuletzt in diesen
hohen Anforderungen an seine potentiellen Leser liegt die „Kraft des Darstellens,
Nachbildens, Transfigurirens [und] Verwandelns“ (GD Streifzüge 10, EA 78) von
Texten wie Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung.
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Zittel, Claus (2006): „Neuerscheinungen zu Nietzsches Rezeption der Weimarer Klassik“. In:
Nietzsche-Studien 35, S. 333–337.
Zittel, Claus (2011): Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ [2000].
2., durchgesehene Auflage. Würzburg: Königshausen & Neumann.
5. Abbildungen
5.1. Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass

Abb. 1a: N VII 1, S. 82.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 393

Abb. 1b: Transkription N VII 1, S. 82 (KGW IX/1).


394 5. Abbildungen

Abb. 2a: W I 6, S. 35.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 395

Abb. 2b: Transkription W I 6, S. 35 (KGW IX/4).


396 5. Abbildungen

Abb. 3a (1): W II 6, S. 61.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 397

Abb. 3b (1): Transkription W II 6, S. 61 (KGW IX/9).


398 5. Abbildungen

Abb. 3a (2): W II 6, S. 59.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 399

Abb. 3b (2): Transkription W II 6, S. 59 (KGW IX/9).


400 5. Abbildungen

Abb. 4a: N VII 3, S. 165.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 401

Abb. 4b: Transkription N VII 3, S. 165 (KGW IX/3).


402 5. Abbildungen

Abb. 5a: W II 6, S. 144.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 403

Abb. 5b: Transkription W II 6, S. 144 (KGW IX/9).


404 5. Abbildungen

Abb. 6a: W II 5, S. 72.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 405

Abb. 6b: Transkription W II 5, S. 72 (KGW IX/8).


406 5. Abbildungen

Abb. 7a: W II 5, S. 73.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 407

Abb. 7b: Transkription W II 5, S. 73 (KGW IX/8).


408 5. Abbildungen

Abb. 8a: W II 5, S. 68.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 409

Abb. 8b: Transkription W II 5, S. 68 (KGW IX/8).


410 5. Abbildungen

Abb. 9a: W II 5, S. 37.


Aufzeichnungen und ‚Vorstufen‘ aus dem späten Nachlass 411

Abb. 9b: Transkription W II 5, S. 37 (KGW IX/8).


Druckmanuskript 413

5.2. Druckmanuskript

Abb. 10: DM GD Vernunft 1 bis Anfang GD Vernunft 4, GSA 71/28, Blatt 14 recto [Goethe- und Schiller-Archiv Weimar].
Druckmanuskript 415

Druckmanuskript
Druckmanuskript 415

Abb. 11: DM Ende GD Vernunft 4 und GD Vernunft 5, GSA 71/28, Blatt 15 recto [Goethe- und Schiller-Archiv Weimar].

Abb.
Abb. 11:
11: DM
DM Ende
Ende GD
GD Vernunft
Vernunft 4
4 und
und GD
GD Vernunft
Vernunft 5,
5, GSA
GSA 71/28,
71/28, Blatt
Blatt 15
15 recto
recto [Goethe-
[Goethe- und
und Schiller-Archiv
Schiller-Archiv Weimar].
Weimar].
Druckmanuskript 417

Abb. 12: DM GD Vernunft 6, GSA 71/28, Blatt 15 verso [Goethe- und Schiller-Archiv Weimar].
418 5. Abbildungen

5.3. Erstausgabe 1889

Abb. 13: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 18. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
Erstausgabe 1889 419

Abb. 14: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.
Leipzig: C.G. Naumann 1889, S. 19. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://
ora-web.swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
420 5. Abbildungen

Abb. 15: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 20. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
Erstausgabe 1889 421

Abb. 16: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 21. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
422 5. Abbildungen

Abb. 17: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 22. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
Erstausgabe 1889 423

Abb. 18: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 23. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
424 5. Abbildungen

Abb. 19: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 24. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]
Erstausgabe 1889 425

Abb. 20: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Leipzig:
C.G. Naumann 1889, S. 25. [Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Monographien Digital: http://ora-web.
swkk.de/digimo_online/digimo.entry?source=digimo.Digitalisat_anzeigen&a_id=23569 ]

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